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German Pages 290 Year 2015
Utta Isop, Viktorija Ratkovic´, Werner Wintersteiner (Hg.) Spielregeln der Gewalt
Band 1
2009-05-05 15-02-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9209429066006|(S.
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Editorial Die Reihe »Kultur & Konflikt« dokumentiert die Ergebnisse eines Forschungsnetzwerks, das seit 2005 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt arbeitet. Vertreter/-innen der Frauen- und Geschlechterforschung, der Friedensforschung sowie der Kulturwissenschaften untersuchen – über die sozioökonomische und politische Dimension hinaus – interdisziplinär die Bedeutung der Kategorie »Kultur« für das Verständnis sozialer Konflikte und gesellschaftlicher Gewalt. Auf diesem Wege leistet die Reihe einen Beitrag zur Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Friedensforschung, arbeitet an der Etablierung einer interdisziplinären Geschlechterforschung mit und setzt politische Wissenschaft und Bildung in Bezug zur Geschlechterund Friedensforschung. Die Reihe wird herausgegeben vom Interfakultären Forschungsnetzwerk »Kultur & Konflikt« der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
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Utta Isop, Viktorija Ratkovi´c , Werner Wintersteiner (Hg.) Spielregeln der Gewalt. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Geschlechterforschung
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Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der AlpenAdria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der Privatstiftung der Kärntner Sparkasse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Werner Wintersteiner Lektorat: Utta Isop, Viktorija Ratkovic´, Werner Wintersteiner Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1175-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Die Regeln des Vorkrieges. Zu diesem Buch ............................................ 9 Utta Isop, Viktorija Ratković, Werner Wintersteiner
Frieden – Kultur – Gewalt »Loyale Gegner«. Zum Kapitel »Frieden – Kultur – Gewalt« ................................................ 21 Werner Wintersteiner Kultur, Struktur und das soziale Unbewusste. Plädoyer für eine komplexe, zivilisationstheoretische Friedensforschung. Johan Galtungs Gewalt- und Friedenstheorie kritisch-konstruktiv weiterdenken ................................ 27 Wilfried Graf Frieden als Kulturbegriff. Energetisches Erfahren und transrationales Erkennen ......................... 67 Wolfgang Dietrich Sexism and the War System ...................................................................... 83 Betty A. Reardon
Psyche – Kultur – Gedächtnis »Kulturell gekocht, rituell gegrillt«. Zum Kapitel »Psyche – Kultur – Gedächtnis« ........................................ 101 Utta Isop
Ebenen und Topoi der Konfliktualität zwischen Gruppenpsychoanalyse und Gesellschaftstheorie ................................ 107 Alice Pechriggl Divergierende Erinnerungskulturen und gedächtnispolitische Konflikte als Faktoren im europäischen Integrationsprozess: Das Beispiel der Baltischen Staaten Estland und Lettland .................... 119 Karin Liebhart
Geschlecht – Ökonomie – Kultur Gegen-Hegemonie erzeugen. Zum Kapitel »Geschlecht – Ökonomie – Kultur« .................................. 141 Utta Isop Das warenproduzierende Patriarchat. Thesen zu Kapitalismus und Geschlechterverhältnis ............................ 151 Roswitha Scholz Hegemoniale Weiblichkeiten ................................................................... 171 Birgit Rommelspacher Frauenmigration und Gewalt. Überlegungen zu transnationalen Arbeits- und Gewaltverhältnissen im Privathaushalt .................................................. 185 Barbara Grubner
Medien – Macht – Historizität »Mythen im neuen Design«. Zum Kapitel »Medien – Macht – Historizität« ..................................... 209 Viktorija Ratković Ausschlüsse im religiösen und säkularen Kontext bedenken. Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt ....................................... 215 Ingvild Birkhan Kultur als Konflikt: Lektionen der Cultural Studies ............................. 227 Brigitte Hipfl
»Neue Männer braucht das Land …«, »die neue Freiheit kam mit Lippenstiften …«: Die Darstellung von Gewalt und Geschlechterbildern in der westlichen Berichterstattung über den Afghanistan- und Irakkrieg ............................................................. 243 Anna Bergmann Ästhetische und politische Taktiken in einem Gefüge aus Gesten, Blicken, Bildern, Gefühlen und Blindfeldern ................... 265 Anna Schober Autorinnen und Autoren ......................................................................... 285
Die Regeln des Vorkr ieges. Zu diesem Buch Utta Isop, Viktorija Ratković, Werner Wintersteiner
Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen. Christa Wolf, Kassandra (1983)
Das Kassandra-Projekt Kassandra gehört zu jenen mythologisch-literarischen Figuren, die die abendländische Kulturgeschichte am längsten und am nachhaltigsten beeinflusst haben. In immer weiteren Bearbeitungen kommen neue Deutungen zum Vorschein, werden andere Facetten entdeckt und besondere Aspekte hervorgehoben. Im Roman und im Materialienbuch der Christa Wolf, einer der jüngsten Versionen, steht Kassandra als Verkörperung des Widerstands gegen den Herrschaftskomplex von Patriarchat – Kapitalismus – Gewalt. Sie spielt darin zumindest drei sehr moderne Rollen: die der Seherin, d.h. einer ganzheitlichen Forscherin, die analytische Wissenschaft mit anderen Erfahrungszugängen verbindet; die einer Frau, die am eigenen Leib patriarchale Gewalt erlebt und sich dagegen zur Wehr setzt; und schließlich die der Angehörigen der Herrschaftsschicht, die Privilegien genießt und einen besseren Zugang zu Informationen hat, die aber gerade deswegen »Klassenverrat« übt und sich mit den Unterdrückten solidarisiert. Kassandra als Roman wiederum steht aber auch für eine bestimmte Methode der Analyse der sozialen Wirklichkeit – als literarische 9
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Untersuchung des gesamtgesellschaftlichen Kräftespiels, wie es in der organisierten Gewalt des Krieges am deutlichsten zum Vorschein kommt, und vor allem als ein Aufspüren all der Gegenkräfte, die nötig sind, den unseligen Gewalt-Komplex zu überwinden. Christa Wolfs Frage »Wann beginnt der Vorkrieg?« ist die eigentlich entscheidende Frage, und sie ist es auch, die dieser Publikation zugrunde liegt. Die Seherin Kassandra dient als Chiff re und Denkfigur dafür, Kriege nicht als isolierte Phänomene zu betrachten, sondern als (oft kaum vermeidbare) Resultate gewalttätiger gesellschaftlicher Verhältnisse, deren Violenz aber in »normalen Zeiten« nicht beachtet und erkannt werden, genauso, wie die Troianer Kassandras Warnungen in den Wind schlagen. Damit verbunden ist die Entmystifizierung und Zurückweisung der Feinbilder und die Kritik der Feinbild-Produzenten: »Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.« Ein Appell, der sich nicht nur gegen Feindbilder, sondern auch gegen jede Art von Manipulation und Täuschung richtet. Denn die Suche nach dem Kern von Konflikten darf nicht als Fortschreibung der Konflikte betrieben werden, wie sie sich an der Oberfläche präsentieren. Vielmehr geht es – besonders bei lang andauernden, schwer lösbaren Konflikten – darum, ihre »Tiefenkultur« zu studieren, die zugrunde liegenden Muster des Denkens und Fühlens ebenso wie die Denkbilder und Mythen, mit denen die Konflikte aufgeladen wurden. Damit ist ein weiterer Grundsatz angesprochen: die Beachtung und systematische Erforschung der subjektiven, der kulturellen Momente in ihrer Bedeutung für den nur scheinbar objektiven Gang der Geschichte. Kulturwissenschaftliche Friedensforschung geht davon aus, dass Kriege und Gewalt nicht nur Resultat politischer Handlungen und ökonomischer Prozesse sind. Die Wurzeln liegen auch woanders, und manchmal lassen sie sich sogar bis zu den »kulturellen genetischen Codes« einer Gesellschaft zurückverfolgen, um eine Metapher Johan Galtungs zu gebrauchen (Galtung 1998: 362). Wir müssen uns auch mit den tief verankerten kulturellen Mustern beschäftigen, die uns für Gewalt so empfänglich machen und die unsere politischen Handlungen wie ökonomischen Entscheidungen beeinflussen: Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Überzeugungen, die von Alltagstheorien, von Ideologien, oft aber auch von Religionen gestützt werden. Was Enzo Traverso für die Periode des »europäischen Bürgerkriegs« 1914-1945 reklamiert, »in der die Symbiose zwischen Kultur, Politik und Gewalt die Mentalitäten, Ideen, Darstellungsweisen und Handlungen ihrer Akteure zutiefst prägte« (Traverso 2008: 9), kann im Grunde als genereller Befund gelesen werden. Anders gesagt: Die Kritik der Gewalt ist notwendig, aber sie kann nicht mit einer Begrifflichkeit Kultur versus Konflikt betrieben werden, sondern nur innerhalb der Felder von Kultur und Konflikt. Denn Kultur und Kon10
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flikt sind nicht als Gegensätze, sondern als jeweils verschiedene, und auch verschieden ambivalente Begriffe zu verstehen, die sowohl positive wie auch negative Aspekte einschließen. Wenn es gilt, das positive Vorurteil zu widerlegen, das allgemein gegenüber dem Begriff Kultur herrscht, so ist umgekehrt der Begriff Konflikt von seinem negativen Image zu befreien. Wir sollten den dynamischen und positiven Aspekt von Konflikten erkennen und eine deutliche Unterscheidung zwischen gewalttätiger Austragung und gewaltarmer oder gewaltfreier Konflikttransformation treffen. In diesem Sinne sind Formulierungen wie »Kultur des Krieges« (vgl. Keegan 1995) oder »Kultur der Gewalt« nicht als Metaphern, sondern als Fachausdrücke zu verstehen, als zutreffende Beschreibungen menschlicher Entwicklungen. Damit wird von der Friedensforschung anerkannt, dass Gewalt ein konstitutives Merkmal menschlicher Gesellschaften ist, soweit sie bislang von der Geschichtsschreibung erfasst werden konnten. Das bedeutet nicht, dass damit einer gewalttätigen Natur des Menschen das Wort geredet wird, die notwendig immer zu Krieg und gegenseitiger Vernichtung führen müsse. Diese These ist spätestens mit dem »Sevilla1 Statement on Violence« (1986) aufgrund ihrer Unwissenschaftlichkeit von der scientific community zurückgewiesen worden. Darüber hinaus liegt, was die Gewalt des Krieges betriff t, wie bei allen biologistischen Erklärungsmodellen, ein Kategorienfehler vor: Krieg liegt nicht in der Natur des Menschen, sondern ist ein Produkt seiner Kultur: »Schließlich sehen die mit Abstand meisten Erklärungen den Krieg als etwas Notwendiges, das in Hinblick auf ein soziales Bedürfnis eine Funktion erfüllt. Krieg unterscheidet sich von anderen Arten der Gewalt insofern, als der Krieg von organisierten Kollektiven durchgeführt wird und stärker kollektive als individuelle Ziele verfolgt. Demnach müssen die Ursachen für den Krieg in der Natur dieser Kollektive gesucht werden und nicht in der des Individuums.« (Hakami 2004: 155)
»Kultur der Gewalt« steht somit für ein Bündel von Faktoren, die man auch als »zweite Natur« des Menschen bezeichnen könnte, da sie in der gesamten bekannten Periode der menschlichen Geschichte anzutreffen sind. Während aber die »erste Natur«, unsere biologische Grundlage, vorgegeben ist und sich nur in unendlich langen Zeiträumen und in nur sehr geringem Maße wandelt, ist diese »zweite Natur« ein menschliches, ein gesellschaftlich-historisches Produkt. Es erscheint dem Einzelnen zwar als oft ebenso unveränderlich wie die Natur, kann aber durch bewusste Anstrengungen der organisierten Menschheit oder (in kleinerem Maßstab) durch das Engagement von Einzelnen oder von Gruppen beeinflusst werden. »Kultur der Gewalt« ist somit nicht das Forschungsfeld der Biologie, sondern der historischen Anthropologie, der Geschichts- und der 11
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Kulturwissenschaften. Der Gegenbegriff »Kultur des Friedens«, wie er durch die Dokumente und Resolutionen der UNO und UNESCO populär wurde, macht auf die säkulare Dimension der Aufgabe aufmerksam, die Kultur der Gewalt langfristig einzudämmen. Diese Aufgabe ist Bestandteil der großen Herausforderungen, vor denen heute zunehmend die gesamte Menschheit steht und die sie, bei Strafe des Untergangs der Spezies, bewältigen muss. An Stimmen, die für einen solchen globalen menschlichen Entwicklungsschritt in Richtung Zivilisierung eintreten, mangelt es nicht. Eine der prominentesten ist die des französischen Intellektuellen Edgar Morin, der in seinem »Versuch einer planetarischen Politik«, dem Buch Heimatland Erde, resümiert: »Das eherne planetarische Zeitalter hinter sich lassen, die Menschheit retten, die Biosphäre mitsteuern, die Erde zivilisieren – das sind vier Begriffe, die in rückläufigen Schlingen miteinander verbunden sind, wobei jeder für die drei anderen eine Notwendigkeit darstellt. Die planetare Agonie wäre alsdann Trägerin einer neuen Geburt: Wir könnten den Schritt vom Menschengeschlecht zur Menschheit unternehmen. […] Der Kampf gegen den Tod der menschlichen Gattung und der Kampf für die Geburt der Menschheit sind ein und derselbe Kampf.« (Morin 1999: 203)
Man könnte dieses Forschungsvorhaben auch ein »Kassandra-Projekt« nennen: den Versuch, durch die Wahl einer neuen Perspektive etwas zu sehen, was andere nicht sehen. Es geht, in der Terminologie Christa Wolfs, darum, die »Regeln des Vorkriegs« verstehen zu lernen, um zu verhindern, dass die Faktoren wirksam werden, die aus dem Vorkrieg einen tatsächlichen Krieg machen.
Kultur und Gewalt/Kultur des Fr iedens als Forschungsprogramm Die Beschäftigung mit »kultureller Gewalt« bzw. die Entwicklung des Konzepts der »Kultur des Friedens« kann auch als friedenswissenschaftliche Reaktion auf die Entstehung des »kulturellen Paradigmas« gesehen werden. In der Friedensforschung wurde diese Thematik erstmals systematisch und tiefgründig vom Schweizer Philosophen Hans Saner zur Diskussion gestellt. In seinem Aufsatz Personale, strukturelle und symbolische Gewalt (1982) entwickelt Saner das Galtung’sche Konzept der Unterscheidung von personeller und struktureller Gewalt weiter. Er übernimmt dabei von Bourdieu/Passeron den Ausdruck »symbolische Gewalt«, den er in Analogie zum Begriff der strukturellen Gewalt definiert: »So wie Interaktions-Systeme als geltende Ordnungen zum Subjekt von Gewalt werden 12
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können, so können Zeichen und Zeichensysteme durch ihre das Denken, das Fühlen und Handeln prägende Kraft die Subjekte von Gewalt sein.« (Saner 1982: 77) Für Saner ist entscheidend das Zusammenwirken der drei analytisch unterschiedenen Gewaltmomente. Er betont, dass strukturelle Gewalt durch die symbolische »hinterbaut« ist. Der von Johan Galtung geprägte Begriff der kulturellen Gewalt ist ganz analog zu Saners symbolischer Gewalt (Galtung 1998, 341, englisches Original 1990) defi niert: »Unter kultureller Gewalt verstehen wir jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer Welt, – man denke an Religion und Ideologie, an Sprache und Kunst, an empirische und formale Wissenschaften (Logik, Mathematik) – die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren.«
Galtung zeichnet das Bild eines »Dreiecks der Gewalt« – direkte Gewalt, von Galtung als »Ereignis« charakterisiert, strukturelle Gewalt, die ProzessCharakter hat, und kulturelle Gewalt, die für »Permanenz« steht (Galtung 1998: 348). Dieser kulturwissenschaftliche Ansatz wurde in der Friedensforschung breit rezipiert und steht, in einer positiven Wendung, auch 2 hinter dem Konzept der Kultur des Friedens. Damit findet die Friedensforschung Anschluss an den generellen wissenschaftlichen Trend des linguistic turn und cultural turn – eine Entwicklung, die lange Zeit nur eine »kritisch-konstruktive« Friedensforschung (mit Psychologie, Ethnologie, Theologie oder Sprach- und Literaturwissenschaften als Hintergrund sowie die feministische Friedensforschung) nachvollzogen hatte. Heute aber wird die Beschäftigung mit kulturellen Phänomenen auch in Soziologie und Politikwissenschaft immer entscheidender. So sind SoziologInnen wie Alain Touraine der Ansicht, dass die kulturellen Fragen eine derartige Bedeutung gewonnen haben, dass das soziale Denken sich rund um sie neu strukturieren müsse. Er spricht von einem Übergang von der »Sprache des Sozialen« zur »Sprache des Kulturellen« (Touraine 2005: 13f.). Wenn nun Kultur das zentrale Feld der Auseinandersetzungen wird, ist es auch verständlich, dass kulturelle Gewalt an Bedeutung gewinnt. Manche ForscherInnen, wie etwa die Linguistin Tove Skutnabb-Kangas (1995), vertreten die These, dass wir es zunehmend mit veränderten Formen bei der Ausübung von Macht und Kontrolle zu tun haben. Kultur, und dabei nicht zuletzt Sprache, nehme – parallel zu Geschlecht und Klasse – eine entscheidende Rolle ein bei der Hierarchisierung von Gesellschaften und der Verteilung von Macht. Wie aus der Rechtsextremismusforschung bekannt, ersetze »Kultur« bereits teilweise »Rasse« bzw. Ethnizität. Der cultural turn ist aber umfassender und tiefer als zunächst von der 13
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Friedensforschung aufgegriffen. Es geht nicht bloß darum, Ergebnisse kulturwissenschaftlicher Forschung im eigenen Feld zur Kenntnis zu nehmen, sondern viel mehr darum, die kulturwissenschaftliche Herausforderung anzunehmen, d.h. die Fragestellungen der Kulturwissenschaften auf die eigene Wissenschaft, von der Epistemologie bis zur Methodik, anzuwenden. Die Postmoderne hat nicht nur die alltägliche, sondern auch die wissenschaftliche »Geschichts- und Geschichtenproduktion aus den Angeln der Eindeutigkeit gehoben« (Egger 2004: 44). Es muss uns bewusst sein, dass kulturwissenschaftliche Friedensforschung per definitionem »ethnologisch«, »hermeneutisch«, »konstruktivistisch« ist, und dass sie keinerlei Forschungsergebnisse präsentieren kann, in denen nicht auch ihre eigene Rolle in Frage gestellt wird. Eine wesentliche Dimension kultureller Gewalt ist die Gewalt in den Geschlechterbeziehungen, die von vielen ForscherInnen auch als eine der Grundformen von gesellschaftlicher Gewalt aufgefasst wird (vgl. z.B. Lamnek/Boatca 2003; Schröttle 1999). Das legt eine stärkere Verknüpfung von Gender Studies und Peace Studies nahe, deren gemeinsames Anliegen das Zusammendenken von historisch-politischen und ökonomischen Faktoren mit kulturellen Aspekten sein muss – eine Verbindung, welche durch einen zu starken Fokus auf Konstruktion/Dekonstruktion verloren zu gehen droht. Diese Konvergenz findet im »Making Peace«-Konzept ihren Ausdruck, wie es etwa von Utta Isop und Kirstin Mertlitsch angedacht wird: Doing Gender, Banal Militarism und Kultur des Friedens (Mertlitsch/Isop 2007: 169; siehe auch den Beitrag von Betty A. Reardon in diesem Band). Diese drei Ansätze gehen alle davon aus, dass jeweils Geschlecht, Militarismus und Frieden und die hegemoniale Zustimmung zu diesen nicht zuletzt durch sozio-kulturelle Praktiken alltäglich erzeugt werden: Das Konzept des »Banal Militarism« von Fabian Virchow und Tanja Thomas in der Friedens- und Konfliktforschung legt wie »Doing Gender« seinen Fokus auf die sozio-kulturellen Alltagspraktiken bei der Erzeugung von Militarismus (siehe den Beitrag von Birigt Rommelspacher in diesem Band). Das UNESCO-Konzept »Kultur des Friedens« (s.o.) konzentriert sich auf die Eckpunkte »Erziehung, Toleranz, Solidarität, Partizipation, freier Fluss von Informationen, Abrüstung, Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung und Geschlechterdemokratie«. Somit sind all diese Konzepte an einander anschlussfähig. Gender- und Friedensforschung eint das Bemühen, die Wirkungsmechanismen von (gesellschaftlicher) Gewalt aufzudecken, kritisch zu hinterfragen und nach Strategien zu ihrer Überwindung zu suchen (vgl. z.B. Harders/Roß 2002; Davy/Hagemann/Kätzel 2005).
