Kausalität der Gewalt: Kulturwissenschaftliche Konfliktforschung an den Grenzen von Ursache und Wirkung [1. Aufl.] 9783839419878

Kausalität ist das Aufeinanderfolgen von Zuständen nach Regeln, so hat es Kant einmal definiert. Damit sind auch zwei Ke

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German Pages 262 Year 2014

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Inhalt
Macht der Spiele, Fußball im Iran. Bilder von Valerie Assmann, Text von Corinna Assmann und Valerie Assmann
ZU DIESEM BUCH. Einleitung von Bettina Gruber und Jacob Guggenheimer
1. Im Labyrinth der Vernunft
Kausalität der Gewalt
Es gibt keine Tatsachen...Zu Gianni Vattimos Philosophie der Endlichkeit
Beschleunigung, Ereignis, Entscheidung
2. Zur Kritik an kulturellen und religiösen Konfliktphantasmen
Versinkt die Welt in Kulturkonflikten?
Unterschiede zwischen Kulturen als Vorwand für Feindbilder
Migrationsbilder – Europas grausame Grenzen
3. Gewalt in der Vereinnahmung des Widerspruchs
Kriege im Selbst – Philosophie der Ambivalenz bei Sarah Kofman
Gewalt im kolonialen und postkolonialen Kontext. Kamerun als Fallbeispiel
»Wir verzärtelten, unerfahrenen Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke, die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.«. Ein literaturwissenschaftliches Plädoyer für das Fremde im Text(und außerhalb davon)
4. Wir sind die Anderen
Das Recht auf Selbstbestimmung und Konflikttransformation
Von Transitional Justice zu Just Peacebuilding?
Die Konfliktlösungsmethode Mahloquet im Zeichen von Social Justice
Zu den Autorinnen und Autoren
Recommend Papers

Kausalität der Gewalt: Kulturwissenschaftliche Konfliktforschung an den Grenzen von Ursache und Wirkung [1. Aufl.]
 9783839419878

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Daniela Gronold, Bettina Gruber, Jacob Guggenheimer, Daniela Rippitsch (Hg.) Kausalität der Gewalt

Kultur & Konflikt | Band 4

Editorial Die Reihe »Kultur & Konflikt« dokumentiert die Ergebnisse eines Forschungsnetzwerks, das seit 2005 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt arbeitet. Vertreter/-innen der Frauen- und Geschlechterforschung, der Friedensforschung sowie der Kulturwissenschaften untersuchen – über die sozioökonomische und politische Dimension hinaus – interdisziplinär die Bedeutung der Kategorie »Kultur« für das Verständnis sozialer Konflikte und gesellschaftlicher Gewalt. Auf diesem Wege leistet die Reihe einen Beitrag zur Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Friedensforschung, arbeitet an der Etablierung einer interdisziplinären Geschlechterforschung mit und setzt politische Wissenschaft und Bildung in Bezug zur Geschlechter- und Friedensforschung. Die Reihe wird herausgegeben vom Interfakultären Forschungsnetzwerk »Kultur & Konflikt« der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Daniela Gronold, Bettina Gruber, Jacob Guggenheimer, Daniela Rippitsch (Hg.)

Kausalität der Gewalt Kulturwissenschaftliche Konfliktforschung an den Grenzen von Ursache und Wirkung

Veröffentlicht mit Unterstützung von: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien, Land Kärnten, Abteilung Kultur, Dr. Manfred Gehring Privatstiftung, Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Valerie Assmann. Verwendet mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Lektorat: Mag.a Sonja Schindler Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1987-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Macht der Spiele, Fußball im Iran Bilder von Valerie Assmann, Text von Corinna Assmann und Valerie Assmann | 7

Z U DIESEM B UCH Einleitung von Bettina Gruber und Jacob Guggenheimer | 9

1. Im Labyrinth der Vernunft Jacob Guggenheimer | 21

Kausalität der Gewalt Jacob Guggenheimer | 23

Es gibt keine Tatsachen … Zu Gianni Vattimos Philosophie der Endlichkeit Martin G. Weiß | 38

Beschleunigung, Ereignis, Entscheidung Wilhelm Berger | 55

2. Zur Kritik an kulturellen und religiösen Konfliktphantasmen Bettina Gruber | 73

Versinkt die Welt in Kulturkonflikten? Dieter Senghaas | 78

Unterschiede zwischen Kulturen als Vorwand für Feindbilder Josef Berghold | 88

Migrationsbilder – Europas grausame Grenzen Daniela Ingruber | 106

3. Gewalt in der Vereinnahmung des Widerspruchs Daniela Gronold | 125

Kriege im Selbst – Philosophie der Ambivalenz bei Sarah Kofman Karoline Feyertag | 128

Gewalt im kolonialen und postkolonialen Kontext Kamerun als Fallbeispiel Daniel Romuald Bitouh | 147

»Wir verzärtelten, unerfahrenen Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke, die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.« Ein literaturwissenschaftliches Plädoyer für das Fremde im Text (und außerhalb davon) Nicola Mitterer | 166

4. Wir sind die Anderen Daniela Rippitsch | 189

Das Recht auf Selbstbestimmung und Konflikttransformation Johan Galtung | 192

Von Transitional Justice zu Just Peacebuilding? Wilfried Graf, Valerie Kainz und Agnes Taibl | 209

Die Konfliktlösungsmethode Mahloquet im Zeichen von Social Justice Gudrun Perko und Leah Carola Czollek | 239

Zu den Autorinnen und Autoren | 257

Macht der Spiele, Fußball im Iran Bilder von Valerie Assmann, Text von Corinna Assmann und Valerie Assmann Das Bild von Fußball als männlichem Sport ändert sich auch in Zeiten der Professionalisierung der weiblichen Variante nur langsam, und obwohl immer mehr Frauen Fußball für sich entdecken und der Anteil von Zuschauerinnen steigt, gilt das Fußballstadion immer noch als »Arena der Männlichkeit«. Was andernorts eine (in der Entstehungsgeschichte des Fußballs begründete) Gewohnheit ist, wird in der Islamischen Republik Iran vom Staat per Gesetz bestimmt: Der Zugang zum Stadion ist Frauen untersagt. Der meistgenannte Grund hierfür ist, dass die Atmosphäre, die dort herrsche und die schmutzige Sprache der Fußballfans Frauen nicht zumutbar sei, ihre Reinheit gefährden würde. Aktiv Fußball spielen gilt in vielen islamisch geprägten Ländern immer noch als unweiblich und ist daher für Frauen in Iran gleichfalls nicht vereinbar mit der für sie vorgesehenen Rolle in der Gesellschaft. (Fortsetzung auf S. 18)

Zu diesem Buch Einleitung von Bettina Gruber und Jacob Guggenheimer

»Die Frage nach der Geschichte drängt den Physikalismus ganz natürlich zum Kausalismus […]. Doch die Kausalität leugnet die Veränderung, insofern sie eine doppelte Identität behauptet: zum einen soll die Wiederholung derselben Ursache dieselben Wirkungen hervorbringen; zum anderen sind Ursache und Wirkung ja letztlich dasselbe, insofern beide einander oder einem Dritten entsprechen müssen«. (Castoriadis 1990: 294)

Sobald man sich kritisch mit Auswirkungen von Gewalt oder den Ursachen für ihr Entstehen beschäftigt, muss man annehmen, dass die Ereignisse als Ursachen und Wirkungen miteinander in Zusammenhang stehen, dass etwa das beobachtbare oder empfundene Leiden aufgrund der vorangegangenen Gewaltausübung in Erscheinung tritt, und sich so und nicht anders äußert, weil es dafür ebenfalls Ursachen gibt. Umgekehrt gebieten sozialkritische Ansätze in der Gewaltprävention die Suche nach und vorbeugende Vermeidung von Faktoren, die als Quelle von Gewalttaten angesehen werden können. Welche das konkret sein können, ist die Kernfrage, die in diesem Diskurs verhandelt wird und auf die diverse wissenschaftliche Disziplinen verschiedene Antworten zu geben versuchen. Verbunden mit diesem Problemfeld sind Überlegungen zur möglichen Transformation von psychischen und/oder gesellschaftlichen Zuständen. Eine Art ›Konflikt-Ökonomie‹ (nicht unähnlich der psychoanalytischen Trieb-Ökonomie) wird dabei angenommen. Gesellschaftliche Spannung, die etwa durch anhaltende rechtliche, kulturelle und/oder wirtschaftliche Diskriminierungserfahrungen von Teilen einer Bevölkerung aufgebaut wurde, verwandelt sich, verändert ihre Form, ›transformiert‹ sich (ganz so wie die Roboter-Autos in den Jugendfilmen von Steven Spielberg) in Variationen ausgelebter Gewalt. Die Beforschung von Möglichkeiten der Konflikttransformation beschäftigt sich demnach mit Interventionsstrategien, mit deren Hilfe gewaltsame Konfliktaustragungen in gewaltfreie Bahnen gelenkt werden können. Und ohne dass es in diesem Rahmen explizit gemacht werden müsste, wird auch hier ein kausaler Zusammenhang zwischen den möglichen Inkarnationen dieser Spannungen angenommen. Die Summe aller Teile wird dabei als Konstante

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vorausgesetzt. Die einzelnen Zustände gehen aus anderen Zuständen hervor und können deshalb, so scheint es, nicht gleichzeitig mit diesen existieren. Sie sind zwar ›verschieden‹, so ließe sich mit Castroriadis (1990: 312f.) sagen, aber was auch immer entsteht, ist kein ›anderer‹ Zustand. Anders wäre er erst, wenn sich tatsächlich etwas verändern würde, wenn also etwas radikal anderes in die Welt tritt, etwas, das nicht notwendigerweise aus ihr hervorgeht. Wenn das geschieht, zerbricht die kausale Struktur. Die größte Schwierigkeit liegt aber offenbar darin, diese Brüche im Dualismus zwischen Kausalitätsprinzip auf der einen und Willensfreiheit auf der anderen Seite zu denken. Und so bleibt selbst in der Konfliktforschung oft unberücksichtigt, dass der vorausgesetzte Determinismus nicht dazu im Stande ist, zu erklären, wie es zu jenem Akt der Intervention kommen kann, an dem sie selbst arbeitet. Ein Teil des vorliegenden Bandes legt den Finger auf genau diese Wunde und sucht nach Ansätzen, mit deren Hilfe begreifbar werden kann, wie die als selbstverständlich angenommene Allgemeingültigkeit von Kausalität Gewaltverhältnisse ebenso mitbedingt wie die Festschreibung eines völlig autonomen ›freien Willens‹. Als das Denken strukturierende Dimensionen üben sie (unbemerkt) selbst Formen von Zwang aus und verhindern die Eröffnung von Möglichkeiten. Spektakuläre Schlagworte wie »Kampf der Kulturen« und »die Kopftuch-Debatte«, die in realen Konflikten scheinbar eine Bestätigung finden, dominieren stattdessen immer stärker den politischen Diskurs. Oft werden sie aber als Leerformeln anstelle genauer Analysen eingesetzt. Dennoch kann die Bedeutung der Kategorie »Kultur« für das Verständnis sozialer Konflikte und gesellschaftlicher Gewalt nicht geleugnet werden. Im Zuge des cultural turn in den Sozialwissenschaften, zu dem nicht zuletzt feministische Zugänge einen entscheidenden Beitrag geleistet haben, tritt Kultur als Faktor neben Ökonomie, Politik und Geschlecht. Das Interfakultäre Forschungsnetzwerk »Kultur und Konflikt« möchte dieser in der sozialen Wirklichkeit wie in den Sozialwissenschaften gestiegenen Bedeutung des Kulturbegriffs Rechnung tragen, ohne in einen Kulturalismus zu verfallen und diesen Ansatz zu verabsolutieren. Das Forschungsinteresse liegt dabei auf dem Beitrag von Kulturtheorien und kulturtheoretisch beeinflussten Ansätzen zur Erklärung der Kategorie Konflikt. Im Rahmen des Interfakultären Forschungsnetzwerks kommt die gesamte Bandbreite an (gewalttätigen) Konflikten von innergesellschaftlicher Gewalt in Friedenszeiten (wie Gewalt an Frauen) bis hin zu Kriegen zur Sprache. Zugleich besteht das praktische Erkenntnisinteresse darin, dass mit Hilfe dieser Erklärungsansätze gewaltfreie Alternativen im Umgang mit Konflikten ausgelotet werden. Kultur ist allerdings selbst ein schillernder und keineswegs einheitlich ge-

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brauchter Begriff. Es wird darauf ankommen, den jeweiligen Kulturbegriff offenzulegen und so eine Vergleichbarkeit der Theorieansätze herzustellen. Unterschiedliche Formen von Konflikttransformationen werden beleuchtet und ein Dialog der verschiedenen Disziplinen und Ansätze wird ins Zentrum gerückt. Unter dem Gesichtspunkt der Parteilichkeit verändern sich unter Umständen die Perspektiven. Auch Repression strebt nach Konfliktfreiheit, Emanzipation eröffnet Konflikte. Die Intersektionen gender – race – class stellen hierbei unter anderem auch einen Querschnittsaspekt und eine Klammer dar. Als Konfliktfelder wurden unter anderen hereingeholt: Migration bzw. Gewalt und Geschlecht in unterschiedlichen Welt-Regionen. Konflikttransformationen und Parteilichkeit auf der persönlichen, regionalen und internationalen Ebene wurden ins Zentrum gerückt. Jacob Guggenheimer setzt sich in seinem eröffnenden Artikel mit den Konzepten der Subjektkonstituierung auseinander, wie sie spätestens seit der Aufklärung für unser gesellschaftspolitisches Handeln entscheidend geworden sind. Schritt für Schritt arbeitet er heraus, wie jenes selbstbestimmte Subjekt in der identitätslogischen Lücke zwischen vorausgesetzter Kausalität und der Grundannahme eines freien Willens eingeklemmt ist. In diesem Dilemma der abendländischen Logik vermutet Guggenheimer eine wesentliche Bedingung für jene sich scheinbar perpetuierenden Gewaltverhältnisse, bei denen sich die involvierten Personen stets darauf berufen können, dass sie ja lediglich ›reagieren‹, es aber eigentlich die andere Partei gewesen sei, die ›angefangen‹ habe. Der identitätslogische Zwang, mit sich selbst identisch bleiben wollen zu müssen, verhindert letztendlich Veränderungsprozesse. So notwendig es deshalb erscheint, nach alternativen Denkweisen zu suchen, so schwer fällt auch die Loslösung von dieser Identitätslogik. Anhand einzelner Beispiele veranschaulicht Guggenheimer, wie tiefgreifend sich die Realitätswahrnehmung durch einen solchen Paradigmenwechsel verschieben kann und welch massive psychische Ängste diese Verschiebung zu mobilisieren im Stande sein kann. Der Philosoph Martin Weiß stellt in seiner Ausführung Gianni Vattimos »Philosophie der Endlichkeit« ins Zentrum seiner Reflexionen und besteht in seinem historischen Versuch darauf, die sich »auflösende Objektivität, zu der auch ihr selbsttransparentes Subjekt gehört, durch eine aus der Geschichte abgeleitete, antiobjektivistische Norm zu ersetzen«, wodurch verhindert werden soll, dass das Ende der Metaphysik im willkürlichen Relativismus endet. Wir leben nach Vattimo in einer Zeit, in der es nicht mehr unumstößliche Werte und Tatsachen gibt und sich das Wesen der Dinge in Interpretationen aufgelöst hat. Gianni Vattimo hat innerhalb der Postmoderne das Konzept eines »schwa-

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chen Denkens« entwickelt. Er sieht die aktuelle geistige Situation vor allem durch die allgemeine Auflösung des Objektivitätsmythos gekennzeichnet. Seine Philosophie zeichnet eine postmoderne Geschichte, eine nachmetaphysische Ethik und ein post-ontotheologisches Christentum nach. Dieses Ende der Metaphysik bedeutet auch das Ende des metaphysischen Gottesbegriffs. Auf den vorliegenden Gewaltdiskurs bezogen erweist sich das metaphysische Denken grundsätzlich als gewalttätig, da Wahrheiten in Philosophie und Wissenschaft keine Widerrede dulden. Für Vattimo ergibt sich daraus die Einsicht, dass Gewaltausübung nur unter Berufung auf ewige Wahrheiten möglich ist, die Einsicht hingegen, dass jede Position nur eine unter vielen ist, Gewalt verunmöglicht. Was wir allein wahrnehmen können, ist die konkrete Lebenswelt, jenseits der Unterscheidung von scheinbarer und wahrer Welt. In dieser Situation kann das Denken nicht mehr beanspruchen, unhinterfragbare und damit gewalttätige Gründe zu erkennen. Wilhelm Bergers philosophische Auseinandersetzung gilt vor allem der Entwicklung eines Begriffs der Entscheidung, wie er sich im Anschluss an die Arbeiten des Logikers Gotthard Günther weiterdenken lässt. Der Ausgangspunkt ist folgender: In der Moderne müssen alle Versuche letztlich scheitern, der bürgerlichen Gesellschaft stabilisierende Kontinuität zu verschaffen. Und dennoch kann nicht damit aufgehört werden, diese Stabilität immer aufs Neue zu konstituieren. Entscheidung muss daher in radikaler Weise als Prozess gedacht werden, der dem »Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft eine Form zu geben« versucht. Dieser Prozess weist auffallende Ähnlichkeiten zu Butlers Begriff der Performanz auf, und der Prozess reproduziert angesichts seines vorhersehbaren Scheiterns unweigerlich neue Gewalt. Ein Ausweg aus diesem Circulus vitiosus ist die Entwicklung eines affirmativen Verhältnisses zum Übergang selbst, in dem die Entscheidung eben kein Problem mehr darstellt. Der deutsche Friedensforscher Dieter Senghaas stellt die Frage, ob die gegenwärtige Welt in Kulturkonflikten versinkt und ob wir das so deuten sollen, dass es in der internationalen Diplomatie eine anhaltende Konfliktkulturdebatte gibt, in der asiatische oder islamische Werte westlichen Werten entgegengehalten werden und umgekehrt. Die wirklichen Konflikte der Zukunft werden, so Senghaas, noch lange »within civilizations« ausgetragen werden, bis die Pluralisierung von Gesellschaft und Kultur als unumkehrbar akzeptiert und institutionalisierte Konfliktregelung von der Art des demokratischen Verfassungsstaates eine Selbstverständlichkeit wird. Bei der Literaturwissenschafterin Nicola Mitterer geht es um die Frage von Fremdheit im Text – ob ein Verstehen von Texten, die außerhalb des eigenen Kulturraumes entstehen, überhaupt denkbar ist. Hier wird unter anderem die gadamersche universale Hermeneutik herangezogen. Für Gadamer ist jegliches

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Verstehen, gleichgültig, ob es sich um Texte, Kunst- und Bauwerke oder das Gegenüber in einem Gespräch handelt, an die Sprachlichkeit des Seins vor dem Horizont der Zeit gebunden. Dies setzt beim Interpretieren von Werken Offenheit, das Bewusstmachen der eigenen Vorurteilsstruktur sowie die Bereitschaft zum Gespräch bzw. zu reflexivem Auseinandersetzen voraus. Für ihn ist das Verstehen nicht denkbar ohne die Herausforderung des Fremden. Das Fremde ist nach Gadamer aber überwindbar und eine »radikale« Form der Fremdheit wird nicht in Erwägung gezogen. Es stellt sich die Frage, inwiefern das Fremde in seinen Facetten bis hin zum radikal Fremden den literarischen Text prägt. Anhand verschiedener Beispiele soll das Problem aufgezeigt werden, dass in vielen hermeneutischen Theorien die Verweigerung stattgefunden hat, die radikalen Aspekte des Fremden im Text wahrzunehmen. Die Autorin meint in diesem Kontext, dass es uns gut anstünde, eine neue Position zwischen den Extremen zu finden, nämlich eine, die das Fremde nicht ausklammert, und die akzeptiert, dass es eine tiefere Wahrheit gibt, die allein über den literarischen Text vermittelt werden kann. Der Soziologe Josef Berghold beleuchtet in seinen Ausführungen die Unterschiede zwischen Kulturen als Vorwand von Feindbildern und arbeitet schlüssig heraus, dass die Scheu vor dem Anderen als natürliche Konstante angenommen werden kann, diese psychosoziale Ausgangslage jedoch nicht zwingend zu Vorurteilen, Diskriminierung und Gewalt führen muss. Unterschiede verschiedener Kulturen werden überbetont. Es bestehen im Zusammenleben mit und ohne Kulturunterschiede(n) unterschiedliche Interessenslagen, Wünsche und Bedürfnisse, die Ausgangspunkt von Konflikten sind. Rigorose Konfliktvermeidung, -negierung und Harmonisierung sind Muster ausgeprägter repressiver Herrschaftsstrukturen und -systeme. Die Entwicklung einer Kultur der Konfliktaustragung und -bearbeitung gehört zu den wesentlichen Antworten für die positive Entwicklung pluralistischer Gesellschaften. Die Politologin Daniela Ingruber hält ein Plädoyer für den Einsatz von Parteilichkeit anstelle von vermeintlicher Neutralität in Richtung Veränderung bestehender Bilder über Migration, Flucht, Asyl, wie sie über die gängigen Medien tagtäglich in die Köpfe der Menschen »hineingebrannt« werden und Auslöser für Sicherheitswahn und Bedrohungsängsten darstellen. Parteilichkeit ist nach Ingruber Teil unserer ethischen Verantwortung, die sich in der Gesellschaft und vor allem auch in der Wissenschaft niederschlagen müssen. Ist Parteilichkeit für Veränderung von Gesellschaft im Sinne des Gewaltabbaus friedenspolitisch nutzbar? – so lautet eine ihrer Fragen. Über die Kunst können gängige Migrationsbilder dekonstruiert und Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit dieser Frage geschaffen werden.

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Im Beitrag der Philosophin Karoline Feyertag über die Philosophie der Ambivalenz bei Sarah Kofman wird anhand der Autobiografie der Philosophin die Frage der Parteilichkeit unter dem Aspekt persönlicher Betroffenheit reflektiert. Es geht um den inneren Konflikt im kindlichen Selbst der Autorin, um ein Zerrissensein zwischen Kulturen, Sprachen und Frauenbildern, und es geht in weiterer Folge um die Transformation dieses inneren Konflikts. Der Literaturwissenschafter Daniel Romuald Bitouh zeigt in seinen Ausführungen auf, wie die ethnische Vielfalt Kameruns bzw. Afrikas zum Konfliktpotenzial gemacht wurde und wird, und wie man dieses Gewaltpotenzial entschärfen könnte. Es geht um eine Dekonstruktion des andauernden logozentrischen Diskurses über einen »katastrophalen Süden«, Vorstellungen, die nichts anderes zum Ausdruck bringen als ein »geopolitisches Bewusstsein«. Darunter ist das Bild bzw. die Vorstellung zu verstehen, das/die man vom Selbst und vom Anderen hat. Das koloniale und postkoloniale Kamerun bildet das Zentrum der Darstellung und Reflexion. Er kommt zum Schluss, dass eine Entschärfung des Konflikts in der Entwicklung und Umsetzung vor allem in einer entkolonisierten Bildung liegen könnte. Der Friedensforscher Johan Galtung reflektiert in seinem Beitrag das Recht auf Selbstbestimmung und Formen der Konflikttransformation bzw. ob und unter welchen Umständen dieses Recht auf Selbstbestimmung als Basis für Konfliktlösung bzw. Konflikttransformation dienen kann. Es ist ein wesentliches Menschenrecht, aber – und das ist wichtig – nicht automatisches Recht auf Sezession und Eigenstaatlichkeit. Es ist eine nötige, aber nicht ausreichende Basis, um die Dialektik der nationalen Identität versus staatliche Integrität zu Ergebnissen zu führen, die die Rahmenbedingungen für Konfliktlösung erfüllen. In diesem Sinn ist es nach Galtung in Zukunft notwendig, neue Formen zu finden und zu erforschen, wie nicht territoriale Konföderationen, funktionelle Souveränität und Kondominien bzw. gemeinsame Souveränitäten. Gudrun Perko und Leah Carola Czollek rücken die Konfliktlösungsmethode von Maloquet in Verbindung mit Social Justice ins Zentrum. Die Maloquet gilt als Methode, mit der Konflikte gelöst werden können, wobei Social Justice als Grundlage und Zielsetzung herangezogen wird. Die Maloquet ist der jüdischen Tradition des Dialogs entnommen. Daraus wurden dialogische Konfliktlösungsverfahren entwickelt. Es werden zur Veranschaulichung in einem Fallbeispiel zwei Jugendgruppen als Konfliktparteien herangezogen und in der Kombination mit Social Justice wird gezeigt, wie dieses Konfliktlösungskonzept angewandt werden kann.

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Die Friedensforscher_innen Wilfried Graf, Valerie Kainz und Agnes Taibl legen ihren Fokus auf Transitional Justice (TJ); hier geht es um die Frage des Umgangs mit Vergangenheit und mit einer Geschichte massiver kollektiver Gewalt in Nachkriegsgesellschaften. Zentral sind hier Maßnahmen der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, Maßnahmen zur Wahrheitsfindung und Neugestaltung sozialer Beziehungen. Es wird auf die historische Entwicklung, auf Grenzen und Möglichkeiten, Ambivalenzen der TJ näher eingegangen und näher beleuchtet, wie menschliche Grundbedürfnisse als dialogischer Referenzrahmen für Konfliktlösung, Wiederaufbau und Versöhnung ins Zentrum gerückt werden müssen. In ihren Grafiken bearbeitet Valerie Assmann jene widerständischen Aspekte, die sich den nüchternen Einblicken notwendigerweise weitgehend entziehen. Corinna Assmann und Valerie Assmann berichten von den machtvollen Verflechtungen von Staatsgewalt, Geschlechterordnungen und Fußball und bringen stichhaltige Beweise dafür, dass der historisch etablierte Blick auf Spiel und Sport wesentliche Facetten unberücksichtigt lässt. Spiele sind offensichtlich mehr als nur jenes Herrschaftsinstrument, dem sich schon Cäsaren des Alten Roms bedienten und von deren Wirkungsmacht Architekturdenkmäler wie das Kolosseum (Amphitheatrum Flavium) zeugen. Und Sport, auch solcher, der in Stadien stattfindet, lässt sich nicht auf jene unheilvollen Allianzen mit reduzieren, die ihm spätestens seit der Erfindung der Olympischen Spiele anhaftet. (Der sogenannte ›Vater‹ des Deutschen Turnsports, Friedrich-Ludwig Jahn, hielt ja bekanntlich gar nichts von Teamsportarten, weil sie seiner Ansicht nach nicht dazu in der Lage seien, Solidarität herzustellen, die doch bei der Erschaffung deutscher Patrioten das Wichtigste sei [vgl. Mosse 1996: 57-77]). Ein Sport wie Fußball ist letztlich viel zu unberechenbar für totalitaristische Herrschaftssysteme, die ihrem Wesen nach Kontrolle auszuüben bestrebt sind. Und so wird Fußball auch zu einem bemerkenswerten Schauplatz im Kampf für Frauenrechte und gegen Heteronormativität. Unser Dank gilt allen voran den Autor_innen dieses Bandes, die sich mit diesem Band auf eine disziplinenübergreifende Auseinandersetzung mit ihren Themenschwerpunkten eingelassen haben und sich damit unvergolten einem Höchstmaß an intellektueller Reibung stellten, wie sie für diesen spannungsreichen Zwischenraum im akademischen Feld so kennzeichnend ist – und woraus auch sein kreatives Potenzial entspringt. Ebenso möchten wir uns bei der Lektorin Sonja Schindler für ihren enorm übergebührlichen Einsatz bedanken sowie bei den subventionsgebenden Gremien und Instanzen, ohne die diese Art wissenschaftlicher Publikationen nicht durchführbar wäre, dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, der Dr. Manfred Hering Privatstiftung sowie dem Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Valerie Ass-

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mann sind wir darüber hinaus zu Dank verpflichtet, weil sie diesen Band mit ihrer künstlerischen Bearbeitung eines konkreten Beispiels unserer Thematik bereichert hat und uns darüber hinaus das von ihr gestaltete Plakat zum Dokumentarfilm Football under cover (2008) für die Gestaltung des Buchumschlags zur Verfügung gestellt hat. Für das Herausgeber_innen-Team Bettina Gruber und Jacob Guggenheimer Februar 2012

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C ORINNA A SSMANN UND V ALERIE A SSMANN

In Iran ist alles politisch und Fußball ganz besonders. Nachdem Fußball vor der Revolution durch den Schah persönlich stark gefördert wurde, lag es für die Regierung der Islamischen Republik nahe, den Sport, der von englischen Truppen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, als westliche Gefahr zu verdammen. Die Religiösen konnten jedoch nicht verhindern, dass Fußball sogar Ringen, den traditionellen Nationalsport Irans, an Beliebtheit übertraf. Nach der überraschenden WM-Qualifikation im Spiel gegen Australien 1997 strömten die Menschen zu Tausenden auf die Straßen und feierten tanzend und singend die Nacht durch und machten Fußball so zum Ausdruck der Opposition. Als die Regierung erkannte, dass sie gegenüber der Kraft des Fußballs, Massen zu begeistern, machtlos ist, versuchte man, sich des Sports selbst zu bedienen. Die nächste Qualifikation im Jahr 2005 wurde für den Wahlkampf instrumentalisiert: Als sich die feiernden Massen spät in der Nacht zurückzogen, waren die Straßen Teherans knöcheltief in Wahlplakaten begraben.

M ACHT DER S PIELE , F USSBALL IM I RAN

Die brisante politische Macht des Fußballs in Iran besteht aber gerade darin, dass er die Menschen zu spontanen Volkserhebungen mobilisiert, zu einem Widerstand des Augenblicks, die von der Regierung nicht steuerbar sind. Ein Beispiel dafür war das Spiel Iran-USA bei der WM 1998 in Frankreich. Die Spieler sahen die Möglichkeit, ihr Land auf einer neuen Ebene und mit neuem Gesicht zu repräsentieren, und nutzen die Gelegenheit, indem sie zuerst die US-Amerikaner mit weißen Rosen empfingen, ihnen nach jedem Foul die Hand reichten und am Ende noch Trikots tauschten. Während die Machthaber auf iranischer Seite versuchten, das Spiel politisch aufzuheizen, zeigten die Spieler das, was jene so oft missen lassen: fair play. Wieder stürmten die Menschen im Iran an diesem Abend aus ihren Häusern, und ließen dabei nicht zu, dass der sportliche Sieg als politischer Triumph instrumentalisiert wurde, indem viele neben der iranischen auch die US-amerikanische Flagge schwenkten. (Fortsetzung auf S. 70)

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1. Im Labyrinth der Vernunft Jacob Guggenheimer

»Jeder Anfang birgt in sich ein Element völliger Willkür. Nicht nur befindet er sich außerhalb der Kausalitätskette, in der jede Wirkung sofort als Ursache weiterer Entwicklungen verlässlich determiniert ist, er ist überhaupt nicht eigentlich abzuleiten – wäre er so wäre er kein Anfang – und erscheint daher, was Zeit und Raum betrifft, gleichsam aus dem Nirgendwo. Was immer man neu anfängt, im Moment des Anfangens selbst ist es, als ob die Zeitfolge überhaupt verschwunden wäre beziehungsweise, als ob man selbst aus der kontinuierlichen Zeitordnung herausgetreten sei.« (Arendt 1963, S. 265)

Die philosophischen Beiträge am Beginn dieses Buches beschäftigen sich mit drei teils heterogenen Versuchen, die Grundlagen des abendländischen Denkens danach zu befragen, inwieweit ihnen die gesellschaftliche Gewalt, die von Menschen ausgeübt wird, bereits inhärent ist. Bei jedem Artikel steht jeweils ein Denkansatz je einer Philosophin oder eines Philosophen im Mittelpunkt (Judith Butler, Gotthard Günther und Gianni Vattimo). Jeder dieser Ansätze dient einem meiner Kollegen Wilhelm Berger und Martin G. Weiß bzw. mir selbst als Leitfaden. An ihren Verläufen entlang sucht jeder für sich nach möglichen Wegen durch das ›Labyrinth der Vernunft‹1 . Und auch wenn sich die Gedankengänge dabei an vielen Stellen kreuzen und verbinden, so weisen sie (zumindest vorläufig) doch in durchaus unterschiedliche Richtungen. Eine augenscheinliche Parallele liegt selbstredend in der Ablehnung einer absolut gesetzten äußeren Objektivität. Weiß macht sich anhand von Vattimos Philosophie daran, diese Welt als vermeintlich unhinterfragbaren Zustand zu dekonstruieren, auch weil sich Gewaltausübungen stets auf »ewige Wahrheiten« zu berufen scheinen. Daneben konzentrieren sich die Beiträge von Wilhelm Berger und mir stärker darauf, wie dem Übergang von einem Zustand (der Welt) zu einem anderen eine »Form«, oder anders gesagt, eine »Regel« gegeben wird. Diese ›Aufeinanderfolge von Zuständen nach Regeln‹ ist es, die der Begriff Kausalität benennt. Dass es Kausalität gibt, bzw. geben muss, scheint identitätslogisch notwendig vorausgesetzt, denn erfahrbar ist sie letzt1 | So ähnlich lautete auch einmal der Titel eines Buches von Umberto Eco (1989)

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lich nicht. Ein solches Konzept, das ständig im Spannungsfeld von Determination und Freiheit steht, führt in meinen Ausführungen zu einer Vorstellung von autonomer Subjekthaftigkeit, die letzten Endes nur mit Gewalt aufrechterhalten werden kann und selbst wiederum Anlass zu Gewaltausübung bietet. Wilhelm Berger macht darüber hinaus aber auch deutlich, dass ebenso in der Überwindung des Denkens in Zuständen, zugunsten eines Weltbildes, in dem das freie Handeln in den Mittelpunkt gerückt ist, Gewalttätigkeit Teil der Grundstruktur ist. Denn um sich als handelnd erfahren zu können, so Berger, bedarf es einer erlebbaren Kontinuität, die, wenn sie durch nichts anderes gegeben sein kann, nur noch in der »Negation eines Anderen« festzumachen ist. Für dieses Dilemma der fehlenden Anhaltspunkte versucht Weiß einen zweigeteilten Lösungsansatz: Zum einen im Plädoyer für eine skeptische Grundhaltung, aus der heraus man sich der Unentscheidbarkeit stellt und in der Kontemplation verharrt. Weil das Denken nicht mehr versprechen kann, zu letzten großen Wahrheiten zu verhelfen, bleibt zum anderen nur das ›Weitermachen‹ in der Welt, wie sie uns begegnet, so Weiß.

L ITER ATUR Arendt, Hannah (1963): Über die Revolution, München: R. Piper & Co Verlag Eco, Umberto (1989): Im Labyrinth der Vernunft – Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig: Reclam

Kausalität der Gewalt Jacob Guggenheimer

»Dem für eine schädigende Handlung Verantwortlichen eine gerechte Strafe zu erteilen, ist genau der Grund, aus dem die Frage gestellt wird und das fragliche Subjekt sich selbst zu befragen beginnt. Strafe, sagt Nietzsche, ist ›ein Gedächtnismachen‹. Die Frage setzt das Selbst als kausale Macht […]« (Butler 2007: 18) »But…you…you can’t really understand the physics without understanding the math. The math tells how it really works. That’s the real thing; the stories I give you in class are just illustrative; they’re like, fables, say, to help give you a picture. An imperfect model. I mean – even I don’t understand the dead cat. The math is how it really works.« (Joel Coen & Ethan Coen 2007, A Serious Man, Script S. 19)

Was mich in diesem Aufsatz beschäftigen wird, ist (u. a.) das in vielen unterschiedlichen Kontexten und sozialen Ebenen zu beobachtende Phänomen, sich – so scheint es zumindest – von selbst perpetuierender gewalttätiger Aktionen und Reaktionen. In der Rezeption von auf Tagespolitik ausgerichteten Medien entwickelt sich das Bild eines Perpetuum mobile, in dem sich Gewalt und Gegengewalt wechselseitig legitimieren und determinieren. Der Kalte Krieg ist bis heute das Sinnbild für diese Vorstellung eines solchen Teufelskreises geblieben, auch wenn es hier zum größten Teil ›potenzielle Gewalt‹ war, die im Rüstungswettlauf perpetuiert schien. »Politik der Abschreckung« war eines der Schlagworte. Es bedarf aber gar nicht gleich globalpolitischer Betrachtungsweisen, um Situationen zu begegnen, die in ihrer Wechselseitigkeit von Gewaltausübungen ein ähnliches Muster zeichnen. Die Blutfehde ist da ein oft herbeizitiertes Beispiel, doch es können auch ohne Weiteres andere Bezugsrahmen gefunden werden als jener zwischen verfeindeten Familienclans. Wer den 1981 erschienenen Roman von Warren Adler The War of The Roses oder dessen Verfilmung von Danny De Vito (1989) noch in Erinnerung hat, mag im gegenseitigen Strafbedürfnis eine ›Fortsetzung der Ehe mit anderen Mitteln‹ sehen, (sowie Foucault einmal meinte, dass Klausewitz’ Formel vom Krieg ebenfalls in diesem Sinne eigentlich heißen müsste »die Politik ist der mit anderen Mitteln fortgeführte Krieg« [Foucault 1986: 8] und nicht umgekehrt). Das große Rätsel,

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an dessen kritischer Bearbeitung sich dieser Artikel ein Stück weit beteiligen möchte, besteht also darin, zu klären, wie sich diese prozessualen Möbiusschleifen gewaltsamer Beziehungsformen am Laufen halten. Einen in diesem Zusammenhang signifikanten Aspekt stellt das Festhalten an einer bestimmten Selbstkonstituierung des Individuums als Subjekt dar. Es geht also um das Konzept des Menschen als selbstbestimmtes Wesen, als ›Person‹, das die Philosophie seit Immanuel Kant beschäftigt. Dass sich aus diesem ›Selbst-Verständnis‹ einige Schwierigkeiten ergeben, haben längst andere Autor_innen in vielfältiger Weise thematisiert, und an einigen von ihnen (darunter Theodor W. Adorno, Judith Butler, Jacques Derrida und Michel Foucault) möchte ich auch explizit anknüpfen. Bei manchen davon zeichnen sich auch alternative Denkweisen dieses ›Person-Seins‹ ab, und eben dadurch gerät das Netzwerk aus Kausalität, Freiheit und Moral in Bewegung – zumindest, solange es sich auf Individuen als leibhaftige Lebewesen bezieht, aber davon später mehr.

Kausalität vs. Freiheit bei Kant »Das tief Problematische liegt also darin, daß […] es so aussieht, als ob man nur gewissermaßen man selber und nur mit sich selbst identisch zu sein brauche, um auf diese Weise eben ein richtiges Leben zu führen.« (Adorno 2010 [1963]: 27)

Mit dem Kapitel zum Dritten Widerstreit der transzendentalen Ideen in Kants Kritik der Reinen Vernunft geht es quasi um nichts anderes als um das Verhältnis der Begriffe Kausalität und Freiheit. Kant stellt darin folgende Thesis einer Antithesis gegenüber, von denen die erste besagt: »Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig« (Kant 1974: 426 | B 472 | A444). Dem entgegnet die Antithesis: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.« (Ebd.: 427 | B 471,473 | A443, 445) Anders ausgedrückt meint die Thesis: Es müsse etwas geben, das Kant »absolute Spontaneität« (ebd.: 428 | B 474 | A 446) nennt, eine Freiheit, die in der Lage ist, in die Welt mit ihren Kettenreaktionen einzugreifen. Davon auszugehen, dass alles bereits im Vorhinein determiniert sei, also völlig aus den vorausgegangenen Zuständen her erklärt werden könnte, wäre hingegen unschlüssig. Denn wenn ausschließlich Naturgesetze am Werk und freie Entscheidungen gänzlich unmöglich wären, dann müsste jeder Zustand restlos auf den ihm vorhergehenden rückführbar sein. Aber damit nicht genug: Dieser vorhergegangene Zustand kann noch nicht als alleinige Ursache anerkannt werden, solange man nicht seine eigenen Voraussetzungen mit einbezieht, denn dieser Zustand ist ja nicht die ganze Ursache des jetzigen. Auch er hat wiederum seine eigene Ursache usw.

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Aber solange man nicht alle wirkenden Ursachen kennt, kann auch nicht darauf geschlossen werden, dass sie ausreichen, um den jetzigen Zustand als ihre Folge – und ausschließlich als ihre Folge – zu betrachten. Nun liegt auf der Hand, dass eben diese Klärung niemals restlos gelingen kann, weil sie sich ins Unendliche fortsetzen müsste. Kurz: Man kann sich gar nicht sicher sein, dass es sich überhaupt um eine kausale Kette handelt, weil man nicht allein aus der Wirkung auf eine unbekannte Ursache rückschließen kann. Deshalb müsse zur Klärung von Erscheinungen angenommen werden, dass es neben der Kausalität durch Naturgesetze auch noch eine »transzendentale Freiheit« (ebd.) gibt, die in der Lage ist, neue Anfänge (einer Handlung etwa) zu setzen, die dann in weiterer Folge nach den Regeln der Naturgesetze weiterlaufende Wirkungen haben. Kant nennt eben das eine »Kausalität durch Freiheit« (ebd.), und setzt damit, wie Adorno betont, »den Freiheitsbegriff als den Grundbegriff der Ethik« (Adorno 2010 [1963]: 65). Das liegt vor allem daran, dass in dieser Thesis von Kant weit mehr als eine formallogische Überlegung auf dem Spiel steht. Was hier in abstrakten Begriffen verhandelt wird, ist zum einen die Frage, ob es (1) so etwas wie einen freien Willen und damit ein selbstbestimmtes Subjekt gibt, das – weil es in der Lage ist, über sein Tun frei zu entscheiden – auch Verantwortung trägt, und zum anderen (2) geht es hier offensichtlich auch darum, ob sich die Welt rein aus Naturgesetzen heraus erklären lässt, oder ob ein (göttliches) Wesen angenommen werden muss, das in der Lage ist, ›Wunder‹ zu vollbringen (vgl. dazu auch Machart 2005). Denn ein Wunder kann ad definitionem nicht Folge der Kausalität nach Gesetzen der Natur sein. Das muss man in diesem Fall deshalb so umständlich ausdrücken, weil Kant eben auch andere Kausalitäten für denkbar hält. Für ihn bedeutet der Begriff lediglich – Für ihn bedeutet der Begriff der Kausalität – Adorno bringt es auf den Punkt bzw. auf eine Formel – nicht mehr und nicht weniger als »[...] die Aufeinanderfolge von Zuständen nach Regeln« (Adorno 2010 [1963]: 62; vgl. auch Kant 1974: 226 | B 223) Kants ebenso vollkommen vernünftige Antithesis vertritt dagegen den Gedankengang, dass es eben keine solche transzendentale Freiheit in der Welt geben könne. Die Begründung dafür finde sich darin, dass eine solche ›absolute Spontanität‹ daran (und nur daran) zu erkennen sei, dass eine solche Handlung sich eben nicht auf die vorhergegangenen Bedingungen als Ursachen zurückführen ließe. Das würde aber auch heißen, dass es keinen kausalen Zusammenhang zu dem ihr vorhergegangenen Zustand geben kann, auf den sie folgt – sonst wäre sie ja nicht spontan. Daraus ergibt sich nun ein anderes Problem, denn nach Kant können wir Erfahrungen überhaupt nur dann machen, wenn wir durch unseren Verstand voraussetzen, dass der eine von uns sinnlich wahrgenommene Zustand mit einem anderen (darauf folgenden) Zustand dadurch miteinander verbunden ist, dass der zweite aus dem ersten hervorgegangen ist. Anders gesagt: Damit ich die ›Erfahrung‹ machen kann, dass sich etwas ›verändert‹ hat, dass etwas ›geworden‹ ist, muss mein Verstand voraussetzen, dass dieses ›etwas‹

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im einen Moment und im nächsten Moment das Gleiche ist, auch wenn es nun anders erscheint. Damit ich überhaupt ›Erfahrungen‹ machen kann, setze ich also schon eine kausale Verbundenheit der Zustände voraus. Wenn nun aber etwas ›absolut Spontanes‹ geschehen sollte, kann ich es entweder gar nicht erkennen, weil ich ja schon vorausgesetzt habe, dass dieses ›Spontane‹ ansonsten mit dem vorigen Zustand verbunden sein müsste. Weil der neue Zustand aber ›spontan‹ wäre, hieße das, er folge auf den vorangegangenen, ginge aber nicht aus ihm hervor. Dann wäre er aber lediglich eine andere, vom ersten Zustand völlig unabhängige Wahrnehmung. Es bestünde kein Grund, sie miteinander in (kausalen) Zusammenhang zu bringen. Etwas ›absolut Spontanes‹ als etwas, das den ersten Zustand verändert hätte, hat man dann aber auch nicht erfahren. Oder ich nehme diesen radikalen Neuanfang wahr, aber weil ich ihn nicht mit dem früheren Moment in Verbindung bringen kann, habe ich meine Fähigkeit eingebüßt, ›Erfahrungen‹ zu machen. Kurz: diese Freiheit wäre, wenn es sie gäbe, niemals Gegenstand der Empirie. Und wenn es doch möglich wäre, dann um den Preis, »daß Freiheit ihrerseits der Inbegriff der Gesetzmäßigkeit sein soll, und das wäre ungereimt« (Adorno 2010 [1963]: 66), meint Adorno, während er in ein ganz anderes Problem, nämlich das »des schlechterdings Ersten« vertieft ist: »Denn darin daß er [Kant] zeigt, daß ebenso die Annahme einer absolut ersten Ursache auf Widersprüche führt, wie umgekehrt, daß das Problem ohne eine solche Annahme auch nicht aufgeht […], daß nämlich die Frage nach einem solchen absolut Ersten selber eine Trugfrage sein könnte.« (Ebd.: 73f) Um sich aber an dieser Stelle nicht zu verheddern, will ich es kurz machen: Letztlich hält Kant, was den konkreten Bereich des menschlichen Lebens angeht, daran fest, dass vernunftbegabte Wesen dazu in der Lage sind, ihrem freien Willen zu folgen – auch wenn dieser streng genommen nur a priori vorausgesetzt wird, weil er auch nicht beobachtet werden kann. (Dasselbe gilt für die Antithesis, die ebenfalls a priori voraussetzen muss, dass es keine Freiheit gibt, damit sie sich in der Wahrnehmung bestätigt sieht). Der freie Wille ist nicht Gegenstand der Erfahrung und gehört damit eigentlich gar nicht in den Bereich der ›reinen‹, sondern der ›praktischen Vernunft‹, also jener Sphäre, die sich der Frage stellt: »Was soll ich tun?«. Doch diese Freiheit ist, mit Hegel (1986 [1821]:49 ff, § 5-7) gesprochen, nicht so zu verstehen, dass sie willkürlich einmal das eine beschließen könnte und das andere Mal etwas völlig anderes. Wäre die Freiheit so chaotisch, würde sie sich nicht vom Prinzip des Zufalls unterscheiden. Entscheidungen aber, die dem Zufall – man könnte auch sagen dem ›Schicksal‹, dem ›Lauf der Dinge‹ – überlassen sind, können nicht als frei verstanden werden, sondern wären erst recht wieder fremdbestimmt und wären in letzter Konsequenz wieder den Naturgesetzen unterworfen. Deshalb kann wirkliche Freiheit keine ›Willkürfreiheit‹ sein. Damit sie wirklich frei ist, muss sie den Voraussetzungen der Ver-

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nunft genüge tun, und die duldet vor allem anderen keinerlei Widersprüche. Anders ausgedrückt, Menschen sind zwar frei, aber diese Freiheit besteht nur dank ihrer Vernunftbegabung. Sich der Vernunft zu bedienen heißt aber die Regeln der Vernunft zu beachten. Daraus folgt: Es besteht, kraft des Potenzials zum vernünftigen Denken, die Freiheit, sich selbst die Regeln zu geben, an die man sich in seinem Handeln halten möchte – und eben dafür steht das Adjektiv »autonom«, das sich aus den Wörtern selbst (auto) und Ordnung (Nomos) zusammensetzt (vgl. Recki [2009]: 80). Mit dem Setzen dieser Regeln (und das können bei Kant nur die Regeln der Vernunft sein, durch die man schließlich auch den Kategorischen Imperativ erkennt) geht auch die Selbstbestimmung einher. Denn der Freie Wille tut nicht nur, was er will (das ginge auch ohne Vernunft), sondern er zeichnet sich ja in besonderer Weise dadurch aus, dass er auch frei darüber entscheidet, was er will. Könnte er das nämlich nicht selbst festlegen, würde die von Kant formulierte Frage sich gar nicht stellen, die aber grundlegend für die Moral ist: »Was soll ich tun?«. Diese Bestimmung des eigenen Willens ist schließlich das, was bei Kant angedeutet und bei Hegel (und im deutschen Idealismus überhaupt) ausgeführt wird. In der Selbstbestimmung, so Gehardt (1995), kommt dann »die Übereinstimmung eines (logischen) Subjekts mit sich selbst zum Ausdruck. […] In ihm bestimmt sich nicht nur die Vernunft und Wille selbst, sondern, indem [es dies tut], bestimmt sich das ›vernünftige Wesen‹ selbst« (S.  336f.). Damit wird das Subjekt als Dreh- und Angelpunkt moralischen Handelns verankert. Wenn auf diese Weise eine Regel implementiert wird, stellt sich implizit auch eine andere Anforderung an das ›Selbst‹, das mit der Setzung dieser Regel nicht nur sich selbst bestimmt hat. Eine Regel zu befolgen, oder überhaupt sie zu wollen, verlangt von sich (ebenso wie von anderen) auch ab, mit sich selbst identisch zu bleiben, und zwar über die Zeit hinweg. Diese vernunftgeleitete Freiheit läuft also auch darauf hinaus, so scheint es, mit der Selbstbestimmung auch eine klar abgegrenzte Einheit, ein Individuum, das »durchgängig erkennbar und verlässlich ist« (Gerhardt 1999, S. 286), sein zu wollen. Man wird also zum Individuum, indem man beschließt, ein solches sein zu wollen. Und spätestens damit sind wir bei jenem Problem der ›Persönlichkeit‹ angelangt, das Adorno aufgeworfen hat, wenn er den Begriff der »Ethik« kritisiert, der, weil er sich von »Ethos«, dem Wesen, herleitet, für ihn Ausdruck der Vorstellung ist, die Antwort auf die Frage der Moral »Was soll ich tun?« fiele mit dem Anspruch dieses Mit-sich-selbst-identisch-Bleibens zusammen.2

2 | Eventuell könnte man schon daraus, dass hier die Ansprüche des »Wollens« und des »Sollens« sich scheinbar in Wohlgefallen auflösen, darauf schließen, dass es mit der

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Das vielleicht extremste Beispiel dafür, das aber Adorno 1963 mit großer Wahrscheinlichkeit auch vor Augen hatte, als er dieses Thema in seiner Vorlesung aufwarf, bietet vielleicht der Eichmann-Prozess 1961. Folgt man Arendts Bericht (Arendt 1986 [1964]), so kann man annehmen, dass es vor allem zwei Aspekte an Eichmanns Auftreten waren, die für philosophisch und/oder psychoanalytisch Interessierte besonders bemerkenswert waren: Der erste davon schien die Konzepte des ›autoritären Charakters‹ (vgl. Adorno 1995 [1950]) weitgehend zu bestätigen. Eichmann log nicht nur, sondern widersprach sich oft innerhalb weniger Sätze selbst, etwa wenn er erklärte, nie wieder werde er einen Eid leisten, aber gleich darauf entschied, sich für seine Aussage freiwillig vereidigen zu lassen (Arendt 1986 [1964]: 132). Er verfolgte damit nicht das Ziel, seine Verantwortungen abzustreiten. Wenn er log, dann eher in der Absicht, seine Bedeutung im NS-Regime zu überhöhen, seiner Rolle, mit der er sich identifizierte, eine wichtigere Funktion zuzusprechen, als sie nachweislich hatte. Dass er gleichzeitig immer wieder beteuerte, seine Beteiligung nicht abstreiten zu wollen, aber auch nichts zu bereuen habe, weil er sich immer streng an die geltenden Gesetze gehalten habe (vgl. ebd.: 97), sorgte dafür, dass die Einschätzung überwog, Eichmann habe, so Arendt, sein eigenes Gewissen suspendiert und die Führer-Figur Hitlers, deren Wort ihm und anderen Gesetz war, sei an dessen Stelle (des eigenen Über-Ichs) getreten (vgl. ebd.: 233). Ihre Beschreibung deckt sich damit fast vollständig mit jener Sichtweise des psychischen Geschehens, wie sie bereits Freud (1974 [1921]) in Massenpsychologie und Ich-Analyse in ihren Grundzügen skizziert hatte. Anders ausgedrückt: Eichmann bestätigte scheinbar die seit 1930 entwickelten und in den 60ern immer mehr Gehör findenden Modelle einer charakterschwachen Persönlichkeit. Demnach würde es diesen Menschen aufgrund ungünstiger Bedingungen in ihrer Kindheit oder – wie andere Autor_innen kontrovers meinten – aufgrund gesellschaftlicher Umstände in der Gegenwart nicht gelingen, eine ›volle‹, oder ›reife‹ selbstbestimmte Persönlichkeit herauszubilden bzw. aufrechtzuerhalten. Statt sich auf eine ›wahre‹, ›eigene‹ Identität, mit ausgebildeten Gewissens- und Verantwortungsstrukturen stützen zu können, wären diese Menschen dazu gezwungen, sich Pseudo-Identitäten zuzulegen. Um den fehlenden ›inneren Halt‹ zu kompensieren, wären sie dazu gezwungen, sich mit beruflichen und gesellschaftlichen Rollenangeboten in völlig übertriebenem Maße zu identifizieren und auf diese Weise »Als-ob-Persönlichkeiten« (Deutsch 1942: 303, zit. n. Rohde-Dachser 1997: 25ff) aufzubauen (vgl. u. a. Horkheimer, Fromm & Marcuse 1987 [1936], Adorno 1971, Erikson 1966). Kurz: Das Problem – so die sozialpolitische Diagnose – war das Fehlen oder mindes-

Frage der Moral hier im Argen liegt – denn sie wird indirekt damit beantwortet: »Du sollst tun was du – vernünftiger Weise – willst«.

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tens ein ›Zuwenig‹ an jener Selbstbestimmung, die ich oben kurz skizziert habe. Doch war Eichmann tatsächlich einfach einer von vielen »Nicht-zu-EndeGeborenen« (vgl. Theweleit 1978: 470) ohne ausgereifte Ich-Strukturen, dem es an ›innerer Reife‹ mangelte? Es lohnt sich zumindest, sich der Frage zu stellen: Was, wenn nicht? Wenn es nicht an ›echter Persönlichkeit‹ gemangelt hat – und damit nicht der Wunsch sich Bahn brach, sich dem allmächtigen Hypnotiseur zu unterwerfen und willenloses Werkzeug sein zu wollen? Was, wenn der ›Freie Wille‹ frei war und blieb? Arendt war sich ganz sicher, dass für Eichmann nach dem Krieg die Zeit in der Anonymität zunehmend unerträglich wurde (Arendt 1986 [1964]: 352ff) und er es spätestens mit seinem ausführlichen Interview, das er 1955 gab, regelrecht darauf anlegte, gefunden und vor Gericht gestellt zu werden, was er auch im Prozess immer wieder andeutete.

» Nicht nur in Argentinien, wo er eine armselige Flüchtlingsexistenz führte, sondern noch im Jerusalemer Gerichtssaal, als sein Leben so gut wie verwirkt war, hätte er – wenn ihn jemand gefragt hätte – es immer noch vorgezogen, als Obersturmbannführer a. D. gehängt zu werden, anstatt ein friedliches normales Leben als Reisender der Vacuum Oil Company [bei der er zuvor gearbeitet hatte, Anmerk. JG] zu Ende zu leben.« (Ebd.: 108)

Arendt lässt letztendlich wenig Zweifel daran, auch wenn sie es nicht explizit macht, dass Eichmann diesen Prozess nicht nur wollte, sondern ihn geradezu brauchte. Doch weshalb? Ein schlechtes Gewissen plagte ihn ja ganz offensichtlich nicht. Eine Erklärung, die ich hier versuchen möchte, verlangt einen kurzen Exkurs in Nietzsches Genealogie der Moral (Nietzsche 1988 [1887]). Denn an sie knüpft auch eine Theorie Butlers an, auf die ich mich gleich beziehen möchte. Nietzsche erläutert darin eine Art Technik oder eine Art Kunstgriff der Moral, der darin besteht, jedes Geschehen, jede Tat, jedes Werden im Nachhinein damit zu erklären, es bestünde eigentlich aus zwei unterscheidbaren Anteilen: einer Ursache und einer Wirkung. Dabei, so Nietzsche, sei doch offensichtlich, wie absurd und künstlich diese Zweiteilung sei. Als Beispiele nennt er etwa, dass unsinnigerweise der »Blitz von seinem Leuchten« als getrennt gedacht werden könne und dass Leuchten nun als ›Tätigkeit‹ des Blitzes interpretiert werden müsste. Mit dieser geschickten Konstruktion wird es möglich (und notwendig zugleich), ein ›Subjekt‹ anzunehmen – in unserem Beispiel den Blitz, oder den, der ihn hervorbringt –, von dem man annehmen könnte, es sei frei darüber zu entscheiden, ob es diese Handlung setzen wolle oder eben nicht. Doch in Wirklichkeit gebe es gar kein Subjekt: »Aber es giebt kein solches Subs-

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trat; es gibt kein ›Sein‹ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ›der Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.« (Nietzsche 1988 [1887]: 279) Mit dieser Sichtweise auf die Welt installiert sich im Grunde nicht weniger als das Denken in Mustern der Kausalität selbst. Und wenn Nietzsche Kant in einem Punkt nicht widersprechen würde, dann wohl darin, dass kausales Denken eine Bedingung der Vernunft ist. Deshalb deutet sich hier auch der Prozess an, durch den der Mensch zur Vernunft kommt und mit ihr, wie oben ausgeführt, zu einem ›Selbst‹. »Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen ›die Kraft bewegt, die Kraft verursacht‹ und dergleichen, – unsere ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die ›Subjekte‹ nicht losgeworden […].« (Ebd.)

Mir wird es nun gleich darum gehen, zu zeigen, dass dieser Prozess, in dem der Mensch lernt, kausal zu denken (ebd.: 293), der ihn mit Vernunft ausstattet und so autonom werden lässt, aus dem er als das »souveraine Individuum« (ebd.), wie Nietzsche polemisiert, hervorgeht, dass dieser Prozess auch in die entgegengesetzte Richtung verlaufen kann. Butler (2007) ist bemüht, Nietzsches Erklärungsansatz in einem, wie sie meint, entscheidenden Punkt zu präzisieren, der bei ihm schon implizit angelegt ist. Sie legt besonderen Wert darauf, dass diese ›Verdoppelung des Tuns‹, also die Aufspaltung in ›Ursache‹ und ›Wirkung‹, die immer erst im Nachhinein geschehen kann, einer ganz bestimmten »Gesprächsszene« bedarf. Nietzsche hatte ja schon angedeutet, dass dieses Fehlurteil auf einen zu unbedachten Umgang mit Sprache zurückzuführen sei, in die sich vergangene Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben hätten, doch Butler meint in diesem Fall wohl eher die Szenerie, das ›Psychodrama‹, könnte man auch sagen. Damit man sich als Täter_in, der/die für das eigene Handeln verantwortlich ist, also als ein freies, selbstbestimmtes Wesen begreifen könne, sei ein nachträgliches Szenario notwendig, in dem man »gefragt wird, was man getan hat, oder in dem man sich gegenüber jemandem zu erklären versucht, der darauf wartet zu erfahren, was man getan hat und aus welchem Grund« (Butler 2007: 22). Und eben darin liegt wohlmöglich die Antwort auf die Frage, weshalb (in meinem Beispiel) Eichmann diesen Gerichtsprozess so dringend brauchte, diese Möglichkeit, sich zu rechtfertigen, sich zu erzählen und auf diese Weise nicht nur das ›Selbst‹ beleiben zu können, das er meinte zu sein, sondern überhaupt ein ›Selbst‹. Ich meine damit, dass für ihn mehr auf dem Spiel stand als eine narzisstische Kränkung (wie sie etwa jemand im Sport erfährt, wenn er/sie nicht mehr den ersten Platz erlangt). Was droht, ist der Verlust des ›Selbst‹ per se und mit ihm die von Kant beschriebene Art und Weise, seine Umwelt in kau-

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salen Zusammenhängen zu ›erfahren‹.3 Indem Eichmann sich nachträglich als Verursacher konstruiert, strukturiert er das Eintreffen vergangener Ereignisse als nach Regeln verlaufende Abfolge, d. h. als Kausalität.4 Nietzsche geht also daLarry von aus, dass Kausalität A divorce – what have I done! I haven’t done nicht a priori vorausgesetzt anything – What have I done! werden muss, um anschließend Erfahrungen machen Judy Larry, don’t be a child. You haven’t »done« zu können, wie Kant meint. anything. I haven’t »done« anything. Sondern erst in der Re-Konstruktion der Vergangenheit, Larry der bereits eingetretenen ErYes! Yes! We haven’t done anything! And I – I’m probably about to get tenure! eignisse, erscheint Kausalität als strukturierendes Netz, Judy vor dem sich sowohl das Nevertheless, there have been problems. As you know. ›Selbst‹ als freies, vernunft[...] begabtes Wesen erfahren lässt als auch sein Gegenteil, Larry die totale Determiniertheit Yes, but you – you said we hadn’t done anything! der Welt (als ein ›Außen‹). Mit anderen Worten: Kausa- Dialog 1: (Joel Coen & Ethan Coen 2007, p. 28-29) lität wird reziprok nicht nur zur Voraussetzung von Erfahrungen. Es gilt auch der Umkehrschluss: Das Erfahren und Erzählen von kausalen Zusammenhängen, von einem ›Selbst‹ als Verursacher_in kausaler Ketten, ermöglicht die Bestimmung eines ›Selbst‹ ebenso wie die eines/einer ›determinierten Außen(welt)‹. Und ich denke, das ist es, was verloren zu gehen droht. Wenn die kausale Strukturierung durch Prozesse, wie jenem, dem Butler so viel Bedeutung beimisst, nicht ausreichend bestätigt wird, wenn sich Hinweise häufen, dass sich Ursachen und Wirkungen nicht klar voneinander trennen lassen, dann kommt es auch zu Auflösungserscheinungen des Selbst.

3 | Was eigentlich, wie Nietzsche es nennen würde, auch das Begrüßenswerteste wäre und nur dank der gesunden Kraft des Vergessens gelingen kann (vgl. Nietzsche 1988: 292). 4 | Wenn Eichmann vor Gericht sagt: »Man hätte eben sagen können: ›Ich mache das nicht mehr‹, aber ich weiß nicht, was dann mit mir passiert wäre« (zit. n. TV-Doku von Kölsch 2006), dann geht es nicht so sehr um ›Leben und Tod‹ als um ein metaphysisches ›Sein oder nicht Sein‹.

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»Actions always have consequences!« – Kausalität und das Erleben der Wirklichkeit. Ein Beispiel. Wie kann man sich aber dieses ›Erleben‹ jenseits von Kausalität vorstellen? Oder kann man es überhaupt denken? Denn wenn man Kant ernst nimmt, wäre man ja der Voraussetzung beraubt, Erfahrungen zu machen. Eine m.E. unglaublich gute Gelegenheit, um sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, bietet der 2009 erschienene Film von Ethan und Joel Coen A Serious Man, in dem der Protagonist, ein Physik-Professor an einer amerikanischen KleinstadtUniversität Ende der 1960er-Jahre, alles versucht, um eben das zu sein bzw. zu bleiben: eine selbstbestimmte Person5; ganz so, als hätte er Volker Gerhard gelesen, der schreibt: »Die Bedeutung der Vernunft liegt allein in ihrer Stellung zum bewußten Tun des sich als Einheit begreifenden Menschen: Wer tatsächlich er (oder sie) selbst sein will, wem daran liegt, als Person ernstgenommen zu werden, der hat sich bereits der Vernunft unterstellt. Denn nur sie kann ihm einen Begriff von sich selbst als Person, von der Situation und von der Welt geben, in der er sich befindet.« (Gerhardt 1999: 349). Doch diese Ansprüche lassen sich im realen Leben gar nicht so oft und leicht erfüllen, und in diesem Fall konfrontieren die Regisseure ihre Figur Larry Gopnik mit einer Vielzahl von Ereignissen, bei denen es nicht gelingen will, sie in ein Ursache-WirkungSchema zu transformieren. Was Larry widerfährt und verunsichert, ist, dass in seinem Umfeld offenbar Dinge geschehen, ohne dass sich eine Ursache oder ein/eine Verursacher_in dafür finden ließe. So will sich etwa seine Frau von ihm scheiden lassen (siehe Dialog 1), obwohl sie sich darauf einigen können, dass weder er noch sie etwas ›getan‹ hatten, was dazu hätte führen können. Und in einer Nebenhandlung verfolgt ein Versandhaus die Geschäftsstrategie, unaufgefordert Schallplatten an willkürlich ausgewählte Haushalte zu versenden. Werden diese nicht binnen einer Frist zurückgesendet, folgen umgehend die Rechnungen. Eine Vorgehensweise, die in Larrys vernunftgeleiteter Denkweise ›völlig falsch‹ (»very wrong«) erscheint, denn er sieht sich nicht als Verursacher: »I don’t want Santata Abraxis! […] I didn’t ask for Santana Abraxis! I didn’t listen to Santana Abraxis! I didn’t do anything!« (Coen, J. & Coen, E. 2007: 76-78) Das Schlimmste aber scheint für sein Logik-Bedürfnis zu sein, dass sich seine Mitmenschen an diesem Mangel an kausalem Denken gar nicht zu stören scheinen und unter ihnen am allerwenigsten zwei Rabbiner, ein junger sowie ein zweiter, erfahrener. Bei beiden sucht Larry auf Drängen seines Umfeldes nacheinander Rat. Mit ihrer Hilfe hofft er, zumindest auf religiöser Ebene kausale Abfolgen finden zu können, indem er danach fragt, was Gott, als Verursacher der ihm zufallenden Ereignisse, damit bezwecke, was der Wille Gottes dabei sei. Würde sich diese Annahme, 5 | Eine andere Gelegenheit böte sich vielleicht mit Daniel Kehlmanns Roman Mahlers Zeit (2001).

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diese ›Voraussetzung‹, erClive Park [a student, Anmerk. JG] enters the office. kennen lassen, dann wäre [Larry] das Prinzip der Kausalität, ...Have a seat dass Zustände aufeinander Larry uses a key to open the top left desk drawer. nach Regeln folgten, wieHe takes out the envelope. ... We had, I think, a good talk, the other day, but der durch seine Erfahrunyou left something that – gen bestätigt. Und Larry sucht dringend nach solClive chen Bestätigungen, denn I didn’t leave it. [...] er ist diesbezüglich immer Larry stärker verunsichert. Die You know what it is! You know what it is! I belive. Veränderungen, die er erAnd you know I can’t keep it, Clive. lebt, wären nicht mehr ein Clive langes unscharfes Werden, Of course, sir. sondern würde sich als ›Ursache‹ (Gottes Wille) Larry I’ll have to pass it on to Professor Finkle, along und ›Wirkung‹ (das Zerwith my suspicions about where it came from. brechen seiner Ehe etc.) Actions have consequences. erklären lassen, ohne Ausnahme. Diese VerunsicheClive Yes. Often. rung seines kausalen Denkens findet im Film neben Larry den alltäglichen ErlebnisAlways! Actions always have consequences! sen auch eine mathematiHe pounds the desk for emphasis. sierte Entsprechung durch ... In this office, actions have consequences! die Theorien der Quantenphysik (vgl. dazu auch Clive Heisenberg 1986). Anders Yes sir. als das strenge Zuordnen Larry von Zuständen auf geltenNot just physics. Morally. de Regeln scheint hier ein anerkennender Umgang Dialog 2 (Joel Coen & Ethan Coen 2007: 31-33) mit dem Zufälligen möglich zu sein, der in Gestalt mathematischer Wahrscheinlichkeiten auch gewisse Konturen eines kausalen Denkens erahnen lässt. Doch diese Grenzen können – zumindest zeigt es so der Film – nur unscharf bleiben. Und so wird auch der Entwurf eines Subjekts mit dem alternativen Denkmodell in Person des Bruders von Larry dargestellt. Dieser beschäftigt sich auf nur scheinbar unwissenschaftliche Weise mit Wahrscheinlichkeitsrechungen und nimmt für experimentelle Untersuchungen (sehr erfolgreich) an illegalen Glücksspielen teil. Aber Onkel Arthur bezahlt für sein Anderssein in einer extrem normativen Gesellschaft (im konservativen Midwest Ende der 1960er-Jahre), für seine queerness, damit, dass er eben

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nicht als ›selbstbestimmte Person‹ anerkannt wird als Schwuler, als Kranker, als Dicker, als Freak, der das im Glücksspiel gewonnene Geld weiterverschenkt, der sich eben nicht innerhalb der ›Grenzen‹ bewegt, weder in jenen der Körper und des Begehrens noch in jenen ›vernünftiger‹ Kausalität. Darüber hinaus dürften die Filmemacher die Handlung nicht zufällig (wenn vielleicht auch nicht gänzlich bewusst) im jüdischen Milieu angesiedelt haben, um dann gleich zu Anfang den Protagonisten die Schwierigkeiten der Quantenphysik am Beispiel von ›Schrödingers Katze‹ erklären zu lassen – jenem Gedankenexperiment, bei dem versucht wird, die logische Problematik der Wahrscheinlichkeit (in der Quantenmechanik) damit zu veranschaulichen, dass man sich vorstellt, wie eine Katze in eine Kiste gesteckt wird, gemeinsam mit einer Apparatur, die nach einem Zufallsprinzip6 Giftgas freisetzt und die Katze tötet – oder eben nicht. Für die klassische mechanische Physik ergibt sich daraus der paradoxe Moment, dass vor der Messung, also bevor durch das Öffnen der Kiste überprüft wird, ob die Katze tot oder lebendig ist, beide Zustände gleichermaßen ›real‹ sind. Die Verunsicherungen, die sich daraus für ein kausales Denken ergeben, sind naheliegend: Wenn die Wirkungen einer Ursache sich nicht klar aus den geltenden Regeln ergeben, sondern die Regeln selbst Zufall enthalten, sodass die Wirkung sowohl das eine (tot) als auch das andere (lebendig) sein kann, wie kann der/die Verursacher_in mit ihrem/seinem freien Willen sich noch verantwortlich zeigen, wie sich rechtfertigen oder erzählen? Die Parallele, die mit ›Schrödingers Katze‹ (»the dead cat«, wie es im Film heißt – vgl. Eingangszitat am Beginn des Artikels) gezogen wird, ist naheliegender Weise die zu den Gaskammern der Konzentrationslager und Vernichtungslager der Nazis und die Verunsicherung, die sie im Denken eines selbstbestimmten ›Selbst‹ hinterlassen haben. Im Dokumentarfilm Pornografie und Holocaust (2008) von Ari Libsker berichtet die Tochter von Auschwitz-Überlebenden, dass jenen, die nach dem Krieg aus den Konzentrationslagern nach Israel auswanderten und die bald die Hälfte der Israelischen Bevölkerung ausmachen sollten, von der bereits ansässigen jüdischen Bevölkerung stark angefeindet wurden. Zwei Argumentationsstränge seien damals besonders mächtig gewesen: erstens, dass die Opfer der Nazi-Verbrechen an ihrem erlittenen Leid im Grunde selbst schuld gewesen seien, denn es wäre ihnen freigestanden, schon eher nach Israel zu emigrieren – wie sie, die bereits Ansässigen, es schon (lange) vor dem Krieg getan hatten; und zweitens, dass diejenigen, die die Lager überlebt hätten, zweifellos selbst Schuld auf sich geladen hätten, denn man könne sich ihr Überleben unter diesen abscheulichen Bedingungen gar nicht anders erklären, als dass sie 6 | Konkret handelt es sich um einen Geigerzähler, der je nachdem, ob ein labiles Atom zerfällt – was in der Quantenmechanik nur in Form einer Wahrscheinlichkeit ausgedrückt werden kann –, die Kettenreaktion auslöst.

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zu jenen zählen müssten, die mit den Nazis kollaboriert hatten oder zumindest so egoistisch gewesen waren, dass sie die wenigen Nahrungsmittel nicht bereit waren zu teilen. Kurz: Jene, die versucht hätten, moralisch zu handeln, seien mit Sicherheit als Erste umgekommen, jene die zurückkehrten, könnten deshalb nur die moralisch Verkommensten unter allen sein. Und die erzählende Frau zieht den Schluss (ich zitiere sinngemäß): »Was fast niemand in Israel begreifen konnte, war die pure Zufälligkeit, von der es in den Lagern abhing, ob es einen selbst traf oder den Menschen, der neben einem stand.«. Das Denken in kausalen Kategorien, das sollte hier deutlich werden, kommt in solchen Situationen in eine schwere Krise, die den Opfern nur die Wahl lassen kann zwischen (1) einer ›Selbst-Schuld-Position‹, aber zumindest als Subjekt, (2) einer Opferposition, die sie gänzlich und nachhaltig entmündigt, und einer (3) Position als rehabilitiertes Subjekt in Gestalt der/des ›Rächenden‹.

Auswege aus der Kausalität. Die Suche nach Alternativen bei Butler »Man kann immer sagen: ›Mir ist Gewalt angetan worden, und deshalb darf ich mich verteidigen.‹ Viele Gräueltaten werden im Namen der Selbstverteidigung begangen, die an kein Ende kommt und an kein Ende kommen kann, weil sie eine permanente ethische Rechtfertigung der Vergeltung liefert.« (Butler 2007: 135)

Um dem Modell eines Selbst in der Tradition der Aufklärung – und noch mehr in der des deutschen Idealismus – entgegenzutreten, greift Butler (2007) auf Lévinas’ Überlegungen zu den Voraussetzungen dieser Subjektwerdung zurück. Und was den Ausgangspunkt dieses Nachdenkens betrifft, sieht Butler Lévinas und Nietzsche in seltener Einigkeit. Denn wenn es für Lévinas einer grundlegenden ›Anklage‹ (und »Verfolgung«) für die Subjektwerdung bedarf, ist es bei Nietzsche eine Beschuldigung, ein Verdacht, der auf einen fällt, so Butlers Lesart. Erst im Nachhinein wird sich das entstandene Subjekt als Täter_in, d. h. als kausale Ursache seiner/ihrer Tat begreifen. Darin, in dieser Reflexion auf das ›Selbst‹, läge dann die Geburtsstunde dieses Subjekts, das sich selbst – so könnte man es vielleicht bildlich ausdrücken – die Frage stellt: »Was habe ich getan?« oder »War ich das?« Doch anders als bei Nietzsche ist es nicht das Bekennen zum eigenen Handeln, welches dieser Reflexion vorausgeht. Das, was bei Lévinas dafür sorgt, dass dieses ›Ich‹ auf sich selbst zurückgeworfen ist und dadurch erst aus diesem ›Sich‹ hervorgeht, ist eben nicht die Erfahrung von sich selbst als Täter_in, von sich als Anfang einer kausalen Kette. Auf dem »vor-ontologische[n] Schauplatz«, so liest Butler Lévinas, (1998 [1978]) wird das Subjekt eingesetzt, indem »es von einer Verfolgung ›betroffen‹ und ›berührt‹ wird, die kein Bewusstsein und keine Ursache hat und keinem Prinzip folgt« (Butler 2007: 118). Anders ausgedrückt: Das ›Ich‹ etabliert sich zunächst gar nicht als Handelndes, sondern es ist zunächst »Objekt«,

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Teil einer Handlung, die nicht von ihm selbst ausgeht, sondern – im Gegenteil – einer Handlung, die sich an ihm ausübt. Kurz: Das ›Ich‹ erlebt sich »vorontologisch«, d. h. bevor es überhaupt beginnen kann, sich selbst in einer Erzählung zu konstituieren, als passiv. Und Butler beeilt sich zu ergänzen: »Die Passivität, die Lévinas als ›Passivität‹ vor der Passivität‹ bezeichnet, ist nicht als das Gegenteil von Aktivität zu verstehen, sondern als Voraussetzung der AktivPassiv-Unterscheidung.« (Ebd.) Worum es Butler bei dieser Zuhilfenahme von Lévinas’ Ansatz geht, ist nicht eine paradoxe Umkehrung der Schuldzuschreibung von Opfern und Täter_innen, durch die sich das Opfer für das erlittene Leid selbst als Ursache begreifen solle, ganz und gar nicht. Schuldgefühle und schlechtes Gewissen, so ihre Argumentation, stehen an sich schon im Dienst der Stärkung eines Subjekts, das sich als autark begreift, mit klaren, undurchlässigen Grenzen zwischen sich selbst und seinem (sozialen) Umfeld. Schuldgefühle sind »eine Form des negativen Narzissmus« (ebd.: 134) und Narzissmus zeichnet sich seinem Wesen nach dadurch aus, dass er den Bezug zu anderen Menschen verhindert, die Verletzungsoffenheit und überhaupt jede Offenheit gegenüber dem Umfeld verleugnet, indem er das Selbst immer wieder auf sich selbst zurück bezieht. Theoretische Ansätze, die versuchen, Verantwortlichkeiten auf dem Boden des schlechten Gewissens aufzubauen, tragen deshalb, so Butler, dazu bei, das Subjekt in den Narzissmus »hineinzuziehen« (ebd.). Stattdessen plädiert sie dafür, diese grundlegende Verletzbarkeit, die menschliches Dasein ausmacht, und die belegt, wie sehr wir alle dem Zugriff durch andere ausgeliefert sind, zur Basis für Verantwortungsprinzipien zu erheben. Rekurse auf Schuld und schlechtes Gewissen, so Butler, sind dabei ebenso kontraproduktiv wie der Ruf nach ausgleichender Gewalt, denn beides führe dazu, sich der eigenen Verletzlichkeit sowie der Trauer nicht stellen zu müssen.

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K AUSALITÄT DER G EWALT

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Es gibt keine Tatsachen … Zu Gianni Vattimos Philosophie der Endlichkeit 1 Martin G. Weiss

V AT TIMOS »S CHWACHES D ENKEN « »Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb. Wenden wir uns also seinem Denken zu.« (vgl. Arendt/Heidegger 2002: 184). So soll Martin Heidegger eine seiner Vorlesungen eingeleitet haben. Bei einem Denker wie Aristoteles, dem es um die »erste Philosophie« zu tun war, also um das, was später »Metaphysik« heißen sollte und für den Philosophie in der Frage nach dem Sein an sich und nach den ersten bzw. letzten Gründen bestand, ist diese Ausklammerung des Besonderen und Kontingenten vielleicht ja durchaus angemessen; bei einem Denker wie Gianni Vattimo aber, der in erster Person philosophiert, also die geschichtlich-sprachliche Situiertheit seiner Position ständig mitreflektiert, scheint es gerechtfertigt, mit einer kurzen biografischen Skizze zu beginnen. Vattimo wird 1936 in Turin geboren und wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Er engagiert sich in der katholischen Studentenbewegung und studiert Philosophie bei Luigi Pareyson und Hans Georg Gadamer, dessen Hauptwerk Wahrheit und Methode er später ins Italienische übersetzt. Mit 28 wird er Professor für Philosophie und beschäftigt sich vor allem mit Heidegger und Nietzsche. Von 1999 bis 2004 ist Vattimo Abgeordneter des Europaparlaments in den Reihen der postkommunistischen Democratici di Sinistra, kehrt jedoch, nach einem erfolglosen Wahlkampf für die Communisti Italiani 2005 wieder zu seiner Professur in Turin zurück. Im Juni 2009 wird er, diesmal in den Reihen der Partei des früheren Staatsanwaltes Antonio Di Pietro L’italia dei Valori erneut ins Europäische Parlament gewählt.

1 | Für eine ausführlichere Darstellung der hier ausgeführten Thesen vgl. Weiß 2006 2.

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Bekannt wurde Vattimos Philosophie als »schwaches Denken«. »Pensiero debole« lautete der provokante Titel eines programmatischen Sammelbandes, den Vattimo 1983 zusammen mit Pier Aldo Rovatti veröffentlichte und der die Postmoderne-Diskussion in Italien einläutete. (Vgl. Vattimo/Rovatti 1983) Wolfgang Welsch hat Vattimos »schwaches Denken« treffend als »aisthetisch-mimetisches Denken mit hermeneutischem Rückgrat (vgl. Welsch 1996: 204) charakterisiert, also als wahrnehmend-nachahmende Philosophie mit Geschichtsbewusstsein. Wahrnehmend-nachahmend ist Vattimos Philosophie insofern als es ihr um eine Bestandsaufnahme der aktuellen geistigen Situation geht. In neueren Publikationen bezeichnet Vattimo seine Philosophie in begrifflicher Anlehnung an Foucault und im Sinne Heideggers als »Ontologie der Aktualität«, also als ein Bedenken der Weise, wie wir heute Seiendes primär erfahren. Worin aber besteht der Grundzug unserer spätmodernen, postmodernen Welt? Vattimo sieht unsere Gegenwart vor allem durch die allgemeine Auflösung des Objektivitätsmythos sowohl auf erkenntnistheoretischer als auch auf werttheoretischer Ebene gekennzeichnet. Was heute zunehmend fraglich werde, sei der metaphysische Glaube an objektiv erkennbare zeitlose Wesenheiten oder Werte. Aldo Gargani spricht in diesem Zusammenhang von einer allgemeinen Krise der Vernunft und führt aus: »Die Krise der klassischen Rationalität begann in jenem Augenblick, in dem Mach die Newtonsche Definition der Masse als Quantität von Materie ablehnte zugunsten der Definition der Masse als messbare Beziehung zwischen den Beschleunigungen von Körpern. An die Stelle von Substanzen, an die Stelle von statischen Entitäten, treten Messverfahren, Wechselwirkungen zwischen physikalisch bestimmten Strukturen.« 2 (Gargani 1979: 21)

Aber nicht nur in der Naturwissenschaft und in der Ethik ist Vattimo zufolge der Glaube an das An-sich geschwunden, sondern unser Glaube an eine objektiv erkennbare Wirklichkeit überhaupt sei heute im Schwinden begriffen, wovon die Medialisierung unserer Gesellschaft und die Pluralisierung der Nachrichtenkanäle und Blogs beredtes Zeugnis ablegen.

2 | Ähnliches vertritt auch Wolfgang Welsch, wenn er schreibt, »die Wissenschaft dieses Jahrhunderts [habe] im Gefolge der ›Grundlagenkrise‹ (Einsteinsche Relativitätstheorie, Heisenbergsche Unschärferelation, Gödelscher Unvollständigkeitssatz) erkannt, dass der Wirklichkeit nicht mit Totalitätsansprüchen, sondern nur mit pluralen Modellen und situations-spezifischen Theorien beizukommen ist.« (Welsch 1990 in: TAZ Nr. 3209 vom 13.09.1990: .15-16, hier 15).

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M ARTIN G. W EISS »Tatsächlich führen die immer zahlreicheren Möglichkeiten, Informationen über die unterschiedlichsten Aspekte der Wirklichkeit zu erlangen, zur Unmöglichkeit, die Wirklichkeit als eine Wirklichkeit zu denken. Vielleicht verwirklicht sich in der Welt der Massenmedien eine ›Prophezeiung‹ Nietzsches: Die wahre Welt wird zur Fabel. Wenn wir in unserer spät-modernen Zeit eine Vorstellung von Wirklichkeit besitzen, so kann diese nicht mehr als eine objektive Gegebenheit verstanden werden, die sich unterhalb oder jenseits der Bilder befände, die uns die Medien liefern. Wie und wo sollten wir zu einer solchen Wirklichkeit ›an sich‹ Zugang finden? Wirklichkeit ist für uns vielmehr das Ergebnis von Überschneidungen und ›Kontaminationen‹ zahlreicher Bilder, Interpretationen und Rekonstruktionen, die als miteinander konkurrierende von den Medien verbreitet werden.« (Vattimo 1989: 39)

Das hermeneutische Rückrat der Position Vattimos, von dem Welsch spricht, besteht in Vattimos historistischem Versuch, die sich auflösende Objektivität, zu der als ihr notwendiges Pedant auch das selbsttransparente Subjekt gehört, durch eine aus dem Geschichtsverlauf abgeleitete, anti-objektivistische Norm zu ersetzen, wodurch verhindert werden soll, dass das Ende der Metaphysik in willkürlichem Relativismus ende. Kurz: Da wir nach dem Ende der großen Metaerzählungen mit ihren unumstößlichen Wahrheiten keine Anhaltspunkte mehr haben außer unserer konkreten Geschichte, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an diese und ihre Lehre zu halten. Die Geschichte des Abendlandes ist für Vattimo nun aber die Geschichte des zunehmenden Verfalls des Glaubens an unanfechtbare ewige objektiv gegebene Wahrheiten; und diesem Erbe gelte es die Treue zu halten. Im Kapitel »Religion« seines Buches Jenseits der Interpretation erklärt Vattimo dieses Konzept als Ergebnis der Verschränkung zweier Sätze der abendländischen Tradition: des aristotelischen »to on legethai pollachos (das Sein wird auf vielerlei Weise ausgesagt« (Met. IV, 2, 1003a 33) und des paulinischen »multifariam multisque modis olim loquens Deus patribus in prophetis (Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten)«. (Hebräerbrief 1, 1-2) Aristoteles’ Satz von den vielfältigen Weisen, in denen das Sein gesagt werde, gilt Vattimo als Anfang jener hermeneutischen Philosophie, die nicht mehr nach dem An-sich der Dinge sucht, sondern erkannt hat, dass sich die Wahrheit nur in ihren Interpretationen gibt, im selben Sinne in dem die »Interpretation« eines Musikstückes dieses selbst ist. Beethovens Neunte existiert nicht an sich auf dem Papier oder im Kopf des Komponisten, sondern allein in ihrer konkreten Aufführung, die nicht eine minderwertige Kopie des unzugänglichen Werkes an sich darstellt, sondern die einzige Weise, in der es uns als es selbst gegeben ist. Wenn dem aber so ist, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des einen Werkes zu den vielen Interpretationen, zu denen es Anlass gib. Gibt es nur eine

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richtige Interpretation des Werkes oder sind alle Ausführungen gleichwertig? Oder gibt es schließlich einen dritten Weg, der sowohl die Einzigartigkeit des Werkes als auch die Vielheit der Interpretationen gelten lässt? Dieser hermeneutischen Frage hat sich noch vor Gadamer Vattimos Lehrer Luigi Pareyson in seiner Ästhetik angenommen (vgl. Weiß 2004). Die einzige Möglichkeit, die Einheit des Werkes und die Vielheit der Interpretationen zusammenzudenken, besteht Pareyson zufolge darin, die Interpretation als persönliche Offenbarung des Werkes durch den jeweiligen Interpreten zu definieren. Die Personalität, d. h. die jeweilige persönliche Perspektive, ist der Ort, an dem sich das Interpretierte je in einem seiner unendlichen Aspekte, sprich Anblicke, zeigt, ohne dass es an sich jenseits der Interpretation existieren würde. Jede Interpretation ist das Werk selbst und in jeder Interpretation wird das Werk auf eine ganz besondere Weise lebendig und sichtbar. In jeder Interpretation erscheint das ganze Werk, so wie es ist, aber immer in einem ganz bestimmten Licht, in einem ganz bestimmten Anblick: »Das Kunstwerk ist eine Form, d. h. eine abgeschlossene Bewegung, eine in einem Bestimmten gesammelte Unendlichkeit […]. Das Werk hat deshalb unendlich viele Aspekte, die nicht nur ›Teile‹ oder Fragmente sind, denn jeder der Aspekte des Kunstwerkes enthält das Werk ganz und offenbart es in einer ganz bestimmten Perspektive.« (Pareyson 1996: 227) 3

So kann eine bestimmte Interpretation zugleich das Werk selbst sein. In dieser Formel ist sowohl die Einzigartigkeit des Werkes wie die Vielzahl der Interpretationen gewahrt. Denn in allen Interpretationen bleibt das erscheinende Werk doch immer dasselbe. Das nur in Perspektive Gegeben-Sein-können des Werkes bedeutet dabei keine Einschränkung der Erkenntnis, vielmehr gehört es zum Wesen des Werkes, immer nur perspektivisch gegeben zu sein. Vattimo radikalisiert die ästhetische Hermeneutik seines Lehrers Pareysons nun aber, indem er sie auf jegliches Verstehen ausweitet und betont, das auch die These, dass der Gegenstand der Interpretation nur durch Interpretationen vermittelt gegeben sei, selbst lediglich als Interpretation gefasst werden dürfe. Ein weiterer Unterschied zu seinem Lehrer besteht in Vattimos Betonung der geschichtlichen Bedingtheit des Interpretationsgeschehens, denn Paulus’ Hinweis auf die Geschichte der göttlichen Offenbarung wertet Vattimo als Einsicht in die unhintergehbare Geschichtlichkeit aller Interpretationen. Aus der Verbindung dieser beiden Thesen, der aristotelisch-pareysonianischen Pluralisierung der Bedeutungen und der paulinischen Einsicht in die Geschichtlichkeit jeglicher Interpretation, ergibt sich für Vattimo das Konzept einer pluralen, d. h. 3 | Vgl. dazu auch Weiß, Martin G.: Luigi Pareysons Theorie der Formativität, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 45/1 (2000), 111-122.

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schwachen Wahrheit, die ihr schwaches Kriterium in der geschichtlichen Überlieferung hat: »Den Sinn einer nihilistischen Ontologie, den wir hier der Hermeneutik zu geben bemüht sind, ist das Ergebnis einer ›Kontamination‹ des Aristotelischen Pluralismus durch den Paulinischen Historismus.« (Vattimo 1995:59)

Einziges Kriterium nach der Auflösung der Wahrheit in Interpretationen stellt so die Tendenz zur Schwächung der objektiven Wahrheit dar, die Vattimo in seiner Interpretation als Grundzug der Geschichte (der Philosophie) auszuweisen sucht, obschon er sich bewusst ist, dass auch seine Deutung der Geschichte keinen Anspruch auf Objektivität erheben kann, da sie sich sonst selbst widersprechen würde: »Obwohl die Idee einer mit einem globalen Sinn ausgestatteten Geschichte zu Recht kritisiert wurde, meine ich, dass wir auf eine bestimmte Idee eines Sinnes der Geschichte nicht verzichten können, auch wenn eine solche Idee heute nur mehr als Paradoxon formuliert werden kann, in dem Sinne, dass die Bedeutung dessen was sich ereignet eben in der Tendenz zur Auflösung eines globalen Sinnes der Geschichte besteht. Diese Einsicht bedeutet nun aber nicht nur […] Sinnverlust, sondern enthält ebenso konkrete Sinnmöglichkeiten. Auf dem Boden der Einsicht, dass sich der Sinn, die großen dogmatischen Glaubenssysteme, die großen metaphysischen Horizonte auflösen, können wir Entscheidungen treffen und unsere Existenz dieser Tendenz gemäß einrichten.« (Vattimo 1990: 14)

Vattimo zufolge leben wir in einer Zeit, in der wir nicht mehr an unumstößliche vorgegebene Werte und Tatsachen glauben können und in der sich uns das Wesen der Dinge in Interpretationen aufgelöst hat, die vom jeweiligen geschichtlichen sprachlich-kulturellen Kontext abhängig sind, innerhalb dessen sie uns begegnen. Das jeweilige Wahre, das jeweilige Seiende erscheint je anders, je nachdem, in welchem Kontext, innerhalb welchen Sprachspiels, innerhalb welchen Horizontes es erscheint. So ist die Wahrheit eines Tisches, d. h. das, was er ist, sein Sein, je ein anderes, je nachdem, ob er im Kontext einer religiösen Handlung oder im Sprachspiel eines Geschäftsessens erscheint, denn einmal ist er Altar, das andere Mal bloße Ablage. Noch deutlicher wird die Abhängigkeit der ontischen Wahrheit des einzelnen Wahren vom Horizont der hermeneutischen Situationswahrheit am Beispiel des Menschen. Denn in den unterschiedlichen Sprachspielen eines Liebenden und eines Physiologen wird sich der »Gegenstand« Mensch je anders zeigen. In den unterschiedlichen Horizonten bzw. Kontexten ist der Mensch je etwas anderes, seine Wahrheit ist je eine andere: einmal das geliebte Du, das andere Mal ein System von Organsystemen und biochemischen Vorgängen. Dabei ist noch nicht entschieden, welche der

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unterschiedlichen Erscheinungsweisen des »Gegenstandes« die »richtige« ist, denn in den unterschiedlichen Horizonten wird je anderes sichtbar, das in einem anderen Sprachspiel gar nicht vorkommen kann. Wie aber kam es zur Auflösung des Glaubens an an sich bestehende ewige objektive Wahrheiten, deren Erkenntnis doch von alters her das erste Ziel der Philosophie darstellte? Zwar wuchs Vattimo zufolge bereits mit Kant und Descartes der Zweifel am Objektiven, doch erst mit Nietzsche brach die »nihilistische Erkenntnis« herein, dass es keine gegenständliche, ewige Wahrheit gibt, sondern allein die vom subjektiven »Willen zur Macht« gesetzten Wahrheiten. Der bloße Übergang von der Substanzmetaphysik, die von an sich bestehenden unveränderlichen Objekten – z. B. den platonischen Ideen oder den Tatsachen der Wissenschaft – ausging, zur Subjektmetaphysik, die als das allein objektiv Seiende nun das Subjekt ansetzt, bedeutet aber noch keine Überwindung der Metaphysik qua vergegenständlichenden Objektivismus. Denn das Subjekt des Subjektivismus bleibt gegenständlich gedacht. Dass die neuzeitliche Absetzung des Objekts und die Erhebung des Subjekts zum Inbegriff des Seienden das Subjekt tatsächlich nun wie ein Objekt fasst, zeigt sich am Phänomen der Technik. Denn das technorationale Seinsverständnis der Neuzeit begreift letztendlich auch den Menschen nur mehr als verfügbares Objekt: »Nun verbergen sich in dieser Konzeption des Seins als eines messbaren und manipulierbaren Objekts die Grundlagen jener Welt, die Adorno als eine der ›totalen Organisation‹ bezeichnete: einer Welt, in der es das Schicksal auch des menschlichen Subjekts ist, zum reinen Material zu werden, Teil des umfassenden Räderwerks von Produktion und Konsum.« (Vattimo 1997: 22)

Wobei festzuhalten ist, dass, wie wir noch sehen werden, sich Nietzsches Position Vattimo zufolge nicht auf einen Subjektivismus reduzieren lässt.

Postmoderne und Christentum In das Bedenken der eigenen geschichtlichen Herkunft als einziges verbleibendes Kriterium in einer Epoche, in der es keine ewige Wahrheit mehr gibt, fügen sich Vattimos Ausführungen zum Christentum ein (vgl. Klun 2007). Denn das Ende der Metaphysik qua Objektivismus bedeutet auch das Ende des metaphysischen Gottesbegriffs. Das gegenständlich gedachte »höchste Seiende (summum ens)« wird unhaltbar. Das Christentum interpretiert Vattimo, ähnlich wie sein Lehrer Pareyson, in erster Linie als Offenbarwerden der Kenosis Gottes. Die Kenosis, d. h. die Selbsteinschränkung Gottes in der Menschwerdung, stelle, so Vattimo, die Grundaussage des Christentums dar. Diese Selbst-Einschränkung (Entleerung, Entäußerung) Gottes versteht Vattimo als

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erstes Sichzeigen einer »Säkularisierung«. Vattimo glaubt, das Christentum so als frühen Appell an die Abwendung von den »starken« ewigen Strukturen des Seins und als erste Hinwendung zu »schwachen« geschichtlichen Prinzipien deuten zu können. In Glauben – Philosophieren schreibt Vattimo: »Die Menschwerdung, d. h. die Erniedrigung Gottes auf die Ebene des Menschen, dasjenige, was das Neue Testament die ›Kenosis‹ Gottes nennt (Brief an die Philipper 2,7), muss als Zeichen dafür verstanden werden, dass der Hauptzug des nicht gewalttätigen und nicht absoluten Gottes der post-metaphysischen Epoche in eben dieser Tendenz zur Abschwächung liegt, von der die von Heidegger inspirierte Philosophie spricht.« (Vattimo 1997: 34)

Vattimo sucht so sein Konzept einer »Ontologie der Schwächung« mit dem als Säkularisierungsprozess begriffenen Christentum in Verbindung zu bringen. Vattimo geht dabei vom »Nihilismus als Endpunkt der Moderne« aus, wobei er, wie wir gesehen haben, unter Nihilismus die völlige Absage an jede objektive, vergegenständlichte Wahrheit versteht, die er hingegen der Metaphysik zuschreibt: »Metaphysik […] – jenes Denken, welches das Sein mit dem objektiv Gegebenen identifiziert, mit dem Ding, was ich vor mir habe und dem gegenüber ich nicht anders kann, als die Haltung der Kontemplation einzunehmen […]«. (Ebd.: 21)

Damit erweist sich das metaphysische Denken aber als grundsätzlich gewalttätig, insofern Tatsachen, und als solche präsentieren sich die Wahrheiten in Philosophie und Wissenschaft, keine Widerrede dulden. Ausdruck dieser unterdrückenden Gewalt ist für Vattimo wie für René Girard nun aber vor allem auch der Gott der Metaphysik, der in erster Linie immer noch die gewalttätige Gottheit der Naturreligionen ist, in denen Sakralität und Gewalt in eins fallen. Wie für Vattimo die Geschichte des Abendlandes in einer ständigen Schwächung der Objektivität besteht, so ist für ihn auch die Geschichte der Religion die Geschichte einer ständig fortschreitenden Entsakralisierung, d. h. eine Entwicklung weg von der rachsüchtigen Gewalt der Naturreligion hin zur christlichen »Caritas«. Im Lichte dieses Verständnisses interpretiert Vattimo die christliche Lehre der Menschwerdung Gottes als hervorragendes Moment des entsakralisierenden Säkularisierungsprozesses und das Neue Testament als Aufruf wider die gewalttätige Priesterreligion der Riten und Vorschriften. Die Hauptaussage der christlichen Offenbarung sieht Vattimo in der Absage an den Opfer- und Sühnekult, das eigentliche Herzstück jeder Naturreligion, zugunsten der persönlichen Freiheit und des schlichten Gebotes der Nächstenliebe; d. h. »das Wesen der Offenbarung [wird] reduziert auf die christliche Liebe und der ganze Rest anheimgegeben der Unbestimmtheit der verschiedenen geschicht-

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lichen Erfahrungen, auch Mythologien, die den einzelnen geschichtlichen Menschheiten jeweils als ›bindend‹ erschienen sind« (ebd.: 86). Daraus erhellt, dass die Ablehnung der Gewalt Vattimos innersten Antrieb darstellt. Denn die Gewaltlosigkeit, die er in Glauben – Philosophieren mit dem neutestamentlichen Liebesgebot gleichsetzt, ist ihm zufolge der einzige Wert, der nicht säkularisiert, bzw. geschwächt werden kann: »Ich möchte daran erinnern, dass die Norm der Säkularisierung die christliche Liebe ist, und allgemeiner oder in der Sprache der Ethik ausgedrückt, die Reduzierung der Gewalt in allen ihren Formen.« (Ebd.: 101)

Im selben Werk spricht Vattimo auch von der »Nächstenliebe als Grenze« der Säkularisation und von der »christlichen Liebe« als dem »allgemeinen Prinzip, das der Säkularisierung eine Grenze setzen kann« (ebd.: 85) Die Gewaltlosigkeit und die pietas vor dem Endlichen – also vor allem, was uns gegeben ist – bleibt auch in Vattimos nihilistischer Konzeption der (Seins-)Geschichte als Auflösungsprozess ewiger Werte, als letzter »ewiger Wert« bestehen. Weshalb die Gewaltlosigkeit selbst nicht in Frage gestellt werden kann, führt Vattimo nirgends näher aus. Vielleicht lässt sich die Unantastbarkeit der Gewaltlosigkeit allerdings selbst wieder zirkulär aus der Geschichte des Seins »begründen«, insofern sich uns die Tendenz zur Verminderung der Gewalt als die plausibelste Interpretation der Geschichte (des Denkens und der Religion) erwiesen hat. In Wirklichkeit wo ist deine Wahrheit? (Vattimo 2002: 65) geht Vattimo sogar so weit, seine Position, bzw. die philosophische Hermeneutik, verstanden als Bewegung der Auflösung des Objektivitätsmythos, als säkularisierte Folge des christlichen Kenosisgedankens zu bezeichnen. Könnte man die Religion zunächst für das letzte Bollwerk des Objektivismus halten, so erweist sich das Christentum bei näherem Hinsehen Vattimo zufolge als derjenige Bereich, in dem die radikale Geschichtlichkeit des Seins ausdrücklich »thematisiert« wird, was dem Christentum ermöglicht, der Philosophie zu helfen, die letzten noch verbliebenen Reste von Substanzmetaphysik, zu der als ihr Korrelat auch die Subjektmetaphysik gehört, endgültig aufzulösen zugunsten einer hermeneutischen Philosophie, die die Geschichtlichkeit ernst nimmt. Vattimo konstatiert somit einen doppelten Zirkel im Verhältnis zwischen der postmetaphysischen Philosophie und dem Christentum. Einerseits stellt sich die Postmetaphysik als Einlösung der christlichen Botschaft dar, andererseits wird durch die Auflösung des positivistischen Objektivitätsmythos die Rede von Gott erst wieder möglich. Was folgt nun aber aus Vattimos Deutung der (Geistes-)-Geschichte als Geschichte des Verfalls des Objektivismus?

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Vor allem identifiziert Vattimo die Schwächung der starren Prinzipien mit einer Abnahme der konkreten Gewalt, denn Gewalt sei nur als jede Widerrede ausschließender evidenter Grund definierbar. In Glauben – Philosophieren heißt es: »Alles Weiterfragen mit der autoritären Letztgültigkeit des ersten Prinzips zum Schweigen zu bringen scheint mir die einzig mögliche philosophische Definition von Gewalt.« (Vattimo 1997: 69) 4

Gewalt wird von Vattimo mit der nackten Tatsächlichkeit identifiziert, mit einer letzen »Instanz, über die man nicht hinausgeht und die jedes Fragen zum Schweigen bringt, da sie das Gespräch beendet« (Vattimo 1997: 124). Gewalt wird also nicht als Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere gesehen, sondern in der Verunmöglichung freier Widerrede im weitesten Sinne des Wortes. Indem sich nun in der Moderne die Idee des Grundes auflöse, löse sich damit auch die Gewalt auf. Denn für Vattimo ist Gewaltausübung nur unter Berufung auf ewige Wahrheiten möglich, die Einsicht hingegen, dass jede Position nur eine unter vielen möglichen darstellt, verunmögliche die Gewalt im Namen einer ewigen Wahrheit und führe zur erwähnten »pietas« und »caritas« gegenüber den anderen Positionen und zu einer ironischen und kritischen Grundhaltung seiner eigenen Position gegenüber.

Wer ist Heideggers Nietzsche? Wie wir gesehen haben, besteht einer der schwierigsten Aspekte von Vattimos Position in seiner Radikalisierung des Perspektivismus. Denn Vattimo begnügt sich nicht damit, festzustellen, dass uns die Wirklichkeit immer nur vermittelt, also in Interpretationen gegeben ist, sondern betont, dass auch diese These nicht als objektive Tatsachenfeststellung missverstanden werden darf, sondern dass auch die Feststellung, dass alles Interpretation ist, selbst nur als Interpretation auftreten könne, wolle man sich nicht in einen Selbstwiderspruch verstricken. Vattimo beruft sich für diese These auf Nietzsche, sodass es diesbezüglich hilfreich ist, sich Vattimos Nietzschedeutung näher anzusehen. 4 | Daraus erhellt, dass für Vattimo bereits das bloße Aufrechterhalten des Dialogs bereits ein Ziel (vielleicht das einzige) der praktischen Vernunft darstellt. In den Worten Peter V. Zimas: »Wo nicht eindeutig festgestellt werden kann, daß eine Position einer anderen vorzuziehen sei, muss sich Vernunft mit einer Vermittlerfunktion begnügen, die der Shuttle-Diplomatie der UNO-Beamten gar nicht unähnlich ist. Schließlich versuchen auch sie, mit bescheidensten Mitteln ein Gespräch zustande zu bringen. Als pensiero debole (Vattimo) wird nun auch die Vernunft zu dieser positionslosen Shuttle-Bewegung verurteilt.«. (Zima 1997: 381)

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Ganz allgemein lässt sich Nietzsches Denken als Metaphysikkritik beschreiben, wobei unter Metaphysik jene auf Platon zurückgehende Lehre zu verstehen ist, die das Sein als objektives »ständiges Anwesen« begreift und diese Präsenz allein den übersinnlichen Ideen zuerkennt, womit gleichzeitig der Bereich des dem Wandel unterworfenen Sinnlichen, zum Nicht-Seienden, degradiert wird. Für Nietzsche ist die Ansetzung einer jenseitigen Welt aber nichts anderes als Nihilismus. Otto Pöggeler bemerkt zu Nietzsches Nihilismus: »Nihilismus ist für Nietzsche der ›Platonismus‹, der das Wahre in der übersinnlichen Idee findet, die sich dem Erkennen nur zeigt, wenn es sich von der Sinnlichkeit befreit hat. Die Ansetzung der übersinnlichen Idee als des wahrhaft Seienden verleumdet das leibende Leben, schwächt und entleert es und ist so Nihilismus.« (Pöggeler 1990: 118)

Nietzsche unternimmt es nun in seinen Schriften, die Metaphysik über diesen ihren Nihilismus aufzuklären. Nietzsche hat sich zur Aufgabe gemacht, den Glauben an eine zweite Welt hinter unserer endlichen und immer nur perspektivisch gegebenen Lebenswelt zu bekämpfen. Bis hierin sind sich die meisten Nietzscheinterpreten einig. Der Streit beginnt bei der Frage, was Nietzsche unter der Abschaffung der ewigen Werte verstehe. Ihm seine Spitze nehmend und ihn auf einen »umgekehrten Platonismus« reduzierend, wird Nietzsche zumeist so gedeutet, als habe er erklärt, das ewige Wesen der Welt sei die Veränderung, Sein sei Werden. Während der Platonismus auf die Frage nach dem Wesen der Welt antwortete, dieses seien die unveränderlichen Ideen am »überhimmlischen Ort (topos hyperuranios)« und unsere sinnliche, veränderliche Welt nur Schein und Täuschung, habe Nietzsche erklärt, das wahre Sein sei die Erscheinung, die Veränderung, das Werden, das Leben, während das Ewige, die Ideen, das Sein lediglich Konstruktionen seien, mit welchen sich der Mensch das Überleben erleichtere. Stimmte diese Deutung der Philosophie Nietzsches, so wäre er tatsächlich lediglich ein umgekehrter Platonist, und damit immer noch in den Denkstrukturen der Metaphysik verfangen. Dass Nietzsche, der explizit zwar die Präsenzontologie mit ihren ewigen Werten und ihrem statischen Sein zugunsten des Werdens überwinden wollte, implizit der Substanzmetaphysik verhaftet geblieben sei, ja als ihr Höhepunkt betrachtet werden könne, ist die These Heideggers, wie er sie in gedrängter Form in seinem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (Heidegger 1990: 101126) darlegt. In diesem Text bemüht sich Heidegger darum, aufzuweisen, dass auch Nietzsche der metaphysischen Zwei-Welten-Lehre nicht entkommen sei, insofern Nietzsche im Willen zur Macht in der Gestalt der ewigen Wiederkehr des Gleichen erneut ein unveränderliches, also metaphysisches Wesen der Wirklichkeit festsetze. Für Nietzsche brachte die Zwei-Welten-Lehre, die das wahre Sein mit den unveränderlichen Ideen und Werten gleichsetzte, not-

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wendig die Abwertung alles Vergänglichen mit sich, d. h. den »Geist der Rache gegen die Zeit […]«. Die einzig mögliche Überwindung der Rache besteht nach Nietzsche in der Bejahung des Vergehens; gleichzeitig sieht, Heidegger zufolge, aber auch Nietzsche das Sein noch als »ständiges Anwesen«: »Nietzsche denkt in der Wahrheit das Wahre, dies aber ist für ihn, wie für Platon das ›wahrhafte‹, das beständig Seiende, wie es allein für die denkende Erkenntnis ist.« (Pöggeler 1990: 117). Einerseits ist, Heidegger zufolge, das Sein bei Nietzsche zwar immer noch als »ständiges Anwesen« gedacht, doch gibt es für Nietzsche andererseits nur mehr die wandelbare »Erde«, der es die Treue zu halten gilt. Der Versuch, diese beiden gegensätzlichen Momente in eins zusammenzudenken, stellt Heidegger zufolge Nietzsches Lehre von der »ewigen Wiederkehr« dar, denn diese sei nichts anderes als das »ständige Anwesen« des »Vergehens«. In Heideggers Worten: »[…] wie kann das Vergehen bleiben? Nur so, dass es als Vergehen nicht stets nur geht, sondern immer kommt. […] Diese Wiederkehr selbst ist jedoch nur dann eine bleibende, wenn sie eine ewige ist.« (Heidegger 1990: 113)

Heidegger stellt dann die Frage, ob mit diesem Gedanken tatsächlich die Metaphysik und ihr Leitgedanke, der das Sein als »ständiges Anwesen« begreift, überwunden wird, wie dies Nietzsche selbst glaubte, oder ob nicht auch der Gedanke der »ewigen Wiederkehr« der metaphysischen Vorentscheidung des Seins als »ständiges Anwesen« verhaftet bleibt. Tatsächlich ist es nach Heidegger so, dass die »ewige Wiederkehr des Gleichen« nichts anderes ist als das Werden – zu »ständigem Anwesen« versteinert. Heidegger erkennt in Nietzsches Lehre von der »ewigen Wiederkehr« also den alten metaphysischen Gedanken des »ständigen Anwesens« wieder, wenn auch in verkappter Form. Denn das »Werden« Nietzsches ist nun genauso »ständig anwesend« – und d. h. objektiv, wie es die platonischen Ideen waren. So sieht Heidegger im »abgründigsten Gedanken« Nietzsches nur den Versuch, »dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen«, wie Nietzsche es selbst einmal als den »höchsten Willen zur Macht« bezeichnete (vgl. ebd.: 116).

Wer ist Vattimos Nietzsche? Im Gegensatz zu Heidegger vertritt Vattimo die These, dass es Nietzsche keineswegs um die Aufstellung eines neuen objektiven zeitlosen Wesens der Wirklichkeit ging. Vattimo weist zwar darauf hin, dass Nietzsche selbst oft den Eindruck erwecke, als stelle er mit dem »Willen zur Macht«, bzw. der Welt als Interpretation, das Wesen des Seins fest, worin ja auch Heideggers Kritik an Nietzsche gründet. Doch will er die These, das Sein gebe sich nur als Werden, nicht als x-te metaphysische Wesensbestimmung des Seins missverstanden wissen:

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»Wenn, wie Nietzsche in der Götzendämmerung schreibt, die wahre Welt (die platonischen Ideen, die stabilen Wesenheiten) ›zur Fabel wurde‹, dann ist mit der wahren Welt auch die scheinbare abgeschafft, da die scheinbare Welt nun keinen Gegensatz mehr hat, von dem sie als ›scheinbar‹ entlarvt werden könnte. Was nach der Fabulierung der wahren Welt bleibt, ist nicht die scheinbare Welt der Erscheinungen – die dann eben die wahre Welt wäre –, sondern was bleibt, ist allein die Geschichte der Fabulierung« (Vattimo 1989: 31) – die aber nicht als neue wahre Welt verstanden werden darf. Die heideggerianische Auslegung des Denkens Nietzsches, die in Nietzsche die Vollendung der metaphysischen Präsenzontologie sieht, teilt Vattimo also nicht. Für ihn hat Nietzsche nicht versucht, das Werden unter das Joch des Seins zu spannen, sondern vielmehr das Werden als Werden zu denken. Vattimo teilt mit Heidegger jedoch die Einsicht, dass jeder Versuch, das Wesen der Welt »festzustellen«, dieses notwendig vergegenständlicht. Zu sagen, die Welt sei Werden, bedeutet, dieses Werden bereits wieder als Sein angesprochen zu haben. Die »Feststellung«, das Wesen der Welt sei die »Unfestellbarkeit«, stellt das Wesen immer schon fest. Nietzsche schreibt: »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen« (Nietzsche, KSA 12: 315), doch schlägt der skeptische Satz »alles ist Interpretation«, der die Unfeststellbarkeit der Welt besagen soll, unversehens in den dogmatischen Satz »alles ist Interpretation« um, der die Welt wieder auf ein ewiges Wesen »feststellt«. Das Werden als Werden zur Erscheinung zu bringen, ist nach Vattimo nur möglich, wenn man – mit Nietzsche – die Aussage »alles ist Interpretation« nochmals als Interpretation fasst. Es kann zwar nicht verhindert werden, dass der skeptische Satz »alles ist Interpretation« in den dogmatischen »alles ist Interpretation« umschlägt, doch kann dieser Umschlag sofort wieder rückgängig gemacht werden dadurch, dass man hinzusetzt, dass dieser Satz nicht dogmatisch, sondern skeptisch gemeint ist. Was so erreicht wird, ist ein ständiges Oszillieren zwischen Skeptizismus und Dogmatismus, zwischen Sein und Werden, in dem das, was Werden als solches bedeutet, aufleuchten kann. Eine ähnliche Auflösung der Aporie der radikalen Perspektivität im praktischen Vollzug ortet Magnus Striet bereits bei Nietzsche: »Jeder Begriff ist bloße Perspektive, und dies gilt selbst noch für den Wahrheitsbegriff! Nietzsche scheint aber auch der Ansicht zu sein, dass die Perspektivität des Wahrheitsbegriffs selbst keine Einsicht mehr ist, die in begrifflicher Weise kommunikabel gemacht werden kann, sondern die in einer Rückwendung des diese Einsicht Vollziehenden auf sich selbst nur noch praktisch vollzogen werden kann. Nietzsche fordert sozusagen dazu auf, die bloße Perspektivität jeder nur möglichen Perspektive anzuerkennen, gerade so aber die Einsicht in die Perspektivität als solche zu vollziehen.« (Striet 1998: 229)

Diese Radikalisierung der Perspektivität liegt nun Vattimos Interpretationsbegriff zugrunde, den der Turiner Philosoph auf die gesamte Wirklichkeitswahr-

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nehmung ausdehnt. In seiner bisher noch nicht auf Deutsch erschienenen großen Nietzschestudie Il soggetto e la maschera heißt es: »Man kann nicht sagen, dass die Ausweitung des Begriffes der Interpretation auf alles Geschehen den Begriff der Interpretation seines eigensten Gehaltes berauben würde, weil der Begriff der Interpretation ja immer an das Interpretieren eines Textes, an die Dechiffrierung eines Zeichens gebunden ist. Die Welt, in der jedes Ereignis Interpretation ist, ist eine nur aus Symbolen und Zeichen konstituierte Welt. Die ›Tatsachen‹ sind keine Interpretationen nur in dem Sinn, dass wir, indem wir sie wahrnehmen, nicht von unseren vorgegebenen Vorurteilen absehen können. Die ›Tatsachen‹ konstituieren sich als ›Tatsachen‹ nur auf symbolische Weise, sie sind Interpretationen in der radikalsten Weise […]. In unserer Welterfahrung tun wir also nichts anderes als Texte zu lesen. Die Texte sind ihrerseits bereits Interpretationen anderer Texte und so weiter, ohne dass die Möglichkeit bestünde, zu einer ersten Bedeutung gelangen zu können, die Wirklichkeit, Unmittelbarkeit oder vorinterpretatorische Gegebenheit wäre.« (Vattimo 1994: 310)

Mit dieser Position einer skeptischen Epistemologie sucht sich Vattimo zwischen der Scylla eines metaphysischen Dinges an sich, dem es möglichst nahezukommen gelte, und der Charybdis des Umschlagens der Aufklärung in Relativismus zu halten. Tatsächlich geht Vattimo davon aus, es gäbe keinen ersten Anfang des Interpretationsgeschehens, insofern sich bei näherem Hinsehen auch die jeweiligen Ausgangspunkte, sprich »Gegenstände« der Interpretation als Produkte vorausgegangener Interpretationen erweisen. Vattimo und Nietzsche sprechen davon, es gebe keine »Tatsachen«, und doch gibt es mehr oder minder feststehende Ausgangspunkte unserer Interpretationen, die als solche nicht selbst Teil der Interpretation zu sein scheinen und die daher als »Tatsachen« bezeichnet werden können, doch: »Die ›Tatsachen‹ sind keine Interpretationen nur in dem Sinn, dass wir, indem wir sie wahrnehmen, nicht von unseren vorgegebenen Vorurteilen absehen können.«. (Ebd.: 310) Die angeblichen »Tatsachen« erweisen sich für Vattimo bei genauerem Hinsehen also als zwar »vorgegeben«, nicht aber im Sinne zeitloser an sich bestehender Fakten, sondern lediglich im Sinne von impliziten von der Geschichte vorgegebenen »Vorurteilen«, die unser explizites Fragen überhaupt erst ermöglichen, nicht aber Dinge an sich darstellen. Mit der Einführung dieser »schwachen Tatsachen«, d. h. mit dem Hinweis darauf, dass jede Interpretation von bestimmten »Vorgaben« ausgeht, die ihren »Gegenstand«, ihren »Text« darstellen, kann Vattimo das eigentümliche Phänomen der Grenzen der Interpretation plausibel machen, ohne deswegen in den metaphysischen Objektivismus zurückfallen zu müssen, der von Tatsachen an sich ausgeht, die es zu interpretieren gelte.

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Mit den Grenzen der Interpretation ist hier jenes merkwürdige Phänomen gemeint, dass es bei aller Deutungsfreiheit doch immer so etwas wie eine Grenze der möglichen Auslegung gibt, die nicht überschritten werden kann. Einerseits scheint es unverzichtbar, an einer irgendwie vorgegebenen »Textgrundlage« festzuhalten, will man dem Phänomen der Interpretation gerecht werden, andererseits scheinen aber auch die Einwände gegen die Annahme eines objektiven »Gegenstandes« jenseits der Interpretation, den es in der Auslegung nur »richtig« wiederzugeben gelte, nicht von der Hand zu weisen. Die Frage, die sich Vattimo stellt, ist also, ob es eine Stellung zur Wirklichkeit gibt, die sowohl dem Phänomen der Grenzen der Interpretation als auch der Grundeinsicht der modernen (hermeneutischen) Philosophie gerecht wird, dass es keine »objektive« Wahrheit gibt, die unmittelbar erfasst werden könnte. Für ihn ist jede im Rahmen des vorgegebenen Vorverständnisses mögliche Interpretation die Weise, in der sich die Sache selbst gibt, d. h. ist, wie ja auch ein Musikstück nichts anderes ist als seine jeweilige Interpretation und nirgends anders existiert als in dieser, worauf wir bereits eingegangen sind.

Skeptischer Schluss Kritischen Augen wird vor allem Vattimos These, die Einsicht in den Interpretationscharakter der Wirklichkeit dürfe nicht als endgültige Wesensbestimmung der Wirklichkeit begriffen werden, sondern sei selbst lediglich Interpretation, wohl als ein irrationaler Auswuchs der Postmoderne und als ein typisches Beispiel für deren vielbeschworene »Beliebigkeit« erscheinen. Bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich, dass diese Position Vattimos in keiner Weise besonders neu oder gar »postmodern« ist, sondern sich in die Tradition der philosophischen Skepsis einreiht, die so alt und ehrwürdig ist wie die Philosophie selbst. Denn Vattimos Kampf gegen den metaphysischen Objektivismus ist nichts anderes als die Wiederaufnahme der Auseinandersetzung zwischen Skepsis und Dogmatismus. Seine Aufforderung, auch die These von der Nichtexistenz einer letzten Wahrheit nicht als eine endgültige Wahrheit über die »Beschaffenheit« der »Welt« anzusehen, hatte bereits Arkesilaos, der Begründer der akademischen Skepsis, im dritten Jahrhundert vor Christus ausgesprochen: »Der akademische Skeptiker unterschreibt nicht wie Pyrrhon die metaphysische These, die Welt sei unbestimmbar. Auch gibt er seine negative Haltung zum Wissen nicht als eine gewusste Wahrheit aus, da er nicht einmal weiß, dass er nichts weiß. Der akademische Skeptiker praktiziert eine dialektische Methode: Er stimmt keiner Sache zu, auch seinen eigenen Argumenten nicht; er versucht vielmehr, bei seinen Kontrahenten die gleiche Unkenntnis zu bewirken.« (Long 1995: 944) Die historische Parallele lässt sich noch weiter führen, denn auch die von Vattimo herausgestellten praktisch-ethischen Implikationen einer solchen skep-

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tischen »Haltung«, oder besser »Enthaltung«, haben bereits die antiken Skeptiker thematisiert. Denn, wie für Vattimo aus der Unmöglichkeit, sich für oder wider eine Position zu entscheiden, folgt, dass man einer jeden These zunächst mit Toleranz und Pietät gegenübertreten müsse, so hatten bereits die Pyrrhoneer vertreten, dass die Erkenntnis der »Gleichwertigkeit« entgegengesetzter Thesen vor allem zu »Zurückhaltung« und »Urteilsenthaltung« anhalte. Und auch die These, diese skeptische Haltung impliziere eine Art »Erleichterung« und »Schwächung«, ist bereits von den antiken Skeptikern vertreten worden: »Der Pyrrhonismus […] erklärt […], dass man von Sorgen befreit wird, wenn man angesichts von Pro- und Contra-Argumenten gleichen Gewichts auf ein Urteil verzichtet von Sorgen, die daher rühren, dass man an die prinzipielle Entscheidbarkeit von Diskussionen über Theorien, Werte und Tatsachen glaubt.« (Ebd.) Nicht zuletzt erinnert auch Vattimos Identifikation der Wirklichkeit mit der uns sprachlich-kulturell vermittelten geschichtlichen Lebenswelt, mit welcher wir es Vattimo zufolge allein zu tun haben, an die These des Pyrrhonismus, dass wir allein die »Phänomene« erkennen können, während wir von der Welt an sich nichts wissen. Am überraschendsten ist aber die Übereinstimmung zwischen Vattimo und den antiken Skeptikern in Bezug auf die Frage nach den Kriterien von theoretischen und ethischen Entscheidungen in einer Konzeption, die jedes stabile An-sich verabschiedet hat und die Welt als reine »Erscheinung« bzw. reine »Interpretation«, begreift. Tatsächlich nämlich bestand einer der am häufigsten gegen die Skeptiker vorgebrachten Einwände darin, sie der »praktischen Selbstwidersprüchlichkeit« zu bezichtigen, insofern sie zwar theoretisch eine radikale »Urteilsenthaltung« predigten, in ihrem täglichen Leben, in der Praxis also, aber andauernd Entscheidungen träfen und danach handelten. Derselbe Einwand ist auch gegen Vattimo vorgebracht worden, der ja als Kolumnist zahlreicher Zeitungen und Magazine andauernd ethische Wertungen abgibt und als aktiver Politiker tagtäglich praktische Entscheidungen zu treffen hatte. Woher nun aber nimmt Vattimo die Kriterien für seine ethisch-praktischen Entscheidungen? Vattimos Antwort ist dieselbe, die bereits die antiken Skeptiker auf diese Frage gaben: Wenn wir auch über die Welt an sich nichts aussagen können, wenn es keine wahre Welt gibt, weil die Unterscheidung zwischen Ansich und Erscheinung hinfällig geworden ist, so befinden wir uns doch immer (noch) in einer »Welt«. Diese konkrete »Lebenswelt«, die »Welt der Erscheinungen« – wobei hier Erscheinung nicht im Unterschied zum An-sich gedacht werden darf, da wir mit der wahren Welt auch die scheinbare abgeschafft haben – ist das Einzige, was wir besitzen; an sie gilt es sich zu halten. Da diese eine »Lebenswelt« in der wir uns immer schon vor-finden, nun aber konstitutiv geschichtlich bestimmt ist, bedeutet die »Anerkennung« dieser Welt zugleich die »Übernahme« ihrer »Geschichte«. Nicht erst Vattimo, bereits »der Pyrrho-

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nismus verweist auf die Tatsache, dass der Mensch ohne sein Zutun in eine bestimmte Gesellschaftsordnung hineingeboren wird, in der das Verhalten durch einen festliegenden Normenkodex geregelt ist. Dies stellt für den Skeptiker eine Vorentscheidung dar, die er nicht selbst zu verantworten hat, die er aber gerade aus Mangel an eigener Einsicht nicht rückgängig machen kann; denn wollte er aufhören, nach den bisherigen Normen zu leben, müsste er in der Lage sein, zu erkennen, dass diese Normen falsch seien. Ihm bleibt also nur das ›Weitermachen‹ wie bisher, und so führt er ein ganz normales Leben.« (Hossenfelder 1989: 1720) Diese Ausführungen Hossenfelders zum klassischen Skeptizismus lesen sich wie die Darstellung eines der Grundgedanken des »Pensiero debole«. Vattimos »Schwaches Denken« lässt sich so als Versuch begreifen, den radikalen Perspektivismus ernst zu nehmen, der sich aus den zwei Sätzen Nietzsches ergibt »Thatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen« (Nietzsche, KSA 12: 315) und »mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft« (Nietzsche, KSA 6: 80). Dieses Ernstnehmen besteht vor allem darin, Nietzsches These, dass es keine stabile Wesensstruktur der Wirklichkeit gibt, auf die These selbst anzuwenden. Die Aufklärung über die Unhaltbarkeit der Annahme zeitloser Strukturen schlägt in letzter Konsequenz notwendig in die Einsicht der Unmöglichkeit jeglicher Wesensbestimmung um. Unmöglich ist dann aber auch die Feststellung dieser Unmöglichkeit. Was bleibt, ist die konkrete Lebenswelt jenseits der Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt. In dieser Situation, die Vattimo anhand der primär medial vermittelten Wirklichkeit verdeutlicht, kann das Denken nicht mehr beanspruchen, letzte unhinterfragbare und damit immer schon gewalttätige Gründe zu erkennen, sondern muss zu einer Haltung werden, die es erlaubt, im Bewusstsein, zu träumen, weiterzuträumen, um nicht zugrunde zu gehen, wie es einmal bei Nietzsche heißt. (Nietzsche, KSA 3: 417)

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Beschleunigung, Ereignis, Entscheidung Wilhelm Berger

» […] in dieser Unentschiedenheit birgt sich das Rätsel des Daseins.« (Gotthard Günther)

1. Während seiner siebenten Reise bekommt Ijon Tichy, der Raumschiffpilot in Stanislaw Lems Sterntagebüchern (vgl. Lem 1971: 13ff), ein Problem. Ein Meteor hat die Steuerung durchschlagen. Um den Reserveregulator festzuschrauben, benötigt er einen zweiten Menschen: Einer hält den Schraubenkopf, einer zieht die Mutter fest. Tichy versucht die Reparatur, aber alleine ist die Situation aussichtslos. Erschöpft fällt er in einen unruhigen Schlaf. Im Traum erscheint eine Gestalt, die ihn wachzurütteln versucht. Beim Aufwachen hat er eine Idee: Der Sternenatlas verzeichnet einige Gravitationsstrudel ganz in der Nähe, und die Allgemeine Relativitätstheorie spricht von Zeitkrümmungen im Bereich von Gravitationsfeldern, die sich sogar zu Zeitschleifen verbinden und damit zur Verdoppelung der Gegenwart führen können. Davon erhofft sich Ijon Tichy einen Zweiten, der die Schraube festhalten wird. Eine umständliche Manipulation des Motors richtet den Kurs des steuerlosen Raumschiffes auf einen dieser Gravitationsstrudel. Kaum ist der Strudel durchflogen, erblickt Tichy sich selbst schlafend im Bett. Er rüttelt sein Ich von gestern. Das öffnet ein Auge, erklärt ihn zu einem bloßen Traumbild und schläft weiter. Das Raumschiff gerät in einen nächsten Strudel. Die Erschütterungen werfen den Piloten zu Boden. Aus der Bewusstlosigkeit erwacht, erblickt er eine Gestalt, die behauptet, sein Ich von Mittwoch zu sein und ihn auffordert, sofort mit der Reparatur zu beginnen. Da kommen Tichy Bedenken: »Heute ist Dienstag. Wenn du vom Mittwoch bist und bis zu diesem Augenblick die Steuerung nicht repariert ist, so geht daraus hervor, dass uns etwas daran hindern wird, sie auszubessern, denn sonst würdest du mich am Mittwoch nicht dazu bewegen wollen, dass ich sie mit dir gemeinsam repariere. Vielleicht ist es also besser, wenn wir erst gar nicht hinausgehen.«. Die Diskussion zwischen dem vom Dienstag und dem vom Mittwoch wird durch einen nächsten Gravitationsstrudel unterbrochen,

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der bereits zu einer Vervielfältigung der Tichys führt. Die Kabine ist voller Menschen, einige haben Beulen und ein blaues Auge, aber anstatt den Schaden zu reparieren, zanken und diskutieren sie. Besonnenere Tichys versuchen, Kommissionen und Ausschüsse zu gründen. Während sich die Kabine immer mehr auch mit solchen vom Vormittag und vom Nachmittag, mit Kindern und Grauhaarigen füllt, hat einer die Idee, den Ältesten zu fragen, der ja wissen müsste, wer schließlich die Steuerung repariert hat. Tichy berichtet: »Wir wandten uns also an einen silberhaarigen Greis, der leicht zitternd in einer Ecke das Mauerblümchen spielte. Er begann uns des langen und des breiten von seinen Kindern und Enkeln zu erzählen und ging dann auf die kosmischen Reisen ein, von denen er während seines neunzigjährigen Lebens unzählige erlebt hatte. An diejenige, die gerade vonstatten ging, erinnerte sich der Greis infolge einer allgemeinen Sklerose und Erregung überhaupt nicht mehr, aber er war derart eingebildet, dass er das nicht zugeben wollte und stets ausweichend antwortete, wobei er sich auf seine Beziehungen zu höhergestellten Kreisen, auf seine Orden und seine Enkel berief, so dass wir ihn schließlich niederschrien und ihm Schweigen geboten.«

2. Gotthard Günther las einige Werke der Weltraumliteratur so, als ob sich in ihnen ein Ende der metaphysischen Tradition andeutete.1 Von daher kann auch die kurze Geschichte von den Schwierigkeiten des Piloten Ijon Tichy als eine Skizze genommen werden, die einen Problemzusammenhang repräsentiert. Ijon Tichy beschleunigt sein Raumschiff in die Kräfte der Gravitationsstrudel hinein. Als Effekt dieser Beschleunigung verliert die Zeit ihre Richtung. Eine Art nicht-gerichteter Prozessualität wird primär, die immer Neues aus sich herauswirft. Die vervielfältigten Piloten versuchen, ihrer Zeit sekundär eine Richtung zu geben. Aber sowohl die sekundäre Institutionalisierung als auch der Bezug auf das Ende der Geschichte scheitert. Der ereignishafte Charakter der nicht-gerichteten Prozessualität tritt zutage. Dieses Zutagetreten radikalisiert das Problem der Entscheidung. Die These ist: Beschleunigung, Ereignis, Entscheidung bezeichnen einen zentralen Problemzusammenhang der Gegenwart, zu dem sich ein wichtiger Aspekt der Philosophie Gotthard Günthers in Beziehung setzen lässt. 1 | Vgl. dazu insgesamt Gotthard Günther: Die Entdeckung Amerikas und die Sache der Weltraumliteratur, Düsseldorf und Bad Salzig 1952, sowie die umfangreichen Kommentare Gotthard Günthers in den von ihm herausgegebenen Rauchs Weltraum-Büchern (John W. Campbell: Der unglaubliche Planet, Düsseldorf und Bad Salzig 1952, Jack Wiliamson: Wing 4, Düsseldorf und Bad Salzig 1952).

B ESCHLEUNIGUNG , E REIGNIS , E NTSCHEIDUNG

Beschleunigung: Lob und Klage der Beschleunigung gehören zum kulturellen Fundus der Moderne (vgl. Weibel 1987: 6ff). Aber schon im Erschrecken des neunzehnten Jahrhunderts über die technische Beschleunigung kündigt sich eine Transformation an, die mehr ist als eine bloße Beschleunigung der Geschwindigkeit. Ein bekannter Zeuge dafür ist Heinrich Heine. Anlässlich der Eröffnung einer Eisenbahnlinie spricht er von einem »unheimlichen Grauen«, denn »[…] die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig […]«. (Heine, zitiert nach Schivelbusch 1979: 38f). Heines Grauen kann nicht bloß aus der Zusammenziehung des geografischen Raumes in der Erfahrung des Reisenden resultieren. Der Reisende durcheilt den Raum, ohne ihn letztlich zu töten. Welcher Raum aber wird getötet? Die Antwort ist: Die Zeit tötet ihren eigenen Raum. Es ist bekannt, dass die abendländische Kultur den Raum der Zeit vorgeordnet hat. Dem metaphysischen Primat des Seins vor dem Werden, der Identität vor der Differenz entspricht die Dominanz der Raumerfahrung vor der Zeiterfahrung. Im christlichen Weltbild ist die Zeit Variation gleichsam auf einer zwischen Ursprung und Ende aufgespannten Linie (vgl. Gurjewitsch 1978: 124). Der Abstand, den die Zeit durchschreiten wird, ist wie eine Folie schon gegeben und so als quasi räumlicher primär. Insofern ist diese Zeit Raum-Zeit. Dass die Zeit den Raum tötet, heißt nichts anderes, als dass dieser schon da seiende Raum der Zeit vernichtet und die Zeit primär wird, um sekundär Räume aus sich heraus zu entwerfen. Raum-Zeit transformiert in Zeit-Raum. Genau dieser Transformation entspricht die klassische Definition der Moderne. Für Charles Baudelaire ist Modernität »das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige« (Baudelaire 1989: 226), ihr Grundcharakter ist, wie Walter Benjamin interpretiert hat, das Transitorische (vgl. Benjamin 1980: 585), also der Primat des Übergangs selbst: Übergang ist nicht länger Übergang von einem Zustand zum anderen, sondern primärer Vorgang, der flüchtige Zustände als seine Effekte sekundär hervorbringt. Damit ist die Vernichtung der vormodernen Raum-Zeit angesprochen. Das Zukünftige als der eine Horizont jener aufgespannten Linie wird zum radikal Neuen, und das Neue der Moderne ist, wie Theodor W. Adorno schreibt, »… ein blinder Fleck, leer wie das vollkommene Dies da«. (Adorno 1970: 38). Was war, hat für dieses Neue keine Bedeutung. Zwar negiert das Neue ein Altes, um eben als Neues zu erscheinen, aber die Negation hinterlässt es ebenso als blinden Fleck. So wird auch das Vergangene als zweiter Horizont jener Linie flüchtig. Der Übergang ist für weitere Beschleunigung offen. Ereignis: Für die radikale Diskontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat Hegel den Namen Entzweiung eingesetzt. Und es war ebenfalls Hegel, der in der Aufhebung der Entzweiung die existenzielle Notwendigkeit für die bürgerliche Gesellschaft gesehen hat (vgl. Ritter 1980, insb. S. 26): Es geht darum, dem Übergang eine Form, also der Zeit einen Raum zu ge-

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ben. Odo Marquards Satz »in der Geschichtsphilosophie misslingt die Neuzeit« (Marquard 1982: 16) bezeichnet präzise das notwendige Mittel und das notwendige Scheitern dieser Formgebung. Das Neue ist leer, und die Bindung an überkommene Herkünfte hat sich verflüchtigt. Daher kann die Form des Übergangs nur aus dem Prinzip des Übergangs selbst gewonnen werden. Der Übergang wirft sich selbst als einen Horizont voraus, auf den er sich zugleich ausrichtet. Der Übergang verstetigt sich als Neubeginn, wie Jürgen Habermas formuliert hat (vgl. Habermas 1985: 15), und d. h. als Fortschritt. Die Vergangenheit wird auf diesen Horizont hingeordnet. Aber die Konstruktion kann kein göttliches Ende und daher auch nicht mehr eine einzig mögliche inhaltliche Repräsentation dieses Horizonts vorsehen. Also können alle möglichen Inhalte den Horizont besetzen. Also sind sie austauschbar und somit erfunden. Mit dem erfundenen Charakter aller Inhalte, die jenen Horizont repräsentieren, konfrontiert sich für Friedrich Nietzsche die Erfahrung des (unvollständigen) Nihilismus. Diese Erfahrung tangiert die geschichtsphilosophische Konstruktion in ihrem Kern. So muss schließlich jener Horizont selbst als erfunden, d. h. als Effekt der Geschichte erscheinen, deren sekundäre Kontinuität er erst ermöglicht. Was die geschichtsphilosophische Konstruktion in der Gestalt eines formgebenden Horizonts stets aufs Neue weggearbeitet hat, fällt ins Gegenwärtige, also in den primären Vorgang des beschleunigten Übergangs zurück. Wenn Martin Heidegger Ereignis nennt, was »jäh und unversehens« (Heidegger 1980: 333) geschieht, so kann dieser Name für diese Situation eingesetzt werden: nicht-gerichtete Prozessualität, die immer neue Formen aus sich herauswirft, die selbst stets aufs Neue in den Übergang geraten. Entscheidung: Die strategische Ambivalenz von Dekonstruktion und Verabschiedung des Projekts der Moderne, die Postmoderne genannt wird, reflektiert genau jene Spannung. Am Rande der Moderne greifen die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit, dem beschleunigten Übergang eine Form zu geben, unmittelbar ineinander. Die Reflexion dieser Spannung hat aber selbst einen Bruch erlitten. Jacques Derrida beschreibt in Die Schrift und die Differenz die Situation als Verlust des Zentrums (also der Möglichkeit, einer Struktur durch Bezug auf arche und telos, auf Anfang und Ende eine dauerhafte Ordnung zu geben) und gleichzeitige Unmöglichkeit, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten. Aber er zielt durch diese Aporie hindurch auf die nietzscheanische »Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist« (Derrida 1976: 441). In ähnlicher Weise resultiert aus dem Ende der großen Erzählungen, von dem Jean-Francois Lyotard in seiner bekannten programmatischen Schrift Das postmoderne Wissen (vgl. Lyotard 1986) gesprochen hat, eine Situation irreduzibler Pluralität. Diese Texte enthalten im Kern einen positiven Begriff der Entscheidung: Die Situation ist für Deutung und Praxis, kurz eben für Entscheidung offen. Aber das Ineinandergreifen von Notwendigkeit und Unmöglichkeit, dem beschleunigten Übergang eine Form

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zu geben, hat sich, um auf ein Wort von Carl Schmitt zurückzugreifen, als eine »Zwischensituation von Form und Unform, Krieg und Frieden« (Schmitt 1963: 12) erwiesen, die auf Dauer gestellt ist. Aus ihrem Abgrund kommt stets neue Gewalt hervor. Jacques Derrida in Gesetzeskraft (vgl. Derrida 1991) geht es daher auch um das Projekt der minimalen Sicherung einer Situation, in der Entscheidung sich ereignen kann. Für Jean-Francois Lyotard in Der Widerstreit ereignet sich Entscheidung im Abgrund zwischen den Sätzen und Satzsystemen, in dem ein »Schwarm von Bedeutungen« (Lyotard 1989: 95) wohnt. Insofern er hier eine Bestimmung setzt, tritt jeder auf einen Satz folgende Satz »aus dem Nichts hervor« (ebd.: 118). Die Minimalbedingung dafür ist gefährdet, wenn ein Satz der letzte ist. So ist es diese Bedingung, die es am Rande der Moderne zu sichern gilt. Im Verhältnis zu diesem diskursiven Feld und den in ihm reflektierten Problemen kann die Radikalität und Aktualität des Begriffs der Entscheidung deutlich gemacht werden, wie ihn Gotthard Günther verwendet. Die Konfrontation ermöglicht zugleich eine Kritik am Konzept Gotthard Günthers, aus der Perspektiven der Weiterentwicklung folgen können. Entscheidung wird für Günther unter ontologischen, geschichtsphilosophischen und strukturellen Aspekten thematisch.

3. Auf ontologischer Ebene besetzt der Begriff Entscheidung einen extremen Ort, dessen Radikalisierungspotenzial auf die geschichtsphilosophische und strukturelle Ebene ausstrahlen wird. Dieser Ort ist der Anfang des Weltbilds, und zwar im konsequentesten Sinne dieser beiden Worte. Das heißt bezogen auf den Anfang: Was anfängt, ist in seine eigene Grundlosigkeit exponiert. Ein solcher Anfang ist doppeldeutig. Er ist Anfang einer Geschichte, d. h. Ursprung. Weil aber Anfangen immer zugleich Entfernen ist, ist er Beginn der Entfernung vom Ursprung. Klaus Heinrich hat diese Doppeldeutigkeit des Anfangs als Merkmal des Mythos deutlich gemacht (vgl. Heinrich 1982, insb. 14ff). Und der konsequenteste Sinn von Weltbild ist: Heißt Weltbild wie bei Martin Heidegger Benennung der Welt im Ganzen, so zielt diese Benennung auf das Ganze als Kosmos genauso wie auf die ganze Geschichte und durch beide hindurch auf den Grund von Welt (vgl. Heidegger 1980: 87). Das Weltbild, das die Geschichte des Abendlandes dominieren wird, setzt nun im Akt seiner Gründung selbst die extremste Entfernung vom Ursprung. Parmenides, nach Gotthard Günther sein erster Repräsentant, spricht die ontologische Gründungsformel aus: Es ist eine Welt, und alles, was ist, ist in diesem und als dieses Eine. Es ist unmöglich, diese Formel mit beschränkter Haftung

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auszusprechen. Ist eine Welt, so ist in ihr bereits alles entschieden. Das Eine ist »ungeboren, […] unvergänglich, […] ohne Ende, […] ganz, […] unerschütterlich«, wie es bei Parmenides heißt: »Denn was für einen Ursprung willst Du ausfindig machen? […] Welche Verpflichtung hätte es denn antreiben können, früher oder später mit dem Nichts zu beginnen und zu wachsen? […] Und es giebt nirgend ein höheres Sein, das seinen Zusammenhang hindern könnte, noch ein geringeres …« (Diels 1903: B 8). So ist die eine Welt das Reich ewig gültiger Gesetze, »das Endgültige«, wie Gotthard Günther schreibt, in dem »nur noch Raum für bedeutungslose Geschäftigkeit« (Günther 1980: 244). bleibt. Das hat ebenfalls schon Parmenides reflektiert: Wer sagt, es ist eine Welt, muss das Werden in Anbetracht dieses Einen verwerfen und es einem ontologisch zweitrangigen Bereich zuweisen, der bei Parmenides doxa (Meinung) heißt. Aber im konsequent gesetzten Anfang des Weltbilds wird die extremste Entfernung vom Ursprung auf ihn als ihren eigenen Grund bezogen bleiben. Bei Parmenides ist das ungeborene, unvergängliche, endlose, ganze, unerschütterliche Eine nicht paradoxerweise, sondern eben konsequenterweise begrenzt, weil es sonst unvollkommen wäre. Soll gelten »es ist eine Welt«, so muss die Frage ausgesprochen werden: von Woher das Ungeborene? Und die Antwort kann nur heißen: von einem absoluten Außen. Ist in der einen Welt alles bereits entschieden, so ist dieses Außen der Ort der Entscheidung, deren Resultat die eine Welt ist. Gotthard Günther: »Der Prozeß der Entscheidung ist transzendental. Er heißt Schöpfung […], und alle Wirklichkeit ist das Geschaffene.« (Ebd.) Der hegelsche Satz »Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe« (Hegel 1969: 83) (das reine Sein ist notwendig eben so leer wie das reine Nichts) kommentiert auch das Faktum, dass die ontologische Gründungsformel des Parmenides in der letzten Verwirklichung ihrer Intention mit ihrem eigenen Gegenteil in eins fällt. In Beschwörungen wie »dass (es) ist und (dass) nicht ist nicht sein« (Diels 1903: B 4) ringt Parmenides mit dieser Konsequenz und bleibt dennoch gerade durch die Verneinung an das Verworfene gebunden (vgl. Heinrich 1987: 45ff). So hat Gotthard Günther vielleicht ein wenig unrecht, wenn er den von Wittgenstein im Tractatus formulierten Sachverhalt »Die Sätze ›p‹ und ›non p‹ haben entgegengesetzten Sinn, aber es entspricht ihnen eine und dieselbe Wirklichkeit« (Wittgenstein, Tractatus: 4.0621) als eines der philosophisch relevantesten Resultate erst der modernen Logik bezeichnet. Den logischen Sachverhalt, dass semantisch komplemetäre Aussagensysteme syntaktisch äquivalent sind, interpretiert Gotthard Günther jedenfalls so, dass dem durch Parmenides repräsentierten Weltbild ein inhaltlich komplementäres, aber theoretisch ebenbürtiges gegenüberstehen muss. Dieses zweite Weltbild ist Weltbild ebenso im konsequenten Sinne des Wortes. Aber es ist inhaltlich komplemetär. Der Ursprung, von dem das erste Weltbild sich entfernt hat, ist in ihm daher unmittelbar präsent. Der ontologische Ort der Entscheidung ist nicht in einem absoluten Außen und vor aller Zeit,

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sondern in der Welt und in der unmittelbaren Gegenwart. Aber das heißt: Hier ist Entscheidung krisis, also jener exakte Punkt der Entscheidung selbst, an dem sie eben gerade fällt, aber noch nicht gefallen ist. Das kommt bei Heraklit zum Ausdruck, den Gotthard Günther als den ersten Repräsentanten des zweiten Weltbilds einsetzt. Das Eine (d. h. die Welt im Ganzen als Kosmos, Geschichte und Grund) heißt bei Heraklit logos, der logos ist xynon, d. h. gemeinsam, gemeinsam ist polemos, der Streit, und das Prinzip des Streits ist, dass das Widerstreitende zusammentritt. Dieses Zusammentreten ist unmittelbare Präsenz von Entscheidung als krisis. Enation, ein auch bei Heraklit verwendetes Wort für Widerspruch, heißt im Griechischen noch des Homer (vgl. Schadewald 1978: 61): was sich ins Gesicht blickt. Das lässt an die Situation des Ringkampfes im Augenblick der höchsten Erschöpfung denken. Die Geschichte des Kampfes ist in dem Augenblick gleichgültig, und die Kämpfer haben noch keine weitere Wendung vollzogen. Dass im Verhältnis von xynon und polemos Vergangenheit und Zukunft radikal ins Gegenwärtige treten, kann auch folgender Vers aus der Ilias illustrieren: »Der böse Daimon des Krieges ist gemeinsam, und auch den Tötenden hat er schon getötet.« (Homer 18: 309) Ist dem zweiten Weltbild Entscheidung unmittelbar gegenwärtig, so muss die eine Welt als unentschiedene erscheinen. Wenn Heraklit sagt »Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden« (Diels 1903: B 67), dann könnte genau das die Pointe sein. Die unentschiedene Welt ist offen für jede Wendung. Daher ist in ihr Zeit, die Parmenides in einen ontologisch zweitrangigen Bereich verwies, als Ereignis primär wie in dem berühmten Brettspiel, das der aion, die ewige, sich immer wieder erneuernde und sich aufs neue erzeugende Zeit, als Knabe bei Heraklit spielt. (Diels 1903: B 52). Aber diese offene Welt ist ein bloßer Möglichkeitsraum, denn am Punkt der krisis ist noch nichts entschieden.

4. Für Gotthard Günther sind beide Weltbilder ebenbürtig, d. h. gleichursprünglich. Mit jedem ist sein Komplement und damit zugleich ihr zweiwertig-symmetrisches Relationsverhältnis mitgesetzt. Von daher kommt das ontologische Radikalisierungspotenzial auf geschichtsphilosophischer Ebene zur Geltung. Die Geschäftigkeit des Abendlandes beginnt mit der schon vollzogenen Entscheidung für das erste Weltbild, und diese Entscheidung ist der Beginn von Technologie. Für Gotthard Günther ist die Entscheidung deshalb intelligent. Durch die Eliminierung von Zeit und Entscheidung aus dem Inneren der Welt erlaubt sie erst die Entwicklung eines Wissens und einer Praktik, die unveränderliche Gesetze thematisiert. Die Eliminierung wird als logische Elementarstruktur der Zweiwertigkeit, wie sie die klassisch-aristotelische Logik formuliert, vollzogen: Der Satz der Identität ist Eliminierung von Zeit. Der Satz

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vom ausgeschlossenen Dritten »[…] es ist nicht möglich, daß es ein Mittleres zwischen den beiden Gliedern des Widerspruchs gibt, sondern man muß eben eines von beiden entweder bejahen oder verneinen« (Aristoteles, Metaphysik 1011 b) bestimmt Reflexion als immer schon entschiedene, während der Satz vom verbotenen Widerspruch »[…] es ist nicht möglich, daß dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme« (ebd.: 1005 b) das Objekt als immer schon entschiedenes setzt. Damit bestätigen diese Sätze zugleich den ontologischen Hintergrund, den sie voraussetzen. Gotthard Günthers Formel »Das tote Sein, dessen Logik uns die aristotelische Tradition gegeben hat, hat keine Geschichte« (Günther 1976: XV) macht deutlich, dass das erste Weltbild als Elementarstruktur an seinem Beginn schon vollendet ist. Wenn Gotthard Günther Technologische Zivilisation als Situation der Vollendung eben dieses Weltbilds beschreibt, meint er: In dieser Situation hat die Geschäftigkeit alle mit dieser Elementarstruktur gegebenen Möglichkeiten erschöpft. Aus dem Weltbild, dem Bild der Welt im Ganzen, ist eine Welt als ganzer Kosmos und ganze Geschichte geworden. Technik ist für Gotthard Günther »transkulturell« (Günther 1980: 270). Technologie synthetisiert Weltgesellschaft im räumlichen Sinne genauso, wie sie den in der Gegenwart anwesenden geschichtlichen Abstand zwischen unterschiedlichen Kulturen überspringt. Gotthard Günther teilt also mit Martin Heidegger den Gedanken, dass sich in Technologischer Zivilisation jenes Weltbild praktisch vollendet, das die Geschäftigkeit des Abendlandes dominiert hat. Er ist aber schärfster Opponent der Überzeugung Heideggers, dass diese Vollendung ein Ende bedeutet. In der Geschäftigkeit des ersten Weltbildes bleibt das zweite Weltbild subthematisch präsent. Die Präsenz äußert sich als unlösbares Problem. Ein Denken, das die eine Welt und sich selbst in dieser Welt reflektiert, setzt in der Welt und in sich selbst eine Differenz. Die Eliminierung von Entscheidung aus der einen Welt hat die Möglichkeit miteliminiert, diese Differenz im Inneren der Welt darzustellen. Parmenides dachte die Selbigkeit von Denken und Sein, doch der Spruch »to gar auto noein estin te kai enai« (Diels 1903: B 5) kann nur von einer Göttin ausgesprochen werden, die der Selbigkeit nicht angehört. In die Sphäre dieses Nichtangehörens hat das erste Weltbild das Thema der Reflexion abgeschoben. Das Projekt der technischen Darstellung von Reflexion interpretiert Gotthard Günther als Wiedereinführung dieses Themas in die Welt. Aber das ist nur ein Aspekt. Die als Technologie vollendete Welt kennt kein Außen. Die Differenz, die jedes Handeln in der Welt und in sich selbst setzt, kann daher ebenfalls nicht mehr auf eine außerweltliche Sphäre bezogen werden. Die Themen Subjektivität und Wille brechen praktisch in die Welt ein. So treibt Technologische Zivilisation thematisch über die Grenzen jener Elementarstruktur hinaus, der sie sich verdankt. Die thematische Grenzüberschreitung aktualisiert einen Mangel, und dieser Mangel verweist auf das zweite Weltbild. Das Nebeneinander beider Weltbilder

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könnte sich in ein Nacheinander verwandeln. Aber das zweite Weltbild vermag den Mangel des ersten Weltbildes nicht zu kompensieren. Denn für es ist Welt ein bloßer Möglichkeitsraum, dem die krisis am Anfang als Punkt der gerade noch nicht gefallenen Entscheidung gegenübersteht. So liegt das Problem für Gotthard Günther in der ursprünglichen Spaltung der beiden Weltbilder selbst (vgl. Günther 1979, insb. 207). Würde sich also das zweite Weltbild, das nun an der historischen Tagesordnung steht, mit dem ersten zu vermitteln, wäre die Situation kein Ende, sondern tatsächlich und im Wortsinne der »Anfang einer Epoche« (Günther 1980: 254).

5. Die Sphäre dieser Vermittlung ist die Sphäre des Handelns. Das war in Wahrheit immer schon so. Es wird aber erst deutlich, wenn kein Jenseits mehr eine letztentschiedene Perspektive vorgibt. So radikalisiert das Konzept der Technologischen Zivilisation den Entscheidungsbegriff auf struktureller Ebene. Die Kontemplation wird zu recht immer zwischen beiden Weltbildern hinund herschwanken, weil sie ja theoretisch ebenbürtig sind. Die Handlung aber kann praktisch nicht neutral bleiben. Deshalb ist sie selbst Vollzug der Vermittlung. In Cognition and Volition beschreibt Gotthard Günther Subjektivität als Mechanismus zweier interagierender Programme: Im einen Programm ist die Umgebung die höhere Macht, und das Erkennen muss sich beugen. Im anderen Programm ist die Umgebung ein nebuloses Möglichkeitsfeld, das der Wille in objektive Realität transformiert. Das kann auf den Begriff der Handlung übertragen werden (vgl. ebd., insb. 219). Die Vermittlung kann in zwei Richtungen gehen. Entweder es ist in der Welt des Parmenides schon entschieden. Dann wird der unentschiedene Schwebezustand in der Welt des Heraklit aufgehoben. Oder eine Handlung beendet den unentschiedenen Schwebezustand in der Welt des Heraklit und setzt eine Entscheidung. Durch sie wird das nebulose Möglichkeitsfeld in die Welt des Parmenides transformiert. Der Vollzug der ersten Bewegung heißt Determination. Die zweite Bewegung wird klassisch auf zweierlei Weise erklärt: Einmal kann dem handelnden Subjekt Willensfreiheit zugeschrieben werden. Es ist selbst ein Nichts an Determiniertheit, und seine Entscheidung ist aus diesem Nichts geboren. Die Frage nach dem Warum der Entscheidung iteriert unendlich in dieses Nichts hinein. Oder in die Welt selbst wird eine Abwesenheit von Determination, also ein Nichts eingeschrieben, das eben zur Entscheidung herausfordert. Die Frage nach dem Warum dieser Abwesenheit weist letztlich und wie im Fall der ersten Erklärung in einen unfassbaren transzendenten Hintergrund. Dies kann nur vermieden werden, wenn dieses doppelte Nichts in die Welt hereingenommen und auf den Begriff der Determination bezogen wird. (Im Nichts, sagt Gotthard

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Günther, ist eben »… nichts zu sehen, solange wir uns nicht entschließen, in das Nichts hineinzugehen« [Günther 1980: 288].) Hereinnahme und Bezug erfordern selbst ein neues Weltbild, in dem die beiden Weltbilder vermittelt sind. Auf der Ebene der Handlung wird die Vermittlung schon geleistet. Daher könnte ein neues Weltbild von dieser Ebene her aufgebaut werden. Folgende interpretative Andeutungen sind möglich: Im Handeln selbst erscheint Welt entweder als höhere Macht oder als nebuloses Möglichkeitsfeld. Also ist sie in dieser Weise gebrochen. Könnte Welt als ganze und ohne Bewegung betrachtet werden, wäre sie determiniert, und zugleich wären Brüche in ihr verstreut, an denen gehandelt werden muss. Welt wie etwa im Falle des berühmten Buridanischen Esels, der exakt zwischen zwei Heuhaufen steht, ist determiniert, und trotzdem muss der Esel entscheiden, will er am Leben bleiben. An diesen Brüchen wäre das Handeln auf das zurückverwiesen, was klassisch Willensfreiheit heißt, und mit dem konfrontiert, was klassisch als Nichts an Determination gilt. Aber Handeln ist ja nichts anderes als Prozess über die Brüche hinweg. So erscheint ihm die Welt als Bewegung. Und Handeln, das in Konfrontation mit Möglichkeitsfeldern aus der Unentschiedenheit in die Entschiedenheit übergeht, baut Welt. Insofern fügt es Welt als höhere Macht und Möglichkeitsfeld hinzu. Damit wird Welt strukturell komplexer und reicher an Brüchen. So wäre Handeln nicht Aktualisierung von Willensfreiheit oder Konfrontation mit einem Mangel an Determinierung, sondern notwendige Aktivität der Steigerung struktureller Komplexität und Brüchigkeit. Die Welt dieses Handelns könnte als sich selbst komplizierende Prozessualität gedacht werden, in die immer neue Brüche eingestreut werden. Was Handeln in sich selbst komplizierender Prozessualität baut, können daher nur kurzfristige Kontinua von Realität und Erfahrung sein. Diese Kontinua nennt Gotthard Günther Elementarkontexturen. Weil die prozessierende Welt nicht immer schon geschaffen ist, ist dem Handeln kein immer schon sicherer Raum gegeben. Also beziehen sich die Kontexturen nicht in einer Einheit aufeinander. Welt bei Gotthard Günther erscheint schließlich als prozessierendes und »unendliches System sich gegenseitig komplementierender und durchdringender Elementarkontexturen« (Günther 1979: 199). Diese Welt ist für Gotthard Günther die Welt der Technologischen Zivilisation. Ihre Geschichte wird ein stetiges Anfangen, nämlich, wie Gotthard Günther sagt, »das primordiale Geschehen im Nichts. Nur in diesem Nichts kann sich der Wille frei betätigen und immer wieder neue, aber vorläufige Gestalten des Seins hervorrufen.« (Ebd.: 296)

6. Im Bezug des Begriffs der Entscheidung auf den Begriff der Technologie liegt die Radikalität und Aktualität dieses Aspekts der Philosophie Gotthard Gün-

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thers. Das zeigt sich gerade im Verhältnis zu jenem diskursiven Feld, das den Namen Postmoderne erhalten hat. In seinem Bezug auf Technologie hat Gotthard Günther den Begriff Entscheidung umfassend, d. h. ontologisch, geschichtsphilosophisch und strukturell thematisiert. Damit gibt er die Anforderung vor, das Problem der Entscheidung nicht bloß auf Begriffe wie Spiel bei Jacques Derrida oder Sprachspiel bei Jean-Francois Lyotard abzubilden. Die Konfrontation mit diesem Feld zeigt aber auch einen Punkt, an dem die günthersche Radikalität sich selbst zu überholen scheint. Für Jacques Derrida und Jean-Francois Lyotard ist die Situation, in der sich Entscheidung ereignen kann, immer höchst gefährdet: Immer kann ein Satz der letzte sein. Bei Gotthard Günther dagegen erweitert Technologische Zivilisation den Möglichkeitsraum der Entscheidung in neue, noch nicht da gewesene und nicht antizipierbare Dimensionen. Aber dem Weltbild des Heraklit, das nun zum Zuge kommt, steht, wie Gotthard Günther schreibt, »… die in der Geschichte erworbene Erfahrung der Seinsthematik zur Verfügung […], die ihm erlaubt, seine Kraft in begrenzt sinnvollen Handlungen zu manifestieren und so das Vergangene zu liquidieren« (Günther 1980: 252). Die Existenz des Möglichkeitsraums selbst ist also durch »vorläufige Gestalten des Seins« gesichert, deren jeweils relative Dauer durch die Technik garantiert wird. Die Selbstüberholung der güntherschen Radikalität liegt eben darin, dass seine eigene Konsequenz eben die Möglichkeit einer solchen Vorläufigkeit zu dementieren scheint. Welt als sich selbst komplizierende Prozessualität, in der sich Elementarstrukturen gegenseitig durchdringen, hat kein Zentrum. Handeln in ihr ist tatsächlich eine unendliche Bewegung der Vervielfältigung. Es ist die gewesene Welt des Parmenides, die an diesem Punkt des Ausschwärmens relative Kontinuität bieten soll. Schon gegen Nietzsche hat Martin Heidegger eingewendet, dass die Entgegensetzung von Parmenides und Heraklit unwahr sei (vgl. Heidegger 1987: 96). Das ist ein entscheidender Einwand auch gegen Gotthard Günther. Was das Weltbild des Heraklit zum Ausdruck bringt, ist dann nämlich nichts anderes als die innere Konsequenz aus der Gründung des Parmenides selbst. Das Nichts, mit dem Parmenides rang, und das Werden, das er in den Bereich der doxa auslagerte, repräsentieren die immanente Spaltung und Prozessualität des parmenideischen Seins. Wenn nun in Technologischer Zivilisation das Weltbild des Parmenides vollendet ist, Technologie also, mit einem Wort von Jean-Luc Nancy, als »Fertigstellung des Seins« (Nancy 1991: 38) begriffen werden kann, so wäre dieses Sein tatsächlich reine Synthese und mit Hegel ein Nichts. Handeln aber kann nur als Kontextur, somit als – wenn auch kurzfristiges – Kontinuum von Realität und Erfahrung irgendetwas sein. Die Anforderung, eine Kontextur zu sein, fällt in Technologischer Zivilisation auf das Handeln zurück. Der Versuch, diese Anforderung wegzuarbeiten, setzt am Rande der Moderne eine gigantische Sinnpraxis frei. Handeln richtet sich auf Momente dieser Praxis aus, um sich als

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relative Dauerhaftigkeit zu setzen. Aber die Momente der Sinnpraxis müssen selbst als prozessuale begriffen werden. Sie sind, was Jacques Derrida als Supplement bezeichnet hat. Ein Supplement ist ein Zeichen im doppelten Sinne: Es zeigt, dass etwas fehlt, und es ist selbst Zeichen, dem etwas fehlt (vgl. Derrida 1976: 437). Die Momente der Sinnpraxis am Rande der Moderne zeigen an, dass Dauer fehlt, und zugleich fehlt ihnen selbst ein dauerhafter Inhalt. Relative Kontinuität können sie nur in der Negation eines Anderen finden. Daher sind sie strukturell gewalttätig. Die gigantische Sinnpraxis am Rande der Moderne wird so als Prozessualität beweglicher, wandelnder Negationen erscheinen, die in unzähligen Splittern Dauer suchen. Das ist der Punkt, an dem ein auch an Gotthard Günther orientiertes Denken mit einer programmatischen Anforderung konfrontiert werden kann. Die Anforderung betrifft zwei Aspekte. Der Begriff der Differenz, wie ihn Jacques Derrida verwendet, oder das Begriffspaar Differenz und Wiederholung, das den Titel für ein Buch von Gilles Deleuze abgibt (vgl. Deleuze 1992), setzt bei der Problematik der Dezentrierung und Zerstreuung an. Der Bezug auf Technologie, wie ihn Gotthard Günther leistet, würde dieser Thematisierung ebenso eine Zuspitzung geben, wie die Philosophie Gotthard Günthers in der Konfrontation mit sich eigentlich aus ihr selbst ergebenden Konsequenzen ihrerseits eine Aktualisierung erfahren könnte. Das ist der erste Aspekt. Und der zweite: Jacques Derrida und Jean-Francois Lyotard haben jeder auf seine Weise am Punkt der Gefährdung von Entscheidung mit der Idee einer philosophischen Politik angesetzt. Durch die Philosophie Gotthard Günthers hindurch wäre eine politische Philosophie im Kern eine politische Philosophie der Technologie. Beide Anforderungen gilt es noch auszuarbeiten. Philosophie am Rande der Moderne kann jedenfalls nicht mit jener Rettung rechnen, die Ijon Tichy erfuhr: »Ich saß auf dem Fußboden, mit geschwollenen Augen, in einer eigenartig geräumigen Kajüte, inmitten von zerschlagenen Einrichtungsgegenständen, Kleidungsfetzen und zerrissenen Büchern. Der Fußboden war mit Abstimmungszetteln übersät. Die Sternkarte sagte mir, daß ich nunmehr die ganze Zone der Gravitationsstrudel durchquert hatte. Da ich nicht mehr mit einer Verdoppelung und somit auch nicht mit der Behebung des Schadens rechnen konnte, bemächtigten sich meiner Verzweiflung und Erstarrung. […] Da erinnerte ich mich wie durch einen Nebelschleier, daß bereits kurz vor dem letzten Strudel zwei Jungen heimlich in den Gang geschlichen waren. […] Wie elektrisiert stürzte ich zur Steuerung. Sie funktionierte! […] Ich nehme an, daß der eine seine Hände in die Ärmel und der andere in die Hosenbeine des Raumanzugs gesteckt hatte; auf diese Weise konnten sie die Schlüssel zum Festschrauben der Muttern auf beiden Seiten der Steuerung gleichzeitig halten. […] Wie eine Reliquie trug ich ihn in das Innere des Schiffs, während ich im Herzen unsägliche Dankbarkeit für diese waghalsigen Jungen empfand, die ich vor so langer Zeit gewesen war.«. (Lem 1971: 31f.)

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Bereits erschienen in: Clausen, Lars/Kotzmann, Ernst/Stangmeier, Reinhard (Hg., 1997): Transklassische Logik und neue disziplinäre wie interdisziplinäre Ansätze, München und Wien: Profil Verlag.

L ITER ATUR Aristoteles (1989): Metaphysik; in: Seidl, Horst, Aristoteles’ Metaphysik. Bücher I(A) – VI(E). Griechisch-Deutsch, Hamburg Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. Baudelaire, Charles (1989): Der Maler des modernen Lebens. Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 5, München und Wien Benjamin, Walter (1980): Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. Gesammelte Schriften, Band I.2, Frankfurt a. M. Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung. München Derrida, Jacques (1976): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt a. M. Diels, Hermann (1903): Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin Günther, Gotthard (1952): Die Entdeckung Amerikas und die Sache der Weltraumliteratur, Düsseldorf/Bad Salzig Günther Gotthard (Hg,, 1952): Rauchs Weltraum-Bücher. (John W. Campbell: Der unglaubliche Planet, Düsseldorf/Bad Salzig, Jack Wiliamson: Wing 4. Düsseldorf/Bad Salzig) Günther, Gotthard (1976): Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Erster Band, Hamburg Günther, Gotthard (1979): Cognition and Volition. In: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Zweiter Band, Hamburg Günther, Gotthard (1979): Die Theorie der »mehrwertigen« Logik. In: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Zweiter Band, Hamburg Günther, Gotthard (1980): Heidegger und die Weltgeschichte des Nichts. In: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Dritter Band, Hamburg Günther, Gotthard (1980): Idee, Zeit und Materie. In: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Dritter Band, Hamburg Gurjewitsch, Aaron J. (1978): Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. Hegel, G. W. F. (1969): Wissenschaft der Logik. Werke in zwanzig Bänden, Band 5, Frankfurt a. M.

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Heidegger, Martin (1980): Holzwege, Frankfurt a. M. Heidegger, Martin (1987): Einführung in die Metaphysik, Tübingen Heinrich, Klaus (1982): Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Basel/Frankfurt a. M. Heinrich, Klaus (1987): Tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik, Basel/Frankfurt a. M. Homer, Ilias Lem, Stanislaw (1971): Sterntagebücher, Frankfurt a. M. Lyotard, Jean-Francois (1986): Das postmoderne Wissen, Graz/Wien Lyotard, Jean-Francois (1989): Der Widerstreit, München Marquard, Odo (1982): Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M. Ritter, Joachim (1980): Subjektivität, Frankfurt a. M. Nancy, Jean-Luc (1991): Der Preis des Friedens. In: Lettre International, Herbst Schadewald, Wolfgang (1978): Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt a. M. Schivelbusch Wolfgang (1979): Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt a. M./ Berlin/Wien Schmitt, Carl (1963): Der Begriff des Politischen, Berlin Weibel, Peter (1987): Die Beschleunigung der Bilder. In der Chronokratie, Bern Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M.

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C ORINNA A SSMANN UND V ALERIE A SSMANN

Die Islamische Revolution brachte eine grundlegende Neudefinierung der Geschlechterrollen in Iran mit sich. Im Zentrum dieser Entwicklung stand die Frauenfrage, die sich im Streit um das Kopftuch widerspiegelt. Unter dem Schah-Regime zuletzt noch verboten, wurde der islamische Schleier unter Khomeini wenige Jahre nach der Revolution in allen öffentlichen Räumen per Gesetz verordnet. Das Kopftuch ist nicht nur eine Kleiderordnung, sondern bringt eine Vorgabe gewisser Verhaltensweisen mit sich wie demonstrative Bescheidenheit und unauffälliges Auftreten und bestimmt auf diese Weise die Rolle der Frau in der Gesellschaft insgesamt. Der Schleier wurde so zum Symbol des neuen Ideals der Frau als Hüterin der Reinheit der Gesellschaft und die sittsam verschleierte Frau zu einem zentralen Aspekt der Identität der Republik.