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Zu dieser Publikation Ziel dieser Publikation ist es, einen Beitrag zum Verstehen des Anteils kultureller Aspekte an der Entstehung und (gewalttätigen) Austragung von Konflikten innergesellschaftlich wie auf internationaler Ebene zu leisten, das heißt die Bedeutung kultureller Faktoren im Kontext der sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren zu untersuchen. Dazu ist es notwendig, das oben skizzierte Bündel »Kultur der Gewalt« genauer aufzuschlüsseln, um es für die Formulierung von beantwortbaren Forschungsfragen zu operationalisieren. Es geht um die komplexen Wechselbeziehungen zwischen der symbolischen und der physischen Welt, konkret um die Rolle von Kultur bei der Entstehung, Dynamik und Transformation von (gewalttätigen bzw. gewaltträchtigen) Konflikten. Dabei nimmt der in der Friedensforschung und speziell im UN-Kontext gebräuchliche Terminus von der »Kultur des Friedens« die Rolle einer konkreten Utopie ein – visionär genug, um ein großes, längerfristig anzustrebendes Ziel abzugeben, und konkret genug, um sich ihm in messbaren Schritten zu nähern. Ein wesentliches Untersuchungsfeld sind dabei die Anteile patriarchaler Herrschaft und Gewalt in einem System kultureller Gewalt. Dieser Schwerpunktsetzung entspricht auch die Auswahl und Anordnung der Beiträge. Sie sind in vier Kapitel gruppiert: Frieden – Kultur – Gewalt, Psyche – Kultur – Gedächtnis, Geschlecht – Ökonomie – Kultur sowie Medien – Macht – Historizität. Dabei sind Überschneidungen nicht nur unvermeidlich, sondern auch gewollt, um die Verknüpfung und Verflechtung der einzelnen Faktoren und Aspekte deutlich zu machen. Wenn etwa im einleitenden Kapitel Fragen der internationalen Beziehungen (Krieg und Frieden) einen breiten Raum einnehmen, so sind doch Genderaspekte ebenfalls prominent vertreten. Umgekehrt sind friedenswissenschaftliche Zugänge und Themen z.B. in das Kapitel Medien – Macht – Historizität integriert. Jedem Kapitel sind erläuternde Bemerkungen der HerausgeberInnen vorangestellt. Der Ehrgeiz dieser einleitenden Hinweise besteht darin, dass sie mehr sein wollen als Verständnishilfen. Sie sind selbst Bestandteil des Dialogs, der diese Publikation charakterisiert. Die Einleitungen rekonstruieren die Hauptthesen der jeweiligen Artikel, setzen diese in Beziehung zu anderen Beiträgen, stellen Fragen, stellen in Frage, treiben die Debatte weiter und fassen die Diskussion wieder zusammen. Sie dienen damit einer Intensivierung der Diskussion zwischen den Beiträgen und BeiträgerInnen, wie sie in einem üblichen Sammelband nicht leicht zu erreichen ist. Diese Publikation ist das erste Produkt des transdisziplinären und fakultätsübergreifenden Forschungsprojekts Kultur & Konflikt an der AlpenAdria-Universität Klagenfurt. Dieses Projekt wird getragen von einem 15
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inneruniversitären Forschungsnetzwerk, das aus dem Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien, dem Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik, der Fakultät für Kulturwissenschaften sowie der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung besteht. Das Forschungsnetzwerk hat bereits eine Reihe von Workshops durchgeführt, auf deren Ergebnisse sich diese Publikation im Wesentlichen stützt. Weitere 3 Bände sind in Vorbereitung. Klagenfurt/Celovec, im Jänner 2009
Literatur Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude (1973): Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt: Suhrkamp. Davy, Jennifer A./Hagemann, Karen/Kätzel, Ute (Hg.) (2005): Frieden-Gewalt-Geschlecht. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung, Hamburg: klartext-Verlag. Egger, Rudolf (2004): Next Exit. Bildung. Lernwelten im Übergang, Graz: Leykam. Galtung, Johan (1998): »Kulturelle Gewalt«. In: Johan Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Opladen: Leske + Budrich (= Friedens- und Konfliktforschung 4), S. 341-366. Harders, Cilija/Roß, Bettina (2002): Geschlechterverhältnisse in Krieg und Frieden. Perspektiven feministischer Analysen in internationalen Beziehungen, Opladen: Leske + Budrich. Hakami, Khaled (2004): »Clash of Structures. Eine Kriegs-Erklärung zwischen Sozialanthropologie und Geschichtswissenschaft«. In: Thomas Kolnberger/Ilja Steffelbauer/Gerald Weigl (Hg.), Krieg und Akkulturation, Wien: Mandelbaum, S. 153-172. International Decade for a Culture of Peace and Non-Violence for the Children of the World, 2001-2010 Resolution 58/11, adopted by the General Assembly 2000. Mertlitsch, Kirstin/Isop, Utta (2007): »Doing Gender – Making Peace?« In: Kathrin Hämmerle u.a. (Hg.), Dialog der Zivilisationen. Jahrbuch Friedenskultur 2007, Klagenfurt: Drava, S. 166-176. Keegan, John (1995): Die Kultur des Krieges, Berlin: Rowohlt. Lamnek, Siegfried/Boatca, Manuela (Hg.) (2003): Geschlecht – Gewalt – Gesellschaft, Opladen: Leske + Budrich. Morin, Edgar (1999): Heimatland Erde. Versuch einer planetarischen Politik, Wien: Promedia. 16
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Saner, Hans (1982): »Personale, strukturelle und symbolische Gewalt«. In: Hans Saner, Hoffnung und Gewalt. Basel: Lenos, S. 73-95. Schröttle, Monika (1999): Politik und Gewalt im Geschlechterverhältnis, Bielefeld: Kleine. Skutnabb-Kangas, Tove (Hg.) (1995): Multilingualism for All, Lisse: Swets & Zeitlinger. Traverso, Enzo (2008): Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945, München: Siedler. Touraine, Alain (2005): Un nouveau paradigme pour comprendre le monde d’aujourd’hui, Paris: Fayard 2005. Wolf, Christa (1983): Kassandra, Neuwied: Luchterhand.
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Fr ieden – Kultur – Gewalt
»Loyale Gegner«. Zum Kapitel »Fr ieden – Kultur – Gewalt« Werner Wintersteiner
»L’effort du poète vise à transformer vieux ennemis en loyaux adversaires, tout lendemain fertile étant fonction de la réussite de ce projet, surtout là où s’élance, s’enlace, décline, est décimée toute la gamme des voiles où le vent des continents rend son cœur au vent des abîmes.« René Char (1962)
Kultur versus Gewalt? Lange Zeit, und immer wieder in verschiedenen historischen Perioden der europäischen Zivilisation, galt Kultur als Gegenbegriff zu Diktatur und Gewalt. Noch auf Hitlers Machtergreifung antworteten die linken europäischen Intellektuellen mit »Kongressen zur Verteidigung der Kultur«. Damit wurde die Behauptung des Gegensatzes zwischen Kultur und Barbarei prolongiert, ohne die Problematik dieser Denkfigur zu berücksichtigen. Friedliche Kultur als das Gegenteil zu gewalttätiger Barbarei entspringt letztlich einer westlichen Selbstzuschreibung, mit der ursprünglich eine Überlegenheit gegenüber nichtwestlichen Zivilisationen behauptet und imperiales und koloniales Verhalten gerechtfertigt werden sollten. Spätestens seit der »Enttäuschung des Krieges«, wie Sigmund Freud die radikale Desillusionierung des Ersten Weltkriegs bezeichnete (Freud 1974), musste aber der westliche Zivilisations- und Kulturbegriff selbst fragwürdig werden. Denn das vierjährige Völkergemetzel, das sich nach zahlreichen Spannungen schließlich im Zweiten Weltkrieg fortsetzte, weshalb viele von einem »europäischen Bürgerkrieg 1914-1945« sprechen (vgl. Traverso 21
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2008), war keineswegs das Werk irgendwelcher Barbaren und »unentwickelter Naturvölker«, sondern das Resultat jener Kultur, die sich selbst für den Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung gehalten hatte, für die Verkörperung der klassischen Werte des Wahren, Guten und Schönen. Es konnte auch nicht mehr einfach mit einem »Rückfall in die Barbarei« argumentiert werden, denn die kulturellen, medialen und vor allem technischen Leistungen der Staaten, die sich in den Ersten Weltkrieg verstrickten, blieben ja unbestritten. Und selbst wenn Hitlers Drittes Reich und der Zweite Weltkrieg im Allgemeinen als ein schwerer zivilisatorischer Rückschlag eingeschätzt werden, so ist es mit einer bloßen »Verteidigung der Kultur« nicht getan. Das NS-Regime kommt nicht vom Rande, sondern ist aus der Mitte der deutschen Kultur erwachsen, wenn auch unter ganz spezifischen Bedingungen. Das macht den Begriff der Kultur selbst verdächtig, zumindest in seiner ausschließlich emphatischen Verwendung als Bollwerk gegen Gewalt und Barbarei. Inzwischen ist es nicht mehr möglich, Kultur pauschal als Gegensatz zu Gewalt zu sehen. Es geht vielmehr darum, im Sinne der Cultural Studies zu untersuchen, welche Rolle Kultur als Bestandteil von Gewaltverhältnissen und gewalttätigen Konfliktkonstellation spielt. Es ist allerdings bezeichnend, dass sich zumindest in der Alltagssprache die positive Bewertung von Kultur bis heute erhalten hat – solange der Term in der Einzahl gebraucht wird. Problematisiert wird der Kulturbegriff nämlich ausschließlich im Plural. Die Kulturen, und das sind dann im Allgemeinen einfach die (kulturell, politisch, religiös) Anderen, werden sehr wohl als gewalttätig und konfliktanfällig verstanden, worauf auch die schematische Vorstellung von dem beinahe unausweichlichen Zusammenstoß unterschiedlicher Kulturen, also des berühmten clash of civilizations von Huntington, gründet. Wie dieser Hinweis bereits zeigt, ist die positive Belegung des Begriffs Kultur ohnehin dem deutschen Sprachraum vorbehalten, während in den französischen und angelsächsischen Diskursen der emotional weit weniger belastete Ausdruck civilisation üblich ist. Von beidem – der Ignoranz gegenüber der Ambivalenz des Kulturbegriffs in der Einzahl und dem Fatalismus gegenüber einem als negativ bewerteten Kulturbegriff in der Mehrzahl – grenzt sich diese Publikation durch ihre Herangehensweise ab. Sie untersucht vornehmlich kulturelle Faktoren von Gewaltverhältnissen, ohne deswegen die ökonomischen und politischen Kontexte zu vernachlässigen.
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Zum Kapitel »Fr ieden – Kultur – Gewalt«
Fr iedensursachenforschung Die Gemeinsamkeit der durchaus unterschiedlichen Beiträge, die in diesem einleitenden Kapitel versammelt sind, ist die Frage nach den kulturellen Voraussetzungen des Friedens. Alle AutorInnen legen ihren Arbeiten einen weiten Kulturbegriff zugrunde. Sie folgen damit dem cultural turn der Sozialwissenschaften, wie er sich zunächst in den Genderstudien und feministischen Ansätzen der Sozialwissenschaften durchsetzte, die die Tatsache der Konstruiertheit von Identitäten in den Mittelpunkt gestellt haben – Kultur macht Geschlecht. Parallel dazu haben in der Friedensforschung Galtungs Begriff von der Kulturellen Gewalt (Galtung 1990) und das Konzept der Kultur des Friedens die Blickrichtung nachhaltig verändert. Moderne Konflikttheorien tragen ebenfalls der kulturellen Komponente Rechnung, indem sie nicht nur die kreative Transformation von Konflikten als inter-kulturelle Aufgabe ansehen, sondern bereits die Wahrnehmung und damit Konstruktion von Konflikten als auch kulturell bedingt verstehen. Wie Gewalt ist auch der Konflikt »kultursubjektiv« (Hugger 1995: 19). Mit diesen Ansätzen verbindet sich die Hoffnung, einen wesentlichen Beitrag zum tieferen Verständnis heutiger gewalttätiger Konflikte zu leisten, ohne umgekehrt das zu verabsolutieren, was lange vernachlässigt war. Denn so wie sich die Soziologie von der Allmachtsphantasie der Totalerklärung der Welt verabschiedet hat, darf auch eine kulturwissenschaftliche, gendersensible Friedensforschung nicht versuchen, eine neue Meta-Theorie zu bilden, die beansprucht, durch ihren »kulturwissenschaftlichen Vorsprung« alles einordnen, deuten und erklären zu können. Sie wird hingegen gut beraten sein, ihre theoretischen Axiome empirischen Überprüfungen zu unterziehen. Dazu ist es freilich nötig, den Blick zu weiten auf die kulturellen Alltagshandlungen, um deren Tiefenkulturen zu erforschen. Poetisch gesprochen: »Genauso, wie es nützlich ist, die Lage der Meeresplatten zu kennen, um Erdbeben und Vulkansausbrüche vorherzusagen, müssen wir die Grenzen verschiedenartiger, sich auf komplexe Weise überlappender Bereiche ziehen, um menschliche Konflikte besser zu verstehen: Daher gilt es, über die traditionellen Landkarten der Religionen und Sprachen die der Sportarten und alkoholischen Getränke zu legen.« (Deville 2007: 252)
Erkenntnisinteresse ist der Erwerb von Einsichten, auf die sich Präventionsbemühungen von gewalttätigen Konflikten wie auch die gewaltfreie und kreative Transformation von notwendigen Konflikten stützen können. Kulturwissenschaftliche Friedensforschung ist somit Teil einer komplexen »Friedensursachenforschung«. Die Untersuchung kultureller Faktoren 23
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für die Entstehung und Eindämmung von Gewalt wird sich in drei Richtungen bewegen: • synchron in Bezug auf Konfliktkonstellationen innerhalb von Gesellschaften • synchron in Bezug auf transnationale und transkulturelle Konflikte und solche im Weltmaßstab • diachron sowohl innerhalb von Gesellschaften wie zwischen Staaten und Gesellschaften Das ist ein weites Programm, welches den Horizont für die langfristige Forschungsarbeit des Projekts »Kultur & Konflikt« abgibt, das aber keineswegs mit dieser einleitenden Publikation, die mit viel bescheideneren Ambitionen daherkommt, abgearbeitet werden kann. Dennoch muss das große Ziel einer »planetarischen Politik« (Edgar Morin), das heißt der Zivilisierung der Zivilisationen bereits ins Auge gefasst werden. Was René Char noch nicht anders als die Aufgabe des Poeten, also des Visionärs, zu formulieren vermochte, nämlich die Entfeindung, steht heute, in Zeiten der Globalisierung, der »Weltgesellschaft« (»terre patrie« in der Diktion Morins) bereits auf der Agenda der Politik: nämlich aus Feinden zwar nicht unbedingt Freunde, aber »loyale Gegner« zu machen, d.h. Kontrahenten, die sich gegenseitig als solche anerkennen und wissen, dass die Vernichtung des Feindes nichts anderes als die Selbstvernichtung bedeuten würde.
Konflikt – Kultur – Gewalt Konflikt und Gewalt sind klassische Untersuchungsfelder der Friedensforschung wie auch der Genderforschung. In diesem einleitenden Kapitel wird der Zusammenhang von Kultur und Konflikt aus der Sicht dieser Disziplinen beleuchtet. Die vorliegenden drei Beiträge markieren wichtige Kreuzungspunkte zwischen Konflikt-Kultur-Frieden-Gewalt, nähern sich aber von verschiedenen Seiten und auf unterschiedlichen Wegen: von der Friedensforschung, einer anthropologisch gewendeten Entwicklungstheorie sowie einem pazifistisch orientierten Feminismus. Im einleitenden Beitrag beleuchtet der österreichische Friedensforscher Wilfried Graf den langen Weg bis zur Anerkennung kultureller Faktoren innerhalb der Friedensforschung. Die zunächst traditionell politikwissenschaftlichen, dann gesellschaftskritisch-postmarxistischen Ansätze, die bis in die 1980er Jahre dominierten, markieren für ihn die ersten Phasen der modernen Friedensforschung. In den 1990er Jahren hingegen erhält die Disziplin neue Impulse durch poststrukturalistische und femi24
Zum Kapitel »Fr ieden – Kultur – Gewalt«
nistische Theorien (Friedensforschung III), die schließlich den (postmodernen) »cultural turn« einläuten (Friedensforschung IV). Eine Schlüsselposition komme dabei den Arbeiten Johan Galtungs zu, der eine Reihe von theoretischen Ansätzen erstmals zusammendenkt. Galtung geht in seiner Konflikt-, Gewalt- und Friedenstheorien von einem Wechselspiel der drei Faktoren Kultur, Struktur und Akteur aus. Konkret bedeutet dies einerseits, die Konfliktivität innerhalb und zwischen den Kulturen zu untersuchen (die »Widersprüche in der Kultur«, in Wechselbeziehung mit der Konfliktivität innerhalb und zwischen den Strukturen und der Konfliktivität innerhalb und zwischen den Akteuren/Subjekten), andererseits, die kulturelle Dimension in den Konflikten zu berücksichtigen (die kulturelle Dimension in den Widersprüchen, im Verhalten und den Interaktionen der Akteure). Heutige Friedensforschung muss aber – so Graf – über Galtung hinausgehen. In seinem Aufsatz erweitert Graf Galtungs Theorie des »kollektiven Unterbewussten« mit freudianisch geprägten kulturhermeneutischen, »massenpsychologischen« und (kollektiv)-psychoanalytischen Ansätzen auf ein »kollektives Unbewusstes« hin. Auf diese Weise skizziert Graf das Programm einer komplexen, transdisziplinär-integrativen Friedensforschung, deren Programm die »Zivilisierung der Zivilisationen« ist, die »Politik der Zivilisation«, wie Edgar Morin sie definiert hat (Friedensforschung V). Seine Vision eines alternativen, »sanften« Universalismus steht dabei in Korrespondenz, aber auch in einer gewissen Spannung zum zweiten Beitrag, der sich den Anspruch stellt, die Wertebasis des westlichen Friedens- und Zivilisationsbegriffs von einem postmodernen Standpunkt aus zu hinterfragen. Wolfgang Dietrich, Leiter des Friedensstudienganges der Universität Innsbruck, unternimmt – mit Hilfe eines tour d’horizon durch die Ideengeschichte und die kulturellen Erfahrungen indigener Völker – den Versuch, die holistischen Friedenskonzepte und Friedenspraxen vormoderner Gesellschaften für die heutige Spätmoderne fruchtbar zu machen, um einer Verkürzung der umfassenderen Idee des Friedens auf einen modernen westlichen Friedensbegriff gegenzusteuern. Seine Hauptthese ist, dass ein holistischer Friedensbegriff nur auf »transrationale« Weise erarbeitet werden kann, das heißt »rational unter Einschluss der energetischen Komponente«. Die Einbeziehung der bislang vernachlässigten »energetischen Dimension«, das heißt spiritueller und sinnlichkörperlicher Friedenserfahrungen, so Dietrich, würde es ermöglichen, das moderne, rationale Friedensbild zu transzendieren, ohne seinen positiven Gehalt aufzugeben. Dietrich gelangt somit zu einem pluralen Verständnis von Frieden – nicht der eine Frieden, sondern die Frieden, die vielfältigen Gestalten und Gestaltungen des Friedens, sind sein Forschungsziel. Ebenfalls einem pluralen Verständnis von Frieden ist die amerikani25
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sche Friedenspädagogin und Feministin Betty Reardon verpfl ichtet. Sie hat als eine der ersten den Zusammenhang zwischen den gender-codierten Machtverhältnissen und der Friedensfrage systematisch untersucht. So hat sie die patriarchalische Kultur der Gewalt, noch lange bevor der cultural turn den mainstream der Friedensforschung erreichte, als ein zentrales Hindernis für die Zivilisierung von Gesellschaften ausgemacht. Der vorliegende Text ist die aktualisierte Fassung von Auszügen aus ihrer klassischen Studie »Sexism and the War System«. Dass ihr feministischer Ansatz zur Friedensforschung heute nach wie vor so aktuell wirkt, ist einerseits Beweis für die intellektuelle Qualität ihrer Untersuchung aus dem Jahre 1985, andrerseits aber ein weiterer Indikator dafür, dass sich an den von ihr denunzierten Machtverhältnissen nicht viel geändert hat. Die Einbeziehung ihres Ansatzes stellt jedenfalls einen Eckstein für jede Politik der Zivilisierung der Zivilisationen dar. Er geht, nicht von seinem Fokus, aber von seinem Konzept her, bereits über die Frage von Krieg und Frieden hinaus und schlägt somit eine Brücke zu den unterschwelligeren Gewaltverhältnissen im Alltag, die den Hauptgegenstand der Beiträge in den folgenden Kapiteln ausmachen.