M ACHT DER S PIELE , F USSBALL IM I RAN

Fußball, als »männlicher Sport«, ist für Frauen entsprechend problematisch in Iran, wo Geschlechterrollen und Geschlechtertrennung gesetzlich festgelegt und politisch behaftet sind. Fußball stellt die vorgegebenen Geschlechterrollen in Frage und seine weiblichen Anhänger machen sich leicht strafbar: Im Park sieht man junge Frauen, die, mit Mütze und Trainingsjacke nur dürftig ihre weibliche Identität versteckend, Fußball spielen. Manche Frauen verkleiden sich auch als Jungen, um sich ins Stadion einzuschleichen. Dass zu der perfekten Tarnung nicht nur die entsprechende Kleidung, sondern auch das Annehmen bestimmter Verhaltensweisen gehört, wird in dem iranischen Film »Offside« gezeigt. Aus der Kombination der politischen Sprengkraft von Fußball einerseits und der symbolischen Überhöhung der Frauenrolle andererseits erklärt sich die prekäre Rolle des Frauenfußballs in Iran. Mehr als andere Frauensportarten wird Fußball so als eine unmittelbare Bedrohung der sozialen und politischen Ordnung wahrgenommen. (Fortsetzung auf S. 122)

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2. Zur Kritik an kulturellen und religiösen Konfliktphantasmen Bettina Gruber »Fast alle inner- wie intergesellschaftlichen Konfliktlinien lassen sich national oder ethnisch ›kostümieren‹, meist durchaus auch mit einem Körnchen historischer Wahrheit versehen – das Nationale und das Ethnische also als ›kultureller Overall‹« (Wolfgang Kaschuba 2001: 32)

Die vorliegenden Texte konzentrieren sich aus unterschiedlichen Sichtweisen und Disziplinen auf die Themen Gewalt, Konflikt und Möglichkeiten der Konflikttransformation im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Fremden, Migration und sogenannten »Kulturkonflikten entlang vermeintlich gegebener Kulturkreise«. Der Sozialpsychologe Josef Berghold beschreibt die psychosoziale Ausgangslage des einzelnen Individuums. Eine gewisse Scheu vor dem Fremdartigen ist für ihn universell gegeben, doch daraus könne nicht automatisch Fremdenfeindlichkeit abgeleitet werden. Bei starkem sozialen Druck tendiert der Mensch dazu, andere zum Sündenbock für eigene Probleme zu machen. Die Probleme werden dann in den Anderen hineinprojiziert und so entstehe eine Anfälligkeit für Feindseligkeit, die aber nicht automatisch zur Entstehung von Feindbildern führen muss. Berghold zieht in diesem Kontext den Schweizer Psychologen und Psychoanalytiker Arno Gruen heran, der sich mit den Ursachen im Kontext der frühkindlichen Entwicklung befasst. Kinder, denen wenig Gefühl und Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, verleugnen später die eigenen Gefühle; diese Menschen verdrängen ihre eigenen nicht-integrierten Gefühle, weil diese nicht von ihrem Umfeld angenommen werden. Später suchen sie ihre verleugneten Neigungen beim Anderen, um sie dort zu bekämpfen. Arno Gruen spricht in diesem Zusammenhang vom »Fremden in uns«. Die soziale Situation vieler Menschen erhöht die Angst, die die genannten Abwehrmechanismen hervorruft. Zuwanderer, so Berghold, sind unfreiwillige Boten der verunsichernden Seiten der Globalisierung. Ausländerfeindlichkeit ist nur eine Form von Diskriminierung. Menschen, die ethnisch, kulturell oder

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national als anders wahrgenommen werden, bieten besonders viele Angriffspunkte. Die Politikwissenschafterin Daniela Ingruber befasst sich in ihrem Text mit der Flut der Berichterstattung über Medien und Aussagen der Politik über Migration, die in erster Linie die Überfremdung unserer westlichen »zivilisierten« Gesellschaften betonen. Hiermit wird ein weitreichender und nicht enden wollender Sicherheitsdiskurs losgetreten, in welchem Migration und Asyl grundsätzlich als etwas Bedrohendes erlebt und interpretiert werden. Daniela Ingruber betont hier die Bilder von dem Anderen, die sich in den Köpfen festsetzen und einen Paradigmenwechsel nicht zulassen. Den huntingtonschen Prophezeiungen eines globalen Zusammenpralls der Kulturen widerspricht der Friedensforscher Dieter Senghaas. Er betont, dass sich die Spannungslinien der Weltpolitik entlang machtpolitischer Konstellationen entwickeln. Es entsteht eine Politik, die vor allem mit der Entwicklung und den Konfliktlinien der Weltwirtschaft zu tun hat. Für ihn besteht keine zwingende Notwendigkeit, dass Feindbilder automatisch aus Konflikten von Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionszugehörigkeit entstehen. Senghaas weist in seinem Artikel schlüssig darauf hin, dass Ethnokonflikte im Wesentlichen aus sozioökonomischen Problemlagen resultieren. Konflikte dieser Art brechen erst nach sehr langen Erfahrungen ökonomischer und sozialer Ungleichheit hervor, wobei in erster Linie Minderheiten in diesem Kontext diskriminiert werden. Zur Politisierung der kulturellen Differenz kommt es nach Senghaas, wenn Minderheiten die Verwirklichung von ökonomischen und sozialen Zielen verwehrt wird. Die wirklichen Kulturkonflikte der Zukunft werden so lange »within civilizations« ausgetragen werden, bis weltweit Pluralisierung von Gesellschaften und Kultur als Selbstverständlichkeit akzeptiert werden. Europa wird sich nach Senghaas dieser Frage in Zukunft auch im Kontext von Migration vermehrt und intensiv stellen müssen. Allen Texten inhärent besteht die Kritik darin, dass in der konfliktreichen Auseinandersetzung unterschiedlicher Gesellschaften über Grenzen hinweg oder im Kontext von Zuwanderung beinahe ausschließlich Kultur und Religion als Ausgangspunkte für diese Konflikte wahrgenommen werden. Unsere Welt wird zunehmend als ein Verbund von Religionen und Kulturen gesehen und wesentliche andere Formen von Identität werden vernachlässigt. Hiermit kommt es zu einer solitaristischen Deutung menschlicher Identität. Unser gemeinsames Menschsein wird gravierend in Frage gestellt, wenn wir die vielfältigen Identitäten auf ein dominantes Klassifikationsschema reduzieren – sei es auf Religion, auf Kultur, auf Nation – ein Schema, dem bei Krieg und Frieden, bei Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheit innerhalb des Nationalstaates, bei

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Fragen der Zuwanderung, jeweils diesen Kategorien einzigartige Wirkung und Bedeutung zugeschrieben werden. Mit dieser vor allem ethnischen oder religiösen Differenzierung blenden wir vielfach aus, dass Menschen einander in ihren Wünschen nach einem guten Leben doch sehr ähnlich sind. Unterschiede werden über die Maßen betont, wo in Wahrheit viel Gemeinsames vorhanden ist. Der indische Nobelpreisträger Amartya Sen betont in seinem Buch »Die Identitätsfalle«, dass die Vernachlässigung der Vielfalt unserer Zugehörigkeiten innerhalb einer Gesellschaft, der Pflicht, darüber nachzudenken und sich für eine Identität zu entscheiden, die Menschen und die Gesellschaft wesentlich einschränkt und unser Zusammenleben enorm erschwert. Weitere Identitäten, wie Geschlecht, Beruf, Sprache, politische Zugehörigkeit, Werte und Weltanschauungen etc. rücken damit in den Hintergrund. (Sen 2007: 9f) Identitäten können als Zugehörigkeiten betrachtet werden und bereichern unser Leben wesentlich – klar muss es jedoch sein, dass Gemeinschaftszugehörigkeiten und damit verbundene Identitäten einerseits egozentrische Lebensführungen abschwächen und Inklusion erzeugen, aber auf der anderen Seite Exklusion hervorbringen. Es fehlt die Einsicht, dass Identitäten entschieden plural sind und dass die Wichtigkeit einer Identität nicht die Wichtigkeit einer anderen Identität überlagert. Über nationalistisches, ethnozentristisches Denken und die kontinuierliche Belebung des Slogans »Kampf der Kulturen« werden vermeintliche homogene einsprachige unverfälschte Kulturen illusioniert, die so nicht existieren und nie existiert haben. Was sind nun die Gründe für diese Formen der Identitätspolitiken; wieso gibt es derzeit ein solches Revival nationaler und ethnischer Identitätskonstruktionen? Es liegen Desintegrationsdynamiken und Gefährdungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts vor bzw. Prozesse der sozialen Spaltung, verbunden mit einem weitreichenden gesellschaftlichen Wandel. Stichwortartig seien hier die Krise und der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft, neue Armut, soziale Ausgrenzung genannt; dies bedeutet unter anderem gravierende Probleme für die nationalstaatliche Steuerung infolge der Globalisierung und einen gravierenden Verlust des Vertrauens in das politische System. Es verfestigen sich soziale Ungleichheiten und damit einhergehende soziale Spannungen, insbesondere Prozesse der sozialen Ausgrenzung infolge von Einkommensverlust, Bildungsarmut und Arbeitslosigkeit; es existieren enorme Ängste im Zusammenhang mit Abbau von Normalarbeitsverhältnissen und Zunahme von prekären Beschäftigungsformen. Daher ist es problematisch, Integrationsprozesse und Desintegrationsdynamiken exklusiv in Zusammenhang mit Migration zu sehen; sie müssen als gesamtgesellschaftliches und gesamteuropäisches Phänomen wahrgenommen werden, das auch EuropäerInnnen ohne Migrations-

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hintergrund trifft. Integrationsproblematiken wie Arbeitslosigkeit, Bildungsbenachteiligung oder Schwierigkeiten des Spracherwerbs sind kein direkter Effekt von Migration, sondern wesentlich hervorgerufen durch die Lebensbedingungen, die den MigrantInnen durch die Aufnahmegesellschaft zugemutet werden. Soziale Ungleichheit wird umthematisiert in kulturelle Differenz, die sich wieder in den Termini des Nationalen, Ethnischen und der Mentalität beschreiben lässt. Damit werden nach dem Kulturwissenschafter Wolfgang Kaschuba herkömmliche soziale Frontstellungen im alten Sinne aufgebrochen. An deren Stelle treten neue Konstruktionen kulturell gezeichneter Eigen- und Fremdbilder, mit denen sich eine Politik der Differenz betreiben lässt, die auf veränderte Formen von »solidarischer Integration« setzt und ideologischer Gemeinschaftsbildung dient. (Kaschuba 2001: 27). Beim Versuch einer Rückbesinnung auf nationale, ethnische und kulturelle Identität geht es in unserer globalisierten Welt um die Rückgewinnung von Identität und Authentizität für die jeweiligen Nationalstaaten. Dies kann sehr gut anhand der jeweiligen Erinnerungskultur der Nationalstaaten, ihrer Geschichts- und Gedächtnispolitik beobachtet werden. Aufbau von Feindbildern nach außen dient der Abgrenzung nach außen und soll innere Geschlossenheit herstellen. Das Hauptziel von Identitätspolitik in krisenhaft empfundenen Zeiten ist es, soziale Loyalitäten herzustellen, deren Sinn und Berechtigung nicht hinterfragbar sind. Bei dieser Strategie geht es nach Kaschuba um die Sicherung einer »kulturellen Binnenautonomie« – die öffentliche Reflexion über Geschichte, Kultur und Identität spannt den Bogen von der ethnisch nationalen Vergangenheit in die Zukunft im Sinne einer Einschwörung auf gemeinsame nationale kulturelle Werte, um die sozialen Gräben und Verwerfungen der Gegenwart zu überdecken. (Binder/Niedermüller/Kaschuba, 2001: 32) In der Betrachtung des aktuellen Diskurses über die Ursache von Kulturkonflikten, der Angst vor dem Anderen, der Bilder, die sich in den Köpfen vom Fremden manifestieren, scheint es wesentlich, die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu beleuchten, unter denen Debatten und Auseinandersetzungen geführt werden. Nach 1989 und dem damit in rasenden Schritten vollzogenen Sieg des Kapitalismus, dem heute jedes Gegengewicht fehlt, damit einhergehender ungezügelter Finanzmärkte und ihrer entsprechenden Politik entsteht eine dramatische Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich. Als Antwort darauf werden die altbekannten Stereotypen des externen Feindes in Gestalt anderer Kulturen wie in Gestalt der ZuwanderInnen virulent; sie dienen vor allem dazu, von den inneren Desintegrationsentwicklungen abzulenken. Gleichsam überspitzt in der Finanzkrise 2008/2009 und der dadurch drohenden Staatspleiten einzelner europäischer Länder wird uns die Krise des uneingeschränkten Kapi-

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talismus vor Augen geführt. Die einzelnen Menschen schauen diesem Treiben fassungslos und ohnmächtig zu. Es scheint dringend notwendig, einen wissenschaftlichen und politischen Diskurs über die Verknüpfung des enthemmten Kapitalismus und der ungezügelten Finanzmärkte, die gegenwärtig losgelöst von jeglicher Realwirtschaft agieren, und den Auseinandersetzungen im Kontext von Kulturkonflikten herzustellen.

L ITER ATUR Binder, Beate/Niedermüller, Peter/Kaschuba, Wolfgang (2001): Inszenierung des Nationalen. In: Binder, Beate/Kaschuba, Wolfgang/Niedermüller, Peter (Hg.): Inszenierungen des Nationalen. Geschichte Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln: Böhlauverlag, S. 7-19 Sen, Amartya (2007): Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung

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Versinkt die Welt in Kulturkonflikten?

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Dieter Senghaas In den Makkabäer-Büchern des Alten Testaments wird die Geschichte des Kampfes der Makkabäer gegen die gewaltsame Hellenisierung Judäas geschildert. Antiochus, der Seleukiden-Herrscher, wollte den Jerusalemer Tempel in ein Heiligtum des Olympischen Zeus umfunktionieren und jüdisches Gesetz verbieten. Durch Tempelschändung und neue Gesetzgebung sollte die jüdische Religion erstickt werden. Der Erzähler berichtet von kriegerischen Auseinandersetzungen, von Kollaboration, vor allem aber von der religiös motivierten judäischen Widerstandsbewegung, schließlich vom erfolgreichen Aufstand der Makkabäer, angeführt von Judas Makkabäus. Judas Makkabäus gegen Antiochus: Das symbolisiert nicht nur kulturelle Differenz, sondern Kulturkampf. Wird die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts in Kulturkonflikte alttestamentarischen Zuschnitts hineinschlittern? Die Solches behaupten – etwa Johan Galtung, Samuel Huntington und manche, die ihnen folgen, – leugnen nicht, dass es auch weiterhin auf der weltpolitischen Bühne Macht- und Verteilungskonflikte geben werde. Doch die eigentliche Konfliktdynamik werde aus unvereinbaren, kulturell gewachsenen »Kosmologien« resultieren: aus unterschiedlichen Vorstellungen über Mensch, Natur und Transzendenz, vor allem aus sich widersprechenden Konzepten über »die gute Gesellschaft« und eine »gerechte internationale Ordnung«. In diesen Prognosen werden »civilizations«, also die durch Konfuzianismus, Buddhismus, Hinduismus, Islam sowie westliche und andere Kulturen geprägten Kulturbereiche zur Plattform politischen Handelns erklärt und die Kernstaaten solcher Kulturbereiche zu den Hauptakteuren der Weltpolitik: Die 1 | Ausführlich habe ich zu der hier thematisierten Problematik – Kulturelle Differenz: Sachverhalte, Streitfragen und Handlungsimperative – in meinem Buch Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst (Frankfurt a. M. 1998; New York/ Oxford 2002; Peking 2004; Tokyo 2006; Seoul 2007; Abu Dabi/Kairo 2009) Stellung genommen. Dort finden sich insbesondere eingehende Erörterungen über die Prämissen nicht-westlicher Kulturen und deren Spannungsverhältnis zu den Herausforderungen weltweit sich pluralisierender Gesellschaften.

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»Bruchlinien« zwischen Kulturen werden demnach auf Weltebene, aber auch im politischen Mikrobereich zu den eigentlichen politischen trouble spots der Zukunft.

1. Diese Vorhersage hat seit den 1990er-Jahren weltweit eine intensive Diskussion ausgelöst. Angesichts mangelnder empirischer Evidenz für die These ist dies erstaunlich. Denn in der wirklichen Weltpolitik folgt das Außenverhalten der maßgeblichen Akteure weiterhin einer Logik, die sich erkennbar eher aus dem System der internationalen Beziehungen als aus inneren Kulturimpulsen ableitet: Wo sich auf internationaler Bühne Macht zusammenballt, formiert sich Gegenmacht; vor allem werden hegemoniale Bestrebungen fast instinktiv von gegenläufigen Strategien durchkreuzt. Lassen sich nationale Ziele nicht mehr im Alleingang verwirklichen, versuchen Staaten sie über multilaterale Kooperation zu erreichen. Kulturelle Nähe oder Ferne spielt dabei keine Rolle. Und wo dichte ökonomische Verflechtungen verhaltensbestimmend werden, sind hierfür – kulturindifferent – vergleichbar hohe sozio-ökonomische Entwicklungsniveaus die Grundlage, so in der OECD-Welt: An die Stelle der Logik des Machtstaates tritt dann gegebenenfalls diejenige des »Handelsstaates«, nicht aber die »Logik der Kultur«. Auf letztere Logik wird z.B. abgehoben, wenn darauf aufmerksam gemacht wird, dass im islamischen Selbstverständnis die Welt zweigeteilt sei, nämlich in die Welt des Islam/Friedens und in die Welt des Auslandes/Krieges: Aufgrund seines universalistischen Anspruches verspüre der Islam den Drang, die Welt der Ungläubigen zu missionieren. Diesem Konstrukt zufolge müsste sich das Verhalten islamischer Staaten gegenüber der Gemeinschaft der Gläubigen, der Umma, signifikant von demjenigen gegenüber Ungläubigen unterscheiden. Doch in Wirklichkeit folgt die Politik islamischer Staaten von Marokko bis Indonesien in beiderlei Hinsicht ein und denselben Verhaltensmaximen: nämlich opportunistischen Machtkalkülen, ökonomischer Interessenabwägung und nur gelegentlich dem innenpolitisch motivierten Interesse an Revolutionsexport vermittels einer hierfür instrumentalisierten Religion. Was sich im islamischen Bereich beobachten lässt, zeigt sich auch in Asien. Weder in Ostasien noch in Südostasien ist auf politischer Bühne eine gemeinsame »asiatische Plattform« in Sicht. Ganz im Gegenteil: Das ökonomisch erfolgreiche Ost- und Südostasien wächst in der Folge weiterer Modernisierungsschübe in den westlich bestimmten OECD-Klub hinein – und ist dort aus ökonomischem Kalkül in aller Regel willkommen.

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Im Übrigen zeigten sich auf den großen Weltkonferenzen der 1990er-Jahre, dass – abgesehen von der Wiener Menschenrechtskonferenz – ganz andere als kulturbestimmte Konfliktlinien die Auseinandersetzungen prägten – so die Kluft zwischen Nord und Süd; zwischen Nuklearstaaten, nuklearen Schwellenländern und Nichtnuklearstaaten; zwischen Staaten mit extrem hohem Bevölkerungswachstum und solchen, deren Wachstum gegen null tendiert; zwischen Staaten, deren hoher Industrialisierungsgrad zu einer reichtumsbedingten Umweltzerstörung führt, und weniger entwickelten Staaten, in denen eine armutsbedingte Umweltzerstörung fortschreitet. Weltpolitik wird also immer noch von kulturindifferenten Konfliktlinien weit mehr geprägt als durch real bestehende oder auch nur unterstellte Kosmologien.

2. Wenn auf der Makroebene der Weltpolitik Kulturbereiche (»civilizations«) als Akteure internationaler Politik nicht beobachtbar sind, bestimmen nicht dennoch auf den Ebenen darunter gegensätzliche kulturelle Orientierungen das Konfliktgeschehen? Ist die These vom »clash of civilizations« innerhalb von Staaten gehaltvoller? Auf den ersten Blick scheint dies durchaus plausibel. In Nordirland standen Protestanten und Katholiken einander bis vor Kurzem trotz vieler Friedensbemühungen feindselig gegenüber; im israelisch-palästinensischen Konflikt konfrontieren sich hasserfüllt Juden und Muslime. Im Süden des Sudan erwehren sich Angehörige von Stammesreligionen und Christen der aus dem Norden drohenden Gefahr einer Islamisierung. Im Libanon bekämpften sich in einem mehr als zehnjährigen Bürgerkrieg schwer bewaffnete Milizen, die zwar nicht nur, aber auch Religionsgruppen repräsentierten; eine Art von Neuauflage dieser Konflikte ist seit Jahren zu beobachten. Seit Mitte der 1980erJahre befehden sich in Sri Lanka buddhistische Singhalesen und hinduistische Tamilen. In Indien ist seit vielen Jahren die Aufschaukelung eines Konfliktes zwischen Hindufundamentalisten und Muslimen nicht auszuschließen. Sunnitische und schiitische Muslime liefern sich in Pakistan Gefechte. In Algerien, Ägypten, der Türkei und in Afghanistan sind Islamisten angetreten, laizistische Systeme zu beseitigen. Schließlich: Die Kriege und Konflikte im ehemaligen Jugoslawien gelten als Musterbeispiele für Kulturkonflikte. Entgegen der Evidenz auf den ersten Blick sind jedoch Kulturkonflikte, in denen unterschiedliche religiöse, kulturelle oder zivilisatorische Vorstellungen über die Gestaltung der öffentlichen Ordnung miteinander rivalisieren, eher die Ausnahme als die Regel. Seit Jahren lässt sich ein solcher kulturbestimmter

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Konflikt beispielsweise innerhalb Israels beobachten: Soll Israel weiterhin gemäß säkularen Prämissen verfasst bleiben, wofür liberale Zionisten einstehen, oder soll, wie es vor allem Ultraorthodoxe und Nationalreligiöse fordern, eine öffentliche Ordnung geschaffen werden, die allumfassend, somit exklusiv »jüdisches Gesetz« verkörpert? Dem Kulturgehalt des innerisraelischen Konfliktes kommt ein höherer Stellenwert zu, als er bei jenen Konflikten vorliegt, die heute mit Verweis auf die These vom »clash of civilizations« als kulturell bestimmte Ethnokonflikte diskutiert werden. Bei der Eskalation dieser heute in aller Welt zu beobachtenden Konflikte sind in aller Regel spezifische religiöse und kulturelle Faktoren zu Beginn des Konflikts nur selten von wirklichem Gewicht. Ethnokonflikte entspringen im Wesentlichen aus sozio-ökonomischen Problemlagen. Überwiegend brechen solche Konflikte erst nach langen Erfahrungen krasser sozialer und ökonomischer Diskriminierung auf. Diskriminiert werden in der Welt aber vor allem Minderheiten, weshalb Ethnokonflikte allermeist Minderheitenkonflikte sind. Ein seltenerer Typ von Ethnokonflikt liegt dann vor, wenn – wie einst im Kosovo – eine Mehrheitsbevölkerung (ca. 95 % der kosovarischen Bevölkerung), die KosovoAlbaner, sich gegen die Apartheidpolitik einer überlagernden Minderheit, die Serben (ca. 5 %), zur Wehr setzt (ähnlich wie einst die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung Südafrikas gegen die Minderheit der weißen Bevölkerung). Mit der Unabhängigkeit des Kosovo (2008) mutierte dieser seltene Fall zum Regelfall: Eine Minderheit sieht sich einer dominierenden Mehrheit gegenüber. Unter den heutigen Bedingungen sozial mobiler, folglich politisierbarer und vielfach schon politisierter Gesellschaften ist es kaum noch möglich, Minderheiten im Kontext einer Mehrheitsgesellschaft jegliche soziale Aufwärtsmobilität zu verweigern. Denn auch Minderheiten haben heute meist Zugang zur Schulbildung, vor allem aber zu den Massenmedien. Ihnen bleiben die besseren Lebenschancen der Mehrheitsbevölkerung vor Ort und andernorts nicht verborgen. Wenn aber die Kluft zwischen den Erwartungen sozialen Aufstiegs einerseits und die in die Gesellschaft eingebauten Aufstiegsblockaden andererseits als anhaltend frustrierend erlebt wird, wenn überdies blockierte Lebenschancen als kollektives Schicksal der eigenen ethnischen Gruppe empfunden werden, kommt es zur Kulturalisierung von Politik bzw. zur Politisierung von Kultur. Ein solcher Übergang ist unausweichlich, wenn Diskriminierung die kulturelle Dimension (Sprache, Schule, öffentliche Verwaltung, Gerichtswesen u. a.) von vornherein mit einschließt. Solche Kulturalisierung von Konfliktkonstellationen angesichts blockierter Lebenschancen und daraus resultierender kollektiver Frustration ist kein neuer Sachverhalt. So gewann im 19. Jahrhundert der tschechische Nationalismus sei-

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ne Massenbasis, als in den Kronländern Böhmen und Mähren innerhalb der Habsburger Monarchie immer mehr Tschechen feststellen mussten, dass ihnen trotz guter Ausbildung die entscheidenden Positionen in Administration, Universitäten, Anwaltskanzleien und vergleichbaren Institutionen nicht zugänglich waren. Über 150 Jahre später verbreitet sich im besetzten Ost-Timor aus demselben Grund bei der neuen jungen Intelligenz ein eigenes kulturelles, auch nationales Bewusstsein, obgleich Jakarta durch eine gezielte Ausbildungsförderung nicht Nationalisten auf der Suche nach einer eigenen Kultur heranbilden wollte, sondern loyale Indonesier: peine perdue einer forcierten Assimilationspolitik, wie immer in solchen Fällen. Ähnliche Erfahrungen, wenngleich mit geringerer politischer Sprengkraft, waren hierzulande noch bis weit in die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu beobachten: In mehrheitlich protestantisch geprägten Landstrichen hatten Katholiken extreme Schwierigkeiten, auf der sozialen Leiter nach oben zu steigen, ebenso wie umgekehrt Protestanten in Gegenden mit katholischer Mehrheitsprägung. Zur Politisierung der kulturellen Differenz kommt es, wenn Minderheiten die Verwirklichung naheliegender ökonomischer und sozialer Ziele verwehrt bleibt. Kommt es zu einer solchen Eskalation, dann ruft dies eine entsprechende Abwehrreaktion hervor – mit dem Ergebnis, dass eine Auseinandersetzung, bei der es in erster Linie zunächst um Bildungschancen, Aufwärtsmobilität, qualifizierte berufliche Positionen, Status, Einkommen und politische Teilhabe, nicht aber um Art und Intensität oder Inhalt von Gläubigkeit geht, zu einem Kulturkampf wird: Religion und Kultur werden dann zum politischen Fluchtpunkt; Verteilungs- und Teilhabekonflikte verwandeln sich in Identitätskonflikte. Kulturkampf überlagert die sozialen Kämpfe. Es ist also Vorsicht geboten, wenn Konflikte, in denen Protestanten, Katholiken, Muslime, Hindus, Orthodoxe im Streit liegen, von vornherein als kulturell, d. h. von den Tiefendimensionen der jeweiligen Kultur oder Religion (»Kosmologien«) verursacht, interpretiert werden. Halten wir also fest: Für die These des »clash of civilizations« eignet sich auch der politische Mikrobereich nicht. Doch die Versuchung, kulturelle Differenzen, schon gar religiöse Unvereinbarkeiten, zur Ursache solcher Konflikte zu erklären, ist groß.

3. Wie soll nun aber gedeutet werden, dass es in der internationalen Diplomatie und auch andernorts eine anhaltende Kulturkonflikt-Debatte gibt? »Asiatische«

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oder »islamische« Werte werden »westlichen Werten« entgegengehalten und umgekehrt. Die westlichen Werte gelten als individualistisch, asiatische und islamische Werte als kollektivistisch. Die in Menschenrechtserklärungen und in völkerrechtlich verbindlichen Übereinkommen propagierten universellen Menschenrechte werden als westlich-eurozentrisch und damit als Inbegriff einer individualistisch ausgerichteten Kultur kritisiert, weshalb einige Regierungen in Asien und dem Nahen Osten deren Anspruch auf universelle Gültigkeit leugnen. Auch hier lohnt es sich, an einige Vorläufer zu erinnern. Schon lange vor 1933 wurden in Deutschland, und dies keineswegs nur von Randfiguren (z. B. Thomas Mann im Streit mit seinem Bruder Heinrich), tiefgründige »deutsche Kulturwerte« den für seicht gehaltenen »westlichen zivilisatorischen Werten« entgegengesetzt. Eine vergleichbare Diskussion gab es im zaristischen Russland, wobei sich die Wortführer den Verfechtern eines antiwestlich gesinnten Deutschland verbunden wussten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Kulturdebatte im heutigen Russland neu aufgelebt, nur dass der geistige Koalitionspartner von einst sich inzwischen dem »zivilisatorischen Westen« angeschlossen hat. Zur Zeit der Sowjetunion wurden in den ideologischen Debatten des Realsozialismus »sozialistische Werte« den westlich-“bürgerlichen« gegenübergestellt. Allerdings begriff man die sozialistischen Werte nicht als Ausdruck der Orientierung an alter Kultur, sondern umgekehrt als Bruch mit jeglicher Tradition: als programmatischen Ausgangspunkt eines ganz neuen Gesellschaftsprojektes und Menschentyps. Demgegenüber betonen heute die Verfechter asiatischer und islamischer Werte deren Verwurzelung in jahrhundertealten Kulturtraditionen. Doch weder auf offizieller noch auf inoffizieller Ebene verfechten Asiaten durchgängig »asiatische« Werte. Nicht einmal in Ost- und Südostasien, wo diese Debatte ihren Ausgangspunkt nahm, gibt es Übereinstimmungen untereinander. In Japan, Korea und Taiwan nahm man an dieser Debatte im Großen und Ganzen keinen Anteil. Vorreiter waren Singapur und Malaysia. Die chinesische Führung folgte später den Positionen, wie sie von diesen beiden Ländern propagiert wurden. Selbst aus Malaysia dringen ganz verschiedene Stimmen zu uns. Während der frühere Premierminister Mahathir ein dezidierter Verfechter kollektivistischer asiatischer Werte war, plädierte und plädiert sein damaliger Stellvertreter Ibrahim nicht weniger dezidiert für einen modernen, weltoffenen, liberal definierten Islam. Auch in Singapur gibt es eine langjährige Opposition gegen die von den Autokraten an der Spitze definierten autoritären Werte. Nichtregierungsorganisationen aus Asien haben sich in ihren Ländern selbst und auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 vehement gegen die Versuche der lokalen Machthaber gewehrt, asiatische Kultur für unvereinbar mit Menschenrechten und Demokratie zu erklären. Schon vor vielen Jahren hatte der damalige Präsident Südkoreas, Kim Dae-jung, in einer Auseinandersetzung

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mit seinem Kollegen aus Singapur, Lee Kuan Yew, einem der profiliertesten Verfechter asiatischer Werte, auf die Ansatzpunkte für eine eigenständige Begründung von menschlicher Würde und Demokratie in alter chinesischer Sozialphilosophie hingewiesen: Kim erinnerte an die These von Menzius über die Legitimationsbedürftigkeit jeglicher Herrschaft. Selbst Lee Kuan Yew reinterpretierte später asiatische Werte als eine notwendige, aber nur vorübergehend erforderliche Orientierung im Übergang Asiens zu modernen, weltoffenen und auf weltweiten Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaften. Was die »islamischen Werte« betrifft, so ist auffallend, dass sie vor allem im arabisch-iranischen Raum verfochten werden. Hier haben maßgebliche fundamentalistische Autoren, die zumal für eine Wiederbelebung und extensive Anwendung der Scharia plädieren, ihre Heimat. Demgegenüber findet eine reformorientierte Islam-Debatte vor allem in Südostasien mit seinen ethnisch plural strukturierten Gesellschaften statt. In dieser unterschiedlichen Akzentuierung der Islam-Diskurse spiegelt sich einerseits die chronische Entwicklungskrise Nordafrikas und des Vorderen Orients wider, andererseits der relative, wenngleich keineswegs schon gesicherte Entwicklungserfolg Südostasiens.

4. Im Übrigen sollte bei der Interpretation außereuropäischer Vorgänge die europäische Entwicklung nicht außer Acht gelassen werden. Man hat westliche Werte und besonders die Menschenrechte als ein Gewächs europäischer Kultur interpretiert. Das ist richtig: Sie sind ein Produkt europäischer Entwicklung. Aber was heißt hier »europäische Kultur« oder »europäische Entwicklung«? Wenn man die europäische Kultur mit der griechischen Antike beginnen lässt, so ist sie 2500 Jahre alt. Doch nur in den letzten 250 Jahren haben die Idee der Menschenrechte und der politische Kampf zu ihrer Durchsetzung eine Rolle gespielt. Das, was wir heute mit Menschenrechten inhaltlich verbinden, ist offensichtlich nicht in ursprünglichen »Kulturgenen« Europas enthalten gewesen, zumindest nicht prominent. Der überwiegende Teil europäischer Geschichte, gerade auch der Kulturgeschichte, zeigt kaum Sympathien für das, wofür Menschenrechte heute stehen. Es ist deshalb abwegig, anzunehmen, die europäische Geschichte hätte aus einer inneren Logik zwangsläufig in einen Sieg der Idee der Menschenrechte, wie wir sie heute verstehen, münden müssen. Auch die Geschichte der Menschenrechte selbst dokumentiert, dass dem nicht so ist. So sprechen die Menschenrechtserklärungen des späten 18. Jahrhunderts zwar von den Menschen, aber in Wirklichkeit gab es keine Skrupel, mit diesem Begriff nur einen Ausschnitt der Menschheit zu meinen: Wer nicht über

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Bildung und Eigentum verfügte, war lange Zeit nicht gemeint; ausgeschlossen blieben Frauen, auch Kinder, Farbige und Sklaven. Und was exklusiv begann, wurde nicht später erweitert, weil es von der Exklusion zur Inklusion eine innere Logik gibt (sie mag abstrakt bestehen), sondern weil die ursprünglich Ausgeschlossenen nicht länger bereit waren, diesen Zustand zu ertragen, und weil sie gleiche Rechte einforderten – bis schließlich die Idee obsiegte, dass mit dem Verweis auf Menschenrechte alle Menschen ungeachtet ihrer konkreten Umstände gemeint sind. Das abstrakte Individuum, bei dem von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Vermögen, Intelligenz u. a. abgesehen wird, existierte in der standesmäßig zergliederten europäischen Gesellschaft nicht. Die Idee eines solchen Individuums qua Rechtsfigur entstand erst in Auseinandersetzung mit unerträglich gewordener gesellschaftlicher Ungleichheit: angesichts von krasser Privilegierung und Diskriminierung, von Überfluss und Armut, aber auch angesichts neuer bürgerlicher und später proletarischer Schichten, die den überkommenen gesellschaftlichen Rahmen – das ancien régime – als unvereinbar mit den eigenen Aspirationen empfanden. Aus solcher Konstellation erwuchs jene politische Sprengkraft wider die eigene europäische Tradition, die schließlich und endlich der Idee der Menschenrechte zum Durchbruch verhalf. Erst dann gelang es, den einst auch in Europa standesmäßig abgestuften, also kollektivistisch schichtspezifisch definierten Menschen zum Menschen per se zu befreien. Erst danach wurden in der öffentlichen Ordnung und folglich in den Verfassungen alle Menschen als prinzipiell gleich und frei und mit einer unveräußerlichen Würde ausgestattet begriffen. Das war eine tiefgreifende Zäsur. Sie greift viel tiefer, als in jenen Argumenten in der internationalen Werte-Debatte unterstellt wird, die fälschlicherweise in der Idee der Menschenrechte den Ausdruck immerwährender europäischer Kultur oder das finale Ergebnis embryonal immer schon angelegter Kulturmerkmale sehen. In Wirklichkeit waren Menschenrechte und Menschenrechtspolitik in Zeiten tiefgreifenden Umbruchs das Ergebnis öffentlicher Erregungen auf Massenbasis, einer »colère publique« – angestoßen von Dissidenten, »Umstürzlern« sowie sozialrevolutionären und zivilgesellschaftlichen Bewegungen.

5. Eine solche Betrachtung der europäischen Entwicklung ist auch für ein Verständnis der Kulturdebatten außerhalb Europas von Bedeutung. Dort wiederholen sich in gewisser Hinsicht die aus der jüngsten europäischen Geschichte bekannten Auseinandersetzungen. Alle außereuropäischen Gesellschaften befinden sich heute in einem grundstürzenden Wandel, der zu einer internen Plu-

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ralisierung von Wertvorstellungen führt. Die Folge davon ist, dass Traditionen wegbrechen und Neuorientierungen überfällig werden: Manche wollen Europa imitieren, andere ihre eigene Tradition revitalisieren. Wieder andere glauben, moderne Technologie mit alten Werten kombinieren zu können. Im Übrigen wiederholen sich auf erstaunliche Weise die Argumentationsfronten, die im späten 18. und während des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa zu beobachten waren: Individuelle Menschenrechte mit universellem Anspruch werden von den Mächten des Status quo als eine Bedrohung überkommener Werte, eigener Tradition und wohlanständiger Lebensweise begriffen. Demgegenüber sind die Verfechter von Menschenrechten nicht mehr bereit, sich weiterhin autokratischen oder despotischen Regimes, ökonomischer Ausbeutung sowie sozialer und kultureller Diskriminierung zu beugen. Für sie wird erneut der Verweis auf Menschenrechte zu einer politischen Waffe. Wiederum bringt die »colère publique« die Idee der Menschenrechte auf die Tagesordnung. Und wiederum ist das Ergebnis nicht vorgezeichnet, denn auch außerhalb Europas geht es um eine Zäsur: Angesichts ökonomischen, sozialen und politischen Umbruchs geraten, wie einst in Europa, die althergebrachten Kulturen mit sich selbst in Konflikt. Ihre kollektivistisch-korporatistische, überdies häufig patriarchale und paternalistische, insbesondere autokratische Ausrichtung wird darüber fragwürdig. Es entsteht ein »clash within civilizations«: Das ist eine Konfliktkonstellation, die das Selbstverständnis und die Ordnung ganzer Gesellschaften und auch die Auseinandersetzungen innerhalb von Kulturgruppierungen berührt. In diese kulturellen und ordnungspolitischen Auseinandersetzungen außerhalb Europas, die noch Jahrzehnte dauern werden, könnte Europa seine eigene geschichtliche Erfahrung einbringen. Wirklichkeitsgetreu vermittelt, könnte darüber andernorts eine gewisse Sensibilität für die Unabweisbarkeit und die Legitimität kultureller Pluralisierung und der damit einhergehenden Konflikte gefördert werden, auch der Sinn für Toleranz und entsprechende, in den Verfassungen abgesicherte institutionelle Vorkehrungen. Damit würde dem entgegengewirkt, was den interkulturellen Dialog, auch die Auseinandersetzungen über Menschenrechte allermeist so unfruchtbar macht, nämlich die geschichtsverfälschende Essenzialisierung oder Ontologisierung von Kulturen. Bedauerlicherweise hat die These vom »clash of civilizations« diese wirklichkeitsfremde und politisch unfruchtbare Fehldeutung erneut belebt.

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6. Die Kulturkonflikte der Zukunft werden nicht zwischen »civilizations« ausgefochten werden, was nicht verhindert, dass auf diplomatischer und anderer Ebene das Argument vom Zusammenprall der Kulturen aus politischen Gründen weiterhin artikuliert werden wird. In Anerkennungs- und Verteilungskonflikten, die sich gegen Diskriminierung richten, wird eine Politisierung kultureller Differenz immer dann zu beobachten sein, wenn leidlich zufriedenstellende pragmatische Lösungen abgeblockt bleiben. Die wirklichen Kulturkonflikte der Zukunft werden jedoch – die europäische Erfahrung wiederholend – noch lange »within civilizations« ausgetragen werden: zumindest solange, bis auch in außereuropäischen Kulturbereichen die Pluralisierung von Gesellschaft und Kultur als unumkehrbar akzeptiert und nachhaltig institutionalisierte Konfliktregelung von der Art des demokratischen Verfassungsstaates eine Selbstverständlichkeit werden. Dies zu formulieren ist nicht Ausdruck von Eurozentrismus, sondern verweist auf eine objektive Problemlage: nämlich angesichts sich politisierender Pluralisierung Auswege aus einem drohenden chronischen ordnungspolitischen Konflikt oder gar aus drohendem Bürgerkrieg zu finden. Im Jahre 1998 erinnerte sich Europa an das Edikt von Nantes (1598), ein Dekret, das nach einem fünfzig Jahre dauernden Religions- und Bürgerkrieg nicht ohne eigennützige herrschaftspolitische Interessen des damaligen französischen Königs Toleranz von oben verordnete. Es dauerte noch Jahrhunderte, bis schließlich für die politischen Klassen selbst und für die meisten Menschen in Europa Toleranz zu einer leidlich selbstverständlichen Tugend, einer sich immer wieder neu anzueignenden Bürgertugend, wurde. In Europa waren die dafür erforderlichen kollektiven Lernprozesse langwierig, mühsam und qualvoll. Man tut gut daran, sich dieser wirklichen Geschichte Europas zu erinnern, wenn man die aus Modernisierungsschüben resultierenden Konflikte, die in außerwestlichen Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten unvermeidlich sein werden, verstehen will. Man tut auch gut daran, sich dieser eigenen Geschichte zu erinnern, wenn man sich mit den neuen Herausforderungen auseinandersetzt, die in der Folge von Migration in eben diesen europäischen Gesellschaften erneut zu bewältigen sein werden. Schon erschienen in: Gruber, Bettina/Rippitsch, Daniela/Stuhlpfarrer, Karl/ Wintersteiner, Werner (Hg., 2008): Internationale Krisenherde und Konflikte. Jahrbuch Friedenskultur, Klagenfurt/Celovec: Drava Verlag

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Unterschiede zwischen Kulturen als Vorwand für Feindbilder Josef Berghold

Schon beim flüchtigen Blick aus der historischen Vogelperspektive ist nicht zu übersehen, dass die Menschheit seit frühesten Zeiten, auch schon lange vor allen schriftlichen Aufzeichnungen, unzählige Begegnungen und Verbindungen von unterschiedlichen Kulturen gekannt hat; und dass dies ebenso zwangsläufig ist wie der Umstand, dass jedes derartige Aufeinandertreffen – neben seinen stimulierenden, den Horizont erweiternden Seiten – auch eine Quelle verschiedenster Konflikte, Reibeflächen oder Irritationen sein muss. Die Überlegungen, die ich in diesem Beitrag entwickeln möchte, sollen das Spannungsfeld zwischen zwei konträren (sich aber logisch nicht ausschließenden) Polen ein wenig erkunden, das ich durch die folgenden Annahmen über Konflikte markieren möchte, die beim Zusammentreffen zwischen Kulturen ausgelöst werden: • Einerseits scheinen solche Konflikte seit jeher eine sehr vorrangige Bedeutung beim Auftauchen und für die »thematische Ausgestaltung« vieler konkreter Feindbilder zu haben. • Andererseits haftet ihnen aber – an und für sich betrachtet – nichts an, das feindbildhafte Reaktionen oder Einstellungen logisch zwingend bzw. ursächlich erklären könnte. Zur Diskussion einiger Anhaltspunkte im Sinne dieser beiden Annahmen bietet sich eine jener Schriften an, die seit den 1990er-Jahren (in sehr gezielt propagandistischer Absicht) am meisten dazu beigetragen haben, den Begriff der Kultur in seiner aufklärerischen und völkerverbindenden Bedeutung in den Hintergrund zu drängen und im Gegensatz dazu jene Traditionen in den Mittelpunkt zu stellen, in denen ›Kultur‹ zum Schlachtruf für sich bekämpfende Fundamentalismen verkommt (vgl. Eagleton 2009: 49). Ich meine Samuel P. Huntingtons viel beachtetes Werk Kampf der Kulturen (Huntington 1996). Ein zentraler Baustein für die in diesem Buch entwickelte Argumentation besteht in der These, dass es auf unserer Erde neun voneinander markant abgegrenzte

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(in ihrem Inneren jedoch weitgehend homogene) Kulturräume gebe, die vor allem durch die in ihnen vorherrschende Religion bestimmt würden – und deren verstärktes Aufeinandertreffen im Gefolge der aktuellen Globalisierungstrends für die schwersten Konflikte unseres Zeitalters verantwortlich sei. Huntington versuchte an einer Reihe von Beispielen zu argumentieren, dass politische Konfliktherde in den Übergangszonen zwischen diesen neun religiös-kulturellen Großräumen meist weit größere Intensität aufwiesen als in ihrem Inneren. Die insgesamt schärfste Konfliktkonstellation erblickte er aber jedenfalls in einem sich rasch zuspitzenden Gegensatz zwischen dem islamischen und dem westlichen Kulturraum, deren zentrale Werte und Normen besonders frontal und auf breiter Front aufeinanderprallen würden. Dieses geopolitische Szenario verdankt – im Sinne der ersten obigen Annahme – offensichtlich der allgemeinen Tendenz von Feindbildern ein gewisses Maß an Plausibilität, kulturelle Unterschiede (zumindest auf der Oberfläche des Bewusstseins) zu privilegierten »Vorzeige-Motiven« und besonders augenfälligen Reibepunkten zu machen. Auf der anderen Seite scheint freilich – im Sinne der zweiten obigen Annahme – der Umstand von hoher Aussagekraft, dass Huntington eine entscheidende Voraussetzung (für die Behauptung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen kulturellen Unterschieden und Feindbildern) zwar immer wieder in sehr suggestiven Beschreibungen anklingen ließ, aber offenkundig davor zurückscheute, sie jemals als ausdrückliche These zu verkünden: die Auffassung, dass die von ihm beschriebenen Kulturräume eine in ihrem eigentlichen Wesen wurzelnde und daher auf Dauer fixierte – d. h. vom Auf und Ab der Geschichte auch nicht veränderbare – ›Essenz‹ (oder ›Wesenhaftigkeit‹) aufweisen würden, die mit der ›Essenz‹ der anderen Kulturräume grundsätzlich unvereinbar sei. Dementsprechend müsste es zwischen den verschiedenen Kulturräumen auch eine »ihrer ganzen Natur nach« unüberwindliche Mauer gegen jeden echten Dialog über ihre Wertmaßstäbe und Orientierungen (bzw. deren Unterschiede) geben: eine hochgradige Wahnvorstellung, die tatsächlich eine zentrale psychologische Bedingung für Feindbilder erfüllt (vgl. Berghold 2002: 160f) und nicht zuletzt einem der Hauptmotive der sich aufgeklärt gebärdenden (›kulturalistischen‹) Richtungen des heutigen Rassismus entspricht (die es nicht für opportun halten, das anstößig gewordene Wort ›Rasse‹ in den Mund zu nehmen, und dieses daher oft mit – im Grunde freilich sehr durchsichtigen – Deckvokabeln wie ›Kultur‹ oder ›Identität‹ ersetzen). Huntingtons permanent suggerierter, aber nie ausdrücklich eingestandener Kultur-›Essenzialismus‹ wurde ihm natürlich von vielen seiner Kritikerinnen und Kritiker – wie etwa Amartya Sen (2006), Harald Müller (1998) oder Ulrich Menzel (1998) – in überzeugender Weise nachgewiesen und angekreidet. So sehr seine Methode, rassistische Ideologien mit unterschwelligen und verschlüsselten Darstellungen zu propagieren, einerseits der Orientierung einer

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seit Jahrzehnten vorangetriebenen reaktionären Kulturoffensive entspricht, an der Huntington an prominenter Stelle mitgewirkt hat (vgl. Laurent 2003: 56), so bezeichnend ist andererseits aber eben auch der Umstand, dass er es sich in seiner akademischen Rolle nicht erlauben konnte, sich offen zu der hinter seiner Argumentation stehenden Sichtweise zu bekennen (in deren Logik aus kulturellen Gegensätzen zwangsläufig Feindbilder entstehen müssen). Wo sich ein rassistischer Demagoge in Massenmedien oder Großkundgebungen kaum Zurückhaltung auferlegen muss, da musste ein Professor an der Harvard-Universität – auch wenn er Leiter des nach einem führenden ultrakonservativen Geldgeber benannten John-M.-Olin-Instituts für strategische Studien war – doch ein wenig leisertreten. Wenn man sich in einem sozialen Umfeld bewegt, in dem man sich einer kontinuierlichen Diskussion stellen muss, in der sorgfältig abgewogene Erkenntnisse, Wissensbestände und Argumente (immerhin auch) etwas zählen, hätte man sich mit der offenen Behauptung einer quasi-natürlichen, überhistorischen ›Essenz‹ von Kulturräumen – die innerlich homogen, aber grundsätzlich unfähig zur Verständigung mit der ›Essenz‹ anderer Kulturräume sei – dermaßen schwer blamiert, dass man damit die eigenen Zielsetzungen beschädigt hätte. Eine nur kurze Zeit vor der Herausgabe des Werkes Kampf der Kulturen zurückliegende Erfahrung mag Huntington wohl auch als Warnung gedient haben. Das 1994 von seinen politisch nahestehenden Kollegen Richard Herrnstein und Charles Murray publizierte Buch The Bell Curve (Herrnstein/Murray 1994) – in dem diese die These einer genetisch bedingten intellektuellen Minderwertigkeit verschiedener ›Rassen‹ (namentlich der Afroamerikaner) vertraten und damit auch deren soziale Benachteiligung rechtfertigten – erwies sich unter dem kritischen Blick der Fachautoritäten als intellektuell so minderwertig, dass sogar das ultrakonservative Manhattan Institute, das Murrays vorheriges Buch lanciert und mitfinanziert hatte, angesichts dieser peinlichen Bloßstellung von seiner ursprünglichen Unterstützung Abstand nahm (freilich sollten für die zurückgezogene Finanzierung alsbald andere Geldgeber-Institute aus demselben politischen Spektrum einspringen [vgl. Laurent 2003: 60]). Ungeachtet der anhand von Huntingtons Beispiel wohl besonders einleuchtenden Unsinnigkeit, Unterschiede zwischen Kulturen zu »von Natur aus« unabänderlichen Barrieren zu verabsolutieren, gewinnt aber – allgemeiner betrachtet – deren bevorzugte Eignung als äußerliche Reibepunkte, an denen unsere Anfälligkeit für Feindbilder besonders leicht »angefacht« werden kann, vermutlich umso größeres Gewicht, je häufiger (und in je größerer Breite und Intensität) es zu Begegnungen zwischen verschiedenen Kulturen kommt. Folgt man nun etwa Sigmund Freuds Verständnis der grundlegenden menschlichen Kulturentwicklung – wie er es in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur erläutert hat –, so ergibt sich eine langfristige Zunahme dieser Begegnungen allein schon aus ihrem zentralen Beweggrund. Freud beschrieb ›Kultur‹ in

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diesem Zusammenhang als einen »Prozess im Dienste des Eros«, der »über die Menschheit abläuft« und seinem Wesen nach darauf angelegt sei, kleinere Einheiten nach und nach zu immer größeren zusammenzuführen – der also »vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle«. (Freud 1930: 481) In seinen Betrachtungen zum Anlass des 40. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs wies Norbert Elias auf einen wesentlichen menschheitsgeschichtlichen Zusammenhang hin, der diesen Prozess über sehr lange Zeiträume verzögert, dann aber im Laufe der neueren Geschichte immer stärker beschleunigt hat – wobei vor allem auch die Kombination dieser beiden Wirkungen in unserer Zeit dazu beitragen dürfte, das in den Begegnungen zwischen Kulturen angelegte Konfliktpotenzial massiv zu vergrößern: »Die Paradoxie [unserer heutigen Lage] beruht darauf, dass die Menschheit aufgrund der Entfernungen früherer Tage außerordentlich vielgestaltig geworden ist und dass sie zugleich aufgrund des gegenwärtigen Schrumpfens der Entfernungen, und der immer länger werdenden, immer dichter und fester gespannten Interdependenzketten, in allen ihren Teilen bis in die entferntesten Winkel der Erde ganz eng geworden, ganz nahe aneinandergerückt ist.« (Elias 1985: 109)

Dialogischer vs. polemischer Umgang mit Konflikten Wenn sich aus diesem treffend umrissenen Szenario einer nie zuvor erlebten Geschwindigkeit, Häufigkeit und Vielfalt des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen also auch eine ähnlich rapide Zunahme möglicher Konfliktherde ergibt, so muss dies nun durchaus nicht automatisch zu mehr Gewalt oder zu einem Ausufern von Feindbildern führen. Grundsätzlich besteht zwischen Konflikten und Feindbildern nur ein sehr bedingter (logisch ebenso wie psychologisch eher »schwacher«) Zusammenhang. An sich sind Konflikte ein notwendiger Bestandteil jeder lebendigen Entwicklung, jeder kreativen Auseinandersetzung, und ein offener, umsichtiger und nüchterner Umgang mit ihnen ist ein unverzichtbarer Teil eines tragfähigen Interessensausgleichs in jeder Gesellschaft. Umgekehrt bedient jeder Anspruch, einen Zustand genereller ›Konfliktfreiheit‹ oder durchgängiger Harmonie herzustellen, ausgeprägt repressive, d. h. auf die Zementierung von Herrschaftsstrukturen zielende Interessen – wohingegen emanzipatorische Errungenschaften sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie bislang versteckte oder verleugnete (von der Auseinandersetzung ausgeschlossene) Konflikte zu offen verhandelbaren Themen machen. Fantasien von anzustrebenden Zuständen einer gänzlichen Konfliktfreiheit (im Hinblick auf welche Fragen auch immer) laufen offensichtlich auf Vorstellungen von ›Endlösungen‹ hinaus – und das Ende jeder Lebendigkeit, die tödliche

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innere Logik, die im Anstreben von ›Endlösungen‹ zum Tragen kommt, kann man ja nicht zuletzt an den mörderischen Konsequenzen erkennen, zu denen entsprechende politische Absichten in der Geschichte immer wieder geführt haben. Es ist also keineswegs das Vorhandensein von – selbst sehr zahlreichen und offenen – Konflikten an sich, sondern es sind die sehr unterschiedlichen Möglichkeiten oder Fähigkeiten des Umgangs mit ihnen, an denen sich erweist, inwieweit eine Gesellschaft von einer hohen Gewalt- und Feindbildanfälligkeit belastet wird oder sich im Gegenteil einen relativ breiten Spielraum für konstruktive Problemlösungen schaffen kann. Auf einer sehr generellen Ebene kann man in diesem Zusammenhang zwischen einer dialogischen und einer polemischen Grundhaltung zu Konflikten unterscheiden (letztere im Sinne der altgriechischen Wortwurzel ›pólemos‹ [»Krieg«]): Während eine dialogische Orientierung auf der prinzipiellen Anerkennung der Identität des Gegenpols in einem Konflikt aufbaut und dementsprechend auch nachdrücklich an der Offenlegung der (emotionalen, sachlichen, historischen, …) Wurzeln und Hintergründe von Konflikten interessiert ist, ist eine polemische Orientierung von starren Schwarz-Weiß-Bildern von ›Gut‹ und ›Böse‹ beherrscht, in denen die Identität des Gegenpols hartnäckig verneint und missachtet wird. Die entsprechend zwanghafte Dämonisierung und Entwürdigung der anderen Seite geht dabei besonders auch mit einer allergischen Abwehr dagegen einher, die jedem Konflikt unvermeidlich innewohnenden Ambivalenzen, Vielschichtigkeiten und Paradoxien anzuerkennen (ohne deren Berücksichtigung freilich auch seine wesentlichen Wurzeln und Hintergründe im Dunkeln bleiben müssen). Für ein präziseres Verständnis der entscheidenden Unterschiede zwischen dialogischer und polemischer Grundhaltung muss aber auch berücksichtigt werden, dass eine spontane Bereitschaft zu Schwarz-Weiß-Bildern bzw. feindbildhaften Regungen wohl überhaupt zur Grundausstattung der menschlichen Psyche gehören dürfte – insofern sie jedenfalls als Auswirkung einiger unserer lebensgeschichtlich frühesten, einfachsten und daher ganz besonders verführerischen Reaktionsweisen begriffen werden kann, mit denen wir emotionalen Schmerz (zumindest vorübergehend) vermeiden können: der Abwehrmechanismen der Spaltung und Projektion. Mit ihrer Hilfe können Gefühle, Regungen oder Wahrnehmungen unseres Innenlebens, die unser Selbstwertgefühl allzu peinlich bedrohen, aus dem bewussten Blick auf uns selbst ausgeblendet werden und vor allem auch anderen Menschen bequem in die Schuhe geschoben werden (denen somit zugemutet wird, quasi als ›Außenwelt-Container‹ für die bei uns selbst verleugneten Teile unserer inneren Gefühlswelt herzuhalten). Der zentrale Prüfstein, der dialogische von polemischen Konfliktorientierungen unterscheidet, kann demnach also nicht darin bestehen, dass man je ganz frei von jenen Gefühlsreaktionen sein könnte, in denen man andere Menschen zuweilen zu glatten Verkörperungen des Bösen und Verächtlichen abstempelt,

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sondern dass man genügend Offenheit für einen kritischen »Blick nach innen« aufbringt, mit dem man solche Wahrnehmungen immer wieder reflektieren – und dadurch vor ihrer Verhärtung zu dauerhaften Feindbildern bewahren – kann. In einer etwas bildhafteren Betrachtung könnte man sich diesen entscheidenden Unterschied auch so veranschaulichen: Der innere Gerichtshof, der – in seiner ersten feindbildhaften Gefühlsaufwallung – nur ein einziges »erstinstanzliches« Verfahren (ohne Möglichkeit einer Berufung) zulässt, in dem ein Angeklagter zu bedingungsloser Schuld und Schande verdammt wird, kann sich – nach dem Abklingen dieser Gefühlsaufwallung – doch noch dazu durchringen, ein oder mehrere Berufungsverfahren zuzulassen, in denen die Umstände und Motive des verhandelten Falles ein wenig ausgewogener, umfassender und sorgfältiger unter die Lupe genommen werden. Was immer solche Berufungsverfahren auch im Einzelnen ergeben mögen, werden sie sich auf jeden Fall von der Haltung einer glatten Verdammung in die »Hölle der Nichtswürdigkeit« wegbewegen und (einmal abgesehen von der Möglichkeit eines gänzlichen Freispruchs) sich einem Standpunkt annähern, bei dem der Angeklagte für ihm vorgeworfene Handlungen oder Einstellungen in einer Weise zur Verantwortung gezogen wird, die ihren lebensgeschichtlichen Kontext berücksichtigt und sie damit menschlich nachvollziehbar macht – auch wenn man sie deswegen noch immer nicht sympathisch oder akzeptabel finden muss. Feindbildhafte Einstellungen haben im Gegensatz dazu grundsätzlich nichts mit konkreten Anklagen (Vorwürfen, Konfliktpunkten usw.) zu tun, über die man ein direktes und konkretes Streitgespräch – oder, um beim eben gewählten Bild zu bleiben: ein einigermaßen faires Gerichtsverfahren – führen könnte. Besondere Anklagepunkte, Irritationen oder Konflikte (wie realistisch oder wie weit an den Haaren herbeigezogen sie im Einzelfall auch sein mögen) dienen Feindbildern grundsätzlich nur als Vorwand oder Anlassfall zu ihrer scheinbaren Rechtfertigung und teilweisen »Detailausgestaltung« – können sie aber in Wirklichkeit ebenso wenig verursachen wie etwa auch positive Wahrnehmungen oder erfreuliche Erfahrungen sie korrigieren können. Dies wird nicht zuletzt an der sehr häufig zu beobachtenden Verhaltensweise erkennbar, dass negative Erfahrungen oder Berichte (auch wenn sie keine verallgemeinernden Schlussfolgerungen erlauben) umstandslos vom individuellen Fall auf eine feindbildhaft wahrgenommene Außengruppe in ihrer Gesamtheit übertragen werden – wohingegen positive Erfahrungen oder Berichte (auch wenn sie auf eine klare Widerlegung eines Pauschalurteils über eine Außengruppe hinauslaufen) strikt nur auf den jeweiligen Einzelfall eingegrenzt werden (als »Ausnahme, die die Regel bestätigt«). Letzteres kann man wohl besonders am sprichwörtlichen Fall nachvollziehen, dass sogar Personen mit sehr massiven Feindbildern zu einzelnen Angehörigen eines feindselig wahrgenommenen Kollektivs, mit denen sie zufällig in Kontakt gekommen sind und erfreuliche Er-

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fahrungen gemacht haben, unter Umständen (relativ) freundliche Beziehungen unterhalten können – ohne dass dies auch nur das Geringste am kollektiven Feindbild zu ändern braucht. Diese Einzelnen seien doch, so wird in solchen Fällen dann meist erklärt, eigenartigerweise »ganz anders« als jene konturlose große Masse, aus der sie sich (in der Wahrnehmung der betreffenden Personen) so scharf herausheben …

Zur exemplarischen Bedeutung der Studie »Etablierte und Außenseiter« Wie weit entfernt die entscheidenden Beweggründe für Feindbilder (Vorurteile, Diskriminierungen usw.) von den für ihre Rechtfertigung meist angeführten konkreten Konflikten oder Irritationen – etwa auch bei der Begegnung zwischen verschiedenen Kulturen – sein müssen, kann man besonders eindrucksvoll anhand einer klassischen und bahnbrechenden (im deutschen Sprachraum allerdings drei Jahrzehnte lang kaum zur Kenntnis genommenen) soziologischen Untersuchung ermessen, die Norbert Elias und John L. Scotson vor einem halben Jahrhundert in einer kleinen mittelenglischen Industriegemeinde durchgeführt und unter dem Titel Etablierte und Außenseiter veröffentlicht haben (Elias/ Scotson 1965). Den Forschern war eine quasi vom wirklichen Leben geschaffene Experimentalsituation dargeboten worden, in der sie der Frage nachgehen konnten: Was passiert eigentlich, wenn so gut wie alle Faktoren, die normalerweise als Gründe für Feindbilder und Diskriminierung angeführt werden, wegfallen? Wie eben vor allem: das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, Nationen, ›Rassen‹, Volksgruppen, Sprachen, Religionen, Lebensstile, Bildungsniveaus, Einkommens- und Besitzniveaus usw. Oder: mangelndes Kennenlernen bzw. wenig Begegnung zwischen verschiedenen Gruppen. Oder auch: Konkurrenz auf einem angespannten Arbeitsmarkt. Die erschütternde Antwort, zu der die beiden Autoren gelangten, war: Es passierte fast genau dasselbe wie sonst auch. Der soziale Ausschluss und die menschliche Abwertung der Außenseiter wurde von den Etablierten mit ähnlicher Lückenlosigkeit und Härte betrieben wie in den unzähligen Fällen, auf die einige der eben angeführten Anlässe (bzw. Vorwände) zutreffen; und das, obwohl sich die Außenseiter von den örtlich Eingesessenen praktisch durch nichts anderes als durch den Umstand unterschieden, dass sie sich erst im Laufe der vorhergegangenen zwei Jahrzehnte in der Gemeinde niedergelassen hatten – also in relativ jüngerer Vergangenheit Zugewanderte waren, die übrigens bemerkenswerterweise (obwohl sie durchwegs ›ethnisch‹ englischer Herkunft waren) immer wieder auch als ›Ausländer‹ bezeichnet wurden. Ansonsten hatten sie im Wesentlichen denselben Bildungsstand, waren in denselben Betrieben oder Ämtern beschäftigt, gingen in dieselben Schulen und hatten ganz allgemein eine sehr ähnliche Alltagskultur – was die Eingesessenen freilich nicht davon abhalten konnte, sie systematisch in die

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Rolle von verdächtigen, ›schmutzigeren‹, minderwertigen, die herkömmlichen Sitten angeblich gefährdenden Störenfriede zu drängen. Bezeichnenderweise konnte während der gesamten Dauer der Studie kein einziger Fall eines Anknüpfens freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Angehörigen der beiden Gruppen beobachtet werden. Ein sehr wesentlicher Zusammenhang, den Elias und Scotson in ihrer Studie auch verdeutlichen konnten, liegt im besonders massiven Einfluss, den Feindbilder, Vorurteile und Diskriminierungen dadurch entfalten können, dass sie über unzählige, weitgehend unauffällige Fäden der sozialen Kommunikation im ›ganz normal‹ anmutenden Alltagsleben verwurzelt sind. Sich gegen informelle oder eher unterschwellig wirkende Formen (oder Ebenen) der Diskriminierung zu wehren, ist in der großen Mehrzahl der Fälle weitaus schwieriger als gegen offen verkündete oder auch in aller Form festgelegte Praktiken (ohne deswegen natürlich die teilweise besonders schlimme Wirksamkeit öffentlich deklarierter oder gesetzlich-institutionell verankerter Diskriminierungsformen in Abrede stellen zu wollen). Wenn eine Person z. B. wegen ihrer sozialen Außenseiterposition von einem bedrohlich agierenden Türsteher in einem Lokal nicht eingelassen wird, gibt es eine klar beschreibbare Verhaltensweise, über die sie sich in aller Form beschweren könnte; wenn ihr demgegenüber aber »bloß« von den Stammgästen dieses Lokals durch mehr oder weniger diskrete Gesten und andere non-verbale Signale zu verstehen gegeben wird, dass sie hier unerwünscht sei, so hat sie meist keinen klar beweisbaren Anhaltspunkt, um einen entschiedenen Protest zu artikulieren (die Stammgäste könnten ihr entsprechendes Verhalten im Falle eines versuchten Protests meist auch leicht ableugnen, und ein eventueller Beschwerdeführer stünde dann sozial nur umso entblößter und hilfloser da). Die kaum je »von des Gedankens Blässe angekränkelte« Selbstverständlichkeit, mit der sich entsprechende Verhaltensweisen im sozialen Mikrokosmos meist behaupten können, die glatte Unansprechbarkeit, die sie gegenüber Infragestellung, Kritik, widersprechender oder relativierender Information meist durchhalten können, vor allem aber auch ihre überwiegende Unbewusstheit verleihen den entsprechenden Vorurteilen und Feindbildern eine Macht, die – alles in allem – wohl durchschlagskräftiger und zerstörerischer sein dürfte als jede Macht, die etwa auf militärischen Waffen, Gefängnismauern oder wirtschaftlichen Druckmitteln beruht. Die erbarmungslose Konsequenz und der rigorose Konformitätszwang, mit dem die Mitglieder der etablierten Ortsgemeinde die zugewanderten Außenseiter ausgrenzen und zu gelähmter Hilflosigkeit verdammen konnten, wäre offensichtlich nicht möglich gewesen, wenn sie sich der ganzen Tragweite ihres Verhaltens und ihrer Motive bewusst gewesen wären. In ihrem oberflächlich beschreibbaren Benehmen und in ihrer selbstgefälligen Eigenwahrnehmung waren die allermeisten unter den Etablierten gewiss recht nette und wohlerzogene Menschen. Die tiefe Grausamkeit und

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Menschenverachtung, die in ihrer Haltung gegen die Außenseiter zutage trat, hätte sie wahrscheinlich selbst schockiert, wenn sie imstande gewesen wären, sie deutlich genug in ihr Bewusstsein zu lassen. Dieser entscheidende Umstand – dass ein wesentlicher Teil der Beweggründe und der Wirkmechanismen von Feindbildern weit unterhalb der Schwelle bewusster Aufmerksamkeit zum Tragen kommen – begünstigt nicht zuletzt auch das schwere Missverständnis, äußere Anlässe bzw. Vorwände (wie insbesondere auch kulturelle Unterschiede) als ihre grundlegenden Ursachen anzusehen. Die massive psychische Zwanghaftigkeit und Abwehrfunktion dieser Fehlwahrnehmung wird in der von Elias und Scotson untersuchten Gemeinde nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass aus kulturellen Unterschieden erwachsende Reibeflächen – obwohl sie in diesem Fall ja ganz auffällig fehlten – den Außenseitern von den Etablierten dennoch mit aller nur denkbaren Hartnäckigkeit zur Last gelegt wurden. In diesem Zusammenhang wird darüber hinaus auch deutlich, wie nachdrücklich die psychische Abwehrfunktion des Hinweises auf (tatsächliche oder auch nur fantasierte) kulturelle Unterschiede – als Rechtfertigung für feindbildhafte Ausgrenzung – durch sozialen Konformitätsdruck abgestützt und auf Dauer verhärtet wird. Feindbilder und diskriminierende Einstellungen entwickelt man somit auch nicht bloß »auf individuelle Rechnung«, sondern sie spielen meist auch eine sehr gewichtige Rolle bei der Zugehörigkeit zu Kollektiven, die die geforderten Gesinnungen und Verhaltensweisen unter Umständen auch sehr streng kontrollieren können – was im Allgemeinen wiederum auf einer informellen, kaum je ausdrücklich thematisierten Alltagsebene weitaus wirksamer durchgezogen werden kann als wenn dies offen verkündet würde. In diesem Sinne konnten Elias und Scotson vor allem auch eine sehr plastische Vorstellung von der enormen, teilweise fast erdrückenden Macht vermitteln, die eine dicht vernetzte Gemeinschaft durch permanente gegenseitige Beobachtung und Besprechung des Beobachteten (›Lobklatsch‹ bzw. ›Schimpf-‹ oder ›Schmähklatsch‹) auf ihre Mitglieder ausüben kann. Ohne es sich (jedenfalls in den allermeisten Fällen) deutlich bewusst zu machen, fühlten sich die untersuchten Angehörigen der etablierten Ortsgemeinde der ständigen Drohung eines schweren Statusverlusts ausgesetzt, falls sie je dabei ertappt würden, gegen die in der lokalen Klatsch- und Gerüchteküche aufgestellten Normen zu verstoßen (indem sie z. B. mit Personen aus der Außenseitergruppe freundschaftliche Beziehungen aufgenommen hätten). Dieser Zusammenhang legt auch die sehr grundsätzliche Frage nahe, worin nun der – offensichtlich auch mit einem hohen Preis verbundene – psychische Gewinn besteht, der Menschen dazu motivieren kann, sich einem solchen Konformitätsdruck zu unterwerfen (und dadurch in den eher zweifelhaften Genuss zu kommen, mit ›Lobklatsch‹ bedacht zu werden); vor allem aber auch, welche – offensichtlich überaus massiven – Ängste hinter einem weitgehend automatisierten Ausweichen vor der lauernden Gefahr stehen, unversehens ins Visier des ›Schimpfklatsches‹ der

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netten, anständigen und tüchtigen Mitmenschen in der Nachbarschaft, im Betrieb oder in der Schule, in Sport-, Traditions-, Gesangs-, Freizeitvereinen oder auch in Kirchengemeinden zu geraten.

Der Rauchvorhang der kulturellen Unterschiede als Projektionsfläche für das innerlich Fremdgemachte Allein schon der auf der Hand liegende Umstand, dass ein solches Ausweichen kaum je mit einer nüchternen Abschätzung von realistisch zu erwartenden Nachteilen einhergeht, die eine Person dabei eventuell in Kauf zu nehmen hätte, weist bereits darauf hin, wie tief (und weitgehend unbewusst) diese Ängste sein müssen – dass es sich also überwiegend um innere Ängste handeln muss, deren wesentlichen Inhalten und Beweggründen die betreffende Person nicht ins Auge zu blicken wagt. Ansonsten wäre sie ja geradewegs vor die existenzielle Frage gestellt: Möchte ich mein Leben denn wirklich so verbringen, dass ich schon vorauseilend einen weiten Bogen um so viele der in mir schlummernden Wünsche, Neigungen, Möglichkeiten meines Mensch-Seins mache – bloß um das Risiko zu vermeiden, dass ›man‹ in meinem Umkreis vielleicht schlecht über mich reden könnte? Verliere ich dabei nicht mein Gespür für das, was mich als Person wirklich, zutiefst ausmacht, für das, was ich in meinem Leben als sinnvoll, beflügelnd, erfüllend erfahren könnte – was mich »im Innersten zusammenhält«? Die innere Blockade gegen derartige Fragen an sich selbst (ohne die blinde Gefügigkeit gegenüber sozialem Konformitätsdruck zweifellos unmöglich wäre) blockiert im selben Zuge auch den sensiblen Blick auf die eigenen Abwehrmechanismen (insbesondere der Spaltung und Projektion), der – wie bereits erörtert – entscheidend dafür wäre, unsere für Feindbilder anfälligen Gefühlsreaktionen immer wieder selbstkritisch zu beleuchten und uns damit von einem polemischen zu einem dialogischen Umgang mit Konflikten durchzuringen. Konformismus und Feindbilder haben somit im unreflektierten (und dadurch verhärteten) Wirken mächtiger Abwehrmechanismen eine tiefe gemeinsame Wurzel, aus der sich auch ein weiterer Erklärungsansatz dafür ergibt, dass kulturelle Unterschiede bevorzugte äußerliche Anlässe bzw. Vorwände – aber eben keine grundlegende Ursachen – für Feindbilder sind. Die tiefe innere Gespaltenheit, die unvereinbaren Gefühlsambivalenzen, die im (von kritischer Selbstbeobachtung »ungefilterten«) Durchschlagen dieser Abwehrmechanismen zum Ausdruck kommen, finden vor allem auch in einem Mangel an innerer Kohärenz, im Fehlen eines stimmig und zusammenhängend erlebten Selbst eine wesentliche Entsprechung. Die lebensgeschichtlichen Hintergründe für diese leider sehr verbreitete »Persönlichkeitsstruktur, die keine eigene Identität als Kern hat« (Gruen 2002: 57), wurde – neben etlichen anderen – von psychoanalytischen Autorinnen und Autoren wie Erich Fromm, Donald Winnicott (der

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dafür die Konzeption des ›falschen Selbst‹ entwickelt hat), Alice Miller, Thea Bauriedl oder Arno Gruen eingehend analysiert. Als entscheidender Hintergrund für die »fehlende Möglichkeit, eigene Bedürfnisse und Wahrnehmungen zum Kern der eigenen Identitätsentwicklung zu machen« (ebd.: 29), wird dabei das kindliche Trauma hervorgehoben, mit dem eigenen authentischen Empfinden von den überlebenswichtigen elterlichen Bezugspersonen grundlegend abgelehnt zu werden. »Als Kinder waren wir ausgeliefert und hilflos«, erläutert Gruen dazu. »Unser Überleben hing von einer Übereinstimmung mit den Eltern ab.« (Gruen 2000: 23). »Ein Kind ist nicht in der Lage, sich gegen die drohende Kälte elterlicher Autorität zur Wehr zu setzen.« (Ebd.: 39) »Gespiegelt von den Eltern«, führt etwa Helmwart Hierdeis dazu aus, »macht das Kind die Erfahrung, dass sein Eigenes Anteile hat, die nicht erwünscht und daher von ihm selbst zu unterdrücken sind oder von außen unterdrückt werden (Angst, Hass, Aggressionen, aber auch Neugier, Experimentierfreude und Liebe zu ›falschen‹, das heißt von den Eltern abgelehnten Objekten) und dass auch die Eltern Anteile haben, die dem Kind Schmerz zufügen (emotionale Kälte, rigide Kontrolle, Aggressivität, Zwang, Ungerechtigkeit), gegen die es aber machtlos ist«. (Hierdeis 2005: 95)

Der in solchen Situationen von einem Kind erlebte »Terror ist so groß, dass die meisten Menschen ihre Eltern […] nur so erleben können, wie diese es ihnen aufgetragen haben« (Gruen 2000: 41). In noch höherem Maße als bei Erwachsenen kommt beim Kind die für traumatisches Erleben charakteristische Reaktion zum Tragen, »dass sich der Mensch, dessen Existenz von Terror bedroht ist, mit der ihn bedrohenden Instanz identifiziert, mit ihr verschmilzt, seine Identität einer vermeintlichen Rettung wegen aufgibt. […] Anstatt den Realitäten ins Auge zu schauen, halluzinieren wir eine Einheit mit dem uns bedrohenden Anderen und verlieren so die eigene Identität« (Gruen 2002: 31f). Die ursprünglichen Regungen, Wünsche oder Wahrnehmungen, das direkt gefühlte Eigene des Kindes, das von den überwältigend mächtigen Eltern verworfen wird – und im selben Zuge auch der dabei erlebte Terror – muss bei diesem Prozess radikal verdrängt, als verachtenswert abgestoßen, zum inneren Fremden gemacht werden. Der entsprechende »Hass auf das Eigene bringt Kinder hervor, die sich nur noch als aufrecht gehend erleben können, wenn sie diesen Hass nach außen wenden können. Indem das Eigene als fremd von sich gewiesen wird, wird es zum Auslöser der Notwendigkeit, Feinde zu finden, um die so erlangte Persönlichkeitsstruktur aufrechtzuerhalten«. (Gruen 2000: 23) Die überwiegend aus Fassade bestehende ›Identität‹ von Menschen, »die auf einer Identifikation mit Angst einflößenden Autoritäten beruht«, ist dementsprechend auch »ständig von Auflösung bedroht« (ebd.: 28). Aus dieser inneren Not – und unter dem dauernden Druck, das dahinter liegende traumatische Erleben notdürftig in Schach zu halten – wird »das Eigene, das ja Auslöser des in-

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neren Terrors ist, im äußeren Fremden gesucht und bekämpft […]. Dabei findet man das Eigene natürlich am ehesten bei Menschen, die einem ähnlich sind« (ebd.: 24) – wobei diese Ähnlichkeit vom abwehrenden Bewusstsein natürlich heftig abgeleugnet werden muss, aber im Grunde gerade durch das Prisma dieser Verleugnung hindurch besonders grell zum Vorschein kommt. »Je mehr wir ganz anders sein wollen als der Feind«, schreibt etwa Vamik Volkan dazu, »desto größer ist die Ähnlichkeit, wie unbewusst diese auch sein mag. Und je mehr wir darauf brennen, uns vom Feind zu distanzieren, desto mehr sind wir übermäßig mit ihm beschäftigt und desto fester sind wir sowohl bewusst als auch unbewusst an ihn gebunden«. (Volkan 1988: 5) Woraus sich das Paradoxon ergibt, »dass wir einen anderen vor allem dann als fremd erleben, wenn er uns ähnlich ist«, und es nach der tieferen Logik von Feindbildern also »die Gemeinsamkeiten [sind], die Menschen dazu bringen, einander zu bekämpfen, nicht die Unterschiede«. (Gruen 2000: 18) Wenn es bei Feindbildern also schwergewichtig darum geht, zwanghaft nach wesentlichen Gemeinsamkeiten mit anderen zu suchen – diese aber bewusst umso allergischer zu verleugnen, je mehr man sie unbewusst tatsächlich wahrnimmt, so ergibt sich daraus für die heutige Welt – in der die systemischen Zusammenhänge und damit Gemeinsamkeiten der (Über-)Lebensinteressen unserer globalen Gesellschaft (ebenso wie der gesamten Biosphäre) immer dichter und umfassender werden – eine breite Anfälligkeit für fieberhaft ins Kraut schießende Wahnvorstellungen über »von Natur aus« unüberbrückbare Abgründe zwischen Eigen- und Außengruppen – die sich eben vorzugsweise auch des Vorwands kultureller Verschiedenheit bedienen. Ohne natürlich die tatsächlich existierenden Unterschiede zwischen den Kulturen unserer Welt in Abrede stellen zu wollen, liefern sie jedenfalls besonders leicht verwendbares »Fantasiematerial« für gedankliche Konstruktionen, mit deren Hilfe das, was niemand mehr übersehen kann, dennoch mit der hartnäckigsten Rechthaberei verleugnet wird: dass wir auf unserer Erde schon die längste Zeit in einem einzigen gemeinsamen Boot sitzen, das wir entweder gemeinsam lebensfähig erhalten oder in dem wir gemeinsam untergehen müssen (vgl. Berghold 2009: 108). »Wird die Menschheit erkennen«, hat Erik Erikson dieses brennende Problem schon vor mehreren Jahrzehnten sehr treffend beschrieben, »dass sie eine einzige Art ist – oder ist es ihr Schicksal, für immer in ›Pseudo-Arten‹ getrennt zu bleiben und die eine (notwendig unvollkommene) Version von Menschentum gegen alle anderen auszuspielen, bis im dubiosen Glanz des Atomzeitalters einer dieser Arten die Macht und das Glück zufallen werden, alle anderen auszulöschen – Sekunden vor ihrem eigenen Unter gang?«. (Erikson 1975: 48)

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Namentlich die von Huntington propagierte Fantasie von neun voneinander quasi-natürlich abgeschotteten Kulturräumen auf unserer Erde bringt diesen ›Pseudo-Arten‹-Wahn mit geradezu gespenstischer Präzision und Anschaulichkeit zum Ausdruck. Ohne die Wirkung sehr massiver und tief verwurzelter psychischer Zwänge wäre es kaum vorstellbar, dass derartige Thesen so breites Echo finden und (vergleichsweise) viel zu wenig Befremden und Widerwillen hervorrufen. Die gerade auch anhand dieses Beispiels so gut nachvollziehbare Funktion der kulturellen Unterschiede als Rauchvorhang, hinter dem die traumatischen Wurzeln dieser Zwänge vom Bewusstsein vieler Menschen ferngehalten werden, verleiht der schon mehrfach angestreiften Frage nur umso größeres Gewicht: Welche spezifischen Faktoren kommen dafür in Betracht, dass die beim Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen entstehenden Reibeflächen und Irritationen so besonders leicht – d. h. offenbar viel leichter als andere Konfliktanlässe – zur Rationalisierung (Scheinrechtfertigung) von Feindbildern herangezogen werden können?

Zur besonderen Eignung kultureller Unterschiede als Vor wand für Feindbilder Ohne Anspruch auf eine auch nur annähernd erschöpfende Behandlung dieser höchst komplexen Fragestellung scheint es auf jeden Fall sinnvoll, drei typische Ebenen oder Anlässe von psychosozialer Belastung etwas konkreter zu erörtern, die – in irgendeinem Ausmaß – bei Begegnungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen unweigerlich zustande kommen (und sicher umso schwerwiegender zum Tragen kommen, je weniger die Betreffenden noch mit den jeweiligen Unterschieden vertraut sind): erstens das Erleben von ›Fremdenscheu‹; zweitens die notwendige Anstrengung des Sich-Einstellens auf bislang Unbekanntes (der ›psychischen Assimilation‹ von Fremdem bzw. Neuem); sowie drittens die Wirkungen eines teilweise nicht vorhersehbaren Zusammenprallens von konträren Verhaltensnormen, wie sie etwa Dietmar Larcher mit seiner ›Kulturschock‹-Konzeption analysiert hat (vgl. Larcher 1991; 1992; Larcher/Larcher 2006). Gemeinsam – und für die grundlegende Orientierung meiner Ausführungen daher auch besonders aussagekräftig – ist diesen drei Phänomenen nicht nur, dass sie grundsätzlich nicht vermeidbar sein dürften, sondern vor allem auch, dass sie trotz allen Ärgers, aller Frustration und Anspannung, die sie leicht mit sich bringen können, kein zwingendes Motiv für die Entstehung von Feindbildern liefern; andererseits aber eben doch reichlich Anlassfälle schaffen können, an denen eine schon vorhandene Anfälligkeit für Feindbilder – die unbewusst quasi »bereits nach passenden Objekten Ausschau hält« – sehr schnell und reflexartig »einhaken« kann. Das besonders in der vergleichenden Verhaltensforschung eingehend untersuchte Phänomen der Fremdenscheu besteht im Wesentlichen aus Reaktionen

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einer aus Besorgtheit und Neugierde gemischten Zurückhaltung gegenüber unvertrauten Personen oder Umständen. »Das Unbekannte ist beunruhigend«, schreibt etwa Annalisa Pinter dazu, »es kann Angst hervorrufen; Angst vor unvorhersehbaren Reaktionen, vor einer unbekannten Macht, Angst davor, Vorteile und Vorrechte zu verlieren.« (Pinter 2003: 81). »Fremde bedeuten das Fehlen von Klarheit«, meint ähnlich auch Zygmunt Bauman, »man kann nicht sicher sein, was sie tun werden, wie sie auf die eigenen Handlungen reagieren würden; man kann nicht sagen, ob sie Freunde oder Feinde sind – und daher kann man nicht umhin, sie mit Argwohn zu betrachten.« (Bauman 2000: 39). Tatsächlich hat ein Gefühl der Scheu angesichts fehlender Klarheit oder kaum möglicher Einschätzbarkeit einer Situation an sich nichts mit Argwohn zu tun, sondern ist ihr durchaus angemessen – ja sein Fehlen liefe im Grunde auf eine akute Selbstgefährdung hinaus. Fremdenscheu ist also aus evolutionsbiologischer Sicht als ein dem Überleben förderliches Verhalten zu begreifen, und in diesem Sinne ist etwa auch die in der Verhaltensforschung vertretene Auffassung, »dass sie ein Bestandteil unseres stammesgeschichtlichen Erbes ist« (Schäfer/ Atzwanger 1999: 34), ohne Weiteres einsichtig – nicht zuletzt, da der Mensch »über die längste Zeit seiner Geschichte […] in relativ geschlossenen Kleinverbänden ihm vertrauter Personen lebte« und wir vor diesem Hintergrund »dazu neigen, uns vor Fremden abzuschließen« und »Bekannte und Verwandte zu bevorzugen« (ebd.: 37f). Für sich genommen ist eine derartige Reserviertheit aber noch keineswegs mit Feindbildern gleichzusetzen und geht dementsprechend auch mit der Tendenz einher, über ein zunehmendes Sich-vertraut-Machen abzuklingen und zu verschwinden. Sogar Irenäus Eibl-Eibesfeldt – der sich sehr detailliert mit dem Phänomen der Fremdenscheu befasst hat, seinen Ruf allerdings auch zur Unterstützung fremdenfeindlicher Ideologien eingesetzt hat – hat besonders darauf hingewiesen, dass »in allen Kulturen, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, […] der Fremde neben Angst auch Neugierde und ein Bedürfnis aus[löst], sich anzunähern und Bande zu knüpfen.« (Atzwanger/ Schäfer/Schmitt 1997: 5) Die spezifischen Belastungen, die sich aus der Notwendigkeit von (emotionaler wie kognitiver) psychischer Assimilation von Fremdem bzw. Neuem ergeben, hängen vor allem mit einer Reihe von Herausforderungen zusammen, die bei jeder Begegnung mit zunächst fremden Personen und Situationen (unter anderem auch) Anstrengungen und Verunsicherungen mit sich bringen: Scheinbare Selbstverständlichkeiten in unserer bisherigen Deutung der Welt werden in Frage gestellt, Gewohnheiten unseres Denkens, Wahrnehmens, Einordnens, Reagierens usw. werden außer Kraft gesetzt, Unzulänglichkeiten unseres Wissens und unserer Erfahrung kommen in oft peinlicher Weise ans Licht – und so sind wir also gefordert (oder manchmal auch gezwungen), uns jenes Fremde und Neue mit einem mehr oder weniger hohen Aufwand an Zeit, Energie, Konzentration und Frustrationstoleranz bekannter

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und vertrauter zu machen. Unvermeidlich muss eine unserer Reaktionen darauf in der Neigung bestehen, uns diesen Aufwand lieber zu ersparen oder ihn zumindest niedrig zu halten. In diesem Sinne beschreibt etwa Gordon Allport in seinem klassischen Werk zur Vorurteilsforschung eine allgemeine – für sich genommen aber noch nicht vorurteilhafte – Tendenz, sich zwischen Gruppen eher abzusondern bzw. vorzugsweise unter sich zu bleiben, wenn keine Notwendigkeit besteht, sich an Außengruppen zu wenden, um Kontakte und Freundschaften zu finden: »Wenn ohnehin eine Menge von Leuten dafür zur Auswahl steht – wozu sollten wir da noch die Mühe auf uns nehmen, uns auf neue Sprachen, neue Speisen, neue Kulturen oder auf Leute mit einem anderen Bildungsniveau einzustellen? So kann denn der Großteil unserer Alltagsgeschäfte mit geringerer Anstrengung abgewickelt werden, wenn wir uns an die Menschen unseres eigenen Schlages halten. Fremde sind eine Belastung.« (Allport 1954: 17f). Angesichts der allgemeinen Mühsamkeit des Lebens muss dieser Neigung zum Ausweichen vor vermeidbaren Mühen gewiss ihr Teil an Berechtigung zugestanden werden. Offensichtlich kann dieses Moment einer spontanen Trägheit in seiner Eigenlogik jedenfalls noch nicht als feindbildhaft charakterisiert werden. Ähnlich wie Fremdenscheu ist sie auch mit Wünschen nach Öffnung gepaart: Im selben Zuge, in dem man die mühsamen Seiten des Kennenlernens erlebt, wird man unweigerlich auch die Chancen der Horizonterweiterung schätzen lernen; und ähnlich wie Fremdenscheu muss auch ein aus einem Motiv des Ausweichens vor Anstrengungen erwachsender Widerwille dazu tendieren, mit zunehmender Gewöhnung an zunächst Fremdes immer mehr nachzulassen. Das in Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen teilweise unvermeidliche und zuweilen abrupte Aufeinandertreffen von kontrastierenden Verhaltensnormen (und damit einhergehenden Lebensstilen, Umgangsformen, Moralbegriffen usw.), das man mit Larcher als ›Kulturschock‹ bezeichnen kann, liefert wohl die vom äußeren Anschein her am nächsten liegenden Irritationsquellen und Reibeflächen, an denen sich eine Bereitschaft zu Feindbildern besonders leicht »entzünden« kann. »Das Zusammentreffen von Menschen verschiedener Kulturen«, erläutert Larcher seine Konzeption, »produziert notwendig Missverständnisse, weil jeder sein kulturelles Verhalten für natürlich, das der Fremden jedoch für unnatürlich hält« (Larcher 1991: 44f). ›Kultur‹ definiert er in diesem Zusammenhang als die Gesamtheit der Regeln und Normen, die eine Gesellschaft entwickelt hat, um ihr Zusammenleben zu steuern. Die einzelnen Regeln sind in verschiedenen Bereichen einer weiten Skala angesiedelt, die Larcher mit den Begriffen ›unbewusste Gewohnheit‹, ›Routineverhalten‹, ›Traditionen‹, ›Sitten‹, ›Vorschriften‹ und ›Gesetze‹ markiert (vgl. Larcher 1992: 184). In der Nähe des unbewussten Pols dieser Skala liegen jene Regeln, »die unser Bewusstsein für ›natürlichen Anstand‹, ›natürliches Verhalten‹, ›natürliches Benehmen‹ hält«, während sich am anderen Ende

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jene befinden, »mit denen Gesellschaften das Zusammenleben ihrer Mitglieder bewusst steuern und kontrollieren, also Gesetzeswerke und religiöse Gebote« (ebd.: 180f). Da der überwiegende Teil der Regeln dem unbewussten Pol näherliegt, »wissen [wir] vor allem nicht, dass alles auch ganz anders sein könnte, dass das, was uns natürlich scheint, den Angehörigen einer anderen Kultur unnatürlich scheint« (Larcher 1991: 74). Kulturschocks werden kaum jemals durch Kontraste zwischen offen deklarierten Geboten oder Sitten, sondern fast ausschließlich durch unserem Bewusstsein kaum oder gar nicht zugängliche Gegensätze ausgelöst: »Als Kulturschock bezeichne ich mein unvermitteltes Bekanntwerden mit jedem sozialen Phänomen in einer mir wenig ver trauten Gesellschaft oder Teilgesellschaft, das in mir spontan alle möglichen Arten von Irritation, Erschrecken und Abwehr hervorruft, weil es meinen tief sitzenden Vor stellungen über die angemessene Deutung der Welt, die Normen des vernünftigen Zusammenlebens und des richtigen Handelns ziemlich genau entgegengesetzt ist.« (Larcher 1992: 24)

Gerade aufgrund seiner unbewussten Wurzeln kann er sich vielfach an scheinbaren Kleinigkeiten entzünden – da etwa in einer bestimmten Kultur »bereits als obszön [gilt], was in der anderen noch kaum registriert wird. Welche Distanz ich zu einer Person in einem informellen Gespräch halten muss, um ihre Intimsphäre nicht zu verletzen, ist höchst unterschiedlich geregelt. Ein Abstand von anderthalb Metern ist bei uns durchaus akzeptabel, gilt in südlicheren Ländern jedoch als sehr seltsam, fast beleidigend kühl« (ebd.: 181). So unvermeidlich Kulturschocks bei interkulturellen Begegnungen also sind, so offen bleibt freilich die Frage, ob sie im konkreten Fall zum Anlass für ein Feindbild wird oder im Gegenteil zum Anstoß zur befreienden Erkenntnis aufseiten der »geschockten« Person, »dass weder ihre noch meine gewohnten Verhaltensweisen natürlich, sondern gesellschaftsspezifisch sind«, womit »ich den ersten Schock bereits überwunden [habe] und zu lernen [beginne]: etwas über die soziale Natur des Menschen, über das Eigene und das Fremde« (ebd.: 182). Aber auch wenn im Zuge eines solchen Abbaus der Schockwirkung verschiedene Motive des Ärgers und der Abneigung erhalten bleiben (wozu so manche kulturelle Unterschiede durchaus legitimen Anlass geben können), kann dies nicht automatisch als feindbildhaft charakterisiert werden. Wie bereits erörtert, liegt der Ausweg aus den psychosozialen Verstrickungen unserer Feindbilder ja sicher nicht in der Fata Morgana einer umfassenden ›Konfliktfreiheit‹, sondern vor allem im Bemühen um einen dialogischen Umgang mit Konflikten, der sich besonders daran erweisen muss, dass gerade auch unter Personen und Gruppen, zwischen denen starke Abneigungen und Spannungen herrschen, dennoch ein Mindestmaß an Respektierung, offener Auseinandersetzung und Ausverhandeln von Gegensätzen möglich ist.

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Hans Magnus Enzensberger hat dieses entscheidende Kriterium einmal mit der ihm eigenen Prägnanz veranschaulicht: »Wie schon der flüchtigste Blick auf Hinz und Kunz lehrt, sind Nervensägen und Schwindler, Rüpel und Idioten unter der einheimischen Bevölkerung mit derselben statistischen Frequenz anzutreffen wie unter Türken, Tamilen und Polen. Das gewaltlose Zusammenleben mit ihnen ist eine Zumutung, die sich in der Zivilisation ausnahmslos jedermann gefallen lassen muss.« (Enzensberger 1992: 70). Das nüchterne Akzeptieren dieser Zumutung schafft eine Grundlage, auf der durch kulturelle Unterschiede hervorgerufene ärgerliche, aggressive oder verletzte Gefühle nicht zu Feindbildern führen brauchen und auf der es das offene Aushalten von Konflikten möglich macht, daneben auch die Brückenköpfe zu tragfähiger Verständigung und zu realistischen Gemeinsamkeiten mit den anderen zu erkennen und auszubauen.

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Migrationsbilder – Europas grausame Grenzen Daniela Ingruber Migration ist fast immer mit Angst verbunden. Angst als Auslöser für das Weggehen, Angst auf dem Weg in das Land, das neue Heimat werden soll – und schließlich die Angst, wenn man angekommen ist und doch nicht aufgenommen wird in jenem Land. Es ist schwierig, integriert zu werden. Doch bis zu der Frage, wie Integration für einen selbst funktioniert, kommen sehr viele Menschen gar nicht, da sie bereits vorher von der Gesetzeslage gestoppt werden. Das gilt für MigrantInnen zunächst ebenso wie für Flüchtlinge. Dem üblichen Alltagsrassismus sind auf Dauer ohnehin beide Gruppen ausgesetzt. Besonders schlimm aber ist die Situation für Asylsuchende. Ihr Alltag besteht dann aus Warten, Hoffen, Befragungen über sich ergehen lassen, immer und immer wieder, und dann wieder warten, nicht selten mehrere Jahre. Es sind Jahre, in denen nichts geschieht außer jenes Warten. Je nach zugewiesenem Status darf in der Zeit ein wenig gearbeitet werden oder nicht. Nicht einmal eine Ausbildung zu machen, ist selbstverständlich. Die Angst geht auf diese Weise nicht weg. Das gilt für fast alle Länder in der Europäischen Union und ganz besonders in Österreich, das eines der striktesten sogenannten »Fremdengesetze« hat, was immer wieder zu öffentlichen Diskussionen, aber nie zu einer gesetzlichen Verbesserung führt. Die Politik eskaliert die Situation nicht nur durch jene Gesetze, sondern vor allem durch den Umgangston; schließlich gewinnt man durchaus Stimmen mit dem Thema Migration. Das Zusammenwerfen von Flüchtlingen und MigrantInnen gehört dabei zur Selbstverständlichkeit. Unterschiede spielen keine Rolle, so scheint es, denn auf das individuelle Schicksal nimmt das Gesetz ohnehin keine Rücksicht, Politik und Medien nur allzu oft noch viel weniger. Und die Bevölkerung? Man beruft sich gerne darauf, dass man selbst nichts ändern könne, dass schon alles seine Richtigkeit habe, dass »das Boot voll sei« – oder auf ähnliche Ge-

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meinplätze, die keinerlei Bedeutung haben, doch die Möglichkeit eröffnen, sich auf eine quasi-neutrale Position zurückzuziehen. Neutralität gilt in Österreich als Zier – oder als Ausrede, um nicht eingreifen zu müssen. Im Alltag aber gilt: Wie einfach ist es, parteiisch zu sein. Etwa aus Angst um den eigenen Arbeitsplatz. Oder wenn die herbeigeredete Finanzkrise Hab und Gut zu vernichten droht. Angst schafft Feindbilder und damit stets auch Parteilichkeit. Fast immer richtet sie sich dann gegen jemanden oder etwas; selten nur ergreift sie Partei für jemanden oder etwas. Denn das würde Zivilcourage verlangen, wenngleich die Definition des Wortes schwer fällt. Angst schafft Gegnerschaft. Angst wirkt wie ein Nebel: Dahinter verschwimmen die Bilder, nichts ist mehr klar erkennbar, der Blick wird getrübt. Doch es funktioniert auch umgekehrt: Es ist einfach, parteiisch zu sein, wenn man Bilder von traumatisierten minderjährigen Flüchtlingen und MigrantInnen sieht. Oder wenn man erkennt, wie die Flüchtlingsabwehr (welch grausames, Menschen verachtendes Wort!) an den Grenzen Europas funktioniert. Sofern man jemals eine Gelegenheit bekommt, einen konkreten Blick darauf zu werfen. Meist wird er durch Medienberichterstattung und politische Agitation verstellt. Parteilichkeit in jenem Fall kann ebenso eine gegen etwas sein (etwa gegen die österreichische Migrationspolitik) und ist nur selten per se für jemanden, nämlich für die betroffenen Flüchtlinge. Denn auch hier besteht Angst, wenngleich sie vielleicht anders definiert wird. Der Sager von der Entwicklungszusammenarbeit, die man vor Ort leisten müsse, birgt nicht selten die Angst vor dem Teilen. Ich gestehe, ich bin parteiisch. Sehr oft gegen das bestehende politische System oder einzelne Gesetze – wie das immer wieder erneuerte und menschenrechtlich verschlechterte Fremdenpaket; manchmal auch für jemanden und etwas. Doch letztlich zählt das in einem wissenschaftlichen Umfeld nicht, denn es gilt Folgendes: Es widerspricht dem gängigen wissenschaftlichen Ethos. Man bezieht nicht Position, es könnte dem Ruf schaden – und ist dennoch der Normalfall, sehr oft hinter versteckten Motiven. Ich sehe das anders: Wenn Wissenschaft heute noch etwas erreichen will, muss sie Position beziehen. Es geht nicht mehr, sich hinter vermeintlicher Objektivität zu verbergen. Gerade Fächer wie Friedens- oder Kriegsforschung und Politikwissenschaft brauchen Menschen, die bereit sind, sich selbst zu positionieren, und zwar so öffentlich, dass andere Menschen darum wissen. Nur so haben Letztere die Chance auf Objektivität – nämlich die eigene. Nur wer weiß, was sie/er an Information aufnimmt und woher diese kommt, wird auch wissen, wie sie/er damit umgehen soll. Auch das ist wissenschaftliches Ethos.

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Die Frage, so scheint es mir auch für die Wissenschaften, ist nicht so sehr die nach der Objektivität. Niemand ist objektiv, schon gar nicht in den Sozial- oder Geisteswissenschaften. Die Frage müsste sich darauf konzentrieren, was man mit der eigenen Parteilichkeit tut. Mehr noch: Ist sie friedenspolitisch nutzbar, indem man sie für Menschen einsetzt statt gegen sie? Kann man darin bereits einen Ausweg aus der Gewalt finden? Die Antwort bleibt zweifelhaft. Die Perspektive, sich dessen bewusst zu sein, dass man schon durch den Umstand des bloßen Forschens eine Situation beeinflusst und immer eine vorgefasste, wenngleich hoffentlich veränderbare Meinung zu einem Themenbereich hat, ist eine Notwendigkeit. Doch soll sie uns nicht einschränken, offen zu denken.

Nicht-Orte der Migration Ich gestehe daher: Ich bin parteiisch, war es vielleicht immer schon, bin es aber umso intensiver, seit ich gesehen und am eigenen Körper gespürt habe, was im Namen der EU – in unser aller Namen? – an den Grenzen Europas geschieht und kaum Beachtung findet. Marc Augé schrieb 1994 von solchen Orten, die keine mehr sind, weil sie die Funktion des Lebens an sich nicht mehr erfüllen. Sie sind Durchgangsstationen, Nicht-Orte, an denen man sich weder gerne noch lange aufhält, in gewisser Weise nicht einmal ganz freiwillig (Augé 1994). Er meinte damit Flughäfen sowie Räume der Überwachung. Letztere sind in den vergangenen 15 Jahren massiv vermehrt worden. Doch die eigentlichen Nicht-Orte sind jene, die kein Leben mehr ermöglichen. Anhaltezentren gehören dazu. Die Schubhaft. Übrigens wäre es interessant zu wissen, wer in Österreich weiß, wo die Schubhaft vollzogen wird. Wer könnte Straßennamen dazu nennen? Wer könnte die betreffenden Plätze nennen? Bereits das ist ein Beweis dafür, dass es sich nicht um Orte im richtigen Sinne handelt. Es sind Übergangszonen in einem zwar nicht rechtsfreien aber dennoch aus dem Rechtssystem abgehobenen Raum. Man lebt dort nicht. Mit Glück über-lebt man. Bilder gelangen keine an die Öffentlichkeit. Schubhaft ist ein bilderloser Ort, ein schmuckloser. Er sollte der knappe Übergang zum Flughafen sein, bleibt es aber für viele monatelang, ist somit auch keine Übergangsstation auf einer Reise, sondern ein Nicht-Ort, wo das Leben keines mehr ist. Die Grenzen an den Rändern der Europäischen Union gehören ebenso zu jenen Nicht-Orten. Sie bestehen nicht nur aus einer dünnen Linie, sie sind bauliche, vor allem aber technische Barrieren. Was Frontex (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen) an die Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine als Grenzzaun mithalf aufzubauen, hat nichts mehr von einem menschlichen Umfeld. Die Überwachung ist durchgängig und funktioniert bei Tag und Nacht im selben Maße. Die Chance, illegal und

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unbeobachtet über diese Grenze zu kommen, scheint nicht gegeben. Die den Flüchtlingen und MigrantInnen dabei angetane Demütigung hingegen scheint selten auf. Wer weiß schon von den Wärmebildkameras und wie mit ihrer Hilfe grenzüberschreitende Personen beobachtet, verfolgt und eingefangen werden wie Tiere? Wer weiß von den Anhalte- und Auffangzentren an den Grenzen? Das Nicht-Wissen der Bevölkerung schützt das unheimliche Vorgehen an den Grenzen der Europäischen Union. Weder das Thema noch Bilder und Berichte davon tauchen in den Medien in ausreichendem Maße auf. Von Migration werden andere Bilder veröffentlicht. Tatsächlich wird es immer schwieriger, jenen Bildern zu entkommen – explizit jenen, die im Kopf produziert werden; von PolitikerInnen, Medien und anderen, die Klischees folgen. Die Bilder selbst werden zum Klischee: Flüchtlinge, das sind scheinbar die in Booten Gestrandeten; das sind die, die in Italien wehrlos ankommen und zurückgeschickt werden. Aber auch: Flüchtlinge, das sind für viele die, die mit Drogen handeln oder Arbeitsplätze wegnehmen. Der Wahrheitsgehalt spielt wenig Rolle. Bilder im Kopf sorgen dafür, dass sie keinen Beweis benötigen. Sie gedeihen viel besser ohne einen solchen. Polemik heißt das Zauberwort. Aufklärung und Gegenbeweise sind ein zahnloses Gegenmittel, solange das Zauberwort seine Wirkung verbreitet. Es ist einen Versuch wert, nicht mehr dagegen zu argumentieren, noch weniger selbst zur Polemik zu greifen, sondern bloß zu zeigen, was an den Grenzen der Europäischen Union geschieht. Es einfach zu erzählen. Und das einmal abseits des üblichen Sicherheitsparadigmas. Nur ein einziges Mal nicht in den Vordergrund stellen, wer welche Angst und damit Parteilichkeit hat und verbreitet. Die aktuelle Sicherheitsmanie ähnelt Opium. Sie ist eine moderne Droge, sie macht besessen. Außerhalb des Konzeptes stehen all jene, die nicht in das Bild des erfolgreichen und doch unauffällig durchschnittlichen, mehr oder weniger Weißen passen. Sicherheit bedeutet, Unterschiede abzulehnen – zumindest lehnt das gängige Sicherheitsmodell Varianten und das »Andere« ab. Vielleicht scheint es unkontrollierbar. Anders zu sein wird per se bereits als krimineller Akt gesehen, als eine Gefahr – sei es für die Politik oder das Wirtschaftssystem. Für die Definition dessen genügt das Aussehen. Die Menschen, die man schützen könnte, spielen dabei recht wenig Rolle. Denn das Sicherheitsparadigma schließt nicht ein, sondern exkludiert. Und zwar alle. Sicherheit für jemanden bedeutet nicht nur den Ausschluss des Anderen sondern letztlich auch den Ausschluss der Freiheit des Einzelnen. Beschützt werden immer nur Teilaspekte, nie der Mensch an sich – und schon gar nicht alle Menschen. Wenn die Maßnahmen zu weit gehen, zeigen sie zerstörerische Wirkung. Die »Politik« (hier als Klischee gesehen, tatsächlich aber alle involvierend,

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und das nicht nur bei Wahlen) weiß selten eine andere Antwort als Radikalisierung oder den Ruf nach strengeren Gesetzen. Das geschieht dann meist unter dem Stichwort »mehr Sicherheit«, als seien MigrantInnen und Flüchtlinge per se ein Sicherheitsrisiko. So sehr die positive Seite der Globalisierung den kulturellen Austausch befürwortet, so wenig Verständnis hat sie für den ungeplanten kulturellen Zusammenprall. So haben auch die Abschottungsversuche Europas und der USA in den letzten Jahren zugenommen, bis hin zu technischen Maßnahmen wie elektrischen Zäunen und anderen Geräten, die im besten Falle als Folterinstrumente, eher aber als Tötungsmaschinen bezeichnet werden müssen. All das im Namen der Sicherheit, jenem oben benannten neuen Modebegriff seit Herbst 2001, unter dem nahezu alles rechtzufertigen scheint. Einen Ausweg scheint es derzeit kaum zu geben. Projekte, die den persönlichen Austausch zwischen den Kulturen und den betroffenen Gruppen forcieren, indem konkret Menschen auf Menschen treffen, etwa PolizistInnen auf Flüchtlinge, wie sie die asylkoordination österreich jahrelang organisiert hat, haben ihre positiven Auswirkungen gezeigt, doch sind sie nur in kleinem Rahmen möglich.

Kunst als Mittel Ein anderer Zugang ist jener über Kunst, insbesondere über Filme (etwa Nina Kusturicas little alien, der im Oktober 2009 seinen Kinostart hatte), am besten mit anschließenden Diskussionen. In beiden Fällen geht es um die Transformation von Bildern als erstem Schritt. Dem einen Bild wird ein anderes angeboten oder entgegengesetzt. Dazu lassen sich mehrere Strategien unterscheiden: 1. Dekonstruktion des bestehenden Diskurses, 2. politischer Kampf – in Bezug auf Migration führen diesen am sinnvollsten Nichtregierungsorganisationen, 3. Verfremden des Blicks und damit der Argumente. Für alle drei Strategien stellt eine künstlerische Annäherung eine mögliche Methode dar. Abgesehen vom politischen Kampf zugleich auch eine der sinnvollsten Methoden. Über die Effizienz könnte man streiten – doch verschieben wir diese Frage ein wenig nach hinten. Kunst als Begriff ist zu breit, um generell über ihre Fähigkeit zur Konflikttransformation zu sprechen. Generell könnte diese Fähigkeit allen Kunstformen inhärent sein. Musik etwa: Konzerte mit PalästinenserInnen und Israelis beweisen immer wieder, dass eine Annäherung über den Konflikt hinaus mög-

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lich ist. Kunstprojekte, die gemeinsam angegangen werden, bringen ein wenig mehr Nähe und Verständnis. KünstlerInnen setzen sich immer wieder für den Frieden ein. Von den verschiedensten Einzelprojekten abgesehen, schaffen sie auch Symbole. Die Friedenstaube Picassos ist längst eine Art Klassiker, den jeder kennt. Kunst kann jedoch mehr als Symbole schaffen. Kunst vermag den Blick von etwas scheinbar Selbstverständlichem abzulenken. Manchmal benötigt eine Idee hin zum Frieden gar nicht mehr als das. Zuweilen aber benötigt man Zersetzung des alten (Welt-)Bildes, ein UmDenken, ein Weiter-Denken. In jedem Fall ist es das Frei-Denken, das notwendig wird, auch um klarer beurteilen zu können. Kunst könnte dazu einen Rahmen bilden. Sofern Kunst sich wegbewegt vom adornoschen Vorwurf, der mehr denn je zutreffen mag: »Die Kulturindustrie hat sich entwickelt mit der Vorherrschaft des Effekts, der handgreiflichen Leistung, der technischen Details übers Werk, das einmal die Idee trug und mit dieser liquidiert wurde.« (Adorno 1988:135) Davon handelt dieser Text auf weiten Strecken. Wenn sich Kunst dem Markt nicht direkt unterwirft, sondern den umgekehrten Weg anstrebt, die Unterwerfung des Marktes unter den Blick, so ist die Dekonstruktion und Irritation der aktuellen Situation eine der Möglichkeiten, um anschließend zur Konflikttransformation zu gelangen, denn Letztere ist nicht ohne Vorarbeit möglich. Davon erzählen. Einfach das, was geschieht. Das kann Film. Zuweilen mit einer Leichtigkeit, die nichts mit Oberflächlichkeit zu tun hat. Voraussetzung dafür ist stets die Arbeit der/s FilmemacherIn. Leichtigkeit ähnelt einem Spiel. Dekonstruktion passiert im Film ganz selbstverständlich, sofern es ein Film ist, der nicht selbst wieder den Manipulationen unterliegt. Film kann durch die bloße Ab-Bild-ung erzählen. Film wirft Fragen auf, indem er sein Publikum zurückführt zum reinen Sehen und Fühlen – zu einem Moment, in dem es selbst meist still sitzt. So ist es die filmische Erzählung, die die BetrachterInnen anleitet mitzuziehen, im besten Falle, ohne sich dabei zu verlieren: »Film gehört zum unerschöpflichen Reservoir, in dem Erfahrungsmöglichkeiten liegen. Das Ballspiel von Charlie Chaplin in Der große Diktator; dieser Ballon Erde, den er balanciert, tanzen und dann fast fallen lässt – die Zartheit dieser Szene steht in unendlichem Widerspruch zu dem, was sie eigentlich dahinter erzählt.« (Ingruber 2007)

Die Bilder, die wir in Filmen sehen, vermitteln Geschichten; oft sehr persönliche. Doch sie erzählen immer auch unsere Geschichte – uns hier durchaus als soziale wie auch individuelle Gemeinschaft des Publikums gedacht. FilmemacherInnen als Teil dieser verschiedenen Gemeinschaften bilden ab, was der Diskurs zeigt. Die Dekonstruktion erfolgt durch die Zweidimensionalität der

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Leinwand ebenso wie durch die Zeitverschiebung, Raffung – und immer durch den Schnitt. So begegnen wir uns in jedem Bild selbst – zumindest unseren Meinungen, Klischees, Träumen und Widerständen. Darin liegt Lernpotenzial, die Möglichkeit zum Denken. Ein Bild stellt allerdings immer auch einen Über-Griff dar – und erzählt mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Das gibt jedem Bild – auch dem Filmbild – eine besondere Bedeutung. Und Nachwirkung. Auf Bilder von Flucht und Migration mag das in besonderem Maße zutreffen. Jasmila Žbanić hat dazu einen Film gemacht, der in berührend einfacher Weise das Drama rund um solche Bilder zeigt: das Bild aus dem Krieg. Eine Frau flüchtet vor einer Granate. Eine andere trifft sie, an einer Straßenecke. Ein französischer Fotograf beobachtet die Szene aus geringer Entfernung, stellt sich neben die Verletzte und fotografiert anstatt zu helfen. Eine Alltagsszene aus einem Krieg, gleich um die Ecke, zwischen Flucht und Tod. So heißt auch der im Jahr 2003 entstandene Film: Images from the Corner. Doch all das sieht man nicht. Stattdessen sieht man die Regisseurin, die Jahre später durch die Straßen Sarajevos geht und sich auf die Suche nach der Erinnerung an die Szene von damals macht – ebenso auf die Suche nach der Frau. Eine der eindrucksvollsten Szenen dieses Films bilden einige Augenblicke in denen man den Ort des Granateneinschusses von damals sieht und Jasmila Žbanić im Hintergrund ebenso viele Fotos »schießt«, wie es der Fotograf damals getan hat. Drei Filme waren es, eine Ewigkeit nahezu, in denen das Warten auf Hilfe fast körperlich vom Publikum nachvollzogen werden kann. Die Szene, in der die BetrachterInnen nichts Wesentliches sehen, trägt das Potenzial in sich, den Blick auf und in die Medien langfristig zu verändern.

Nur ein Zaun Die Besonderheit eines Films, der Konflikttransformation nahesteht, liegt im Blick des/der FilmemacherIn. Sarajevo ist die Heimat einer zweiten Filmemacherin, die einen solchen Blick besitzt: Nina Kusturica, die inzwischen in Österreich lebt. Auch in ihren Filmen geht es immer wieder um Krieg, um Migration. Ihr aktueller Kinodokumentarfilm little alien macht die Flucht zum Hauptthema. Und auch hier wird mit der Frage »Was wird nicht gezeigt?« der Blick des Publikums verändert. Der Film zeigt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, vorwiegend in Österreich, während sie darauf warten, den AsylantInnenstatus zu bekommen. Doch der Film geht auch an die Grenzen der Europäischen Union, denn Flüchtlinge fallen nicht vom Himmel. Sie alle müssen zuerst einen der vielen nahezu unmöglichen Wege in die EU finden, überschreiten und letztlich auch überleben. Der Grenzzaun, der die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt, ist eines der schrecklichsten Beispiele im Film:

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Während die Kamera den Zaun entlang fährt, schildert der Spanier José Palazón, Gründer einer NGO namens PRODEIN, die sich um minderjährige Flüchtlinge kümmert, die Beschaffenheit dieses Grenzzauns, den er als Todesmaschine bezeichnet. Der sechs Meter hohe Zaun ist oben mit messerähnlichen Stacheln versehen. Wem es gelingt, darüber zu steigen, der muss auf der anderen Seite durch mehrere Drähte klettern, die ebenso scharf sind und diesen Zaun mit dem nächsten verbinden. Der ist nicht ganz so hoch, doch wieder mit Stacheldraht versehen. Auf der zweiten Seite wartet nicht nur grelles Licht, das den Kletterer blendet, sondern es gibt eingebaute Wasser-Pfeffersprays, deren Wirkung vor allem darin liegt, dass man inzwischen mehrere Wunden am Körper trägt, nicht zuletzt deswegen, weil auch auf dieser Seite wieder Drähte warten. Wer es bisher geschafft hat, muss ein letztes Mal über einen sechs Meter hohen Zaun. Da Kameras eingebaut sind, weiß die Polizei zu diesem Zeitpunkt längst von dem Flüchtling und erwartet diesen im Normalfall bereits auf der anderen Seite. Sofern man es lebend schafft, denn auf der anderen Seite – alle 50 Meter – steht ein marokkanischer Soldat mit Schießbefehl. Die normalerweise verwendete Munition explodiert im Körper des Opfers. Die Anwesenheit und Ausrüstung der marokkanischen Soldaten wird von der Europäischen Union direkt oder indirekt mitfinanziert, so Palazón weiter. Diese Schilderung ist im Film kaum zu ertragen. Bei nahezu jeder Vorführung tritt an dieser Stelle besondere Stille ein. Als ob das Publikum zu atmen vergäße – dabei hat sich die Regisseurin Nina Kusturica bewusst entschieden, keine der Fotografien von verletzten Flüchtlingen, die ihr angeboten wurden, zu zeigen. Es ist auch gar nicht notwendig, denn das Publikum versteht auch so. Dem Kameramann und dem Erzähler gelingt es gemeinsam, alles begreifbar zu machen, ohne zum Extrem greifen zu müssen. So kann die Cutterin jenen Teil des Gesprächs weglassen, in dem Palazón davon spricht, dass US-amerikanische Experten nach Melilla gekommen sind, um sich zu erkundigen, wie man den berüchtigten Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko aufrüsten könnte. Sie seien beeindruckt gewesen. Die Laufbilder des leeren Zauns reichen. Es muss nichts mehr hinzugefügt werden. Man versteht. Die Frage wäre nun jene nach der Konsequenz. Man hätte noch hinzufügen können, dass an einer Stelle des Zauns ein kleiner Golfplatz untergebracht ist – bezahlt wiederum von der Europäischen Union, weil man ja mit dem Gelände direkt am Zaun etwas tun musste aber nichts tun konnte. Der Zaun hätte positiv für den Tourismus sein können – hätte, doch wer würde hier Golf spielen wollen, wo von der anderen Seite geschossen wird? Wer kann es sich auch leisten, Golf zu spielen, in einem Viertel, in dem Armut herrscht und wo es weniger Trinkwasser gibt, als für den Golfplatz verwendet wird. Dieser Zynismus hat in einem Text Platz, der Film braucht ihn nicht mehr. little alien ist insgesamt, doch besonders auch an dieser Stelle, kraftvoll genug,

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um ein Stückchen des Zynismus zu zeigen, der in der Migrationspolitik vorherrscht. Hier kann Film mehr, als eine Zeitungsreportage könnte. Hier setzt sich eine Kunstform für etwas ein, ergreift Partei, ohne weinerlich zu werden, mitleidig oder emotional. Letzteres bleibt dem Publikum überlassen – ebenso wie der Versuch, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn solcher Grenzzäune zu finden.

Flucht als tägliche und schwere Arbeit Ein anderes Migrationsbild, eine neue Geschichte, auch sie im Film angerissen und ohne Ende bleiben müssend, weil die Zukunft des dargestellten minderjährigen Migranten noch nicht wirklich begonnen hat: M. ist vor seiner Abschiebung untergetaucht. Er wohnt in einer alten Fabrik am Hafen, zwischen Müll und Kot, die die letztjährige Flüchtlingswelle hinterlassen hat. Dass es ihm und seinen Freunden gelungen ist, dennoch eine Art Heim mitten in diesem Gestank aufzubauen, mit alten Tüchern, zwei gefundenen Stühlen, einer Spiegelscherbe, einigen Kisten und einer Wäscheleine, zeigt, dass Würde nicht bloß ein Wort aus einer Menschenrechtsdeklaration ist. Jeden Morgen geht er zum Hafen und versucht, sich in einem Lkw, der mit der Fähre nach Europa fährt, zu verstecken. Er nennt es »zur Arbeit gehen« – und tatsächlich versucht er es täglich viele Stunden lang. Immer wieder wird er entdeckt, vertrieben, muss vor der Polizei davonlaufen, die das Ganze als eine Art Jagd zu betrachten scheint. Hin und wieder hilft er SpanierInnen beim Tragen ihrer Einkaufstaschen oder wäscht die Scheiben ihrer Autos, um ein paar Cent zu erhalten. Damit kauft er Essen, für sich und seine Freunde. Anfang Juni dann ein Polizeigroßeinsatz: Ceuta soll für die SommertouristInnen von Flüchtlingen gesäubert werden. Alle AlgerierInnen werden abgeschoben. Nur vier von ihnen gelingt es, unterzutauchen. Unter ihnen: M. Eine Jagd beginnt. Er kann nun nicht mehr »zur Arbeit gehen«. Das bedeutet Hoffnungslosigkeit, vor allem aber auch Hunger. Die einzige Möglichkeit: ein Schlepper. Doch der kostet bis zu 1000 Euro. M. zuckt die Achseln. Er besitzt gerade genug, um heute zu viert eine Portion Nudeln essen können. Einige kleine Szenen in einem Film. Nicht mehr als das. Und doch Eindrücke, die bleiben, die verlangen, dass man über sie nachdenkt – nicht zuletzt, weil es menschenrechtlich und an sich unerträglich ist, was an diesen Außengrenzen der Europäischen Union geschieht. Wenn über einen Film und seine Bilder nachgedacht wird, dann hat er bereits etwas erreicht. Was geschieht, ist dann nicht mehr das Wissen einiger, sondern einiger mehr. Und diese einigen können wiederum das machen, was sie erleben durften: die Geschichte erzählen.

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Bilder, in diesem Fall solche von Migration, sind allerdings auch – ganz unkünstlerisch – in alternativen Medien abzurufen. Im Mainstream gehen sie verloren: Knapp zwei Tage lang hielt sich die Meldung in den Medien, als Ende März 2009 mehrere Flüchtlingsboote vor der südeuropäischen Küste kenterten und man von 300 bis 600 Toten ausgehen musste. Dann nahmen Weltwirtschaftskrise und Barack Obamas Europabesuch die Nachrichten wieder in die Hand. Kein Platz für die Dramen Unbekannter. Tage später war die Todesanzahl, die ungewiss blieb, gerade noch einen Nebensatz in der Berichterstattung wert. Von den Geretteten war kaum die Rede, weil klar war, sie würden großteils abgeschoben werden. Das passt nicht zum medial begleiteten Gerettet-Werden. Das Thema war wieder aus den Medien und damit aus dem Bewusstsein verschwunden. Dabei müsste das Verschwinden das große Thema an den europäischen Grenzen sein, weil es überall spürbar ist. Doch genau dieses Thema an sich verschwindet, kann nicht standhalten gegen die vermeintlich großen Themen wie finanzielle Krise oder Klimawandel. Zu wenig persönliche Betroffenheit. Aber auch zu wenig Wissen. Tausende Menschen gehen jedes Jahr auf dem Weg nach Europa verloren. Sie verdursten oder verhungern in den Wüsten Afrikas, sie erliegen der Gewalt der Schlepper oder der Kriminalität jener, die Geld für Schlepper brauchen, sie kentern mit ihren Booten, ertrinken im Meer oder sterben an den Folgen von Folter und Haftbedingungen. Die meisten von ihnen bleiben namenlos – insbesondere für jene Gesellschaft, deren Teil sie werden wollten, als sie ihre Reise begannen. Die EuropäerInnen hingegen ahnen wenig von den einzelnen Dramen, denn die Medien publizieren nur Ausschnitte, anonyme Zahlen, bestenfalls ein paar Bilder von Menschen, die aus dem Meer gezogen werden, um gleich darauf wieder zu verschwinden: in einem Anhaltelager oder in der Schubhaft. Und selbst in den Berichten von NGOs oder Artikeln wie diesem bleibt die Namenlosigkeit ohne Individualisierung. Es sind Aufzählungen, Platzhalter in Listen und Beispiele. Was die dahinter stehenden Menschen erleben, bleibt verborgen. Das Thema Asyl verschwindet mit ihnen, wird vermischt mit Migration, und beide wiederum mit (organisierter) Kriminalität oder Terrorismus. Die Sicherheitsdebatte ist stärker und überlagert jeden Versuch der Aufklärung mit Polemik. Dabei geht sogar unter, dass Asyl ein Menschenrecht ist. In den Anhaltelagern an den Grenzen fehlt selbst das Geld für Decken und ausreichend Kleidung und Nahrung. Oder auch das ist Strategie: es nicht zu bequem zu machen. Strukturelle Gewalt ist immer Teil von Asylpolitik und deren Umsetzung. Sie formt jenen Teil der Fernhaltung von Flüchtlingen, die überwachte und befestigte Grenzen nicht bewerkstelligen.

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In Bildern aber ist das nicht einfach festzuhalten – zumindest nicht in den Zeitungsbildern der meisten Tageszeitungen oder Fernsehnachrichten. Was ist demnach das dazugehörige Bild in den Köpfen der EU-BürgerInnen? Die Nachrichten von gestrandeten Flüchtlingsbooten ist man in Europa gewohnt. Die Bilder davon bleiben uns erspart – das Sterben im Meer geschieht in der Nacht und ohne externe Augenzeugen. Europa übt sich in Gleichgültigkeit, letztlich auch in Grausamkeit. Diese Staatengemeinschaft, die so stolz auf ihre Menschenrechte ist, verweigert den Blick auf die Bilder der Migration und der Flucht. Und doch gibt es fast zahllose solcher Migrationsbilder an den Grenzen und innerhalb Europas.

Die Drohung mit dem Tod als einzige Waffe Ein anderes Bild aus der Migration – und wieder ein Desaster: Sommer 2009. Von der Insel Lesbos, die als Urlaubsregion bekannt ist, kommen touristisch gesehen »unpassende« Nachrichten. Das UNHCR und zahlreiche NGOS – darunter no-racism – beklagen, dass in einem Anhaltelager in Pagani, das für 300 Personen eingerichtet ist, an die 1000 Personen leben müssen. Die Flüchtlinge, darunter zahlreiche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, gehen in den Hungerstreik. Ein Teil der Flüchtlinge wird daraufhin auf das Festland gebracht – allerdings mit der Auflage, nur bis Ende des Jahres legal in Griechenland bleiben zu dürfen. Es handelt sich um die indirekte, doch deutliche Aufforderung zum Untertauchen. Die EU-BürgerInnen aber sollen davon möglichst wenig erfahren. In Deutschland mag es ein wenig mehr sein als in Österreich, denn dort wurde Mitte des Jahres 2009 entschieden, zumindest einstweilen keine Flüchtlinge mehr per Dublin-II-Abkommen nach Griechenland zurückzuschieben. Denn das könnte ihr Todesurteil sein. In Österreich blieb man lange regungslos.

Schutz vor Kindern? A. setzt sich kleine Ziele. In winzigen Schritten hat er es vom Süden Marokkos bis nach Tanger geschafft. Derzeit wartet er im Hafen der Touristenstadt. Den UrlauberInnen bleibt sein Leben verborgen, ebenso sein Hoffen und seine Angst. Am ehesten noch bemerken die aufmerksameren unter ihnen seinen Hunger, wenn er ihnen kleine Dienste anbietet, wie den Koffer zu tragen, die Scheiben ihres Mietautos zu waschen oder beim Einparken zu assistieren. Wenn sie dann ihre Geldbörsen öffnen, wenden sie sich leicht ab, um ihn nicht sehen zu lassen, wie viel darin ist. A. nimmt es hin, wie fast alles auf dem langen Weg nach Europa.

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Sein nächstes Ziel beinhaltet wieder nur ein paar kleine Schritte: Wann immer ein Lkw auf eine Fähre fährt, versucht er, unter den Lkw zu klettern und sich zu verstecken, um als blinder Passagier unentdeckt Europa zu erreichen oder zumindest Ceuta, eine der beiden spanischen Exklaven in Afrika. Dort hätte er wenigstens eine kleine Chance, als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling Asyl zu erhalten – glaubt er, denn er ist zu optimistisch, um zu wissen, dass man als MarokkanerIn heute kaum mehr Chancen auf Asyl hat. Das politische Regime mag noch so tyrannisch und menschenrechtsfern agieren, der amtierende König hat einen relativ guten Ruf in der internationalen Staatengemeinschaft, sodass seine Untertanen vermeintlich kein Asyl in Europa brauchen. Wer A. beobachtet, bekommt den Eindruck eines Spiels. Zusammen mit mehreren anderen Burschen, die meisten eher Kinder als Erwachsene, versucht er immer wieder, unbemerkt unter einen Lkw zu klettern. Stundenlang und über Tage, am liebsten in der Nacht. Die Geschwindigkeit, mit der sie unter einem Lastwagen verschwinden, ist atemberaubend. Sie wird nur von der Hektik übertroffen, mit der sie die Szenerie verlassen, sobald Polizisten in Uniform oder in Zivil auftauchen. Manchmal wird einer von ihnen festgenommen. Nach ein paar Schlägen und Befragungen wird er freigelassen – und alle wissen, dass sich jede einzelne Handlung wiederholen wird. Weil niemand eine andere Wahl zu haben scheint. A. ist erst 13 Jahre alt. Er hat Zeit. Und er wird es immer wieder versuchen. Währenddessen gibt das System vor, seine BewohnerInnen schützen zu müssen. Die italienische Regierung spricht mehr als zwei Millionen Flüchtlingen, die in Libyen oder an dessen Grenzen darauf warten, nach Europa einzureisen. Berichte über die zunehmende Wasserknappheit, den Klimawandel und die (Bürger-)Kriege in Afrika und Asien drohen damit, dass Millionen von Menschen sich auf den Weg dorthin machen werden, wo das Klima gemäßigter und die Lebensbedingungen einstweilen noch besser sind. Die Politik findet damit Argumente für härtere Gesetze nach innen und außen. Die einen sollen ferngehalten werden, die anderen unter Kontrolle. Menschen- und BürgerInnenrechte geraten auf beiden Seiten ins Wanken – stets unter dem Mäntelchen eines gewissen Sachzwangs. Ein solcher aber gaukelt Logik vor und braucht daher kaum logisch entkräftet zu werden. Dabei wäre es so einfach. Alle Statistiken der UNO und anderer internationaler Organisationen zeigen das gleiche Bild: Mehr als eine Milliarde Menschen hungert. Es könnten zwei Milliarden werden. Dennoch scheint die Zahl an potenziellen Flüchtlingen nicht ins Unermessliche zu steigen. Der große Teil der Flüchtlinge bleibt in der eigenen oder einer benachbarten Region. Alles andere ist zu kompliziert, zu aufwendig und scheint für den Großteil ohnehin nicht erstrebenswert, denn auch das zeigen die Studien und Statistiken: Wenn es irgendwie geht, möchten die meisten Flüchtlinge rasch zurück in ihre Heimat. Laut UNHCR sind Pakistan, Iran und

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einige Staaten in Afrika diese ersten Anlaufstellen für Flüchtlinge, kaum aber Europa. (UNHCR 2008) Dennoch scheint man in Europa (den Gedanken) eine(r) Bedrohung zu spüren – oder zu brauchen. Man erinnere sich an den Grenzzaun zwischen der Slowakischen Republik und der Ukraine: 100 Millionen Euro hat er gekostet; ein Drittel bezahlte die EU, der Rest wurde von der Slowakischen Republik finanziert. Die technische Lösung ist eine radikal menschenfeindliche – oder vielleicht sollte man sagen menschenferne – Option. So verliert die Kamera, sobald sie zur Überwachung angewandt wird, sofort all ihre Magie, während sie in einem Film erst zur Leidenschaft erwacht. Die Überwachungskamera dokumentiert gefühlskalt jede Bewegung. Im Falle der Wärmebildkamera am Grenzzaun beherrscht sie das perfekt und zielorientiert. Der abgefilmte Mensch ist kaum mehr ein solcher – eher ein skurril in die Falle tappendes Objekt. Hier existiert auch keine Verbindung des einen Bildes mit dem anderen, der Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft. Die Überwachungskamera zeigt, was da im Moment ist – nie mehr als das. Im Film erweckt das Publikum die Geschichte mit seinem Blick zum Leben. Hier aber geht es um Daten, damit begnügt sich die Überwachungskamera. little alien zeigt die Differenz zwischen dem kalten technischen Tool und der mitfühlenden Filmkamera (Kameramann Christoph Hochenbichler) sehr deutlich, etwa zu Beginn des Films, zwischen der slowakischen und ukrainischen Grenze. Der Unterschied ist ein gewalttätiger. Und diese Gewalt wird dem Publikum vermittelt, ohne auf drastische oder gar sensationsheischende Bilder zurückgreifen zu müssen. Ganz zart nach dem Motto: »Ich lasse den Zuschauer so sehen, wie es mir für dieses oder jenes visuelle Phänomen am geeignetsten scheint«. (Vertov 1998:42) Es bleibt dem Publikum zugestanden, zu entscheiden, vorher aber zu denken.

Lernen, sich zu schämen Die Dekonstruktion, die im (Dokumentar-)Film möglich ist, beruht auf ganz kleinen Irritationen. Diese funktionieren auch in der Berichterstattung oder in der Lehre. Nicht allerdings funktionieren sie bei Spendenaufrufen mit den immer selben Bildern. Was little alien, obwohl oder weil ein Film, so außergewöhnlich für die Konflikttransformation und darin exemplarisch macht, ist der Umgang mit den ProtagonistInnen: Im Zentrum steht, denen, die oft ungehört, ja sogar ungesehen bleiben, eine Stimme zuzugestehen – nicht zu geben. Es kommen jene zu Wort, um die es geht. Sie reden für sich selbst und sprechen dabei nicht dauernd von Flucht und Asyl, sondern sie leben ihren Alltag – den Versuch, einen solchen aufzubauen in einem Land, das sie eigentlich nicht will.

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Menschen eine Stimme zu geben, wäre zu wenig gewesen. Sie haben bereits eine. Es hätte eine Beeinflussung, Manipulation und einen Übergriff bedeutet. Und wir, die wir all das beobachten? Ein vierköpfiges Filmteam aus Österreich, das unter der Regie von Nina Kusturica einen Film über Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dreht. Wir schauen zu, wenden unseren Blick ab oder der Kameramann Christoph Hochenbichler wendet die Kamera weg, wenn es manchmal zu intim wird, wenn die Demut vor dem Leben dieser jungen Menschen jenes Genieren mit sich bringt, das Ute Bock immer wieder anspricht: Warum sollten wir uns nicht für die Flüchtlingsgesetze unseres Landes und der Europäischen Union schämen? Aber auch das will gelernt sein. Zuzugeben, dass etwas nicht in Ordnung ist. Laut zu sagen, dass der Kampf gegen Migration als falscher geführt wird. Die strukturelle Gewalt begleitet Flüchtlinge – insbesondere Mädchen und Frauen – die ganze Flucht über. Wie oft eine Frau vergewaltigt wird, ehe sie auch nur in der Nähe Europas ist, davon berichten unzählige Studien über Menschenhandel. Der Grenzzaun ist nur eine sichtbar gewordene Hürde der Menschenfeindlichkeit. Er ist nicht die einzige. Kaum ein politisches Thema wird so stark von Angst und Irrationalität bestimmt – und ist damit so vielen Missverständnissen ausgeliefert – wie der Themenbereich rund um Migration, Flucht und Asyl. Es geht um den konstanten Ausnahmezustand (Agamben 2001). Leben ist dabei nicht mehr im eigentlichen Sinne möglich. Was sich an Dramen an den Außengrenzen der Europäischen Union abspielt, macht einen Teil dessen aus, was an politischen Maßnahmen in die falsche Richtung geht. Die Zäune, hinter denen sich die EU zu verstecken bemüht, können nicht alle Menschen aufhalten, werden es hoffentlich auch nie – und halten ganz sicher zu viele und die falschen ab. Im Kampf um Sicherheit stellt ein Großteil der Flüchtlinge nicht die geringste Gefahr dar. In Wahrheit geht es auch nicht um Besitz und Arbeitsplätze – all das wäre in den Griff zu bekommen. Flucht aber macht Angst, auch jenen, die nur zusehen oder davon hören. Weil Flucht unberechenbar und immer grausam ist. So ist es bequemer, davon zu hören, dass sie woanders stattfindet – nicht in der Nähe. Die kreative Kraft jener Menschen, die es schaffen, nach Europa zu gelangen, wird bei den Abschottungsversuchen übersehen. Zu wenig Ausbildung wird in sie investiert, kaum werden Jobs ermöglicht. Flüchtlinge sind zum Nichtstun verdammt – dabei sind gerade sie es, die tätig sein wollen, die etwas ändern wollen und unzählige Male zeigen, dass sie bereit sind, dafür viel in Kauf zu nehmen. Das nicht anzunehmen, ist auch eine gewisse Dummheit. Sie an den Grenzen der Europäischen Union nicht nur aufzuhalten, sondern zu foltern, zu demütigen und zu töten, ist der Verlust einer Staatengemeinschaft, die sich für ihre Menschenrechte und Demokratie rühmt. Gerechtigkeit wäre ein gutes Stichwort. Gerechtigkeit vor dem Gesetz. Ein

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gerechteres Asylrecht. Doch was heißt das schon, wenn Solidarität keine politische Kategorie mehr ist? So kann man über die Effizienz von Kunstprojekten, Film, Musik und Theater für die Konflikttransformation zwar keine konkreten Zahlen vorlegen, weil die Wirkung keine offensichtliche zu sein vermag, doch es geht um das Aufreißen der Bilder im Kopf, die angesprochene Irritation, die ein Nach-Denken auslöst, um zu begreifen, dass der eingeschlagene Weg – in diesem Fall in der Flüchtlingspolitik – ein Irrtum ist. Das Meer kann als Sehnsuchtsraum beschrieben werden. Für die einen bedeutet es Urlaub, für die anderen den Gedanken an ein Leben. Die, die bereits eines haben, fühlen sich bedroht von jenen, die darum kämpfen. Die Absurdität dessen kann kaum besser aufgedeckt werden als mit filmischen Mitteln. Mit einer ruhigen Kamera, die nicht kommentiert wird, sondern zeigt.

L ITER ATUR Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. Agamben, Giorgio (2001): On Security and Terror. www.egs.edu/faculty/ agamben/agamben-on-security-and-terror.html (abgerufen am 5. Mai 2009) Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt indymedia-Bericht zur Flüchtlingssituation in Pagani: http://de.indymedia. org/2009/08/258861.shtml (abgerufen am 3. September 2009) Ingruber, Daniela (2007): notizen zum film. leidenschaft. in: Imagenes – Bilder und Filme aus Lateinamerika, Wien TAZ-Bericht zur Flüchtlingssituation in Pagani: http://bewegung.taz.de/aktionen /no-border-lesbos/blogeintrag/pagani--ort-einer-humanen-katasprophe (abgerufen am 3. September 2009) UNHCR-Bericht zur Flüchtlingssituation in Pagani: http://deviousdiva.com /2009/08/22/unhcr-press-review/(abgerufen am 3. September 2009) UNHCR 2008: Global Trends 2007. www.unhcr.de (abgerufen am 10. Dezember 2008) Vertov, Dzigan (1923): Kinoki – Umsturz. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg., 1998): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 36-51 Virilio, Paul (1994): The Vision Machine. London/Bloomington Zizek, Slavoj (2001): Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a. M.

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F ILME Nina Kusturica (2009): little alien. Kinodokumentarfilm, Österreich (94 min). www.littlealien.at (abgerufen am 30. September 2009) Jasmila Zbanic (2003): Images from the Corner. Bosnien-Herzegowina (39 min)

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C ORINNA A SSMANN UND V ALERIE A SSMANN

Als Frauenfußball in Deutschland noch offiziell vom DFB verboten war, gab es in Iran bereits eine Frauenfußballnationalmannschaft, die internationale Spiele austrug. 1979 stoppte aber die Revolution die Entwicklung des Frauensports generell. Erst in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als mit Khatamis Wahlkampf sich allgemeine Hoffnung auf Liberalisierung und mehr persönliche Freiheit im Land verbreitete, wurde auch der Frauensport wieder belebt. Zwischen 1996 und 1998 stieg die Zahl der sportlich aktiven Frauen von 400.000 auf 2 Millionen. Diese Entwicklung geht zum großen Teil auf Faezeh Hashemi zurück, die sich als Parlamentsmitglied von 1996 bis 2000 beharrlich für Frauenrechte einsetzte. In dieser Zeit fingen auch viele Frauen an, Fußball zu spielen, allerdings zunächst im geschlossenen Raum der Halle, weitab von jeder Öffentlichkeit. 2004 wurde aus den besten Hallenspielerinnen eine Fußballnationalmannschaft gebildet, die bei ihrem ersten Auftritt bei den Westasiatischen Meisterschaften im September 2005 in Jordanien prompt den zweiten Platz errang.

M ACHT DER S PIELE , F USSBALL IM I RAN

Besonders eine Gruppe von Frauen, die »White Scarves Campaign«, nutzt den Protest gegen das Stadionverbot, um allgemein auf Frauenrechte in Iran aufmerksam zu machen. Ihre Parolen schreiben sie sich direkt auf weiße Kopftücher, denn diese kann ihnen die Polizei im Gegensatz zu Schildern und Transparenten nicht abnehmen. Den meisten Frauen dieser Gruppe geht es nicht eigentlich um Fußball; das Fußballstadion ist Symbol für Geschlechtertrennung und stellvertretend für die Räume des öffentlichen Lebens, die ihnen als Frauen in der islamischen Gesellschaft verschlossen bleiben und für deren Rückgewinnung sie kämpfen. Das Stadion, in das sie Eintritt erlangen wollen, heißt »Azadi« – Freiheit. Ihre Forderung nach der Hälfte des Azadi ist gleichzeitig ein Ruf nach Gleichberechtigung. Mit dieser Doppeldeutigkeit bietet das Stadion ihnen einen Rahmen für politische Parolen, deren Äußerung anderswo nicht möglich wäre und weniger Aufmerksamkeit erregen würde. (Fortsetzung auf S. 186)

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3. Gewalt in der Vereinnahmung des Widerspruchs Daniela Gronold

»Die Aufgabe heißt nicht, von einem bestehenden Ego aus Zugang zur Welt der anderen zu erlangen, also den Narzissmus zu überwinden, um bindungsfähig zu werden. Die Bindung ist vielmehr von Anfang an überdeterminiert, weil der andere das Kleinkind umzingelt und umschlingt. Sich aus diesen primären Übergriffen herauszuarbeiten, ist ein Kampf, dem nur begrenzter Erfolg beschieden wird.« (Butler 2007: 101)

Die folgenden Beiträge haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Karoline Feyertag beschäftigt sich mit dem »Krieg im Selbst – Philosophie der Ambivalenz bei Sarah Kofman«; es geht um Kriegserfahrung, um früh erlebte Trennungen, die Identifikation mit unterschiedlichen Wertsystemen und die daraus entstehenden Dilemmata. Daniel Romuald Bitouh schreibt über die postkolonialen Konflikte in Kamerun und die Gewalt in einem Land, das offiziell als stabil und friedlich gilt. Nicola Mitterers Zugang ist literarisch-philosophisch und begibt sich auf die Spur eines »radikal Fremden« und dessen hermeneutische, oft schon kannibalistische Vereinnahmung durch die Interpret/ innen. Der erste Beitrag ist scheinbar der persönlichste, er greift die Widersprüche im Leben einer Frau auf, der zweite allgemeiner, weil er gesellschaftliche Konflikte beleuchtet und der dritte mag abstrakt sein, entrückt von tatsächlich existierenden Personen, die nur im Verhältnis zwischen Mensch und Text oder als literarische Figuren eine Rolle zu spielen scheinen. Dabei stellt die theoretische Auseinandersetzung in Mitterers Text ein wichtiges Bindeglied zu den anderen dar. Er erweitert die Perspektive mit der Problematik der Gewalt des Verstehen-Wollens. So sind die Konflikte der Philosophin Kofman eng mit der Shoah, dem Verlust des Vaters in Auschwitz und dem Aufwachsen mit gegensätzlichen Frauenbildern zwischen jüdischer Tradition und Pariser Bildungsbürgertum verwoben, die also von persönlichen Bezügen zu Widersprüchen in der Gesellschaft zeugen. Bitouh, der die Gewalt in Kamerun in den Aporien der ehemaligen Kolonialisierten erkennt und, selbst in Kamerun geboren, von den Kameruner/innen fordert, Verantwortung für die gewaltsamen Verhältnisse zu

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übernehmen. Die Widersprüche, die sich für Individuen wie Gesellschaften ergeben, sind keineswegs einfach nachvollziehbar. Die Autor/innen widerstehen einem einfachen Lösungssuchen, in dem sie die Facetten von gewaltsamen Bedingungen der involvierten Individuen sichtbar machen. Während als Ergebnis geglückter Selbstwerdung für das Funktionieren gegenwärtiger moderner Gesellschaftsmodelle kohärente, sich selbst erkennende »Identitäten« vorausgesetzt werden (Hall 1999: 403-407), verweist uns Butlers Eingangszitat auf die Illusion dieser Vorstellung. Subjekte, so argumentiert sie (Butler 2007: 104) weiter, sind (nicht nur) durch die Ununterscheidbarkeit zwischen den anderen und uns dezentriert. Daran schließt auch Mitterers Text an und im Querdenken der drei Beiträge ergänzen Feyertags und Bitouhs Ausführungen ihre Frage nach dem Umgang mit »radikal Fremdem« mit Beispielen. Ihr Text stellt in den Raum, ob die Annahme eines »radikal Fremden«, also das Nicht-Verstehen (müssen) von etwas oder jemandem, nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar ethische Notwendigkeit ist. Damit meint Mitterer keineswegs nur das »kulturell Fremde« oder Fremdheit zwischen Individuum und Text. Ihre Ausführungen lassen zu, die Widersprüche des Selbst im Lichte des »radikal Fremden« zu betrachten, die, mit Lacan gesprochen, vom »Mythos des eigenen, heilen Selbst« ausgeblendet werden müssen. So analysieren Feyertag und Bitouh genau jene Identitätskonflikte und die Schwierigkeiten einer Fragmentierung des Selbst in Gesellschaften strikter Grenzziehungen und Hierarchien zwischen den Dingen und geben Einblick in die »inneren Konflikte«, die über solche Aporien gewaltsame Formen annehmen können. Bitouh führt aus, wie Herrschaftspraktiken, die er in Anlehnung an Foucault als »ethnische« Gouvernementalität bezeichnet, unterstützen, dass die Kolonialisierten ihr Sklavendasein schlussendlich akzeptieren. Nicht nur der Weg zu einem derartigen »Selbstregieren« ist gewaltsam. Feyertag beschreibt ein weniger offensichtlich brutales Prinzip: die Verführung, die das Subjekt zur scheinbar freiwilligen Zustimmung zu Werten und Normvorstellungen bringt. Beide Methoden haben zum Ziel, dass Personen ein anderes Wertesystem als das eigene über das bisher für sie gültige setzen. Das bedeutet im einen Fall die Unterwerfung, im anderen das eigene Erheben über alte Verwobenheit. Beide wechseln die Seiten. Beide führen fortwährend einen Krieg gegen sich selbst und bekämpfen dabei den Schmerz des Betruges und die Selbsterniedrigung. Im Raum steht, ob sich unter dem Prinzip der Kohärenz als Kausalität die Gewalt gegen das »Eigene« ergeben muss; so verbünden sich die entkolonialisierten Kameruner/ innen nicht gegen die vormals Kolonialisierenden, sondern bekämpfen sich gegenseitig und Sarah Kofmann versucht ihre konfliktreichen Identitäten – das Jüdische und das Weibliche – zeitlebens unter großer Kraftaufwendung zu ignorieren. Das »radikal Fremde« möge seinen Stachel verlieren und dabei nicht der Fremdheit entrissen werden. Seine Stimme, seine Forderungen müssen berechtigt sein, aber nicht notwendigerweise verstanden werden. Mitterer macht

3. G EWALT IN DER V EREINNAHMUNG DES W IDERSPRUCHS

unter Einbeziehung von Homi Bhaba klar, dass ein Festhalten an der Einheit des Selbst dieses totalisiert und nur unter dem Verzicht der Unmittelbarkeit möglich ist. Das Ich bleibt in der Folge in seiner zeitlich und örtlich physischen Existenz in Bezug zu diesem Ideal zutiefst gespalten.

L ITER ATUR Butler, Judith (2007): Die Kritik der ethischen Gewalt. Erste Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Hall, Stuart (1999): Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Hörnig, Karl H. und Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch, S. 393-441

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Kriege im Selbst – Philosophie der Ambivalenz bei Sarah Kofman Karoline Feyertag In diesem Beitrag soll anhand der Autobiografie der Philosophin Sarah Kofman das Problem der Parteilichkeit unter dem Aspekt persönlicher Betroffenheit auf doppelte Weise unter die Lupe genommen werden: Erstens wird es um einen inneren Konflikt im kindlichen Selbst der Autorin gehen – um ein ZerrissenWerden zwischen zwei Kulturen, Sprachen und Frauenbildern, von dem Sarah Kofman in ihrer Autobiografie berichtet. Zweitens wird es um die Transformation dieses inneren Konflikts gehen, wobei vorausgeschickt wird, dass meine Argumentation jeglichen biografischen Determinismus zu vermeiden versucht. Durch die Sublimationskraft der Philosophie verbannt Kofman lange Jahre hindurch den Schmerz ihrer Kindheit aus ihrer offiziellen Arbeit. Am Beispiel von Kofmans ambivalenter Haltung gegenüber dem Feminismus soll die Transformation von persönlicher Erfahrung und Betroffenheit in eine objektivierte, philosophische Position deutlich gemacht werden. Dieser Text folgt Kofmans Fluchtlinien in der Absicht, die Stationen eines Werdens und die Aporien eines Weges nachvollziehbar zu machen.

O RTE DER E RINNERUNG Der erste Teil zielt auf eine signifikante Szene aus Sarah Kofmans Kindheit ab, in welcher ihr Kindheitsdilemma pointiert zum Ausdruck gebracht wird. Um zu dieser Schlüsselszene zu gelangen, müssen einige unumgängliche Orte ihrer Erinnerung aufgesucht werden. 1934 als Tochter eines polnischen und 1929 gemeinsam mit seiner Frau nach Frankreich emigrierten Rabbiners in Paris geboren, wird Sarah Kofman die Shoah in der französischen Hauptstadt er- und überleben. In der Umgebung des Pariser Nordbahnhofs hat sich in der Zwischenkriegszeit eine kleine Gemeinde immigrierter, chassidischer Juden gebildet, deren Synagoge vom alteingesessenen Pariser Judentum unbeachtet bleibt. Berek Kofman wird als Rabbiner der kleinen Synagoge der Rue Duc im 18. Arrondissement am 16. Juli 1942 im Zuge der Deportationen, die in Frank-

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reich als »Rafles du Vél’d’Hiv« bekannt sind, ins Lager nach Drancy abgeführt.1 Von dort erhält die zurückgebliebene Familie noch eine letzte Postkarte, die aber nicht mehr von seiner Hand geschrieben ist. Aufgrund eigener biografischer Recherchen steht fest, dass Kofmans Vater am 29. Juli 1942 mit dem zwölften Konvoi nach Auschwitz deportiert wurde. Laut dem Archiv des Muzeum Auschwitz-Birkenau ist sein Todesdatum der 17. September desselben Jahres.2 Zurück bleiben sechs Kinder mit einer überforderten Mutter, die noch dazu kaum Französisch spricht. Es gelingt ihr, die Kinder mithilfe jüdisch-kommunistischer Freunde auf dem Land zu verstecken. Nur Sarah will unter keinen Umständen von der Mutter getrennt werden. Sie verweigert das unkoschere Essen der französischen Bauern und wird dadurch zu einer Gefahr, die die anderen verraten könnte. Die Mutter sieht sich gezwungen, Sarah zurück nach Paris zu holen. Nachdem die beiden vor einer weiteren Razzia aus der Wohnung in der Rue Ordener flüchten müssen, finden sie Unterschlupf bei einer ehemaligen Nachbarin. Diese Frau wird Sarah Mémé, Omi, nennen.3 Es ist die »Dame aus der Rue Labat«. Die Autobiografie, die Kofman kurz vor ihrem Freitod 1994 veröffentlicht, trägt den programmatischen Titel Rue Ordener, Rue Labat. Iris Radisch hat in knappen Worten diese Autobiografie zusammengefasst: Es sei die Geschichte eines kleinen jüdischen Mädchens, »das in der Rue Ordener aufgewachsen und sich in der Rue Labat abhanden gekommen ist« (Radisch 1995: 62).

1 | Die »Rafles du Vélodrome d’Hiver« bezeichnen die größte Deportation von Juden in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Auf Anweisung des französischen Polizeichefs René Bousquet wurden bei den Razzien des 16. und 17. Juli 1942 im besetzten Paris 13.152 Juden, davon 4115 Kinder, in die Pariser Wintersporthalle gepfercht, von wo aus sie über französische Lager wie Drancy im Norden der Stadt nach Auschwitz deportiert wurden. Von den 42.000 Juden, die im Jahr 1942 vom Vichy-Régime nach Auschwitz ausgeliefert wurden, kehrten nur 811 Menschen nach Kriegsende nach Frankreich zurück. In diesem Zusammenhang ist folgendes Standardwerk zu nennen: Beate und Serge Klarsfeld (1994): Le Mémorial de la déportation des Juifs de France. Paris: Fayard. 2 | Die Verfasserin hat eine Dissertation zu Sarah Kofman geschrieben, die sowohl philosophische Textanalyse als auch biografische Rekonstruktion (Archivrecherchen, Dokumentrecherchen) und Ko-Konstruktion (Interviews mit Zeitzeugen im Sinn der Oral History) beinhaltet. 3 | Im Folgenden wird der französische Name Mémé, den Sarah Kofman der »Dame aus der Rue Labat« gegeben hat, beibehalten anstatt der deutschen Übersetzung mit Omi.

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Welche Topoi der Erinnerung markieren die beiden Straßennamen in Kofmans Gedächtnis? An der Nummer 6 der Rue Ordener hat Sarah Kofman die ersten Jahre ihres Lebens im Rhythmus des jiddischen Kalenders verbracht: »Ich liebte auch das Purimfest, an dem meine Mutter uns mit schrecklichen Masken Angst einjagte; Simchat Tora, an dem wir unseren Vater mit anderen Chassidim durch die Synagoge tanzen sahen, wobei er die Torarollen ganz hoch hob, die wir dann alle küssen durften.« (Kofman 1995: 24). Dann unterbricht die Deportation des Vaters dieses Leben. Als Sarah nicht getrennt von der Mutter auf dem Land bleiben will, wird sie in der Nacht nach Paris zurückgebracht: »Von Merville zurückgekehrt, blieb ich zu Hause bei meiner Mutter. Da ich nicht mehr zur Schule ging, spielte ich die Lehrerin und brachte ihr (mit dem Schulbuch Antoine und Antoinette) französisch Lesen und Schreiben bei. Zusammen verstrickten wir schlechte Wolle. Wie damals, als ich Mumps hatte und vierzig Tage lang nicht zur Schule gehen konnte, hatte ich meine Mutter wieder ganze Tage nur für mich allein.« (Ebd.: 36) Die anderen fünf Geschwister bleiben außerhalb von Paris versteckt. Als eines Abends im Februar 1943 jemand zur Wohnung der Kofmans in der Rue Ordener kommt und die Mutter und ihre Tochter vor einer bevorstehenden Razzia warnt, flüchten die beiden Hals über Kopf zur »Dame aus der Rue Labat«: »Sie war eine frühere Nachbarin meiner Eltern, als sie noch in der Rue des Poissonniers wohnten. Meine Mutter war ihr auf der Straße aufgefallen, als sie in ihrem Kinderwagen ›so niedliche, blonde Kinderchen‹ spazierenfuhr, und sie erkundigte sich immer nach unserer Gesundheit. […] Eine Métrostation liegt zwischen der Rue Labat und der Rue Ordener. Zwischen den beiden liegt die Rue Marcadet. Sie scheint mir endlos, ich muss mich auf dem ganzen Weg übergeben.« (Ebd.: 42) Sarah Kofman ist zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt. Die Gefahren, die sie erlebt und auf die sie als Kind direkte körperliche Reaktionen zeigt, kehren in späteren Jahren in Alpträumen wieder. In ihrem Buch »Comment s’en sortir?« von 1983 verflicht sie erstmals ein autobiografisches Fragment mit ihrer »offiziellen« philosophischen Arbeit. Im Epilog des Buches findet sich ein kurzer Text mit dem Titel cauchemar. en marge des études médiévales: Alptraum. Am Rand der Mittelalterstudien (Kofman 1983: 101).4 Es handelt sich zunächst um einen Kommentar Kofmans zu einer Studie von Bernard Cerquiglini, welche die verlorengegangene Sprache des französischen Mittelalters im 13. Jahrhundert zum Gegenstand hat. Für Kofman ist bedeutsam, dass die Wortwurzel »mar« einen »unheimlichen Rest aus einem anderen Zeitalter« darstellt und dass wir heute diese Silbe auch im französischen Wort für Alptraum »cauchemar« wiederfinden (ebd.: 103f). Auf der Spur der Bedeutung dieses Adverbs betont Kofman, dass es in der nicht-höfischen Dichtung des Mittelalters »das Zeichen von Angst 4 | Alle folgenden Zitate sind Übersetzungen der Verfasserin.

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und Schwäche, von unmöglicher oder ungeteilter Liebe« und von Unglück ist (ebd.: 107). Weiter gesteht sie ein, dass es diese kleine Silbe gewesen sei, die in ihr eine verdrängte Vergangenheit an die Oberfläche gebracht hätte – eine Vergangenheit, »die zu einem ganz anderen Zeitalter, zu meinem Mittelalter gehört; sie ist erneut in einem Text aufgetaucht, der einem einzigartigen Code, einer völlig persönlichen Syntax und Grammatik folgt«. Daraufhin gibt sie ihren Alptraum wieder: »Ich bin in einem Zimmer meiner Kindheit, mit meiner Mutter, meinen Brüdern und Schwestern, in der Nacht. Kommt ein Vogel, eine Art Fledermaus mit menschlichem Kopf hereingeflogen und stößt laute Schreie aus: ›Unglück über euch! Unglück über euch!‹ Meine Mutter und ich, terrorisiert, fliehen. Wir sind tränenüberströmt in der Rue Marcadet; wir wissen, dass wir in äußerster Gefahr schweben, wir befürchten sterben zu müssen. Ich erwache sehr verängstigt.« (Ebd.: 108f)

Durch die alptraumhafte Straße, die Rue Marcadet, müssen Mutter und Tochter an jenem Februarabend 1943 fliehen. Es ist die Straße, die eine Welt und ein Zeitalter mit einer anderen Welt und einem neuen Zeitalter verbinden wird. Eine Straße, die weg von den Gleisen des Nordbahnhofs führt, in dessen Nähe sich die Rue Ordener befindet. Die Rue Labat führt bergauf Richtung Montmartre. Allerdings können die Ängste, die das kleine jüdische Mädchen aushalten muss, nicht von der Mutter besänftigt werden. Die Mutter selbst ist de facto machtlos. Ein weiterer Schock für die Tochter, die die Mutter vor allem als eine strenge kennt. In demselben Anhang findet sich noch ein Postskriptum, in dem die Philosophin den Alptraum-Vogel, die Fledermaus in Verbindung bringt mit Lilith, der ersten biblischen Frau vor Eva, und mit einer Figur der jiddischen Folklore, dem Gespenst Maredewitchale: »Diese andere Inkarnation von Lilith hat mich während meiner Kindheit verfolgt: Wenn ich nicht brav war, hat mich meine Mutter in einer dunklen Kammer eingesperrt, wo ›Maredewitchale‹ kommen und mich, wenn schon nicht verschlingen, so zumindest weit weg von zu Hause entführen würde: das war die Drohung.« (Ebd.: 112) Das war aber auch die Welt, die Sarah in dem Augenblick verlässt, als sie mit der Mutter bei der »Dame aus der Rue Labat« Zuflucht sucht. Bis dahin kannte sie vor allem die Gewohnheiten der jiddischen Kultur Polens. Nur in der Schule hatte sie schon zu ahnen begonnen, in welch anderem Land sie in Frankreich eigentlich aufwuchs. In ihrer Autobiografie erwähnt sie einige Lehrerinnen und Lehrer, die für ihren Werdegang als Philosophin prägend waren. In der Rue Labat erfährt sie die französische Lebensweise jedoch auf ganz neue, intime Art: »[Meine Mutter] wusste genau, dass diese Frau Kinder sehr gern hatte (tagsüber hütete sie übrigens noch ein kleines Mädchen, Jeanine, auf die ich sehr bald eifersüchtig wur-

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K AROLINE F EYERTAG de), dass sie auch streunende Katzen aufsammelte, um sie zu füttern und zu streicheln, aber trotzdem! Warum küsste sie mich so oft? Beim Aufstehen, beim Schlafengehen, bei der geringsten Gelegenheit! Bei uns zu Hause hatte es in der Tat weder regelmäßige Küsse am Morgen und am Abend, noch so viele Umarmungen und Zärtlichkeiten gegeben.« (Kofman 1995: 53-54)

Sarah wird regelrecht von dieser französischen Dame umgarnt und verführt. Sie lernt deren weitläufige Familie kennen und fühlt sich glücklich, als sie bei Tisch mehrere Generationen auf einmal erlebt – von ihrer eigenen Familie berichtet sie, dass diese bis auf das letzte Mitglied im Warschauer Ghetto umgekommen sei. Sie hat sie nie kennengelernt, da der Vater nach seiner Emigration nur noch in Briefkontakt mit ihr gestanden ist. In der Rue Labat beobachtet Sarah aber auch die echten Verführungskünste einer Frau, die schon früh Witwe geworden ist: »Ihr ›Freund‹ Paul, ein Buchhändler aus der Rue de Flandre, kam ungefähr einmal pro Woche zum Abendessen und verbrachte die Nacht mit ihr. An diesen Tagen kleidete und schminkte sie sich mit großer Sorgfalt. Sie ließ mich die schönste Damastdecke und das schönste Geschirr auflegen und schickte mich abends und die Nacht über zu meiner Mutter. […] Ich fühlte mich unwohl: an jenen Abenden erkannte ich meine vertraute Mémé nicht recht wieder und musste mich bei Tisch besonders gut benehmen.« (Ebd.: 53, 64)

Dieses Verhalten einer alleinstehenden Frau, deren Sohn schon verheiratet ist, verstört das Kind. Viele Jahre später wird die Philosophin Kofman mit einem Vortrag über Rousseau bei einem internationalen, feministischen Publikum von sich reden machen: Rousseau und die Frauen ist ein Text, in dem sich Kofman explizit mit der Dekonstruktion metaphysischer Geschlechterzuordnungen und der Rolle, die diese philosophische Tradition bei der Kindererziehung spielt, auseinandersetzt. Das Thema der Verführung der Männer durch Frauen, die geheimnisvolle Macht, die Männer seit jeher Frauen unterstellen, eine Macht, die Frauen manipulierend auf Männer ausüben würden – all das scheint in der »Dame aus der Rue Labat« komprimiert ans Tageslicht zu treten. Vielleicht hat Kofman tatsächlich an ihre Mémé gedacht, als sie folgenden Kommentar zu Rousseaus Emile machte: »Sophie und nicht Eva oder Lilith, auch nicht Pariserinnen, diese verdorbenen und verführenden Frauen, von denen alle Übel der Menschen/Männer ausgingen, weil sie nicht die natürliche Hierarchie zwischen den Geschlechtern anerkannt, ihren Platz und ihr Reservat verlassen, nach dem Wissen gestrebt haben und sich nicht fürchteten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und mit dem anderen Geschlecht zu vermischen; ›skandalö-

K RIEGE IM S ELBST – P HILOSOPHIE DER A MBIVALENZ BEI S ARAH K OFMAN se Konfusion‹ der Geschlechter, aus der, nach Rousseau, alle Unordnung, alles Übel und alle Perversionen entstehen.« (Kofman 1986: 16)

Sophie sei nach Rousseau das Ideal der Frau. Eva und Lilith werden in die Nähe jener verführerischen Pariserinnen gestellt, die auch schon Rousseau gekannt haben muss. Das Mädchen Sarah bleibt nicht unbeeinflusst von dieser französischen Erziehung, die sie zwar der traditionellen, jiddischen Kultur entfremdet, aber nur, um sie zu einer wohlerzogenen, gebildeten jungen Frau zu machen – die schließlich Sophia, die Weisheit, lieben soll. Das Verführerische der Pariserin, die das kleine Mädchen bei sich schlafen lässt, wird in der autobiografischen Erinnerung an ein Hotelzimmer und einen Paravent geknüpft. Nach einem Ausflug zu Mémés Familie aufs Land versäumen die beiden die letzte Métro und müssen in einem Hotel am anderen Ende von Paris übernachten: »Wir schliefen zusammen in einem Bett. Mémé hatte sich hinter einem großen Paravent aus Mahagoniholz ausgezogen, und ich hatte neugierig vom Bett aus auf ihr Erscheinen gewartet. In der Rue Labat ging sie, zur großen Verblüffung und Aufregung meiner Mutter, im Pyjama mit entblößter Brust durch die Wohnung, und ich war von ihrem nackten Busen fasziniert. Von dieser Nacht im Viertel Les Gobelins ist mir nichts außer dieser Szene des Ausziehens hinter dem Paravent in Erinnerung.« (Kofman 1995: 69-70)

Die Kunst der Verführung beschäftigt Sarah Kofman auch in ihren philosophischen Reflexionen. Eines ihrer Bücher trägt den Titel Séductions. De Sartre à Héraclite: »Verführungen. Von Sartre bis Heraklit«. Darin beschreibt sie unter anderem die trickreichen Verführungskünste der französischen Enzyklopädisten und Staatstheoretiker: Es sei deren Strategie gewesen, harmlose, charmante Geschichten und Märchen zu erzählen, um die Zensur in die Irre zu führen und jene Gesellschaft in Sicherheit zu wiegen, deren Prinzipien sie von Grund auf umstürzen würden (vgl. Kofman 1990: 10f). Verführung ist ein Leitmotiv in ihrem gesamten Werk, zumal sich für Kofman die philosophische Urszene im platonischen Dialog darstellt, bei dem der eine Gesprächspartner versucht, sein Gegenüber zu verführen, indem er es in Aporien verstrickt. Mémé fördert allerdings auch das Mädchen, indem sie ihm alle wichtigen Bücher seiner Kindheit schenkt, es mit der Welt der »großen Musik«, der Malerei und der französischen Kultur insgesamt bekannt macht. Der Konflikt zwischen den beiden Müttern bahnt sich über diese unterschiedlichen Erziehungsmethoden an, es beginnt ein Kleinkrieg zwischen zwei Kulturen in einer Drei-Zimmer-Wohnung: »[Mémé] wiederholte immer wieder, dass ich schlecht erzogen worden sei: Ich gehorche lächerlichen religiösen Verboten, habe kein moralisches Prinzip. […] Sie machte es sich

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K AROLINE F EYERTAG zur Aufgabe, mich von Kopf bis Fuß umzuerziehen und meine Bildung zu vollenden. […] Kreuzworträtsel waren eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Mit dem Larousse in der Hand wurde ich selbst bald auch sehr gut. Außerdem hörten wir ununterbrochen ›große Musik‹, und sie führte mich in Beethoven ein, der ihre Leidenschaft war.« (Kofman 1995: 62-63)

Die »Dame aus der Rue Labat« besteht auf eine säkulare Erziehung und macht dadurch Sarahs ursprüngliche, religiös geprägte Kultur lächerlich. Sarah Kofman wird sich von der jüdischen Kultur ihrer Kindheit komplett lösen und jegliche Etikettierung als »jüdische« Philosophin zurückweisen. Interessant ist, dass sie auf genau dieselbe Art mit dem Etikett »Feministin« verfahren wird, welches ihr später vor allem amerikanische und deutschsprachige Feministinnen verleihen. Darauf komme ich im zweiten Teil zurück. Die Abspaltung oder besser: das Abhandenkommen ihres jüdischen Ichs und die daraus resultierende Zerrissenheit erreichen in einer Schlüsselszene der Autobiografie ihren prägnantesten Ausdruck. Nach der Befreiung von Paris kann die Mutter, Fineza Kofman, nun ebenfalls befreit, wie ihre Tochter schreibt, endlich wieder auf die Straße gehen. Sie versucht, ihre übrigen Kinder wiederzufinden und hofft auf die Rückkehr ihres Mannes, von dem sie seit 1942 und Drancy nichts mehr gehört hat. Ganz anders Sarah: »Ich dachte überhaupt nicht mehr an meinen Vater, ich sprach nicht mehr ein einziges Wort Jiddisch, obwohl ich die Sprache meiner Kindheit noch perfekt verstand. Ich fürchtete mich jetzt vor dem Ende des Krieges. […] Es zerriss mich geradezu. Von heute auf morgen musste ich mich von derjenigen trennen, die ich jetzt mehr als meine Mutter liebte.« (Ebd.: 71, 73)

Zuerst erlaubt ihr die Mutter, Mémé zu besuchen. Als sie jedoch verspätet nach Hause kommt, schlägt die Mutter sie. Schließlich zieht sie mit Sarah zu einer jüdischen Freundin, die weit weg von Mémé wohnt: »Meine Mutter hatte Angst, mich allein mit der Métro fahren zu lassen und verbot mir, Mémé zu besuchen. Ich entging ihrer Aufmerksamkeit und beschloss trotz allem, zu Mémé zu gehen und bei ihr zu bleiben. Diese wünschte nichts sehnlicher als mich zu behalten! Meine Mutter wusste jedoch, dass ich laut Gesetz wieder zu ihr zurückkommen müsse. Deshalb strengte sie einen Prozess gegen Mémé an, der vor einem Gericht von Widerstandskämpfern auf einem Schulhof improvisiert wurde. Man warf Mémé vor, sie habe versucht, mich zu ›missbrauchen‹ und habe meine Mutter misshandelt. Ich verstand nicht genau, was meine Mutter mit dem Begriff ›missbrauchen‹ meinte, aber ich war überzeugt, dass sie log. Ich war empört darüber, dass sie diejenige, die uns vor dem sicheren Tod gerettet hatte, und die ich so sehr liebte, fälschlicherweise beschuldigen

K RIEGE IM S ELBST – P HILOSOPHIE DER A MBIVALENZ BEI S ARAH K OFMAN konnte! Daraufhin beschuldigte ich meine Mutter, indem ich vor Gericht meine blauen Schenkel entblößte, und es gelang mir, bei den Zuhörern Mitleid zu erregen. […] Das Gericht entschied, mich Mémé anzuvertrauen. Kurz darauf sind Mémé und ich an der Telefonzelle eines Cafés in der Rue Marcadet. Sie hält mich lächelnd an der Hand und ruft ihren Freund Paul an: ›Ich hab’s geschafft, ich behalte die Kleine!‹ Ich fühle mich sonderbar unwohl. Ohne zu verstehen warum, fühle ich weder Triumph, noch bin ich vollkommen glücklich oder ganz beruhigt.« (Ebd.: 74f.)

Diese Schlüsselszene spielt wieder in der Rue Marcadet, der alptraumhaften Straße, die weder für das Kind Sarah noch für die Philosophin Kofman zu einem Ausweg führt. Vielmehr führt sie mitten in die Ausweglosigkeit hinein. Noch in derselben Nacht wird Sarah von der leiblichen Mutter aus der Rue Labat entführt. Mithilfe von zwei starken Männern holt sich die Mutter ihre Tochter zurück. Diese schreibt, sie habe sich nicht gewehrt, sondern sogar erleichtert gefühlt. Eine alptraumhaft paradoxe Situation, die keiner der beteiligten Personen gerecht wird.