Literatur Char, René (1962): »Feuillets d’Hypnos«. In: René Char, Fureur et mystère, Paris: Gallimard nrf. Deville, Patrick (2007): Pura vida. Leben und Sterben des William Walker, Innsbruck: Haymon. Freud, Sigmund (1974): »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915). In: Sigmund Freud, Studienausgabe, Band IX, Frankfurt: Fischer (3. korrigierte Auflage), S. 33-60. Galtung, Johan (1990): »Cultural Violence«. In: Journal of Peace Research, vol. 27, no. 3, S. 291-305. Hugger, Paul (1995): »Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt«. In: Paul Hugger/Ulrich Stadler (Hg.), Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich: Unionsverlag, S. 17-27. Morin, Edgar/Kern, Anne Brigitte (1999): Heimatland Erde. Versuch einer planetarischen Politik, Wien: Promedia. Traverso, Enzo (2008): Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945, München: Siedler.
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Kultur, Struktur und das soziale Unbewusste. Plädoyer für eine komplexe, ziv ilisationstheoretische Fr iedensforschung. Johan Galtungs Gewalt- und Fr iedenstheor ie kr itisch-konstruktiv weiterdenken Wilfried Graf
Einleitung Friedensforschung ist eine »nicht-normale«, eine »wilde« Forschungsrichtung, die stärker als die Politikwissenschaft auf Transdisziplinarität und Praxisrelevanz zielt. »Nicht-normale« Forschung ist mehr »bildende« als systematische Forschung, d.h. mehr kritisch-hermeneutisch und sozial-konstruktivistisch als empirisch-quantitativ, und damit vor allem dort sinnvoll und notwendig, wo es um eine »neue Unübersichtlichkeit«, um unbekanntes Terrain, um neues Denken geht, das vielleicht noch gar nicht systematisierbar ist. Seit 2006 wird an der Universität Klagenfurt an einem Forschungsprogramm »Kultur, Konflikt und Gewalt« gearbeitet, das mit seinem kultur- und zivilisationstheoretischen Ansatz der österreichischen Friedensforschung ein spezifisches Profi l im gesamten deutschsprachigen Raum verleihen könnte. Im folgenden Beitrag werde ich in diesem Zusammenhang erstens auf den »cultural turn« in der Friedensforschung eingehen. Die kulturelle Dimension blieb in der modernen Friedensforschung der 1960er und 1970er Jahre strukturfunktionalistischen bzw systemtheoretischen und dann 27
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– im Rahmen der »kritischen Friedensforschung« – gesellschaftskritischen und postmarxistischen Ansätzen untergeordnet. Erst in den 1990er Jahren rückte sie, zunächst im Rahmen poststrukturalistischer, feministischer und kultur- und sozialanthropologischer Ansätze, wieder in den Vordergrund. Ich versuche mit diesem Beitrag eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem Erbe der »kritischen Friedensforschung« anzuregen – in Richtung einer komplexen zivilisationstheoretischen Friedensforschung, die Kulturanalyse, Strukturanalyse und Akteursanalyse in praktischer Absicht (Friedensstiftung, Konfliktbearbeitung) zusammendenkt und mit konkreten Lösungsperspektiven verbindet. In diesem Zusammenhang werde ich vor allem auf Johan Galtungs Gewalt-, Konflikt- und Friedenstheorie näher eingehen. Sie teilt eine Reihe von Theoremen mit Kritischer Theorie, Politischer Ökonomie, Strukturfunktionalismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus und Cultural Studies und Psychoanalyse, ist aber auf einer paradigmatisch eigenständigen, wertorientierten, transdisziplinären Suche nach einer Theory of Peace, inspiriert von Gandhis integrativer Poly-Spiritualität. Galtung denkt in seiner Konflikt-, Gewalt- und Friedenstheorie jeweils Kultur, Struktur und Akteur zusammen. Konkret ermöglicht ein solcher komplexer Zugang für das anvisierte Klagenfurter Forschungsprogramm • einerseits, die Konfliktivität innerhalb und zwischen den Kulturen zu untersuchen (die »Widersprüche in der Kultur«, in Wechselbeziehung mit der Konfliktivität innerhalb der und zwischen den Strukturen und der Konfliktivität innerhalb der und zwischen den Akteuren/Subjekten), • andererseits, die kulturelle Dimension in konkreten Konfliktkonstellationen zu berücksichtigen (die kulturelle Dimension in den Widersprüchen, im Verhalten und den Interaktionen der Akteure). Zweitens werde ich auf die Möglichkeiten hinweisen, die Galtungschen Fragestellungen in kritisch-konstruktiver Weise zu weiter zu entwickeln bzw. zu transzendieren. Im Besonderen werde ich vorschlagen, Galtungs Theorie der strukturellen und kulturellen Gewalt um die Konzepte der symbolischen und imaginären Gewalt zu erweitern, sowie sein Konzept des »kollektiven Unterbewusten« mit mehr freudianisch gepägten, kulturhermeneutischen, »massenpsychologischen« und (kollektiv-)psychoanalytischen Ansätzen zu erweitern, in Richtung des Konzepts eines sozialen Vor- und Unbewussten. Drittens werde ich dafür plädieren, im Rahmen einer kulturbezogenen Friedens- und Konfliktforschung über den postmodernen »cultural turn« hinauszugehen, in Richtung eines transdisziplinären Forschungspro28
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gramms zu einer komplexen Weltzivilisationstheorie mit der Perspektive einer reflexiven »Zivilisierung der Zivilisationen«. Dabei werde ich Verbindungen zur sozialen Komplexitätstheorie von Edgar Morin aufgreifen, als mögliche paradigmatische Grundlage einer komplexen, zivilisationstheoretischen Friedensforschung. Damit versuche ich, über den postmodernen »cultural turn« hinaus zu einem »sanften«, d.h. von der Postmoderne aufgeklärten Universalismus »zurück« zu finden (vgl. Morin 1977-2004, Graf/Neumann 2007). Zunächst soll aber der Kontext – die Entwicklung der modernen Friedensforschung – skizziert werden.
Phasen der Fr iedensforschung: vom Struktur funktionalismus zum cultural turn … und darüber hinaus Die erste Phase der Friedensforschung ist im Rahmen der Disziplin der »Internationalen Beziehungen« zu verorten und blieb ethisch-normativ, strategisch-realistisch oder legalistisch (Friedensforschung I – »negativer« Friedensbegriff ). Die zweite Phase begann mit der »modernen« Friedens- und Konfliktforschung Ende der 1950er Jahre, zunächst strukturfunktionalistisch bzw. systemtheoretisch, aus der sich dann in den 1960er und 1970er Jahren in Skandinavien und Deutschland die »kritische Friedensforschung« entwickelte, mehr marxistisch oder strukturalistisch (Friedensforschung II – »positiver« Friedensbegriff ). Friedenswissenschaft II war die kritische Reflexion einer statischen, bi-polaren Weltkonfliktformation. Sie hatte einen strukturalistischen Friedens- und Gewaltbegriff (der »positive Frieden« als Abwesenheit von struktureller Gewalt, der »negative Frieden« als Abwesenheit von direkter Gewalt), der in drei Hauptvarianten auftrat: ein systemisch-strategischer Diskurs bei Senghaas, ein (post-)marxistisch-herrschaftskritischer Diskurs bei Krippendorff, ein holistischer, kritisch-»konstruktiver« Diskurs bei Galtung. Friedenswissenschaft II konzentrierte sich auf dissoziative Friedensstrategien (»strukturelle Gewalt« und »self-reliance« bei Galtung, »Abschreckungsautismus« und »autozentrierte Entwicklung« bei Senghaas) und blieb als solche selbst einer statischen Konflikttransformation verhaftet: Die Auf klärung über die umfassenden Gewaltverhältnisse sollte über eine kulturrevolutionäre Friedensbewegung zu einer gewaltfreien Strukturveränderung führen. Die Konzepte »personale« und »strukturelle« Gewalt standen sich damals dualistisch gegenüber, noch ohne Verbin-
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dung durch die vermittelnden Begriffe »kulturelle« oder »symbolische« Gewalt. In den 1980er Jahren trat die Friedenswissenschaft in ihre poststrukturalistische Phase (Friedensforschung III), während sie weiterhin an statischer Konflikttransformation und dissoziativen Strategien festhielt: Der »negative Frieden« wurde zum Hauptgegenstand, die Konzepte für »alternative Sicherheit« bemühten sich um mehr Machbarkeit, und sozialpsychologische Fragestellungen wurden attraktiv. Nach 1989 kommt es zur sozialkonstruktivistischen Phase (Friedensforschung IV): Der soziale Konstruktivismus löst den Strukturalismus endgültig ab, die »strukturelle Gewalt« wird »entsorgt«, die Friedensstrategien werden assoziativ und normativ statt dissoziativ und kritisch, das konstruktive »Frieden denken« bei Senghaas ersetzt die Gewaltkritik, die »kulturelle Gewalt« bei Galtung wird gegenüber der »strukturellen Gewalt« zum Hauptgegenstand, die »politische Ökonomie« wird abgelöst durch die »Kritik der Politik« bei Krippendorf, die Praxeologie reflektiert die multipolare Dynamik der globalen und europäischen Umbrüche (»zivile Konflikttransformation«). Diese Phase zielt nicht zuletzt auf einen »cultural turn« in der Friedenswissenschaft. Dazu gehören: • das »zivilisatorische Hexagon« bei Senghaas (1995), als ein zivilisatorischer Entwicklungsstrukturalismus, • die Weiterentwicklung der »sozialen Kosmologie« bei Galtung (1996), als eine zivilisationskritisch-therapeutische Tiefenhermeneutik, • die »Kunst nicht regiert zu werden« bei Krippendorff (1999), als ein herrschaftskritischer Poststrukturalismus. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung der ehemals postmarxistisch und strukturalistisch geprägten »kritischen Friedensforschung« nach dem Ende des Kalten Kriegs werden auch kulturelle Faktoren immer stärker einbezogen: Theologie und Psychotherapie (Galtung), Literatur (Krippendorff ) und Musik (Senghaas). Seither hat ein Generationswechsel stattgefunden und v.a. in Deutschland sind viele Söhne, Töchter und Enkel der ehemals »kritischen Friedensforschung« in die »Internationalen Beziehungen« zurückgewandert, oft mit sozialkonstruktivistischen, systemtheoretischen oder poststrukturalistischen Theoremen. »Die neue Konfliktforschung versucht, politisch abstinent zu sein und sich dem Werten möglichst zu enthalten. Sie konzentriert sich auf die personale Gewalt und kritisiert den Begriff der strukturellen Gewalt.« (Mäder 2005: 158f.)
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Fr iedensforschung V: Plädoyer für eine komplexe, zivilisationstheoretische Fr iedensforschung Dennoch bzw. gerade deshalb ist heute eine grundlegende Selbstreflexion der modernen Friedensforschung erfordert. Dabei stellen sich der Friedensforschung m.E. heute vor allem zwei Herausforderungen: Einerseits stellt sich wieder verstärkt die Frage nach einer Rückkehr zu den wissenschaftstheoretischen Wurzeln von Transdisziplinarität, nach den »Kompositionsproblemen« von »komplexen Theorien« (Senghaas), nach den Möglichkeiten und Bedingungen eines komplexen Verstehens der »Komplexität« von Gewalt und Frieden. Das übliche Verständnis von »Komplexität«, wie etwa von der Systemtheorie entwickelt, reicht nicht aus, wenn es um die Interdependenzen komplexer sozialer Beziehungen wie Zivilisation oder Barbarei, Gewalt oder Frieden geht. In der kritischen Friedensforschung wurde diese Problemstellung früh erkannt – heute wird sie jedoch meistens verdrängt (vgl. die frühen methodologischen Reflexionen der Kompositionsprobleme komplexer Theorien bei Senghaas). Die »kritische« Systemtheorie zielt heute auf ein neues Verständnis von Komplexität. In diesem Sinn kritisierte etwa G. Midgley (1991) auf der 35. Jahrestagung des »International Society for Systems Science« in Östersund/ Schweden den »Isolationismus« nicht nur der traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch vieler interdisziplinärer Unternehmen und der Systemtheorie selbst und forderte Bemühungen in Richtung eines komplexen Verstehens von »ontologischer Komplexität«: als ganzheitliches Verstehen der komplexen Interdependenzen und Ungleichzeitigkeiten von natürlicher, sozialer und intrapersönlicher Komplexität. In eine ähnliche Richtung gehen die grundlegenden methodologischen Arbeiten des französischen Soziologen Edgar Morin (Morin 1977-2004). Andererseits stellt sich heute verstärkt die Frage nach einer Rekonstruktion des Politischen, nach einem neuen Verständnis von Friedenspolitik und Friedenspädagogik, nach einem neuen Praxisbezug (für konkrete Solidarität ohne die vertrauten ideologischen oder utopischen Versicherungen, für praktische Methoden interaktiver Konfl iktbearbeitung von der individuellen bis zur globalen Ebene). Diese Herausforderungen ändern aber auch die internen Rahmenbedingungen der Forschung. Friedensforschung kann heute – nach 50 Jahren internationaler Forschung und mit hunderten Instituten rund um die Welt – nicht mehr mit einer bloß additiv verstandenen »Interdisziplinarität« betrieben werden. Gerade der angestrebte Ausbildungs- und Praxisbezug erfordert, die traditionellen Grenzen und Begrifflichkeiten der zugrundegelegten vielfältigen Disziplinen nicht nur im Einzelnen zu transzendieren, sondern den Anspruch auf Transdisziplinarität auch zu 31
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systematisieren. Friedensstudien müssten deshalb stets in kritischem Bezug zu diesem erreichten Niveau – und der gerade in den letzten Jahren erneuerten Debatte – stattfinden und dabei sowohl die Kompatibilität zu den universitären Wissenschaftsdisziplinen selbst als auch die Tendenz zu ihrer Transzendierung berücksichtigen.
Ein histor ischer Pionier von Fr iedensforschung V: Hermann Broch Eine solche langfristige forschungsstrategische Rahmenkonzeption von Friedensforschung und Friedenslehre forderte schon 1944 der österreichische Schriftsteller und Philosoph Hermann Broch in seinem Konzept für eine »International University« der UNO (Broch 1978: 414ff.): »Und eben in dieser Ganzheit – und nicht nur in einzelnen Zweigen – wird die Wissenschaft dem Frieden und seiner Organisierung dienstbar gemacht werden müssen. […] und dies ist eine Spannweite, die ohne systematische Gliederung und Durcharbeitung nicht einheitlich zu erfassen, also auch nicht einheitlich in den Dienst der Humanitäts-Politik gestellt werden kann, wie es die Friedensorganisation erforderte.«
Das wissenschaftliche Material einer künftigen Friedensorganisation muss aus ökonomischen, historischen, geschichtsphilosophischen, psychologischen Forschungsresultaten bestehen. Für Broch bedarf es letztlich einer soziologisch gefassten politischen Ethik, »ohne die keinerlei gültige Friedensorganisation zu etablieren ist« (ebd.). Als notwendige Grundlegungen einer solcherart bestimmten politischen Ethik nennt Broch • eine geschichtstheoretische Grundlegung, • eine anthropologische Grundlegung, • eine psychologische Grundlegung unter besonderer Berücksichtigung der massenpsychologischen Phänomene. Es geht Broch also um eine transdisziplinäre Transformation nicht nur der Geisteswissenschaften, sondern der Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften hin zu allgemeinen »Humanwissenschaften«, die ihrerseits die Grundlage für eine umfassende Friedenswissenschaft sein sollen. »Soll die neue Organisation nicht wie der alte Völkerbund eine brüchige Improvisation werden, so wird sie eine viel straffere Struktur als jener haben müssen. Eine solche aber ist – allen Nur-Politikern zutrotz – ohne gründlichen theoretischen Unterbau nicht zu schaffen.« (Ebd.) Eine solche transdisziplinäre Transformation nicht nur der Geisteswissenschaften, sondern der Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften zu 32
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allgemeinen »Humanwissenschaften« muss m.E. zur langfristigen forschungsstrategischen Grundlage von Friedensforschung gemacht werden. Auf Basis einer eigenständigen »Grundlagenforschung« innerhalb der scientific community der FriedensforscherInnen muss wieder ein »Paradigma« – ein genereller Denkrahmen – erarbeitet werden. Damit könnten m.E. die geforderte Kontinuität, »Synergie« und »Vernetzung« – zwischen Forschung und Lehre, zwischen Wissenschaft und Politik – erneuert werden. Ich denke dabei mit Broch an den Versuch einer »Synthese« bereits existierender »komplexer«, ganzheitlich-humanwissenschaftlich orientierter Ansätze – auf Basis der transdisziplinären »Generalnenner-Begriffe« Kultur, Gesellschaft, Individuum, und zwar an die: • machttheoretische Grundlegung, • handlungs- und bewusstseinstheoretische Grundlegung, • kulturtheoretische Grundlegung von Gewalttheorie und Friedensforschung. Dabei geht es nicht darum, für die geforderten transdisziplinären Integrationsbestrebungen eine neue große Grundtheorie vorzuschlagen, sondern um die Synthetisierung methodologisch relativ autonomer Theorie-Diskurse – im wesentlichen von • psychologischen, psychohistorischen, ethnomethodologischen Diskursen, • gesellschaftskritischen bzw. kritischen strukturfunktionalistischen und kritischen systemtheoretischen Diskursen, • geschichts- und zivilisationstheoretischen bzw. historisch-anthropologischen und kulturtheoretischen Diskursen. Nun lassen sich zwischen diesen Triaden Isomorphien herstellen, die eine transdisziplinäre Integration wichtiger Theoreme der Friedenswissenschaft erlauben und darüber hinaus die Komposition methodologischer Bedeutungshorizonte für eine komplexe Theorie des globalen Zivilisationsprozesses ermöglichen. Das Zusammendenken des Zusammenhangs erfordert ein dreifaches Verstehen auf theoretisch und methodisch gänzlich unterschiedlichen Vermittlungsebenen, die relativ autonom erfasst und reflexiv bearbeitet werden müssen und nur zusammengefasst werden können, wenn man ihre relative Autonomie innerhalb des Zusammenhangs mitreflektiert. Auf diese Weise könnten Annäherungen an das geforderte Verstehen »ontologischer Komplexität« (Midgley) in Hinblick auf Gewalt, Zivilisation und Frieden ermöglicht werden:
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Verstehen »ökologischer, kultureller, anthropologischer« Konfliktverarbeitung auf der Ebene der »longue durée« von sozialen »Kosmologien«/Kräften/Energien, Verstehen »sozialer, struktur-historischer« Konfliktverarbeitung auf der Ebene von militärischen, politischen, ökonomischen, kulturellen Machtstrukturen/strukturellen Prozessen/Zyklen Verstehen »psychischer, sozialpsychologischer, psycho-historischer« Konfliktverarbeitung auf der Ebene von individuellen/kollektiven, intrapersonalen/interpersonalen/transpersonalen Akteuren bzw. Lebensgeschichten.