PARTEILICHKEIT UND B E TROFFENHEIT Ich werde nun ein paar Punkte hervorheben, welche der Argumentation meiner These der Transformation dieses inneren Konflikts dienen sollen. Auch wenn sich der autobiografische Text für eine psychoanalytische Deutung geradezu anbietet, werde ich das Augenmerk auf Kofmans Rhetorik legen. Diese Rhetorik ist aus meiner Sicht an die klassische juristische Rhetorik einer Verteidigungsrede angelehnt. Für wen ergreift Kofman als Kind Partei? Ist sie nicht vielmehr die Dritte, um die sich zwei streiten? Weshalb kann sie als Betroffene nur schlecht Partei ergreifen? Kofmans »Verteidigungsrede« ist eine doppelte. Auf den ersten Blick ergreift sie Partei für Mémé, der von der Mutter unterstellt wird, Sarah »missbraucht« zu haben. Das Kind versucht, seine Lebensretterin zu verteidigen und scheint gänzlich unempfindsam gegenüber den Gefühlen und Ängsten der Mutter. Im Kontext der gesamten Autobiografie wird jedoch deutlich, dass es auch noch um eine zweite Art von Verteidigung geht. Es wird hier eine Selbst-Verteidigung im Sinn einer Rechtfertigung verhandelt. Alles zuvor Geschriebene hat die Leserin, den Leser darauf vorbereitet, die ausweglose Situation des Kindes in der Gerichtsszene empathisch nachempfinden zu können. Wie sollen wir nun, da wir die Geschichte und das unreife, unerfahrene Alter des Kindes kennen, ihm, dem Kind, und in der Folge der Philosophin Sarah Kofman einen Vorwurf machen? Wir lesen aus ihren Worten den Wunsch nach Vergebung, die Verzweiflung eines Verrats und eine griechisch anmutende Unentrinnbarkeit aus

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dem Lauf der Geschichte. Welchen Verrats fühlt sich Kofman schuldig? Wie lautet ihre Selbstanklage? Zunächst ist in diesem Zusammenhang das Trauma einer Shoah-Überlebenden zu nennen. Auch wenn Kofman als Kind den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten entgehen konnte, ist sie eine Überlebende der Shoah. Das Schuldgefühl gegenüber dem Vater, den sie während der Okkupation von Paris beinahe vergisst, transformiert sich in eine »Pflicht zu sprechen, ohne Unterlass für jene zu sprechen, die nicht sprechen konnten, weil sie das wahre Wort bis zum Äußersten bewahren wollten, ohne es zu verraten.« (Kofman 2005: 49) Die erste Aporie besteht darin, dass kein Überlebender der Shoah von der Shoah Zeugnis ablegen konnte. Und dass es trotzdem die Forderung gibt, darüber zu sprechen, damit sich »die unendliche Gewalt«, das Sterben von Auschwitz nicht wiederhole (ebd.: 48). Die zweite Aporie raubt Kofmans persönlichem Wollen die Grundlage, indem sie als Kind wie ein Tauschobjekt zwischen den Verboten ihrer Mutter und den Angeboten von Mémé hin- und her geschoben wird. Sie spürt die Gefahr, die in der Unterstützung von Mémé liegt – eine Unterstützung, die sie auf den eigenen Weg und gleichzeitig wegbringen wird von ihrer Vergangenheit und Familie. Diffus tritt in der autobiografischen Schlüsselszene das Problem der Parteilichkeit zutage: Das Kind erkennt, dass die Mutter nicht einfach die Böse ist, die es schlägt, und Mémé die Gute, die es fördert. Dass auch die Mutter verzweifelt ihre Tochter liebt und Mémé einen Buchhändler aus der Rue de Flandre. Im Ereignis der Gerichtsszene und ihren Konsequenzen wird der doppelte Double Bind der Tochter deutlich. Sarah liebt ihre Mutter und liebt Mémé. Beide Frauen senden jedoch auch konträre Signale, die das Kind in große Verwirrung stürzen: Die Mutter ist zu wenig herzlich, zu hart und oft verständnislos. Mémé behandelt Sarah wie eine Siegesbeute, als bloßes Objekt mütterlicher Begierde und Besitzlust. Vor allem aber tragen die beiden Frauen ihren Konflikt über das Kind aus, das dabei zum bloßen Mittel degradiert wird. Sarah wird im Kleinkrieg zwischen den beiden Frauen zur Projektionsfläche mütterlicher Begierden. Sie hat eigentlich nichts mehr zu sagen, sie wird auch nicht mehr gefragt. Die dritte Aporie, aus welcher Kofman sich ihr Leben lang versucht zu befreien, besteht im Versuch, über Unsagbares zu schreiben: »Wie soll man also erzählen, was nicht ohne Schwindel ›mitgeteilt‹ werden kann? Das, wofür es zu wenig – oder zu viele – Wörter gibt, um es zu sagen, und nicht nur, weil die ›Grenzerfahrung‹ der unendlichen Bedürftigkeit wie jede andere Erfahrung nicht vermittelt werden kann? Wie soll man sprechen, wo man doch den ›frenetischen Wunsch‹ verspürt, diese Erfahrung als solche in Worte zu fassen (eine unmögliche Aufgabe),

K RIEGE IM S ELBST – P HILOSOPHIE DER A MBIVALENZ BEI S ARAH K OFMAN alles dem anderen zu erklären, wo man doch einem Wörterdelirium anheim fällt und es zugleich unmöglich ist zu sprechen? Unmöglich ohne zu ersticken.« (Kofman 2005: 51)

Kofman schreibt diese Sätze in ihrem Buch Erstickte Worte in Bezug auf Robert Antelme und dessen Versuch, von seinen Erfahrungen im Konzentrationslager Buchenwald zu berichten. In ihren Worten schwingt jedoch auch der Unterton der am eigenen Leib Betroffenen mit. Um ihre Betroffenheit als Shoah-Überlebende zu rechtfertigen, erwähnt Kofman zu Beginn des Buches die Deportation des Vaters nach Auschwitz: »Weil er Jude war, starb mein Vater in Auschwitz: Wie könnte ich nicht darüber sprechen? Und wie kann ich darüber sprechen? […] Über dieses Ereignis, mein Absolutes, das mit dem Absoluten der Geschichte kommuniziert und nur deswegen interessant ist?« (Kofman 2005: 25). Dieses, ihr persönliches Dilemma verknüpft Kofman im Laufe des Textes mit dem allgemeinen Paradox des Unsagbaren und Unvorstellbaren. Auf diese Weise spricht sie auch für sich selbst, wenn sie von Antelmes Erfahrungen spricht. Die allgemeine Pflicht, darüber zu sprechen, rührt für beide daher, dass ihre – wenn auch vollkommen unterschiedlichen – Erfahrungen ein »Absolutes der Geschichte« tangieren. Bei dem Begriff des »Absoluten der Geschichte« handelt es sich keinesfalls um Gott. Das Absolute ist vielmehr als ein singuläres Ereignis zu verstehen, das die Universalität der Menschen betrifft und betroffen machen muss. In welchem Zusammenhang stehen nun die drei Aporien mit der autobiografischen Schlüsselszene vor Gericht? Ich fasse kurz zusammen: In der Szene des improvisierten Gerichts und der daran anschließenden Szene in der Rue Marcadet wird dem Kind Sarah diffus bewusst, dass es weder bei der biologischen noch bei der sozialen Mutter bleiben kann. Hinzu kommt eine Ahnung, die zugleich das Ende von Kofmans Kindheit und Unschuld bedeutet. Es ist die Ahnung davon, dass Gerechtigkeit notwendigerweise eine Utopie und Wahrheit an eine bestimmte, historische Situation gebunden ist. Die Ohnmacht, die Sarah in der Gerichtsszene erfährt, korrespondiert mit der unbeschreiblichen und unfassbaren Situation, in die sie mit ihrer Mutter während des Kriegs geraten ist. Zur vollständigen Beschreibung dieser Situation fehlen dem Kind die Worte. Und das bloße Zeigen der blauen Flecken bezeugt nur die halbe »Wahrheit«. Als Betroffener verschlägt es Sarah Kofman die Sprache. Sie ergreift Partei für Mémé und das republikanische Frankreich. Im folgenden Abschnitt möchte ich die Gerichtsszene unter einem weiteren Aspekt analysieren, welcher nunmehr das Augenmerk auf die fast 60-jährige Philosophin Kofman und ihre autobiografische Erzählstrategie legt. Wie ich zeigen werde, wird ihre Strategie der Auslassung auch bedeutsam für ihren Umgang mit dem Feminismus.

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S TR ATEGIE UND W AHRHEIT Eine Gerichtsszene impliziert, dass alle Beteiligten frei und ehrlich sprechen können. Das Gericht ist per definitionem ein Ort der freien Rede und kann deshalb mit dem Konzept der griechischen Parrhesia, wie sie Michel Foucault in seinen späten Berkeley-Vorlesungen zu Diskurs und Wahrheit analysiert, verglichen werden (vgl. Foucault 1996). Vor Gericht ist die Situation, wahr zu sprechen, nicht nur gegeben, sondern explizit erwünscht. Führen wir uns nochmals die autobiografische Gerichtsszene vor Augen und vergleichen sie mit der klassischen Situation der Parrhesia, in der es riskant und sogar lebensbedrohlich sein kann, wahr zu sprechen. Narrative Strategien und rhetorische Tricks machen aus Kofmans autobiografischem Text eine Apologie. Ihre Parteinahme für Mémé und ihre Intervention vor Gericht können hingegen als Teile der parrhesiastischen Szene, als Momente des »Wahrsprechens« gelesen werden. Ohne auf die vielfältigen Kontexte von Parrhesia eingehen zu können, greife ich deren Bedeutung als »kritische Widerrede« heraus, wie sie auch María do Mar Castro Varela verwendet: »Parrhesia bezeichnet Michel Foucault zufolge die kritische Widerrede. Sie beschreibt ein mutiges, risikoreiches Sprechen. Eine Sprechtätigkeit, die versucht, Sinn und Ethik zu verbinden, und dabei nicht in einer Position der Allwissenheit verharrt. […] Parrhesia steht damit im Gegensatz zur Rhetorik, denn anders als diejenige, die rhetorisch spricht, ist die parrhesiastes eins mit dem, was sie sagt: Sie spricht nicht über etwas, was andere sagen oder denken, sondern sie spricht, was sie denkt, und sagt, was sie für wahr hält, und sie tut dies ungeachtet des Risikos, welches damit einhergeht.« (Castro Varela 2004: 118)

Der autobiografische Text, den Kofman 1994 veröffentlicht, und die autobiografische Szene, die 1944 stattfindet, gehorchen jeweils ganz anderen Gesetzen. Die Gegenüberstellung von Rhetorik und Parrhesia ist dabei sehr hilfreich. Die Macht bzw. Gewalt, vor der es gefährlich ist, als Kind die Wahrheit zu sagen, ist im Fall der autobiografischen Szene nicht das Gericht, sondern die Mutter. Im Schutz der Öffentlichkeit und des Schulhofs traut sich das Kind, die Wahrheit zu sagen, nämlich dass es von der Mutter geschlagen wird. Allerdings muss es kurz darauf eine schmerzvolle Erfahrung machen: Es hat nicht die ganze Wahrheit sagen können. Es erkennt: Wahrheit ist situativ und an die Macht der Sprache gebunden. Kurz vor dem »Urteilsspruch« glaubt das Kind noch an eine einzige Wahrheit und daran, dass es der eigenen Ohnmacht entrinnen wird können. Nach dem »Urteilsspruch« wechselt ihr Erzählmodus ins Präsens: Mémé und sie sind im Café. Sie fühlt sich augenblicklich unwohl, da sie keine Genugtuung

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über den Urteilsspruch empfinden kann. Die Erleichterung, die sie schließlich empfindet, als ihre Mutter mit zwei Männern kommt, um sie zurückzuholen, lässt uns darauf schließen, dass es in dieser »Geschichte« mehr als nur eine Wahrheit gibt. Dieses »Uns-darauf-schließen-Lassen« ist Kofmans Strategie, um uns Lesende betroffen zu machen, um uns in die Erlebnisse zu involvieren. Kofman enthält sich keineswegs »naiv« ihres Kommentars. Als eine Kennerin der Schriften Freuds hat sie ihr Kindheitstrauma vielfach verdichtet und verarbeitet. Auch machte sie jahrelang eine Psychoanalyse. Zwei knappe Kapitel, die an die Gerichtsszene anschließen, beziehen sich als die einzigen Kapitel der Autobiografie explizit auf ihre philosophische Arbeit.5 Dennoch: Die Schilderung der Szene selbst – und darauf beruht nun meine These – kommt gänzlich ohne Kommentar »von außen« aus. Die Person, die sich erinnert, ist das Kind. Es wird nicht mehr erinnert, als das Kind zu diesem Zeitpunkt, knapp zehnjährig, wissen konnte. Kofman verfolgt hierbei eine Erzählstrategie, die sie der Rhetorik entlehnt. Wie entgeht sie dem »Dilemma der Objektivierung« (vgl. Young 1997), ohne auf sprachliches Pathos zurückzugreifen? Wie gelingt es ihr, in »unendlicher Distanz zu sich selbst« (vgl. Deuber-Mankowsky 1997) zu schreiben? Die Autorin bedient sich hierzu eines syllogistischen Verfahrens: Das Enthymem ist laut Aristoteles’ Rhetorik ein Wahrscheinlichkeitssyllogismus, bei dem meist der Schluss fehlt. Insofern ist Kofmans »philosophische Enthaltsamkeit« im autobiografischen Text eine rhetorische Strategie, um ein »Sprechen ohne Macht« (Kofman 2005: 25 und Deuber-Mankowsky 1991) vorstellbar zu machen. Ihre Autobiografie selbst bekommt jedoch in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer Apologie – und das durchaus im klassischen Sinn griechischer Rhetorik. Es ist die Apologie ihres Verrats an der einen Wahrheit, der Wahrheit ihres Vaters, eines Rabbiners. Gefangen in der Aporie, einerseits der jüdischen Welt ihrer Kindheit ihren Platz und ihr Recht geben, und andererseits jegliche Ideologie und Religion ablehnen zu wollen, scheint die Philosophin dem »wahren Wort« keinen Glauben mehr zu schenken. Nur indem sie ihr Urteil und 5 | Kofman erklärt in knappen Sätzen erstens ihr Interesse für Freuds Interpretation des Leonardo, der »auch« zwei Mütter gehabt hätte, und dass sie Leonardo da Vincis Gemälde der Hl. Anna Selbdritt für den Umschlag ihrer ersten Publikation Die Kindheit der Kunst gewählt hatte. Zweitens spricht sie von ihrer Faszination für einen frühen Film Hitchcocks, A Lady Vanishes von 1938, bei dem die gute Frau von einer bösen Spionin »ersetzt« wird. Eine Szene, in der die gute zur bösen »Mutter« wird (vgl. Kofman 1995: 77-83). Die wie Kommentare angefügten Kapitel machen deutlich, dass sich Kofman der Tragweite der ambivalenten, autobiografischen »Befreiungsszene« durchaus bewusst war.

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ihre persönliche Betroffenheit aussetzt und schonungslos von der Ohnmacht des Kindes berichtet, kann sie den Leser, die Leserin in dieselbe »Stimmung« – en thymô – versetzen. Anhand der rhetorischen Strategie der Auslassung und des Enthymems bleibt das Unsagbare ungesagt. Die Leerstelle in Kofmans Diskurs lässt die Leserin, den Leser mit dem Gefühl zurück, dass jenes Gericht niemals hätte Gerechtigkeit herstellen können.

F EMINISTISCHE R EFIGUR ATIONEN Ich komme nun im letzten Teil meiner Ausführungen zur Frage der Transformation des Konflikts, dessen Hintergrundfolie Kofmans Zerrissenheit zwischen zwei Frauen- und Weltbildern ist. Diese Zerrissenheit ist für Kofman das Unsagbare, das im autobiografischen Text nicht dargestellt werden kann – es sei denn, es bleibt »dahingestellt« und ausgelassen. Meine These geht davon aus, dass Kofman auf den persönlichen Konflikt zwischen den beiden Müttern auf zweifache Weise reagiert. Einerseits wird sie es ablehnen, Mutter zu werden. Dieser Punkt betrifft ihre Lebenspraxis, ihre Biografie. Andererseits – und dieser Punkt betrifft nun ihre philosophische Positionierung – wird sie eine ambivalente Haltung zum Feminismus einnehmen. Sie scheint die heterosexuelle Dichotomie von besorgter oder fürsorgender Mutter und verführerischer Geliebter überwinden zu wollen und versucht, in den feministischen Debatten ihrer Zeit eine Zwischenposition einzunehmen. Wie ich anhand eines Interviews mit Kofman zeigen werde, wirkt sich diese ambivalente Position befruchtend auf feministische Diskussionen aus, indem sie sowohl Zustimmung als auch kritischen Widerstand hervorruft. Laut der französischen Philosophin Luce Irigaray ist Kofman zu wenig kritisch gegenüber ihren »großen Vorbildern« Freud und Nietzsche. Dagegen ist Kofmans Studie zu Rousseau und die Frauen für die österreichische Philosophin Herta Nagl-Docekal ein wegweisender Anstoß zur feministischen Dekonstruktion von Geschlechterdualismen in den Texten »großer Philosophen«. Schließlich fragt sich die amerikanische Philosophin Judith Butler in derselben Ausgabe der transatlantischen Zeitschrift Compar(a)ison, die auch das Interview mit Kofman beinhaltet, weshalb ihre französische Kollegin über Frauen in der Philosophie schweigt. Im Folgenden wird Kofmans autobiografische Methode der Auslassung im Licht ihrer philosophischen Arbeiten eine neue Bedeutung bekommen – das Unsagbare wird in ein »beredtes Schweigen« in Bezug auf Frauen transformiert. Überraschungsmoment für die Interviewerin Evelyne Ender: Kofman sagt, sie schreibe selten über Frauen, weil es kaum Philosophinnen gebe. Die Interviewerin insistiert: Aber z.B. Hannah Arendt? Kofman: Arendt sei zweifelsfrei interessant, aber noch lange nicht in den Kanon der Philosophen aufgenom-

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men. Und Kofman beharrt: »Aber es gibt keine einzige Frau, die tatsächlich eine grundlegende Philosophie vorgelegt hätte.« (Ender 1993: 18). Wiederholt Kofman nicht den Ausschluss der Frauen aus der Philosophie? Die Eingangsfrage der Interviewerin konzentriert sich auf die Lektüremethoden von Frauen und auf die streitbare Spekulation, ob Frauen anders lesen würden als Männer. Kofman weist eine derartige Fragestellung von Anfang an zurück und betont, dass es für sie unerheblich sei, ob sie als Frau lese oder schreibe. Für sie zähle einzig der Akt des Schreibens, der als solcher subversiv sei und kontinuierlich eindeutige Kategorien wie jene von »Frau« und »Mann« infrage stelle und verschiebe. Zugleich ist Kofman sehr kritisch gegenüber der »écriture féminine« ihrer französischen Kolleginnen. Es geht ihr um das Schreiben als solches, als eine Tätigkeit, die sich von nichts und niemanden vereinnahmen lässt: »Ich würde nie ein ›weibliches Schreiben‹ einfordern, denn von einem ›weiblichen Schreiben‹ zu sprechen, bedeutet erst recht wieder, sich auf eine Essenz des Mannes und eine Essenz der Frau zu beziehen. Dabei zählt auch nicht das Allgemein-Menschliche, das laut Simone de Beauvoir eine vollkommene Gleichheit von Mann und Frau herstellen soll, sondern die originäre Bisexualität [des Menschen]« (Ender 1993: 16).6 Kofman geht hier von einem Indeterminismus des menschlichen Geschlechts aus, der im Sinn von Nietzsche den Menschen »als das noch nicht festgestellte Tier« definiert (vgl. Kofman 2005: 83). Für Kofman ist »jedes menschliche Wesen mit sämtlichen Potenzialitäten des anderen Geschlechts ausgestattet« (Ender 1993: 16). Diese theoretische Offenheit gesteht Butler in ihrem Kommentar der französischen Kollegin nicht zu, obwohl sie selbst zu diesem Zeitpunkt in Das Unbehagen der Geschlechter einen radikalen Geschlechterkonstruktivismus vertritt. Hingegen macht Butler die Differenz, die Kofman zwischen den Kategorien »Frau« und »Jüdisch« zieht und Kofmans Weigerung, sich von der Interviewerin irgendein »Etikett« – Philosophin, Feministin, Schülerin von Derrida – aufsetzen zu lassen, stutzig: »Es beeindruckt mich, dass Kofman darauf beharrt, dass die Grundlage ihres Gefühls von sozialer Benachteiligung ihr Jüdisch-Sein und nicht ihr Frau-Sein ist.« (Butler 1993: 29). Butler bezieht sich auf eine Stelle im Interview, an der Kofman zu erklären versucht, was der Grund für ihren langwierigen Kampf um universitäre und somit institutionelle Anerkennung war (Kofman wurde erst 1991, drei Jahre vor ihrem Tod, ordentliche Professorin an der Sorbonne). Evelyne Ender äußert den Eindruck, dass Kofman nicht auf die gleiche Weise wie ihre amerikanischen Kolleginnen unter sexistischen Vorurteilen, die für die universitäre Institution als solche charakteristisch seien, leiden musste. Kofman antwortet: »Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass ich 6 | Hier und im Folgenden Übersetzung der Verfasserin.

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nie unter meiner Situation an der Universität als Frau gelitten habe. Denn zuerst sind die Gründe meines Leidens auf der Ebene meiner jüdischen Identität angesiedelt, ich habe in meiner Kindheit viel gelitten. Ich hatte nicht mehr das Recht, in die Schule zu gehen, mein Vater wurde deportiert, ich wurde während des gesamten Krieges verfolgt.« (Kofman inEnder 1993: 19) Butler stellt daraufhin die theoretische Frage, ob Kofman weniger Probleme hätte, als Jüdin zu sprechen. Sie stimmt mit Kofman darin überein, dass gerade die Konjunktion »als« die Distanz zu einer fixen Identität bewahrt und den Unterschied zwischen Identität und Identifikation erst bewusst macht: »Schließlich sprechen sie und ich ›als‹ Jüdin, Feministin und Philosophin, und dieses ›als‹ bedeutet beides, sowohl die Verwandtschaft als auch das Scheitern dieser Entsprechung […]. Die Vorschrift, sich zu identifizieren, setzt eine Leerstelle, eine Kluft voraus. […] Es markiert, wie ich meine, den Unterschied zwischen Identität (eine Unmöglichkeit in jedem Fall) und Identifikation.« (Butler 1993: 29). Butler macht darauf aufmerksam, dass das Ich nur anhand einer Figuration, einer Metapher und einer Substitution denkbar wird, was wiederum bedeutet, dass es keine Rückkehr zu diesem Ich gibt, außer abermals mithilfe von Figuration und Metapher (vgl. Butler 1993: 30). Butler unterbreitet in ihrem Kommentar zu Kofman einen Vorschlag für eine Refiguration jenes Ichs, das einerseits ein weibliches ist und andererseits für den (Selbst-)Ausschluss von Frauen aus der Philosophie steht: Xanthippe. Die Ehefrau des Sokrates wird in Platons Phaidon von der Abschiedsszene vor Sokrates’ Tod ausgeschlossen und weggeschickt: »Als wir nun hineintraten, fanden wir den Sokrates eben entfesselt, und Xanthippe, du kennst sie doch, sein Söhnchen auf dem Arm haltend, saß neben ihm. Als uns Xanthippe nun sah, wehklagte sie, und redete allerlei dergleichen wie die Frauen pflegen, wie O Sokrates, nun reden diese deine Freunde zum letzten Mal mit dir, und du mit ihnen. Da wendete sich Sokrates zum Kriton und sprach, O Kriton, lass doch jemand diese nach Hause führen. Da führten einige von Kritons Leuten sie ab heulend und sich übel gebärdend.« (Platon 1991: 60 a)

Xanthippe wird aus der philosophischen Szene verbannt, ihr Wehklagen wollen Sokrates und seine Freunde nicht länger hören. Das bedeutet, dass das mit Frauen assoziierte Klagen, die schmerzliche Trauer und Verzweiflung, aber auch das Zänkische, das Unverträgliche und Untragbare mittels Philosophie überwunden werden können. Die Verbannung von Schmerz scheint das tröstende Versprechen zu sein, das die Philosophie gibt. Xanthippe wird von der Möglichkeit, ihren Schmerz im Kreise von Freunden mitzuteilen und dadurch zu erdulden, ausgeschlossen. Sie erstarrt zum Fixierbild des »zänkischen Wei-

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bes«, das dem »weisen Mann« zur Zerreißprobe wird. Xanthippe ist laut Butler die konstitutive Figur, die Philosophie überhaupt erst ermöglicht hat. Für Nietzsche wird Xanthippe sogar zur Figur, die Sokrates immer mehr in die Philosophie hineintreibt: »Tatsächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigentümlichen Beruf immer mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich machte: sie lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben, wo man schwätzen und müßig sein konnte, und bildete ihn damit zum größten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zuletzt selber mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schönen Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen.« (Nietzsche 1999: 282)

Unheimlich und unhäuslich war es mit Figuren wie »Maredewitchale« und anderer jiddischer Folklore auch in Kofmans »Kinderstube« gewesen, und das nicht erst seit der Deportation des Vaters. In ihrer Autobiografie vergleicht Kofman die Klagen der Familie, als der Vater von einem Vichy-Polizisten abgeführt wird, mit den altgriechischen Klagelauten, mit denen sie erst viel später konfrontiert wurde: »Als ich zum ersten Mal in einer griechischen Tragödie das bekannte Wehklagen ›ô popoï, popoï, popoï‹ las, musste ich unwillkürlich an diese Szene aus meiner Kindheit denken, als sechs von ihrem Vater verlassene Kinder nur noch mit erstickter Stimme und in der Gewissheit, ihn nie wieder zu sehen, schluchzen konnten: ›Oh Papa, Papa, Papa‹.« (Kofman 1995: 14)

Dieses Klagen verknüpft Kofman in ihrer Autobiografie wiederholt mit der Figur ihrer Mutter. Ich gebe ein bezeichnendes Beispiel, das auch den Gegensatz zwischen den beiden Müttern auf den Punkt bringt: »Wenn ich krank war, zeigte Mémé, im Gegensatz zu meiner Mutter, nicht die geringste Beunruhigung: nachdem ich mit einer Chloroform-Maske betäubt worden bin, erwache ich auf dem Bett in dem kleinen Krankenhaus, in dem man mir die Mandeln operiert hat; die beiden Frauen sitzen an meinem Krankenbett. Ich weine und schreie vor Schmerzen. Meine Mutter fängt an, sehr laut zu reden und mich auf Jiddisch zu bedauern und will den Arzt alarmieren. Mémé sagt ganz ruhig und lächelnd: ›Das ist nichts Schlimmes, und du kannst bald viel gutes Eis schlecken!‹ Sofort höre ich auf zu weinen. An diesem Tag fühle ich vage, dass ich mich von meiner Mutter löse und mich mehr und mehr mit der anderen Frau verbinde.« (Kofman 1995: 57)

Beinahe wie Nietzsche wird sich Kofman später mit der Figur des Philosophen identifizieren, der von Leid und Schmerz, von der Unheimlichkeit des eigenen

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Heims hinaus auf den Marktplatz der Philosophie getrieben wird. Butler bezieht sich im Versuch, Kofmans Schweigen zu Frauen zu kommentieren, ganz allgemein auf einen für die Philosophie konstitutiven Ausschluss der Frauen, den Kofman bis zu einem gewissen Grad wiederholen würde. Bei Kofmans Schweigen zu Philosophinnen geht es jedoch nicht um Sokrates’ Ehefrau als eine potenzielle Konkurrentin von Männern und Frauen. In Kofmans Fall ist Xanthippe nicht die Ehefrau eines zum Tode verurteilten Mannes, sondern eher die verzweifelte Mutter von Kindern eines deportierten Vaters. Judith Butler konnte 1992, als sie ihren Kommentar schrieb, noch nicht wissen, wie wenig sie mit der Xanthippe Sarah Kofmans persönliche Ambivalenz zum Feminismus berührte. Erst mit der autobiografischen Publikation zwei Jahre später wurde vielen, die Kofman nur aus der Ferne als Lehrende und Philosophin gekannt hatten, klar, dass es nicht das historische Ereignis der Shoah bzw. die Deportation des Vaters gewesen war, welche Kofman in ihrer Kindheit traumatisiert hatte. Ihr gespaltenes und schließlich gebrochenes Verhältnis zur Mutter, die den Ausschluss der Frauen aus der Philosophie vielleicht ähnlich wie Xanthippe akzeptiert und die versucht, ihre eigene Tochter vom Studium abzuhalten – dieses negativ besetzte Verhältnis zur leiblichen Mutter verhinderte vielleicht, dass Kofman zu einer Verfechterin der »écriture féminine« wurde. Im Gegensatz zu ihren französischen Kolleginnen, die in den USA unter dem Etikett »French Feminism« zusammengefasst worden sind, dachte sie keineswegs daran, dem Phallologozentrismus gegenüber »mittels einer Archäologie der verschütteten weiblichen Libido die Sprache der Mutter neu zur Geltung« zu bringen (NaglDocekal 2008: 297). Denn sie hatte nicht nur mit einer doppelgesichtigen Mutter zu kämpfen, sondern auch eine verführerische Pariserin kennengelernt. Anfänglich wird diese Frau vom Kind zur positiv besetzen Figur einer kultivierten Französin stilisiert. Schließlich prägt aber Mémé gleichermaßen wie die biologische Mutter Kofmans philosophische Dekonstruktion der Kategorie »Frau«.

S CHLUSS Sarah Kofman und ihr Denken sind in sich gespalten – oder besser gesagt: in sich gedoppelt. Mithilfe der Philosophie und eines Schreibstils, der versucht, humorvoll und spielerisch mit dem Ernst des Lebens umzugehen, hat Kofman zeit ihres Lebens den Schmerz, den Tod und die Klage umschrieben. »Alles, was geschehen war, verlangte nach einer Erklärung. Aber während Jahren verdrängte ich alle Probleme, alle Gedanken an den Schrecken. Ich war nicht fähig, den Namen meines Vaters auszusprechen. Die theoretische Arbeit half mir beim Verdrängen: ich hatte kein Bild vom Grauen. Die Philosophie ist die abstrakteste aller Disziplinen, man kann über etwas sprechen, ohne es sehen zu müssen. […] Mir bot die [Psycho]

K RIEGE IM S ELBST – P HILOSOPHIE DER A MBIVALENZ BEI S ARAH K OFMAN Analyse die Möglichkeit, von dem zu sprechen, was verschwiegen und verdrängt worden war. Mit einer gewissen Einschränkung: es handelte sich nicht um ein Phantasma, um die Folgen eines klassischen Traumas, sondern um Geschichte – um die Geschichte, l’Histoire. Außer bei den Problemen, die mir aus der konfliktuellen Beziehung zu den zwei Frauen entstanden war.« (Kofman 2005: 16-17)

Verbannen konnte Kofman diesen inneren Konflikt jedoch weder aus ihrem Leben noch aus ihrer Philosophie. Ihre Position war keine feste, sie oszillierte zwischen den Positionen anderer und machte es sich zur Aufgabe, Lesen zu lehren und sich im Schreiben zu üben. Sie hat die kritische Lektüre von Philosophen und die Dekonstruktion von deren Genderpositionen und Frauenbildern gelehrt. Sie hat ihre Studierenden jedoch nicht gelehrt, Frauen zu lesen. Vielleicht hat Sarah Kofman Philosophinnen »ausgelassen« und somit auch sich selbst lange ausgeblendet, weil sie ihren Blick fest auf die Dekonstruktion der Philosophen gerichtet hielt. Im Interview mit Evelyne Ender wundert und freut sie sich zugleich darüber, dass zunehmend Frauen Interesse an ihrer philosophischen Arbeit zeigen. Und dass Frauen langsam begännen, ununterscheidbar von Männern zu schreiben und aus ihren Rollen als Verführerinnen auszubrechen: »Man hat die Frau immer auf die Seite der Verführung und der Literatur gestellt […]. Der Charme der Literatur oder der Kunst wurde lange als Mittel gesehen, Ideen einzuschleusen, zu bezaubern, wie ein Narkotikum einzuschläfern und zu täuschen. […] Es schien mir, als müsste man das Schreiben als etwas anderes wahrnehmen als eine magische Kunst der Verzauberung, um Ideen einzuschleusen, Literatur befreien von der Vorstellung, dass sie eine bestimmte Botschaft zu übermitteln hätte, und dass man von Frauen nicht mehr als Verführerinnen denken sollte. […] Es war immer die Frau, die in Versuchung geführt hat, Eva, Pandora […].« (Kofman in Ender 1993: 21-22)

Zwischen der klagenden Mutter, einer refigurierten Xanthippe, und der verführerischen Frau, Eva oder Pandora, suchte Kofman einen neuen Weg, eine andere Art zu schreiben. In vielen ihrer Bücher ist ihr das gelungen.

L ITER ATUR Butler, Judith (1993): A Response to Sarah Kofman. In: Compar(a)ison 1, Bern/ Berlin/Frankfurt a. M./New York/Paris/Wien: Peter Lang Verlag, S. 27-32 Castro Varela, María do Mar (2004): Utopien. Kitsch, Widerstand und Politische Praxis. In: Susanne Kollmann/Kathrin Schödel (Hg.): PostModerne De/ Konstruktionen. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche, Berlin/ Hamburg/Münster: LIT Verlag, S. 111-122

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Deuber-Mankowsky, Astrid (1991): Schreiben ohne Macht. Ein Gespräch mit Sarah Kofman. In: Die Philosophin 3, Tübingen: edition diskord, S. 103-109 Deuber-Mankowsky, Astrid (1997): In unendlicher Distanz zu sich selbst. Sarah Kofmans Denken der radikalen Alterität. In: Die Philosophin 15, Tübingen: edition diskord, S. 24-43 Ender, Evelyne (1993): Interview avec Sarah Kofman. 22 mars 1991: Subvertir le philosophique ou Pour un supplément de jouissance. In: Compar(a)ison 1, Bern/Berlin/Frankfurt a.  M./New York/Paris/Wien: Peter Lang Verlag, S. 9-26 Foucault, Michel (1996): Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983. Berlin: Merve Kofman, Sarah (1983): Comment s’en sortir? Paris: galilée Kofman, Sarah (1986): Rousseau und die Frauen. Tübingen: Konkursbuch Verlag Kofman, Sarah (1990): Séductions. De Sartre à Hérclite. Paris: galilée Kofman, Sarah (1995): Rue Ordener, Rue Labat. Tübingen: edition diskord Kofman, Sarah (2005): Erstickte Worte, Wien: Passagen Nagl-Docekal, Herta (2008): Feministische Philosophie: Wie Philosophie zur Etablierung geschlechtergerechter Bedingungen beitragen kann. In: Ruth Becker/Beate Kortendieck (Hg.), Handbuch Frauen und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 295-304 Nietzsche, Friedrich (1999): Menschliches, Allzumenschliches. In: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter, Bd. 2, § 433 Platon (1991): Phaidon. In: Platon. Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch, nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl und anderen, herausgegeben von Karlheinz Hülser, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel Verlag, Bd. IV Radisch, Iris (1995): Der Tod ist schlimmer als der Tod. In: Die Zeit 08, S. 62 Young, James Edward (1997): Beschreiben des Holocaust: Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Gewalt im kolonialen und postkolonialen Kontext Kamerun als Fallbeispiel Daniel Romuald Bitouh

In diesem Beitrag, den man durchaus als Rede ins Gewissen betrachten könnte, wird den Fragen nachgegangen, wie die ethnische Vielfalt Kameruns bzw. Afrikas zum Konfliktpotenzial gemacht wurde/wird und wie dieses Konfliktbzw. Gewaltpotenzial entschärft werden könnte, wobei der Schwerpunkt auf Kamerun liegt. Manche Gedanken, Figuren und Figurationen von Frantz Fanon werden als theoretische Ansatzpunkte im Zuge der Ausführungen herangezogen. Fanons Werk ist aus dem speziellen historischen Kontext seiner persönlichen Erfahrung kolonialer Doppelweltlichkeiten entstanden. Er wurde auf dem Papier zum Franzosen erklärt, aber im weißen kolonialen Alltag als Bürger zweiter Klasse behandelt – sowohl in Martinique und in der französischen Armee bzw. Gesellschaft als auch während seiner Praxis als Psychiater im kolonialen Algerien. Algerien erscheint bei Fanon als Metapher für koloniale Grausamkeiten und Ambivalenzen. Ein dunkler Ort, wo Fanon erneut erfahren musste, dass die Ideale der französischen Revolution, Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, die allen französischen Staatsbürgern feierlich versprochen wurden, Illusionen waren. Die Bevölkerung im kolonialen Algerien lebte mit alltäglichen Erfahrungen der Enthumanisierung und Entpersönlichung und hatte keine andere Wahl, als auf koloniale Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren. »This violence arises from the simple fact that colonialism created a diremption between the ideals of French Republicanism and the practice of political citizenship«, bemerkt Azzedine Haddour (Haddour 2006: xvi). Die Gegengewalt des Kolonisierten erscheint dann als eine Reaktion auf die epistemische Gewalt der kolonialen Situation. Morde, Tötungen oder Sabotageakte stellen deren extremste Formen dar, welche Fanon allerdings weder befördert noch verherrlicht. Ganz im Gegenteil weist er auf die Gefahr solcher Methoden hin, denn diese Formen der Gewalt richtet der Kolonisierte nicht nur gegen den weißen Kolonialherrn, sondern auch gegen sich selbst und gegen seine eigenen Brüder. Selbstzerstörungs- bzw. Selbstsabotageakte erscheinen als Mittel, um sich der aufgestauten Wut zu entledigen. »Die leibhaftige Selbstzerstörung eines Kollektivs ist also

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einer der Wege, auf denen sich die physische Anspannung des Kolonisierten entlädt.« (Fanon 1969: 42) »Während der Kolonialherr oder der Polizist den Kolonisierten den ganzen Tag lang ungestraft schlagen, beschimpfen, auf die Knie zwingen kann, wird derselbe Kolonisierte beim geringsten feindlichen oder aggressiven Blick eines anderen Kolonisierten sein Messer ziehen. Denn die letzte Zuflucht des Kolonisierten besteht darin, seine Würde gegenüber seinesgleichen zu verteidigen. In den Stammesfehden leben die alten, in das kollektive Gedächtnis eingegangenen Ressentiments wieder auf. » (Ebd.: 42)

Gegengewalt kleidet sich in unterschiedliche Formen, u.  a. in die Form der Selbstaufgabe durch die Entwicklung einer fatalistischen Haltung sowie durch die Hinwendung zu mythisch-magischen Strukturen (vgl. ebd.: 42). »[A]us den schreckenerregenden Mythen, an denen die unterentwickelten Gesellschaften so reich sind, leitet der Kolonisierte Hemmungen und Verbote ab, die seine Aggressivität eindämmen: unheilvolle Geister suchen jedes Mal heim, wenn er einen falschen Schritt tut, Leopardenmenschen, Schlangenmenschen, sechsbeinige Hunde, Zombies, eine ganze Menagerie von winzigen oder riesenhaften Tieren, baut um den Kolonisierten eine Welt von Verboten, Absperrungen, Hemmungen auf, weit schrecklicher als die kolonialistische Welt. Dieser magische Überbau, der die Eingeborenengesellschaft prägt, erfüllt in der Dynamik der Libidostruktur präzise Funktionen.« (Ebd.: 42)

Fanon unterstreicht die Funktion solcher magisch-mythischen Strukturen. Sie verkörpern das kulturelle Unbewusste, eine Art kollektives Gedächtnis, und spielen gesellschaftlich gesehen eine integrative, identitätsstiftende Rolle – trotz ihrer schreckenerregenden Seiten. »Die Atmosphäre von Mythos und Magie verhält sich, indem sie mir Angst macht, wie eine unzweifelhafte Realität. Indem sie mir Schrecken einjagt, integriert sie mich in die Traditionen, in die Geschichte meines Landstriches oder meines Stammes, aber gleichzeitig beruhigt sie mich, sie gewährt mir einen Status, stellt mir einen Bürgerbrief aus.« (Ebd.: 43)

Voodoo und Candomble – von schwarzafrikanischen Sklaven in die Karibik, nach Lateinamerika und in die USA mitgebrachte und praktizierte mystischreligiöse Strukturen – übernahmen diese Aufgabe. »Im Kreis des Tanzes ist alles erlaubt. Er beschützt und ermächtigt. Zu festgesetzten Stunden, an festgesetzten Daten, finden sich Männer und Frauen an einem gegebenen Ort zusammen und werfen sich unter dem strengen Auge des Stammes in eine scheinbar ungeordnete, in Wirklichkeit aber streng geregelte Pantomime, wo sich auf vielfache

G EWALT IM KOLONIALEN UND POSTKOLONIALEN K ONTEXT . K AMERUN ALS F ALLBEISPIEL Weise – Neigungen des Kopfes, Krümmen der Wirbelsäule, Zurückwerfen des ganzen Körpers – handgreiflich die grandiose Anstrengung eines Kollektivs äußert, sich durch Exorzismen zu befreien und auszudrücken. Der kleine Hügel, den man erstiegen hat, wie um dem Monde näher zu sein, das Ufer, das man hinabgeglitten ist, wie um Äquivalenz von Tanz und Waschung, Reinigung auszudrücken, das sind geheiligte Orte. Alles ist erlaubt, denn man versammelt sich nur, um die angestaute Libido, die verhinderte Aggressivität vulkanisch ausbrechen zu lassen. Symbolische Tötungen, bildliche Ritte, vielfältige eingebildete Morde, all das muß herauskommen. Die bösen Säfte ergießen sich, donnern wie Lavamassen.« (Ebd.: 44)

Eine Voodoo- oder Candomble-Tanzveranstaltung versetzt den Beteiligten in einen Raum bzw. eine Zeit, in dem/an der der Mensch seine Frustrationen entlädt. Man glaubt, durch den Tanz und während des Tanzes die eigene Seele, die Probleme der Gesellschaft zu läutern. Der Veranstaltung kommt eine Art kathartische sowie integrative Rolle zu. Fanon macht aber auch auf die unterdrückende bzw. kolonisierende Dimension solcher magischen Strukturen aufmerksam, die den Schwarzen sozusagen geistig gefangen halten. »Die Zombies, glauben Sie mir, sind viel schreckenerregender als die Kolonialherren. Und das Problem besteht dann nicht mehr darin, sich nach der eisenstrotzenden Welt des Kolonialismus auszurichten, sondern dreimal nachzudenken, bevor man uriniert, ausspuckt oder in die Nacht hinausgeht.« (Ebd.: 43). Wenn also Fanon von Gewalt im kolonialen Kontext spricht, meint er nicht nur Gewalt, die aus dem kolonialen Machtdispositiv, sondern vor allem auch jene, die aus den mythisch-magischen Strukturen der Einheimischen hervorgeht. Aber Fanons Vision der Dekolonisierung ist auch eine Art und Weise, die kolonisierende Dimension solcher magischen Strukturen zu entlarven. »Wir haben gesehen, dass diese Gewalt während der ganzen Kolonialperiode, obwohl sie sich unter der Haut ansammelt, leerläuft. Wir haben gesehen, wie sie durch die emotionalen Entladungen des Tanzes oder der Besessenheit kanalisiert wird. Wir haben gesehen, wie sie sich in Bruderkämpfen erschöpft. Das Problem ist jetzt, zu begreifen, wie diese Gewalt sich reorientiert. Während sie sich zuvor in Mythen gefiel und Gelegenheiten für einen kollektiven Selbstmord suchte, werden ihr nun neue Bedingungen ermöglichen, die Richtung zu wechseln.« (Ebd.: 45)

Aus dieser Passage geht hervor, dass die unterschiedlichen Erscheinungsformen der kolonialen Gegengewalt keineswegs zur geistigen Befreiung führen. Die kolonisierten intellektuellen und kaufmännischen Eliten sowie deren politische Parteien präsentieren sich in der Periode der Dekolonisierung als neue Ansatzpunkte für die Gewalt der Kolonisierten (vgl. ebd.: 45). Fanon stellt aber fest, dass diese Eliten und die bäuerlichen Massen keineswegs dieselbe Sprache sprechen. Die eigentliche Diskrepanz zwischen beiden Schichten liegt in

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ihrer jeweiligen erlebten Erfahrung. »Für das kolonisierte Volk ist der wichtigste, weil konkreteste Wert zuerst das Land: das Land, das das Brot […] sichern muß.« (Ebd.: 34). Die kolonisierten Eliten hingegen, die die einstigen Kolonialherren vermitteln und ersetzen, sind auf reinen Opportunismus eingestellt, organisieren die Veruntreuung staatlicher Gelder und die Plünderung von Rohstoffen. »Als verwöhnte Kinder, gestern des Kolonialismus, heute der neuen Staatsmacht, organisieren sie die Plünderung der Reichtümer, die dem Land geblieben sind. Unerbittlich versuchen sie durch Schiebung oder legale Diebstähle, durch Import-Export, durch Aktiengesellschaften, Börsenspekulation, Schiebungen, sich herauszuziehen aus der Misere, die jetzt eine nationale ist.« (Ebd.: 37)

Fanon hält diese intellektuelle Elite für schuldig an der nationalen Misere unzähliger afrikanischer Staaten nach der Unabhängigkeit. »Man sieht also, dass der ursprüngliche Manichäismus, der die Kolonialgesellschaft beherrschte, in der Dekolonisationsperiode intakt geblieben ist.« (Ebd.: 39). Fanon nimmt am Kampf der algerischen Befreiungsfront teil, grenzt sich aber von reaktionärem, kleinkariertem Nationalismus jeglicher Art ab. Gerade in der Auffassung von Dekolonisierung als unvollendetem Prozess liegt u.  a. die postkoloniale Relevanz Fanons’ Denken. Wobei Postkolonialität – in Anlehnung an Homi Bhabha – auf das Fortbestehen kolonialer Verhältnisse in verschobenen Formen in unserer heutigen Welt hinweist (vgl. Bhabha 1994: 6). Von diesen und anderen Gedanken, Figuren und Figurationen aus Fanons Werk wird ausgegangen, um Gewalt im kolonialen sowie im postkolonialen Kamerun auf den Grund zu gehen. Ins Spiel kommen auch historische, literarische, soziologische Fakten sowie Erfahrungen. Kamerun wird in Geschichtsbüchern pars pro toto als Afrika im Kleinen dargestellt. Dieses westafrikanische bzw. zentralafrikanische Land zeichnet sich nicht nur durch eine Vielfalt im Bereich der Fauna und Flora, sondern vor allem auch im Bereich der Volksgruppen bzw. Ethnien, die dieses Land bevölkern, aus. Es gibt ungefähr 230 Ethnien und genauso viele Sprachen, unterteilt in drei ethnische bzw. sprachliche Obergruppen: Bantu, Semi-Bantu, Fulani. Dazu kommt, dass dieses Land die Erfahrung der imperialen Begegnung mit allen klassischen europäischen imperialen Mächten durchgemacht hat, wobei Deutschland, Frankreich und England dessen Geschichte besonders geprägt haben. Im Mittelpunkt dieser europäischen Kolonialherrschaft in Kamerun und afrikaweit stand die Ethnie (vgl. Fanon 1969: 72). Bestimmte Ethnien wurden zu Herrschaftszwecken strategisch und instrumental herangezogen. Diese Herrschaftsstrategie hat die Unabhängigkeit überlebt und besteht im postkolonialen Kamerun fort. Das Land wird offiziell als stabil bzw. friedlich dargestellt. Bestimmte gewaltvolle binäre Oppositionen kursieren allerdings landesweit

G EWALT IM KOLONIALEN UND POSTKOLONIALEN K ONTEXT . K AMERUN ALS F ALLBEISPIEL

und bedingen und bestimmen den politischen Alltag: Beti1 versus Bamiléké2, Französischsprechende versus Englischsprechende, ›Südisten‹ versus ›Nordisten‹3, Christen versus Muslime.

1. G E WALT IM KOLONIALEN K AMERUN : ZUR B EDEUTUNG DER E THNIE IN DER KOLONIALEN G OUVERNEMENTALITÄT Der Begriff Kamerun ist portugiesischen Seefahrern zu verdanken, die während eines Aufenthalts an der Küste Kameruns feststellten, dass das Duala-Flussdelta von Garnelen wimmelte. Der Fluss wurde auf Portugiesisch nach den dort auftretenden Garnelen ›Rio dos camaroes‹ genannt. Davon wurde die deutsche Bezeichnung ›Kamerun‹ abgeleitet, welche später als ›Cameroun‹ ins Französische und als ›Cameroon‹ ins Englische übersetzt wurde. Offiziell wurde Kamerun mit dem Hissen der deutschen Flagge auf dem ›Plateau Joss‹ in Duala am 13. Juli 1884 unter Generalkonsul Dr. Gustav Nachtigal4 zum ›Schutzgebiet‹ Deutschlands. Die Duala5 waren die Ersten, die in Berührung mit den europäischen Kolonisatoren – und somit mit der Außenwelt – kamen und Europareisen antraten. Das Verhältnis der deutschen Kolonialherren zu den Duala und anderen Ethnien der Küste (den Bakoko und Bakweri) war jedoch sehr ambivalent. Die gewaltvollen Enteignungen sowie die damit verbundenen Demütigungen und Gräueltaten waren der zentrale Punkt der Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Kolonialherrschaft und den Duala. »Much Hardship was suffered by Camerounians under German Rule, especially by the people compelled to undertake the debilitating ›portage‹ work for traders and those conscripted into works-gangs on the cocoa and banana plantations. Of exceptional cruelty was the long administration of Governor von Puttkamer (1895-1907), who in1 | Die Beti bilden eine sprachliche und ethnische Gemeinschaft in Südkamerun, die in drei weitere Untergruppen, nämlich die Ewondo, die Eton und die Fang, unterteilt ist. Sie sind dem afrikaweiten Bantuvolk zugehörig. 2 | Die Bezeichnung ›Bamiléké‹ steht für eine sprachliche und ethnische Gemeinschaft in Westkamerun, die sich aus weiteren Untergruppen zusammensetzt und auch den Bantusprachen zugehörig ist. 3 | ›Südisten‹ und ›Nordisten‹ sind in Kamerun verwendete Bezeichnungen für Menschen aus Südkamerun bzw. aus Nordkamerun. Dabei bleibt die ethnische Zugehörigkeit das Hauptunterscheidungsmerkmal. 4 | Gustav Nachtigal (1835-1885), deutscher Afrikaforscher, der eine Schlüsselrolle im Aufbau des deutschen Kolonialimperiums spielte. 5 | Die Duala sind eine ethnische und Sprachgemeinschaft des Bantuvolks in Südwestkamerun, die wiederum aus weiteren Untergruppen besteht.

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D ANIEL R OMUALD B ITOUH troduced to the Cameroons this nefarious policy of ›scientific exploitation‹« (A. Joseph 1977: 21)

Die von der deutschen Kolonialmacht in Kamerun inszenierten Grausamkeiten prägen das kollektive Bewusstsein vieler Kameruner bis heute. In fast allen Gegenden Kameruns erinnert man sich an den Namen eines bestimmten deutschen Kolonialgouverneurs wegen der eingesetzten Demütigungsmethoden (ebd.: 21). Meine Großmutter sprach immer von ›fünfundzwanzig drunter‹. Sie spielte damit auf die berühmt-berüchtigten »Verurteilungen zu fünfzig [bzw. fünfundzwanzig] Hieben mit der Rhinozerospeitsche« (Graichen/ Gründer 2005: 106) an. Der deutsche Gouverneur Jesco von Puttkamer6 lebte in den Erinnerungen dieser alten Frau weiter, was davon zeugt, dass das kulturelle Unbewusste der kamerunischen Gesellschaft von dieser imperialen Begegnung nachhaltig gestaltet und gezeichnet wurde. Die deutschen Kolonisatoren hatten dem Land aber auch zu wirtschaftlichem Aufschwung verholfen: Kolonialplantagen wurden gegründet, Bauwerke, Straßen und Brücken errichtet; vorwiegend wurde jedoch die Rohstoffindustrie angekurbelt (Kautschuk, Bananen, Kaffee, Kakao, Tee, Bodenschätze usw.). Koloniale Enteignungen waren ein verbreitetes Phänomen afrikaweit. Joseph Conrad in seinem kontroversen Kongo- bzw. London-Roman Heart of Darkness sowie der deutsche Schriftsteller Uwe Timm in seinem Roman Morenga beleuchten die Begleitumstände solcher Enteignungen: »Six black men advanced in a file, toiling up the path. They walked erect and slow, balancing small baskets full of earth on their heads, and the clink kept time with their footsteps. Blacks rags were wound round their loins and the short ends behind waggled to and fro like tails. I could see every rib, the joints of their limbs were like knots in rope; each had an iron collar on his neck and all were connected together with a chain whose bights swung between them, rhythmically clinking.« (Conrad 1902: 32f)

6 | Jesco von Puttkamer, deutscher Gouverneur der Kolonie Kamerun zwischen 18951907. Er war »selbst Aktionär der westafrikanischen Pflanzungsgesellschaft Victoria […]. Am 15. Juni 1896 ließ er per Verordnung alles ›herrenlose Land‹ als ›Kronland‹ deklarieren und beschränkte den lebensnotwendigen Besitz einer afrikanischen Familie auf weniger als zwei Hektar. Hinzu kam die zwangsweise Zusammenlegung von Dörfern der Eingeborenen im Interesse einer geschlossenen Anbaufläche und rationelleren Arbeiterrekrutierung. Letztlich gaben jedoch Puttkamers private Skandalaffären und die generellen Vorwürfe gegen seine Handhabung der Verwaltung und Rechtsprechung den Ausschlag für seinen Sturz im Mai 1907.« (Vgl. Graichen/Gründer 2005: 107). Näheres über die Figur ›von Puttkamer‹ ist ebenda zu erfahren.

G EWALT IM KOLONIALEN UND POSTKOLONIALEN K ONTEXT . K AMERUN ALS F ALLBEISPIEL »Das Ziel der Eingeborenen-Politik ist der gutgenährte Sklave. Erst die Eisen am Hals, später – und das ist die eleganteste Lösung – im Kopf. Endziel: der Sklave, der sein Sklavendasein bejaht.« (Timm 1985: 143)

Die Deutschen enteigneten die Duala und siedelten sie landeinwärts um. Rudolph Duala Manga Bell7 setzte sich zu Wehr. Er schrieb Petitionen an den deutschen Reichstag, nahm auch Kontakte mit Engländern und Franzosen für eine mögliche Unterstützung auf, versuchte, eine Widerstandsfront zu bilden, indem er die Unterstützung anderer kamerunischer ethnischer Gruppen suchte. Die deutsche Kolonialmacht erfuhr von diesen Plänen, er wurde daraufhin als Hochverräter festgenommen und zum Tode durch den Strang verurteilt. Am 8. August 1914 wurde Rudolph Duala Manga Bell gemeinsam mit seinem Sekretär und Verwandten Ngoso Din von der deutschen Kolonialmacht öffentlich exekutiert (vgl. Graichen/Gründer 2005: 110). Solche Grausamkeiten wurden bewusst als große Spektakel inszeniert und dienten der Abschreckung. Gefangene auf diese Weise hinzurichten, gehörte zu den Techniken und Technologien der Kolonialmacht, die kolonisierten Subjekte geistig und körperlich zu zeichnen. Solche Praktiken gemahnen an ein schreckliches Bild aus Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie: Ein farbiger, in Ketten gelegter Gefangener, dem »Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten« (Kafka 1919: 164) vorgeworfen wird, liegt nackt unter einer grotesken Todesmaschine. Vor den ohnmächtigen Zuschauern der Willkür eines allmächtigen Kommandanten preisgegeben, dessen kolonialer herabsetzender Blick den nackten Körper des Gefangenen aufbricht: »ein stumpfsinniger breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar und Gesicht« (ebd.). Die Beti im Allgemeinen und die Ewondo im Besonderen sind anscheinend diejenigen, die bei den Deutschen in gutem Ruf gestanden haben. Manche ihrer Dorfchefs sowie einige Duala-Kings arbeiteten mit der Kolonialmacht zusammen. Häuptlinge aber, die nicht kooperieren wollten, wurden Opfer von demütigenden öffentlichen Prügelexzessen oder ohne Weiteres des Amtes enthoben (vgl. Graichen/Gründer 2005: 108). Karl Atangana8 , ›kooperationswilliger Mittelsmann‹, wurde von der deutschen Kolonialverwaltung zur effektiven Beherrschung der Ewondo-Bevölkerung eingesetzt. Der deutsche Gouverneur Hans Dominik ernannte ihn zum ›Oberhäuptling‹. Zeitgleich gewann Atangana Macht und Einfluss unter deutschem Schutz als Vertreter einer neuen indigenen Elite. Atangana erinnert an die Figur Meka aus dem Roman Le vieux nègre et la médaille (Der alte Neger und die Medaille) des kamerunischen Schrift7 | Rudolph Manga Bell (1873-1914), König der Duala, leistete Widerstand gegen die Enteignung des Duala-Volkes. 8 | Karl Atangana (1880-1943), Oberhäuptling der Ewondo und Bane und politische Figur in Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft.

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stellers Ferdinand Leopold Oyono. Als Belohnung für seine jahrzehntelange Unterwürfigkeit und Loyalität gegenüber der kolonialen Ordnung erhielt Meka eine Medaille. Die Medaille – vom kolonialen Hauptkommissar persönlich an Mekas Brust geheftet – erweckt in ihm ein gewisses Gefühl der Macht. Er fühlt sich zur indigenen Elite erhoben und sieht von diesem Augenblick an auf seine Artgenossen herab (Oyono 1956: 103). Die Verleihung von Medaillen gehörte damals zum kolonialen Machtdispositiv und dessen Techniken der Subjektivierung. Auf ähnliche und andere Techniken der Subjektivierung verweist Achille Mbembe, wenn er schreibt: »On doit également considérer le régime colonial comme un régime des objets, une vaste syntaxe, faite de cérémonial, de formalités publiques, de hiérarchies, de différents rôles et places, de signes de prestige, de pensions, rétributions et gratifications, de régularités : pas seulement une ›dogmatique‹, mais aussi une ›prosaïque‹. Et encore : un ›savoir vivre‹, des manières de se présenter en public, un ordre particulier de ›politesses‹ et de ›convenances‹, une économie spécifique du besoin, de l’envie, du désir et de la parure. Et c’est à l’intérieur de cette unité de domination que se constituait l’identité du colonisé.« (Mbembe 1996: 9)

Im Ersten Weltkrieg verloren die Deutschen ihre Kolonien, Deutschland wurde zur ›feindlichen Ethnie‹. Frankreich und England bekamen vom Völkerbund den Auftrag, Kamerun zur Selbstständigkeit zu führen. Franzosen und Engländer waren jetzt also an der Macht und setzten alles daran, die Deutschen zu diskreditieren und die Sympathien der Kameruner zu gewinnen. Sie begannen mit der Organisation eines politischen Lebens im Land; politische Parteien mit ethnischer Prägung wurden gegründet (Alima 1977: 55- 60). Die Taktik der ›ethnischen Gouvernementalität‹ wurde jedoch mit neuen gewaltvollen Methoden fortgesetzt. Die Texte des kamerunischen Schriftstellers Mongo Beti schildern beispielsweise ein Kamerun unter französischer Kolonialherrschaft; die Handlung ist jeweils im südkamerunischen Urwald angesiedelt. Die armen Dorfbewohner sind meistens der Willkür französischer und griechischer Kakaoankäufer ausgeliefert, unter der Mittäterschaft von Gendarmeriewachmeistern. So verhält es sich auch im Fall der Figur des Banda aus Mongo Betis Roman Ville cruèlle, die ein Opfer dieser Rhetorik der Macht, ›Rhetorik of power‹ wird. Seine Kakaobohnen werden willkürlich als nicht trocken, als schlecht eingestuft – »Mauvais, ce cacao… très mauvais. Au feu!« (Beti 1971: 46) – und deshalb beschlagnahmt und angeblich verbrannt. In Wahrheit werden die konfiszierten Bohnen jedoch nicht vernichtet, die gestohlene Ware geht in das Eigentum des Ankäufers über, wofür die Wachtmeister Trinkgelder von diesem kassieren. Beim Versuch, gegen diese Enteignung Widerstand zu leisten, wird Banda öffentlich verprügelt und festgenommen. Banda hatte ursprünglich den Plan, die Behandlung seiner schwerkranken Mutter mit dem Erlös aus dem Verkauf der

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wertvollen Bohnen zu finanzieren (vgl. Beti 1971: 45-75). Koumé – eine weitere Figur aus Ville cruèlle – schuftet als Mechanikergehilfe unter entwürdigenden Bedingungen in der kolonialen Werkstatt eines Griechen, der ›Herr T‹ genannt wird. Monatelang wartet er vergeblich auf seine Entlohnung. Schließlich führt Koumé eine Gruppe von aufgebrachten, streikenden Mechanikern gegen den Ausbeuter an. Der Grieche wird ermordet und seines Vermögens beraubt. Die Gendarmen kämmen die ganze Stadt sowie die umliegenden Dörfer durch, aber Koumé ist untergetaucht (Beti 1971: 78-79). Am Beispiel der Figur Koumé zeigt sich, wohin die strukturelle Gewalt des Machtdispositivs einer Gesellschaft ein Individuum führen könnte. Koumé und dessen Mitstreiter reagieren auf ein gewaltvolles Machtdispositiv bzw. auf die manichäische Ordnung, die in der Stadt Tanga herrscht. Mongo Beti schildert die zwei Gesichter dieser Stadt: ›Tanga Süd‹ und ›Tanga Nord‹. Tanga Süd war der Stadtteil des Kolonialbeamtentums und der Wohlhabenden; bewohnt wurde dieser Stadtteil vorwiegend von französischen Kolonialbeamten und griechischen Händlern. Letztere besaßen Warengeschäfte, während die Kameruner, die in diesen Geschäften arbeiteten, meist subalterne Posten innehatten (ebd.: 18). Auffallend an dieser Stadt ist ihre koloniale Geografie. Tanga Nord und Tanga Süd bildeten zwei gegensätzliche Welten, standen für gegensätzliche Schicksale. Tanga Süd, die Stadt der Machthaber und Ausbeuter, kehrte Tanga Nord, dem Stadtteil der Macht- bzw. Stimmlosen und Zu-kurz-Gekommenen, den Rücken. Tanga Nord war quasi ein von der Stadtverwaltung vergessener Stadtteil, von heruntergekommenen Existenzen bevölkert. Verlassene Kinder, Waisenkinder, Witwen, Alkoholiker, Marktfrauen, Küchengehilfen, sogenannte ›Zusammenbastler‹, Landflüchtlinge usw., all diese Menschen waren auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Der Stadtverwaltung blieb die Zahl der in Tanga Nord lebenden Menschen ein Rätsel – undokumentierte Menschen, deren Existenz durch solche und in solchen Konstellationen als lebensunwertes Leben abgetan wurde (ebd.: 24-25). Die Elemente des kolonialen Machtdispositivs im kolonialen Kamerun, ob unter Deutschen, Franzosen oder Engländern, war eine »heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz Gesagtes ebenso wie Ungesagtes […]« (Ruoff 2007: 101) Ziel eines solchen Dispositivs war es, Subjekte zu gestalten bzw. die Konstruktion von Subjekten durch Disziplinarmaßnahmen (in der Schule, in der Kirche, in Gefängnissen usw.), durch eine bestimmte Gestaltung des öffentlichen Raumes (Hierarchisierungen, Klassifizierungen, Überwachung und Strafen), durch eine besondere Bewirtschaftung des Landes (Rohstoffindustrien, Kolonialplantagenwirtschaft usw.) sowie durch bestimmte öffentliche Rituale (die Verleihung von Medaillen, die militärischen Paraden, die z. B. den öffentlichen

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Auftritt des Gouverneurs begleiteten). Dieses koloniale Machtdispositiv bildete eine Einheit der Unterdrückung, »une unité de domination« (Mbembe 1996: 9). Auch Franz Fanon schildert dieses gewaltvolle Machtdispositiv, das auch in der physischen Architektur der kolonialen Welt zum Ausdruck kommt. »Le monde colonial est un monde compartimenté«. (Fanon 1969: 7) »[…] un monde coupé en deux. La ligne de partage, la frontière en est indiquée par les casernes et les postes de police. Aux colonies, l’interlocuteur valable et institutionel du colonisé, le porte – parole du colon et du régime d’oppression est le gendarme ou le soldat. Dans les sociétés de types capitaliste, l’enseignement, religieux ou läique, la formation de reflexes moraux transmissibles de père en fils, l’honnêteté exemplaire d’ouvriers décorés après cinquante années de bons et loyaux services, l’amour encouragé de l’harmonie et de la sagesse, ces formes ethétiques du respect de l’ordre établi, créent autour de l’exploité une atmosphère de soumission et d’inhibition qui allège considérablement la tâche des forces de l’ordre.« (Ebd.: 7f)

Die Sabotageakte der oppositionellen Partei U.P.C.9 im kolonialen Kamerun erscheinen als Reaktion gegen das damalige Machtdispositiv (Joseph 1997: 1). Diese revolutionäre Partei machte der französischen Kolonialmacht sehr zu schaffen. In der Rhetorik der Kolonialmacht aber war diese Partei nichts anderes als eine Bande von hysterischen und verlorenen Menschen (vgl. Alima 1977: 22; Joseph 1977: 1). Der Widerstand gegen die französische Kolonialmacht war in der Bassá- und Bamiléké-Gegend10 viel heftiger als anderswo im Land. Und die historische Figur Ruben Um Nyobè, der aus der Bassá-Gegend stammte, gilt bis heute als eine der herausragenden Figuren des Widerstands im kolonialen Kamerun. Er war der Anführer eines sowohl militärischen als auch intellektuellen Guerillakrieges gegen die französische Kolonialmacht. Ruben Um Nyobè war eine charismatische, fast prophetische Figur. Er übernahm die Führung der U.P.C.; diese Partei wurde aber im Jahr 1955 offiziell verboten und somit für illegal erklärt. In der Folge versteckten sich Ruben Um Nyobè und seine Anhänger im Urwald und organisierten von dort aus den bewaffneten Widerstand. Die damals von der Kolonialmacht für diese Widerstandsbewegung verwendeten Bezeichnungen »maquis« und »maquisard« sollten nicht nur einen Hinweis auf den Urwald, das Versteck der U.P.C.-Widerstandskämpfer, sondern auch eine Betonung der barbarischen und somit illegalen Natur dieses Kampfes liefern (vgl. Achille Mbembe 1996: 13-17). Die Franzosen spielten die Beti gegen

9 | U.P.C.: Union des populations camerounaises (also Vereinigung kamerunischer Völker). 10 | Bassá: Bezeichnung für eine ethnische und sprachliche Gemeinschaft in Südkamerun. Sie gehört zu den Bantusprachen.

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die Bassá und Bamileké aus. Ein gewisser André-Marie Mbida11 , ein Beti, stand bei den Franzosen in gutem Ruf. Die Franzosen spielten ihn gegen den Bassá Ruben Um Nyobè aus. Beide stammen aus Südkamerun. Um Nyobè durchschaute diese ethnische Gouvernementalität und hielt Folgendes in einem Brief an Andre-Marie Mbida fest: »[…] Nous reconnaissons la valeur historique des ethnies de notre peuple. C’est la source même d’oú jaillira la modernisation de la culture nationale. Mais nous n’avons pas le Droit de nous servir de l’existence des ethnies comme moyen de luttes politiques ou de conflits de personnes […]« »[…] [R]ompre avec un tribalisme périmé et un régionalisme rétrograde, qui à l’heure actuelle comme dans l’avenir, répresentent un réel danger pour la promotion et l’épanouissement de cette nation camerounaise.« (Um Nyobè 1957)

In diesem Brief wertet Um Nyobè die historische Bedeutung der Ethnien auf und warnt gleichzeitig vor deren strategischer Heranziehung zu Machtzwecken. Im Jahr 1958 wurde er von einer Strafexpedition ermordet und seine sterbliche Hülle wurde sogar profaniert (Mbembe 1996: 14-15). Andere setzten seinen Kampf fort, nämlich Félix Moumié, Abel Kingé und Ernest Ouandié. Alle drei kamen aus Westkamerun und wurden in der Folge ebenfalls ermordet. Der Teil Kameruns, der unter französischer Kolonialherrschaft stand, erlangte seine Unabhängigkeit im Jahr 196012 . Ahmadou Ahidjo wurde zum ersten Präsidenten des unabhängigen Kamerun ernannt, unter ihm entstanden jedoch neue bedenkliche koloniale Grenzziehungen.

2. G E WALT IM POSTKOLONIALEN K AMERUN : E RFINDUNG /E NTSTEHUNG VON NEUEN BEDENKLICHEN KOLONIALEN G RENZ ZIEHUNGEN Über die Amtszeit Ahmadou Ahidjos äußert sich Maurice Kamto wie folgt: »M. Ahmadou Ahidjo apparaissait en effet comme le chantre de l’Unité nationale au Cameroun. Mais il s’agissait bien simplement d’une apparence. Car, à l’analyse, l’idée d’Unité nationale a abouti sous son règne exactement à son contraire. Elle a été minée par l’absolutisme du pouvoir qui entraîne l’intolérance politique, par l’artifice de 11 | André-Marie Mbida: (1917-1980) war der allererste ›Premier Ministre‹ in Kamerun von Mai 1957 bis Januar 1958 unter französischem Mandat. 12 | Der Teil Kameruns unter englischer Herrschaft erlangte seine Unabhängigkeit im Jahr 1961. Im selben Jahr vereinigten sich das französische und das englische Kamerun.

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D ANIEL R OMUALD B ITOUH ›l’équlibre‹, et suprême fléau, par l’éthnisme. Elle n’aura été qu’une arlésienne!« (Kamto 1986: 8)

Dem kamerunischen Rechtwissenschafter und Politologen Maurice Kamto kommt es auf eine kritische Beleuchtung der Frage der nationalen Einheit Kameruns an. Ins Rampenlicht seiner Kritik gerät vor allem das Kamerun der Ahidjo-Zeit. Ahidjos Herrschaft war durch Absolutismus und Dunkelheit gekennzeichnet (vgl. Pokam 1986: 14f.). Noch heute wird der Alltag von Menschen aus Süd- und Nordkamerun manchmal von Stereotypen regiert, die jederzeit zu Momenten der Gewalteskalation führen können. Im Bewusstsein zahlreicher Südkameruner gelten undifferenziert alle Bewohner des nördlichen Teils Kameruns als Analphabeten, bzw. als Menschen, die zu nichts anderem taugen, als in der Armee als kadavergehorsame Soldaten zu dienen. So wird auch in Mongo Betis Ville Cruèlle angedeutet, dass die Gendarmeriewachtmeister, die die Kakaobohnen der Figur Banda konfiszieren und ihn außerdem heftig verprügeln, aus Nordkamerun kommen: »Ils venaient du Nord […] Pourquoi les recrutait on toujours dans le Nord? Peut-être parce qu’ils étaient plus grands et plus forts là-bas? Peut-être aussi parce que stupides comme ils étaient, ils montraient plus de docilité? … S’ils étaient plus dociles, ce n’était peut-être pas à cause de la stupidité? … C’est peut-être parce que uniquement parce qu’ici ce n’était pas leur pays.« (Beti 1971: 50). Die Erzählerfigur scheint hier in einer Logik der Grenzziehungen gefangen zu sein. Dabei stellt sich heraus, dass es innerhalb desselben Landes spezifische Länder gibt. Umgekehrt leben die Menschen aus Südkamerun im kollektiven Unbewussten der Völker Nordkameruns als ›Gadamayo‹, ein in der Fufuldé-Sprache13 verwendeter Begriff, der diejenigen bezeichnet, die jenseits des Flusses bzw. aus Südkamerun kommen. Der ›Mayo‹ (Fluss) – als unschuldige und harmlose natürliche Grenze – wird durch eine solche Vorstellungslogik essentialisiert, eine Logik, die bewusst oder unbewusst bei der Gestaltung des Alltags beider Gemeinschaften zum Tragen kommt. Dies lässt sich am Beispiel meiner Erfahrungen während einer drei Jahre dauernden Tätigkeit als Deutschlehrer in Tignère veranschaulichen. Tignère ist eine eingeschlossene Gegend in Nordkamerun, circa tausend Kilometer von Kameruns Hauptstadt Jaunde entfernt. Auffallend an diesem Ort ist dessen physische Dichotomie, eine Teilung, die nachts besonders deutlich hervortritt: Nur der vom Beamtentum bewohnte Teil der Ortschaft ist mittels elektrischen Stroms beleuchtet, während die Bewohner des ›finsteren Teils‹ im Dunkeln tappen. Die Haushalte in diesem Teil werden mit Strom erst am helllichten Tage versorgt. Eine Erklärung dafür ist die Tatsache, dass der einzige Stromreaktor in Tignère seinerzeit leistungsschwach war. Eine andere Tatsache ist jedoch, dass solche strukturell bedingten Dichotomien 13 | Fufuldé ist – neben Hausa – die am meisten gesprochene Regionalsprache in Nordkamerun und ist den Fulani-Sprachen zugehörig.

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den Umgang der Menschen miteinander bestimmen und vor Augen führen, wie Asymmetrien gesellschaftlich konstruiert und aufrechterhalten werden können. Solche Erfahrungen werfen erneut die Frage der nationalen Einheit auf, problematisieren den Begriff der Nation im afrikanischen Kontext und scheinen sogar Benedict Andersons These zu bestätigen, nach der die Nation eine vorgestellte Gemeinschaft sei. »It [The nation] is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the mind of each lives the image of their communion.« (Anderson 2006: 6). Tignère steht paradigmatisch für jene dunklen Plätze auf dieser Welt, wo sich Menschen – aufgrund der jeweiligen erlebten Erfahrungen – treffen, ohne sich überhaupt zu begegnen. Manche Feststellungen Maurice Kamtos zur kamerunischen Nation fallen durch ihre Prägnanz auf und scheinen nicht nur die Vergangenheit Kameruns, sondern auch das heutige Kamerun anzusprechen. Kamto hält fest: »[O]n se sent camerounais lorsqu’un péril extérieur menace la patrie, ou, au mieux, lorsqu’il s’agit de prouver le Cameroun face à l’étranger; mais quand passe le défi extérieur et que nos consciences tribalisées se saisissent à nouveau des enjeux internes, la Nation camerounaise n’existe plus, seules existent les tribus et les ethnies. Tout se passe comme si le Cameroun, en tant que Nation, n’existe pas par elle-même.« (Kamto 1986: 10)

Das Jahr 198214 brachte nicht nur einen politischen Wandel, sondern auch eine zeitgleiche Verschärfung bzw. Entschärfung alter und neuer bedenklicher Grenzziehungen. Hingewiesen wird auf die wachsende Kluft zwischen den Durchschnittsmenschen und einer abgekoppelten politischen Elite, die an den lebenswichtigen Bedürfnissen der Massen vorbeigeht bzw. buchstäblich vorbeifährt, wie die folgende Szene aus dem Alltag in Jaunde, geschildert von einem Schüler der Maturaklasse, zeigt: Ich habe mit den Essenresten von gestern gefrühstückt. Der Dorfchef fährt auf Urlaub nach Baden-Baden. Alle Straßen sind blockiert. Er konnte doch auch seinen Flughafen mit Hubschrauber erreichen! Der Schultag fällt aus. Alle Bürger sollen am Rande der Straße stehen, den vorbeirasenden Limousinen Applaus schenken. 14 | Im Jahr 1982 trat Präsident Ahmadou Ahidjo aus rätselhaften Gründen von seinem Präsidentenamt zurück und ernannte den damaligen ›Premier Ministre‹ Paul Biya zum Präsidenten. Im Jahr 1984 aber verübten Ahidjos Anhänger einen Staatsstreich, der fehlschlug. Ahidjo starb 1989 im senegalesischen Exil.

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D ANIEL R OMUALD B ITOUH Hast du ihn gesehen? Nein, nur die schwarze Limousine und die bewaffneten Gorillas herum. Ich werde auch Gorilla werden. Ich werde auch nach Baden-Baden fahren.15

Das Gedicht schildert einen Bürger, der zwischen Verzweiflung und Hoffnung gefangen ist. Dieser Schüler scheint damit zu ringen, keine Perspektiven zu haben, gefangen in einem postkolonialen Machtdispositiv, wie es der kamerunische Soziologe Jean-Marc Ela auf eindrucksvolle Weise beschreibt: »Natürlich kann die Verantwortung für die Notlage des Kontinents nicht allein auf externe Faktoren zurückgeführt werden: Afrika krankt auch an sich selbst. Man denke beispielsweise an die Veruntreuung und Plünderung durch die Führungsschichten in Kamerun: Hier ist Korruption längst zum Herrschaftsmittel geworden. Oder an die Praktiken der Umverteilung von Staatsressourcen an bestimmte Günstlinge: Die daraus resultierenden parasitären Systeme haben bereits zahlreiche afrikanische Länder in den Ruin getrieben, darunter das Zaire General Mobutus. Unübersehbar ist auch der Einfluß der Mafianetze und der diversen Lobbyisten, die die zentralen Rohstoffe kontrollieren und die korrupten Diktaturen stützen. Die Kriege und Konflikte, die den Schwarzen Kontinent zunehmend ausbluten, kann man nur im geopolitischen und wirtschaftlichen Kontext verstehen: Denn zumeist streiten mächtige Interessengruppen um die Rechte für den Erdöl-, Uran-, Kupfer-, Diamant-, Kobalt-, Gold- oder Aluminiumabbau. Bereicherungen und Übergriffe geschehen innerhalb soziopolitischer Systeme, in welchen die Führungsschichten im Rahmen ihrer Machtkämpfe einzelne Ethnien für sich einzusetzen trachten.« (Ela 2008)

Jean-Marc Ela hebt u. a. die ethnische Gouvernementalität, die Rolle der weltweiten Mafia-Organisationen und vor allem die Korruption als gewaltvolles Machtdispositiv im postkolonialen Kamerun hervor. Ein Dispositiv, das ein manichäisches Weltbild von Oben und Unten aufrechterhält und verschärft: Zuspitzung asymmetrischer Machtverhältnisse, ungerechte Verteilung der Reichtümer des Landes, ungleiche Bildungschancen. Das Land ist nicht arm, sondern die Armut wird gemacht. Axelle Kabou spitzt sogar die Diskussion über die ewige afrikanische Entwicklungsproblematik zu. In ihrem umstrittenen Buch Weder arm noch ohnmächtig. Eine Streitschrift gegen schwarze Eliten und weiße Hel15 | Nach der Lektüre eines gesellschaftskritischen Textauszugs aus Mongo Betis Roman Perpétue ou l’habitude du malheur (1974) deutsch: Perpétue und die Gewöhnung ans Unglück (1980), nämlich der Textstelle, wo Mongo Beti die Zerstörung und Plünderung des kamerunischen Urwalds dokumentiert, bekamen die Schüler einer Maturaklasse die Aufgabe, einen gesellschaftskritischen Text in einer selbst gewählten Form zu verfassen.

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fer listet sie eine Reihe von – wie sie es nennt – Anekdoten über den ›Rückstand‹ Afrikas auf: »Afrika kann nur Opfer sein: Der Sklavenhandel, die Kolonisation, die Apartheid, die Verschlechterung der ›terms of trade‹ und die Verschuldung beweisen doch, dass der Hauptteil der Verantwortung nicht in, sondern außerhalb von Afrika liegt. Der daraus folgende immergleiche Refrain: Der schwarze Kontinent ist seit vier Jahrhunderten unfähig, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – man weiß es in der ganzen Welt. Aber stimmt das wirklich?« (Kabou 1993: 23)

Kabou nimmt sich vor, mit solchen lähmenden Anekdoten zu brechen. Solche Anekdoten verschlimmern eine schon besorgniserregende Lage und verunmöglichen jegliche Veränderung (ebd.). Laut Kabou wird diese Sachlage durch »die afrikanische Mentalität« (ebd.: 22) geschürt, die »durch Negrismus und Afrikanismus verherrlicht wird« (ebd.: 23) oder durch die »kurzsichtig konzipierte Gesellschaftsordnung, die immer mehr soziale Ungleichheiten schafft« (ebd.: 22). »Wo kann man in der afrikanischen Realität Entwicklung wirklich feststellen?«. (Ebd.: 29). Diese Frage nach der Feststellbarkeit der Entwicklung in der afrikanischen Realität ist einerseits einleuchtend, wenn man sich beispielsweise das Bild bestimmter Elendsquartiere in afrikanischen Hauptstädten ins Bewusstsein ruft. Diese Feststellung birgt andererseits eine bedenkliche Facette in sich: Es gibt zunehmend Stadtteile in afrikanischen Hauptstädten mit Urbanisierungsstandards, wie man sie in westlichen Metropolen findet, wie z.  B. in Libreville, Kinshasa, Jaunde, Abuja, Kotonou, Duala usw. Umgekehrt legen manche Stadteile in westlichen Metropolen Verelendungen an den Tag, die an Verhältnisse in bestimmten Stadteilen in der Dritten Welt erinnern (vgl. Boff 1997: 186). Axelle Kabou selbst schreibt von gewissen »Reiche[n] der afrikanischen Länder, die reicher« sind, »als gewisse Reiche der reichen Länder« (Kabou 1997: 36). Die hintergründige Frage ist aber, inwiefern solche Scheinheiligkeiten Schlüssiges über den ›Entwicklungs- bzw. Unterentwicklungsgrad‹ eines Landes auszusagen vermögen. Darüber hinaus spricht Kabou von einer afrikanischen Mentalität. Dies könnte implizit zu verstehen geben, dass Kabou diese ›afrikanische Mentalität‹ einer überlegenen Mentalität gegenüberstellt, und zwar der westlichen bzw. europäischen Mentalität. Dies zeugt von einer Gefangenschaft in billigen binären Oppositionen sowie von einem Versuch, das schwarze Subjekt in einem Bild festzulegen. Sollte sich die Frage der Entwicklung Afrikas auf ein Einholen oder Überholen Europas beschränken?

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3. S CHLUSSBEMERKUNGEN : DIE V ISION EINER ENTKOLONISIERTEN B ILDUNG BZ W . EINER S CHULE DER D EKOLONISIERUNG Mir geht es nicht darum, Kamerun/Afrika als ›Herz der Finsternis‹ darzustellen, sondern vielmehr darum, auf das gewaltvolle Potenzial aufmerksam zu machen, das hinter bestimmten dort herrschenden Konstellationen steckt; Konstellationen, die genau besehen sozialen Sprengstoff darstellen. Eine Entschärfung solch einer Zeitbombe liegt meines Erachtens in der Vision einer entkolonisierten Bildung. Die Vision einer entkolonisierten Bildung ist ein Appell an die AfrikanerInnen, bestimmte Asymmetrien und Ungereimtheiten, die deren Alltag bedingen, nicht immer auf exogene Ursachen zurückzuführen. Die Vision einer entkolonisierten Bildung ist das Eintreten für ein Bildungswesen der geistigen Dekolonisierung. Das Bildungswesen in Afrika sollte aufhören, als eine Institution zu fungieren, die Menschen ausbildet, die gierig nach Wissen jagen, um später ›die Macht zu ergreifen‹. Der Begriff Bildungswesen wird in diesem Zusammenhang im erweiterten Sinne als die Gesellschaft samt der darin herrschenden Praktiken und Rituale definiert, die bewusst oder unbewusst die Subjekte strukturieren. Das Beispiel des vorher erwähnten Schülers, der von einer Reise nach Baden-Baden träumt, spricht Bände. Dieser niedergeschmetterte Schüler ist durch das Machtschauspiel, das sich vor seinen Augen abspielt, nicht nur gefesselt, sondern vor allem auch hypnotisiert. Die ›Gorillas‹, der gepanzerte, glänzend lackierte Limousinen-Straßenkreuzer mit dessen sichtbarunsichtbarem Insassen, die philharmonisch ratternden Motorräder – all dies versieht das ganze Spektakel mit einem Siegel der Heiligkeit. Man kann in diesem Zusammenhang – in Anlehnung an Fanon – von »ästhetischen Formen des Respekts vor bzw. [der Festigung] der etablierten Ordnung« (Fanon 1969: 29) sprechen. Dieser Schüler kann nur Träume hegen. In diesen Träumen verbirgt sich aber gleichzeitig das unausgesprochene Geständnis der eigenen Machtlosigkeit und die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen, um in einer ungewissen Zukunft an die Macht zu kommen. Verwunderlich wäre es nicht, wenn sich dieser Schüler auf die gierige Jagd nach Wissen einlässt, um später die Macht zu ergreifen. Dies erinnert an die Figur Obi Okonkwo, den Meisterschüler aus Chinua Achebes Roman No longer at ease. Okonkwos Stammesangehörige haben mühevoll dessen schulische Laufbahn finanziert; sie hegen aber allzu hohe Erwartungen, die ihn in eine Sackgasse zwingen: »Many towns have four or five or even ten of their sons in europeans posts in this city. Umofia has only one« (Achebe 1960: 6). Die Ernennungen von Ministern in zahlreichen afrikanischen Ländern wird gewöhnlich von pompösen Feierlichkeiten in den jeweiligen Dörfern der Auserwählten begleitet. Alexis Ngatcha bezeichnet solche Praktiken treffend als »Philosophie der ethnischen Arithmetik« (Ngatcha 2002: 83)

G EWALT IM KOLONIALEN UND POSTKOLONIALEN K ONTEXT . K AMERUN ALS F ALLBEISPIEL »Der Philosophie der ethnischen Arithmetik zufolge dürfte jede Volksgruppe durch eine bestimmte Anzahl von Ministern im Kabinett repräsentiert werden, damit sie die Interessen ihrer Angehörigen vertreten und alle auf diese Weise auf ihre Kosten kommen können, sprich Anteil ›am Kuchen‹ haben. Die Praxis sieht jedoch völlig anders aus. Denn bei der Verteilung von Posten entfallen in vielen afrikanischen Ländern mehr Posten auf die Stammesgenossen des amtierenden Staatsoberhauptes.« (Ebd.)

Solche Zu-, Um- bzw. Missstände lassen die politische Landschaft als Schauplatz eines bloßen Wettlaufs um die Macht erscheinen und tragen zur Verstärkung und Förderung von Stammesdenken, Vetternwirtschaft und Korruption sowie zur Entstehung und Aufrechterhaltung von struktureller Gewalt bei. Ein Bildungswesen der Dekolonisierung wäre daher angebracht. Eine Schule, die der/dem jungen Afrikanerin/Afrikaner beibringt, respektvoll mit Straßenkehrern, mit Marktfrauen, mit Plantagenarbeitern umzugehen. Die Marktfrauen von Tignère z. B. bieten alltäglich eine lobenswerte Dynamik auf. Ein buntes Gemisch aus Mädchen, alten und jungen Frauen, Witwen, verheirateten und alleinerziehenden Frauen, unter denen die meisten keine Chance gehabt haben, in die Schule zu gehen. Diese Frauen werden meistens gering geschätzt und missachtet, weil sie nicht in einem Büro mit Klimaanlage und gepolsterten Möbeln sitzen, weil sie ihres ›ungepflegten Äußeren‹ wegen ›unschön‹ und ›unattraktiv‹ wirken. Lassen wir uns durch solche Bilder nicht täuschen. Sie gehören zu den Mechanismen, die den lobenswerten Beitrag dieser Frauen zur Entwicklung Kameruns bzw. Afrikas unsichtbar machen. Die Waren, die diese Frauen auf dem Marktplatz anbieten, kommen meistens aus eigenen Feldern: Mais, Hirse, Bohnen, Erdnüsse, Gemüse und Früchte aller Art, Süßkartoffeln, Maniok, Honig, ›Karité-Öl‹ und selbst gemachte Kunstgegenstände. Mit dem Erlös werden Grundbedürfnisse (Essen, Gesundheit, Bildung für die Kinder usw.) befriedigt. Ein Teil des Erlöses wird ins Kleingeschäft neu investiert, um wiederum neue Güter zu produzieren, welche anschließend wieder verkauft werden, und so wird die Existenz einer Familie, eines Dorfes, einer Region, einer ganzen Volkswirtschaft gesichert. Diese Frauen zeigen Mut im alltäglichen Kampf. Dadurch bauen sie Straßen der Hoffnung. Auch das soll Entwicklung genannt werden.

L ITER ATUR Achebe, Chinua (1960): No longer at ease. Illustrated by Bruce Onobrakpeya. London: Heinemann Educational Publishers Alima, Jos-Blaise (1977): Les chemins de l’unité. Comment se forge une Nation: l’exemple came-rounais. Paris: ABC-Verlag

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D ANIEL R OMUALD B ITOUH

Bahbha, Homi K. (1994): The location of culture. London and New York: Routledge Benedict Anderson (2006): Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nation-alism. New York: Rev. Ed. Beti, Mongo (1971): Ville Cruèlle. Unter dem Pseudonym Eza Boto. Paris: Editions Présence Africaine Boff, Leonardo (1997): »Christentum in der Globalisierung«. In: Leo Gabriel (Hg.), Die globale Vereinahmung und der Widerstand Lateinamerikas gegen den Neoliberalismus. Frankfurt: Brandes and Apsel; Wien: Südwind, S. 183-190 Nyobè, Ruben Um (1957): Brief von an Herrn André-Marie Mbida: »unbetitelt«. In: J.A. Mbembe (1984) (Hg.), Ruben um Nyobè. Le problème national Kamerunais. Présentation et notes par J. A. Mbembe. Paris: L’Harmattan Conrad, Joseph (1902): Heart of Darkness. Herausgegeben von Bernhard Reitz (1984). Stuttgart: Reclam Ela, Jean-Marc: Afro-Renaissance. Internet Plattform www.afrikanet.info-Afrika net.info (abgerufen am 4. Dezember 2008) Fanon, Frantz (1969): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean Paul Sartre. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag Graichen, Gisela/Gründer, Horst (2005): Deutsche Kolonien. Traum und Trauma. Unter Mitarbeit von Holger Dietrich. Berlin: Ullstein Buchverlag Haddour, Azzedine (2006): Fanon Reader. Frantz Fanon. Edited and introduced by Azzedine Had-dour. London: Pluto Press Joseph, A. Richard (1977): Radical Nationalism in Cameroon. Social origins of the U.P.C. Rebellion. Oxford: Clarendon Press Kabou, Axelle (1993): Weder arm noch ohnmächtig. Eine Streitschrift gegen schwarze Eliten und weiße Helfer. Aus dem Französischen von Monika Brüninghaus und Regula Renschler. Mit einem Vorwort von Regula Renschler. Basel: Lenos Verlag. Titel der französischen Originalausgabe: Et si l’Afrique refusait le dévéloppement? 1991 in Paris bei L’Harmattan erschienen Kafka, Franz (1919): In der Strafkolonie. In: Roger Hermes (2007) (Hg.): Franz Kafka. Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. München. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, S. 164-198 Kamto, Maurice (1986). Préface. In: E. Kegne Pokam (Hg.): La Problématique de l’unité nationale au Cameroun. a. a. O., S. 7-12 Mbembe, Achille (1984): Jean Ruben um Nyobè. Le problème national Kamerunais. Présentation et notes par A. Mbembe. Paris: Editions L’Harmattan Mbembe, Achille (1996): La naissance du maquis dans le Sud-Cameroun. (1920 -1960). Paris: Edition Karthala Ngatcha, Alexis (2002): Der Deutschunterricht in Kamerun als Erbe des Kolonialismus und seine Funktion in der postkolonialen Ära. Frankfurt a.  M. Berlin. Bruxelles. New York. Oxford. Wien: Peter Lang Verlag

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»Wir verzärtelten, unerfahrenen Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke, die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.« 1 Ein literaturwissenschaftliches Plädoyer für das Fremde im Text (und außerhalb davon) Nicola Mitterer

S PIEGELBILDER UND V ERDOPPELUNGEN Die Urszene des Subjekts, in der es sein Spiegelbild zum ersten Mal bewusst erblickt, ist gleichzeitig die Konfrontation mit dem Mythos des eigenen, heilen Selbst (vgl. Lacan 1986: 64f). Je länger die spiegelbildliche Auseinandersetzung währt, je eindringlicher die Formel der Identität »das bin ich, bin ich, bin ich«, wiederholt wird, desto schneller ist der Punkt erreicht, wo jenes »ich bin, ich bin« kippt, zu einem »bin ich?« wird, einer Frage, die das Chaos und letztlich den Tod evoziert und das vermeintliche Individuum schließlich zwingt, sich vom Spiegel abzuwenden. Identität, so Bhabha, »ist niemals ein von vornherein gegebenes oder fertiges Produkt; sie ist immer nur der problematische Prozess des Zugangs zu einem Bild der Totalität.«. (Bhabha 2000: 75) Der Topos des Spiegelbildes verdeutlicht die ambivalente Tiefenstruktur dieser Beziehung eines Abhängigen und Zerstückelten zu sich selbst als einer unversehrten Einheit. Jenes Ich, das seine größte Sehnsucht nicht unmittelbar erlebt, sondern nur in der fernen Projektion des Spiegels erblickt, wird, je mehr es sich in dieses fetischisierte Bild der Totalität vertieft, der Schizophrenie dieser Szene gewahr. Das Bild repräsentiert, d. h., es erzeugt die Illusion einer Präsenz in der Abwesenheit. Der Zugang zum Bild der Identität ist also nur möglich im Verzicht auf Unmittelbarkeit. Je bewusster das »ich bin« wird, desto mehr tritt der Spalt zwischen hier und dort ins Bewusstsein und schließlich wird die Nähe 1 | Zitat aus: Johann Wolfgang von Goethe (1981 [1771]): »Rede zum »Shäkespearen Tag«.

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des Todes in der Unberührbarkeit des Ganzheits-Bildes spürbar … Zeit, sich abzuwenden. Die Verdoppelung, die der Konstitution des Selbst zugrundeliegt, ist auch der Sprache zutiefst eingeschrieben. Während wir den Abgrund, der zwischen Signifikat und Signifikant klafft, im Alltag meist übergehen, zwingt uns die Literatur zur bewussten Wahrnehmung. Jede Leerstelle, jedes Satzzeichen – oder eben sein Fehlen – jeder Laut wird im Gedicht bedeutsam und zwingt uns somit zur Reflexion, zur Distanz gegenüber unserem Sprach-Werkzeug, das wir so selbstverständlich benutzen und das uns im Moment der Lektüre als etwas Fremdes gegenübertritt. Die Abwesenheiten sind innerhalb dieses Systems sogar besonders bedeutsam, wie etwa Jurij Lotman feststellt, der die Qualität literarischer Texte unter anderem am Vorkommen von »Minus-prijomy« bemisst, »einem System konsequenter und bewusster, vom Leser wahrgenommener Absagen und Verzichte« (Lotman 1993: 146). Doch die Leerstellen und Abwesenheiten, die Lotman beschreibt, sind durchaus keine Abgründe. Sie sind vielmehr vom Autor bewusst verstreute Indizien, die der Leserin/dem Leser Hinweise zur Entschlüsselung des Text-Rätsels geben. Die Frage ist, ob sich literarische Texte tatsächlich in diesem Spiel von Verschiebung, Verdoppelung oder auch Abwesenheit des erwartbaren sprachlichen Zeichens erschöpfen. Es gibt mehr hermeneutische Theorien, die auf dieser Annahme basieren als solche, die das Gegenteil behaupten. Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels bestimmt allerdings mit seiner Kategorie des »radikal Fremden« eine unauflösbare Verstehenshürde: Radikal fremd ist alles, was von den Registern des Symbolischen nicht mehr erfasst werden kann und deshalb außerhalb jeder Ordnung bleiben muss. Wenn es ein solches »radikal Fremdes« im literarischen Text gibt, muss man sich von der Idee, jemals ganz zu verstehen (und sei es auch nur als rein theoretische Möglichkeit), verabschieden. Die Frage, ob es ein »radikal Fremdes« gibt, hat natürlich auch ethische Konsequenzen – sie ist also nicht nur im Rahmen eines elitären akademischen Diskurses relevant, sondern weit darüber hinaus.

H ERMENEUTISCHE TR ADITIONEN Die hegemoniale abendländische Tradition der Hermeneutik schließt eine derart unausweichliche Lücke im Verstehen, wie sie das »radikal Fremde« beschreibt, aus ihren Überlegungen weitgehend aus. Am deutlichsten wird dieser Ausschluss von den Vertretern einer aufklärerischen Hermeneutik formuliert. Die vorrangige Aufgabe der Leserin/des Lesers sei es, zu verstehen (intellegere), d. h. die »intentio auctoris« mittels rationaler Schlussfolgerungen nachzuvollziehen. Dass dies möglich ist, garantiert wiederum die von Christian von

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Wolff so bezeichnete »hermeneutische Billigkeit« (vgl. Madonna, in: Bühler 1994: 39ff), der all jene Auslegungen entsprechen, die durch die Anwendung eines regelgeleiteten Verfahrens zustandegekommen sind. Ein auf diese Weise gewonnener Sinn sei erwiesenermaßen, zumindest mit sehr großer Wahrscheinlichkeit, der tatsächliche Sinn des Textes. Eine solche ideale Auslegung sei allerdings nur dann zu erreichen, wenn sich sowohl AutorIn als auch InterpretIn an ›vernunftgemäße‹ Regeln halten2 und nicht sinnlose Zeichen produzieren. Wenn diese grundsätzliche Übereinkunft eingehalten wird, müsse die Leserin/der Leser bloß noch lernen, diese Regeln nachzuvollziehen, sie/er muss also nur ›verstehen‹. Eine Interpretation im eigentlichen Sinn ist im aufklärerischen Denken nur unter ganz bestimmten Umständen notwendig, nämlich dann, wenn die/der Auslegende es mit »dunklen Textstellen« zu tun hat. »Dunkle Textstellen« entstehen wiederum nur dann, wenn es der Autorin/dem Autor nicht gelungen ist, ihre/seine Intention hinreichend klar darzulegen. Der Vorgang des Interpretierens verweist somit an sich schon auf ein Defizit: Der Mangel (an Klarheit und Eindeutigkeit) muss durch eine besondere Anstrengung der Interpretin/des Interpreten behoben werden, die/der nun dazu aufgefordert ist, trotz der Verdunkelung »eine klare und deutliche Vorstellung von Sinne des anderen aus seiner Rede zu erhalten.« (Wolff 1977: § 271) Die Hermeneutik der Aufklärung geht grundsätzlich davon aus, dass alle Textstellen erklärt und vom Verstand zur Gänze durchdrungen werden können. Ein »radikal Fremdes«, das sich jedem Erklärungsversuch entzieht, wird hier gar nicht erst in Erwägung gezogen. Auch wenn sich die romantische Hermeneutik von den Prinzipien der Aufklärung distanziert hat, hat sich nicht so viel geändert, wie man auf den ersten Blick annehmen möchte. Zwar hat die kantsche Kritik der reinen Vernunft einen gewissen Zweifel an der Allmacht des menschlichen Verstandes aufkommen lassen, nicht aber an der Überzeugung, man könne die »Wahrheit« eines Textes zur Gänze erfassen, wenn man nur methodologisch richtig vorgehe. Schleiermacher propagierte eine Methode der Textauslegung, die den Sinn von zwei Seiten aus ›in die Mangel‹ nimmt. Seiner Ansicht nach müsse erst eine grammatische Analyse des Textes erfolgen, die seine sprachliche Beschaffenheit offenlegt. In einem zweiten Schritt solle dann eine Art psychologische Interpretation stattfinden, die es – einmal mehr – auf die intentio auctoris abgesehen hat. Allerdings war Schleiermacher längst nicht mehr der Ansicht seiner Vorgänger, dass nämlich die Autorin/der Autor selbst am besten den Sinn ihres/seines Textes verstehen könne. Er war vielmehr überzeugt davon, dass es der Interpretin/dem Interpreten gelingen könne (oder müsse), den Text, beziehungsweise die Motive der Autorin/des Autors, 2 | Diese Regel wird allerdings mit gewissen Einschränkungen versehen, selbst Wolff gesteht zu, dass AutorenInnen bei der logischen Herleitung manchmal Fehler machen, aufgrund derer nicht gleich der gesamte Text als sinnwidrig qualifiziert werden darf.

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besser zu verstehen als diese/dieser selbst. Dieses bessere Verständnis war nun nach Ansicht der romantischen Hermeneutik durch die »Einfühlung« in das Werk zu gewinnen: Verstehen war somit von einem Prozess des verstandesmäßigen Erkennens (eines von der Autorin/vom Autor in den Text hineingelegten Sinnes), zu einem des Nach-Erlebens geworden. Je besser die Interpretin/der Interpret in der Lage sei, sich in sämtliche Umstände, die zur Entstehung des Werkes beigetragen haben, hineinzuversetzen, desto gelungener sei das Verstehen. Letztlich basiert die Theorie der »Divination« auf der Annahme, dass AutorIn und InterpretIn Teil eines geistigen Ganzen sind, das sich in der Weltgeschichte ausdrückt. Wieder ist hier von einem »Ganzen« die Rede, das die Differenzen im Grunde aufhebt, ein »radikal Fremdes« gänzlich aus dem Blickfeld verschwinden lässt. Es ist jedoch Schleiermachers Verdienst, als Erster explizit auf das Problem einer Fremdheit hingewiesen zu haben, die zwischen InterpretIn und Interpretandum besteht. Letztlich bleibt aber auch er der Überzeugung verhaftet, dass diese Andersartigkeit keine irreduzible ist und durch die Anwendung eines bestimmten hermeneutischen Verfahrens überwunden werden kann. Weitere Meilensteine der Hermeneutik, die insbesondere das 20. Jahrhundert stark geprägt haben, sind die Theorien Heideggers und Gadamers. Ersterer bezeichnete die hermeneutische Bemühung als das Grundstreben des menschlichen Daseins und schuf so ein Bewusstsein für die existenzielle Bedeutung dieser wissenschaftlichen Disziplin. Gadamer folgte den Spuren seines Lehrers nur bis zu einem gewissen Grad, baute auf diesem Fundament jedoch eine hermeneutische Theorie auf, die das 20. Jahrhundert entscheidend prägen sollte. Wie aber steht es nun um die Positionierung des Fremden in der gadamerschen Hermeneutik? Die existenzielle Bedeutung des Auslegens ist auch für Gadamer unbestreitbar. Verstehen ist bei ihm gleichgesetzt mit der Teilhabe an einem Wahrheitsgeschehen, das dem menschlichen Sein erst Sinn und Bedeutung verleiht. Doch das Verstehen ist längst kein so aktiver Prozess mehr, wie er es noch bei Wolff war; es hat auch nichts mehr mit einer bewusst vollzogenen Einfühlung zu tun, wie Schleiermacher sie als Ideal formuliert. Die Art und Weise, in der Gadamer das Verstehen beschreibt, ähnelt sogar den Beschreibungen einer Begegnung mit dem Fremden, die Waldenfels als vom »Pathos« bestimmt charakterisiert. Erst in einer solchen Begegnung, in der das Subjekt vom Fremden überwältigt und ergriffen wird, sich der Passivität dieses Geschehens gänzlich überlässt, ist laut Waldenfels ein ethisches Verhältnis zum Fremden/ Unverstandenen möglich. Ein solcher Umgang mit dem Fremden setzt vor allem die Bereitschaft voraus, auf jede Form aktiven Verstehen-Wollens, Ergreifens, Einordnens zu verzichten (vgl. Waldenfels 2006: 42). Gadamers Beschreibung eines Verstehens, von dem das Subjekt geradezu überwältigt wird, dessen es niemals Herr werden kann, erinnert bis in die Wortwahl hinein an diese Formulierung einer Begegnung unter dem Vorzeichen

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des Pathos. Tatsächliches »Verstehen«, so wie es in Wahrheit und Methode beschrieben wird, ist ebenfalls ein passives Geschehen, jedoch aus ganz anderen Gründen als bei Waldenfels – und natürlich mit entsprechend anderen Resultaten: Bei Gadamer ist das Individuum in seiner Fremdheit der Welt und den anderen gegenüber nicht positiv besetzt wie bei Waldenfels, es schreitet ganz im Gegenteil erst dann in seinem Verstehen fort, wenn diese (relative) Fremdheit schwindet und sich der/die Einzelne der Tradition überantwortet. Die Autorität der Klassiker steht in einem solchen Denken völlig außer Frage, ebenso der Vorrang althergebrachter Gesetze. In diesem »Fluss des geschichtlichen Lebens« soll sich das Individuum auflösen, nicht die eigene Fremdheit behaupten oder gar die eines anderen anerkennen. Oder doch? – Zwar erklärt Gadamer, dass »dem Verstehen grundsätzlich keine Grenze gesetzt ist« (Gadamer 1990: 405 [378/379]), aber andererseits betont er auch, dass es eine unerlässliche Voraussetzung für das Verstehen sei, dass man in der »Wirkungsgeschichte« des Interpretandums stehe und dessen Tradition angehöre (vgl. Gunter Scholtz, in: Wischke, Hofer 2003: 15). Nun ist das Fremde sicherlich nicht in erster Linie als »kulturell Fremdes« zu bestimmen, aber an diesem Punkt drängt sich doch die Frage auf, ob ein Verstehen von Texten, die außerhalb des eigenen Kulturraumes entstanden sind, dann überhaupt denkbar wäre. Ich finde dafür bei Gadamer keine Anhaltspunkte; das Eingebettet-Sein der Interpretin/des Interpreten in deren Wirkungsgeschichte scheint mir vielmehr ein ganz entscheidender Punkt zu sein, der die Vorstellung einer Hermeneutik, die über den eigenen Kulturkreis hinausreicht, gänzlich unmöglich werden lässt. Nun aber zurück zur Frage nach der Positionierung des Fremden in der gadamerschen Hermeneutik: Verstehen ist auch bei Gadamer nicht denkbar ohne die Herausforderung durch ein Fremdes. Diese bleibt allerdings »nur ein Phasenmoment im Vollzug des Verstehens« (Gadamer 1990: 312 [290/291]) und sollte letztlich durch die Horizontverschmelzung überwunden werden. Das Fremde bleibt also auch in dieser Tradition ein zu Überwindendes; eine »radikale« Form der Fremdheit wird nicht in Erwägung gezogen.

E XKURS : V ERSTEHEN LEICHT GEMACHT ODER DIE E LIMINIERUNG DES F REMDEN Dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch, vor allem jenem der Hermeneutik, ist eine gewisse Brutalität nicht abzusprechen. Auch wenn es nicht die Essenz des hier vertretenen Denkens widerspiegelt, so finden sich doch auch in Wahrheit und Methode immer wieder Sätze, die ein gewaltsames Vorgehen dem Unverstandenen, Fremden gegenüber erkennen lassen. So heißt es etwa: »Ein Reden, das eine Sache aufschließen soll, bedarf des Aufbrechens der Sache durch

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die Frage.« (Gadamer 1990: 369 [345/346]). Das hermeneutische Bestreben an sich ist gewiss nicht unschuldig, wobei dieser problematische Aspekt gerade in der Vermittlung literaturwissenschaftlicher Techniken (Universität) oder literarischen Wissens (Schule) meist völlig ausgeblendet wird. Das, was unverständlich und fremd ist, wird oft genug recht grausam »aufgebrochen«, sein vermeintlich »wahres Wesen« damit enthüllt und dem eigenen Geist angeglichen, einverleibt. »Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist.« (Ebd.: 19 [10/11]) – Was Gadamer mit diesem Zitat meint, nämlich die Rückbesinnung des Individuums auf die Tradition, der es angehört (ein an sich schon nicht unproblematischer Ansatz), wird heute oft ganz anders ausgelegt. Die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text muss dem Subjekt Vorteile verschaffen, also dem ›Eigenen‹ dienen, wobei die Ansprüche des Fremden im Text völlig ausgeblendet werden. Das Lesen literarischer Texte soll ›inspirieren‹, eigene Probleme widerspiegeln, gut unterhalten und vor allem nicht zu anstrengend sein. Wenn das nicht gelingt, wird der Text entweder aufgegeben oder so lange traktiert, bis er in vorhandene Verstehensmuster passt und das Fremde aufgezehrt, absorbiert, vernichtet ist – man landet in letzter Konsequenz bei einem kannibalischen Bild. Die Verbindung zwischen westlichen wissenschaftlichen Traditionen und dem Kannibalismus ist vielleicht auch nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Schon Montaigne machte seine Zeitgenossen darauf aufmerksam, dass ihre eigenen wissenschaftlichen Methoden, so wie auch Rituale des gesellschaftlichen Lebens, gar nicht so weit von jenen der als »barbarisch« beschimpften Kannibalen entfernt seien (vgl. Montaigne 1998: 113). Bei Lévi-Strauss taucht dieser Vergleich erneut auf. Es stellt sich die Frage, ob man nicht auch die heute gängige Praxis der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik genauer auf ihre »kannibalischen« Züge hin untersuchen müsste. Die hermeneutische Praxis, wie ich sie eben skizziert habe, wurzelt in dem Glauben an den Vorrang des Subjekts und propagiert (wenn auch meist eher unbewusst als bewusst) eine Weltsicht, derzufolge sich alles Sagbare immer in bereits Gesagtem erschöpft. Homi Bhabha betrachtet diese Überzeugung, auf der die westliche Geistesgeschichte aufbaut, als eine Form der Fetischisierung des sprachlichen Zeichens. Doch auch er betont, dass gerade in jener Substitution und Fixierung, die den Fetischismus ausmacht, immer die Spur des Fehlenden, des »radikal Fremden« zu finden ist. Auf eben diese Aporie des verstandesmäßig Fassbaren kommt es nun Bernhard Waldenfels an. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Hermeneutik steht ebenfalls, wie bei Gadamer, das Wesen der Frage. Jenes von Gadamer noch ganz selbstverständlich vorausgesetzte »um fragen zu können, muss man wissen wollen, d. h. wissen, dass man nicht weiß« (Gadamer 1990: 369 [345/346] wird jedoch bei Waldenfels einer grundlegenden Kritik unterzogen. Die Un-

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entschiedenheit und Offenheit der Frage habe dieser Prämisse gemäß einen vorläufigen Charakter: »Die Entscheidung der Frage ist der Weg zum Wissen. Wodurch eine Frage entschieden wird, ist das Überwiegen der Gründe für die eine und gegen die andere Möglichkeit.« (Ebd.: 370 [346/347]). Ein solches Wissen besteht letztlich darin, dass sich die Wahrheit langsam offenbart, indem Gegenmöglichkeiten zu Teilmöglichkeiten werden. Der (radikale) Rest, bei dem keine eindeutige Entscheidung aus Gründen möglich ist, wird geradezu aus dem Feld des wertvollen hermeneutischen Fragens ausgeschlossen; es handelt sich um bloße »Probleme«, um verblasste Fragen, die eigentlich in die Rhetorik gehören und als Problemgeschichte tradiert werden. Diese Reziprozität von Eigenem und Fremdem, so Waldenfels, die sich »im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens« (ebd.: 281 [260/261]) bewegt, raube dem Fremden seinen Stachel (vgl. Waldenfels 1994 : 134ff) Wie aber kann der Stachel des Fremden erhalten werden, ohne dass die Möglichkeit einer gleichberechtigten Kommunikation grundsätzlich ausgeschlossen würde? Waldenfels betont die Notwendigkeit eines tatsächlichen Antwortens auf fremde Ansprüche, das er dem bloßen Verstehen des Anderen oder der (zweckgerichteten) Verständigung mit dem Anderen entgegensetzt: »Berücksichtigen wir die Möglichkeit, dass im Antworten nicht bloß ein bereits existierender Sinn wiedergegeben, weitergegeben oder vervollständigt wird, sondern dass im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht, so stoßen wir auf das Paradox einer ›kreativen Antwort‹, in der wir geben, was wir nicht haben« (Waldenfels 1997: 53)

L ITER ARISCHE B EISPIELE Ich möchte nun anhand einiger literarischer Beispiele zu verdeutlichen versuchen, inwiefern das Fremde in seinen zahlreichen Facetten – bis hin zum radikal Fremden – den literarischen Text prägt. Diese bewusste Suche nach dem Fremden im Text ist natürlich selbst schon eine Annäherung an dessen ›Sinn‹ und damit ein hermeneutischer Prozess. Dieser ist jedoch in den folgenden Beispielen von dem Bemühen geleitet, das Fremde anzuerkennen und es in seiner Unzugänglichkeit bestehen zu lassen.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, das 1. Kapitel 3 Zitate aus dem ersten Kapitel aus Robert Musils berühmtem Romanfragment werden auch von Waldenfels selbst mehrfach zur Illustration seiner Thesen he3 | Teile dieses Kapitels sind in ähnlicher Form auch in einem anderen Aufsatz erschienen, der 2009 in einem Sammelband publiziert wurde.

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rangezogen. Das verwundert wenig, wenn man bedenkt, dass Der Mann ohne Eigenschaften bereits mit einer sehr denkwürdigen Szene beginnt, die die bisherige Ordnung »aus den Schienen springen« macht. Die Figuren, aber auch die LeserInnen werden somit gleich zu Beginn in jenen Zustand des originären Staunens versetzt, den Waldenfels als notwendige Bedingung einer »responsiven Ethik« beschreibt. Die ordnenden Elemente, die dem Leser/der Leserin traditionellerweise am Beginn eines großen Romans Überblick und Orientierung verschaffen, fehlen hier entweder ganz oder entpuppen sich als Attrappen. Der gewohnte »Fluss der Erzählung« will nicht zustandekommen, vielmehr werden Figuren und RezipientInnen gleichermaßen aus diesem herausgerissen. Die Kontingenz scheint dieses erste Kapitel voll und ganz zu bestimmen, wobei dieser Eindruck während der gesamten Lektüre präsent bleibt, selbst wenn sich danach über weite Strecken eine auf den ersten Blick ganz traditionelle Geschichte zu entfalten beginnt. Die Figuren, die uns in diesem ersten Kapitel begegnen, werden erst einmal nicht als Individuen eingeführt, sondern als Repräsentanten einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. Durch ein unerwartetes Ereignis, das die Routine ihres alltäglichen Lebens offensichtlich schwer erschüttert, geraten sie aus der Fassung (aus der »feinen Unterwäsche ihres Bewusstseins«, wie Musil schreibt) und in jenen Zustand des unmittelbaren Berührt-Seins, den Waldenfels als Pathos bezeichnet. Genauso wie die Figuren des ersten Kapitels ist auch die Leserin/der Leser gezwungen, sich einer großen Verunsicherung auszusetzen, denn anstatt anhand deskriptiver Elemente ein gewisses Maß an Orientierung und Kohärenz zu stiften, schleudert die Erzählung die Rezipientin/den Rezipienten abrupt von einem sprachlichen und bildlichen Mikrokosmos in den nächsten, um sie oder ihn schließlich – ganz entgegen traditioneller romanesker Erzähltraditionen – dem Ereignis eines Unfalls beiwohnen zu lassen, das allerdings mit dem immer noch abwesenden Protagonisten nicht das Geringste zu tun zu haben scheint: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. […] Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. […] Sie [die beiden Menschen] gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, d. h. nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewusstseins, wussten sie, wer sie seien und dass sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden. Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmte, denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres

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N ICOL A M ITTERER Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien. […] Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen. […] Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. […] Die Blicke der Hinzugekommenen richteten sich auf ihn [den Lenker des Lastwagens] und sanken dann vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. […] Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens schrillen, und die Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen.« (Musil 1978: 9ff)

Die ordnende, hermeneutische Macht, die das Bekannte und Eigene dem Eindringen des fremden Ereignisses entgegensetzen möchte, wird in diesem ersten Kapitel von Der Mann ohne Eigenschaften durch einen ordnenden Diskurs repräsentiert, auf den der männliche Teil jenes Paares, das zu zufälligen Beobachtern des Unfallszenarios geworden ist, sich beruft. Der Mann stellt sich zuerst in seiner Funktion als kühler, rationaler Beobachter dem Unheimlichen entgegen und versucht vehement, das Unfassbare der Situation auszulöschen, indem er das Geschehen berechnet, den Unfall in die Parameter Masse und Geschwindigkeit überführt und ihm so seine Bedrohlichkeit (den Stachel des Fremden) raubt. Die Dame wiederum zeigt sich für diese Auslöschung des Fremden und Unbegreiflichen dankbar: »Es genügte ihr, dass damit dieser grässliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.« (Ebd.: 11) Musil, der sich explizit dazu bekannt hat, dass er es als Schriftsteller als seine Aufgabe betrachte, »das andere lebend zu erhalten, den Funken [zu] bewahren«. (Musil 2009, Transkriptionen, Mappe II/8: 256), hat hier am Beginn seines großen Textes dem Streit zwischen dem Eigenen und dem Fremden, genauso wie der (kannibalischen) Einverleibung des Fremden durch das Eigene, ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Art und Weise, wie jenes unerwartete und unheimliche Ereignis hier sofort durch die gewaltsame Einordnung in rationale Ordnungsstrukturen außer Kraft gesetzt wird, ist durchaus als exemplarisch zu bezeichnen – als exemplarisch für den Umgang mit dem Fremden in westlichen (Wissens-)Kulturen. Laut Waldenfels lässt sich eine Alternative zu diesen »ratioïden« Vernichtungsstrategien finden. Diese setzt allerdings voraus, dass das Fremde nicht der Ordnung bekannter Diskurse assimiliert, sondern in seiner Andersartigkeit belassen wird. Das heißt nicht, wie Waldenfels anmerkt, »dass es da nichts zu begreifen, zu erklären, zu verstehen, zu beurteilen, wiedergutzumachen und zu verhindern gibt« (Waldenfels 2006: 53), wohl aber, dass etwas Unbegreifliches,

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Unantastbares bestehen bleiben muss, wenn man nach einer ethischen Antwort auf das Fremde sucht. Ein solches Antworten bedeutet, dass das Fremde in seiner Radikalität begriffen/respektiert wird, dass ein Rest bestehen bleiben darf, der nicht in einer allgemeinen höheren Ordnung oder im Eigenen aufgehoben werden kann und darf. Waldenfels liefert einen Ansatz zu einer neuen »Schule des literarischen Verstehens«, wenn er sagt: »Das Verschwinden des Sagens und Tuns in der Sinnhaftigkeit und Regelhaftigkeit des Gesagten und Getanen lässt sich nur aufhalten durch ein immer wieder neu einsetzendes Wiedersagen (redire) und Ent- oder Widersagen (dédire), das von Lévinas eingefordert wird.« (Ebd.: 51) Der Protagonist in Der Mann ohne Eigenschaften, Ulrich, definiert es als sein grundlegendes Ziel, einen »anderen Zustand« zu erreichen. Sein den Prinzipien des wissenschaftlichen Denkens gehorchender Geist ist jedoch, wie er selbst einmal feststellt, »als eine Maschine angelegt, die unaufhörlich Leben entwertet« (ebd.: 891). All sein Denken und Handeln ist, zumindest vor der Begegnung mit seiner Schwester Agathe, darauf ausgerichtet, sich das Fremde zu eigen zu machen, es so lange seiner Andersartigkeit zu berauben, bis es mit seinem Selbst kompatibel ist und lückenlos in das System einer sich selbst immer wieder reproduzierenden Identität eingefügt werden kann. Dieses Denk- und Verhaltensmuster ändert sich erst, als er seiner Schwester, die für ihn das Irrationale, Fremde repräsentiert, als ebenbürtig und doch anders gegenübertreten und jene »Wollust der Fremdheit« empfinden kann, die jede hierarchische Asymmetrie überwindet, nicht aber die Differenz an sich. In diesem Augenblick ist sein Blick nicht mehr der durchdringende, sezierende Blick dessen, der erkennen will, sondern ein Blick, »der sie schon seit tausend Jahren gesucht zu haben schien und nun, wo er sie antraf, plötzlich beschäftigungslos wurde, was ein Unvermögen ergab, das unverkennbar die Züge eines Stupors, eines idiotischen Staunens an sich trug« (ebd.: 510). Diese Macht der Verwunderung, die man mit Waldenfels auch als Pathos bezeichnen könnte, und die die Beziehung der Geschwister zumindest am Anfang dominiert, wird auch von Luce Irigaray und anderen VertreterInnen der Differenztheorie als die zentrale Voraussetzung für einen ethischen Umgang mit dem Fremden genannt, denn der Stupor, der den Einen beim Anblick des Anderen erfasst, »bewahrt […] davor, es unmittelbar zu ergreifen oder […] anzugleichen.« (Irigaray 1990: 91). Diese Verwunderung, ob man sie nun Pathos oder Stupor nennen möchte, verlangt allerdings das Aushalten einer Doppelung des Selbst, die Abschwächung oder Aufgabe des Verlangens nach einer Ursprünglichkeit, die durch die Unterschiede von Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe und Kultur bedroht ist.

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Don De Lillo: Falling Man Eine weitere These, die eine verstärkte Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit dem Fremden notwendig erscheinen lässt, ist die, dass der Umgang mit dem Phänomen der Fremdheit in zeitgenössischen Texten ein anderer geworden ist. Nicht im Unterschied zu Musils Text beispielsweise, der seiner Zeit sicherlich weit voraus war, wohl aber im Unterschied zu vielen europäischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts. Während diese oft noch durch das Bestreben gekennzeichnet waren, das Konstrukt der Nation und mit ihr verbundener nationaler Eigenschaften zu bestärken, kann man anhand zeitgenössischer Texte gerade das Gegenteil demonstrieren. Hybride Identitäten, heterotopische Räume, sprachliche und formale Mischformen und Neuschöpfungen geben hier den Ton an, und relativ häufig erfolgt auch auf inhaltlicher Ebene eine explizite Auseinandersetzung mit dem Fremden. Diese These lässt sich anhand eines konkretes Beispiels verdeutlichen: Don DeLillos Roman Falling Man nimmt die Ereignisse des 11. September zum Ausgangspunkt einer Erzählung über die Entfremdung einer Familie voneinander und dem je Eigenen durch die Einwirkung eines existenzgefährdenden Fremden. Der kleine Sohn eines New Yorker Ehepaares verarbeitet die Ereignisse auf kindlich-magische Weise und stößt dabei an und auf jene Unantastbarkeit des Fremden, die er ebenso wenig entschärfen kann, wie es die angesichts der Katastrophe leer und phrasenhaft klingenden Erklärungsversuche seiner Großmutter, einer Akademikerin, vermögen. Um das Trauma zu verarbeiten und weiteres Unglück zu verhindern, sucht Justin jeden Tag heimlich mit seinen Freunden den Himmel nach Flugzeugen ab. Durch die Reaktionen der Eltern, die Gespräche auf den Straßen und vor allem die heimlich belauschten Medienberichte, formieren sich die Geschehnisse in den Köpfen der Kinder zu einer Geschichte, in der ein gewisser »Bill Lawton« eine besondere Rolle spielt. Hier ein kurzer Auszug aus dem Gespräch, in dessen Verlauf der Protagonist Keith seine Frau über die Bedeutung des geheimnisvollen »Bill Lawton« aufklärt: »›What was he hearing?‹ ›He was hearing Bill Lawton. They were saying bin Laden.‹ Lianne considered this. It seemed to her, at first, that some important meaning might be located in the soundings of the boy’s small error.« (DeLillo, 2007: 73f)

Das Fremde, das hier vehement und in einer sehr beängstigenden Form in das eigene Leben dringt, wird von den Kindern automatisch in seiner Ambivalenz erfasst – einerseits bedeutet es pure Gewalt und bringt damit die zerstörerische Dimension der Alterität zur Geltung, andererseits wird es zu einem Teil, ja sogar zu einem bestimmenden Teil der eigenen Existenz, der von einem gewissen Zauber umgeben und damit auch höchst faszinierend ist. Die sprachliche Vereinnah-

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mung, die die Kinder unwillkürlich an »Bill Lawton – bin Laden« vornehmen, verweist ebenfalls auf einen tieferen Zusammenhang: Das vermeintlich oder tatsächlich ›Andere‹ der westlichen Zivilisation hat sich in einem Akt manifestiert, der die ganze Gewalt seiner Gewordenheit zum Ausdruck bringt. In diesem Akt wurde eine Dimension des Fremden erkennbar, die sich weder verharmlosen noch auf ein Eigenes oder eine allgemeine Ordnung reduzieren lässt. Was sich anhand dieses Textes eines allgemein anerkannten, westlich sozialisierten Autors zeigen lässt, kann als symptomatisch für die zeitgenössische Literatur gelten: Phänomene der Fremdheit bleiben nicht mehr implizit und auf formale Aspekte beschränkt, vielmehr wird die real erfahrene, ständige Konfrontation mit dem (kulturell) Fremden zu einem thematischen Kernbereich literarischer Arbeit. Die eigene(n) kulturelle(n) Zugehörigkeit(en) spielt/spielen in diesem Zusammenhang nur noch eine untergeordnete Rolle. Diese Zunahme der literarischen Auseinandersetzung mit dem Fremden kann wohl als ein weiterer Beweis dafür verstanden werden, dass es höchste Zeit ist, neue Formen der Textinterpretation zu entwickeln. ›Methoden‹, die nicht mehr nach einer absoluten Wahrheit, sondern nach Antworten auf die Ansprüche und Herausforderungen des Fremden suchen.

Irena Brežna: Die Schuppenhaut Die Schuppenhaut von Irena Brežna ist ein äußerst dichter Text, der sich nicht zuletzt durch sein rätselhaftes Ende jedem vollständigen Verstehensversuch verweigert. Die Frage nach den Möglichkeiten einer ethischen Beziehung zwischen jenen, die wissenschaftlich arbeiten, und den von ihnen untersuchten ›Objekten‹ bestimmt diese Erzählung, die sich in einem Zwischenraum (einem dritten Raum im Sinne Homi Bhabhas) abspielt. Es ist dies der Raum zwischen den ›Gesunden‹ (der Mehrheitsbevölkerung), wie sie die Protagonistin, Angestellte eines wissenschaftlichen Instituts, verkörpert, und den ›Kranken‹, also den Psoriasispatienten, die sie interviewt. Die weibliche Hauptfigur wird von einem Forschungsinstitut beauftragt, in persönlichen Gesprächen, die bei den InterviewpartnerInnen zu Hause stattfinden, möglichst viel über deren psychische Verfassung und eventuelle Zusammenhänge zwischen psychologischen Faktoren und dem Krankheitsverlauf herauszufinden. Gleich zu Beginn wird klar, dass der retrospektiv erzählte Bericht der Ich-Erzählerin nicht den Ansprüchen wissenschaftlicher Objektivität und Distanziertheit genügen wird. Der Text beginnt vielmehr mit dem Bekenntnis der emotionalen Verstrickung der Wissenschaftlerin in die Angelegenheiten der »PsoriatikerInnen«, die es eigentlich möglichst nüchtern zu analysieren galt: »Als mich der Taxichauffeur vor einer Villa hoch über dem See absetzte, ahnte ich noch nicht, daß ich in dieser feuchten Villa ein Ghetto betreten sollte, das mich für lange Monate in seinem Bann halten würde.« (Brežna 1989: 7)

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Die Beschreibung der ersten Begegnung mit einem Psoriasis-Patienten macht deutlich, dass die Aufgabe der Wissenschaftlerin es verlangt, Grenzen zu überschreiten, die für gewöhnlich zwischen dem forschenden Subjekt und seinem Untersuchungsgegenstand scharf gezogen sind. Die Gespräche finden, wie bereits erwähnt, in den Häusern der Betroffenen statt und damit treten diese vom ersten Augenblick an nicht als geschichtslose Objekte in Erscheinung, sondern sind in einen Kontext eingebettet, der automatisch Nähe entstehen lässt. Die unmittelbare Konfrontation mit den Individuen, die sich (gerade für die Wissenschaftlerin, oft weniger für die Patienten selbst) bald nur noch schwer einer Kollektivbezeichnung zuordnen lassen, verhindert jegliche Mystifizierung der Psoriasis, erschwert also eine – notgedrungen verallgemeinernde – wissenschaftliche Aussage4. Die Machtverhältnisse zwischen Wissenschaft und Untersuchungsgegenstand sind in dieser Erzählung längst nicht feststehend und klar strukturiert. Zwar ist es die Psychologin, die zu Beginn der Besuche meist Unruhe und Nervosität bei den PsoriatikerInnen auslöst, doch meist kehrt sich dieses Verhältnis schon nach kurzer Zeit um. Der Grund dafür liegt einerseits im doppelten »Heimvorteil« der PsoriatikerInnen. Sie treffen die Psychologin in ihren eigenen vier Wänden, denen sie umso mehr verbunden sind, als sie sich vor allem während der Krankheitsschübe dorthin zurückziehen. Die Wissenschafterin gerät bei ihren Besuchen also mitten ins Herz des ›Fremden‹ und äußert immer wieder ein Gefühl des Unbehagens, ja sogar der Gefangenschaft, wenn Sie sich in den Räumlichkeiten ihrer InterviewpartnerInnen aufhält. Durch ihre immer stärker werdende persönliche Verstrickung in die Sphäre des Fremden wird die ›Macht‹, welche diese andere Welt von Beginn an auf sie auszuüben scheint, noch wesentlich stärker spürbar. Die Auflösung der Grenze zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ erreicht ihren Höhepunkt, als sie sich in einen der Psoriatiker verliebt und eine Affäre mit ihm eingeht. Von diesem Moment an kann sie sich selbst nicht mehr als Außenstehende wahrnehmen, und auch ihr 4 | Die Mystifizierung ist hier im Sinne von Roland Barthes zu verstehen, der sagt, die Funktion des Mythos bestehe darin, »das Reale zu entleeren«. »[…] er [der Mythos] ist buchstäblich ein unablässiges Ausfließen, ein Ausbluten, oder, wenn man lieber will, ein Verflüchtigen, also eine spürbare Abwesenheit.« (Barthes 1964: 131). Die Studie, die die Psychologin durchführen soll, ist letztlich daraufhin ausgerichtet, den PsoriatikerInnen eine gemeinsame psychische Disposition zu unterstellen, die für das Auftreten der Krankheit verantwortlich ist. Die Psychologin verwirft diese Theorie, je mehr sie über die höchst unterschiedlichen Lebensgeschichten der Einzelnen erfährt, aber sie ist sofort bereit, den Mythos von den »wechselhaften« und »unberechenbaren« PsoriatikerInnen wieder aufleben zu lassen, als sie selbst fürchtet, von der Krankheit befallen zu sein. Teile dieses Kapitels sind in ähnlicher Form auch in einem anderen Aufsatz erschienen, der 2009 in einem Sammelband publiziert wurde.

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Geliebter ist nicht mehr bereit, ihr die Rolle als Forscherin zu überlassen. Er betätigt sich nun ebenfalls als Wissenschafter und sein Untersuchungsgegenstand ist ihre Liebe und die Vermischung des Kranken mit dem Gesunden. Er beobachtet nun nicht nur seine Krankheit, sondern auch die Auswirkungen seines durch die Beziehung veränderten Gefühlslebens auf diese und kehrt die Rollen – die von Anfang unsicher zu sein schienen – endgültig um: »Wenn Deine Prognosen tatsächlich eintrafen, triumphierte der Geist über die Materie. Wie im Siegesrausch entblößtest Du rötliche, juckende Pickel, die sich programmgemäß zum erwarteten Zeitpunkt und an angekündigten Stellen zu Krusten verdichteten. Ich wurde unfreiwillig zu Deiner Assistentin in Deinem Forschungslaboratorium. Als Du die sogenannten Gefühlstabellen anfertigtest und mir blind in Deiner Wissensgier eine rosarote Spezialakte für tägliche Eintragungen von ›Liebesempfindungen‹ feierlich übergabst, warst du erstaunt, dass ich Dich mit meinen neuen Stiefeln gegen das Knie trat. Ich kündigte Dir dann, und Du forschtest schweigsam weiter. Unsere Intimität bekam den ersten bedenklichen Riss.« (Ebd.: 13)

Zunehmend kommen der Psychologin Zweifel daran, dass Sie noch in der Lage ist, ihre Beziehungen zu den PsoriatikerInnen zu kontrollieren. Im Schatten dieser Unsicherheit gedeiht einerseits die Beziehung zu einem ihrer ›Untersuchungsobjekte‹, andererseits wachsen aber auch Ängste, da bald schon nirgendwo mehr Ordnungen oder gar sichere Grenzen erkennbar sind: »Nichts ist, und nichts bleibt einfach nur ›anders‹. Keine Differenz ist stabil. Das ›Andere‹ ist allerhöchstens eine übertriebene Theoretisierung beziehungsweise eine Ideologisierung des Fremden und als solche fragwürdig.« (Lubrich 2004: 297) Das Weltbild der Wissenschafterin baut zu Beginn auf dichotomen Mustern auf, die mit Fortschreiten der Erzählung zunehmend erschüttert werden. Am Anfang scheint sie noch fasziniert zu sein von dieser fremden Welt, deren Bewohnern sie sich im Grunde sehr überlegen fühlt, ja denen sie sogar mit einer gewissen Arroganz begegnet (vgl. Brežna 1989: 22). Das Gefühl der eigenen Überlegenheit bietet erst einmal einen gewissen Schutz, der die Annäherung an das Fremde erleichtert. Die wissenschaftlichen Kategorisierungen, zu denen die Psychologin gezwungen ist, erscheinen ihr plötzlich unpassend und sie stellt fest: »Ich hasse die Ordnung, weil sie das Geheimnis so selbstverständlich zuschüttet, als bräuchte es niemand.« (Ebd.: 21). Ebendieses Geheimnis wirkt anfangs anziehend, es scheint gerade auf den nüchtern-analytischen Geist der Wissenschafterin eine besondere Faszination auszuüben. Erzählerisch drückt sich diese Faszination in mythischen Bildern aus, die den besonderen Zustand der PsoriatikerInnen überhöhen und sie als ›Auserwählte‹ erscheinen lassen: »Du warst so einsam, dass Deine einseitige Kommunikation mit der Menschheit eine Farbenfülle und Intensität hatte, wie sie Mystiker in Entzückungszuständen erfahren.« (Ebd.: 24). »Er offenbarte dies mit großem Pathos und sah dabei

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aus wie ein verkannter Prophet auf dem heiligen Berg.« (Ebd.: 11). In diesen Beschreibungen, die durchaus mit dem Selbstbild der Erkrankten übereinstimmen, wird auch der Versuch deutlich, das Körperliche der Krankheit vergessen zu machen, die Metaphorisierung bewirkt eine Verschiebung der Symptome ins Geistige und damit zumindest die Chance auf gesellschaftliche Anerkennung. Es scheint, als könnten sich die PsoriatikerInnen, wenn sie es schaffen, diese Interpretation ihrer Krankheit zur allgemein gültigen zu machen, sogar einen besonderen Platz innerhalb der Mehrheitsgesellschaft sichern: »Nur ein Psoriatiker kann wirklich empfindsam, d. h. im höheren Maße intelligent sein. Schau, die Haut hat dieselbe Beschaffenheit wie das Gehirn und das Nervensystem. […] Die Haut des Psoriatikers regeneriert sechsmal schneller als normale Haut, das heißt, der Psoriatiker denkt sechsmal schneller.« (Ebd.: 37) Die Psychologin empfindet anfangs sowohl die Selbstbezichtigungen als auch die Selbstüberhöhungen der ›Anderen‹ als faszinierend oder tut sie als lächerlich ab – beides berührt sie nicht weiter. Diese Form des (distanzierten) Umgangs mit ihren InterviewpartnerInnen funktioniert aber ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr. Zu einem gewissen Teil liegt das sicherlich an der Liebesbeziehung, durch die sie zunehmend das Gefühl hat, die Grenze zwischen Eigenem und Fremden würde schmelzen. Die Angst vor der unheimlichen Erkrankung, für deren Auftreten es keine wissenschaftliche Erklärung gibt, wird immer größer und führt schließlich zu dem Gedanken, sie könne womöglich selbst von der Krankheit befallen werden: »Ich bin ja, wenn ich es mir genau überlege, eine typische Psoriatikerin – wechselhaft, dynamisch, unberechenbar, ein seelischer Gourmet. ›Ich habe eine psychische Disposition zur Psoriasis!‹ ich sagte es deutlich und laut.« (Ebd.: 77). Die Befürchtung der Protagonistin, sie könne an Psoriasis erkranken oder bereits erkrankt sein, wird erst gegen Ende der Erzählung ausgesprochen. Mit diesem offenen Bekenntnis zur Angst, die sich in ihr entwickelt hat, tritt auch eine Änderung im Verhalten zu ihrem Liebhaber zutage. Die Differenz zwischen ihnen, die sie zuvor noch als anziehend und interessant empfunden hat (die sie sich allerdings auch sicher war, unter Kontrolle zu haben), erscheint ihr nun immer größer und beängstigender. Schließlich glaubt die Protagonistin an ihrem Liebhaber immer mehr Symptome einer Metamorphose erkennen zu können, die den gegenseitigen Entfremdungsprozess weiter steigert und die Erzählung letztlich zu einem geradezu surreal anmutenden Abschluss bringen soll. Von Beginn an gibt es zahlreiche Hinweise darauf, wie sehr das Leben der PsoriatikerInnen über ihre Körperlichkeit definiert ist. Die Psychologin fühlt sich in der Beziehung zu ihrem Patienten, als würde ihr ein Spiegel vorgehalten werden, in dem sie sich zwar nicht an ihrer wissenschaftlichen, wohl aber an ihrer weiblichen Identität abarbeiten kann. Die Tatsache, dass gerade die Verbindung zum Kreatürlichen normalerweise von der Frau repräsentiert werden muss und damit eine abwertende Haltung verbunden ist, gibt der Liaison eine

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deutlich sadomasochistische Note. Als sämtliche Versuche des Psoriatikers, sein Leiden als eine besondere Form der geistigen Erlesenheit darzustellen, gescheitert sind, bekennt er sich schließlich ganz zu seiner ›Natur‹ und verwandelt sich in ein Wesen, das immer mehr tierhafte Züge anzunehmen beginnt. Die Psychologin ist dieser radikalen Form des Fremden (und der Entfremdung) von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr gewachsen: »Ich glaube, ich hätte alle diese Veränderungen sogar hingenommen, wie absurd das auch klingen mag, wenn es nicht gleichzeitig auch zum Verlust der Sprache gekommen wäre. Dabei weiß ich doch ganz genau, daß das alles zusammen gehört. […] Mich nahmst du nur noch körperlich wahr, und ich merkte, daß Du Dich nicht nach dem Sinn meiner Wörter, sondern nach ihrem Klang orientiertest. Für eine kurze Zwischenzeit, als mir schien, daß Du deine Verwandlung ausnahmsweise realisiertest, wurdest Du anhänglich und weich und Du weintest viel. Es erstaunte mich, mit welch heftiger Feindseligkeit ich darauf reagierte.« (Ebd.: 84)

Die Protagonistin erreicht an diesem Punkt der Erzählung eine Grenze, an der sie der fremden Welt der Psoriatikerinnen entfliehen und in ihr gewohntes Leben zurück möchte. Der dafür notwendige Abschied von ihrem Liebhaber ist erst noch eine schmerzhafte Vorstellung, doch nach und nach kehrt sie in ihre ursprüngliche Rolle als Wissenschafterin zurück und baut die anfängliche Distanz zu den PatientInnen wieder auf – diesmal allerdings ohne die Begeisterung für das Besondere, die sie zu Beginn ihrer Tätigkeit so stark empfunden hat. Entsprechend gefühllos wirkt sie nun auch im Umgang mit den PsoriatikerInnen: »Die Klagen dieser Frau erschienen mir übertrieben. Ich hatte sie im Verdacht, sie buhle um mein Mitleid, das ich ihr hartnäckig verweigerte. […] Auf der Straße redete sie noch ungehemmter, und als sie sagte, ihr Sohn hätte kürzlich Psoriasis an den Händen bekommen und sie hätte ihm daraufhin empfohlen: ›Geh bloß zu keinem Arzt‹, revidierte ich mein Urteil. Offenbar war sie doch eine echte Psoriatikerin.« (Ebd.: 85)

Die Distanzierung der Psychologin von den PsoriatikerInnen vollendet sich in der Abschiednahme von ihrem Geliebten, der sich nun bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Metamorphose befindet und immer deutlicher die Züge eines Reptils annimmt. Die anfängliche Aggression diesem Prozess gegenüber scheint langsam zu schwinden, die Erinnerung an das gemeinsam Erlebte ist wieder stärker geworden. Dennoch endet die Beziehung in einer radikalen Trennung, ja sogar in einer noch stärkeren und endgültigeren Gettoisierung des ›Kranken‹, als sie zu Beginn der Erzählung geschildert wird: »Nach der Landung streiften wir bloß den Strand der Psoriatiker und ließen uns sofort auf jene kleine Insel bringen, wo ich Dich alleine zurücklassen wollte.« (Ebd.: 86). Der Moment der Trennung scheint für die Psychologin kurzzeitig

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sehr schmerzhaft zu sein, doch dann lässt sie los und erkennt noch einmal die Schönheit des Fremden, dessen Unzugänglichkeit sie nun endgültig und in der radikalsten Form (selbst das Menschliche als ursprünglich Verbindendes ist ihm abhanden gekommen) (an)erkennen muss: »Auf einmal verließ mich die Ruhe. Ich befahl hysterisch dem Fischer, den Motor abzustellen, aber da drehtest Du um, und als Du ans Ufer hinaufstiegst, leuchtete Dein Rücken metallisch grün. Die Schuppen wirkten saftig, wie junge Blätter. Ob es Freude war, dieses Gefühl, das mich dann ergriff, das werde ich nie sagen können, denn es war zu besinnungslos.« (Ebd.: 87) Das Ende der Erzählung lässt den Schluss zu, dass der Psychologin die Rückkehr in ihr gewohntes Leben gelungen ist, auch wenn sich die Erinnerung an das Erlebnis des Fremden tief in ihr Gedächtnis eingegraben hat. Der Geliebte ist nicht nur Figur, sondern auch Adressat der Erzählung, alleine daraus lässt sich eine gewisse respektvolle Haltung ableiten, die trotz allem geblieben ist. Irena Brežna betont diese versöhnliche, positive Komponente der Erzählung, wenn sie sagt: »Wenn die Wissenschaft über den Menschen etwas Präzises aussagen will, braucht sie den liebenden Blick, aber da erübrigt sich schon die Wissenschaft und gleitet in eine andere Sphäre über. […] Die Erzählerin erkennt intuitiv den Zusammenhang zwischen Schönheit, Lebendigkeit und Glück, auch wenn diese Begriffe durch das ungewöhnliche Bild eines Reptils ihren Ausdruck finden. Die Psoriasis spricht nicht mit Worten, sie spricht mit Schuppen. Die Psychologin versucht, die Schuppen in eine psychologische Sprache zu übersetzen. Zum Teil gelingt es ihr, doch das Wesentliche ist nicht dechiffrierbar.« (Ebd.: 95)

Schlussbemerkung »Dass im Verstehen der Texte dieser großen Denker Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Weg nicht erreichbar wäre, muss man sich eingestehen, auch wenn dies dem Maßstab von Forschung und Fortschritt, mit dem die Wissenschaft sich selber misst, widerspricht.« (Gadamer 1990: 2)

Ich möchte dieses Zitat nun noch einmal als eine Art Relativierung zu dem nutzen, was ich zu Beginn dieses Artikels behauptet habe. Wenn Gadamer auf eine »Wahrheit« hinweist, die in den Texten zu finden sei und durch keinen anderen als den hermeneutischen Akt gefunden werden könne, dann formuliert er damit eine Annahme, die heute längst nicht mehr selbstverständlich ist, aber den meisten Menschen wohl doch vertraut und plausibel erscheint. Warum sollten wir den anstrengenden Prozess der Sinnbildung, den uns die Literatur (wenn auch in unterschiedlichem Maße) abverlangt, in Kauf nehmen, wenn wir uns davon nicht einen Erkenntnisgewinn erhoffen, der auf anderem Wege nicht zu

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erreichen wäre? Neuere Theorien haben diesen Aspekt der ›Wahrheitsfindung‹ in Texten rigoros abgelehnt, sodass letztlich von der Lektüre nicht viel mehr übrig geblieben ist als eine Tätigkeit, die rein pragmatische Zwecke verfolgen kann und hilft, Techniken einzuüben, die uns das Überleben in einer postmodernen Welt erleichtern. Mehr als das bleibt tatsächlich nicht übrig, wenn man die Möglichkeit der Wahrheitsfindung von der Literatur abzieht. Die Idee, der Text könne eine (nicht die) Wahrheit transportieren, sollte also nicht so einfach über Bord geworfen werden, zumindest von jenen nicht, die sich nicht damit begnügen wollen, Literatur lediglich zu »gebrauchen« (vgl. Rorty in: Collini 1992: 14ff). Dass in literarischen Texten Wahrheit zu finden ist, bedeutet auch nicht, dass sie vollständig offengelegt, verstanden, interpretiert werden kann oder muss. Den radikalen Aspekten des Fremden im Text haben sich hermeneutische Theorien lange Zeit verweigert. In diesem Sinne, also was unsere Bescheidenheit in Bezug auf die Möglichkeiten des Verstehens betrifft, war Derrida wohl ein guter Lehrer. Wem aber daran gelegen ist, dass Literatur weiterhin eine Rolle in dieser Gesellschaft spielt – und das tut sie nun einmal nur dann, wenn der Umgang mit Texten weiterhin gelehrt und gelernt wird, notwendigerweise nach bestimmten Mustern – der tut gut daran, eine neue Position zwischen diesen Extremen zu finden. Eine, die das Fremde nicht ausklammert oder auslöscht, eine, die aber auch die Idee, es könne eine tiefere Wahrheit geben, die NUR über den literarischen Text vermittelt werden kann, nicht völlig ablehnt. Die Anerkennung des Fremden im Text ist, wie an den literarischen Beispielen vielleicht deutlich geworden ist, in mehrerer Hinsicht zur Notwendigkeit geworden. Einmal, weil die Texte selbst immer öfter Phänomene des Fremden thematisieren und auch in ihrem Formenreichtum eher das Fremde als die Tradition befördern. Andererseits aber auch deshalb, weil der hermeneutische Umgang mit literarischen Texten auch als Paradigma des Umgangs mit dem Fremden ganz allgemein betrachtet werden kann. Wenn dieser Zusammenhang so besteht, wie ich es hier behaupte, ist es sicherlich wünschenswert, hier eine »responsive Ethik« im Sinne Waldenfels’ zu befördern. Im Koreanischen scheint das einfacher zu sein, zumindest drängt sich einem dieser Verdacht auf, wenn man den Vortrag Alles fließt von Hoo Nam Seelmann hört: »Im Koreanischen ist es auch möglich zu sagen ›ich höre das Vogelgezwitscher‹, aber dies bedeutet, dass ein sehr spezifischer Vorgang vorliegt, nämlich ein bewusster, intentionaler Akt, und man sagt dies meist als Antwort auf die Frage ›hast Du es gehört?‹ Üblicherweise benutzt man aber im Koreanischen eine Form, die man am ehesten als ›das Vogelgezwitscher kommt zum Hören‹ (oder: es kommt ins Ohr zum Hören)« (Hoo Nam Seelmann 2008: 3) übersetzen kann. Das Fremde kommt in den Geist zum Verstehen – vielleicht müsste eine neue Hermeneutik auf dieser Forderung aufbauen.

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L ITER ATUR Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg Brežna, Irena (1989): Die Schuppenhaut, Zürich: efef DeLillo, Don (2007): Falling Man, New York [u.a.]: Scribner Gadamer, Hans-Georg (1990): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr von Goethe, Johann Wolfgang (1981), Werke. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 12: Kunst und Literatur. Hg.  v. Erich Trunz, Hans Joachim Schrimpf [et al.], München: C.H.Beck Irigaray, Luce (1990): Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Lacan, Jacques (1986): Schriften I, Hg. v. Norbert Haas, Weinheim, Berlin: Quadriga Lotman, Jurij (1993): Die Struktur literarischer Texte, München: Fink Lubrich, Oliver (2004): Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken. Alexander von Humboldt – Bram Stoker – Ernst Jünger – Jean Genet. Bielefeld: Aisthesis Madonna, Luigi Cataldi (1994): Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs. In: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik: Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.Waldenfels, Bernhard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp M.: Klostermann, S. 26-42 Montaigne, Michel Eyquem de (1998): Essais, Frankfurt a. M.: Eichborn Musil, Robert (1981): Gesammelte Werke in neun Bänden, Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Musil, Robert (2009): Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte und digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, herausgegeben von Walter Fanta/Klaus Amann/Karl Corino. Klagenfurt: Robert-Musil-Institut der Universität Klagenfurt Rorty, Richard (1992): The pragmatist’s progress. In: Stefan Collini (Hg.), Interpretation and Overinterpretation. Umberto Eco with Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press Scholtz, Gunter (2003): Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers. In: Mirko Wischke, Michael Hofer (Hg.): Gadamer verstehen/Understanding Gadamer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 13-34 Seelmann, Hoo Nam (2008): Alles fließt. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten bei den Rauriser Literaturtagen

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Waldenfels, Bernhard (1994): Antwortregister, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Waldenfels, Bernhard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Wolff, Christian (1977): Gesammelte Werke, Abt. III. Bd. 8. Hg. v. Jean École [et al.]. Hildesheim [u. a.]: Olms

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C ORINNA A SSMANN UND V ALERIE A SSMANN

Am 28.04.2006 fand im Teheraner Ararat Stadion das erste offizielle Frauenfußballspiel in der Geschichte der I.R. Iran zwischen der iranischen Nationalmannschaft und der Berliner Amateurmannschaft BSV Al-Dersimspor statt. Das Spiel, anfänglich für einen sehr viel größeren Rahmen geplant, war im Laufe der Organisation ständig von Annullierung bedroht. Aus Angst vor einem Verbot wurde vor dem Spiel auf jegliche Werbung und Bekanntmachung verzichtet. Dennoch fanden über tausend Frauen ihren Weg ins Stadion. Das breite soziale Spektrum der Zuschauerinnen spiegelte sich in ihrer Aufmachung wider: vom schwarzen Chador bis zu knöchelkurzen Jeans mit buntgemustertem Kopftuch, starker Schminke und auffälliger Frisur. Die Atmosphäre war betont festlich, man kam mit Fahnen und Gesichtsbemalung – es gab sogar einen kleinen Deutschlandblock. Mit dem Schlusspfiff haben alle miteinander ausgelassen gefeiert, auf dem Feld wie auf der Tribüne.

M ACHT DER S PIELE , F USSBALL IM I RAN

In der Halbzeitpause des Spiels wurde zur Unterhaltung der Zuschauerinnen Musik über Lautsprecher eingespielt. Viele Frauen fingen an zu tanzen und kümmerten sich nicht mehr um den korrekten Sitz ihrer Kopftücher. Die Verantwortlichen sahen sofort die Gefahr des Kontrollverlusts, man drehte die Musik ab, forderte per Lautsprecher zu mehr Anstand auf und drohte mit Disziplinierungsmaßnahmen. Die Frauen in den Zuschauerrängen ließen sich davon jedoch nicht einschüchtern, im Gegenteil: Eine kleine Gruppe fing an, sich lautstark für ihre Rechte einzusetzen. Als sie anfingen, Sprechchöre zu bilden, stimmten die Frauen um sie herum mit ein. So hat das Spiel gezeigt, wie Fußball sowohl auf dem Platz als auch auf den Rängen Frauen einen Freiraum bietet, sich gegen vorherrschende Rollenerwartungen zu richten. (Fortsetzung auf Seite 256)

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4. Wir sind die Anderen Daniela Rippitsch »Im Dialog geht es immer um die Anderen. Nur in der Begegnung mit dem Nicht-Gleichen lernen wir das andere in uns selbst kennen, lernen wir uns selbst kennen.« (Wintersteiner 2007: 42) Das Thema ›zivile Konfliktbearbeitung‹ ist in Bewegung, national wie weltweit. Dies spiegelt sich in der Verwendung von unterschiedlichsten Begriffen, die allesamt die Auflösung von Konflikten mit friedlichen Mitteln im Auge haben, diese jedoch mit unterschiedlichen Methoden bearbeiten, wider. Im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff konstruktive oder zivile Konfliktbearbeitung für die Gesamtheit der Methoden therapeutischer bis präventiver Konfliktintervention durchgesetzt (in den nachfolgenden Artikeln von Johan Galtung und Wilfried Graf et alii wird der Begriff ›Konflikttransformation mit friedlichen Mitteln‹ verwendet). Ihre Aufgaben sind, allgemein ausgedrückt, Kriege zu verhindern und dort, wo Konflikte trotzdem in Gewalt eskalieren, zu beenden, Sicherheit wiederherzustellen und die Ursachen und Folgen von Gewalt erfolgreich und nachhaltig zu beseitigen. Jedoch wird kein Friede von Dauer sein, wenn er nur mit der Elite der Politik ausgehandelt wird und es keine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gibt. Daher bedarf es ziviler Konfliktbearbeitung, um mit der betroffenen Bevölkerung bzw. den Konfliktparteien an den Auswirkungen und Folgen des Konflikts zu arbeiten. Konfliktsensibilität ist eine Querschnittaufgabe zwischen humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtsarbeit. Letzteres fußt auf dem Anliegen, menschliche Grundbedürfnisse für alle zu sichern und Gewaltfreiheit herzustellen und zu leben (vgl. Schweitzer 2009). Im nachstehenden Kapitel findet der Leser/die Leserin drei Beiträge von renommierten Friedens- und KonfliktforscherInnen, die einerseits Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung vorstellen und andererseits auch ihren Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart zu einer Zukunft mit der Utopie von der Verwirklichung von ›Social Justice‹ spannen. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung gründete vor mehr als 50 Jahren das erste Friedensinstitut in Oslo und entwickelte in den letzten fünfzehn Jahren eine umfassende Gewalt- und Friedenstheorie, fußend auf den philoso-

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D ANIEL A R IPPITSCH

phischen Konzepten von Hilarion Petzolds und Ferdinand Buers, die den Menschen mit seinen universalen Grundbedürfnissen wie Überleben, Wohlbefinden, Identität und Freiheit ins Zentrum rückt. Diese galtungsche Transcend-Methode setzt diese Bedürfnisse, die universal gültig sind und für alle Konfliktparteien gelten, in Bezug zueinander und verwendet sie bewusst als Bezugsrahmen für Legitimations- und Gerechtigkeitskonflikte. Einen weiteren Bezugsrahmen stellt der galtungsche Gewaltbegriff da. Der norwegische Friedensforscher schlägt vor, immer dann von Gewalt zu sprechen, wenn eines der oben genannten Grundbedürfnisse des Menschen verletzt wurde. Gewalt liege immer dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass sie sich nicht so entwickeln können, wie dies eigentlich möglich wäre (strukturelle Gewalt). Diese Entwicklung zum Selbst und damit verbunden das Recht auf Selbstbestimmung thematisiert Johan Galtung in diesem Kapitelbeitrag. Er stellt die Frage, ob und inwiefern das ›Recht auf Selbstbestimmung‹ als Vorgang für Konfliktlösung oder zumindest für Konflikttransformation dienen kann. Auch hier dienen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Bezugsrahmen (UN-Charta: 1 (2), 73) und es wird anhand von unterschiedlichen internationalen Beispielen die Konflikthaftigkeit zwischen ›Nation‹, ›Staat‹ › ›Identität‹ und ›Selbstbestimmung‹ diskutiert sowie die Prämisse aufgestellt, dass das ›Recht auf Selbstbestimmung‹ mit der ›Verpflichtung auf Konflikttransformation‹ verbunden ist. Auch der Beitrag von Wilfried Graf, Valerie Kainz und Agnes Taibl beschäftigt sich mit der Konfliktbearbeitung auf internationaler Ebene. Hier werden die Theorie und das Forschungsprogramm der ›Transitional Justice‹ vorgestellt, die den Bogen aus der Vergangenheit durch Wahrheitsfindung mittels Wahrheitskommissionen hin zur Zukunft spannt, wo es Maßnahmen zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sowie Neugestaltung von sozialen Beziehungen geben muss. Das AutorInnen-Team zeigt aber auch die Grenzen von ›Transitional Justice‹ auf und plädiert für eine radikale Erweiterung dieser Methode mit Programmen von Konflikttransformation, basierend auf der galtungschen Transcend-Methode, um nachhaltige Friedensprozesse zu initiieren. Gerechtigkeit ist auch ein Schlüsselwort des Beitrages der Philosophin Gudrun Perko und der Mediatorin Leah Carola Czollek. Sie stellen das politische Projekt und die Theorie der ›Social Justice‹ in Verbindung zur aus der jüdischen Tradition des Dialogs entwickelten Konfliktbearbeitungsmethode ›Mahloquet‹. Einbeziehung von biografisch-historischen Kontexten, die Möglichkeit des Perspektivenwechsels und die Erschütterung von alleingültigen Wahrheiten und festgefrorenen Denkstrukturen sind Merkmale dieser dialogisch-integrativen Methode. ›Social Justice‹ wiederum ist das Ziel der ›Mahloquet‹ und auch ihre Utopie von einer Verwirklichung einer ›gerechten Welt‹, aber auch Strategie für kreative Konfliktlösungen. Allen drei Beiträgen gemeinsam ist jedoch, dass Kommunikation und Dialog im Vordergrund stehen. Ein tiefgehender Dialog mit jeder einzelnen Kon-

4. W IR SIND DIE A NDEREN

fliktpartei ist unabdingbar, um sie für ein kreatives Verfahren vorzubereiten und um Verständnis für ihre eigenen Ziele zu wecken, aber auch um bestehende Vorurteile, Widersprüche und Stereotypen zu erkennen und Empathie für die andere Konfliktpartei zu wecken. Somit stellen wir den Bezug zwischen Konflikttransformation und Parteilichkeit her, denn in allen drei Konfliktlösungsmethoden bringen sich gegebenenfalls die KonfliktbearbeiterInnen mit kreativen Denkansätzen und Vorschlägen in den Konfliktprozess ein. In diesem Zusammenhang meint der Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk: »Wenn es etwas wie einen dritten Raum, einen Ort der Vermittlung in einer globalen Welt gibt, dann ist es jener vagierende Raum des Dialogischen, nicht nur der offizielle und repräsentative, sondern auch der unorganisierte. Er ist strukturell durch die Vorgängigkeit des Anderen gekennzeichnet. Wo er nicht nur als technisches Mittel angesehen wird, stellt der Andere, der akzeptierte Fremde, die Bedingung der Möglichkeit des Dialogs und damit eine Gemeinsamkeit her, die Menschen in und trotz Differenz miteinander verbindet. Aber dazu bedarf es keiner ethnischen Auszeichnung, sondern eines Aktes der Selbstreflexion, einer Selbstreflexion, die zugleich eine politische Antwort auf die Globalisierung darstellt, einer unaufgeregten Gelassenheit, eines Gestus der ›GleichGültigkeit‹, wenn man so will. Die Wertschätzung des Anderen, innerhalb und außerhalb meiner, resultiert niemals aus einem kulturalistischen Blick, sondern ist eine Setzung, die sich nicht zuletzt im dritten Raum des Dialogs manifestiert […].« (Müller-Funk 2006: 83)

L ITER ATUR Müller-Funk, Wolfgang (2006): Ein neues progressives Subjekt in der globalen Welt? Anmerkungen zum Diskurs über den Hybriden. In: Wespennest 145/1, S. 83 Schweitzer, Christine: Erfolgreich gewaltfrei. Professionelle Praxis in ziviler Friedensförderung, hg. v. IFA, www.erfolgreich-gewaltfrei.de (abgerufen am 17. September 2010) Wintersteiner, Werner (2007): Interkultureller Dialog – Dialog der Kulturen, in: Dialog der Zivilisationen (= Jahrbuch Friedenskultur 2007), hg. v. Kathrin Hämmerle, Brigitte Hipfl, Helga Rabenstein, Werner Wintersteiner, Klagenfurt: Drava, S. 40-45

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Das Recht auf Selbstbestimmung 1 und Konflikttransformation Johan Galtung

1. D IE D IALEK TIK Z WISCHEN NATIONALER I DENTITÄT UND STA ATLICHER I NTEGRITÄT UND DAS R ECHT AUF S ELBSTBESTIMMUNG Mit etwa 200 Staaten, 2000 Nationen, die Ansprüche auf heiligen Raum und Erinnerungen an heilige Zeit haben, und nur ungefähr 20 Nationalstaaten gibt es ein Weltpotenzial zu 1980 Freiheitskriegen, die Status-quo-orientierte Staaten gegen änderungsorientierte Nationen stellen würden. Die ›heiliger Raum – heilige Zeit‹- Kombination, wahrscheinlich am besten zu erklären als säkulare Folge einer religiösen Tradition, Orte und Zeitpunkte als heilig zu verstehen, wird dann benutzt, um ›Nation‹ als unterschiedlich von ›Kultur‹ zu definieren, die mit Bezug auf Symbole wie Sprache, Religion und Mythen definiert wird. Eine Nation ist oder hat eine Kultur, aber eine Kultur ist nicht unbedingt eine Nation. Kulturen haben keinen Anspruch auf Orte oder sogar Regionen in Raum und Zeit; wobei Raum die größte Bedeutung zukommt, weil hier Territorialkonflikte auftreten. Das Territorium ist an die Souveränität der Staaten gebunden und Staaten sind an das Monopol der Macht gebunden. Staaten entstehen und vergehen, aber Nationen bleiben, eine Hauptquelle der menschlichen Identität, oft verrückt, oft gewalttätig wegen der psychologischen Energien, die erzeugt werden. Etwa 180 Staaten sind multinational; fast alle werden von einer Nation dominiert, oft wegen historischer Eroberungsmuster. Expansionistische Nationen, viele davon europäisch-christlich oder arabisch-muslimisch, dominierten andere mit ähnlichen Mustern untereinander, bevor der abrahamistische Okzident in Asien, Afrika und auf dem amerikanischen Doppelkontinent uneingeladen angekommen ist. Weltweit ist es schwer, mehr als einen Staat oder ein Land 1 | Übersetzung aus dem Englischen von Rebecca Carbery.

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anzuerkennen, der oder das beides, multinational und symmetrisch, ist. Dieses Land ist die Schweiz, möglicherweise wegen der hohen Autonomie, die die Nicht-Deutschsprachigen haben, und wegen der niedrigen Eroberungsquote. Das Wort ›heilig‹ wird benutzt, um uns davon in Kenntnis zu setzen, dass nationale Identität ernst ist, das diese nicht einfach als nur vorurteilsbehaftet und diskriminierend wegzupsychologisieren ist (auch wenn diese zwei Haltungs- und Verhaltensmodelle wichtige Rollen spielen). Wenn zwei oder mehr Nationen die gleichen räumlichen Punkte beanspruchen, dann gibt es ein(e/n) echte(n/s) Unvereinbarkeit/Widerspruch/Problem, oder wie auch immer wir das benennen wollen, auch wenn die Beziehung symmetrisch und egalitär ist. Sie mögen vielleicht einfach nicht zu nah aneinander wohnen wollen; es gibt auch Anzeichen dafür in der Schweiz. Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Problem verschwindet, wenn ›Toleranz‹ gepredigt wird, die meint, das nahe Vorhandensein des Anderen zu tolerieren. Sogar Gleichberechtigung hilft vielleicht nicht, oder wenn, dann nur langfristig. Individuen stecken eine Privatsphäre ab; Nationen können das Gleiche tun und trotzdem gastfreundlich zu Gästen sein, die die Gastfreundschaft nicht überbeanspruchen. Eine Nation, die zwischen zwei oder mehr Staaten verteilt ist, sehnt sich vielleicht nach einem Zusammenkommen. Ihre Trennung durch strukturelle Gewalt (die oft durch direkte Gewalt unterstützt wird), die Menschen auseinanderbringt, die zusammenleben wollen, ist ähnlich wie die strukturelle Gewalt (die oft durch direkte Gewalt unterstützt wird), die Menschen zwingt, zusammenzuleben, die getrennt leben wollen. Wir mögen zwar bedauern, dass Menschen wie die Koreaner und die Einwohner Bosniens entweder auseinander- oder zusammengezwungen werden, aber wir kommen einer Lösung vielleicht näher, indem wir vielmehr die strukturelle Gewalt (die oft durch direkte Gewalt unterstützt wird) bedauern und versuchen, etwas dagegen zu tun. Um Konflikttransformation durch friedliche Mittel für diesen allgegenwärtigen Konflikt zu entwickeln, ist die Staat/Nation-Verbindung von höchster globaler Priorität, um Krieg zu vermeiden. Es ist offensichtlich, dass wir darin nicht sehr gut sind, wie Krisengebiete wie die Ex-Sowjetunion, Ex-Jugoslawien, Nordirland und das Baskenland zeigen. Zu viel Gewalt, zu viel Unterdrückung, zu viel Leid. Wie wir heute nur zu gut wissen, kamen Anfang 1999 viele dieser Nationalismen ans Licht, als die Büchse der Pandora des kalten Krieges aufgebrochen wurde. Jene, die über die Geschichte uninformiert waren, versuchten zu glauben, dass Nationalismen durch dieses Ereignis hervorgebracht wurden. Das wurden sie nicht; sie sind größtenteils Jahrhunderte alt, wurden aber von einem Sozialismus unterdrückt, der überzeugt war, dass in einer vereinten Arbeiterklas-

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se mit sozialisierten Produktionsmitteln der nationale Kampf als bedeutender politischer Einfluss verschwinden und nur als Relikt überleben werde, das von anderen Feudalrelikten wie Klerus, Adel und Bourgeoisie am Leben erhalten wird. Sie täuschten sich und förderten den Nationalismus durch das Tabuisieren jeglichen Ausdrucks jenseits der Künste und der Sprache. (Und als sie begannen, ihre Gesellschaften nach dem kalten Krieg zu rekonstruieren, machten sie einen gegengleichen Fehler, der von einem Liberalismus geleitet wurde, der überzeugt war, dass unter einer vereinten Nation, in welcher die Macht demokratisiert und der Markt privatisiert ist, der Klassenkampf verschwinden und nur als Relikt überleben werde, das von anderen Relikten wie Kommunisten und nostalgischen Leuten am Leben erhalten wird. Auch in diesem Fall irrten sie sich.) Die Frage ist dann, ob, unter welchen Umständen und inwiefern das Recht auf Selbstbestimmung als Mittel zur Konfliktlösung oder zumindest zur Konflikttransformation dienen kann. Idealerweise könnte es so funktionieren: Jede Nation, die im Territorium eines Staates lebt, den sie – zu recht oder zu unrecht – als ein Gefängnis von Nationen sieht, organisiert ein Plebiszit für ihre Nationsangehörigen und lädt die ›Internationale Völkergemeinschaft‹ ein, das Plebiszit zu beaufsichtigen. Wenn die Mehrheit ein bestimmtes (relativ hohes) Niveau übersteigt (etwa 2/3, 3/4 oder 4/5), verkündet sie, dass das nationale Selbst bestimmt hat – ja, was genau? Das Recht auf seinen eigenen Staat, das heißt, auf eigenes Territorium, das von seinem eigenen Machtmonopol geschützt wird – anders gesagt, dass ein neuer Staat geboren wird? Welche Anleitung bekommen wir von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte? Artikel 1 vom 16. Dezember 1966 im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte lautet (siehe auch UN-Charta, 1(2), 73): 1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. 2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden. Allerdings wird die Unabhängigkeit hier nicht erwähnt. Außerdem wird dieses kollektive Menschenrecht nicht wie individuelle Rechte behandelt. Wäh-

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rend Versammlungsrecht und Redefreiheit sofort praktiziert werden können, ist das Selbstbestimmungsrecht davon abhängig, anerkannt zu werden. Von wem? Vom Staat, der die Nation in seiner Mitte hat? Wie ein Sklavenbesitzer, der das Freiheitsrecht eines Sklaven anerkennt? Oder von Weltmächten wie die USA oder Großbritannien mit einer starken internationalen Rechtstradition und einem Gespür für Machtimplikationen durch Präzedenzfälle, die durch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts entstehen könnten? Oder vom Internationalen Gerichtshof, wie im Fall der Westsahara (1975 ICJ Rep.12), wo die Selbstbestimmung zum vorrangigen Prinzip gemacht wurde, im Gegensatz zum Fall von Ostgrönland, 1933, der als Konflikt zwischen zwei kolonisierenden Ländern, Dänemark und Norwegen, gesehen wurde? Ist dieses Recht wirklich ein intrinsisches oder ist es bedingt, wie das ›Recht‹ auf Ablehnung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen? Wenn dem so ist, sprechen wir dann nur von einer zweckdienlichen, wilsonianistischen Rhetorik wie jene nach dem Ersten Weltkrieg, um das besiegte und sterbende Habsburgerreich und Ottomanische Reich zu demontieren, und einer Rhetorik wie jene nach dem Zweiten Weltkrieg für die Administration der Beendigung einer Kolonisierung, die ursprünglich nie passieren hätte sollen? Den Grund dafür findet man zum Teil wahrscheinlich im Artikel 1(2), in den Passagen ›frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen‹ und ›In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden‹. Das sind löbliche, aber auch sehr starke Worte, die die Grundbedürfnisse der individuellen Mitglieder einer Nation gegen die Macht des souveränen, dem Territorium übergeordneten Staates ausspielen. Es gibt zumindest eine ökonomische Basis für die Bedingtheit. Und wie beim Status eines Wehrdienstverweigerers gibt es eine klare, präsente Bedrohung des Staates und der Logik des Staates, wenn die Selbstbestimmung anerkannt wird. Aber was ist mit der Logik der Menschen? Sie tendiert dazu, die Stärke des gefrorenen Wassers in der Felsspalte eines Berges oder eines keimenden Samenkorns unter Asphalt zu haben: Sie ist langfristig schwer aufzuhalten, wie die Amerikanische Revolution/der Unabhängigkeitskrieg 1776-1812 gezeigt hat. Diese Macht geht weit über das ›Recht über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel zu verfügen‹ zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse hinaus. Es gibt ein starkes, nicht-materielles Bedürfnis, das nicht klar genug in die demokratische Theorie eingeschrieben wurde: nicht nur das Recht, Herrscher einzuladen, und auch wieder auszuladen, zu regieren, sondern auch das Recht, von seinesgleichen regiert zu werden. Souveränität über ein Territorium ist weder nötig noch ein ausreichendes Erfordernis, um dieses Recht zu erfüllen. Wenn Souveränität nicht Teil davon ist, dann sprechen wir von Autonomie und nicht von Staatlichkeit (die früher oder später Autonomie bedeuten wird, ›Treuhandschaft‹ ist ein Beispiel für eine Übergangsformel). Autonomie wird dann zum untergeordneten Ergebnis der

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Selbstbestimmung; die Unabhängigkeit, der neugeborene Staat sind bedeutender. Autonomie beinhaltet zwar in gewisser Weise Souveränität, aber nicht die ultimative Souveränität, da der Staat noch das ultima ratio regis, das letzte Argument des Königs hat: die schweren Kanonen. Das Recht auf Selbstbestimmung ist nicht nur bedingt. Es kann auch erodiert werden, indem ein weniger bedeutendes Ergebnis angeboten wird, das für die Nation, die ihr Recht auf Selbstbestimmung ausübt, akzeptabel sein kann oder auch nicht. Auf der anderen Seite ist aber eine Situation, in welcher eine Gruppe sich als ›Volk‹ deklariert und sich mit ihren ›natürlichen Reichtümern und Mitteln‹ davonmacht, auch inakzeptabel. »Ein Volk« wird durch UNESCO-Experten definiert durch ›Rasse‹ oder ethnische Identität, Spracheinheit, religiöse oder ideologische Angehörigkeit oder territoriale Verbindung. Es gibt viele davon. Diese Definition kann auch für Reiche und Mächtige gelten, die oft in separaten Teilen eines Landes leben. In Zeiten der Globalisierung könnten sie sich als ›Volk‹ deklarieren und ihre territorialen Teile zu einem globalen Finanz-Ökonomie-Verzweigungspunkt machen. Die UNESCO-Definition ist hilfreich, aber ist dieser umfassende Begriff ›ein Volk‹ hilfreich? ›Territoriale Verbindung‹ ist auch zu weich/vage, um ›Nation‹ zu beschreiben, wie sie hier definiert wird. Wir reden hier nicht nur von ›Verbindung‹ sondern von ›Anbindung‹ bis zu kultureller Heiligkeit und juridischen territorialen Ansprüchen. Das Problem liegt nicht in Definitionen, sondern darin, was passiert, wenn zwei oder mehr Gruppen/Völker/Nationen eine ›Anbindung‹ an oder sogar Ansprüche auf dasselbe Territorium haben. Die Beziehung ist normalerweise asymmetrisch, zwischen mächtig und machtlos. Wir mögen vielleicht Verständnis haben für die Machtlosen, Unterdrückten, auch Staatenlosen (Juden, Roma) und ihr Recht, ein Territorium und einen Staat zu besitzen sowie das individuelle Recht, Eigentum zu besitzen. Aber die Mächtigen haben vielleicht für Generationen dort gelebt, waren vielleicht nicht nur ›verbunden‹, sondern auch ›angebunden‹ und haben ihre Ansprüche eloquenter geäußert. Es gibt eine komplexe Dialektik nicht nur von Macht, sondern auch von Rechten. Und es gibt wahrscheinlich gute Argumente auf beiden Seiten. Können wir diesen gordischen Knoten durch einen einfachen Mechanismus des Treffens von Entscheidungen lösen? Ein Referendum in einer Nation N stellt den Willen dieser Nation fest. Aber es gibt auch den Willen der anderen Nation(en), die Nation N nicht loszulassen. Sie werden vielleicht ihren Status als Mehrheit benutzen, um der ganzen Nationengruppe ein Referendum aufzuerlegen, das der Welt zeigen soll, dass eine Abstimmung für Autonomie oder sogar Eigenstaatlichkeit für N weit unter jedem Mindestanteil liegt. Natürlich ist dieses Argument falsch. Es drückt nur auf andere Weise aus, dass N das Recht, von seinem eigenen Volk regiert zu werden, verweigert wird. Separate Abstimmung definiert die Parteien, die Akteure; eine gemeinsame Abstimmung sagt

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wenig Interessantes aus, ist Zeichen einer Entität, die im Verschwinden begriffen ist. Selbstbestimmung ist ein Recht, nicht eine Frage von Zahlen. Könnten wir das Annerkennungsinstitut und den zweistufigen Prozess anerkennen, also erstens Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für N, zweitens die Ausübung der Selbstbestimmung von N? Das Problem ist der Schritt vom Anerkennen der Anerkennung zum Anerkennen des Anerkenners. Weder Weltmächte noch ihre AnwältInnen, noch die UN-Generalversammlung, noch eine Gewerkschaft von Staaten, im Übrigen auch nicht eine Gewerkschaft der Nationen wird es tun, denn ihre Schlussfolgerungen sind zu sehr mit ihren Interessen verbunden und daher zu vorhersehbar. Ihre Meinung soll gehört, aber es soll nicht auf sie gehört werden. Die Suche nach unbefangenen Beteiligten – möglicherweise könnte dies der Internationale Gerichtshof sein – hat begonnen, aber das Ergebnis ist keineswegs klar. Und der Grund dafür könnte sein, dass wir von Unbedingtheiten reden, sogar mit heiligen Konnotationen. Wir haben oben gezeigt, dass Entscheidungen diesbezüglich nicht durch Abstimmungen getroffen werden können; Wahlausgänge gegen die Souveränität werden nicht unbedingt respektiert. Und inwiefern können Probleme des nationalen Willens dem Gesetz überhaupt unterliegen? Details schon, aber das Gesetz ist nicht dafür bekannt, den Freiheitskampf beenden zu können. Dazu kommt, dass es sich mit Selbstbestimmung wie mit chinesischen Schachteln verhält. Ein Staat kann ein ›Gefängnis der Nationen‹ sein und einen gewalttätigen Konflikt auslösen, der oft ›interner Krieg‹ genannt wird, auch wenn nichts dergleichen im Zeitalter der Intervention existiert. Aber das gilt auch für Staaten, die aus solchen Konflikten entstehen und führt zum Problem der Anerkennung der Nationen innerhalb von Nationen, innerhalb von Nationen usw. Das Prinzip der uti possidetis, existierender Grenzen innerhalb (kolonialer) Reiche und Föderationen wie die Sowjetische Union und Jugoslawien (wie es vom Internationalen Gerichtshof im Fall des Grenzstreits zwischen Burkina Faso und Mali 1986 angewendet wurde), legt zu viel Gewicht auf vergangene administrative Entscheidungen. Das Recht auf Selbstbestimmung wurde für Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina (BiH) anerkannt, aber nicht für SerbInnen in Krajina/Slawonien, SerbInnen und KroatInnen in BiH und AlbanerInnen im Kosovo. Das Ergebnis war ein Krieg und enormes Leiden, was eventuell hätte vermieden werden können, wenn gleiches Recht auf Selbstbestimmung auf einem niedrigeren Level erteilt worden wäre. Die Schlussfolgerung kann insofern nur sein, dass das Recht auf Selbstbestimmung ein extrem wichtiges Menschenrecht ist, aber dass es nicht als automatisches Recht auf Sezession, Eigenstaatlichkeit und Anerkennung der zwischenstaatlichen Gesellschaft als Staat, nicht einmal auf ein höheres Niveau der Autonomie innerhalb eines Staates, interpretiert wird. Das Recht auf Selbstbestimmung ist das Recht eines Volkes, seinen Status innerhalb eines Staates selbst zu bestimmen und folglich in der Welt, inklusive die Option auf Eigen-

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staatlichkeit und die Option auf Besitzstand. Aber unabhängig von der Entscheidung ist ein Recht auf Autonomie auf niedrigem oder hohem Niveau nicht das Recht darauf, andere überhaupt nicht zu berücksichtigen, wie auch das Recht auf Redefreiheit kein Recht darauf ist, Konsequenzen der Ausübung dieses Rechts zu missachten. Es gibt ein vorrangiges Prinzip der Verantwortlichkeit.