Ein möglicher integrativer Bezugsrahmen ist die »Theorie der Komplexität« Edgar Morins, die Kultur, Struktur und das Unbewusste zusammendenkt (Morin 1977-2004). Sie ermöglicht m.E. eine grundlegende Selbstreflexion und Reintegration der modernen Friedensforschung, ihrer bisherigen paradigmatischen Theoreme und Grundbegriffe, die Weiterentwicklung der bisherigen zivilisationstheoretischen Ansätze in der neueren Friedensforschung nach 1989 sowie die Perspektive einer komplexen Welt-Zivilisationstheorie als längerfristiges, integratives Forschungsprogramm. Eine komplexe Friedenswissenschaft in praktischer Absicht wird die intellektuellen Odysseen der »kritischen Friedenforschung« von Galtung, Senghaas und Krippendorff und vieler anderer FriedensforscherInnen kritisch-konstruktiv reflektieren und integrieren müssen. Ihre Theoreme sind aber erst in einen produktiven Gesamtzusammenhang zu setzen, wenn sie mit anderen transdisziplinären Ansätzen und anderen integrativen Diskursen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften verbunden werden. Innerhalb der Theoriegeschichte der »kritischen Friedensforschung« könnte dabei nach dem tieferen Zusammenhang auseinander driftender Theoreme (z.B. des Galtungschen Konzepts des tiefenkulturellen Zusammenhangs von Zivilisation und sozialer Kosmologie, des Krippendorffschen Konzepts des strukturellen Zusammenhangs von Staat und Krieg, des von Senghaas inspirierten Konzepts des perzeptionstheoretischen Zusammenhangs von Autismus und internationaler Politik) gesucht werden. Hier wären ganzheitlichere produktive Hypothesen möglich, wenn diese Theoreme mit neueren sozialphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen, etwa den neueren Kulturtheorien, konstruktivistischen Sozialtheorien, kritischen Systemtheorien verbunden würden. Im Rahmen dieses Beitrags zu »Kultur, Gewalt und das Unbewusste« werde ich vor allem auf Johan Galtungs Gewalt-, Konflikt- und Friedensforschung eingehen, die im Jahre 2008 ihren 50-jährigen Geburtstag feierte. Galtung hat aus diesem Anlass eine kompakte Synthese seines Werks vorgelegt: »50 Years – 25 Intellectual Landscapes Explored« (Galtung 2008), 34
Kultur, Struktur und das soziale Unbewusste
die in diesem Beitrag vorerst nur teilweise berücksichtigt werden konnte. Trotzdem werde ich hier vorschlagen, Galtungs Ansätze nicht nur erneut zu rezipieren, sondern auch mit philosophisch-anthropologischen und sozial- und tiefenpsychologischen Ansätzen kritisch-konstruktiv weiterzudenken.
Kultur, Struktur und das »kollektive Unterbewusste«: Galtungs tr ilaterale Konflikt-, Gewaltund Fr iedenstheor ie Mit der Friedensforschung Galtung`scher Prägung wird ein entscheidender Paradigmenwechsel in der Zivilisationstheorie eingefordert: die epistemologische Überwindung des Konzepts eines Zivilisationsprozesses im Singular, hin zu einem tiefensoziologischen Verstehen der komplexen Interaktion der Zivilisationen, hin zu einem welt-zivilisationstheoretischen Forschungsprogramm. Eine grundlegende These ist dabei die Dimension eines »kollektiven Unterbewussten« in der Geschichte, das in Krisen an die Oberfläche drängt. Im Besonderen wird dabei die Rolle der Religion bzw. allgemeiner der »sozialen Kosmologie« im sozialen und internationalen Wandel untersucht. »Vorerst verfügen die Friedensforschung und die mit ihr transdisziplinär kooperierenden Wissenschaftszweige (z.B. Soziologie, Zivilisations-/Kulturtheorie, Psychologie) jedoch ›nur über vage Anfänge einer Therapie exzessiv kriegerischer Zivilisationen‹. Einen Ansatzpunkt dafür, wie die Prämissen im Rahmen praktischer Konflikttransformationsbemühungen zu operationalisieren wären, bietet der von Galtung herausgearbeitete Zusammenhang zwischen den tiefenkulturellen, konkret: psychopathologischen Prägungen von sozialen Kollektiven und ihren politischen Führern. Das verbindende Medium zwischen Zivilisationskultur und Persönlichkeitsstruktur bildet in der Terminologie Galtungs der Begriff der Kosmologie. Sie bezeichnet die tieferen Aspekte der Kultur einer Gesellschaft, die im sozialen Kontext institutionalisiert und von den einzelnen Individuen internalisiert werden. Eine »Um-Kodierung« der Kosmologie muß folglich den »Zusammenhang zwischen den Prägungen der Eliten und der Bevölkerungen im Auge behalten« (Schrader 2000: 233).
Galtungs Friedensforschung ist eingebettet in eine komplexe Epistemologie wissenschaftlicher Forschung, mit dem Fokus auf werte-orientierte Felder wie Frieden und Entwicklung sowie in eine Sozialanthropologie der menschlichen Grundbedürfnisse und eine Sozialphilosophie von »positivem/nachhaltigem/gerechten« Frieden. Sie basiert auf einem trilateralen 35
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Wissenschaftskonzept, einer Verbindung von kritischer Gesellschaftstheorie, empirischer Sozialforschung und pragmatischem Konstruktivismus (Galtung 2002). Ein solcher Ansatz führt zu einem neuen Wissenschaftskonzept, welches theoretische Komplexität mit partizipatorischer Aktionsforschung vereint und – mit Fokus auf die menschlichen Grundbedürfnisse – die Kombination von kritischer Werte-Orientierung mit pragmatischer Lösungs-Orientierung ermöglicht. Galtungs Theorie der Gewalt bezieht den gesamten Kontext einer Gesellschaft bzw. einer Kultur in die Analyse mit ein, die kulturellen Prägungen, die wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsverhältnisse und die Rollen von Individuen als Akteure und Betroffene in Gewaltverhältnissen, aber auch die psychologischen, strukturellen und kulturellen Tiefendimensionen. Er vermeidet damit die Einseitigkeit anderer Paradigmen, etwa die Annahme der »Realisten«, dass nur die militärische Macht (wirklich) zähle; die Annahme der »Liberalen«, dass es bloß die richtige politische Struktur brauche; oder den Glauben der »Marxisten« an die richtige ökonomische Struktur. Er weiß natürlich auch, dass ein einseitiger Kulturalismus nicht ausreicht, ebenso wenig wie ein einseitiger Tiefenkulturalismus, wenn es um die Tiefendimensionen von Psyche, Struktur und Kultur geht. Wenn auch manche Zitate dies nahe zu legen scheinen, kann man in Galtungs Gesamtwerk kein Primat der Kultur erkennen. Dadurch dass Galtung in seiner Konflikt-, Gewalt- und Friedenstheorie jeweils Kultur, Struktur und Akteur zusammendenkt, liefert er die Basis, um über den postmodernen »cultural turn« hinauszugehen. Dabei ist es wichtig, zunächst genauer auf seine Definitionen von »Struktur« und »Kultur« als zweier komplementärer Dimensionen des Sozialen einzugehen (Galtung 1997: 76f.): »[Für die Definition] bedienen wir uns einer einfachen Formel: sozial = strukturell + kulturell. Wenn wir von ›Struktur‹ sprechen, meinen wir nichts anderes als ›Interaktionsmuster‹, eine makroperspektivische, allgemeine Vorstellung des ›wer steht in Bezug zu wem, wie, wann und wo‹. Es ist dies, als ob man den sozialen Verkehr von der Spitze des Empire State Buildings aus betrachten würde und nicht die einzelnen Verkehrsteilnehmer von den Ecken der Fifth Avenue und der 42nd Street aus in New York City. Der Nachdruck liegt dabei auf ›Muster‹ und nicht auf den einzelnen Variationen. Es gibt keine individuellen Namensschilder. Die Menschen werden als ›Fahrer‹, ›Polizist‹, ›Fußgänger‹ klassifiziert. Die Struktur ändert sich im Lauf der Zeit und kann nicht getrennt von der Vorstellung eines ›Prozesses‹ verstanden werden; man wird Stabilität konstatieren und säkulare (Aufwärts- oder Abwärts-)Trends sowie Zyklen (jeglicher Zeitperioden, wie z.B. die 24-Stunden- oder 365-Tage-Zyklen). […] Unter Kultur verstehen wir das ›was‹ und ›warum‹ der Interaktion; und das ›was nicht/warum nicht‹, das zur Erklärung fehlender Interaktion benötigt wird: die nicht
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vorhandene Struktur, das fehlende Interaktionsglied. Während Interaktion zwischen Akteuren stattfindet (und ein Interaktionsmuster die Mega-Version der einzelnen Interaktion ist) ist Kultur etwas, das sich innerhalb der einzelnen Akteure vollzieht. Dieser Vorgang ist jedoch nicht zwangsläufig auf ein Individuum beschränkt, er kann sich gleichzeitig und gleichartig auch in anderen Individuen vollziehen. Ein Kulturmuster ist die Mega-Version des individuellen ›warum‹ und ›warum nicht‹; die Summe wechselseitiger, mit der Interaktion verbundener Rechte und Verpflichtungen, sind die (gemeinsamen) Erwartungen, ist, kurz gesagt, eben die verbindliche Normen setzende Kultur.«
Galtungs Kulturbegriff lässt sich somit als ein »bedeutungs- und wissensorientierter Kulturbegriff« (oder auch mentalistischer Kulturbegriff ) bezeichnen, der auf die mentalen Bedeutungen abzielt, die das Handeln der Akteure sinnvoll machen – in Abgrenzung zu • einem »normativen« Kulturbegriff in Deutschland, der ursprünglich auf die Aufklärung zurückgeht, • zu einem auf Herder zurückgehenden »totalitätsorientierten« (oder holistischen) Kulturbegriff, der in bestimmten Strömungen der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie dominiert, sowie • zu einem eher einschränkenden, »differenztheoretischen« Kulturbegriff (Kultur als ästhetisches Subsystem), der in manchen Varianten der empirischen Kultursoziologie oder Cultural Studies dominiert. Dieser bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff wird auch von Peter Heintel in seiner Annäherung an »Kulturelle Nachhaltigkeit« präferiert (Heintel 2007: 80), unter Rückgriff auf eine auf Andreas Reckwitz zurückgehenden Typologie: »Wenn in den modernen Kulturtheorien von ›Kultur‹ die Rede ist, dann hat sich dieser Begriff von den normativen Konnotationen, wie sie im Kulturverständnis der Aufklärung selbstverständlich waren, vollständig gelöst. Anders als in manchen Feldern empirischer Kultursoziologie und der Cultural studies wird Kultur hier jedoch auch nicht als ein insbesondere ästhetisches Subsystem der Gesellschaft oder in Herderscher Tradition als die Totalität einer gesamten, von Menschen ›gemachten‹ Lebensform verstanden. Kultur erscheint vielmehr nun als jener Komplex von Sinnsystemen oder – wie häufig formuliert wird – von symbolischen Ordnungen, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen und einschränken.« (Reckwitz 2006: 84)
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Eine tr ilaterale Theor ie der Gewalt Die Mehrheit der Ansätze, die sich mit Konflikten beschäftigen, hat ein beschränktes Verständnis von Gewalt als direkter Gewalt. Selbst Hannah Arendts Theorie einer Unterscheidung von Macht und Gewalt und René Girards Theorie über Gewalt und Mimesis (Arendt 1970; Girard 1987) beinhalten zwar wichtige Aspekte für die Komposition einer komplexen Gewalttheorie, beschränken sich jedoch auf ein Konzept direkter Gewalt. Auf Basis seiner komplexen Sozialtheorie entwirft Galtung hingegen eine komplexe trilaterale Theorie der Gewalt: direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt, und im Folgenden eine Theorie des Friedens, eine Theorie der Entwicklung und eine Theorie der Zivilisation (vgl. Galtung 1998a, 2008). Die Differenzierung in direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt als theoretisches Modell geht über die gängige Vorstellung von Gewalt hinaus. Ein Aufstand, eine Revolte, eine Revolution mit der damit einhergehenden Gewalt bleiben rätselhaft ohne das tiefere Verständnis von Gewalt. Kollektive Gewalt entsteht nicht grundlos, obgleich ein Grund keine Rechtfertigung darstellt. Diese Art direkter Gewalt ist ein Ereignis. Um das Ereignis zu verstehen, muss man den Prozess verstehen, der dazu geführt hat. Strukturelle Gewalt ist die Differenz zwischen der potentiellen und der aktuellen Situation. Obgleich das Potentielle und das Aktuelle nie wirklich komplett miteinander übereinstimmen werden, geht es doch um die enorme, besorgniserregende Kluft zwischen den beiden. Eine gewalttätige Struktur (manchmal sichtbar, meist nicht) verhindert die Entwicklung der Gruppe und des Einzelnen. Kulturelle Gewalt ist am schwersten zu verändern, sie ist die tief verwurzelte Konstante, welche direkte und strukturelle Gewalt legitimiert und generiert. In Bezug auf kulturelle Gewalt identifiziert Galtung sechs Bereiche (Religion und Ideologie, Sprache und Kunst, empirische und formale Wissenschaft) und versucht dabei, die kulturellen Muster aufzuspüren, die dazu genutzt werden, direkte oder strukturelle Gewalt zu legitimieren (vgl. Galtung 1990; 1998a). Direkte Gewalt ist ein Ereignis, strukturelle Gewalt ist ein Prozess mit Höhen und Tiefen, kulturelle Gewalt ist eine Konstante, eine »Permanenz«, die aufgrund der langsamen Transformationen grundlegender Aspekte der Kultur über lange Zeiträume hinweg im Wesentlichen unverändert bleibt. Galtung vergleicht die Zeitachse der drei Gewalttypen mit der Erdbeben-Theorie: das Erdbeben als Ereignis (direkte Gewalt), die Bewegung der tektonischen Platten als Prozess (strukturelle Gewalt) und die Bruchlinie zwischen den Platten als ein eher permanenter Zustand (kulturelle Gewalt). 38
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»There is a basic difference in the time relation of the three concepts of violence. Direct violence is an event; structural violence a process with its up and downs, and cultural violence a ›permanent‹, remaining essentially the same for long periods given the slow transformations of basic culture. Put in the useful terms of the French Annales school in history: evenementielle, conjoncturelle, la longue duree. […] At the bottom is the steady flow through time of cultural violence, a substratum from which the other two can derive their nutrients. In the next stratum the rythms of structural violence are located. […] And at the top, visible to the unguided eye, is the stratum of direct violence with the whole record of direct cruelty perpetrated by human beings on each other. Barefoot empiricism carries that far.« (Galtung 1998b: 349f.)
Von diesem Standpunkt aus kann »Entwicklung« als ein Prozess struktureller Konflikttransformation definiert werden, auf der Suche nach der Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse, mit der möglichen Zunahme an struktureller Gewalt oder der möglichen Zunahme an strukturellem Frieden. Demnach ist »Zivilisation« als Prozess von kultureller Konflikttransformation zu sehen, mit der möglichen Zunahme an kultureller Gewalt oder aber der möglichen Zunahme an kulturellem Frieden gegenüber dem »Anderen«. Galtungs Begriff von Gewalt orientiert sich weniger am Täter, am Ziel oder an den Mitteln der Gewalteinwirkung, auch nicht ausschließlich am Opfer, sondern mehr an der Beziehung Täter-Opfer, und er schließt dabei »strukturelle« und »kulturelle Gewalt« mit ein. Der Begriff der »strukturellen Gewalt« hat in der neueren Friedensforschung und über diese hinaus in der sozialwissenschaftlichen Diskussion Geschichte gemacht. Galtung hat erste Konzeptionen dieses Gewaltbegriffs in verschiedenen Aufsätzen ab 1964 und vor allem 1969/71 entwickelt. In der deutschen Friedensforschung kam es m.E. zu einer falschen Kritik (statt produktiven Weiterentwicklung) der Galtungschen Begriffe der »strukturellen« und »kulturellen Gewalt«. Man warf ihnen vor, nicht genug operationalisierbar für empirische Analysen zu sein. Klaus Ottomeyer hat hingegen schon 1989 vorgeschlagen, diese nicht als eindeutig definierte, mathematisch operationalisierbare Modelle von Wirklichkeit zu verstehen, sondern mehr als kritisch-hermeneutische Begriffe, die – weit davon entfernt, deskriptiv im Sinne einer photographischen Wiedergabe der Wirklichkeit zu sein – Abstraktionen sind, die doch den Bezug zur Erfahrungswelt behalten (Graf/Ottomeyer 1989: 15ff.). So verstandene wissenschaftliche Grundbegriffe stehen dabei in einem »dialektischen« Bezug zur Wirklichkeit – sie dienen nicht bloß der Abbildung oder der reinen Kritik, sondern einer gehaltvollen Konstruktion von Wirklichkeit. In ähnlicher Weise sprach Max Weber von »Gedankenbildern«, »Grenzbegriffen« 39
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oder »Konstruktionen«, Theodor W.Adorno von »Konstellationen«, Norbert Elias von »Figurationen«. Kritisch-konstruktive Friedensforschung sollte es sich m.E. jedenfalls nicht nehmen lassen, ihre Begriffe von Gewalt und Frieden ebenfalls so zu verwenden. In diesem Abschnitt (wie auch im nächsten zu Hans Saner) übernehme ich deshalb einige Passagen, die ich gemeinsam mit Klaus Ottomeyer 1989 publiziert habe, weil ich sie für ein Forschungsprogramm »Kultur, Konflikt und Gewalt« immer noch für besonders produktiv halte (Graf/ Ottomeyer 1989). Gewalt lässt sich mit Galtung ganz allgemein als vermeidbare Entwicklungsbehinderung von Menschen definieren, als »Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist« (Galtung 1975: 9). Galtung grenzte sich mit dem strukturellen Gewaltbegriff – im Rahmen einer zunächst noch eher pragmatischen, phänomenologischen Typologie – vor allem aus forschungsstrategischen Gründen von zwei verbreiteten sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen an das Gewaltproblem ab: • erstens von einer theoretischen Konzentration auf Handlungen oder Ereignisse bzw. auf die Kapazitäten und Motivationen von Akteuren, und richtete demgegenüber sein Forschungsinteresse auf die Auswirkungen von Gewalt (Zerstörung bzw. Behinderung von Selbstverwirklichung); • zweitens von einer methodischen Konzentration auf das fragmentierte Arbeitsfeld einer spezifischen Disziplin (Psychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Ökonomie, Anthropologie, Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen, Geschichte, Völkerrecht etc.) bzw. auf eine bestimmte Ebene sozialer Organisation (z.B. intra/inter-Personen, intra/ inter-Gruppen, intra/inter-Gesellschaften). Strukturelle Gewalt hat im Unterschied zur personalen, direkten, dramatischen, momentanen Gewalt ein nicht-personales Subjekt; sie ist eine gesellschaftliche Ordnungs-Gewalt mit Objekten wie Klasse, Schicht, Geschlecht, Lebensalter; eine Wirkungs-Gewalt in Richtung Verelendung, Hunger, Entkräftung und Tod von Menschen; eine langsame, nicht direkt beabsichtigte Prozess-Gewalt auf Basis der Herrschaft von gesellschaftlichen Verhältnissen und verdinglichten Strukturen über die Individuen, die letztlich aber immer Schöpfer jener Verhältnisse und Strukturen waren und – auf gebrochene Weise – bleiben. Strukturelle Gewalt kann nur dadurch existieren, dass die Individuen auf der personalen, unmittelbaren Ebene einander und sich selbst Gewalt antun, z.B. sich disziplinieren, meist durch den »Doppel-Charakter von Selbst-Gewalt und Fremd-Gewalt« (Saner 1982: 79). Personale Gewalt exis40
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tiert über längere Zeit nicht ohne strukturelle Bedingungen; im Grunde geht es um die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem, von erscheinender Unmittelbarkeit im Bereich der mit Absicht handelnden Personen und ihrer gesellschaftlichen (inklusive zeitlichen/historischen) Vermitteltheit. In der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen diesen beiden Dimensionen liegt die Schwierigkeit.
Eine Anthropologie der menschlichen Grundbedür fnisse Ab 1980 systematisiert Galtung die Typologie der Gewalt auf Grundlage eines Konzepts menschlicher Grundbedürfnisse. Die historische Anthropologie dieses Ansatzes stellt den Menschen in das Zentrum sozialer Entwicklung und friedlicher Konflikttransformation. Als empirisch-qualitatives, negatives Kriterium für solche Grundbedürfnisse dient dabei der Begriff der »Desintegration« – die auf individueller Ebene von körperlicher und psychischer Krankheit bis hin zum Tod, auf gesellschaftlicher Ebene von Apathie und Anomie bis hin zur Revolution reichen kann. Davon ausgehend konzipiert Galtung vier gleich wichtige Klassen von qualitativen menschlichen Grundbedürfnissen (in Abgrenzung von verschiedenen Hierarchien der Bedürfnisse u.a. bei Maslow) als Fokus eines inter- und transdisziplinären humanwissenschaftlichen Pluralismus: das Bedürfnis nach Überleben, das Bedürfnis nach Wohlstand, das Bedürfnis nach Identität und das Bedürfnis nach Freiheit: • Überleben, entgegengesetzt dem Tod; • Wohlbefinden, das, wovon wir leben, wie Nahrung, Kleidung, Behausung, Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen; • Identität, das, was wofür wir leben, der Sinn des Lebens; und • Freiheit, d.h. gleiche Wahlmöglichkeiten zu haben. • Alle Bedürfnisse beziehen sich aufeinander und sind voneinander abhängig. Überleben und Freiheit werden durch eher personale, von identifizierbar Handelnden hervorgebrachte Gewalt beeinträchtigt und zerstört: • das Überleben durch direkte, materielle Gewalt, im Extremfall durch den Holocaust, • die Freiheit durch direkte, nicht-materielle Verweigerung der Menschenrechte, im Extremfall durch KZ oder Gulag. Wohlbefinden und Identität werden eher durch strukturelle Gewaltverhältnisse beeinträchtigt: 41
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Wohlbefinden durch indirekte Nicht-Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse, durch Unterentwicklung oder abhängige Entwicklung, im Extremfall durch den »stillen Holocaust« des Hungers, Identität durch indirekte Nicht-Befriedigung nicht-materieller, geistigkultureller Bedürfnisse, durch gesellschaftliche Produktion von Entfremdung, im Extremfall durch einen »spirituellem Tod«.
In diesem reformulierten Konzept dienen die Gewalttypen in Hinblick auf die vier Grundbedürfnisse nicht mehr bloß der heuristischen Klassifi kation, sondern stellen selbst wichtige theoretische Dimensionen für eine Theorie der Gewalt dar. Die phänomenologische Unterscheidung ist nicht mehr so zentral, im Mittelpunkt steht vielmehr die Erforschung der Beziehungen zwischen diesen Formen der Gewalt. Im Unterschied zu Marx und Freud definiert Galtung materielle und immaterielle Grundbedürfnisse in keiner Weise als hierarchisch, sondern als gleichwertig: Überleben, Wohlbefinden, Identität und Freiheit. Die Frage ist, welche dieser Grundbedürfnisse bedroht sind (und sei es nur in der Vorstellung einer der Konfliktparteien) bzw. als Priorität angesehen oder aber verdrängt werden. Entscheidend ist weiters, dass diese Grundbedürfnisse sowohl durch direkte als auch durch strukturelle und kulturelle Gewalt bedroht werden können. Betrachtet man einen Konflikt aus dieser Perspektive, so werden nicht nur tiefere Konfliktursachen sichtbar, sondern es kommen auch alternative Lösungen ins Blickfeld. Alle Menschen haben Grundbedürfnisse, d.h. von der gesamten Menschheit geteilte Bedürfnisse; diese sind gleichzeitig universal (ungeachtet der eigenen Biographie, der eigenen kulturellen Bedeutungen oder sozialen Strukturen) und individuell (eingebettet in die eigene Biographie, die eigenen kulturellen Bedeutungen und sozialen Strukturen). In der Debatte um Universalität oder Partikularität solcher menschlichen Grundbedürfnisse sei auf die Kritik Edward Saids an Michel Foucault verwiesen, der sich auf eine holländischen Fernsehdiskussion zwischen Chomsky und Foucault 1974 bezieht (Said 1983; Chomsky 1981). Beide stimmten darin überein, dass der politische Kampf für soziale Emanzipation die Analyse der Macht- und Gewaltformen heutiger Gesellschaften zur Aufgabe hat. Neben einer solchen Analyse bedarf es laut Chomsky auch einer Vision einer zukünftigen Gesellschaft, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigen solle. Foucault war gegen solche Visionen, wie die Idee einer gerechten Gesellschaft, da solcherlei Visionen einzig Erfindungen der eigenen Zivilisation, des eigenen Klassenkampfs und des eigenen Machtkampfes seien. Galtung würde in dieser Debatte nach einer komplexen, »transzendierenden« Position suchen: »sowohl als auch – und noch etwas darüber hinaus«. 42
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Menschliche Grundbedürfnisse sind das, was uns als Mensch defi niert. Nach Ken Wilbers Terminologie könnte man sich auch auf physiologische, soziale, spirituelle und psychologische Bedürfnisse berufen (Wilber 1995). Aber im Gegensatz zu idealistischen (Wilber, Maslow) oder materialistischen (Marx, Heller) Hierarchien der Grundbedürfnisse lehnt Galtung, wie auch Max-Neef (1991), eine Hierarchie der Grundbedürfnisse ab. Peter Lawler hebt den kontroversiellen Aspekt dieses Ansatzes hervor: »The defenders of different types of social formations would argue that it is only within their preferred society that human needs are best understood and satisfied. In order for a theory of human needs to have critical effect, it must therefore be able to distinguish between true and false needs, a fact acknowledged by many needs theorists. Beyond identifying the most basic needs – the prerequisites for human existence – needs-talk is necessarily contingent upon a whole host of culturally and ideologically specific categories. Connected with this are difficulties with distinguishing various needs from the closely related category of wants.« (Lawler 1995: 140f.)
Die schon angedeutete Kontroverse zwischen Universalismus und Kulturrelativismus findet sich auch in Bezug auf das Konzept der Menschenrechte. Galtung versucht in einem interessanten Brückenschlag das Konzept der Menschenrechte »anders zu sehen« und mit dem Konzept der Grundbedürfnisse in einen dialogischen Bezug zu setzen (Galtung 1994b, 2000b). Solche Kontroversen können aber kaum in einem abstrakten philosophischen Streit, sehr wohl aber in einem konkreten, lösungsfokusierten Dialog zwischen Individuen, Gruppen oder Kulturen über menschliche Grundbedürfnisse transzendiert werden. Alle vier Klassen der Grundbedürfnisse sind Mitgestalter der vielen konkreten psychologischen Ego-Bedürfnisse, der sozialen Interessen und der kulturellen Werte. Identität im Sinne eines menschlichen Grundbedürfnisses ist die Form, nicht der Inhalt, und in diesem Verständnis weder ein Konzept eines prä-modernen Kultur-Essentialismus, noch eines post-modernen Kultur-Relativismus. Freiheit, im Sinne der Freiheit der Wahl, ist nicht dasselbe wie Individualismus, geprägt durch eine westliche Ego-Kultur (in Relation zu Wir-Kulturen anderer Regionen und Zivilisationen) oder Liberalismus. Grundbedürfnisse sind weder Ego-Bedürfnisse noch Werthaltungen, sie definieren nicht-verhandelbare Bedürfnisse von menschlichen Wesen und als solche sind sie Teil eines anthropologischen Ansatzes, um kulturelle Werte (und interkulturelle Wertekonflikte) zu diskutieren, zu evaluieren, zu dekonstruieren, zu rekonstruieren, zu kritisieren, zu demokratisieren, zu integrieren oder zu mediieren. So betrachtet, integrieren wie transzendieren die vier Klassen der menschlichen Grund43
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bedürfnisse die zivilisationsspezifischen Werte der Französischen Revolution und des westlichen Begriffs der Modernität. Obwohl keine objektive Hierarchie besteht, tendieren Menschen und Gesellschaften dazu, Grundbedürfnisse nach Prioritäten einzuteilen und nach diesen Prioritäten kollektive Werte oder politische Ideologien anzugleichen. Der klassische Marxismus stellt das menschliche Grundbedürfnis nach (materiellem) Wohlergehen ins Zentrum seiner Ideologie, der Liberalismus rückt das Bedürfnis nach (politischer und ökonomischer) Freiheit ins Zentrum, der Nationalismus konzentriert sich auf das Bedürfnis nach (nationaler) Identität und der Militarismus auf jenes nach dem Überleben (des Staates). In tief verwurzelten Konflikten ist oft eine pathologische Fixierung auf eines der Grundbedürfnisse zu beobachten. Menschen opfern ihr Leben für ihre religiöse und kulturelle Identität (wie z.B. das Recht auf ihre eigene Sprache), während Wohlergehen und Überleben oft dem Kampf für Freiheit oder Identität geopfert werden. Galtung versucht diese Ideologien oder pathologischen Fixierungen zu dekonstruieren und neu zu formulieren. Er geht davon aus, dass alle menschlichen Grundbedürfnisse gleichwertig sind und dass für die nachhaltige Lösung eines Konfliktes all diese Grundbedürfnisse befriedigt sein müssen. Systeme, Staaten, Institutionen, Organisationen oder politische Parteien haben keine menschlichen Grundbedürfnisse. Sie repräsentieren kulturelle Werte und soziale Interessen, welche entweder menschliche Grundbedürfnisse befriedigen oder verletzen können. Ziel einer dialogischen Konfliktbearbeitung ist daher die Annäherung an eine kreative Ich-Wir-Balance zwischen menschliche Grundbedürfnissen, kulturellen Werten, sozialen Interessen und politschen Rechten.
Eine grundbedür fnis-or ientier te Fr iedenstheor ie Galtungs Friedenstheorie kritisiert die dominanten Paradigmen in den Studien und Politikpraxen der Internationalen Beziehungen als unzureichend, um Konflikte nachhaltig zu transformieren. Dies gilt auch für die konservative Schule des »Friedens durch balance of power« oder das liberale Paradigma des »Friedens durch Recht«. (Wir beziehen uns hier auf einige meta-theoretische Paradigmen und nicht auf die vielen Theorie-Schulen wie Neo-Realismus, Neo-Institutionalismus oder Sozial-Konstruktivismus.) Galtung ist auf der Suche nach einer »Konflikttransformation mit friedlichen Mitteln«, mit einer kritischen Haltung gegenüber den derzeit vorherrschenden Friedenskonzepten wie »demokratischer Friede«, »humanitäre Intervention« oder »globale Sicherheit«. Dasselbe gilt für die
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dominanten Paradigmen von Entwicklung, Modernisierung oder Zivilisation. »Galtung’s evolving perspective on human development aimed to go beyond a political economy of development and explore how a particular worldview and development goal, the ›bourgeois way of life‹, permeated the globe. This global telos was seen to incorporate both underdevelopment on the global periphery and overdevelopment in the global center.« (Lawler 1995: 151)
Auf das sozio-ökonomische und neo-humanistische Paradigma »menschliche Grundbedürfnisse für alle« folgt ein komplexes Paradigma des »Friedens mit friedlichen Mitteln«, welches nur über Dialoge mit allen Konfliktparteien in einer spezifischen Konfliktkonstellation konkretisiert werden kann. Das ermöglicht ein komplexes Verfahren einer dialogischen »Konfliktbearbeitung mit friedlichen Mitteln«, nämlich Galtungs »Transcend-Methode«, mit verschiedenen praxeologischen Zugängen (Galtung 2000a; Galtung 2004; Graf 2007; Graf/Kramer/Nicolescou 2008). Dabei zielt Galtungs Methode nicht nur auf gewaltfreies Verhalten ab, sondern auch auf strukturelle Symmetrie (über Gleichheit, Autonomie, Integration und Partizipation), kulturellen Pluralismus und individuelle Selbstverwirklichung. In Hinblick auf eine Philosophie der Praxis lauten die Kernkonzepte Kreativität, Empathie und Gewaltfreiheit. Gewaltfreiheit ist der Grundpfeiler des Ansatzes, da Gewalt einzig weitere Eskalation hervorruft und einen Kreislauf der Vergeltungen nach sich zieht. Der Weg aus der Gewalt braucht Kreativität und Empathie. Kreativität, in all ihren Formen, unterscheidet den Menschen von anderen Lebensformen. Es ist die mentale Kapazität, zu sehen, was nicht ist, um es dann zu erreichen. Empathie mit den anderen gewährleistet, dass die kreative Kraft eher für friedliche als für gewalttätige Absichten aufgewandt wird. Wie in Morenos Psycho-, Sozio- und Axio-Drama schlüpft man in die Schuhe des anderen und tauscht die Rollen, an die man sonst gewöhnt ist (Graf 2007). Dies sollte nicht mit Sympathie verwechselt werden, welche eine Affi nität dem anderen und seinen Handlungen gegenüber auslöst. Durch Mitgefühl und Empathie kann der andere verstanden werden, sogar wenn die Ideen und Handlungen des anderen diametral den eigenen gegenüber stehen.
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Das tr ilaterale Unterbewusste Das Galtungsche Werk richtet sich auf ein tieferes Verständnis der komplexen Abhängigkeiten menschlicher Interaktionen, struktureller Beziehungen und kultureller Bedeutungszusammenhänge vom Unterbewussten. Das Unterbewusste umfasst latente bzw. implizite Dimensionen all dieser Bereiche (Tiefen-Verhalten und Tiefen-Psychologie, Tiefenstruktur und Tiefenkultur). Eine Tiefenstruktur ist strukturell gewaltträchtig, wenn eine zu große Asymmetrie in der Machtverteilung zwischen Teilen der Gesellschaft besteht, welche die Grundbedürfnisse einer Gruppe verletzt. Dies ist verbunden mit Diskriminierung, Unterdrückung oder/und Ausbeutung. Diese Tiefenstrukturen beeinflussen jeden Aspekt sozialer Organisation, und die Beziehungsmuster der Machtrelationen werden dann oft in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Politik reproduziert. Galtung unterscheidet acht grundlegende soziale Bruchlinien, die sich jeweils sowohl auf der Mikro- als auch Makro-Ebene finden lassen, und ebenso sowohl auf der Akteurs- als auch auf der Struktur-Ebene (Galtung 1998: 2008): 1) Umwelt: Mensch vs. Natur; 2) Gender: Männlich vs. Weiblich (Sexismus); 3) Generation: Alte vs. »Erwachsene« vs. Junge; 4) Normale vs. Abweichende (Stigmatisierung); 5) Hautfarbe: Hell vs. Dunkel (Rassismus); 6) Klasse: Mächtige vs. Ohnmächtige: politisch: wer entscheidet über/unterdrückt wen; militärisch: wer besiegt/okkupiert wen; ökonomisch: wer beutet wen aus; kulturell: wer durchdringt/konditioniert/entfremdet wen; 7) Nationalität (»Ethnie«)/Kultur/Ideologie (dominant vs. dominiert. Nationalismus, Fundamentalismus); 8) Staat/Land/Territorium (Zentrum vs. Peripherie). Die Tiefenstruktur kann Pathologien aufweisen. Galtung beschreibt zum Beispiel das PSFM-Syndrom. PSFM steht für Penetration, Segmentierung, Fragmentierung und Marginalisierung. Penetration ist dabei das Ausmaß, in welchem die Mächtigen die Machtlosen konditionieren, um die Strukturen zu akzeptieren. Segmentierung ist das Ausmaß, in welchem Informationen von der Elite kontrolliert werden und die durchschnittliche Einzelperson sich kein Gesamtbild machen kann. Fragmentierung ist das Ausmaß, wie sehr die Machtlosen isoliert werden und Interaktion zwischen ihnen unterbunden wird. Marginalisierung ist das Ausmaß, in welchem 46
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ein Teil der Gesellschaft von der Interaktion mit der Gesellschaft und der gesamten Welt ausgeschlossen wird. Die Tiefenkultur wird von der »sozialen Kosmologie« einer Gesellschaft geprägt. Sie ist »a web of notions about what is true, good, right, beautiful, sacred« (Galtung 2000a: 33) – das Gespinst aus Vorstellungen über das, was wahr, gut, richtig, schön, heilig ist. Unter den Annahmen und Haltungen an der Oberfläche – zum Beispiel den Stereotypen und Vorurteile über die eigene und die andere Gruppe – finden sich tiefer liegende Annahmen und Haltungen, die kollektiv unterbewussten (normalerweise vergessenen oder unausgesprochenen) Praktiken, Normen, Diskurse, Verhaltensregeln, die durch Sprache, Religion, Ideologie, Wissenschaft und Kunst weitergegeben werden, und darunter noch tiefer liegend die sozialkosmologischen Tiefenvorstellungen und Grundannahmen der jeweiligen Zivilisationen in Bezug auf Raum, Zeit, Wissen, auf das Verhältnis PersonNatur, Person-Person, Person-Gott, sowie in Hinblick auf das Selbst (vgl. Galtung 1990, 1996, 2008). Vor allem in langwierigen Konflikten verhindern diese unterbewussten, tiefenkulturellen Denk- und Fühlmuster eine friedliche Bearbeitung des Konfliktes. Sie liefern das Material für Polarisation und Eskalation, die oft durch populistische und fundamentalistische Politiken verstärkt werden. Sie werden durch Symbole wie Nationalhymnen, Straßennamen, nationale Mythen, Literatur, Sagen, Musik, Monumente, Redensarten oder Witze von einer zur nächsten Generation weitergegeben. Die Tiefenkultur hat ihre eigenen Pathologien. Galtung beschreibt eine kognitive Pathologie von »Dichotomie, Manichäismus und Armageddon« (das DMA-Syndrom) und eine emotionale Pathologie von »Auserwählung, Ruhm und Trauma« (das ART-Syndrom). Das DMA-Syndrom reduziert jede Konfliktsituation auf nur zwei Konfliktparteien (Dualismus), mit einer guten und einer bösen Seite (Manichäismus), sowie der zwanghaften Vorstellung einer letzten Entscheidungsschlacht (Armageddon). In Zeiten tiefer historischer Krisen werden diese unterbewussten Pathologien aktualisiert. Nationen mit einem TRA-Syndrom leiden an schweren Traumata, die auf Verletzungen und Niederlagen zurückgehen, die ihnen von Feinden beigebracht wurden. Sie pflegen und propagieren Mythen, die von ihrem vergangenen und zukünftigen Ruhm künden. Und sie leben in der Vorstellung, durch transzendente Kräfte für politische Missionen auserwählt zu sein. Alle drei Dimensionen haben die Tendenz, sich gegenseitig zu verstärken: »Völker, die auserwählt sind, anderen ein Licht zu sein und sie sogar zu beherrschen, werden eine endlose Kette von Traumata erleben. Nach einer anfänglichen Phase des Erfolgs, die das Rohmaterial für Mythen liefert, wird Widerstand einsetzen und zu Traumata führen.« (Galtung 1998: 441f.) Der Größenwahnsinnige seinerseits ist »stets auf der 47
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Hut vor Zeichen der Respektlosigkeit, und er vermeidet Situationen, die die Illusion der eigenen Größe falsifizieren könnten«. Der Paranoide wiederum muß sich immer wieder rechtfertigen, »warum er so häufig Gegenstand von Feindseligkeiten ist, und warum sein außerordentliches Talent so wenig Anerkennung findet.« (Galtung 1998: 442) Hier gilt es aus meiner Sicht ganz entschieden davor zu warnen, einen politischen Missbrauch der Auserwählungsvorstellung mit der spirituellen Tradition im Judentums zu verwechseln und damit den Antisemitismus zu befördern. Man darf auch nicht nur die Gemeinsamkeiten der abrahamitischen Religionen betonen, sondern muss ebenso auch deren Unterschiede analysieren. Im Besonderen erscheint mir die offensive Tiefenvorstellung der Mission wesentlich gewaltfördender als die mehr defensive Tiefenvorstellung der Auserwählung. Es waren gerade die christlichen Antisemiten, die den spirituellen Archetyp der »Auserwählung« im religiösen Judentum, das keine Mission kannte, pervertierten, indem sie ihn profanisierten, politisierten und mit verschiedenen Varianten einer universalen Mission verbanden: im christlichen Fundamentalismus, im modernen Nationalismus, am schlimmsten im Nationalsozialismus und im Stalinismus.
Soziale Kosmologie und Makrogeschichte Galtungs Gewalt- und Friedenstheorie geht somit von der Einsicht aus, dass ein großer Teil des Kriegswesens in den Zivilisationen selbst wurzelt: »The deeper code, or program of a civilization seems at least to be one promising factor worth looking into the search for the roots of violence of both types, and possibly also for their reduction. That program is what I refer to as (social) cosmology, and it seems at least highly plausible that there is an expansionist occidental civilizational code that will carry in itswake, almost with necessity, even enormous quantities of direct and structural violence.« (Galtung 1988: 33f.)