2. D IE D IALEK TIK Z WISCHEN NATIONALER I DENTITÄT UND STA ATLICHER I NTEGRITÄT UND DIE V ERPFLICHTUNG ZUR K ONFLIK T TR ANSFORMATION Unsere Schlussfolgerung ist bis hierher, dass das Recht auf Selbstbestimmung eine nötige, aber nicht ausreichende Basis ist, um die Dialektik der nationalen Identität versus staatliche Integrität zu Ergebnissen zu führen, die die Bedingungen für Konfliktlösung erfüllen: Akzeptierbarkeit seitens der Beteiligten, und Nachhaltigkeit (das Ergebnis muss nicht abgestützt werden). Es gibt viele wissenschaftliche Fächer, die sich damit beschäftigen; Rechtswissenschaft ist nur eines davon. Ein ausgedehntes Spektrum der alternativen Disputlösungsformeln hat sich eröffnet; scheinbar alle basieren mehr auf dem Dialog zwischen oder mit den Beteiligten, weniger auf ein kodifiziertes Gesetz. Ob dies ein Prozess des de lege ferenda, des Gesetzes im Entstehen, ist oder nicht, wird sich noch zeigen. Die Geschichte läuft normalerweise im Zyklus vom Gesetzbuch zur Suche, vom Gekochten zum Rohen, le cuit et le cru, und wieder zurück. Die folgenden Ausführungen basieren auf der Praxis, die dem Autor am vertrautesten ist, der TRANSCEND-Methode, und auf einer Konfliktpraxis mit 30 Fällen, die Staaten, Nationen und Territorien einbeziehen. Natürlich ist dies nur eine Methode von vielen weltweit, aber vielleicht spricht sie die Situation mancher Menschen und Völker an. Es soll auch erwähnt werden, dass der Blickwinkel auf die Konflikte von langen Dialogen mit Konfliktbeteiligten und TeilnehmerInnen vor Ort abgeleitet wurde, es handelt sich nicht um Übungen, die in der Bibliothek unternommen worden sind. Das Muster, das unten erforscht wird, war am Anfang, vor 30 bis 40 Jahren, überhaupt nicht klar, nicht einmal die einfache Typologie weiter unten. Es erfordert Zeit und Erfahrung, bis sich Muster herauskristallisieren. Und es wird natürlich nicht angenommen, dass das, was nun folgt, das letzte Wort ist; das gibt es niemals. Aber Zahlen haben einen gewissen Vorteil, wenn es um Muster geht, und 30 ist eine hohe Zahl. Wir stellen uns ein Territorium vor und auf diesem Territorium: • ›einen Staat‹ oder ›zwei oder mehr Staaten‹ und darin • ›eine Nation‹ oder ›zwei oder mehr Nationen‹ und vier Kombinationen:

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Tabelle 1: Anzahl von Staaten/Territorien x Anzahl von Nationen Anzahl der Staaten Anzahl der Nationen Eine Nation

EIN STAAT/ TERRITORIUM A 20 Nationalstaaten: (fast) homogen (fast) keine Diaspora Ideal, nicht die Realität

ZWEI ODER MEHR STAATEN/TERRITORIEN B KOREA DIE KURDEN DIE MAYA

Zwei oder mehr Nationen

C ISRAEL/PALÄSTINA RHODESIEN-ZIMBABWE HAWAII HINDUISTISCH-MUSLIMISCH SOMALIA CHINA LIBANON JAPAN-RUSSLAND ECUADOR-PERU

D ZYPERN NORDIRLAND KASCHMIR PAX PACIFICA JUGOSLAWIEN a JUGOSLAWIEN b SRI LANKA KAUKASUS OKINAWA DIE GROSSEN SEEN EUSKAL HERRIA (=Baskenland) GIBRALTAR/CEUTA/ MELILLA OST-WEST a OST-WEST b GOLF a GOLF b CHRISTLICHMUSLIMISCH TRICHOTOMISCHES EUROPA

Der/die LeserIn findet 30 Konfliktgebiete, wie die nationalen und/oder geografischen Begriffe zeigen. Diese Konflikte betreffen die Kontrolle von Territorien und beziehen Nationen ein, das heißt Geopolitik im weiteren Sinne.2 Der/die LeserIn wird merken, dass es nur drei ›eine Nation – zwei oder mehr Staaten‹-Fälle und zehn ›zwei oder mehr Nationen – ein Staat‹-Fälle gibt; 2 | Die Konflikte werden nach der Reihenfolge aufgelistet, in der die TRANSCEND Konfliktarbeit angefangen wurde, oder anders formuliert, die Reihenfolge ist administrativ, nicht systematisch. Für kurze Charakterisierungen der Diagnose-Prognose-Therapie von 30 Konflikten siehe Appendix; für weitere Information siehe www.transcend.org.

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die Mehrheit, siebzehn, sind in der kompliziertesten Kategorie D. Diese Klassifizierung hängt von der Anzahl der Staaten und Nationen im Konfliktgebiet ab und das bewirkt eine gewisse Ambiguität in dieser relativ unbedeutenden Klassifizierung. Wir wollen jetzt die gleiche einfache Typologie benutzen, wollen uns aber nicht auf die Klassifizierung von konkreten Fällen konzentrieren, sondern auf das, was gemacht werden kann, also auf die möglichen Mittel/Therapien: Tabelle 2: Die Staat/Nation/Territorium-Dialektik: Therapien Anzahl der Staaten Anzahl der Nationen

EIN STAAT/TERRITORIUM

ZWEI ODER MEHR STAATEN/TERRITORIEN

Der klassische Fall, der heutzutage durch Globalisierung und Migration herausgefordert wird, und dann 1. B, C, oder D; oder 2. die Übernahme der Nationen, die zu Super-Nationen werden; die Auflösung der Nationen; 3. die Aufnahme der Staaten, die zu Super-Staaten werden; die Auflösung der Staaten

1. Die einheitliche Lösung, Integration mit • Gleichberechtigung und Symmetrie • Menschenrechten • Toleranz innerhalb der Staaten 2. Autonomie, innerhalb aller Staaten 3. Konföderation, der Autonomien oder Staaten 4. Föderation, der Autonomien oder Staaten 5. Neuer einheitlicher Staat

DIE ZUNAHME DER FUNKTIONELLEN SOUVERÄNITÄT:

DIE ERSTELLUNG EINES KONTEXTS MIT ZUNEHMENDER REGIONALISIERUNG:

EINE NATION

ZWEI ODER MEHR NATIONEN

1. Die einheitliche Lösung, Integration mit • Gleichberechtigung • und Symmetrie • Menschenrechten • Toleranz 2. Autonomie 3. Föderation • territorial • nicht-territorial 4. Konföderation • territorial • nicht-territorial 5. Unabhängigkeit 6. Kondominium

1. Assoziatives System der Staaten 2. Konföderative Gemeinschaft der Staaten 3. Föderative Einheit der Staaten 4. Neuer einheitlicher Staat

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Die Tabelle zeigt viele Möglichkeiten, zweifellos gibt es noch mehr. Die generelle Ausgangsbasis ist eine einfache Vermutung: Je höher die Anzahl der Alternativen zur überwältigenden Dichotomie des Status quo in einem einheitlichen Staat vs. Sezession-Unabhängigkeit, desto niedriger, ceteris paribus, die Wahrscheinlichkeit der Gewalt. Da das Anerkennungsinstitut den Weg von der Selbstbestimmung zur Unabhängigkeit oft (verständlicherweise) blockiert, wird die Nation, die auf der Suche nach Eigenstaatlichkeit ist, Gewalt vielleicht als einzige Alternative sehen. Keineswegs soll das heißen, dass Selbstbestimmung als ein Menschenrecht aufgegeben wird, aber dieses Recht auf Selbstbestimmung ist mit einer Verpflichtung zu Konflikttransformation verbunden. Sich abzuspalten und nichts zu tun, um das verursachte Chaos zu beseitigen, ist wie ein(e) EhepartnerIn, der/die aus seiner/ihrer Ehe ausbricht, ohne Rücksicht auf den/die andere(n) Beteiligte(n) und Drittpersonen (Kinder, Schwiegereltern, Freunde, Nachbarn), egal ob die Person, die weggeht, eine geschlagene, ausgenutzte Ehefrau oder ein egoistischer, tyrannischer Ehemann (oder irgendeine andere Kombination) ist. Nach Gewalt gibt es noch mehr Chaos, und weniger Neigung, wieder aufzuräumen; die Schlussfolgerung kann also nur sein, sich an der Konflikttransformation vor und nicht nach jeglicher Art von Gewalt zu beteiligen, und so Gewalt hoffentlich zu verhindern. Auch wenn Selbstbestimmung ein Recht ist, wie das Recht der Frauen auf Parität, so kann die Ausübung dieses Rechtes zu einem Konflikt führen. Dieser Konflikt muss im Rahmen dieses Rechtes transformiert werden. Der Konflikt macht weder das Recht ungültig, noch ist das Recht die alleinige Berücksichtigung in dem Konflikt. Bevor wir fortfahren, räumen wir mit einem Argument auf: nämlich, dass Sezession zu kleinen, nicht funktionsfähigen Staaten führt. Europa hat einige kleine, aber funktionsfähige Staaten, sowohl ökonomisch (Vermögen gut verteilt) und politisch (Demokratien), wie die Ministaaten Liechtenstein und Andorra und die kleinen Staaten Island und Luxemburg. Die Welt kennt auch sehr große Staaten, deren ökonomische und politische Funktionsfähigkeit umstritten sein kann, unter anderem deshalb, weil sie ›Gefängnisse der Nationen‹ sind. Deren Sorge um kleine Staaten ist ein Ersatzargument. Die Geschichte der Stadtstaaten sollte uns das zeigen; sie waren sehr funktionsfähig, bis sie von einigen der heutigen Nationalstaaten aufgenommen wurden. Problematischer wäre eine UN mit 2000 Mitgliedsstaaten, aber Konföderationen (wie die Nordische Gemeinschaft) wären dann von gemeinsamen Delegationen unterstützt. Wir wollen nun die Tabellen 1 und 2 kombinieren und Perspektiven und Vorgehensweisen von Tabelle 2 auf Konfliktfälle von Tabelle 1 anwenden.

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A: Eine Nation – Ein Staat/Territorium: Wir können Herder und Fichte keinen Vorwurf daraus machen, aber was immer sie gesagt haben, scheint auf guten Nährboden gefallen zu sein, wie oben in [1] verdeutlicht wurde. Jedoch sind dies keine ewigen, essenziellen Wahrheiten. Andere Bruchlinien wie Geschlecht oder Klasse sind auffälliger oder könnten es sein, wie FeministInnen und MarxistInnen argumentieren. Oder Bruchlinien könnten, wie PostmodernistInnen anscheinend glauben, in den Hintergrund treten zugunsten einer unstrukturierten, amorphen Masse von Individuen. Aber heutzutage ist die Nation wichtig und sie wird es noch eine Weile sein, Staaten wahrscheinlich weniger. Wir haben gezeigt, dass, wie auch immer es sich verhalten mag, offene Grenzen und eine globalisierte Welt durch Schub- und Sog-Faktoren Migration in ihrem Kielwasser haben. Jede(r) MigrantIn bringt eine ausländische Kultur mit, mit Ansprüchen, nicht auf Nischen im geografischen Raum oder Land, sondern auf Nischen im kulturellen Raum. (MigrantInnen sind keine Nationen, wenn sie im Ausland sind, oder nur nach einigen Generationen wie die Protestanten in Nordirland). Im Laufe der Zeit kann dies zu Problemen des Typs B, C oder D führen. Anschließend kann noch etwas anderes passieren, was die Herkunftsländer auch einbezieht: • Übernahme der Nationen: Im Laufe der Zeit werden sie alle zum Teil einer Super-Nation, wie dies schon seit einer Weile in den nordischen Ländern passiert, was mit der starken intra-nordischen Migration und mit den EULändern zu tun hat. Es könnte Generationen oder sogar Jahrhunderte dauern, bis ›ich bin nordisch‹ oder ›ich bin EuropäerIn‹ Bedeutung hat; die Erfahrung mit ›je sam jugoslav‹ und ›sovjetskij tchelovjek‹ zeigt, dass dieser Verlauf nicht erzwungen werden kann. • Übernahme der Staaten: Dieser Verlauf wird (Europäische Union), oder wird nicht (nordische Gemeinschaft) von der Erschaffung eines Super-Staates begleitet. Wird das Problem gelöst? Nein, Super-Nationen/Staaten sind ähnlich wie Nationen/Staaten; Super-Ebenen bedeuten auch Super-Kriege.

B: Eine Nation – zwei oder mehr Staaten/Territorien: Drei Fälle, wie gewöhnlich ähnlich und verschieden zugleich, von geteilten Nationen: die Koreaner, die zwischen Nord und Süd und Japan geteilt sind; die Kurden, die zwischen fünf Ländern aufgeteilt sind; die Türkei, Irak, Iran und (weniger) Syrien und Armenien; die Maya (Nachkommen), die zwischen Mexiko (Chiapas), Guatemala (als eine Mehrheit) und Honduras aufgeteilt sind. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die Koreaner allein sind im geteilten Korea.

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Tabelle 2 bietet zwei Ergebnisse oder Phasen an; was akzeptierbar und zukunftsfähig ist, hängt, wie immer, von den Umständen ab: Erstens, Menschenrechte, egal wo sie wohnen, für Kurden und die Maya sind definitiv nicht realisiert, vielleicht schon heutzutage für die Koreaner im Süden, aber nicht im Norden, und nicht vollständig in Japan; Zweitens, Autonomie innerhalb der Staaten, das heißt nicht nur Menschenrecht, sondern auch das Recht, vom eigenen Volk regiert zu werden, basiert auf der ›territorialen Verbindung‹; kein Problem für KoreanerInnen in Korea, wahrscheinlich nicht möglich für KoreanerInnen in Japan, aber besonders bedeutend für Kurden und Maya in den Ländern, in denen sie zahlreich sind. Drittens, die Autonomien in einer Konföderation, möglicherweise mit ihrem eigenen Parlament, das vielleicht in einem anderen Land zusammentreten muss, und ihrer eigenen Auslandsrepräsentanz, die die Funktionen eines Staates annehmen, ohne einer zu sein. Höchst relevant für alle drei Fälle. Viertens, die Autonomien in einer Föderation, d. h. Staatlichkeit mit etwas Autonomie für die einzelnen Mitglieder, wie die Schaffung der USA 1776-1865. Wiederum höchst relevant für alle drei Fälle. Fünftens, eine Einheitsstaatslösung, wie die BRD und DDR 1990 (die föderalen Aspekte gehen in eine andere Richtung); wie der vierte Schritt (vielleicht auch der dritte) wird dieser wahrscheinlich stark von den Ursprungsstaaten bekämpft werden. Am relevantesten für Nord- und Südkorea, tatsächlich hat Präsident Kim Dae-Jung eine dreistufige Formel (3)-(4)-(5).

C: Zwei oder mehr Nationen – ein Staat/Territorium: Das Staats-Territorium als ›Gefängnis der Nationen‹. Fünf Ergebnisse werden angeboten. Was akzeptierbar und zukunftsfähig ist, hängt von den Umständen ab. Sie können auch als Programm mit fünf Phasen in einer Reihenfolge gesehen werden, dieses Mal eher Desintegration als Integration reflektierend: • Erstens: eine Einheitsstaatslösung, das heißt, dass alle irredentistischen, widerständischen Nationen den Status eines/r ›LieblingsstaatsbürgerIn‹ erlangen, der/die Gleichberechtigung/Symmetrie, Menschenrechte und Toleranz genießt. • Wenn dies akzeptierbar/zukunftsfähig ist: so weit, so gut. So ist Rhodesien zu Zimbabwe geworden. Dies ist auch das Schema für Muslime in Indien, wo man symmetrische Vorgehensweisen in dem Ayodhya-Konflikt eingefordert hat. • Zweitens, Autonomie innerhalb der Staaten. ›Souveränität‹ ist, was den PalästinenserInnen angeboten wurde und was sich für die HawaiianerInnen entwickeln könnte. Da es asymmetrisch ist, ist es vielleicht lang- oder

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kurzfristig nicht zukunftsfähig, Unabhängigkeit und Konföderation für Israel-Palästina zu fordern; in einer Föderation würde man einander zu nahe kommen. • Drittens, den Staat zu einer Föderation machen, auf territorialer Verbindung oder auf kultureller Identität basierend, territorial oder nicht-territorial, mit gemeinsamen Finanzen, gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Formel hat den Vorteil der Symmetrie, und eine nicht-territoriale Version, die auf Klanen basiert, ist für Somalia interessant. Dies (oder (4)) könnte die schwierigen Beziehungen zwischen Beijing und Taiwan, Hong Kong, Tibet, Xinjiang und der Inneren Mongolei lösen. Interessant für den Libanon? • Viertens, den Staat zu einer Konföderation machen, mit De-facto-Unabhängigkeit für die konstituierenden Teile, um ihre eigenen Finanzen, eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu haben. Interessant für Indien? • Fünftens, Sezession und Eigenstaatlichkeit, ein (oder mehr) neue Staaten werden gegründet, sowohl de facto als auch de jure. Unerlässlich für Palästina, und vielleicht auch eine Lösung für Okinawa, das von den USA/Japan beherrscht wird. Entscheidend für die Auswahl der Alternativen (1) bis (5) ist, wie viel Souveränität eine ›gefangene‹ Nation wirklich will. Um das zu wissen, müssen Fragen gestellt werden, wie: Wie wäre es mit eigenen Briefmarken oder einer eigenen olympischen Mannschaft, einer separaten Währung, einem Sitz in der UNO, einer eigenen Armee etc.? Die klassische Unabhängigkeit des 19. Jahrhunderts, mit überwältigendem Ja in solchen Fragen, wird immer seltener. Andere Optionen sind in den Diskurs aufgenommen worden; PolitikerInnen/DiplomatInnen/JournalistInnen haben diese Optionen gelernt, wenn nicht gar kreiert. Die Leute sind sogar in Wahrheit vielleicht viel weniger dualistisch als die starre ›Gefängnis‹/Unabhängigkeits-Formel andeutet, aber lehnen diese keineswegs ganz ab. Die Souveränität ist eine Frage des Maßes, der Funktionalität, wie Sozialismus und Kapitalismus. Was übrig bleibt, sind Ecuador-Peru über la zona inejecutable, das umstrittene Territorium in den Anden, und Japan-Russland über den nördlichen Territorien/Südkurilen, das umstrittene Territorium in der Nähe von Hokkaido. Diese Fälle sind ein wenig anders als die oben genannten. Es gibt hier sicher zwei Nationen (EcuadorianerInnen und PeruanerInnen im ersten Fall, JapanerInnen und RussInnen im zweiten Fall), und es gibt auch ein Territorium, aber ohne »gefangene« Bevölkerung in nennenswertem Ausmaß. Es ist schwer, sich Unabhängigkeit oder entsprechende Schritte in diese Richtung vorzustellen, und darum geht es im Wesentlichen in (1) bis (5) in Tabelle 2. Eine Nummer (6) wurde also für diesen Fall hinzugefügt: das Territorium gemeinsam besitzen, es binational zu machen, ein Kondominium mit geteilter/gemeinsamer Sou-

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veränität. Dies wäre vielleicht auch in Fällen wie Nordirland, dem Baskenland und der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea möglich. Als Friedenszone würden einige nicht-bedrohliche, kooperative Maßnahmen wie Naturschutzgebiete, gemeinsame ökonomische Zonen, Campingplätze, Konfliktbewältigungszentren usw. stufenweise Modellcharakter erlangen.

D: Zwei oder mehr Nationen – zwei oder mehr Staaten/Territorien Wir kommen jetzt zur komplexesten Kombination, die in der heutigen Welt typisch ist, einer Kombination aus B und C. Im Allgemeinen geht es um eine vertrackte Kombination von Nationen und Staaten, wie z. B. im Kaukasus, wo es drei Staaten und 28 Nationen innerhalb der Staaten und untereinander gibt, und vier Staaten, die von außen eingreifen. Darüber könnten jene nachdenken, die der Ansicht sind, dass das Baskenland, Nordirland und Jugoslawien/die Balkanstaaten bereits komplex sind. Es handelt sich beispielsweise um Berggebiete (Kaukasus, Pyrenäen, Jugoslawien, Himalaya; die Alpen wurden von den SchweizerInnen gut besiedelt), wo Gruppen vielleicht schon jahrhundertelang in Tälern wohnen, nur um von einem sich in der Ebene ausbreitenden Zentrum (Moskau, Paris, Madrid, Belgrad, Zagreb, Beijing) ›entdeckt‹ und beansprucht zu werden. Das generelle Schema ist offensichtlich, die Vorgehensweisen von B und C zu kombinieren, wobei, wenn man so vorgeht, schon die rein intellektuelle Aufgabe, umfassende und verständliche Formeln zu finden, nicht unterschätzt werden soll. Aber es gibt eine andere Leitformel, indem ein Kontext kreiert wird. Im Prinzip sollen alle diese Probleme im Kontext von zunehmender Regionalisierung und Globalisierung, die auf einer zwischenstaatlichen, inter-korporativen und/oder inter-zivilgesellschaftlichen Kooperation basiert, leichter zu lenken sein. Eine neue territoriale Grenze wird weniger dramatisch, wenn sie osmotisch ist, mit den drei Arten von Kooperationen, die an vielen Punkten durchlässig sind. Wo auch immer es einen Konflikt gibt, weil mehr als eine Nation Anspruch auf das selbe Territorium hat, sollen zwischenstaatliche Organisationen (im Englischen IGO), transnationale Konzerne (im Englischen TNC), und Nichtregierungsorganisationen (NRO) aufgefordert werden, sich in allen beteiligten Nationen zu verwurzeln und für Verbundenheit über die Grenzen hinweg zu sorgen. Aber der internationale Dachverband könnte gebraucht werden, ob in Form eines assoziativen Systems, einer konföderativen Gemeinschaft, einer föderalen Einheit oder sogar eines Einheitsstaates. Um dies konkreter zu machen, folgt eine Liste von zwischenstaatlichen Kontexten, die entweder schon existieren bzw. gefestigt oder gegründet werden könnten, die für die Konfliktgestaltungen in D und manche andere relevant sein könnten (Organisationen, die erst gegründet werden müssen, stehen in Klammern).

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Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE, N = 56) • für Ost-West a, das NATO-WTO-blockfreie/neutrale Dreieck Vereinte Nationen (UN, N = 192) (mangelhaft, aber der einzige) • für Ost-West b das NATO-Russland-China-Indien-AMPO Dreieck • für Europa das katholische/protestantische-orthodoxe-muslimische Dreieck • für die Konfliktgestaltung des Islams/Christentums Europäische Union (EU N= 27) • für Zypern, mit beiden Teilen als Mitglieder, mit Griechenland und der Türkei • für Nordirland, mit separatem Status für Ulster • (und dazu eine [Konföderation der Britischen Inseln]). • für das Baskenland, mit einem gegebenen separaten Status Südasiatische Vereinigung für regionale Kooperation (SAARC, N = 7) • für das trichotomische Kaschmir • für das trichotomische Sri Lanka (SinghalesInnen, TamilInnen, MuslimInnen) [Forum der pazifischen Hemisphäre] • für die Pazifischen Inseln, Australien/Neuseeland und die Ränder des Pazifischen Raums • für Japan-Russland • für Hawaii (mit einem souveränen Hawaii als mögliches Zentrum?) [Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten] • für den Golf a über die Beziehungen zwischen Irak und seine Nachbarn • für den Golf b über die Beobachtung von Irak • für Kurdistan • für Israel/Palästina [Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Südost Europa] • für Jugoslawien a über Serbien-Kroatien-BiH + • für Jugoslawien b über Serbien-Albanien- Mazedonien + [Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Kaukasus] • für den Kaukasus [Gemeinschaft der zentralafrikanischen Staaten] (Indischer Ozean bis zum Atlantik) • für die Großen Seen

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[Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeer] • für Gibraltar/Ceuta/Melilla • für Israel/Palästina [Ostasiatische Gemeinschaft] • für Korea • für Okinawa • für China Sie sind alle nützlich. Und gefährlich, sollten sie zu Super-Staaten werden.

3. S CHLUSS : E S GIBT NOCH VIEL ZU TUN Neben den zwischenstaatlichen regionalen Organisationen, wovon vier auf der OSZE basieren, gibt es einige neue Ideen, die erforscht werden sollten: nichtterritoriale (Kon)föderationen, funktionelle Souveränität, und Kondominien/gemeinsame Souveränität. Im Folgenden einige Anmerkungen zu den einzelnen Möglichkeiten. Nicht-Territorialität ist eine Antwort auf die Bewegungsfreiheit, die den Zusammenhang zwischen der Kultur und dem Territorium ›eines Volkes‹ schwächt. So lässt sich etwa ein(e) norwegische(r) Sami als Sami registrieren, was nicht durch die territoriale Verbindung (Adresse), sondern durch die territoriale Anbindung (Nation) definiert wird. Ein Land, das Nationen hat, deren Wohn-Umfeld sich vermischt, könnte ein Parlament für jede Nation haben und ein SuperParlament für föderale Angelegenheiten. Diese Regelung könnte einer solchen Mischung viel von ihrer Brisanz nehmen, die noch explosiver und gefährlicher wird, umso weniger die Nationen territorial voneinander abgegrenzt sind (Jugoslawien, Ruanda). Funktionelle Souveränität mildert die Status-quo-Unabhängigkeits-Dichotomie, indem sie stufenweise Souveränität, d.  h. Kontrolle, einführt. Der Ausgangspunkt wäre eine Liste der Funktionen, die im Allgemeinen Ländern und im Besonderen Staaten zugeschrieben werden. Die ›Unabhängigkeitsleute‹ sollen gefragt werden, was sie wirklich wollen, und die ›Status-quo-Leute‹ sollen gefragt werden, wie viel sie den anderen zugestehen könnten. Dieser Prozess bringt Gebiete hervor, über die verhandelt werden könnte, abhängig von einer Überprüfung nach X zu verhandelnden Jahren. Kondominium/gemeinsame Souveränität hinterfragt die Idee, dass jedes Grundstück nur einem Staat gehört, und dass, was gemeinsam besessen wird,

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von niemandem besessen wird – res communis = res nullis. Kondominium bringt eine neue Art von Beziehungen in die Geopolitik ein, die bisher nur in Kolonialengebieten (Neue Hebriden, die zwei Teile Kameruns), und in der Antarktis eingesetzt wurde. Die Idee bringt großes Konfliktlösungspotenzial mit sich, aber führt auch zu manchen interessanten Problemen, was die Rechtsstellung der Leute, die in dem Gebiet wohnen (oder sogar geboren wurden) betrifft. Dies führt die Überlegungen zur Dialektik zwischen der nationalen Identität und der staatlichen Integrität zu einem Abschluss. Keine von beiden ist absolut. Wenn ein Staat die individuellen Menschenrechte, die zivil-politischen und ökonomisch-soziokulturellen Rechte nicht erfüllt, verliert er den Anspruch darauf, dass Staatsbürger den Staat anerkennen, Steuern zahlen und ihr Leben für den Staat hingeben. Das Recht auf Selbstbestimmung ist das Recht einer Nation, sich von so einem Staat abzuspalten und von ihresgleichen regiert zu werden, oder auf andere größere Umstrukturierungen, die einer Unabhängigkeit nahekommen, entsprechend dem Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. Keine Nation darf aus einem Staat aussteigen, um einen anderen zu gründen, der den Nationen/Völkern, die unter seiner Kontrolle sind, die gleichen Rechte verweigert. Es gibt Grenzen der nationalen Identität, wie es sie auch für staatliche Integrität gibt, auch wenn sich eine Nation für ein auserwähltes Volk hält, dessen Ruhm in der Vergangenheit noch in die Zukunft wirkt und das unaussprechliche Trauma, das erlitten wurde, ausgleicht. Staaten und Nationen sollten entmystifiziert werden, ebenso wie Diskurse über Mehrheit/Minderheit (ein historisches Recht wird nicht in Zahlen ausgedrückt; es bleibt bestehen, auch wenn es eine Mehrheit gibt, wegen der man sich Sorgen macht) über multikulturelle Gesellschaften (Kulturen haben keine territorialen Ansprüche), über interne/externe Unterdrückung (Unterdrückung bleibt Unterdrückung), Salzwasserkolonialismus (Salinität spielt keine Rolle). Keine Nation soll gezwungen werden, zwischen Status quo und vollständiger Unabhängigkeit zu entscheiden, weil Alternativen nicht angeboten werden, und keine Nation soll gezwungen werden, zwischen stillschweigender Einwilligung und Gewalt zu entscheiden, weil ihr Recht nicht anerkannt wird. Demzufolge wird adäquate Konflikttransformation ein Recht, nicht nur eine Verpflichtung, und eine der Hauptaufgaben der internationalen Gemeinschaft werden.

Von Transitional Justice zu Just Peacebuilding? 1 Wilfried Graf, Valerie Kainz und Agnes Taibl Transitional Justice (TJ) dreht sich um die Frage des Umgangs mit der Vergangenheit, mit einer Geschichte massiver kollektiver Gewalt in Nachkriegsgesellschaften. Wir stützen uns auf die Definition von Andrieu in einer beeindruckenden Bestandsaufnahme in Online Encyclopedia on Mass Violence 2010: »The theories and research programs that explain, justify, compare, and contest specific practices of moral and social repair, and the political and social movements dealing with the past, including practices such as Truth Commissions, trials, administrative reorganization, nation building, commemoration and reparation, is what we now call ›transitional justice‹ (Mendez, 1997; Crocker, 1999; Teitel, 2003; Elster, 2004; Roht Arriaza, 2006; Eisikovitz, 2009).« (Andrieu 2010: 2/37) Nach gewaltsamen Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen, so die Idee, können verschiedene Prozesse initiiert werden, um die Vergangenheit zu überwinden und den Übergang zu einer friedlichen Gesellschaft zu fördern. »TJ beruht auf der Annahme, dass der Übergang zu Sicherheit und Frieden nach gewaltsamen Konflikten oder Diktaturen der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, also eines klaren Bruchs mit geschehenem Unrecht, bedarf. Sein Blick ist somit nicht nur retrospektiv in die Vergangenheit gerichtet, sondern auch nach vorne auf Frieden und Sicherheit.« (Buckley-Zistel 2008: 6) Zentral sind dabei Maßnahmen zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, zur Wahrheitsfindung sowie zur Neugestaltung sozialer Beziehungen. Das Modell des Schweizer Außenministeriums definiert vier Bereiche im Zusammenhang mit Vergangenheitsarbeit: Das »Recht auf Gerechtigkeit« beinhaltet die Verurteilung jener, die für die größten Gewaltverbrechen 1 | Überarbeitete und erweiterte Version eines Beitrags zur Konferenz »Einheitliches Recht für die Vielfalt der Kulturen?«, Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GIWK), Wien 2010

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verantwortlich sind, durch nationale, hybride und internationale Gerichte. Das »Recht auf Wahrheit« umfasst institutionalisierte Versuche, die Wahrheit über die Geschehnisse ans Licht zu bringen. Dies geschieht beispielsweise mit der Einsetzung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (WVK), die schwere Menschenrechtsverletzungen auch für kommende Generationen in Archiven dokumentieren. Um eine »Garantie der Nichtwiederholung« zu gewährleisten, ist die Durchführung institutioneller Reformen essenziell. In diesem Zusammenhang müssen auch paramilitärische Gruppen aufgelöst, Notstandsgesetze aufgehoben und an Gewalttaten beteiligte Staatsbedienstete suspendiert werden. Das »Recht auf Wiedergutmachung« umfasst Maßnahmen auf individueller und kollektiver Ebene: Restitution, Entschädigung und Rehabilitation für die Opfer bzw. deren Angehörige, aber auch symbolische Wiedergutmachungsmaßnahmen auf gesellschaftlicher Ebene wie Gedenkveranstaltungen, Mahnmale oder öffentliche Entschuldigungen (vgl. Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten 2006). Bei all diesen Zielen, Ansätzen, Interventionen und Maßnahmen stellt sich mit besonderer Deutlichkeit die Frage nach der »Anwendbarkeit eines westlich geprägten Konzepts im facettenreichen Kontext diverser, oft nichtwestlicher Nachkriegsgesellschaften.« (Buckley-Zistel 2008: 5) Im weiteren Verlauf dieses Beitrags werden wir diese Frage kritisch-konstruktiv diskutieren. Der Hintergrund unserer Positionen sind mehrjährige Vermittlungs-, Dialog- und Fortbildungsprojekte in Israel/Palästina, in Zentralasien (Kirgisien) und Sri Lanka, mit der Regierung, der LTTE und der tamilischen Diaspora und vor und nach der Beendigung des Bürgerkriegs (Graf), Forschung zum Verhältnis von Konfliktlösungs- und Versöhnungsprozess in Sri Lanka (Taibl) sowie ein Forschungsaufenthalt am Transitional Justice Institute in Nordirland (Kainz).

1. Z UR HISTORISCHEN E NT WICKLUNG VON TR ANSITIONAL J USTICE Der Begriff »Transitional Justice« wurde erstmals in den 1990er-Jahren geprägt. Sein ideenpolitischer bzw. ideologischer Aspekt bezog sich damals auf den Übergang der sozialistischen Staaten zu Marktwirtschaften und Demokratien. Sein utopischer Aspekt liegt in der engen Verknüpfung der Phase des Übergangs mit dem Streben nach Gerechtigkeit. Im Sinne des englischen Wortes »Justice« wird diese nicht nur im strafrechtlichen Sinne verstanden, sondern in einem breiteren Kontext verortet. Diese utopischen Aspekte des Konzepts gehen über den engeren ideologischen Aspekt hinaus; sie reichen bis zu den Beendigungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs zurück. In der realen geschichtlichen Entwicklung des Konzepts von Transitional Justice zeigen sich

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stets äußerst komplexe und konfliktgeladene Spannungsfelder: zwischen Strafe und Amnestie, zwischen strafrechtlichen und nicht-strafrechtlichen Mechanismen, zwischen strafend-retributiver und wiedergutmachend-restaurativer Gerechtigkeit, zwischen »Gerechtigkeit« und »Frieden«, zwischen »Wahrheit« und »Versöhnung«, und nicht zuletzt immer auch zwischen globalen und lokalen Kontexten. Dementsprechend großVLQGGLH8nterschiede in den theoretischen, ideologischen und praxeologischen Auffassungen und die Lücken in der diesbezüglichen Forschung. Wie Andrieu zeigen kann, lässt sich dabei zugleich eine historische Entwicklungsrichtung feststellen: »The question of how best to deal with a divisive past of mass violence is not a new one. What Ernest Renan called ›historical amnesia‹ might be necessary for the building of a nation, but recent developments in human rights have shown a turn towards collective remembrance. Memory-work is now considered a useful tool of conflict resolution throughout the world, as there is a growing belief that unaddressed past legacies actually fuel conflicts.« (Andrieu 2010: 2/37) Auch Buckley-Zistel skizziert eine historische Periodisierung – mit vier Phasen (vgl. Buckley-Zistel 2008: 6): 1. Phase: Die strafrechtlichen Verfahren des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg 1945 bis 1949 sowie der Tokioter Prozesse werden meist als Beginn von Transitional Justice bezeichnet. Die Täter wurden dabei erstmals von einer internationalen Körperschaft für Kriegsverbrechen und Genozid zur Rechenschaft gezogen (vgl. Kayser-Whande/Shell Faucon 2008: 8). Seit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung 1948 haben die Staaten der UNO die Grundanliegen der ursprünglichen Artikel durch internationale Pakte, neue Verträge und Konventionen konkretisiert. Weiters wurde mit den Genfer Konventionen 1949 eine rechtliche Grundlage geschaffen, um Straflosigkeit in Zukunft zu verhindern (vgl. Huyse 2008: 2). Das ungeheure Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Naziregime führte somit zu einer qualitativen Weiterentwicklung des Völkerrechts. Staaten können seither zur Implementierung der Menschenrechte gedrängt werden, und die Weiterentwicklung des internationalen Rechts ermöglicht, Individuen direkt zur Rechenschaft zu ziehen, wenn das nationale Rechtssystem versagt (vgl. Safferling 2004: 1471f). 2. Phase: Die Intention der internationalen Nachkriegs-Staatengemeinschaft, Kriegsverbrecher strafrechtlich zu ahnden, wurde im Kalten Krieg zunächst wieder eingefroren und vor allem in den 1980er-Jahren durch die Entscheidung für Amnestiegesetze sowie für staatliche Strategien des Vergessens wieder in den Hintergrund gedrängt. Neben dem Amnestiegesetz in Brasilien (1979), dem Naval Club Agreement in Uruquay (1984) und der Puncto Final in Argentinien (1987) ist insbesondere der Pakt des Vergessens nach Francos Tod in Spanien (1975) zu erwähnen (vgl. Buckley-Zistel 2008: 6). Die Selbstamnestien

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seitens autoritärer Regime als Preis für das Ende der Gewalttaten und für die Aussicht auf einen demokratischen Staat wurden aber nur teilweise von der Zivilgesellschaft der jeweiligen Länder akzeptiert. 3. Phase: Aufgrund der aufkommenden zivilgesellschaftlichen Kritik an dieser Entwicklung wurde ein neuer Kompromiss gesucht. Einerseits wurde daran festgehalten, dass in manchen Fällen Amnestiegesetze notwendig waren, gerade auch, um autoritäre Regime zu überwinden (vgl. Ordentlicher 2007: 1113). Andererseits wurde auch erkannt, dass völlige Straflosigkeit für Kriegsverbrechen und ein Verschweigen der Wahrheit ethisch und politisch untragbar waren. Dies führte vor allem in Lateinamerika vermehrt zur Einsetzung von Wahrheitskommissionen, die zumindest Ausmaß und Art der Verbrechen aufdecken konnten, im Gegenzug aber zumeist von strafrechtlichen Maßnahmen absahen. 4. Phase: Die sozialen Bewegungen ab Mitte der Achtzigerjahre forderten demgegenüber wieder verstärkt und – in erweiterter Form – eine konsequente Implementierung der Menschenrechte. Dies führte schließlich zur Schaffung internationaler Normen und Praktiken, mit denen Akteure für Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich gemacht werden konnten (vgl. Huyse 2008: 2). Gleichzeitig wandte sich der bisher zumeist auf Täter und deren Ahndung gerichtete Blick vermehrt auf die Anliegen und Ansprüche von Opfern, beispielsweise Traumabearbeitung, Rehabilitierung und Reparationen. Diese kurze historische Periodisierung zeigt, dass die Metamorphosen des Konzepts von Transitional Justice immer auch eng mit politischem und weltgeschichtlichem Wandel verknüpft sind. Der globale Demokratisierungstrend Anfang der 1990er-Jahre ging mit der Ideenpolitik eines »liberalen Friedens« einher und löste dabei die früheren »realistischen« und »strukturalistischen« Friedenskonzepte ab. Der realpolitische Fokus wurde dabei erneut auf strafrechtliche Verfolgung gelegt (vgl. Buckley-Zistel 2007: 2). Wenn entsprechende Maßnahmen nicht auf nationaler Ebene getroffen wurden, sollten internationale Gerichtshöfe die Befugnis erhalten, Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Durch Bestrafung sollte »ausgleichende Gerechtigkeit« (Retributive Justice) geschaffen werden (vgl. Huyse 2008: 2). Die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) suchten dieser Forderung nachzukommen (vgl. Kayser-Whande/Schell-Faucon 2008: 9). Im Laufe der Zeit entwickelten sich auch neue rechtliche Standards im Rahmen derartiger Tribunale. So wertete beispielsweise das International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR) im Jahr 1998 erstmals Vergewaltigung als »Akt eines Völkermordes« und setzte damit einen ersten Schritt für die Berücksichtigung

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der spezifischen Situation von Frauen in gewaltsamen Konflikten (vgl. Coalition for Women’s Human Rights in Conflict Situations 1998). Im Jahr 2002 wurde schließlich der Internationale Strafgerichtshof mit ständigem Sitz in Den Haag errichtet. Er hat die Befugnis, Einzelpersonen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn diese die im Rom-Statut2 festgelegten Tatbestände erfüllen (vgl. Ambos 2007: 57f). Kulturelle, soziale und ökonomische Bedingungen behinderten oder erschwerten allerdings in vielen Fällen strafrechtliche Verfolgungen, und es zeigte sich (erneut), dass die Anwendung von ausschließlich rechtlichen Instrumenten nicht genügt, um mit der Vergangenheit eines gewaltsamen Konfliktes adäquat umzugehen. Nicht-rechtliche Interventionen sollten demnach die rechtlichen Instrumente ergänzen, um einerseits einen besseren Beitrag zu nationaler Versöhnung zu leisten und andererseits der Gefahr entgegenzuwirken, zu milde oder zu harte Strafen auszusprechen (vgl. Huyse 2008: 2). Vor dem Hintergrund der bis dahin gemachten Erfahrungen wurde in Südafrika 1996 bis 1998 ein neuer Typ von Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt. Sie verband Wahrheitsfindung mit Amnestie und gilt als historischer, ja weltzivilisationspolitischer Wendepunkt im Umgang mit Vergangenheit (vgl. ebd.). Der zentrale Punkt ist dabei die Annahme, dass Gerechtigkeit nicht alleine durch strafrechtliche Interventionen geschaffen werden kann. Gerade wenn Friede oder Versöhnung als Ziele angestrebt werden, sei eine Verbindung mit »wiedergutmachender« oder »wiederherstellender« Gerechtigkeit, Restorative Justice, entscheidend, auch in Hinblick auf den makro-sozialen Kontext komplexer gewaltsamer Konflikt- und Nach-Konflikt-Konstellationen. Der Beitrag von nicht-strafrechtlichen Instrumenten zum Umgang mit der Vergangenheit nach gewaltsamen Konflikten wurde in der Folge verstärkt anerkannt und das TJ-Konzept um neue Komponenten wie psycho-soziale Traumabearbeitung oder interkulturelle Versöhnungsarbeit erweitert. Die Einsetzung der traditionellen Gacaca-Gerichte nach dem Genozid in Ruanda, eine Kombination aus einem internationalen Gerichtshof, nationalen Gerichten sowie einem lokalen Ansatz der Gerechtigkeit, unterstrich zusätzlich die Notwendigkeit der Berücksichtigung traditioneller Praktiken im Prozess des Übergangs (vgl. Kaiser-Whande/ Schell-Faucon 2008: 9f).

2 | Der IStGH legt folgende Tatbestände fest: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. (Vgl. Rome Statute of the International Criminal Court, Part 2, Article 5)

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2. M ÖGLICHKEITEN UND G RENZEN VON TR ANSITIONAL J USTICE Wir folgen hier im Kern einem Forschungsbericht Buckley-Zistels (vgl. Buckley-Zistel 2008) – einer umfassenden Bestandsaufnahme, die auch auf einer umfassenden Literaturrecherche beruht – und im Besonderen ihrer Schlussfolgerung, dass »Transitional Justice kein apolitisches und technokratisches, sondern ein höchst ambivalentes politisches Konzept ist.« (Ebd. 2008: 19). Sie warnt vor dem »Überfrachten des Konzepts als zuverlässiger Weg zu Frieden und Sicherheit“ (ebd.) und plädiert für eine engere Fassung von TJ: »Allgemein ist anzumerken, dass mit der Beliebtheit des Konzepts auch seine Ausdehnung steigt und somit Gefahr läuft, zu einem Sammelbegriff für jegliche Nachkriegsintervention oder zum Synonym für Friedenskonsolidierung zu werden.« (Ebd.: 9). Im Gegensatz dazu beschreiben Kayser-Whande/Schell-Faucon die Nachteile einer zu engen Definition von TJ und nennen beispielsweise »the limitations of prosecutions and of universal normative legal approaches in light of the needs and the pragmatic realities of peace processes (i. e. some degree of political accommodation as precondition for change).« (Kayser-Whande/Schell-Faucon 2008: 13f). Auch die zeitliche Beschränkung des institutionalisierten Aufarbeitungsprozesses sei problematisch: »Even when transition ends the process of dealing with the past does not end. Issues and questions of the past return to the public and political spheres in cycles over generations.« (Ebd. 14). Dementsprechend empfehlen sie einen integrativen Ansatz, der sowohl rechtliche als auch nicht-rechtliche Interventionen umfasst. Sie plädieren dafür, Transitional Justice als eine Art »tool-box« zu betrachten, bei der die Herausforderung in der richtigen Auswahl der Interventionen und dem geeigneten Maß ebendieser für die jeweilige Konfliktsituation liegt (vgl. ebd.: 12). Mit Andrieu lassen sich drei unterschiedliche »categories of action« für TJ unterscheiden, aber auch zu einem komplexen »Meta-Frame« zusammenführen: legal justice, restorative justice sowie social justice: • »legal justice: prosecuting the perpetrators and re-establishing the rule of law, reforming the security and judicial system; • restorative justice: gathering the truth about the past, healing victims and rebuilding communities through reconciliation and collective memory; • social justice: settling the economic, political and social injustices that may have created the conflict and defining the basis of a just, stable society (reparations, financial or symbolic, affirmative action programs, gendered approaches, development, etc)« (Andrieu 2010: 4/37)

Auf ähnliche Weise unterscheidet und integriert Rami Mani drei Ansätze von TJ: retributive justice, rectificatory justice (die Aufarbeitung der Ungerechtig-

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keiten, die durch direkte Gewalt verursacht wurden) sowie distributive justice (vgl. Mani 2002). Im Folgenden werden wir diese beiden »Meta-Frames« verbinden, um das skizzierte Spannungsfeld zwischen einer kritischen Selbstbeschränkung und einer integrativen Ausweitung des TJ-Konzepts neu zu kontextualisieren. Zugleich werden wir aber anregen, es radikal zu erweitern. Wir werden argumentieren, dass Transitional-Justice-Ansätze und -Interventionen immer nur ein Teilbestandteil im Umgang mit einem gewaltsamen Konflikt sein können. Letztlich plädieren wir dafür, TJ im Rahmen eines umfassenderen Konzepts von Peacebuilding – »Just Peacebuilding« – mit Programmen von Konflikttransformation und nachhaltiger Entwicklung neu zu verbinden.

2.1 Legal/Retributive Justice Vor dem Hintergrund der beschriebenen historischen Entwicklung sind Staaten heute durch internationale Verträge, Menschenrechte und völkerrechtliches Gewohnheitsrecht dazu verpflichtet, die Verantwortlichen für schwerste Gewaltverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Rechtsentwicklung impliziert einerseits, dass Generalamnestie, wie sie in den 1980er-Jahren in vielen lateinamerikanischen Ländern noch gewährt werden konnte, nicht mehr als legitim angesehen wird (vgl. Mediation Support Project 2009: 5). Andererseits soll sie auch als Generalprävention dienen, als Form der Abschreckung, um weitere Gewalttaten zu vermeiden. Mangelt es einem Staat an politischem Willen, schwerste Gewaltverbrechen auch auf der eigenen Seite zu verurteilen – beispielsweise weil korrupte Staatsmitglieder Angst haben, sich selbst vor Gericht verantworten zu müssen, oder aber die notwendigen finanziellen und materiellen Ressourcen für faire Gerichtsverfahren fehlen – sollen internationale Tribunale diese Aufgabe übernehmen (vgl. Mani 2002: 89-94). Für den Internationalen Strafgerichtshof mit ständigem Sitz in Den Haag wurde die Zuständigkeit und Arbeitsweise im Rom-Statut geregelt. Seine Gerichtsbarkeit ist auf vier schwerste Verbrechen beschränkt, die in Artikel 5 des 2. Teils taxativ aufgezählt sind. Dabei handelt es sich um Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression (vgl. Rome Statute of the International Criminal Court). Gerechtigkeit soll durch Strafverfahren hergestellt werden, als Mittel, um eine Art Ausgleich zwischen Täter und Opfer zu erzielen. Das Entscheidende ist dabei aber nicht immer die Strafe, sondern das Verfahren selbst, z.  B. dadurch, dass Zeugen oder Opfer gehört werden, dass Tatsachen ans Licht kommen usw. Es geht vor allem auch um eine symbolische Wirkung. Trotzdem stellt sich dabei oft die Frage, ob durch Strafverfahren von Retributive Justice die traumatischen Erfahrungen der Opfer wirklich ausgeglichen werden, und vor allem,

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ob sie auch eine qualitative Verbesserung der psycho-sozialen Beziehungen der Konfliktparteien mit sich bringen können. Bezug nehmend auf den Umgang mit der Vergangenheit nach dem gewaltsamen Konflikt in Nordirland kam auch Kainz anhand von ExpertInneninterviews zu dem Schluss, dass Bestrafung nicht nur nicht automatisch zu einer Verbesserung der psycho-sozialen Beziehungen zwischen den Konfliktparteien führt, sondern die Gesellschaft oft noch mehr spalten kann. Offensichtlich fordern aber viele Opfer Vergeltungsmaßnahmen als Ausgleich für ihr Leid. Trotzdem sollte dies nicht verallgemeinert werden, es ist dies immer abhängig vom gesellschaftlichen UND persönlichen Umgang mit der Vergangenheit. Wie wir in der Folge noch diskutieren werden, können auch alternative Konfliktregelungsverfahren eine Art Anerkennung des Leids darstellen, und sie können auch mit Auflagen und Strafen verbunden sein. Deshalb stellt sich hier immer die Frage nach Alternativen – sowohl zu bloßen Strafmaßnahmen als auch zu völliger Straflosigkeit (vgl. Kainz 2010: 72-75). Hizkias Assefa argumentiert auch, es sei nicht davon auszugehen, dass Täter ihre Taten aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung schon als ungerechtfertigt erachten würden. Im Gegenteil, in vielen Fällen führt eine Ahndung nicht zwangsläufig zur Einsicht des Täters, sondern es bleiben ambivalente Gefühle und Einstellungen bestehen (vgl. Assefa 1999). Oft bleibt dieser der Überzeugung, rechtmäßig gehandelt zu haben. Staatsmitglieder begründen beispielsweise, unter Befehl gehandelt zu haben, um mit ihren Maßnahmen das Volk vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Nicht-staatliche Organe hingegen fühlten sich meist dazu berufen, die Gemeinschaft vor staatlicher Unterdrückung zu verteidigen. Obwohl sich weder die einen noch die anderen als Täter bezeichnen, müssen sie sich vor Gericht für ihre Straftaten verantworten. Es erscheint daher fragwürdig, ob der Aufbau einer verbesserten Beziehung zu den Opfern möglich ist, wenn eine Grundvoraussetzung – die Einsicht der Täter – nicht vorhanden ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich außerdem, dass bereits die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer problematisch ist. Wie ist beispielsweise mit Opfern von Zwangsrekrutierung umzugehen, die im weiteren Verlauf des Konflikts Verbrechen begangen haben? Die Klärung der Frage, wer denn nun Opfer und wer Täter war, und bis zu welchem Punkt eine derartige Unterscheidung überhaupt hilfreich ist, stellt wohl eine der größten Herausforderungen des Aufarbeitungsprozesses dar. Zudem erschwert oft die räumliche Distanz der Tribunale den Informationsfluss und damit potenzielle positive Auswirkungen auf den Versöhnungsprozess. Während das Tribunal zu Sierra Lione im Land abgehalten wurde, fanden die Verhandlungen der Tribunale zu Jugoslawien bzw. Ruanda außerhalb des Landes statt, da andernfalls Spannungen befürchtet wurden. »The downside, however, is that in both cases, there is little local ownership of the process, and

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ordinary citizens feel disconnected from the high-level processes that have been taking place outside their countries.« (Anderlini/Conaway/Kays 2004: 4). Besonders deutlich wird dies, wenn – wie im Falle Ruandas – die Urteile in der Regel nur auf Englisch oder Französisch verfügbar waren und nicht einmal in die Landessprache Kinyarwanda übersetzt wurden (vgl. Combs 2007: 203). Außerdem ziehen strafrechtliche Institutionen nur jene Täter zur Rechenschaft, die direkte Gewalt ausübten. In einem Konflikt existieren jedoch weit mehr Formen von Tätern, die im Zuge der Aufarbeitung der Vergangenheit berücksichtigt werden müssten. Wie ist beispielsweise mit jenen umzugehen, die zwar nicht in direkte Gewalt involviert waren, aber dennoch Vorteile aus strukturellen Ungleichheiten bezogen haben? (Vgl. Huyse 2003: 67-72). »They do not kill, torture, abduct or abuse physically. But they profit whenever scarce resources are allocated – job and income, health care and education, housing and personal security, status and political power.« (Ebda: 67). Diese indirekten Täter können schwerlich mit gerichtlichen Strafmaßnahmen zur Rechenschaft gezogen werden, ebenso wenig wie jene, die bewusst zusahen und keinen Versuch unternahmen, die Gewalt zu stoppen (vgl. ebda: 68). Oder doch, wie Andrieu diskutiert: »if what we are moving away from is not simply a »regime of criminals« but a »criminal regime«, should everyone be held responsible (ebd., 1998: 400)? Should only the main perpetrators be named? Or also those who made the violations possible, those who created the structural climate and ideology, or who simply benefited from that climate?« (Andrieu 2010: 18/37) Aber auch die Bedürfnisse der Opfer können durch strafrechtliche Maßnahmen nicht umfassend befriedigt werden. Die Unzulänglichkeit eines rein juristischen Aufarbeitungsprozesses wird insbesondere in diesen Bereichen deutlich. Es ist daher notwendig, ergänzende Maßnahmen umzusetzen und damit einen breiter angelegten Aufarbeitungs- und Versöhnungsprozess einzuleiten.

2.2 Restorative/Rectificator y Justice Ohne den internationalen Normen ihre Bedeutung absprechen zu wollen, weist auch Mani auf die Notwendigkeit zusätzlicher Interventionen hin. Überlebende fordern Wiedergutmachung und möchten die Wahrheit über die Art und das Ausmaß der Gewaltverbrechen erfahren (vgl. Mani 2002: 101). Letzteres soll durch Wahrheitskommissionen erreicht werden, die versuchen, mit individuellen Zeugenaussagen ein ganzheitliches Bild der Geschehnisse darzustellen. Wahrheitskommissionen bleiben meist sowohl rechtlich als auch zeitlich begrenzt. Am Ende der Prozesse wird in der Regel ein Bericht für die Regierung ausgearbeitet, der Empfehlungen für den weiteren Umgang mit den Tätern, Vorschläge für Reparationen sowie für institutionelle Reformen beinhaltet. Diese Kommissionen

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sollen einen sicheren Ort darstellen, an dem Opfer die Möglichkeit bekommen, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Oft ist dies die einzige Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen und kann den Heilungsprozess positiv beeinflussen (vgl. ebd. 102) und öffentliche Anerkennung ihres Leids schaffen (vgl. Minow 1998: 58). Buckley-Zistel (vgl. Buckley-Zistel 2008) verweist auch auf die Forschungsarbeiten, die die vielen schmerzhaften Erfahrungen herausarbeiten, die mit Wahrheitskommissionen gemacht wurden. So wird oft nicht umfassend auf individuelle Traumata eingegangen, da nur jene Konfliktlinien angesprochen werden, die der nationalen Aussöhnung dienen. Damit konstruieren sie »ein uniformes, nationales Gedächtnis […], das die Komplexität individueller Erfahrung reduziert und so die besonderen, lokalen Erlebnisse auf der Gemeinschaftsebene nivelliert.« (ebd.: 17). Im Falle Südafrikas war für die Wahrheits-und Versöhnungskommission lediglich der Konflikt zwischen »Schwarz« und »Weiß« relevant, nicht aber die Trennlinien und Gewalttaten innerhalb der jeweiligen Gruppen. Es ist also nicht jede Wahrheit erwünscht. Das Gesamtwohl der Nation steht im Mittelpunkt und viele Opfer klagen, ihre persönlichen Anliegen, beispielsweise Vergeltung, als Preis für nationale Aussöhnung zurückstecken zu müssen. Der Beschluss der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, nicht einmal Reue als Voraussetzung für Amnestie zu verlangen, wurde äußerst kritisch kommentiert. Täter schilderten ihren Tathergang ohne jegliche sichtbare Reue und erhielten Straflosigkeit, während Opfer diesem Vorgang zusehen mussten, ohne in irgendeiner Weise entschädigt zu werden (vgl. Mobekk 2005: 268). Desmond Tutu, Leiter der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (WVK), begründet das Nichtbestehen auf gezeigte Reue folgendermaßen: »Falls der Antragsteller zu überschwenglich seine Reue beteuerte, um die Voraussetzungen zu erfüllen, dann würde man ihn der Unaufrichtigkeit bezichtigen, weil er nur dick auftrug, um das Amnestiekomitee zu beeindrucken. Wäre er aber auf der anderen Seite zu kurz angebunden und lediglich formell, würde man ihn wegen seiner Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit verurteilen. Es wäre eine Situation, in der man nur verlieren kann.« (Tutu 2001: 47). Er meint jedoch, dass die meisten Täter die Angehörigen der Opfer um Vergebung baten und Reue zeigten – ob diese gespielt oder echt war, ist wohl nicht herauszufinden. Obwohl argumentiert wird, dass Wahrheitskommissionen im Gegensatz zu strafrechtlichen Institutionen darauf abzielen, die Beziehung zwischen Täter und Opfer zu verbessern, stellt sich die Frage, ob dies gelingen kann: Wirken sich Wahrheitskommissionen tatsächlich positiv auf die psycho-sozialen Beziehungen aus und werden sie von Opfern als gerecht empfunden? Es gibt mittlerweile umfassende Literatur zu dieser komplexen Fragestellung, auch für die südafrikanische Wahrheitskommission (vgl. z. B. Hayner, Priscilla B. 2002 sowie CastillejoCuéllar, Alejandro 2007). Hegarty z. B. argumentiert, dass Opfer in erster Linie die Anerkennung ihrer eigenen Wahrheit und die Einsicht der Täter fordern (vgl.

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Hegarty 2003: 1174). Auch bei den Wahrheitskommissionen stellt sich das Problem, das wir schon bei den Strafmaßnahmen diskutiert haben: Das Bewusstsein einer Unrechtmäßigkeit des eigenen Handelns ist bei vielen Tätern nicht vorhanden; sie bleiben, im Gegenteil, davon überzeugt, sich richtig verhalten zu haben. Kainz beschreibt, dass in Nordirland viele ehemalige Mitglieder paramilitärischer Organisationen weiterhin davon überzeugt sind, rechtmäßig getötet zu haben, um die Gesellschaft von der Unterdrückung der britischen Regierung zu befreien. Sie bezeichnen sich selbst als Freiheitskämpfer, werden jedoch von vielen Bürgern als Terroristen angesehen. Umgekehrt betrachten viele andere Bürger die Polizei und Soldaten als Täter, weil sie ebenso Menschen getötet und mit den paramilitärischen Organisationen kooperiert haben. Einige andere vertreten wiederum die Meinung, nur durch sie vor den Terroristen beschützt worden zu sein. Die Taten sowohl der »Freiheitskämpfer«/»Terroristen« als auch der staatlichen »Beschützer«/»Staatsterroristen« werden völlig unterschiedlich aufgefasst (vgl. Kainz 2010: 68f). Auch im Falle Sri Lankas stimmte die Innen- nicht mit der Außensicht überein: Die LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) beschrieb ihren Kampf gegen die sri-lankische Regierung stets als legitime Selbstverteidigung gegen ein genozidales Regime (vgl. TamilNet 2009). Es liegt schon in der »Natur« eines Konflikts, dass es nicht die eine Form der Wahrheit gibt, sondern dass die Sichtweisen auf die Wahrheit von den jeweiligen Konfliktparteien meist inkompatibel wahrgenommen werden. Hamber unterstreicht dies, wenn er sagt: »[…] the past is made up of multiple and contradictory truths. One unified narrative, or version of the past, can never be uncovered.« (Hamber 1998: 4). Den Anspruch, »die Wahrheit ans Licht zu bringen«, könnten Wahrheitskommissionen demnach gar nicht erfüllen. Gleichermaßen erfolgt auch die Einsicht der Täter über ihr ungerechtfertigtes Verhalten nicht automatisch. Wahrheitskommissionen können jedoch einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, totgeschwiegene Geschehnisse zu enthüllen und Raum für weitere Dialoge zu schaffen (vgl. Kayser-Whande/Schell-Faucon 2008: 9f). Auch Tutu beschreibt im Kontext Südafrikas den Fall einer Gruppe von Polizisten, die nach Ende der Apartheid Amnestie beantragten und dabei einen Mord gestanden, den sie zuvor beständig geleugnet hatten. »In der Kommission musste der Täter seine Karten auf den Tisch legen, während er im Gerichtssaal versuchte, durch Lügen seine Unschuld zu beteuern.« (Tutu 2001: 195). Seiner Meinung nach wird »Wahrheit« also viel eher in Wahrheitskommissionen als bei strafrechtlichen Prozessen gefunden. Mit der Errichtung einer Wahrheitskommission ist der Prozess der Vergangenheitsbewältigung jedoch noch nicht vollendet. Insbesondere in Situationen nach Krieg und Gewalt ist es essenziell, den Reformprozess nicht nur auf staatlicher Ebene zu diskutieren und umzusetzen, sondern eine breitere Diskussion mit umfassender zivilgesellschaftlicher Partizipation zu initiieren. »Dieses Verhandeln, das Austarieren der Zukunft des Landes, bezieht sich keineswegs nur

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auf staatliche Institutionen, sondern auch auf den Demos – oder die Nation – der willens ist, ihnen zu vertrauen und in ihnen zu operieren.« (Buckley-Zistel 2008: 8). Konflikttransformation oder Versöhnung dürfen also nicht als elitäres Projekt angelegt werden, sondern müssen die gesamte Gesellschaft umfassen und die Beziehung zwischen den Konfliktparteien verbessern. Dafür ist die Auseinandersetzung mit kollektiven Identitäten gesellschaftlicher Gruppen notwendig, da diese oftmals zur Legitimation von Gewalt herangezogen werden. »Die Dringlichkeit der Identitätenkomponente ergibt sich zum einen daraus, dass Identitäten oder deren Manipulation oft im Zentrum von Konflikten stehen – z. B. in Form von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit. Zum anderen, und auch das ist von großer Bedeutung, hat sich die Identitätskomponente durch die Erfahrung von Gewalt im Laufe eines Krieges oft noch verschärft.« (Ebd). Wie das oben angeführte Beispiel Südafrika zeigte, bergen auch Wahrheitskommissionen die Gefahr, gesellschaftliche Konfliktlinien zu perpetuieren. Für einen Versöhnungsprozess ist es jedoch essenziell, ein gemeinsames Geschichtsverständnis zu finden und Zugehörigkeiten zu entwickeln, die sich nicht nur an jenen alten Konfliktlinien orientieren. »Die Art und Weise wie die Vergangenheit interpretiert wird, erweist sich als Kernelement der kollektiven Identitätskonstruktion – entweder in Ablehnung oder in Annäherung an den früheren Gegner.« (Buckley-Zistel 2008: 9). Neben strafrechtlichen Instrumenten und Formen der Wahrheitsfindung bedarf es also noch zusätzlicher Maßnahmen, um die psycho-sozialen Beziehungen zwischen den Konfliktparteien tatsächlich wieder herzustellen bzw. zu verbessern.

2.3 Social/Distributive Justice Als unabdingbare Voraussetzung für eine Verbesserung der Beziehung zwischen Tätern und Opfern nach gewaltsamen Konflikten gilt die Wiedergutmachung der Gewalttaten. Das Konzept von Transitional Justice umfasst demnach auch diverse Formen von Reparationen, um Opfer und Gemeinschaften für die erlittenen Verbrechen zu entschädigen (vgl. Teitel 2000: 127). »The idea of repairing the impact of the wrongs and harms of the past span a broad and complex spectrum of measures and interests, reaching from the direct exchange of compensation between violator and violated to symbolic acts of states such as public apologies, naming holidays or designating public spaces from remembrance and mourning.« (Kayser-Whande/Schell-Faucon 2008: 23). Die Verantwortlichen für Verbrechen, ob die Gewalttäter selbst oder die Regierung, müssen das zugefügte Leid wiedergutmachen – auch wenn dies oft nur ansatzweise möglich ist. Grundlage dafür ist entweder die rechtliche Verpflichtung, die sich aus internationalem (vgl. Teitel 2000: 119) oder nationalem Recht ergibt, oder politische Verantwortung. In vielen Fällen wird die Art der Reparation von einer Wahrheitskommission vorgeschlagen (vgl. Zupan/Servaes 2007: 12). Sie kann

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individuelle Maßnahmen wie Kompensationen, Restitutionen oder Rehabilitationen, aber auch kollektive Maßnahmen wie Entschuldigungen oder Formen des Erinnerns empfehlen (vgl. Mediation Support Project 2009: 3). Mit der Intention, die Opfer für ihr Leid zu entschädigen, zielen Reparationen darauf ab, die Beziehungen zwischen den Konfliktparteien wieder herzustellen. Im Gegensatz zu vergeltenden Maßnahmen, die ausgleichende Gerechtigkeit schaffen sollen, wird bei Reparationen von wiedergutmachender Gerechtigkeit gesprochen (vgl. Buckley-Zistel 2008: 13). Ob die einzelnen Instrumente tatsächlich als gerecht empfunden werden und die psycho-sozialen Beziehungen verbessern, kann jedoch nicht einheitlich beantwortet werden. So könnte die Entschuldigung eines Regierungsmitglieds für ein Verbrechen, das vom Staat angeordnet wurde, dieses offiziell als ungerechtfertigt klassifizieren. Die Entschuldigung würde sich aber nur dann positiv auf die Opfer auswirken, wenn sie ernst gemeint ist und nicht erzwungen wurde (vgl. Mani 2002: 114f). Ebenso können Geldkompensationen sehr unterschiedliche Auswirkungen auf Opfer haben. Oftmals ist der entscheidende Punkt nicht der Geldbetrag an sich, sondern vielmehr dessen symbolische Wirkung. In Fällen sexueller Gewalt führte die angebliche Mitverantwortung der Opfer dazu, dass diese vom gemeinschaftlichen Leben ausgeschlossen und mitunter sogar von ihren Ehemännern verlassen wurden (vgl. Theidon 2007: 468). In diesen Situationen könnten Reparationen dazu beitragen, die Verantwortung für die Vergewaltigung klar dem Täter zuzuschreiben und damit die Stigmatisierung der Opfer zu vermindern. Im Falle von Ermordungen stellen Reparationszahlungen für die Hinterbliebenen einerseits eine Entschädigung für das zugefügte Leid dar und gleichen andererseits den Einkommensausfall nach dem Tod eines Familienmitglieds aus. Die Schwierigkeit liegt in der Entscheidung, wer eine derartige Kompensation erhält und wer nicht, und in welcher Höhe diese ausbezahlt wird. In vielen Nachkriegsgesellschaften bargen entsprechende Vorschläge und Entscheidungen neues Konfliktpotenzial (vgl. Buckley-Zistel 2007: 5). So z. B. in Nordirland, wo die Consultative Group on the Past (CGP)3 2009 den Vorschlag machte, 12.000 Pfund Entschädigung an die nächsten Verwandten jedes Opfers zu zahlen: »The suffering of families from Northern Ireland and Great Britain should be recognised. The nearest relative of someone who died as a result of the conflict in and about Northern Ireland, from January 1996, should receive a one-off ex-gratia recognition payment of £12.000.« (Report of the CGP 2009: 16). Diese Empfeh3 | Die Consultative Group on the Past (CGP) ist eine von der Regierung 2007 auserwählte unabhängige Kommission, die beauftragt wurde, Empfehlungen für den weiteren Umgang mit der Vergangenheit nach dem gewaltsamen Konflikt in Nordirland auszuarbeiten.

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lung bedeutete, dass Familienmitglieder von getöteten ZivilistInnen, Sicherheitskräften sowie Mitgliedern paramilitärischer Organisationen jeweils denselben Betrag erhalten sollten. Der Versuch, alle Opfer gleichwertig zu entschädigen, löste enorme Dispute aus. Wie konnten alle Opfer gleichgestellt werden, so die Kritik, wenn es doch Schuldige und Unschuldige gebe? (Vgl. Prince 2009) Neben Geldkompensationen können auch Formen der Erinnerung und des Gedenkens Opferhierarchien verstärken (vgl. Buckley-Zistel 2007: 6f). Die Errichtung von Museen, Gedenktafeln oder Gedenktagen soll bewusst Raum schaffen, um der Leidtragenden zu gedenken. Auf diese Weise werden die Verluste der Opfer anerkannt und möglicherweise auch zukünftige Generationen davon abgehalten, ähnliche Gewalttaten zu begehen (vgl. Mani 2002: 115). In vielen Nachkriegssituationen, so auch in Nordirland, werden Erinnerungstafeln von Opfern benutzt, um ihren Status zu verkünden und sich klar von anderen zu distanzieren (vgl. McDowell 2007). Dawson kritisiert, dass Arten des Gedenkens oft dazu verwendet werden, des eigenen Leids bzw. dessen der eigenen Gemeinschaft zu gedenken und damit die Erinnerung der anderen zu verleugnen (vgl. Dawson 2007: 76). Es wird demnach oft nicht als gerecht empfunden, wenn gewisse Namen auf Gedenktafeln erwähnt werden und andere nicht, oder wenn gemeinsame Gedenktage veranstaltet werden. Ob durch Reparationen wiedergutmachende Gerechtigkeit geschaffen werden kann, ist also nicht eindeutig zu beantworten. Ebenso bleibt fraglich, ob ihre Anwendung automatisch eine Verbesserung der psycho-sozialen Beziehungen nach sich zieht. Distributive bzw. Social Justice wird im Konzept von Transitional Justice meist nur auf Reparationen reduziert. Solange aber sozioökonomische, politische und kulturelle Ungerechtigkeiten bestehen bleiben, ist unseres Erachtens weder nachhaltige Konfliktlösung noch ein Übergang zu einer friedvolleren Gesellschaft mit qualitativ verbesserten Beziehungen zwischen den Konfliktparteien möglich (vgl. Mani 2002). Die Verbindung von Transitional Justice und sozioökonomischer Entwicklung und der Grundsatz von Verteilungsgerechtigkeit werden bislang in Forschung und Praxis nicht adäquat erkannt und adressiert. »Structural social reforms are the most forward looking measure of TJ, as they look for a way of transforming the current conditions of the victims themselves and their descendants. Through them, TJ becomes connected to a broader project of social justice, one that could take the form of redistributive policies, development, or affirmative action programs (Roht-Arriaza and Orlovsky, 2009). This connection between TJ and development is only recent, and still calls for more research (De Greiff and Duthie, 2009). It is a consequence of the evolution of the concept of development itself, from a purely economic to a more human perspective, based on capabilities (Sen, 1999; Crocker, 1992; UNDP, 2001). Development, in this understanding, implies political participa-

V ON T RANSITIONAL J USTICE ZU J UST P EACEBUILDING ? tion and active citizenship. TJ, by healing and empowering victims, could help make this social integration possible (De Greiff, 2009). […] This shift towards development and social justice would thus imply a redefinition of what ›transition‹ means.« (Andrieu 2010: 18-19/37)

Andrieu verweist auch auf erste erfolgreiche Auswirkungen dieser Überlegungen in Politik und Praxis: »Because poverty and victimhood share the same effects, development and TJ should go hand in hand. Louise Arbour, UN High Commissioner for Human Rights, has recently argued in favor of such a commitment to economic, cultural and social rights, affirming that TJ must ›reach to, but also beyond the crimes and abuses committed during the conflict which led to the transition, into the human rights violations that pre-existed the conflict and caused or contributed to it‹ (Arbour, 2006: 2). The East Timor Commission for Reception, Truth and Reconciliation (CAVR) has taken a step in that direction by looking beyond the direct result of military operations, to ›indirect‹ deaths from hunger, displacement, and illness. Sierra Leone’s TRC made recommendations that included a gendered sense of justice, asking for a revision of the State’s customary law on marriageable age and discriminatory inheritance law, the promotion of stricter laws on domestic violence and the setting up of a specific Gender Commission.« (Ebda: 19)

3. A MBIVALENZEN VON TR ANSITIONAL J USTICE : Z WISCHEN PSYCHOSOZIALEN TR AUMATA , HISTORISCH - KULTURELLEN I DENTITÄTEN UND SOZIALSTRUK TURELLEN M ACHTKONSTELL ATIONEN Im Zuge dieses Beitrags wurde bisher diskutiert – unter Bezugnahme auf den Forschungsbericht Buckley-Zistels (Ebd.) – dass der Einfluss von TJ-Ansätzen und Interventionen auf Nachkriegsgesellschaften durchaus ambivalent und keineswegs automatisch friedensfördernd ist. »Gerechtigkeit, so wurde argumentiert, kann nicht nur verschiedene Formen annehmen, sondern sie ist auch abhängig von den Interessen derer, die sie schaffen.« (Buckley-Zistel 2008: 18). Transitional-Justice-Interventionen können, wie bereits diskutiert, die Spaltungen und Konfliktlinien in der Nachkriegsgesellschaft perpetuieren oder sogar verstärken. Die beiden Eckpfeiler des Konzepts, Gerechtigkeit und Wahrheit, sind »normative – und oft importierte – Konstrukte, die in den entsprechenden Nachkriegsgesellschaften weniger auf ein förderndes Umfeld als auf ein vom Konflikt verschärftes Minenfeld treffen.« (ebd: 19). Die strukturellen Ursachen des Konflikts sind unmittelbar nach dem Ende direkter Gewalt vermutlich unverändert; die gesellschaftlichen Trennlinien sind durch die Gewalterfahrung verstärkt. »Eine Nachkriegsgesellschaft ist keineswegs eine tabula rasa, ein

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unbeschriebenes Blatt, sondern sie reflektiert die politischen und gesellschaftlichen Spannungen, die den gewaltsamen Konflikt verursacht haben.« (Ebd). Unterschiedliche Interessen sind daher auch nach Ende der direkten Gewalt wenig verwunderlich: Während die Nachkriegsregierung vermutlich einen klaren Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen möchte, hat für die Opfer die Anerkennung ihres Leidens und die Bestrafung der Täter höchste Priorität (vgl. ebd: 11). Der Versuch, »bei Null anzufangen«, ist demnach automatisch zum Scheitern verurteilt. Bestehende Konfliktlinien und Spannungen müssen berücksichtigt und Machtverhältnisse neu geordnet werden. Damit beinhalten Transitional-Justice-Maßnahmen eine politische Ebene, die oft übersehen oder ignoriert wird. »Obwohl dieser politische Aspekt von TJ augenscheinlich ist, entgeht er vielen Fürsprechern, und das Einsetzen von Instrumenten, sowohl durch nationale als auch durch externe Akteure, gleicht oft einem technokratischen Unterfangen, in dem die Konsequenzen für die Machtkonstellationen der Nachkriegsgesellschaft und die politische Implikation nicht mitgedacht werden.« (Ebd.: 19) Weiters wurde diskutiert, dass Transitional-Justice-Instrumente wie Tribunale, Wahrheitskommissionen oder Reparationen nicht automatisch einen Versöhnungsprozess einleiten und den Aufbau einer friedlichen Gesellschaftsstruktur ermöglichen. Tribunale können zwar für jene, die Vergeltung wünschen, einen Ausgleich schaffen, können jedoch nicht alle Täter zur Rechenschaft ziehen und lassen Nutznießer des Konflikts in der Regel unbestraft. Zudem sind rein juristische Ansätze unzureichend, um Opfer zu entschädigen oder ihr Leid umfassend anzuerkennen. Es versteht sich von selbst und ist mittlerweile auch gut erforscht, dass auch die vorgestellten nicht-juristischen Ansätze viel Konfliktpotenzial in sich bergen (vgl. Buckley-Zistel 2008). Zum Beispiel besteht die Gefahr einer weiteren Marginalisierung und Traumatisierung der Opfer, wodurch gesellschaftliche Trennlinien verstärkt werden und in weiterer Folge den Versöhnungsprozess behindern. Reparationszahlungen wiederum werden häufig als ungerecht empfunden, zumal in Nachkriegsgesellschaften oft noch keine Einigkeit darüber herrscht, wer im Konflikt Opfer und wer Täter war. Transitional-Justice-Ansätze und -Interventionen bleiben ambivalente politische Kompromissleistungen in sich überschneidenden komplexen Wirkungsfeldern psycho-sozialer Traumata, historischkultureller Identitäten und sozialstruktureller Machtkonstellationen. Sie können immer nur ein Teilbestandteil im Umgang mit gewaltsamen Konflikten sein. Innerhalb der Diskussion des Konzepts von Transitional Justice hat jüngst Heier vorgeschlagen – ausgehend von Youngs »Social Connection Model of Justice« (vgl. Young 2006) – nicht die universalistische Norm, sondern die grundlegende Bezogenheit und Angewiesenheit von Menschen aufeinander in den Fokus von Gerechtigkeitserwägungen zu stellen. All ihre daraus resultierenden Ver-

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letzlichkeiten, Bedürfnisse und Verantwortlichkeiten sind in die jeweiligen lokalen Konzeptionen und Bestimmungen mit einzubeziehen. Dadurch werden die Strukturen der Gewalt sichtbar gemacht, anstatt einzelne Täter zu isolieren und verurteilen. Heier leitet daraus u. a. folgende Grundsätze ab: • »Im Social Connection Model of Justice werden die sozialen Strukturen einbezogen, in deren Rahmen die Interaktionen stattfinden. • Durch diese Einbeziehung werden Täter/innen nicht isoliert, und Harmzufügungen nicht lediglich als Abweichung von einem gerechten ›Normalzustand‹ konzipiert. • Die Anerkennung asymmetrischer Verletzlichkeit und Handlungsfähigkeit begründet die Forderung, Gerechtigkeitskonzeptionen der Transitional Justice von bürgerlichen auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auszudehnen. • Nicht nur formale Zusprechung von Rechten und Chancengleichheit, sondern auch deren effektive Realisierung sowie die Verminderung von Verletzbarkeit sind notwendig, damit Transformationsprozesse dauerhaft gelingen können.« (Heier 2010)

4. M ENSCHLICHE G RUNDBEDÜRFNISSE ALS DIALOGISCHER R EFERENZR AHMEN FÜR K ONFLIK TLÖSUNG , W IEDER AUFBAU UND V ERSÖHNUNG ? V ON TR ANSITIONAL J USTICE ZU J UST P E ACEBUILDING Im Folgenden plädieren wir dafür, konzeptiv über das Transitional Justice hinauszugehen. Wir schlagen vor, die drei Konzepte »Gerechtigkeit/Justice« »Frieden/Peace« und »Entwicklung/Development« zusammen zu denken und im Meta-Rahmen eines komplexeren Ansatzes von »Just Peacebuilding« neu zu verknüpfen. Vor allem das skizzierte »Social Connection Model of Justice« ermöglicht einen vielversprechenden Anschluss an bedürfnisorientierte Theoreme innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung. Galtung hat z. B. versucht, das Konzept der Menschenrechte mit dem Konzept der menschlichen Grundbedürfnisse in einen dialektischen Bezug zu setzen (vgl. Galtung 1994, 2000b). Grundbedürfnisse verweisen bei ihm weder auf individualpsychologische Ego-Bedürfnisse noch auf soziale Interessen oder kulturelle Werthaltungen, sondern auf nicht verhandelbare Bedürfnisse der menschlichen Gattung. Sie sollen in komplexen Konflikten – in denen heute oft traditionelle und religiöse Wertvorstellungen, nationale Verfassungsnormen und völkerrechtliche und menschenrechtliche Grundsätze aufeinander prallen – einen Referenzrahmen für Konfliktbearbeitung ermöglichen, um auch zwischen den konfligierenden Legitimitäts- und Gerechtigkeitsvorstellungen zwischen den

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Konfliktparteien zu mediieren. Der Dialog über menschliche Grundbedürfnisse soll dabei zum »Königsweg« werden und in einem umfassenden Spektrum von Peacebuilding-Prozessen zur Anwendung kommen (von Gewaltprävention über militärische und polizeiliche Zwangsmittel, rechtliche und außerrechtliche Maßnahmen, Verhandlungen und Mediation, bis schließlich zu Transitional Justice). Ziel einer solchen dialogischen Konfliktbearbeitung wäre die Annäherung an eine kreative Ich-Wir-Balance zwischen menschlichen Grundbedürfnissen, kulturellen Werten, sozialen Interessen und politischen Rechten. Die zugrunde liegende Konflikt- und Friedenstheorie richtet sich auf ein tieferes Verständnis der komplexen Abhängigkeiten menschlicher Interaktionen, struktureller Beziehungen und kultureller Bedeutungszusammenhänge vom Unterbewussten (vgl. Galtung 1998). »The deeper code, or program of a civilization seems at least to be one promising factor worth looking into the search for the roots of violence of both types, and possibly also for their reduction. That program is what I refer to as (social) cosmology, and it seems at least highly plausible that there is an expansionist occidental civilizational code that will carry in itswake, almost with necessity, even enormous quantities of direct and structural violence.« (Galtung 1988: 33f). Galtungs Grundannahme ist, dass gerechte und nachhaltige Konfliktlösungen nur gefunden werden können, wenn diese tieferen Aspekte für Gewalt und Frieden im Dialog in das Bewusstsein der Konfliktparteien gebracht werden. Das wäre schon die halbe Sozio-»Therapie«. Die andere Hälfte liegt aber in der Aufdeckung bzw. Wiederentdeckung von friedensfördernden Ressourcen in den Tiefendimensionen der jeweiligen Sozial- und Kulturgeschichte(n). Damit steht Galtungs Kosmologieanalyse in diametralem Gegensatz zu Huntingtons These vom Kampf der Kulturen (Huntington 1996). Bei Huntington dient die Annahme von kulturellen Tiefendimensionen der Verfestigung von kulturessentialistischen Vorurteilen und der Legitimation einer neuen »Geopolitik« gegenüber regionalen Kulturkreisen. Galtung hingegen zielt auf eine zivilisatorische Selbstreflexion und einen interkulturellen Dialog. Seine Analyse dient der Aufdeckung von wechselseitigen unterbewussten Gewaltlegitimierungen und Eskalationsdynamiken in den kollektiven Mythen und Mentalitäten sowie der Bewusstmachung von kulturellen Ressourcen für Friedensentwicklung und Voneinanderlernen. Das ermöglicht ein komplexes Verfahren einer dialogischen »Konfliktbearbeitung mit friedlichen Mitteln«, nämlich Galtungs »TranscendMethode«, mit verschiedenen praxeologischen Zugängen (vgl. Galtung 2000a, Graf 2007, Graf/Kramer/Nicolescou 2008). Dabei zielt Galtungs Methode nicht nur auf gewaltfreies Verhalten ab, sondern auch auf strukturelle Symmetrie (über Gleichheit, Autonomie, Integration und Partizipation), kulturellen Pluralismus und individuelle Selbstverwirklichung. Galtungs Grundbedürfnis-Ansatz ist umstritten. Peter Lawler hebt den kontroversiellen Aspekt dieses Ansatzes hervor:

V ON T RANSITIONAL J USTICE ZU J UST P EACEBUILDING ? »The defenders of different types of social formations would argue that it is only within their preferred society that human needs are best understood and satisfied. In order for a theory of human needs to have critical effect, it must therefore be able to distinguish between true and false needs, a fact acknowledged by many needs theorists. Beyond identifying the most basic needs – the prerequisites for human existence – needs-talk is necessarily contingent upon a whole host of culturally and ideologically specific categories. Connected with this are difficulties with distinguishing various needs from the closely related category of wants.« (Lawler 1995: 140f)

Auch Graf diskutiert an anderer Stelle eine kritisch-konstruktive Weiterentwicklung des galtungschen Ansatzes (vgl. Graf 2009). Das bezieht sich z.  B. auf eine Konkretisierung und Erweiterung des Konzepts des »kollektiven Unterbewussten«. Galtungs konkrete Beiträge fokussieren vor allem auf das kognitive kollektive Unterbewusste und konzentrieren sich vor allem auf die Aufdeckung dieses kollektiven Unterbewussten in internationalen Konfliktkonstellationen, im Besonderen in Konflikten zwischen Staaten, Nationalitäten und Zivilisationen. Ähnlich wie die Poststrukturalisten Foucault und Deleuze/Guattari geht Galtung über ein psychologisches Vor- bzw. Unbewusstes im engeren psychologischen Sinne hinaus. Es geht bei Galtung vielmehr besonders um die Aufdeckung eines tieferen, kollektiven Unterbewussten, das im Unterschied zum kollektiven Unterbewussten bei Jung historisch und zivilisatorisch geprägt ist – mit historisch-anthropologischen, strukturellen und kulturellen Dimensionen (Grundbedürfnisse, Tiefenstrukturen und Tiefenkulturen). Graf schlägt vor, es durch das Konzept eines sozialen Unbewussten zu ergänzen. Konkret ließe sich dann auch eine produktive Unterscheidung zwischen psychologischen Ego-Bedürfnissen und anthropologischen Grundstrukturen (bzw. Grundbedürfnissen) einführen. Darüber hinaus würde diese Erweiterung ganz allgemein ermöglichen, das eher kognitiv verstandene kollektive Unterbewusste bei Galtung mit tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Sichtweisen zu ergänzen bzw. die individuelle und die kollektive Dimension auf komplexere Weise miteinander zu vermitteln. »Als konkretes Beispiel für eine komplexe Vermittlung eines individuellen und kollektiven Vor- und Unterbewussten kann Lederachs Schema (2005) für eine Erforschung von Konfliktgeschichte(n) bzw. von Eskalations- und Polarisierungdynamiken, die in die Vergangenheit führen, genannt werden. Er schlägt vor, mit einem ersten Kreislauf zu beginnen, den ein gegenwärtiges gewalttätiges Ereignis umgibt. ›The circle of recent events lifts out the most visible expressions of the political, military, social, or economic conflicts‹ (Lederach 2005: 141). Der Kreis gegenwärtiger Ereignisse führt dann langsam in die weitere Sphäre ›gelebter Geschichte‹ ein. Ein dritter, weiterer Zeitkreis ist der Kontext des Gedächtnisses, oder der ›erinnerten Geschichte‹. Hier kommt Vamik Volkan ins Spiel. Volkan begreift diese Zeitschleifen, vor allem aus Sicht einer ich-psychoana-

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W ILFRIED G RAF , V ALERIE K AINZ UND A GNES T AIBL lytisch geprägten Großgruppen-Psychologie, als erinnerte Ereignisse, die ein ›chosen trauma‹, ein ›gewähltes Trauma‹ hervorrufen (Volkan 1999). Und schließlich gibt es die tiefstgehende Geschichte, die der historisch langandauernden ›Narrative‹, ›the understanding of how people come to see their place on this earth, in a figurative sense and their place as tied to a specific geography, in a literal sense‹.« (Lederach 2005: 143)

Differenziert man die historisch-kulturelle Dimension einer komplexen Konfliktkonstellation auf eine solche Weise, so werden nicht nur tiefere Konfliktursachen sichtbar, sondern kommen auch alternative Lösungen ins Blickfeld – gerade auch mit Bezug auf den »Umgang mit der Vergangenheit« bzw. Transitional Justice. Mit Galtung wollen wir in diesem Beitrag aber vor allem die Integration von drei Problembereichen diskutieren, die den spezifischen Kontext einer »Übergangsgesellschaft« nach der Beendigung gewaltsamer und kriegerischer Konflikte betrifft: • die Lösung des zugrunde liegenden Konflikts (Conflict Resolution), • den Wiederaufbau und Entwicklung nach direkter Gewaltanwendung (Reconstruction) • und die Versöhnung der Konfliktparteien (Re/Conciliation) (vgl. Galtung 2004) Galtungs Ansatz geht deutlich über die im Rahmen von Transitional Justice vorgeschlagenen Maßnahmen hinaus. Seine These lautet, dass »Rekonstruktion und Versöhnung ohne Lösung des zugrunde liegenden Konflikts […] kontraproduktiv« (Galtung 2004: 4) sind. Die drei Problembereiche sollten nicht nacheinander, sondern synchron bzw. in Kombination – unter Nutzung der dabei auftretenden Synergieeffekte – adressiert werden. Dabei müssen aber direkte UND indirekte Gewalt und deren Auswirkungen auf die Situation nach dem Ende der Gewalt berücksichtigt werden. Die Folgen direkter Gewalt sind leicht zu benennen: Getötete, Verwundete, IDPs (Binnenvertriebene) und materieller Schaden. Da direkte Gewalt strukturelle und kulturelle Gewalt verstärkt, sind die unsichtbaren Auswirkungen vielleicht noch schlimmer: »Die wesentlichsten Faktoren sind der Hass und die Rachsucht, die sich unter den Verlierern breitmachen, und die Sucht der Gewinner nach mehr Siegen und weiterem Ruhm; und auch die Macht, die von den Gewaltanwendern ausgeht.« (Galtung 2004: 3)

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4.1 Lösung des zugrunde liegenden Konflikts (Conflict Resolution) Bei der Lösung des zugrunde liegenden Konflikts unterscheidet Galtung zwei verschiedene Ansätze. Der parlamentarische Ansatz der Konfliktlösung betont die Notwendigkeit eines Demokratisierungsprozesses. Dabei müssen zwei mögliche Schwierigkeiten berücksichtigt werden: »Democracy can mean dictatorship by 51 %, blocking attempts by oppressed, exploited and alienated nations and classes to improve their livelihood.« (Galtung 1998: 97). Außerdem bedeutet die Summe von Demokratien nicht automatisch, dass auf globaler Ebene Demokratie herrscht. Diskriminierende außenpolitische Bestimmungen sind also nicht automatisch legitim, wenn sie von einer/m demokratisch gewählten PolitikerIn geäußert werden. Eine kritische, offene Medienlandschaft kann den Demokratisierungsprozess unterstützen, indem sie Diversität fördert und jenen eine Plattform gibt, deren Meinung bis dahin nicht gehört wurde. (Ebd.: 98) Der außerparlamentarische Ansatz basiert auf der Annahme, dass Gewalt nicht funktioniert, gewaltfreier Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung hingegen schon. »The most important point about nonviolence is to behave in a conflict so that the effects of violence, visible and invisible, will not occur.« (Ebd.: 99) Unter Berufung auf Gandhi wird die Prozesshaftigkeit von Frieden betont – Es gibt keinen Weg zum Frieden, Friede ist der Weg. Damit geht die herkömmliche Bedeutung des militärischen Sieges verloren, und der Fokus liegt auf der Verbesserung der Beziehung der beiden Konfliktparteien. »The conflict becomes a medium for mutual education; together they may learn how to transform conflicts upward so that they can be handled nonviolently and creatively.« (Ebd.). Wenn dies klappt, so Galtung, könnte das erzielte Ergebnis sogar besser sein als das ursprünglich angestrebte Ziel. Ziviler Ungehorsam stellt eine spezielle Form des außerparlamentarischen Ansatzes dar. »The system is seen as so unjust, or whatever term is used, that participation becomes complicity.« (Ebd.: 100). Im Gegensatz zu herkömmlichen Streiks versuchen Aktionen zivilen Ungehorsams immer, die gegnerische Partei zum Dialog zu zwingen.