Eine interessante Parallele zu Galtungs Tiefenkulturtheorie fi ndet man bei Canetti (1960), der eine ganz spezifische Methode beschreibt, um »Massensymbole« zu erfassen und zu verstehen. Er sieht sie weniger als nationale Identitäten, also politologisch oder strukturgeschichtlich, sondern, und das ist das Wesentliche, er sieht sie als nationale Religionen. Und zwar weniger, bzw. gar nicht als eine Religion des Inhalts, sondern als eine Religion der Form, die sich durchaus mit ganz unterschiedlichen Ideologien verträgt, mit ganz unterschiedlichen sozialpsychologischen Identitätsinszenierungen. Aber unter der Oberfläche kollektiver Identitäten, Dramen 48
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und kollektiven Ideologien schlummern spirituellen Formen. Wie Galtung behauptet auch Canetti, dass im normalen Leben einer Nation die »Religion der Form« im Alltagsbewusstsein »verdrängt« bleibt, überlagert von den dominierenden Ideologemen einer Produktionsweise oder Zivilisation. Soziologen, Historiker, Politologen untersuchen die Funktion von Kollektivsymbolen nach innen gerichtet als Sozialintegration, nach außen als Abgrenzung von anderen, als dualistische Mechanismen von Eigen- und Fremdwahrnehmungen. Aber Canetti betont, dass es sich dabei um eine irdische Religion handelt, oder um Formen und Energien, die an religiöse Energien erinnern. Und wie die nationalen Massensymbole bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts sind auch die zivilisatorischen Tiefenkulturen ganz realen Metarmorphosen unterworfen. Sie sind veränderbar. Deshalb ist es notwendig, bei Konflikten die Bedeutung der jeweiligen Massensymbole der Konfliktpartner sehr ernst zu nehmen. Weil es sich dabei um Glaubensenergien handelt, braucht es Kompetenzen, diese Glaubensenergien gemeinsam zu verwandeln. Wie man das macht, das wissen wir noch nicht wirklich, aber das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Man muss vielleich wie Canetti bereit sein, jedes dieser Symbole bis ins Innerste zu erfassen, sich aber dabei trotzdem eine Außensicht zu wahren. Eine Möglichkeit wäre, die Symbole zu verflüssigen. Eine andere: gemeinsame Symbole finden für beide oder mehr Konfliktparteien. Es gibt Alternativen in den Tiefenkulturen und Tiefenstrukturen, friedensfördernde Ressourcen und Potenziale, oft zu finden in der TiefenGeschichte der sozialen Kosmologie und Organisation einer Gesellschaft: kulturell mehr Holismus als nur Dualismus, mehr »sowohl als auch« als nur »entweder-oder«, kreative Konfliktkultur statt Apokalypse; strukturell Autonomie statt Penetration, Integration statt Segmentierung, Solidarität statt Fragmentierung und Partizipation statt Marginalisierung. Galtungs Grundannahme ist, dass gerechte und nachhaltige Konfliktlösungen nur gefunden werden können, wenn diese tieferen Aspekte für Gewalt und Frieden im Dialog in das Bewusstsein der Konfliktparteien gebracht werden. Das wäre schon die halbe Sozio-»Therapie«. Die andere Hälfte liegt aber in der Aufdeckung bzw. Wiederentdeckung von friedensfördernden Ressourcen in den Tiefendimensionen der jeweiligen Sozial- und Kulturgeschichte(n). Damit steht Galtungs Kosmologieanalyse in diametralem Gegensatz zu Huntingtons These vom Kampf der Kulturen (Huntington 1996). Bei Huntington dient die Annahme von kulturellen Tiefendimensionen der Verfestigung von kulturessentialistischen Vorurteilen und der Legitimation einer neuen »Geopolitik« gegenüber regionalen Kulturkreisen. Galtung hingegen zielt auf eine zivilisatorische Selbstreflexion und einen interkulturellen Dialog. Seine Analyse dient der Aufdeckung von wechselseitigen unterbewussten Gewaltlegitimierungen 49
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und Eskalationsdynamiken in den kollektiven Mythen und Mentalitäten sowie der Bewusstmachung von kulturellen Ressourcen für Friedensentwicklung und gegenseitiges Voneinanderlernen. Galtungs (1998b) unterscheidet zwischen vier komplexen Welt-Konflikt-Formationen, die sich weltweit überlappen und verknüpft sind mit sozialen Konflikten und Widersprüchen auf lokaler und regionaler Ebene: die geo-ökonomische Konfliktformation (Weltwirtschaftskrise), die geo-militärische Konfliktformation (Expansion der NATO), die geo-politische Konfliktformation (Kontroverse zwischen Staat/Nation, neue separatistische Bewegungen und Nationalismen), und die geo-kulturelle Konfliktformation (das wechselseitige Erstarken christlich-muslimischer Antipathien). Die neu auftretenden Formen direkter Gewalt (im Besonderen die Gewaltspirale von Terrorismus und Staatsterrorismus) sind einzig die Spitze des Eisbergs in einem Feld vieler neuer struktureller und kultureller Konfliktformationen in der neuen Phase des »globalen, multinationalen Weltkapitalismus« (Jameson 1991). Diese komplexen Konflikformationen können nicht einfach auf Konflikte zwischen »Globalisierung« und »AntiGlobalisierung« reduziert werden. Kapitalismus ist nur eine grundlegende soziale Formation innerhalb der sozialen »Tiefenstrukturen«, der in viel ältere und relativ autonome soziale Formationen wie Militarismus, Staatstyrannei oder Patriarchat eingebettet ist. Für diese globalen Herausforderungen wäre ein globaler zivilisationspolitischer Denkrahmen erforderlich.
Galtung kr itisch-konstruktiv weiterdenken Trotz oder vielleicht auch wegen ihrer Komplexität sind Galtungs Theorien umstritten. Es geht ihm um ein ganzheitliches, intuitives Erfassen, um, wenn man so will, »szenisches Verstehen« komplexer Phänomene, die sichtbare und unsichtbare, bewusste und unterbewusste Dimensionen umfassen. Eine ausgewogene Berücksichtigung aller drei Dimensionen – Kultur, Struktur und Akteur – erforderte komplexe methodenpluralistische und transdisziplinäre Forschungsnetzwerke und ist in der Praxis nur schwer einlösbar. Galtungs individuelle Synthese erfordert auch eine Vermittlung mit den neueren Diskursen an den Universitäten. Der jüngeren Generation von FriedensforscherInnen erscheint Galtung, soweit sie seine neueren, eher schwer zugänglichen Beiträge überhaupt rezipieren, nicht einordenbar. Im Besonderen lässt sich für diese von Foucault, Derrida, Lacan und anderen Poststrukturalisten geprägte bzw. eben auch »voreingenommene« Generation oft nicht unterscheiden, ob Galtung Kultur oder Tiefenkultur »essentialistisch«, strukturalistisch oder poststrukturalistisch-sozialkonstruktivistisch begreift. Insgesamt sind Galtungs neuere 50
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Theoreme – wie auch andere Theoreme aus der eingangs skizzierten Phase Friedensforschung IV (etwa bei Senghaas und Krippendorff ) – wohl nicht frei von den Defiziten, wie sie Roger Sibeon (2004) für die neueren Sozialwissenschaften im Allgemeinen diagnostiziert. Er stellt bei einem Vergleich der vier Sozialtheoretiker Peter Berger, Norbert Elias, Michel Foucault und Anthony Giddens und der von ihnen vertretenen Konzepte eine dualistische Unterscheidung zwischen Handlungs- und Strukturebene sowie zwischen Mikro- und Makro-Dimensionen fest. Er entwickelt eine Kritik an vier langlebigen reduktionistischen Argumentationslinien in der Sozialwissenschaft, am Reduktionismus, am Essentialismus, an der Verdinglichung und an der funktionalen Teleologie. Er verweist auf neue Multi-Level-Forschungsstrategien, insbesondere auf jene von Layder (1997). Layder identifiziert vier soziale Untersuchungsfelder: zwei subjektive und zwei objektive gesellschaftliche Dimensionen (Sibeon 2004: 187): »These are psychobiography, the largely unique, asocial components of self and behavior; situated activity, which refers to face-to-face interaction and intersubjectivity in situations of co-presence; social settings, that is, the locations in which situated activity occurs; and contextual resources, consisting of macro-distributions and ownerships of resources (relating, in particular, to social class, gender, and ethnic divisions) and widespread cultural meanings, discourses, and social practices.«
Jeder dieser Bereiche ist in sich relativ autonom, aber überlappt sich mit den anderen und beeinflusst diese. Auf einer solchen komplexen Grundlage, die die relative Autonomie der einzelnen Untersuchungsperspektiven respektiert, aber trotzdem auf flexible Weise zusammendenkt, ließe sich auch eine komplexe, integrative Friedensforschung V gründen. Sie könnte versuchen, erstmals diese vier sozialen Untersuchungsfelder für Forschungsfragen der Friedensforschung wie kollektive Gewalt und Gewaltabbau, Kriege und Friedensprozesse oder Verfahren der Konflikttransformation zusammenzudenken. Ich möchte im beschränkten Rahmen dieses Beitrags aber bloß ganz konkret vorschlagen, Galtungs Theoreme in zwei Richtungen weiterzuentwickeln: • erstens, das Konzept der kulturellen Gewalt könnte durch eine philosophisch-anthropologische Kulturtheorie mit dem Konzept einer symbolischen (und imaginären) Gewalt verbunden werden (konkret mit Saner und Bourdieu), • zweitens, das Konzept der menschlichen Grundbedürfnisse könnte durch sozial- und tiefenpsychologische Sichtweisen mit der lebensgeschichtlichen Dimension der Akteure rückvermittelt werden (konkret mit Negt/Kluge und Jameson). 51
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Von »kultureller Gewalt« zur Unterscheidung von »imaginärer« und »symbolischer« Gewalt In seinem Aufsatz »Personale, strukturelle und symbolische Gewalt« (1982) denkt der Schweizer Philosoph Hans Saner das Galtung`sche Konzept von direkter und struktureller Gewalt weiter. Saner gelingt eine interessante philosophisch-anthropologische Weiterentwicklung der Galtungschen Gewalttheorie, die sich aus der existentialistischen Philosophie Jaspers und Sartres speist, aber auch neuere Ansätze des französischen Poststrukturalismus integriert. Mit Saner könnte eine Definition von Gewalt, die sich hauptsächlich am Opfer orientiert, also die strukturelle Gewalt miteinschließt, folgendermaßen lauten: »Gewalt ist eine geplante, angedrohte oder erfolgte Einwirkung, die, sei es intentional und feindlich oder nicht, mit Hilfe bestimmter Mittel ein Opfer direkt oder indirekt schädigt oder gefährdet.« (Saner 1982: 74) Menschliche Gewalt wäre dann eine solche schädigende Einwirkung, die vermeidbar wäre. Saner verweist zunächst auf eine nicht-anthropologische Dimension im Verhältnis von Kultur und Gewalt, die mir als ein Gegengift gegen idealistische und moralistische Varianten des Pazifismus wichtig geworden ist: »Vielleicht ist die ganze Kultur der beharrliche Versuch, der Gewalt den Charakter der Unvermeidlichkeit zu nehmen und sie dadurch kontrollierbar zu machen. Genau in dem Maß wie das möglich wird, verwandelt sich die höhere in menschliche Gewalt. […] Die conditio humana selber ist gewalttätig. Wer das vergißt, verkürzt die Gewalt um ihre nicht-anthropologische Dimension […] und er vergißt die komplexe Dialektik zwischen unvermeidbarer und vermeidbarer Gewalt. […] Ja vielleicht sind die Gewaltsyndrome meist ein Gemisch aus höherer und menschlicher Gewalt, und vieles an menschlicher Gewalt ist die aggressive Antwort auf die permanente Frustration, die uns höhere Gewalt durch Mangel, Schicksal und Sterblichkeit beschert.« (Saner 1982: 76)
Saner zeigt auch die historische Dimension der strukturellen Gewalt: »Vermutlich ist jedes politische System ein Versuch, die personale Gewalt einzuschränken. Drei Wege sind beschritten worden. Der Staat hat die Gewalt zunehmend entprivatisiert, mit dem Ziel, sich das Monopol der legitimen Gewaltanwendung zu sichern. Er hat die Nicht-Respektierung dieses Monopols mit personaler SanktionsGewalt bedroht und geahndet. Und die gesamte Gesellschaft hat schließlich die möglichen Interaktionen der Personen durch Ordnung stabilisiert, auf Regeln gebracht. Die beiden ersten Wege wollten die Willkür von Gewalt durch Gewalt unterdrücken;
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der dritte verstand sich als gewaltfreier Weg zur gewaltfreien Ordnung. Aber gerade in dieser Ordnung wurde die strukturelle Gewalt entdeckt.« (Saner 1982: 79f.)
Saner unterscheidet spezifische Mittel der strukturellen Gewalt, die alle miteinander verschachtelt sind (Saner 1982: 81ff.): • die deontische Gewalt, die in einer linearen Rangordnung zwischen Oberen (topdogs) und Unteren (underdogs) in vertikalen, asymmetrischen Machtsystemen besteht (In frühen Konzeptionen hat Galtung vor allem diese Form als strukturelle Gewalt beschrieben, bevor er sie 1976 allgemeiner als strukturelle Verletzung der menschlichen Grundbedürfnisse verallgemeinert hat.); • die ökonomische Gewalt (im System der organisierten Arbeit, in einer ökonomisierten statt humanisierten industriellen Arbeitsorganisation); • die ethologische Gewalt (die »Macht der Gewohnheit«, im gesellschaftlich produzierten und fi xierten Konformismus und Konventionalismus); • schließlich die historisch relativ neue bürokratische Gewalt (in der Verwaltung durch anonyme Machtträger). Der Begriff »symbolische Gewalt« stammt von Bourdieu/Passeron (1973). Der Terminus ist »eine contradictio in adjecto, eine Verbindung zweier sich widersprechender Ausdrücke: Er lenkt die Aufmerksamkeit auf gewaltlose Manifestationen von Gewalt. In seinem Fokus stehen Formung der Beugung und Unterwerfung, die nicht als durch Gewalt ausgelöste Reaktionen gelten und auch nicht als solche wahrgenommen werden. Symbolische Gewalt operiert sanft und alltäglich. Sie sichert die Anerkennung von Herrschaftsordnungen – das heißt, die Verkennung ihrer Willkürlichkeit – allein durch die Kraft des Symbolischen. Entsprechend liegen solche Ordnungen dann in der ›Natur der Sache‹. Sie erklären sich dem ›gesunden Menschenverstand‹ als selbstverständlich. […] Während mit dem Begriff ›symbolische Gewalt‹ konkrete praktische Vollzüge gewaltloser Gewalt anvisiert werden, bezeichnet ›symbolische Macht‹ die Möglichkeit zur Ausübung von symbolischer Gewalt. ›Symbolische Herrschaft‹ steht für verkannte und damit anerkannte Herrschaftsverhältnisse – Voraussetzung wie Resultat symbolischer Gewalt. Zentraler Bezugspunkt dieser begrifflichen Trias ist das Problem der Aufrechterhaltung und Reproduktion der herrschaftlichen Ordnung.« (Schmidt/Woltersdorff 2008: 8, Hervorhebungen im Original)
Saner übernimmt den Ausdruck »symbolische Gewalt« ebenfalls von Bourdieu und Passeron, wobei er freimütig bekennt, dass er deren Theorie für »dermassen scholastisch und szientistisch« halte, »dass ich das Buch 53
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nicht verstehe. Ich übernehme von ihnen nur die Kategorien, aber lege sie anders aus« (Saner 1982: 77). Man kann vielleicht auch vermuten, dass er ihn nicht verstehen wollte, weil dem Schüler von Karl Jaspers der Bourdieusche Postmarxismus schon damals als zu reduktionistisch erschien. »So wie Interaktions-Systeme als geltende Ordnungen zum Subjekt von Gewalt werden können, so können Zeichen und Zeichensysteme durch ihre das Denken, Fühlen und Handeln prägende Kraft die Subjekte der Gewalt sein. […] Zeichen können auch bloße Waffen, Mittel, sein, etwa wenn wir jemanden anschreien, betrügen oder kränken. Das wäre eine Form von personaler Gewalt mit Hilfe von Symbolen. Von symbolischer Gewalt sollte man erst sprechen, wenn der Betrug, die Diskriminierung, die Verachtung, schon im Zeichensystem selber liegen – etwa in der Ideologie –, so daß jeder, der dieser Symbolwelt verfällt, unweigerlich betrügt, diskriminiert, die Wahrheit verbiegt, selbst wenn es in subjektiv redlicher Absicht geschieht.« (Saner 1982: 78)
Die strukturelle Gewalt des Systems wird nach Saner hinterbaut durch »religiöse, wissenschaftliche, philosophische und ideologische Symbol-Systeme, die nicht nur rechtfertigen, sondern zugleich, durch eigene Gewaltformen, zu Gewalt konditionieren. […] Man muß dabei dreierlei unterscheiden: die Schädigung in der Durchsetzung von Zeichen (z.B. die Propaganda-Rede in der Massenversammlung), die meist ein Akt von strukturell hinterbauter personaler Gewalt ist; die Schädigung durch die formale Struktur etablierter Zeichen-Systeme und die Schädigung durch die Inhalte solcher Systeme.« (Saner 1982: 84f.)
Saner unterscheidet ebenso spezifische Mittel der symbolischen Gewalt der durchgesetzten Bedeutung, die vielleicht erlauben, die Galtungschen Tiefenkultur-Syndrome zu präzisieren (Saner 1982: 87ff.): • ästhetische Gewalt, in reiner Form die stagnierende Wirkung einer dominanten Symbolik (z.B. die Aufspaltung einerseits in eine gegen sie opponierende Avantgarde als abgeschiedenes Tun von wenigen Hochbegabten, andererseits in die moderne Unterhaltungsindustrie), in zweckhafter Form eine Ästhetik der Gewalt (z.B. als sakrale Erhabenheit der Macht in Architektur, Plastik, Malerei, Musik); • epistemische Gewalt (z.B. nach innen als reduktionistischer und imperialistischer Rationalismus, nach außen als totalitäre Indienstnahme von Wissenschaft), • ideologische Gewalt (die meist auf individuellen und gesellschaftlichen Überzeugungen beruht, mit einem zweipoligen Wertschema, das das Fremde dämonisiert und das Eigene dogmatisiert und universalisiert),
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religiöse Gewalt (manichäische Dogmenlehre, hierarchisch institutionalisiert, Missionarismus, Fanatismus, Inquisition, gerechte Kriege etc.).
Saner erfasst mit »symbolischer Gewalt« eine Wechselbeziehung, nämlich zwischen der strukturellen Dimension, im besonderen auch derjenigen, die Galtung früher »immaterielle strukturelle Gewalt« (1975) genannt hat, und der mentalen, imaginären Dimension, die er später »kulturelle Gewalt« (1990) nennen wird. Wenn Galtung »kulturelle Gewalt« als Legitimation direkter und struktureller Gewalt definiert, meint er m.E. mehr die »imaginäre Gewalt« der kulturellen Bedeutungen und Mentalitäten. Hingegen betont Saner mehr die konditionierende Seite der »symbolischen Gewalt« – das, was man mit Galtung vielleicht mehr als »immaterielle strukturelle Gewalt« nennen könnte, im Gegensatz zur »materiellen strukturellen Gewalt«. Ich schlage deshalb vor, den Begriff der »kulturellen Gewalt« nicht durch »symbolische Gewalt« zu ersetzen, sondern beide Begriffe beizubehalten und zu differenzieren. Konkret könnte dann zwischen »imaginärer« und »symbolischer« Gewalt unterschieden werden. Während der Begriff der »imaginären Gewalt« den Galtungschen Begriff der kulturellen Gewalt spezifizieren könnte, würde der Begriff der »symbolischen Gewalt« erlauben, die immaterielle Dimension der strukturellen Gewalt genauer zu fassen. Mit geht es um eine dialogische Verbindung dieser beiden Begriffe, im Gegensatz zu den herkömmlichen Begriffsstreitigkeiten in deutsch- und französischsprachigen Diskursen. Galtungs Tiefenkulturtheorie ließe sich durch solche dialogische Verbindungen mit einer Reihe von weiteren kulturwissenschaftlichen Theoremen (Girards Theorie der mimetischen Gewalt 1987, Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses 1988 und 1990, Jamesons Theorie des politischen Unbewussten 1988 etc.) produktiv konkretisieren und weiterentwickeln. Von besonderer Bedeutung für eine Vertiefung des Galtungschen Konzepts der sozialen Kosmologie mit ihren kulturellen, strukturellen und anthropologischen Tiefendimensionen erscheint mir Castoriadis’ Theorie des gesellschftlichen Imaginären, wobei er ein instituierendes und ein institutiertes Imaginäres unterscheidet (1987).
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Vom »kollektiven Unterbewussten« zur Unterscheidung von sozialem »Vor«- und »Unbewussten« Eine zweite Weiterentwicklung des Galtung`schen Werks bezieht sich auf eine Konkretisierung und Erweiterung des Konzepts des kollektiven Unterbewussten. Galtung spricht von »collective subconscious«. Letzteres wird meist mit »kollektives Unterbewusstes« übersetzt. Galtungs konkrete Beiträge fokussieren vor allem auf das kognitive kollektive Unterbewusste und konzentrieren sich vor allem auf die Aufdeckung dieses kollektiven Unterbewussten in internationalen Konfliktkonstellationen, im Besonderen in Konflikten zwischen Staaten, Nationalitäten und Zivilisationen. Anders als bei den Psychologen Freud, Adler, Jung, aber ähnlich wie die Poststrukturalisten Foucault und Deleuze/Guattari geht Galtung über ein psychologisches Vor- bzw. Unbewusstes im engeren psychologischen Sinne hinaus. Es geht ihm nicht nur um die gesellschaftliche und kulturelle Basis für das Entstehen eines solchen psychologischen Vorbewussten (wie den Ethno-Psychoanalytikern um Parin). Es geht bei Galtung vielmehr besonders um die Aufdeckung eines tieferen, kollektiven Unterbewussten, das im Unterschied zum kollektiven Unterbewussten bei Jung historisch und zivilisatorisch geprägt ist – mit historisch-anthropologischen, strukturellen und kulturellen Dimensionen (Grundbedürfnisse, Tiefenstrukturen, und Tiefenkulturen). Man kann mit Freud das Unterbewusste auch das Vorbewusste nennen. Es geht dabei aber um ein historisch entstandenes und veränderbares Vorbewusstes, auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene. Daher schlage ich vor, es durch das Konzept eines sozialen Unbewussten zu ergänzen. Konkret ließe sich dann auch eine produktive Unterscheidung zwischen psychologischen Ego-Bedürfnissen und anthropologischen Grundstrukturen (bzw. Grundbedürfnissen) einführen, wie es Wilber in seiner »Integralen Psychologie« (2001) vorschlägt. Darüberhinaus würde diese Erweiterung ganz allgemein ermöglichen, das eher kognitiv verstandene kollektive Unterbewusste mit tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Sichtweisen zu ergänzen bzw. die individuelle und die kollektive Dimension auf komplexere Weise miteinander zu vermitteln. Um das Konzept eines sozialen Vor- und Unbewussten zu konkretisieren, das mit Galtung wiederum dreifach in ein kulturelles, strukturelles und anthropologisches Vor- und Unbewusstes differenziert werden kann, müssten verschiedene tiefenpsychologische Theoreme überprüft und kritisch-konstruktiv einbezogen werden: Lévi-Strauss’ Konzept eines historisch-strukturalen »kollektiven Unbewussten«, die Hypothesen Erich Fromms zum Sozialcharakter, die Arbeiten Claudio Naranjos zu sozialen 56
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und zivilisatorischen Charaktertypen, die vielfältigen Ansätze der Gruppenpsychoanalyse (von Moreno bis Foulkes), die Kulturpsychoanalyse Alfred Lorenzers, die Ethnopsychiatrie der Devereux-Schule und ihre neueren Ansätze bei Moro und Nathan, die Arbeiten der Psychohistoriker wie DeMause etc. Als konkretes Beispiel für eine komplexe Vermittlung eines individuellen und kollektiven Vor- und Unterbewuusten kann Lederachs Schema (2005) für eine Erforschung von Konfliktgeschichte(n) bzw. von Eskalations- und Polarisierungdynamiken, die in die Vergangenheit führen, genannt werden. Er schlägt vor, mit einem ersten Kreislauf zu beginnen, den ein gegenwärtiges gewalttätiges Ereignis umgibt. »The circle of recent events lifts out the most visible expressions of the political, military, social, or economic conflicts.« (Lederach 2005: 141) Der Kreis gegenwärtiger Ereignisse führt dann langsam in die weitere Sphäre »gelebter Geschichte« ein. Ein dritter, weiterer Zeitkreis ist der Kontext des Gedächtnisses, oder der »erinnerten Geschichte«. Hier kommt Vamik Volkan ins Spiel. Volkan begreift diese Zeitschleifen, vor allem aus Sicht einer ich-psychoanalytisch geprägten Großgruppen-Psychologie, als erinnerte Ereignisse, die ein »chosen trauma«, ein »gewähltes Trauma« hervorrufen (Volkan 1999). Und schließlich gibt es die tiefstgehende Geschichte, die der historisch langandauernden »Narrative«, »the understanding of how people come to see their place on this earth, in a figurative sense and their place as tied to a specific geography, in a literal sense.« (Lederach 2005: 143) Das wäre Galtungs Sozialkosmologie bzw. Tiefenkultur. Der marxistische Kulturhermeneutiker Frederic Jameson hat ein »politisches Unbewusstes« aufgezeigt, das vielleicht erlaubt, die kulturellen und strukturellen Tiefendimensionen des Galtungschen kollektiven Unterbewussten sowie auch Saners Dimensionen der symbolischen Gewalt mit einem mehr freudianisch-marxistisch geprägten, individuellen und kollektiven Vor- und Unbewussten zu vermitteln. Jameson verweist auf eine besondere Dimension der Tiefenkultur – die »Ideologie der Form«: die widersprüchliche Koexistenz verschiedener Zeichensysteme, die »Mischkonstellation« von heterogenen, aus unterschiedlichen Geschichtsepochen tradierten (und in die Zukunft weisenden) ästhetischen und formalen Prinzipien, die sich in den sichtbaren und verborgenen Formmustern aufzeigen lassen. Jameson erläutert das z.B. am Verhältnis von ökonomischer Ausbeutung und sexueller Unterdrückung (Jameson 1988: 89): »Aus unserer neuen Perspektive wird deutlich, daß Sexismus und Patriarchat als Sedimente und Überbleibsel von Entfremdungsformen zu begreifen sind, wie sie für die älteste Produktionsweise der Menschheitsgeschichte mit ihrer Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und ihrer Teilung der Macht zwischen Jugend und Alter cha-
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rakteristisch sind. Angemessen durchgeführt, sollte die Analyse der Ideologie der Form das formale Fortdauern solch archaischer Entfremdungsstrukturen (samt ihrer spezifischen Zeichensysteme) aufzeigen, trotz der Überlagerung durch all die zeitlich jüngeren und geschichtlich neuen Entfremdungstypen (etwa politische Herrschaft und Warenfetischismus), die in der komplexesten aller Kulturrevolutionen, dem Spätkapitalismus, in dem alle früheren Produktionsweisen auf die eine oder andere Weise strukturell koexistieren, zu dominanten Formen geworden sind.«
Aus meiner Sicht haben allerdings Negt/Kluge in ihrem transdisziplinären Werk »Geschichte und Eigensinn« (1981) den interessantesten, zugleich kaum rezipierten, kollektiv-psychoanalytischen Ansatz vorgelegt, um die spezifische Dimension eines historisch-kollektiven Vor- und Unbewussten zu erfassen. Freud geht davon aus, »daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse.« (Freud 1968: 331f.) Negt/Kluge zitieren diese Sätze Freuds und fahren dann fort: »Aus diesem Material werden die psychologischen Instanzen des Unterbewußtseins, des Ich und Anteile des Über-Ich hergestellt; zugleich arbeiten die gleichen Kräfte in geschichtlichem und kollektivem Maßstab und wirken von dort aus zurück. Das Über-Ich enthält besonders zahlreiche Repräsentanzen dieses kollektiven Außen. Mit ihm kann aber ebenfalls triebhaft umgegangen werden; das Über-Ich, die kollektiven Repräsentanzen, aber auch objektive Kultur und Geschichte bewegen sich wie ein Unterbewußtes. Auf allen vielfachen Ebenen ist die Zusammensetzung der elementaren Grundkräfte nach den Anteilen des Lustprinzips und des Realitätsprinzips verschieden.« (Negt/Kluge 1981: 921) Bei Negt/Kluge entsprechen die drei Grundkräfte der unbewussten Es-Repräsentanzen – partielle Identifizierung, Trennung, Sehnsucht nach Wiederkehr des Verdrängten – den Modi des Zeitumgangs. »Die drei Modi der Zeit heißen bei I. Kant in den drei Analogien der Erfahrung: Beharrlichkeit, Folge und Zugleich-Sein.« (Negt/Kluge 1981: 1070) »Etwas Unbewußtes wird kollektive Einrichtung, tritt dabei eine Strecke lang in das Bewußtsein der Gesellschaft und verliert sich wieder aus diesem Bewußtsein, ohne wieder zu einem Es zu werden; es prägt jedoch das Es, das Ich und die kollektive Geschichtsarbeit in jeder der ›Beleuchtungen‹, die es annimmt. Dies ist z.B. der Fall mit so mächtigen Gravitationssystemen wie der Sprache, der Schrift, den verinnerlichten Normen usf. Mit ihrer Herkunft haben sie gemein, daß sie auf nichtindividuelle Weise triebhaft sind. Alles dies sind aber Substitutionen und Repräsentanzen, die eine andere Sprache haben als diejenigen des lebensgeschichtlichen Unbewußten.
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Da keine Trennungen gegenüber dem Ich oder Es wirksam sind, sind sie in der Lage, umfangreich sich mit Partikeln, die nicht dieser kollektiven Arbeit entstammen, gesondert aufzuladen.« (Negt/Kluge 1981: 1082)
Ziv ilisierung der Ziv ilisationen: Komplexe Weltziv ilisationstheor ie als Fr iedensforschungsprogramm Wenn die Hinweise von Negt/Kluge zutreffen, müssen sich die drei Arbeitsweisen des kollektiven Unbewussten in ihren kollektiv-unbewussten Entsprechungen auch auf der Ebene der Globalisierungsprozesse mit der konkret utopischen Perspektive eines vielleicht darin noch möglichen globalen Zivilisationsprozesses fi nden lassen: • erstens die partielle Identifi kation mit den modernen Zivilisations- und Gewalt-Codes des Okzidents, bzw. der Okzidentalisierung (»Modernismus«): • zweitens die Sehnsucht nach Wiederkehr des Verdrängten und die Rückkehr zu vormodernen Zivilisations- und Gewalt-Codes (»Fundamentalismus«); • drittens die Beharrung auf Differenz und Trennung von den modernen Zivilisations- und Gewalt-Codes (»Postmodernismus«); am Scheideweg zwischen • »Translation« (Rückfall in Beliebigkeit, Stagnation und Regression) oder • Transformation der Postmoderne in einen neuen »sanften« Universalismus, in eine neue »komplexe« Wissenschaft und Politik, mit der Perspektive einer globalen »Zivilisierung der Zivilisationen«. Diese letztere Perspektive soll hier mit Morin bekräftigt werden: »Wir müssen uns sowohl der Illusionen eines Modernismus entledigen, der nur in Blindheit fortexistieren kann, als auch der Täuschungen eines Neo-Fundamentalismus, der an die unmögliche Rückkehr in die Arche glaubt, sowie der irrigen Annahmen eines Post-Modernismus, der davon überzeugt ist, daß es keine Geschichte mehr gibt, während diese unser umherirrendes Gestirn weiterhin einem unbekannten Abenteuer aussetzt.« (Morin u.a. 1992: 14)
Die historischen Umbrüche seit dem Ende des Kalten Kriegs, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien haben zweifellos »das formale Fortdauern […] archaischer Entfremdungsstrukturen« aufgezeigt – »trotz der Überlagerung durch all die zeitlich jüngeren 59
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und geschichtlich neuen Entfremdungstypen.« (Jameson 1988: 89) In den neuen Nationalismen im postsowjetischen Raum wurden längst überwunden geglaubte Traumata, Mythen und Missionen wieder zum Ausdruck gebracht. Das neue Europa ist heute dabei, die »Wartehalle der Geschichte« wieder zu verlassen und besinnt sich seiner historisch-kulturellen« »Mission«. Islamischer und christlicher Neo-Fundamentalismus, neuer Antisemitismus und okzidentale Islamophobie folgen ebenfalls der Logik eines solchen kollektiven, sozialen und politischen Unbewussten (Graf 2006). Es gibt vielleicht Tiefendimensionen, die sowohl dem Christentum als auch dem Säkularismus zugrunde liegen und die unter bestimmten Konstellationen sowohl Antisemitismus wie auch Islamophobie hervorbringen könnten. Und hier gibt es vielleicht gerade heute eine fatale Wechselbeziehung: Die wachsende neue Islamophobie könnte dazu beitragen, neuen Antisemitismus zu produzieren. Und der neue Antisemitismus, auch der manchmal (allerdings nicht immer!) im politischen Antizionismus versteckte Antisemitismus, könnte dazu beitragen, die neue Islamophobie zu verstärken. Das Zusammentreffen von Islam und Christentum im Mittelalter war die wichtigste Voraussetzung für die europäische Renaissance, die erst in der Auseinandersetzung mit der islamischen Kultur und Religion ihren Weg zur europäischen Zivilisation finden und Weltbedeutung erlangten konnte. Im europäischen Kontext bedeutet deshalb die Frage nach einer Zivilisisation der Zivilisationen vor allem die kritisch-konstruktive Analyse der Beziehungen der christlichen bzw. postchristlichen und islamischen Welt. Dabei müssten die historischen und zukünftigen Potenziale einer gemeinsam verantworteten De- bzw. Re/Zivilisierung der jeweils eigenen Zivilisation thematisiert werden. »Der Prozess der Zivilisation hat auf der einen Seite zur Monopolisierung der Gewalt in äußeren Institutionen, auf der anderen Seite zur Verleugnung und Tabuisierung unserer individuellen Gewaltneigungen geführt. Mit der Institutionalisierung der Gewalt sind sie jedoch nicht automatisch verschwunden. Sie führen, eingekerkert in der Flasche, in die sie unsere psychische Kontrollorganisation verbannt hat, ihr Eigendasein. Das abgespaltene Produkt ist hochexplosiv, um so mehr, als es in der Öffentlichkeit keine Repräsentationschancen mehr hat. Aus der Sprache und von den modernen Kirchendächern verdrängt, führen die ›Chimären‹ und ›Dämonen‹ ihr Eigenleben tief unter der Oberfl äche unseres Bewußtseins. Weil wir keine Sprache mehr für sie haben, lassen sie nicht mehr mit sich reden.« (Volmerg 1983: 16f.)
Es sind diese Chimären und Dämonen der »okzidentalen Zivilisation«, so eine mögliche These, die unter bestimmten Konstellationen als Totalita60
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rismus oder Fundamentalismus wiederkehren. Auch wenn sie nicht auf gemeinsame sozialstrukturelle Ursachen oder Funktionen zurückgeführt werden können, haben sie vielleicht eine gemeinsame sozio-kulturelle Grammatik: die latente Tendenz der westlichen Zivilisation zur De-Zivilisation, zu Krieg und Gewalt gegen das »Andere« (nach innen und/oder außen), die in tiefen gesellschaftlichen und kulturellen Krisen auch manifest zutage tritt. Die vorliegenden Zivilisationstheorien (Weber, Elias, Toynbee, Adorno, Foucault, Girard, Voegelin u.a.) schwanken zwischen den Polen einer mehr oder weniger optimistischen, »linearen« Vorstellung von Zivilisationsentwicklung und einer mehr oder weniger kulturpessimistischen Einstellung zur Moderne. »Die Ereignisse des Jahres 1989 fordern uns dazu auf, eine Sicht der Geschichte aufzugeben, die in der westlichen Zivilisation seit Jahrhunderten vorherrschend war. Wir nehmen von dem Gedanken Abschied, daß wir die Geschichte kontrollieren können […]. Wir müssen statt dessen den Gedanken einer Ökologie der Geschichte entdecken. […] Die Zeiten und die Entwicklungsrichtungen der Geschichte haben sich explosionsartig vervielfacht, und alle in der Geschichte Lebenden haben die Aufgabe, an einer Ökologie der Geschichte teilzunehmen, in der die Vielfalt der Zeiten, der Entwicklungsrichtungen und der Räume sich nicht unbedingt auf eine grundlegende Zeit, eine grundlegende Entwicklungsrichtung und einen grundlegenden Raum reduzieren lässt.« (Morin u.a. 1992: 117f.)
Eine komplexe Zivilisationstheorie muss deshalb die Ambivalenz der modernen Zivilisationsentwicklung und den Zusammenhang zwischen Regression und Zivilisation kritisch bearbeiten. Der Begriff Zivilisation soll hier mit Morin – im Gegensatz zu dem im angelsächsischen Bereich üblichen Vorgehen – dem Begriff der Kultur dialektisch/dialogisch gegenübergestellt werden. Zivilisation zielt auf die Frage nach der Universalisierbarkeit der kulturellen Voraussetzungen und Entwicklungen eines politischen bzw. geographischen Raumes – und damit inhärent auf eine mögliche gemeinsame Weltzivilisation. Kulturen definieren sich demgegenüber im hohen Maße als ganz spezifischer, besonderer Beitrag eines solchen Raums für eine mögliche Weltkultur – national, regional oder lokal. Sie grenzen sich somit gegen andere Kulturen ab und legitimieren bei gegenseitigen Konflikten meist die destruktiven Kräfte gewaltsamer und kriegerischer Auseinandersetzungen. Eine komplexe, weltzivilisationstheoretisch orientierte Friedensforschung muss sich zur Aufgabe machen, diesen verhängsnisvollen Zusammenhang von Krieg, Kultur und Zivilisation zu erforschen.
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Morin plädiert in diesem Zusammenhang für eine globale »Zivilisationspolitik«: »Heute, zu Beginn der neunziger Jahre, muss es unser vorrangiges Ziel sein, vielfältige Wege der Zusammenarbeit zwischen dem europäisch-nordamerikanischen Komplex und den anderen Zivilisationen zu entwickeln, die zusammen eine gemeinsame globale Zivilisation bilden. Zahlreiche Hindernisse sind dabei zu überwinden – das ungeheure Ausmaß der anstehenden Probleme, die Verschiedenheit der implizierten Vorgänge, die unkontrollierbare ethnische, soziale, ökonomische und spirituelle Vielfalt unseres Planeten, die Fehleinschätzung oder sogar völlige Unkenntnis bestimmter Gegebenheiten. Unser nur Teilaspekte umfassender europäischer Standpunkt, der auch ein Vorteil sein könnte, droht zu einer beschränkten, einseitigen Sicht zu werden, denn es ist beschränkt und einseitig, in jenen ›Wiederholungszwang‹ zu verfallen und auf die alten globalen Spiele zurückzugreifen. Denn dadurch definieren wir weiterhin alle Vorgänge in der Gesellschaft und in der Welt als Konflikte, finden uns nach dem Ende des alten Konflikts zwischen Osten und Westen verwaist und zwängen die Geschichte erneut in ein Schema ein, das sich diesmal auf den Gegensatz zwischen Norden und Süden oder zwischen Islam und Okzident bezieht. Auf diese beschränkte und einseitige Vision sind auch die Schuldgefühle zurückzuführen, die viele Europäer angesichts der durch die Kolonialisierung verursachten Zerstörungen empfinden und aufgrund derer sie sich unter Aufgabe des eigenen Standpunktes den Auffassungen der anderen Seite annähern, wodurch schließlich sowohl der Standpunkt des anderen als auch der eigene unverständlich wird. […] Wir können nun also wirklich dazu beitragen, die Welt, die wir zumindest zweimal ›infiziert‹ hatten, mit Kolonialismus und Totalitarismus, zu ›desinfizieren‹.« (Morin u.a. 1992: 108)
Komplexe Weltzivilisationstheorie als Friedensforschungsprogramm hieße dann: Sowohl die eigene als auch die fremde Kultur müssten unter dem Aspekt der inhärenten Kriegskulturen kritisch-konstruktiv (d.h. eben nicht nur »kritisch«) neuinterpretiert werden, um den Selbsttäuschungen hinsichtlich der verborgenen Kriegsdynamiken von Kulturen nicht aufzusitzen. Und in der sanften (d.h. eben nicht »harten«) Öffnung der eigenen und fremden Kultur hin auf eine globale, reflexive »Zivilisation der Zivilisationen« müssten die gewaltfördernden Aspekte der verschiedenen Kulturen überwunden und ihre friedensfördernden Aspekte (wieder-)entdeckt werden.