4.2 Rekonstruktion nach der direkten Gewaltanwendung (Reconstruction) Beim Wiederaufbau nach Gewalt unterscheidet Galtung strukturellen Schaden von kulturellem Schaden. Rekonstruktion darf nicht auf sichtbare Aktivitäten wie Wiederaufbau und Rehabilitation begrenzt werden, sondern muss auch in unsichtbaren Bereichen erfolgen. »Structures have to be woven together, but not too tight, not too dominant; cultures have to become peace cultures.« (Galtung 1998: 54). Der Prozess der Rekonstruktion geht also auf vier verschiedenen

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Ebenen vonstatten: Rehabilitation, materieller Wiederaufbau, Restrukturierung und Rekulturierung. Während im gängigen Verständnis Rehabilitation zumeist die Wiedereingliederung der Kombattanten, aber auch anderer von Gewalt betroffener Gruppen in die soziale Gemeinschaft bezeichnet (vgl. DED o.J.), erweitert Galtung diesen Begriff auf die Heilung aller traumatisierten Menschen, ob Hinterbliebene, Trauernde und/oder Verletzte. Dies beinhaltet sowohl individuelle als auch kollektive Traumata, die von Krieg und Gewalt verursacht wurden. Für die Bearbeitung kollektiver Traumata führt Galtung den Ansatz der kollektiven Trauer ein. Während Individuen um ihre verstorbenen Angehörigen und Freunde trauern, sollte die Trauer auf kollektiver Ebene eine andere Botschaft vermitteln. Dabei muss die »Kultur des Krieges« durchbrochen werden, in der Sieger und Verlierer nur ihre eigenen Opfer betrauern: »For the victor to deplore collectively the sacrifice that was necessary to win, and for the vanquished to deplore collectively the sacrifice that was insufficient, are parts of the culture of war.« (Galtung 1998: 55). Vielmehr sollte der Trauerprozess gemeinsam stattfinden, und den Krieg an sich kritisieren. »A culture of peace would deplore the war as such, any war, as a sign of human failure and folly. War should never be justified; given human potential resources.« (Ebd.). Der Trauerprozess in Situationen nach Gewalt dreht sich demnach nicht nur um die Effekte des Krieges, sondern um den Krieg an sich. Gewaltvolle Akteure werden dabei ebenso kritisiert wie gewaltvolle Strukturen und Kulturen. »Rehabilitation is built around a new cause: abolition of war.« (Ebd.). Ob Rehabilitation im Sinne Galtungs bei Wahrheitsund Versöhnungskommissionen gelingen kann, bleibt fraglich. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass Opfer im Zuge der Wahrheitsfindung erneut traumatisiert wurden und nur mangelnde Unterstützung in ihrem individuellen Aufarbeitungsprozess erhielten. Dennoch könnten derartige Kommissionen, sofern sie tatsächlich gesellschaftliche Konfliktlinien abbauen und eine gemeinsame Anstrengung aller Konfliktparteien darstellen, zum Rehabilitationsprozess beitragen. Zum materiellen Wiederaufbau zählen die Reparatur des materiellen Schadens und die Neuerrichtung von Wohnraum und Infrastruktur. Galtungs Entwicklungsansatz betont die Chancen, die sich durch einen »Neuanfang« nach der Ausübung von Gewalt ergeben. Die Entwicklungsagenda darf jedoch nicht alleine der Privatwirtschaft überlassen werden, sondern muss in einem nationalen Dialog mit umfassender Partizipation der BürgerInnen diskutiert werden. »Nobody has a monopoly on defining the goal of development; and everybody is entitled to participate in the process.« (Galtung 1998: 57). Entwicklung ist bei Galtung nicht nur materieller Wiederaufbau, sondern umfasst auch menschliche, soziale, globale und kulturelle Entwicklung.

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Restrukturierung bezeichnet die Umstellung auf eine Friedensstruktur, die in erster Linie in einem Demokratisierungsprozess sichtbar wird. Ein funktionierendes politisches System mit freien Wahlen, freier Meinungsäußerung und PolitikerInnen, die sich ihrer Verantwortung gegenüber den WählerInnen bewusst sind, reichen jedoch nicht aus. Demokratische Restrukturierung hat die Einbeziehung marginalisierter Bevölkerungsgruppen zum Ziel, beispielsweise durch Bildung oder bessere Gesundheitsversorgung. Gegenseitige Unterstützung und Freiwilligenarbeit würden diesen Umstellungsprozess unterstützen und die innergesellschaftlichen Distanzen verringern (vgl. ebd.: 58). In diesem Zusammenhang ist auch die im Konfliktverlauf erfolgte Polarisierung der Gesellschaft zu beachten. Nach der Ausübung von Gewalt ist die Depolarisierung essenziell. »It does not come automatically, nor is it obvious that the best restructuration is ›normalization‹ to the situation before violence: that situation produced violence.« (Ebd.: 60). Anstelle einer Rückkehr zum Status vor der Ausübung von Gewalt müssen neue Institutionen geschaffen werden, um strukturelle Gewalt in Zukunft zu verhindern. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen können dafür Empfehlungen abgeben und den Restrukturierungsprozess nach Krieg und Gewalt initiieren – oder aber auch die gesellschaftliche Polarisierung weiter verstärken. Der Prozess der Rekulturierung beinhaltet zwei Herausforderungen: »to substitute for a culture of violence a culture of peace, and to build a culture where there is none.« (Galtung 1998: 62). Ein erster Schritt dafür ist die Vermittlung von Wissen über Konflikte, beginnend im Kindergartenalter. Dabei muss auch die übliche Simplifikation angesprochen werden, derzufolge Konflikte nur zwei homogene Parteien und einen Streitpunkt betreffen. »After the violence, preferably before or during, realistic, accurate maps have to be produced. There will always be somebody among ›us‹ with different views, the same applies to ›them‹.« (Ebd.: 63) Insbesondere auf der Höhe von Konflikten werden diese abweichenden Meinungen unterdrückt, beispielsweise durch die Denunzierung als Verräter. Der Prozess der Rekulturation bietet die Gelegenheit, jene abweichenden Meinungen wieder einzugliedern und die eigene Zielsetzung und Vorgehensweise in einem breiteren Meinungsspektrum zu diskutieren.

4.3 Versöhnung (Re/Conciliation) Galtung beschreibt verschiedene Ansätze für Versöhnung als Prozesse und Maßnahmen sozialer (Re)Conciliation, von denen in weiterer Folge einige dargestellt werden. Allen gemeinsam ist das Vorhandensein einer dritten Partei: »There is usually a Third Party as source of Grace, Law and Justice, above perpetrator and victim: God (the Church), the State (the International Community), Society (the People).« (Ebd.: 65). Diese kann entweder die Beziehung zwischen Opfer und Täter regeln, oder diese Beziehung in eine Beziehung zu sich selbst

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verwandeln, beispielsweise durch Bestrafung des Täters oder Entschädigung des Opfers. »Material and non-material gratification may derive from this, but hardly reconciliation, release from the trauma.« (Ebd.) Der erste Schritt in Konflikttransformationsprozessen sollte laut Galtung eine Darstellung der Konfliktentstehung sein. Die Konfliktparteien, ihre Ziele und die dem Konflikt zugrunde liegenden Widersprüche müssen identifiziert werden (vgl. ebd.: 77). Dies allein bringt jedoch noch keine Versöhnung. Herkömmliche politische Konfliktanalysen ignorieren meist strukturelle Konfliktursachen bzw. soziale und kulturelle »Tiefendimensionen«. Meist ist es für Konflikttransformation auch günstiger, Gesellschaften ihre eigene, gemeinsame Vorstellung von Geschichte entwickeln zu lassen – der Weg dorthin ist bereits die erste Phase des Versöhnungsprozesses (vgl. ebd.: 78f). Eine Wahrheitskommission könnte dafür einen geeigneten Rahmen bieten, sofern das dabei bestehende Gefahrenpotenzial erkannt und ausreichend adressiert wurde. In einer Kriegskultur wird Krieg als legitimes Instrument im Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt. Der Sieger feiert den Sieg über das Böse und trauert um all jene, die dafür ihr Leben lassen mussten. Eine Alternative dafür ist Galtungs Ansatz der gemeinsamen Trauer. »The myth that some people ›gave‹ their lives is revealed for what it is: those people had their lives taken away from them by incompetent politicians, incapable of transforming conflicts, themselves incuring little or no risk but willing to send others into (almost) certain death, spreading that death to others in the process.« (Galtung 1998: 82). Ziel ist dabei nicht die Stilisierung der PolitikerInnen zum gemeinsamen Feind, sondern die Reflexion über Krieg. Hätte er vermieden werden können, und welche Maßnahmen können getroffen werden, damit in Zukunft kein ähnlicher Ausbruch von Gewalt erfolgt? »To discuss this together with the aggressor, jointly exploring war, any war, as a scandal, a crime against humanity, searching for alternatives in the past and the future, is relatively new. And promising, engaged in massively, with elite, not only people participation.« (Ebd.). Prozesse der gemeinsamen Trauer können jedoch erst einige Jahre nach Kriegsende begonnen werden. Der Ansatz des gemeinsamen Wiederaufbaus arbeitet ebenfalls mit dem Prinzip der Gemeinsamkeit. Während Versöhnung auf spiritueller Ebene passiert, ist Wiederaufbau konkret. »What matters is the togetherness at work, reflecting on the mad destruction, shoulder to shoulder and mind to mind.« (Ebd.: 85). SoldatInnen beider Seiten würden sich also wiedertreffen und gemeinsam wiederaufbauen anstatt zerstören. Galtungs Ansatz der gemeinsamen Konfliktlösung betont die Notwendigkeit umfassender Partizipation der BürgerInnen. Konfliktlösungsprozesse spielen

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sich meist zwischen PolitikerInnen oder anderen Eliten ab. Damit sind sie einerseits anti-partizipatorisch und dadurch selbst eine Art struktureller Gewalt und andererseits oft von jenen ausgearbeitet, die keine Opfer direkter Gewalt waren. Galtung fordert daher breitere Beteiligung durch die Therapie der Vergangenheit und der Zukunft. Dabei diskutieren Menschen, in welchen Situationen welche Fehler gemacht wurden, und wie diese verhindert werden hätten können. In der Therapie der Zukunft werden mögliche Szenarien diskutiert und Möglichkeiten gesucht, wie jetzt schon mit der Arbeit an einem nachhaltigen Frieden begonnen werden kann. »In short, having people as active participants in conflict resolution; as subjects, not only as the objects of somebody else’s decisions and deeds.« (Galtung 1998: 86). Auch hier stellt bereits der Dialogprozess den ersten Schritt der Versöhnung dar. Zudem tragen alle Ansätze, die auf gemeinsamen Anstrengungen beruhen, zur Depolarisierung der Gesellschaft bei. Galtungs theoretische Ausführungen betonen die Prozesshaftigkeit von Krieg und Frieden. Krieg beginnt nicht mit dem ersten Aufflammen von Gewalt, sondern hat weiter zurückliegende Ursprünge. Gleichermaßen bedeutet das Kriegsende nicht das Ende des Konflikts, sondern lediglich ein Aussetzen direkter Gewalt. Galtung schlägt vor, direkte Gewaltanwendung »unter dem Aspekt ihrer Vor-, Seiten-, und Nachgeschichte [zu sehen], die weder räumlich noch zeitlich begrenzt sind.« (Galtung 2004: 16). In Situationen nach der Ausübung von Gewalt ist die Bearbeitung der drei Problembereiche Konfliktlösung, Wiederaufbau und Versöhnung für nachhaltige Konfliktlösungen erforderlich. Die englischen Bezeichnungen »Conflict Resolution«, »Reconstruction« und »Reconciliation« rücken ebenfalls den Prozesscharakter in den Vordergrund. Das »Re-«, im Sinne von »etwas wieder und wieder machen« verdeutlicht, dass die Arbeit an den drei Bereichen nicht in einem zeitlich begrenzten Rahmen erfolgt. Vielmehr ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit strukturellem und kulturellem Frieden notwendig, um einem neuerlichen Ausbrechen von direkter Gewalt präventiv entgegenzuwirken (vgl. ebd.: 18). Deshalb sei hier noch einmal die Notwendigkeit einer synchronen Bearbeitung der drei Bereiche betont. Auch wenn materieller Wiederaufbau in Situationen nach Gewalt am dringlichsten erscheint, darf die Notwendigkeit der anderen beiden Dimensionen nicht unterschätzt werden. Wird nur an der Konfliktlösung gearbeitet, fühlen sich die BürgerInnen im Wiederaufbauprozess nach Kriegen alleine gelassen. Die ausschließliche Beschäftigung mit materiellem Wiederaufbau bedeutet, dass die grundlegenden Ursachen des Konflikts ignoriert und damit nachhaltige Lösungen unmöglich gemacht werden. Wird nur an der Versöhnung gearbeitet, bleiben die Konfliktursachen unverändert und können im Zuge der Versöhnungsrhetorik auch nicht bearbeitet werden (vgl. Galtung 1998: 103). Die im Zuge dieses Beitrags dargestellten Instrumente von Transitional Justice – beispielsweise Tribunale, Wahrheitskommissionen und Reparationszahlungen

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– finden sich bei Galtung größtenteils im Bereich »Versöhnung« wieder. Um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten, ist aber eine Verknüpfung mit Maßnahmen zu Konfliktlösung und Wiederaufbau bzw. Entwicklung notwendig. Sollen Transitional-Justice-Maßnahmen »nachhaltig« werden, braucht es eine Einbettung in ein breiteres Konzept von Frieden und Entwicklung.

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Die Konfliktlösungsmethode Mahloquet im Zeichen von Social Justice Gudrun Perko und Leah Carola Czollek

Prolog Verlasst mit mir einen Moment die Schwere Eurer Existenz. Vergesst einen Moment die Bande der Kultur. Legt für einen Moment die Masken ab, die wir Identität nennen. Diese Schwere, diese Bande und diese Masken sind der Kuss der Schneekönigin. Sie flüstern uns ein es gäbe die Wahrheit. Aber die ist zersplittert in tausend spitze Teilchen. Wir sind wie Kai – die Herzen zu Eis gefroren und auf unseren Seelen eine Landschaft aus blauen Flecken der Kälte. Die Schwere, die Bande, die Masken, die – so vertraut – uns glauben lassen, wir wären es selbst. Die schöne blaue Blume der Kultur – deren Blätter feine kleine Stacheln hat, kaum sichtbar, die zu spitzen Pfeilen werden, wenn wir uns einander nähern. Darum legt sie ab für einen Moment – die Schwere, die Bande und die Masken. Und geht hinaus an den Rand des Meeres, auf den Gipfel eines Berges, in die Weite der Steppe. Und fühlt: Wir alle sehen den gleichen Himmel und unsere Füße betreten die gleiche Erde. Und vielleicht, nur vielleicht geschieht das Wunder, dass ein lichtblauer Tautropfen beschienen vom orangenen Licht der Sonne das zu Eis gefrorene Herz erwärmt und die Spiegelwelt der Schneekönigin zum Schmelzen bringt. (Leah Carola Czollek)

Die Mahloquet gilt als spezifische dialogische Methode, mit der Konflikte gelöst werden können. Social Justice gilt als spezifisches Gerechtigkeitsprojekt, als Grundlage und Zielsetzung der Mahloquet. Beide haben unterschiedliche Entstehungskontexte, gehören divergierenden Bereichen an (Gerechtigkeitsmodell, Konfliktlösungsverfahren) und wurden historisch nicht miteinander in Verbindung gebracht. Erst in den von Leah Carola Czollek, Gudrun Perko

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und Heike Weinbach konzipierten Social Justice Trainings wurden sie in ihrer Verbindung herangezogen, weil mit der dialogisch-anerkennenden Methode Mahloquet der Intention von Social Justice als partizipative (strukturell-institutionelle) Anerkennung von Menschen in ihren Diversitäten und als Verteilungsgerechtigkeit weitestgehend nachgekommen werden kann. In unserem Beitrag stellen wir (1) die Mahloquet in ihrem historischen Kontext und als aktuelle Konfliktlösungsmethode mit ihren ethischen Prämissen vor und diskutieren (2) zu ihrer Veranschaulichung ein Fallbeispiel – zwei Jugendgruppen als Konfliktparteien. Danach skizzieren wir (3) mit den grundlegenden Ideen von Social Justice ihre Grundlagen und Zielsetzungen und mit dem Social-Justice-Training ihre Anwendung. Mit der Mahloquet beschreiben wir ein Konfliktlösungskonzept und eine Methode, die vor allem in (konfliktualen) Gruppen angewendet wird und werden kann. Ihr geht es um Pluralität und Diversität, d.  h. darum, vielfältige Interpretationen und Sichtweisen anerkennend nebeneinander bestehen zu lassen. In Verbindung mit ihren spezifischen Prämissen und ihrer besonderen Gesprächsform liegt hierin die Möglichkeit, die Idee von Social Justice zu vermitteln und Handlungsoptionen zur Realisierung von Social Justice zu eröffnen.

1. D IE M AHLOQUE T ALS K ONFLIK TLÖSUNGSME THODE Die Mahloquet ist der jüdischen Tradition des Dialoges, des MiteinanderSprechens entnommen. Davon ausgehend entwickelten wir ein spezifisches dialogisch-anerkennendes Konfliktlösungsverfahren – Mahloquet als integrativ-anerkennende Methode des Dialoges –, das v. a. in Gruppenkonflikten wie Teamkonflikten, Organisationskonflikten etc. anwendbar ist (vgl. Czollek/Perko 2006). Das Spezifische dieses Verfahrens liegt in der Form des Dialoges selbst, der mit den Konfliktparteien praktiziert wird, und in seinen ethischen Prämissen, die sich von anderen Konfliktlösungsmethoden unterscheiden (siehe ethische Prämissen und Gesprächsform). Zudem zeichnet sich dieses Konfliktlösungsverfahren durch den Einbezug des biografisch-historischen Kontextes der Konfliktparteien sowie durch die Eröffnung des Konfliktraumes hin zur Gesellschaft aus. Der Prozess, die Lösungsfindung und Lösungsvereinbarung stehen im Zeichen der Mahloquet, insofern es nicht um eine Synthese der Widersprüche geht.

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Historische Hintergründe und gegenwärtige Bedeutungen der Mahloquet Als ca. im Jahre 580 vor unserer Zeitrechnung der Tempel in Jerusalem zerstört wurde, begannen Juden ihre Gottesdienste in Form von Versammlungen abzuhalten. Es entwickelte sich die Synagoge. Die hebräische Bezeichnung für Synagoge ist Beth Tefila (Haus des Gebets), aber auch Beth Knesset (Haus der Versammlung). Auch das griechische Wort synagein meint Sich-Versammeln und steht für Diskussion (vgl. Knobloch 1987). Analog zum Beth Hamidrasch, dem jüdischen Lehrhaus bzw. Haus der Interpretation (vgl. Quaknin 1996), finden die Gespräche nicht in der geregelten Form von Frage und Antwort statt, sondern im lebendigen Miteinander. In dieser Geschichte wird die Entstehung der Mahloquet überliefert. Bis heute kennen wir das Bild der durcheinander sprechenden Menschen, laut und gestikulierend. Aber diesem als Chaos erscheinenden Getümmel liegt ein Konzept zugrunde: die Mahloquet als spezifische Methode des Dialoges. Ursprünglich wird mit Mahloquet die Diskussion zwischen zwei Lehrmeistern über eine Textstelle bzw. eine Gesetzeskategorie verstanden. Sie steht in der Tradition der Auslegung der Torah, des Talmud und anderer Werke der jüdischen Schriften, die das Gespräch als Dialog sowohl zwischen den Lehrmeistern, den lebenden und den verstorbenen, aber auch zwischen den Lehrenden und Schülern und zwischen den Lernenden selbst anwandten (vgl. Ouaknin 1990). In Bezug auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis hebt Mendelssohn hervor: »[…] Sie hatten die Freiheit, mich zu unterbrechen, Einwürfe vorzubringen, sie unter sich zu beantworten, und ich brach zuweilen meinen Diskurs ab, um sie unter sich streiten zu lassen […].« (Mendelssohn 1785, zit.  n. Knobloch 1987: 345f) Mahloquet ist Methode und wird zugleich als Methode vermittelt. Gelehrt und gelernt wird in der Gemeinschaft. Auch im säkularen Kontext ist die Mahloquet kein »stummes Zwiegespräch« in uns. Denn dieser Dialog braucht das Gegenüber. Im Gespräch findet der/die Eine etwas in einer bestimmten Auslegung richtig und der/die Andere etwas anderes. Doch geht es weder darum, dass die Meinung des/der Einen richtig und die Meinung des/der Anderen falsch ist, noch dass beide einen Konsens über die richtige Auslegung finden müssen (vgl. Maimonides 1992). Beide Meinungen gelten gleichberechtigt nebeneinander. In dieser Form des Dialoges werden viele verschiedene Interpretationen und Auslegungen herangezogen, gegenwärtige und ältere. In der jüdischen Tradition wird etwa einer Mischna (hebräisch Wiederholung; das ist die wichtigste Sammlung religionsgesetzlicher Überlieferungen des rabbinischen Judentums und bildet die Basis des Talmuds) eine andere Mischna selben oder älteren Datums entgegengehalten,

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die genauso viel Autorität wie die erste besitzt, auch wenn die zweite genau das Gegenteil sagt (vgl. Ouaknin 1990). Aus dem religiösen Kontext genommen, meint die Wiederholung eine WiederHer-Holung, d. h. den Einbezug des historischen bzw. biografisch-historischen Kontextes. Vom Kontext der Anderen ausgehend, erhöht sich die Möglichkeit, sich vorzustellen, wie sich die Anderen fühlen, warum sie so handeln, denken usf., also die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, wie ihn in einem anderen Kontext Hannah Arendt pointiert. Dieser meint, sich »vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus etwas vorstellen« zu können (Arendt 1986: 78) und birgt daher die Möglichkeit der gegenseitigen Anerkennung. Dadurch kann der Andere – im Sinne von Buber – als ein DU gesehen werden (vgl. Buber 1997). Ebenso kann das eigene Handeln verständlicher werden und es können positive Handlungsbeispiele in der je eigenen Kultur als Vorbilder herangezogen werden, wo es friedliche Konfliktlösungen gegeben hat. Mahloquet wird in seiner gegenwärtigen Bedeutung als ein dialogisches Miteinander aufgefasst. Der Dialog bezeichnet ein Gespräch mit anderen Menschen, er geht aber auch über das Sprechen hinaus: Gestiken, Mimik etc. gehören ebenso dazu wie das dialogische Denken als Denken, mit dem versucht wird, möglichst viele Perspektiven einzunehmen. Dabei steht nicht das jeweilige Ich der Dialogpartner/innen im Zentrum des Dialoges und dialogischen Denkens, sondern die Sichtweisen der vielen anderen Menschen, auf die sie sich beziehen. Hier ist die Theorie des Perspektivenwechsels (vgl. Arendt 1986) verbunden mit dem Aufgeben, als einzige/r recht zu haben. Diese Haltung wurde im Kontext der Auseinandersetzung mit der griechischen Antike mit dem Terminus monos phronein in den 1960er-Jahren von Cornelius Castoriadis wieder in die wissenschaftliche Diskussion gebracht (vgl. Castoriadis 1990), und im gewissen Sinne spricht sich auch Judith Butler dafür aus, wenn sie sich mit Foucault und Adorno dafür einsetzt, dass das Selbst nicht die letzte und einzige Grundlage einer Ethik sein kann und dennoch verantwortungsfähig ist (vgl. Butler 2003: 114). Monos phronein meint, moderner formuliert, das Aufgeben des Egozentrismus (auch des Eurozentrismus) als Haltung, mit der allgemeine Gültigkeiten und Wahrheiten verkündet werden und beansprucht wird, zu wissen, was andere Menschen wollen, denken, begehren. Nichts bekommt in dem Prozess des Perspektivenwechsels und der Wiederholung Endgültigkeit. Jede Meinung steht zur Diskussion. Insofern wird ein offener Raum geschaffen, der sich der Eindeutigkeit entzieht. In der Mahloquet geht es nicht um eine Synthese der Widersprüche, sondern darum, die verschiedenen Auffassungen bestehen zu lassen, angebliche Wahrheiten und festgefrorene Denkstrukturen zu erschüttern. Keine Meinung soll zu einem Dogma oder zur

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Ideologie erhoben werden. Jede/r darf sprechen und jede/r wird gehört. Im religiösen Kontext findet sich eine Begründung darin, dass die Wörter eines jeden göttliche Wörter sind, weil jeder Mensch von Gott geschaffen wurde, und – um die Schöpfung zu verstehen – es aller Teile bedarf. Aus dem religiösen Kontext herausgenommen bedeutet das, jeden Menschen als Teil dieser Welt zu sehen, der etwas beitragen kann, wovon der je Andere nichts weiß. Gespräche, Fragen und Antworten dienen dazu, eine Erkenntnis zu gewinnen, den Horizont zu erweitern, ein Verständnis von etwas zu vertiefen. So geht es bei der Mahloquet darum, etwas Noch-nicht-Gewusstes, etwas Neues zu erkennen. Perspektivenwechsel und Perspektivenvielfalt dienen dazu, dass – wie Arendt formuliert – das eigene Urteil nicht mehr nur eindimensional, nicht mehr nur subjektiv ist (vgl. Arendt 1986). Der Mahloquet geht es um Pluralität und Diversität, d.  h. darum, vielfältige Interpretationen und Sichtweisen nebeneinander bestehen zu lassen. Im Talmud wird dabei eine »Logik des Sinns« gegen eine »Logik der Wahrheit« gestellt (Ouaknin 1996: 70). Das zeigt eine Philosophie an, die sich gegen den Drang zur Wahrheit, gegen Intoleranz und Fanatismus richtet. So wird insgesamt eine »Bewegung des Denkens in Gang gesetzt, die […] in der Erschütterung vorgefertigter Sinnstrukturen besteht, in denen alles seinen Ort und jeder Augenblick seine Zeit hat« (Ouaknin 1996: 70). Die Mahloquet verlangt die Fähigkeit, Selbstverständlichkeiten des eigenen Lebens infrage zu stellen und zu reflektieren. Der Dialog der Interpretierenden im religiösen Bereich steht nicht für sich allein, sondern ist in das philosophische System von Werten und Visionen jüdischer Denktraditionen eingebunden, so etwa in die Vorstellungen darüber, dass Menschen einen freien Willen und Verantwortung für das eigene Handeln haben. Das Gegenüber wird hierbei nicht als Spiegelung der eigenen Erfahrungen benutzt: Die Schrift wird in der talmudischen Tradition nicht interessant, weil in ihr etwas Bekanntes gefunden wird, sondern gerade in ihrer Fremdheit. Voraussetzung dafür ist, dass das Gegenüber respektiert wird in dem, was es sagt, und vorausgesetzt wird, von der Sinnhaftigkeit jeder Rede auszugehen. Die Prinzipien des dualistischen Denkens und die Sicherheit der Beurteilung werden hier zugunsten der Möglichkeiten in der Welt aufgegeben, wissend, dass das Gedachte und Gesagte nicht die Welt selbst ist. Das Konzept der Mahloquet fußt auf der Torah als Verfassung. Aus dem religiösen Kontext herausgenommen muss erst eine Grundlage geschaffen werden, von der aus etwas Gemeinsames gefunden werden kann, das eine Verbindung zwischen Menschen ermöglicht. Das kann zwischen Menschen nur gelingen, wenn sie die dialogische Methode im Gespräch und das dialogische Denken als Einnehmen vieler Perspektiven ernst nehmen und praktizieren. Basierend darauf können gemeinsam Vorstellungen entwickelt werden, wie Men-

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schen miteinander umgehen können, die sich nicht auf eine gemeinsame Verfassung, auf einen gemeinsamen Ort des Herkommens oder auf eine gemeinsame Kultur beziehen können (vgl. Czollek 2003). Gleichzeitig steht jene Grundlage immer im Kontext des Gesellschaftlichen. In Bezug auf Konfliktlösungsverfahren eröffnet der Einbezug des gesellschaftlichen Kontextes, der strukturellen Bedingungen, den Konfliktraum hin zur Gesellschaft. Das bedeutet, dass die Konfliktparteien ihre Verwobenheit in die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen sehen und ihren Konflikt nicht als individuelles Schicksal verstehen können.

Inhalte und ethische Prämissen der Mahloquet als Konfliktlösungsmethode Zur besseren Übersicht stellen wir die spezifischen Momente der Mahloquet tabellarisch dar. In der Entwicklung der Mahloquet als dialogisches Konfliktlösungsverfahren entnehmen wir oben dargestellte Momente der jüdischen Tradition und bringen sie in einen säkularen Kontext, behalten aber auch Elemente der klassischen Mediation bei (wie u. a. Konflikterhellung, Positionenfindung und Interessen, Kommunikationstechniken wie Reframing, aktives Zuhören, Paraphrase). Die Charakteristika finden sich in Bezug auf die Gesprächsform, ethischen Hintergründe, Referenzrahmen und Zielsetzung (Vgl. Czollek/Perko 2006, 2008): Gesprächsform • jede Rede wird gleich gehört und hat gleiches Gewicht • ein Miteinander-Sprechen, ohne das eigene ICH ins Zentrum zu stellen • dialogisch-anerkennendes Miteinander-Sprechen • Einbezug historisch-biografischer und gegenwärtiger Sichtweisen als Perspektivenwechsel Ethische Hintergründe • Haltung der Demut • die Allmachtsfantasie aufgeben, als einzige/r recht zu haben (monos phronein) • Gleichwertigkeit verschiedener Denkinhalte • Sich-Einlassen auf Fremdheit • dialogischer Umgang miteinander • respektvoller und anerkennender Umgang von Menschen miteinander • wechselseitige Übernahme von Verantwortung füreinander • jede/r ist im Sinne der Gastfreundschaft des anderen Gast • »Logik des Sinns« anstelle der »Logik der Wahrheit«

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keine Generalisierung, sondern Sprechen aus der subjektiven Perspektive De-Hierarchisierung im Dialog sind alle Subjekte gleichberechtigt gleichberechtigtes Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gruppe es gibt kein Opfer, der Einzelne wird keiner Idee oder Gruppe geopfert es gibt kein gewalttätiges Zwingen von Menschen in Strukturen die kulturelle Identität tritt hinter das Individuum zurück kein Kampf der Positionen

Historisch-biografischer und gesellschaftlicher Kontext • Einbezug des historisch-biografischen Kontextes (der anderen und des eigenen). • Einbezug des gesellschaftlichen Kontextes/struktureller Bedingungen. Referenzrahmen • Gewaltlosigkeit. • Verantwortung des/der Einzelnen für das, was er/sie tut. Zielsetzung • keine Synthese von Widersprüchen, keine Wahrheitsfindung • keine ein für allemal abgeschlossene Lösung, sondern Prozess • Win-win-Lösung, ausgehandelter Kompromiss oder etwas ganz anderes • Absichtslosigkeit des Handelns • es geht um keine Belohnung • es geht nicht um Überzeugung des Gegenübers von meiner Meinung • Es gibt keine übergeordnete Instanz, die darüber entscheidet, was richtig und was falsch ist. • Grundlage und Zielsetzung der Mahloquet ist Social Justice. Zusätzlich zeichnet sich das entwickelte Konfliktlösungsverfahren durch folgende Praktiken der Konfliktlösenden aus: • Aneignung von Wissen über historisch-biografische und gesellschaftliche Kontexte des jeweiligen Konfliktes. • Stärkeres Eingreifen der Mediatoren/innen in den Prozess: die neutrale Distanz wird insofern aufgegeben als z.  B. die Stimme des Nicht-Ausgesprochenen übernommen wird. Diese Form (nicht im Sinne des Advocatus Diaboli) ermöglicht, die (oftmals durch Formen der politischen Correctness oder auch Gewalt) zum Schweigen gebrachte Stimme aufzugreifen und hörbar zu machen.

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• Direktes Einbeziehen von Rund-um-AkteurInnen (z.B. Institutionen, die im Umfeld am Konflikt beteiligt sind) im Konfliktlösungsverfahren. Für die einzelnen Schritte des Mediationsverfahrens verwenden wir den Begriff »Stationen« als Metapher einer Reise mit dem Zug.

Die sieben Stationen im Konfliktlösungsverfahren der Mahloquet So steht die Reise im Zug für Bewegung und Veränderung. Die Gleise jedoch, anders als die Offenheit der Bewegung, zeigen uns die mächtige Wirksamkeit kultureller und gesellschaftlicher Bedingungen und sind nicht ohne Weiteres veränderbar. Die Stationen wiederum lassen uns innehalten und den nächsten Schritt wählen. Das Verfahren besteht aus folgenden sieben Stationen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Station: Vorbereitung der Mediatoren/innen Station: Referenzrahmen/Regeln und Konflikterhellung Station: Historisierung des Konfliktes Station: Arbeit mit der je einzelnen Konfliktpartei Station: Vermittlung zwischen den Konfliktparteien Station: Eröffnung des Konfliktraumes hin zur Gesellschaft Station: Konfliktlösung im Konfliktlösungsverfahren.

Die einzelnen Stationen nehmen je nach Konflikt und Anzahl der am Konflikt Beteiligten unterschiedliche Zeit ein. Nicht immer sind sie mit einer Sitzung beendet. Nicht immer funktionieren sie reibungslos, müssen zuweilen wiederholt werden. Doch wird in den einzelnen Stationen sowohl der Perspektivenwechsel als auch die Wiederholung selbst als integratives Moment verwendet. Das Gespräch mit den Konfliktparteien wird in allen Stationen in der Form und mit den oben genannten Prämissen der Mahloquet durchgeführt. Strukturierung ist dabei wichtig, um den offenen Dialog zu ermöglichen. Social Justice gilt den Konfliktlösenden als Grundlage und Zielsetzung.

2. E IN F ALLBEISPIEL : Z WEI J UGENDGRUPPEN ALS K ONFLIK TPARTEIEN Die Konfliktparteien sind zwei Jugendgruppen, die um einen Jugendclub streiten. Es gibt nur diesen einen Jugendclub. Beide Gruppen beanspruchen die Räumlichkeiten je für sich. Es kommt regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen. Wir gingen in folgender Weise vor:

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Erste Station: Vorbereitung der Mediatoren/innen Wir bereiteten uns vor, indem wir uns über die historischen Hintergründe der zwei Jugendgruppen kundig machten. Danach nahmen wir mit Rund-um-Akteuren im Konflikt Kontakt auf und bezogen so den gesellschaftlichen Kontext, in dem der Konflikt eingebettet ist, mit ein. Erfahrungen in dieser Station: Wir lernten über die Geschichte Neues kennen und waren selbst mit eigenen Vorurteilen konfrontiert (z. B. eigene Schulerfahrung, Behördenerfahrung). Zweite Station: Referenzrahmen/Regeln und Konflikterhellung Die erste Sitzung fand mit beiden Konfliktparteien statt. Zunächst besprachen wir den Ablauf des Mediationsverfahrens, dann vereinbarten wir Referenzrahmen und Regeln und kristallisierten den Konflikt heraus. Hierbei wandten wir Elemente der klassischen Mediation an, besprachen aber gleichzeitig das Verfahren der Mahloquet als integrative Methode des Dialoges mit der Zielsetzung von Social Justice. Erfahrungen in dieser Station: Wir mussten Abstriche in Bezug auf die Regel der Gewaltlosigkeit machen, da verbale Gewalt zum alltäglichen Umgang der Jugendlichen gehörte und unsere Vorstellungen mit jenen der Jugendlichen nicht in Übereinstimmung zu bringen war. Dritte Station: Historisierung des Konfliktes Die Historisierung erfolgt über zwei Aufgabenstellungen, die wir an die Jugendlichen in Form von Fragen vermittelten. Zunächst forderten wir die Konfliktparteien einzeln auf, sich über die eigene Geschichte und die der anderen kundig zu machen. Als Anregung stellten wir Fragen und teilten zur Unterstützung der Aufgabenbewältigung Material aus. Insofern strukturierten wir die Recherchen (sie erfolgten außerhalb der Mediationssitzung und wurden durch die Mitarbeitenden im Jugendclub unterstützt). Erfahrungen in dieser Station: Unsere Selbstverständlichkeiten brachen sich an der Realität der Jugendlichen in Bezug auf ihre Ressourcen wie Sprache oder Leseverständnis. Das erforderte ein sehr sorgsames Umgehen mit ihren Lernerfahrungen. Vierte Station: Arbeit mit der je einzelnen Konfliktpartei Wir gingen zu den einzelnen Gruppen getrennt voneinander und gingen darauf ein, was das Wissen um die Geschichte bewirkt hat und sie gelernt haben und ob sie sich nach der Recherche mehr vorstellen können, wie es den Anderen geht. Nach den Gesprächen wurde über die Vorbilder in ihrer je eigenen Geschichte geredet.

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Erfahrungen in dieser Station: Damit hat sich noch nicht die Figur des »Feindes« aufgelöst. So mussten wir lernen, kleine Schritte zu machen und kleine Denkerschütterungen als große Veränderung zu sehen. Fünfte Station: Vermittlung zwischen den Konfliktparteien Beide Gruppen trafen sich mit den Mediatoren/innen. Zentral waren wiederum Fragen, was sie voneinander gelernt haben, ob sie Fragen an einander haben und ob sie den anderen aus der eigenen Geschichte Vorbilder erzählen können, wo es zu friedlichen Konfliktlösungen kam. Erfahrungen in dieser Station: Wichtig war, das Gespräch sehr gut zu strukturieren und immer wieder einzugreifen, um einen offenen Dialog zu ermöglichen. Mit dem aktiven Zuhören mussten wir sehr sparsam und vorsichtig sein, weil Emotionen schnell zum gegenseitigen Gesichtsverlust hätten führen können. Sechste Station: Eröffnung des Konfliktraumes hin zur Gesellschaft Wir luden die Rund-um-Akteure/innen ein, sich mit den Konfliktparteien zu treffen und einen Dialog zu führen. Erfahrungen in dieser Station: Manche der Rund-um-Akteure/innen nahmen an der Diskussion nicht teil, andere sahen das Problem bei den Jugendlichen allein, wiederum andere waren gesprächsbereit. Die Jugendlichen erschienen uns zum Teil als Symptomträger/ innen für strukturelle Disfunktion. Aber dennoch gab es Handlungsspielräume. In dieser Situation verbündeten sich die Jugendlichen teilweise gegen die Rundum-Akteure/innen, was wiederum zum Empowerment für sie selbst führte. Siebente Station: Konfliktlösung Die Jugendlichen schlugen Lösungen vor. Wir brachten ebenfalls Lösungsmöglichkeiten ein. Vereinbart wurde, dass sich die zwei Gruppen die Tage aufteilen, an denen sie im Jugendclub sind, dass sie sich einmal im Monat gemeinsam im Jugendclub aufhalten und dass es keine Gewalttätigkeiten mehr zwischen den Gruppen gibt. Erfahrungen in dieser Station: Die starke Strukturierung gepaart mit Respekt hat den Jugendlichen Sicherheit gegeben und war Voraussetzung für die Offenheit des Verfahrens. Um mit der Metapher des Zuges zu sprechen: An den einzelnen Stationen ist ein Aussteigen möglich, ein Betreten neuer Landschaften, aber der Zug selbst darf nie aus dem Gleis springen.

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3. S OCIAL J USTICE ALS G RUNDL AGE UND Z IELSE T ZUNG DER M AHLOQUE T Der Begriff Social Justice lässt sich nicht mit ›soziale Gerechtigkeit‹ übersetzen. Denn damit werden im deutschsprachigen Raum vorrangig Interventionen und Aktionen auf den Feldern der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, manchmal auch Generationengerechtigkeit und in der Bildungspolitik Chancengerechtigkeit assoziiert. Diese Bereiche sind aber »nur« Teilaspekte des Begriffs Social Justice.4

Das politische Projekt und die Theorie des Social Justice Social Justice ist in den USA aus sozialen Bewegungen heraus entstanden und dort u. a. auch eng mit Gewerkschafts- und Antirassismusbewegungen verbunden. Der Terminus wird in den USA, in Großbritannien und anderen Ländern von denjenigen verwendet, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern (Politik, Justiz, Ökonomie, Kunst, Menschenrechte, Frauenbewegungen, Jugendarbeit, Antirassismusarbeit, Soziale Arbeit u.  v.  a.) gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierungen jedweder Art thematisieren, kritisieren und an alternativen, partizipativen, auch ökologisch gerechten Gesellschaftskonzepten arbeiten. Insofern verbindet der Begriff ›Social Justice‹ ein plurales Feld von unterschiedlichen, miteinander verbundenen Akteure/innen (Individuen und Gruppen) für ein umfassendes Gerechtigkeitsmodell. Social Justice ist grundsätzlich offen für die Thematisierung aller Formen von individuellen, institutionellen und kulturellen Diskriminierungen. Dabei ist die Idee von Social Justice getragen von der Thematisierung der Komplexität von Diskriminierung und der Konsequenz, jede Form der Diskriminierung ernst zu nehmen und in horizontalen und vertikalen Verbindungen untereinander zu betrachten. Diskriminierung wird als ein komplexes Geflecht aufgefasst, in dem Menschen, die strukturell diskriminiert werden, nicht ausschließlich die ›Guten‹ oder ›Benachteiligten‹ sind, sondern selbst auch in bestimmten Bereichen an Privilegien Anteil haben und selbst an Ausgrenzung beteiligt sein können. Dabei setzt das Projekt Social Justice an den eigenen Ausgrenzungserfahrungen von Menschen an und stellt diese in Beziehung zu den Diskriminierungsmechanismen, mit denen sie sich selbst an Ausgrenzung beteiligen. Im Kontext von Social Justice wird jede Unterdrückungs- und Diskriminierungsform zudem gesondert betrachtet, wird die jeweilige Geschichte der Stereotypisierung und Ausgrenzung ebenso erzählt wie die Geschichte der Alternativbewegungen, der Bewegungen für die Rechte von ArbeiterInnen, MigrantInnen, 4 | Der folgende Abschnitt findet sich detaillierter in Weinbach (2006) und Czollek/ Perko/Weinbach (2009).

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Bisexuellen, Schwulen, Lesben, Transgender u.  a. sowie ihrer Verbündeten. Verschiedene Diskriminierungsformen stabilisieren sich wechselseitig. Auf der wissenschaftlich-analytischen Ebene wurde für diese Zusammenhänge der Begriff ›Intersektionalität‹ bzw. intersectional oppression (sich überschneidende Unterdrückung) von Kimberlé Crenshaw (Crenshaw 1991) und Patricia Hill Collins (Collins 1998) eingeführt. Der Begriff hat also seine politischen und wissenschaftlichen Wurzeln im amerikanischen Black Feminism (Schwarzer Feminismus). Crenshaw thematisierte die Zusammenhänge von race und gender in den Kontexten von (häuslicher) Gewalt. Collins beschreibt, wie die verschiedenen Unterdrückungssysteme sich wechselseitig konstruieren und stabilisieren. bell hooks thematisiert die Zusammenhänge von race, class und gender (hooks 2000). Der Begriff Social Justice ist nicht urheberrechtlich geschützt, jede und jeder kann ihn verwenden: Wer den Terminus aber ohne grundsätzliche Herrschaftsund Machtanalyse oder ohne Fokus auf Diskriminierungsstrukturen verwendet, sucht möglicherweise nach anderen Begriffen. Im Hintergrund des Projektes von Social Justice stehen Gerechtigkeitstheorien, die seit Ende der 1980erJahre von feministischen Philosophinnen zur Diskussion gestellt wurden. Sie betonen die Thematisierung von Macht und Herrschaft und deren realen Folgen für das Leben von Menschen im Gerechtigkeitsdiskurs und diskutieren Gerechtigkeit mit unterschiedlichen Sichtweisen: Martha Nussbaum (2004; 2000; 1999) verteidigt einen universalen Gerechtigkeitsansatz, mit dem sie nach der Befriedigung von Grundbedürfnissen aller Menschen und den Mechanismen ihrer Verweigerung fragt. Nancy Fraser (2001; 2003) verfolgt das Projekt, »eine Politik der Anerkennung mit einer Umverteilungspolitik zusammenzubringen« (Fraser 2001: 262). Aber auch Judith Butler gewinnt zunehmend an Bedeutung mit ihren Analysen, wie Herrschaft in die Subjektbildung eingeschrieben ist und sich über Sprache und kulturelle Praxen zu reproduzieren sucht (Butler 2001; 2006). Im Projekt des Social Justice wird auf diese Gerechtigkeitsphilosophien Bezug genommen, doch ist die Philosophie von Iris Marion Young von herausragender Bedeutung (Young 1990). Sie macht deutlich, dass mit ›justice‹ eine Vielzahl alter Konzepte von Gerechtigkeit gemeint sind, während die neuen Sozialen Bewegungen mit dem Begriff ›social justice‹ in Verbindung gebracht werden. Youngs Theorie von Social Justice setzt bei der Analyse von Unterdrückung und Herrschaft an, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen mit dem Ziel der Beseitigung jeder Form institutioneller und anderer Herrschaft. Unterdrückung und Diskriminierung beziehen sich auf soziale Gruppenzugehörigkeiten, wie z. B. Alter oder sexuelle Identität, treffen aber immer den individuellen Menschen mit seiner komplexen und einmaligen Identität. Zwar wird keine von Young be-

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nannte Gruppe (z.B. Black People, Puerto Ricans, Juden und Jüdinnen, Lesben, Schwule) auf identische Weise unterdrückt, doch systematisiert Young Merkmale von Unterdrückung, die Gemeinsamkeiten, und identifiziert fünf Kennzeichen von Unterdrückung: Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, kultureller Imperialismus, Gewalt (ebd.: 40). Die neuen sozialen Bewegungen haben nach Young dazu beigetragen, dass Unterdrückung und Diskriminierung als etwas wahrgenommen werden, was in die Alltagspraxen sowohl institutionell als auch kulturell eingeschrieben ist und in ihnen und durch sie reproduziert wird. Denn gerade die unhinterfragten Verhaltensweisen, kulturellen Codes und Symbole, die institutionell verankert sind, verursachen die Ausgrenzung und das konkrete Leiden von Individuen und Gruppen. Der Unterdrückungsbegriff geht einher mit einem Verständnis von sozialer Gruppe, die über die oben benannten Praktiken konstruiert wird und sich andererseits in der Auseinandersetzung damit auch selbst definiert. Youngs Gerechtigkeitskonzept fokussiert den öffentlichen Raum, die Herstellung radikaldemokratischer Partizipations-, Artikulations- und Anerkennungspraxen, insofern formuliert sie: »Ich habe Gerechtigkeit definiert als: das Vorhandensein von institutionellen Voraussetzungen, die es allen ermöglichen, befriedigende Fähigkeiten in sozial anerkannten Umfeldern zu erlernen und auszuüben, an Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein und ihre Gefühle, Erfahrungen und Perspektiven bezüglich des gesellschaftlichen Lebens in Kontexten artikulieren zu können, wo andere ihnen zuhören können.« (Ebd.: 91, Übers. d. A.). Gerechtigkeit im Sinne von Young bedeutet also, sämtliche Praxen von Unterdrückung bewusst zu machen und im öffentlichen Raum zu diskutieren und zu analysieren, d. h. sie unentwegt zu politisieren (ebd.: 152) und sie nicht im Privaten verschwinden zu lassen. Ziel einer Politik der Differenz und der Differenzierung von Unterdrückung aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten ist die Herstellung einer Situation, in der Differenz keinen Unterschied mehr macht bezüglich der Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen (materieller, kultureller, institutioneller etc.) und gesellschaftlicher Anerkennung und Lebbarkeit einer Vielfalt von Lebensformen. So operiert zwar Social Justice noch mit der Anerkennung von ›Differenz‹, zielt allerdings auf die Anerkennung des Individuums in seiner Einzigartigkeit ab, ohne ihm Gruppenzugehörigkeiten als Diskriminierungen oder Klassifizierungen zuzuschreiben. Wenn Social Justice das Gegenteil von Diskriminierung und Unterdrückung bedeutet, dann muss der einzelne Mensch mit seinen ganz spezifischen Erfahrungen, Bedürfnissen, Zielen, Wünschen etc. in den Mittelpunkt gerückt werden, muss eine neue Politik dem einzelnen Subjekt als Individuum gerecht werden (vgl. Young 1994). Das Gemeinsame und Verbindende, das über den Begriff Social Justice, seine Definition und die Diskussion der Inhalte transportiert wird, fungiert als Option und Affirmation gleichermaßen: Option im Sinne einer Möglichkeit für Subjekte, ihre Individualitäten und Differenzen einzubringen und zu entwickeln;

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Affirmation im Sinne dessen, Diskriminierung, Unterdrückung, Ausschluss und Gewalt auf eine Weise abzuschaffen, die ohne die Praxen von Macht, Herabsetzung, Verachtung, Ausgrenzung u.Ä. auskommt. Social Justice meint in diesem Kontext Verteilungsgerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit: Verteilungsgerechtigkeit bedeutet, die Vision einer Gesellschaft zu forcieren, in der die Ressourcen so verteilt sind, dass alle Menschen physisch und psychisch in Sicherheit und Wohlbefinden leben können. Anerkennungsgerechtigkeit meint, eine Gesellschaft zu visionieren, in der niemand strukturell, kulturell und individuell diskriminiert wird, sondern partizipativ anerkannt wird. Social Justice betont dabei zum einen die Selbstbestimmtheit der Menschen und zum anderen ihre Abhängigkeit voneinander. Zudem wird die Notwendigkeit betont, soziale Verantwortung füreinander zu übernehmen und demokratisch miteinander zu handeln. Social Justice begreift die Menschen als gesellschaftliche AkteurInnen, die für ihr eigenes Handeln als Individuum oder in einer Gruppe, sich selbst und der Gesellschaft gegenüber Verantwortung übernehmen (Adams u. a. 1997: 3).

Social Justice Training und die Anwendung der Mahloquet Vom Projekt Social Justice ausgehend wurde der Trainingsansatz »Diversity and Social Justice Education« in den USA an der University of Massachusetts ausgearbeitet (vgl. Adams/Bell/Griffith 1997; 2007). Leah Carola Czollek, Gudrun Perko und Heike Weinbach entwickelten 2001 – angeregt durch diesen Ansatz – ein eigenes Social Justice Training, das sie im deutschsprachigen Raum mit folgenden Besonderheiten durchführen: • Vertiefung in verschiedenen Diskriminierungsformen in ihrer Intersektionalität – (Selbst-)Reflexion und Handlungsoptionen • Intersektionaler Ansatz: individuelle, strukturell-institutionelle und kulturelle Ebene • Spezielle Übungen für die jeweiligen Module bzw. Diskriminierungsformen • Einbezug historischer und ideengeschichtlicher Kontexte • Mahloquet als dialogische Methode des Trainings Im Zentrum des Social Justice steht die Reflexion von struktureller Diskriminierung als Ineinandergreifen von Diskriminierung auf individueller, institutioneller und kultureller Ebene. Die Zielsetzung besteht dabei immer darin, Diskriminierung zu verstehen, Stereotypen zu reflektieren, eigene Verwobenheiten zu begreifen und zu reflektieren sowie Handlungsspielräume gegen Diskriminierungen auszuloten. Im Zentrum steht das Verstehen der strukturellen Ebene und der eigenen Verwobenheiten in ihr. Um dieses Verstehen in einem tieferen Sinne zu ermöglichen, bewährt sich die Mahloquet als Methode im So-

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cial Justice Training, weil sie im konkreten Umgang dialogisch-anerkennend ausgerichtet ist und sich zugleich immer auf das Projekt der partizipativen Anerkennung aller und der Verteilungsgerechtigkeit bezieht. Gleichzeitig ist es im Social Justice Training zentral, Handlungsoptionen aufzuzeigen und zu entwickeln (vgl. detailliert Czollek/Weinbach 2008, Czollek/Perko/Weinbach 2012).

Epilog In diesem Beitrag haben wir mit der Mahloquet einen Bogen gespannt aus den Tiefen der Kultur in die Gegenwart hinein und über die Gegenwart hinaus mit der konkreten Utopie von Social Justice. Die Veränderung der Gesellschaft im Sinne einer Abschaffung von Unterdrückung und Diskriminierung setzt im Sinne von Social Justice nicht nur eine Neu- und Umverteilung von ökonomischen und aller anderen Ressourcen (kultureller, institutioneller, sozialer etc.) voraus, sondern in gleichem Maße die Veränderung der kulturellen Muster, der Vorstellungen und Stereotype, die einzelne Gruppen immer wieder als überlegene, ›richtige‹ oder ›normale‹ und andere als ›abweichende‹, ›nicht-normale‹ konstruieren und erscheinen lassen. Es setzt aber auch eine Veränderung dahingehend voraus, dass keine Gruppe eine Gruppe oder ein Individuum und kein Individuum ein anderes Individuum oder eine Gruppe stigmatisiert und diskriminiert, sondern immer Alternativen im (politischen) Dialog in der Akzeptanz und Beteiligung gesucht werden. Hier kann mit der Mahloquet als integrative Methode des Dialoges auch in konfliktualen Situationen angesetzt werden. Auf der Grundlage der Mahloquet als Konfliktlösungsmethode haben wir mit den Jugendlichen durch die Öffnung des Konfliktraumes hin zur Gesellschaft ihren Status innerhalb dieser beleuchtet. Hierbei fungieren die grundlegenden Ideen von Social Justice als Unterstützung beim Empowerment der Jugendlichen in Bezug auf das Erkennen und Wahrnehmen ihrer eigenen Handlungsspielräume und Stärkung der eigenen Verantwortungsnahme hinsichtlich ihrer Beteiligungsrechte und legitimer Forderungen nach gesellschaftlicher Partizipation. Ungeachtet dieses Beispieles ist die Mahloquet in Verbindung mit Social Justice eine wirksame Strategie beim kreativen Lösen von Konflikten. Nicht immer aber wird die Mahloquet als Konfliktlösungsmethode erfolgreich sein. Doch kann ein Arbeiten mit dieser Methode als ein Gespräch ohne Geländer gedacht werden, weil sie sich nicht auf die Masken der Kultur bezieht, sondern die einzelnen Menschen immer in ihrer Verwobenheit mit der Welt sieht – der gestrigen, der heutigen, der zukünftigen.

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L ITER ATUR Adams, Maurianne/Bell, Lee Anne/Griffin, Pat (Hg., 1997): Teaching for diversity and social justice. A sourcebook, New York/London Arendt, Hannah (1986): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, München Buber, Martin (1997): Das Dialogische Prinzip, Gerlingen Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewal, Frankfurt a. M. Butler, Judith (2006): Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a. M. Castoriadis, Cornelius (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a. M. Castoriadis, Cornelius (1993): Vom Elend der Ethik. Die Flucht aus der Politik und die Suche nach Autonomie. In: Lettre International. Nr. 23 Crenshaw, Kimberlé (1998): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics. In: Anne Phillips (Hg.): Feminism & Politics, Oxford Collins, Patricia Hill (1998): Its All in the Family: Intersections of gender, race and nation. In: Hypatia, 13, 3 Czollek, Leah Carola (2003): Am Anfang war das Wort. Aspekte jüdischen Dialoges und die Vielstimmigkeit von Multikulturalismus. In: Verständigung in finsteren Zeiten. Interkulturelle Dialoge statt ›Clash of Civilizations‹«, Hg. Leah Carola Czollek/Gudrun Perko, Köln Czollek, Leah Carola/Perko, Gudrun (2006): Mahloquet als integrative Methode des Dialoges: ein Mediationsverfahren in sieben Stationen. In: Perspektive Mediation. Beiträge zur KonfliktKultur 4/2006, Wien Czollek, Leah Carola/Perko, Gudrun (2008): Ethische Konflikte lösen. Mahloquet als integrative Methode des Dialoges. In: CNE, Certified Nursing Education, 5/2008 Czollek, Leah Carola/Weinbach, Heike (2002): Gender- und GerechtigkeitsTrainings: Machtverhältnisse begreifen und verändern. In: Barbara Nohr/ Silke Veth (Hg.): Gender Mainstreaming. Kritsche Reflexionen einer neuen Strategie, Berlin Czollek, Leah Carola/Weinbach, Heike (2008): Lernen in der Begegnung. Theorie und Praxis von Social Justice, Düsseldorf Czollek, Leah Carola/Gudrun Perko/Weinbach, Heike (2009): Radical Diversity im Zeichen von Social Justice. Philosophische Grundlagen und praktische Umsetzung von Diversity. In: Institutionen in: Maria do Mar Castro Varela (Hg.) Soziale (Un)Gerechtigkeit. Kritische Perspektiven auf Diversity, Intersektionalität und Antidiskriminierung, Münster

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Czollek, Leah Carola/Gudrun Perko/Weinbach, Heike (2012): Handbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen. München/ Weinheim 2012 Fraser, Nancy (2001): Die halbierte Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. Fraser, Nancy (2001): Recognition without Ethics? In: Theory, Culture & Society, 18/2001 Fraser, Nancy/Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M. hooks, bell (2000): where we stand – class matters, London/New York Knobloch, Heinz (1987): Herr Moses in Berlin. Ein Menschenfreund in Preußen. Das Leben des Moses Mendelssohn, Berlin Maimonides, Moses (1972): Führer der Unschlüssigen, Hamburg Maimonides, Moses (1992): Acht Kapitel. Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis, Hamburg Mendelssohn, Moses (1785): Morgenstunden, oder über das Dasein Gottes, Berlin/Stettin Nussbaum, Martha (2004): Hiding from humanity: disgust, shame, and the law, Princeton/New York Nussbaum, Martha (2000): Sex and Social Justice, Oxford Nussbaum, Martha (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a. M. Ouaknin, Marc-Alain (1990): Das verbrannte Buch. Den Talmud lesen, Weinheim/Berlin Ouaknin, Marc-Alain (1996): Eine Reise ins Paradies. Über das wägende Lesen des Talmud. In: Stäblein, Ruthard (Hg.): Geduld. Die Kunst des Wartens, Frankfurt a. M. Perko, Gudrun (2003): Respektvolle Umgänge. Über den Dialog, die Idee des Dialogischen und die Rolle der Imagination – von Sokrates zu Arendt und Castoriadis. In: Verständigung in finsteren Zeiten. Interkulturelle Dialoge statt ›Clash of Civilizations‹, Hg. Leah Carola Czollek/Gudrun Perko, Köln Perko, Gudrun (2004): Wie soll ich dich behandeln? Über das Ethos der Anerkennung als Grundlage des Dialoges. In: Quer. Lesen denken schreiben, Hg. Alice-Salomon-Fachhochschule. Nr. 10/04, Berlin Rawls, John (1971): A Theory of Justice, Cambridge, Mass Weinbach, Heike (2006): Social Justice statt Kultur der Kälte. Alternativen zur Diskriminierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin Young, Iris, Marion (1990): Justice and the Politics of Difference, Princeton, NY Young, Iris, Marion (1994): Gender as Seriality: Thinking about Women as a Social Collective. In: Signs, 19, 3

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C ORINNA A SSMANN UND V ALERIE A SSMANN — M ACHT DER S PIELE , F USSBALL IM I RAN

Die enge Verbindung von Fußball und Politik in Iran wurde auch nach den Ereignissen im Zuge der Präsidentschaftswahl am 12. Juni 2009 deutlich. Mohsen Safaei Farahani, der von 1998 bis 2002 als Präsident des Iranischen Fußballbundes bemüht war, Freiräume für den Frauenfußball zu schaffen, wurde im Wahlchaos gezielt verhaftet, wie so viele reformwillige Funktionäre und Politiker, die Opfer einer großen Welle von Festnahmen im Juni 2009 wurden. Im ersten Fußballländerspiel nach der Wahl liefen fünf iranische Spieler in Süd Korea mit grünem Armband – dem Symbol der Reformbewegung – auf. Nach dem Spiel wurden sie mit der Begründung, dass die FIFA politische Zeichen beim Fußball verbiete, vom Verband suspendiert, doch für ihren Mut weltweit gefeiert. (Ende)

Zu den Autorinnen und Autoren

Corinna Assmann studierte in Heidelberg Anglistik und Germanistik. Seit 2010 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Anglistischen Seminar in Heidelberg und promoviert über Family Dynamics in Contemporary Black British Literature. Mit ihren Schwestern Valerie und Marlene hat sie 2006 das Fußballspiel Iran vs. BSV AL-Dersimspor organisiert und auf der linken Abwehrposition mitgespielt. Beim Dokumentarfilm Football under Cover (2008) hat sie als Koproduzentin mitgewirkt. Valerie Assmann, geb. 1981 in Heidelberg, studierte Visuelle Kommunikation in Berlin, Stockholm und Jerusalem. 2006 spielte sie mit ihrem Berliner Verein beim ersten öffentlichen Frauenfußballspiel in der Islamischen Republik Iran, das sie auch mitorganisierte, gegen die Iranische Nationalmannschaft. Sie arbeitet als freie Grafikerin in Berlin. Wilhelm Berger ist Sozialwissenschafter und Philosoph, Prodekan der Fakultät für interdisziplinäre Foschung und Fortbildung (Klagenfurt – Graz – Wien) (IFF) und dort ao. Univ.-Prof. am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung. Er leitet eine Reihe von Forschungsprojekten und hat zahlreiche Beiträge in Zeitschriften, Sammelbänden und Lexika verfasst. Buchveröffentlichungen u. a.: Die Organisation der Philosophen (gemeinsam mit Peter Heintel), Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1998, Unten durch. Ein Reisebuch (gemeinsam mit Gerhard Pilgram und Gerhard Maurer), Klagenfurt (Drava-Verlag) 1998, dritte Auflage 2000, Unmögliches Werden. Denkfiguren, Portraits, Gespräche über das Fremde (gemeinsam mit Klaus Ratschiller und Esther Schmidt), Wien (Turia+Kant) 2003, Philosophie der technologischen Zivilisation, München (Wilhelm Fink Verlag) 2006. Das Weite suchen (gemeinsam mit Gerhard Pilgram und Gerhard Maurer), Klagenfurt (Carinthia) 2006; Prenatal Testing. Individual Decision or Distributed Action? (gemeinsam mit Bernhard Wieser und Sandra Karner) München/Wien (Profil) 2006, Macht, Wien (Facultas UTB) 2009. Josef Berghold, Univ.-Doz., geb. 1953, Sozialpsychologe, Lehrtätigkeit an den Universitäten Innsbruck, Bozen und Klagenfurt. Mitglied des wissenschaftli-

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chen Beirats des Sir Peter Ustinov Instituts zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen. Forschungsschwerpunkte: Solidarität und Sozialdarwinismus, nachhaltige Entwicklung, »Neoliberalismus«, globale Gesellschaft, Vorurteile und Feindbilder, interkulturelle Beziehungen, Deutungen des Unbewussten auf öffentlicher Ebene. Buchveröffentlichungen: u. a. Feindbilder und Verständigung (3. Aufl. 2007), Vicini lontani (2003). Daniel Romuald Bitouh, Mag., geb. 1.12.1973 in Yaounde (Kamerun); Studium der Germanistik und Afrikanistik an der Universität Yaunde (1999-2002), Deutschbzw. Französischlehrer am Lycée de Tignère in Nordkamerun (2002-2006); DeutschlehrerIn-Stipendium vom Goethe-Institut Yaounde (August-September 2006); Forschungsstipendium vom Österreichischen Akademischen Dienst (Oktober 2006-Januar 2007); Doktorats-Stipendium vom afroasiatischen Institut Wien (Oktober 2007-Juni 2011). Derzeit in der Endphase seines Doktoratsstudiums am Institut für Germanistik der Universität Wien; Dissertationsthema: Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths. Zur Verschränkung von Außerund Binnenkolonialismus. Ein postkolonialer Blick. Forschungsschwerpunkte: deutsche und afrikanische Literatur; postkoloniale Literatur- und Kulturtheorie. Publikationen in Vorbereitung: (1) Liminalität, Hybridität und Identität: zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität, (2) Differenz und Interdependenz: Zur katachretischen bzw. dezentrierenden Figur ›des blonden Negers‹ aus Joseph Roths Essay Der blonde Neger Guillaume und (3) Gewalt im postkolonialen Kontext. Kamerun als Fallbeispiel. Leah Carola Czollek, BA: hat Jura und Soziale Arbeit studiert, ist Gastddozentin und stellvertretende Frauenbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Mediatorin, freiberufliche Trainerin, Ausbilderin für Social Justice und Diversity und Gründerin von czollek consult. diversity & dialoge. Redaktionsmitglied der Zeitschrift Quer. Denken. Lesen. Schreiben der ASFH. Forschungs-, Lehr- und Seminarschwerpunkte: interkulturelle Mediation, Dialog, Interkulturalität, Rassismus, Antisemitismus, Social Justice und Diversity Training, Gender-Training, Konfliktlösung. Letzte Publikationen: Lehrbuch Gender und Queer. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder (Studienmodul Soziale Arbeit), gem. mit Gudrun Perko und Heike Weinbach, Berlin 2009. Handbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen, gem. mit Gudrun Perko und Heike Weinbach (erscheint 2012). Nähere Informationen unter: www.czolek-consult.de Karoline Feyertag, Mag.a, studierte Philosophie, Kultur- und Sozialanthropologie sowie Gender Studies in Wien und Paris. Ihre Dissertation mit dem Titel Transkriptionen des Selbst. Eine polyphone Biographie zu Sarah Kofman schloss sie Ende 2011 in Wien ab. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen zeitge-

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nössische französische Philosophie, Oral History, Geschichte der Shoah und französische Feminismen. Nebenbei arbeitet Feyertag als freie Publizistin und Übersetzerin für verschiedene kulturpolitische Vereine und Ausstellungen. Zuletzt erschien ihr Essay Was von Lublin bleibt. Materialitäten der Erinnerung (im Katalog zur Ausstellung Bławatne z Lublina/Stoffe aus Lublin/Fabrics from Lublin. Ulrike Grossarth: Gegenwartskunst und Stefan Kiełsznia: Historische Straßenfotografien aus Lublin, herausgegeben vom Kunsthaus Dresden 2011) und der Aufsatz Vom Genre der Biographie. Sarah Kofman zwischen Bibliographie und Biographie (in Die Biographie – zur Grundlegung ihrer Theorie, hg. von Bernhard Fetz, Berlin/New York 2009). Johan Galtung ist Mathematiker, Soziologe und Politologe, Professor of Peace Studies; Gründer von »TRANSCEND«: a Peace, Development and Environment Network; einer der Gründungsträger der Friedens- und Konfliktforschung, Träger des Alternativen Friedensnobelpreises. Wilfried Graf, Dr. phil., hat Soziologie und Pädagogik studiert. Von 1983 bis 2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) auf Burg Schlaining. 2005 gründete er gemeinsam mit Gudrun Kramer das Institut für Integrative Konfliktbearbeitung und Friedensentwicklung in Wien (IICP). Seit 2006 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) in Wien, seit 2011 Research Fellow am Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (ZFF) – einem der Partner des im Aufbau begriffenen Clusters zur Bündelung von Konflikt-, Friedens- und Demokratieforschung in Österreich. Arbeitsschwerpunkte: Interaktive Konfliktintervention in Krisenregionen und Nachkriegsgesellschaften, Prozessbegleitung von Friedensmediation, konfliktsensitive Entwicklungszusammenarbeit. Daniela Gronold, Dr.in, ist Kommunikationswissenschafterin. Sie unterrichtet an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt als Lektorin und ist Research fellow des Zentrum für Friedenspädagogik und -forschung. Im Auftrag des bm:ukk arbeitet sie derzeit zum Thema »Migration und Diversität in pädagogischen Berufen«. Bettina Gruber, Mag.a Dr.in, Zeithistorikerin und Friedenspädagogin. Sie ist stellvertretende wissenschaftliche Leiterin am Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik an der Alpen-Alpen-Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Peacebuilding Südosteuropa, Friedens- und Konfliktforschung, Friedenspädagogik. Buchveröffentlichungen u.  a.: Bettina Gruber/ Daniela Rippitsch (Hg.): Modell Friedensregion Alpen-Adria? Lernerfahrungen in einer europäischen Grenzregion (Wochenschauverlag/Wissenschaft: Schwalbach/

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Ts. 2011), Bettina Gruber: Migration und Integration. Kommunen und Regionen im Zugzwang. In: Utta Isop/Viktorija Ratkovic: Differenzen leben, (Transcript Verlag: Bielefeld 2011), Bettina Gruber/Daniela Rippitsch: Die Alpen-Adria-Sommeruniversität. Von einer Kriegskultur zu einer Friedenskultur im Alpen-Adria-Raum. In: Die Friedenswarte. Journal of International Peace and Organization 3 (Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin: 2010), Bettina Gruber/Werner Wintersteiner/Gerlinde Duller (Hg.): Friedenserziehung als Gewaltprävention. Regionale und Internationale Erfahrungen (Drava Diskurs: Klagenfurt/Celovec 2009), Renate Grasse/Bettina Gruber/Günther Gugel (Hg.): Friedenspädagogik. Grundlagen. Praxisansätze, Perspektiven (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt enzyklopädie: 2008). Jacob S. Guggenheimer, Mag., ist Sozialpsychologe, koordiniert das Interfakultäre Forschungsnetzwerk Kultur & Konflikt und ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt im trilateralen Forschungsprojekt DNA and Immigration tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Genderstudies und Queer Theorien. Veröffentlichungen: Der Sand in den Augen – E.T.A. Hoffmann und die Geburt einer deutschen Männlichkeit, Klagenfurt 2008 (Drava). Eine große Zahl seiner Artikel zum Forschungsschwerpunkt Menschenhandel finden sich in der Anthologie Frauenhandel in Österreich – kulturwissenschaftliche Aspekte, Klagenfurt 2009 (Drava Verlag), die gemeinsam vom Forschungsnetzwerk herausgegeben wurde. Darüber hinaus erschien: »Du bist Deutschland« – Psychohistorische Überlegungen zu einigen Zusammenhängen von Großgruppenphantasien von Körper, Nation und Geschlecht, in: Pechriggl et al. (Hg.), Über Geschlechterdemokratie hinaus – Beyond Gender Democracy, Klagenfurt 2009 (Drava Verlag). Daniela Ingruber ist Politikwissenschafterin mit den Schwerpunkten Kriegsfotografie, Film und Medien sowie Chefredakteurin der Zeitung planet, Themenschwerpunkte: Politische Philosophie, Friedensforschung, Neue Medien. Valerie Kainz, Mag.a, geb. 1985, schloss das individuelle Diplomstudium Internationale Entwicklung im Mai 2010 an der Universität Wien ab. Sie verfasste ihre Diplomarbeit zum Thema Transitional Justice und Versöhnung, wobei sie als Fallbeispiel Nordirland heranzog. Im Zuge dessen absolvierte sie ein zweimonatiges Forschungspraktikum am Transitional Justice Institut in Ulster/Nordirland. Darüber hinaus hat sie einen IICP-Lehrgang für Integrative Konfliktbearbeitung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt abgeschlossen, arbeitete für das IICP (Institute for Integrative Conflict Transformation and Peacebuilding) und absolvierte ein Volontariat bei der ADA (Austrian Development Agency). Derzeit studiert sie Rechtswissenschaften und ist beim Österreichischen Rundfunk angestellt (Abteilung Fernseharchiv – Erfassung von rechtlichen Vertragsdaten).

Z U DEN A UTORINNEN UND A UTOREN

Nicola Mitterer, Maga. Dr.in, geb. 1980, Studium der Germanistik und Romanistik in Graz und Rouen; 2003-2004: Universitätslehrgang »Deutsch als Fremdsprache« an der Karl-Franzens-Universität Graz. Promotion 2006, Titel der Dissertation: Liebe ohne Gegenspieler – Androgyne Motive und moderne Geschlechteridentitäten in Robert Musils Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften. Seit September 2007 Assistenzprofessorin am Kompetenzzentrum für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel Grenzgänge – Phänomene des Fremden in der Literatur als hermeneutische Herausforderung. Literaturdidaktische Schlussfolgerungen« Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössische Literatur und deren Didaktik, Alteritätstheorien und Postkoloniale Theorien in Literaturwissenschaft und -didaktik, Film und Literatur. Gudrun Perko, Maga. Dr.in, ist Philosophin, zur Zeit Gastprofessorin an der FH-Potsdam zu Gender und Diversity Management (Fachbereich Sozialwesen), Wissenschaftscoach und Mediatorin, freiberufliche Trainerin und Ausbilderin für Social Justice und Diversity Trainings. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ethik, Gender, Queer, Diversity, Social Justice, Dialog, Konfliktlösung. Letzte Publikationen u. a.: Lehrbuch Gender und Queer. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder (Studienmodul Soziale Arbeit), gem. mit Leah Carola Czollek und Heike Weinbach, Berlin 2009. Lehrbuch Ethik in sozialen Berufen, gem. mit Ruth Großmaß, Bielefeld 2011. Handbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen, gem. mit Leah Carola Czollek und Heike Weinbach (erscheint 2012). Nähere Informationen unter: www.perko-profundus.de Daniela Rippitsch, Mag.a, ist Zeithistorikerin und Mitarbeiterin am Institut für Unterricht- und Schulentwicklung sowie am Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Von 2005 bis 2010 koordinierte sie den Universitätslehrgang Politische Bildung an den Universitäten Klagenfurt und Krems. Mit Oktober 2011 hat sie die Koordination der Regionalen Netzwerke des Projektes IMST (Innovationen machen Schulen top) und des EU-Programms FIBONACCI am Institut für Unterricht- und Schulentwicklung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt übernommen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Friedenspädagogik, Politische Bildung und Erinnerungskultur sowie Projektmanagement und Netzwerkarbeit. Aktuelle Publikationen: Bettina Gruber, Daniela Rippitsch (Hg.): Modell Friedensregion AlpenAdria? Lernerfahrungen in einer europäischen Grenzregion, Wochenschauverlag/ Wissenschaft: Schwalbach/Ts. 2011; Bettina Gruber/Daniela Rippitsch: Die Alpen-Adria-Sommer-Friedensuniversität. Von einer Kriegskultur zu einer Friedenskultur im Alpen-Adria-Raum. In: Die Friedenswarte. Journal of International Peace and Organization 3/2010, Berliner Wissenschaftsverlag: Berlin 2010; Bet-

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tina Gruber/Daniela Rippitsch/Werner Wintersteiner (Hg.): Menschenrechte und Frieden, Jahrbuch Friedenskultur, Drava Verlag, Klagenfurt 2009; Cornelia Klepp/Daniela Rippitsch (Hg.): 25 Jahre Politische Bildung in Österreich, Facultas: Wien 2008 Dieter Senghaas ist Professor für Internationale Politik und internationale Gesellschaft, insbesondere Friedens-, Konflikt- und Internationale Studien, und war als solcher an der Universität Bremen tätig; seit 2005 ist er Senior Fellow am obigen Institut. Agnes Taibl, Mag.a, geb. 1985, studierte Internationale Entwicklung in Wien und Dar es Salaam. Sie verfasste ihre Diplomarbeit über den Konflikt in Sri Lanka und untersuchte den Beitrag der tamilischen Diaspora zum Konfliktlösungsprozess nach Kriegsende 2009. Darüber hinaus forschte und veröffentlichte sie zu den gewaltförmigen Auseinandersetzungen nach den Wahlen 2007 in Kenia und beschäftigte sich im Zuge ihres Studiums eingehend mit der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission sowie dem Konflikt in Ruanda. Sie besuchte das International Criminal Tribunal on Rwanda in Arusha/Tansania und beobachtete dort einige Verhandlungen. Sie absolvierte Praktika beim UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime) und bei TSE Empowerment, einer tansanischen Grassroots-NGO. Martin G. Weiß, Dr., ist Universitätsassistent am Institut für Philosophie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Mitglied der Forschungsplattform Life Science Governanceder Universität Wien und Co-Leiter des internationalen Forschungsprojektes DNA and Immigration. Veröffentlichungen u. a.: Gianni Vattimo. Einführung. Mit einem Interview mit Gianni Vattimo, Wien: Passagen 2006; Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Hg. von Martin G. Weiß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009.