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Einleitung Vor zehn Jahren habe ich mich mit meinem Call for Many Peaces (neu aufgelegt in Dietricht/Echavarria/Koppensteiner 2006) zu Frieden als einem Kulturbegriff bekannt, den viele – und das nicht zu Unrecht – als postmodern bezeichnet haben (siehe den Beitrag von Ingvild Birkhan in diesem Band). Seither hat mich meine Erfahrung in interkulturellen Programmen zur Friedensforschung in dieser Haltung nicht nur bestärkt, sondern auch weiter geführt, sodass ich heute in Innsbruck einen Universitätslehrgang für Friedensstudien1 leite, in dem ich über die Postmoderne hinaus zu gehen und einem transrationalen Ansatz zu folgen versuche. Ein solches Unterfangen verlangt vorerst nach einer Abklärung der Begriffe, um Verwirrung und Missverständnisse auszuschließen. Ich halte die Verkürzung des Begriffes Frieden, wie sie sich in der westlichen Alltagssprache verbreitet hat, für sehr unbefriedigend, und glaube, dass die ebenso berühmten wie umstrittenen Begriffsbildungen des »negativen« und des »positiven« Friedens durch Johan Galtung, die ihrerseits auf Modellen fußen, die über Kant und Augustinus bis in die Antike zurück reichen, hier zwar hilfreich sein können, dies allerdings nur innerhalb eines konkret befassten Soziolekts kritischer Friedensforschung. Der »positive« als »kultureller« Frieden kann und soll natürlich auch Friedensvorstellungen respektieren, welche nicht abendländischer Ratio entspringen. Doch das Konzept selbst überfordert offensichtlich die Tiefenkultur einer Moderne, welche der Metaphysik geradezu phobisch abgeschworen hat, was aus den 67
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historischen Erfahrungen heraus zwar nachvollziehbar, erkenntnistheoretisch aber problematisch ist, weil mit der so versuchten Überwindung prämoderner Weltsichten auch die Möglichkeit einer die Moderne durchschreitenden Spiritualität mit ausgeschlossen wird. Die Moderne hat, wie Galtung so schön sagt, den Menschen den Vater im Himmel genommen, ohne ihnen die Mutter Erde zurückzugeben (Galtung 1997: 64). Es scheint mir daher sinnvoll, die weltweiten Deutungen und Bedeutungen des Begriffs Frieden nicht nur in den eingangs erwähnten Plural, sondern auch in Kategorien zu fassen, die zeitlich und räumlich offen sind, obwohl sie aus europäischer Perspektive einer gewissen Chronologie zu folgen scheinen. Diese Offenheit ermöglicht gerade europäischen Menschen anhand der Untersuchung anderer Friedensvorstellungen, sei es in großen Lehren wie dem Hinduismus, Buddhismus, Tao, Islam oder auch kleinräumigeren Vorstellungen indigener Völker Afrikas, Amerikas oder des Südpazifi ks, die Alternativen zu betrachten, welche zum selbst beschrittenen Weg bestanden haben und bestehen. Dies wird besonders da interessant, wo dem Evolutionismus und Zivilisierungsdenken nur insoweit gefolgt wird, als die Entstehung der Arten vom Einfacheren zum Komplexeren zwar angenommen, der Ablauf aber nicht als ein ewiger »war of nature« interpretiert wird, in dem nur die Stärksten, überleben, sondern als ein solcher, der die Kooperationsfähigsten bevorzugt.2 Nach meiner Erfahrung, die aus Untersuchungen höchst unterschiedlicher Zusammenhänge in vielen Gesellschaften aller Kontinente resultiert, empfehlen sich in diesem Licht folgende Kategorien zur Fassung der weltweit beobachtbaren Friedensbegriffe: energetische, moralische, moderne, postmoderne und transrationale. Diese Kategorien stehen nicht unbedingt in einem dualen oder chronosophischen Gegensatz zu einander. Oft leiten sich die einen aus den anderen ab, aber ebenso oft geht im Laufe der Geschichte dieser Bezug zu einander verloren. Besonders in den im Sinne Gianni Vattimos (2006: 86) »starken«, also letztbegründenden oder transzendenten Kategorien der moralischen und modernen Friedensvorstellungen besteht eine Neigung, Frieden auf seine Normativität zu reduzieren, sodass die Norm zur ultimativen Erklärung eines paktierten Friedens wird. Darin geht der energetische Charakter der spirituellen und kooperativen Erlebensfähigkeit von Frieden leicht verloren – mehr noch, er wird dann in ein archaisches, religiöses oder esoterisches Eck verdrängt und dort als irrational ignoriert, was jedenfalls respektlos ist. Das heißt, solche Friedensdeutungen drohen mit Aspekten kultureller Gewalt aufgeladen und damit Auslöser struktureller und auch physischer Gewalt zu werden. Da dieser Umstand den entsprechenden Akteuren oftmals nicht bewusst ist, erfordert die Vermittlung eine entsprechende Kommunikationspsychologie, die ihrerseits über
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Begriffe verfügen muss, welche die Abweichung im jeweiligen Friedensverständnis erklärbar machen. Meiner Ansicht nach haben alle prinzipiellen Erscheinungsformen der Frieden ihre Daseinsberechtigung, ihre Stärken und ihre Risken. Sie benötigen einander, um ganz zu sein. Da nun aus den gemeinhin bekannten Definitionen der moralischen und modernen Frieden das energetische Moment ausgeschlossen wurde, stellt sich in den Zeiten einer postmodernen Befindlichkeit vieler Gesellschaften die fundamentale Frage, wie Frieden über die formal konstruierten Grenzen der Kulturen hinweg erlebt und gelebt werden kann. Meiner Erfahrung nach ist dies nur auf transrationale Weise möglich, das heißt rational unter Einschluss der energetischen Komponente. Ich möchte in diesem kurzen Aufsatz der Frage nachgehen, wie diese Inklusion des Energetischen zur Verwindung, nicht Überwindung, des modernen, rationalen Friedensbildes führen kann. Dafür werde ich zuerst etwas breiter den gemeinhin weniger geläufigen Begriff des energetischen Friedens diskutieren, danach nur kurz auf die bekannten moralischen, modernen und postmodernen Sichtweisen eingehen, um mich abschließend der Frage der Transrationalität zu widmen.
Energetische Fr ieden Ich las die explizite Unterscheidung zwischen energetisch und moralisch begründeten Weltbildern erstmals bei Franz von Magnis-Suseno (1989: 61ff.), als ich mich mit damai, dem Wort für Frieden in Bahasa Indonesia, der offiziellen Landessprache Indonesiens, und seinen von Buddhismus, Hinduismus und Islam überlagerten Bedeutungen beschäftigte. Es geht bei damai, kurz gesagt, nicht um letzte Wahrheiten, um eine Vorstellung von dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, als vielmehr um das Verständnis der eigenen Existenz. Damai, sagt Magnis-Suseno, diene vor allem als Hilfe, die verwirrenden Elemente der Erfahrungswelt in einen überschaubaren Rahmen zu fassen, damit man dem Chaos des Unberechenbaren entrinnen und sich in seiner Existenz orientieren könne. Damai sei ein Werkzeug im Bemühen, einen Zustand der inneren Ruhe, Gelassenheit und Ausgeglichenheit zu finden, einen psychischen Zustand, der sich in harmonischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, ihrer Mitwelt und dem Kosmos ausdrückt. Das Ziel menschlichen Daseins sei es, seinen Ort in der Welt zu finden. Dies geschehe über die Beachtung von Tradition, Respekt vor dem und den anderen, konsensuale Konflikttransformation und Selbstbescheidung. So ist damai den Friedensvorstellungen, die ich in den Jahren zuvor bei den Mayas Zentralamerikas, in Indien oder Afrika studieren durfte, sehr ähnlich, unterscheidet sich 69
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aber deutlich von dem, was ich in der idealistischen Tradition der deutschsprachigen Friedensforschung gelernt habe. Ich verband meine Beobachtungen über diese fundamentalen Auffassungsunterschiede in den neunziger Jahren mit der Philosophie der Postmoderne, wie sie Jean Francois Lyotard (1994a) interpretiert hatte. Damals ging es mir primär um das Argument der Vielheit von Frieden. Entscheidend war mir der Nachweis, dass es mehr als nur eine legitime Möglichkeit gibt, Frieden zu denken. Ein gutes Jahrzehnt später erscheint mir dieses Argument so selbstverständlich, dass mich nur das immer wieder kehrende Staunen der nachwachsenden Generationen von Studierenden der Peace Studies und erst recht der Politikwissenschaft daran erinnert, dass es keineswegs so selbstverständlich ist. Vor allem Menschen, die in Europa oder Nordamerika sozialisiert sind, begreifen Frieden affektiv als Singular – so wie sie auch Gott, Vernunft, Sicherheit, Wahrheit oder Recht als eine singuläre Größe betrachten. Ich erinnere die Fassungslosigkeit einer Klasse, als ein Student aus Burkina Faso sagte, dass here, das Wort für Frieden in seiner Muttersprache, ursprünglich nichts anderes bedeute als »frische Luft«. In diesem Augenblick, als ich schon etliche solche Bedeutungen und Herleitungen gesammelt hatte, wurde mir klar, dass ich mich nicht nur auf den empirischen Nachweis beschränken darf, dass es eine Vielzahl von unterschiedlichen Friedensbegriffen auf der Welt gibt. Viel mehr geht es darum, wie sie sich konkret definieren, unterscheiden und zu einander in Beziehung stehen. Friedensphilosophie ist zu allererst die Metawissenschaft der Ästhetik und Relationalität empirisch nachweisbarer Friedensbegriffe. Auf das Erstaunen über die »frische Luft« folgte nämlich die Begeisterung über die Schönheit des Wortes: Kann es einen besseren Weg geben, den Frieden zu erfahren, als »frische Luft« zu atmen? Ja, ist das Atmen an sich nicht das fundamentalste, verbindlichste Tun aller Geschöpfe für sich selbst und doch in zwangsläufiger Beziehung zu einander – und damit der lebendigste Maßstab der Frieden schlechthin? Nehmen wir nicht mit jedem Einatmen die ganze Mitwelt in uns auf? Geben wir nicht selbst mit jedem Ausatmen etwas aus unserem tiefsten Inneren, etwas sehr Intimes und Authentisches, an die Mitwelt ab? Dringen Partikel unseres Atems nicht wieder in die Lungen und Körper anderer Lebewesen, sodass wir sagen können, dass alles Lebende über das Atmen inniger mit einander verbunden ist als durch irgendeine andere Tätigkeit (das Hören vielleicht ausgenommen)? Ist Atmen nicht das elementarste Zeichen des Lebens, in vielen Sprachen synonym mit Seele, und ist daher die »frische Luft« nicht die bestmögliche Beschreibung eines erlebten Friedens? Was uns der Kollege aus Burkina Faso vermittelt hatte, umschreibt die tiefste Einsicht des Mystizismus, welche für Hindus, Buddhisten, Jainas, 70
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Taoisten, Yogis, Sufis, Asketen und Schamanen aller Richtungen sowie Sänger, Tänzer und Schauspieler keineswegs erstaunlich ist. Für sie alle steht die rhythmische Steuerung des Atems im Zentrum jeder Tätigkeit, bei der es um inneren oder auch sozialen Frieden, um Verbundenheit und Ästhetik geht.3 Bedarf es also nicht einer gehörigen Entfremdung des Menschen von der Natur, um über die »frische Luft« als Fahrzeug der Frieden erstaunt zu sein? Dabei sind damai oder here keineswegs Kuriositäten. Energetische Erfahrungen von Frieden sind überliefert, seit der Mensch als Gattungswesen Bewusstsein über sich selbst erlangte. Zuerst waren dies archaischmagische Deutungen der Erfahrung von Frieden als gemeinsames Eingebundensein in den ewigen Ablauf von Schöpfung, Dasein und Vergehen, die fundamentale Erfahrung des Ernährt- und Geborgenseins auf und in der Welt, wie es sich in den Mutterkulten von Nordafrika bis Indien nachweislich ausdrückte. Eine solche Erfahrung leitet das, was wir heute Frieden nennen, naturgemäß aus den Prinzipien der Fruchtbarkeit ab. Unter komplexeren Bedingungen wird energetischer Frieden als Gemeinsamkeit von weiblich und männlich erlebt und beschrieben, wie wir es im Tao als Verhältnis von Yin und Yang, im Hinduismus als Shiva und Shakti oder im Voodoo als Ayida und Dambahla finden. Die wasischen Zwillingsgottheiten Freyr und Freya repräsentierten einst direkt die Lust als Fruchtbarkeits- und Friedensprinzip, und Pax und Mars waren vor ihrer imperialen Umdeutung das weibliche und männliche Symbol der Fruchtbarkeit, Pax im Ackerbau, Mars in der Viehzucht. Beide Zusammen ergaben Frieden (Bandini 1999; Cooper 1977; Swami Veda Bharati 1986; Weiler 1995). Besonders Androgyne wie Dionysos in der Ägäis, Obatalá in der Karibik, Ardhanarisvara in Indien sind vitale Zeugnisse eines energetischen Friedensverständnisses (Uhlig 1998: 20-34). Der energetische Zugang zum Frieden führt in der Regel aber über die archaische Gleichsetzung von Frieden mit Fruchtbarkeit und den mythischen Mutterkult hinaus. Das häufigste Modell ist dabei das, was im Tao als »kosmische Triade« beschrieben wird. Gemeint ist damit eine energetische Balance von Gesellschaft, Natur und Übernatur. Im chinesischen Kanton vereint der Begriff He Ping exemplarisch die Bedeutung von Harmonie (He) mit Frieden (Ping) zu einem philosophischen Konzept, das man mit »Friede aus Harmonie« übersetzen könnte und das den energetischen Friedensbegriff wohl am besten beschreibt. Dabei ist das Zeichen für Ping seinerseits ein Zusammengesetztes. Dessen Elemente lassen sich getrennt mit »alles auf der Welt« und »ruhiger Atem« übersetzen. Im Kontext der Großen Triade ist Friede also »ruhiger Atem auf der ganzen Welt«, aber für sich allein, als Einzelbegriff oder Zustand, nicht denkbar, sondern nur als aus der Harmonie von Yin und Yang abgeleitete Wahrnehmung. 71
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Das Zeichen für Harmonie, He, ist ebenfalls zweigliedrig, wobei ein Teil für »Göttlicher Atem« oder »Lebenshauch« steht, der zweite auf »Mund« als Inhalt verweist und zusammengesetzt »Resonanz« in einem durchaus musikalischen Sinn meint. Harmonie ist hier also die »Resonanz des Göttlichen Atems«, wobei das Göttliche als immanenter, nicht als transzendenter Begriff zu verstehen ist. Der entsprechende Friedensbegriff meint in seiner Ganzheit somit den »ruhigen Atem in Resonanz mit dem Göttlichen Atem in der ganzen Welt«, womit wir wieder bei einer Entsprechung der Metapher von der »frischen Luft« angelangt wären. Harmonie entsteht im Tao, wenn der Mensch die »Resonanz des göttlichen Atems«, den Fluss des Natürlichen, möglichst wenig stört. Das Geschehenlassen, wu-wei, ist daher eine Tugend des taoistischen Friedensverständnisses (Kam-por 2009). Das mag einfach klingen, ist aber in der Praxis sehr schwer zu leben, weil jede neue Situation, jeder neue Zusammenhang, jede neue Herausforderung eine unmittelbare Reaktion des Menschen erfordert, der nach taoistischem Verständnis zu leben versucht. Er kann dabei auf keinen festgeschriebenen Wertekanon, keine Normen oder ewige Gesetze greifen und unterliegt dennoch einer kosmischen Ethik. Für Menschen, die eine dem Tao entsprechende Lebensform, Te, anstreben, stehen nur literarisch anspruchsvolle Lehrgedichte, Anekdoten, Betrachtungen, Sinngeschichten und Allegorien zur Verfügung, welche Orientierung geben mögen, nicht aber verbindliche Handlungsanleitungen (Wimmer 2004: 190). Harmonie entsteht in diesem Sinn zu allererst im Menschen selbst. Daraus wächst die Harmonie mit den anderen und weiter die Harmonie mit der Welt. Und es ist die Bestimmung der menschlichen Welt, der Harmonie der natürlichen zu folgen. Erst mit den Institutionen kommen nach dieser Weltsicht Künstlichkeit und Opportunismus in die Gemeinschaften. Jede Regierung zwingt die Menschen Standards zu folgen, was der Natur jedes einzelnen zuwiderläuft. Der Taoismus betrachtet die Institution daher als identisch mit Störung der Harmonie und damit des Friedens. Ebenso wird die Idee des Fortschritts abgelehnt, weil sie den Menschen von seinem Ursprung fortführt (Cooper 1977: 77-87). Der Taoismus liefert in philosophischer Hinsicht die wahrscheinlich klarste, einfachste und zugleich reifste Interpretation energetischer Friedensvorstellungen. Aus der energetischen Grundlage der »Großen Triade« folgt ein relativer und niemals vollständiger Wertekanon, den Menschen wie Gemeinschaften situativ auslegen und dem entsprechend handeln müssen. Dies erfordert ein hohes Maß an ethischer Reife, ästhetischem Feingefühl, denn der natürliche Gang der Welt in all seinen Zusammenhängen muss vom Menschen, der nach dem Taoismus handelt, gelesen und gelebt werden können. Das ist menschenmöglich, was in vielen Zusammenhängen gedacht, gelebt und bewiesen wurde. 72
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Moralische Fr ieden Nach Karl Jaspers markiert die Einführung der Wahrheit in die griechische Philosophie im Kontext der Ausbildung der Polis den europäischen Teil einer weltgeschichtlichen »Achsenzeit« (Jaspers 1949). Das Zusammenwirken der damals neu erfundenen Wahrheit mit der ebenso neu konstruierten Institution (Polis, Imperium, Staat, Kirche) wird entscheidendes Werkzeug zum Überwinden des energetisch erlebten Friedens, der ab nun nur noch in Minderheitenmeinungen etwa der Pythagoräer oder im Dionysoskult fortlebt. Als dramatisches Beispiel hierfür diene die Umdeutung der römischen Pax von der vorimperialen Fruchtbarkeitsgöttin in die Friedensgöttin des Römischen Imperiums, welche zur Zeit des Kaisers Augustus gemeinsam mit der Siegesgöttin Victoria verehrt wurde – als »Siegfrieden«, der ab nun für einen normierten Frieden zwischen staatlichen Institutionen stand. Ein moralisch begründetes Friedensbild liegt ab nun dann vor, wenn eine sich selbst durch ihre bloße Existenz und Sozialmächtigkeit rechtfertigende Norm die ultimative Erklärung dieses Friedens ausmacht, im weitesten Sinn also dann, wenn Frieden als Pakt, als pax, in dieser neuen, imperialen Deutung verstanden wird (Galimberti 2005; Illich 1982). Doch dieser Zugang führt uns letztlich in einen wenig erhellenden Zirkelschluss: Friede ist, weil Friede ist. Es muss also die Frage folgen, warum sich manche Gesellschaften mit einem solchen Friedensbild begnügen, während andere auf dem energetischen beharren. Die Lösung der Norm aus dem energetischen Zusammenhang und ihre Verselbständigung erfolgen über die Moral. Nicht jede Norm ist moralisch, aber die Umwandlung energetischer Weltbilder in moralische zieht eine unmittelbare Aufwertung der Normen nach sich, weil in solchen Konstrukten die Institution eine zentrale Rolle spielt, und für diese die Norm zuerst ein Werkzeug zur Herrschaft, dann aber ein Daseinsgrund ist. Solche Tendenzen können vor allem durch Krisensituationen von Gesellschaften ausgelöst werden, durch perpetuierte Ausnahmezustände, welche Institution und Herrschaft legitimieren. Hier entdecken wir die sensible Übergangslinie zwischen energetischen und moralischen Friedensbildern. Die Daseinsvorsorge ersetzt das Dasein. Die Krise im Hier und Jetzt, die akute Bedrohung des Überlebens, ist jedem Menschen mit seinen Sinnen erkennbar, mit denen er auch die energetischen Frieden wahrnehmen kann. Die Bedrohung kann gehört, gesehen, gespürt, gerochen und sogar geschmeckt werden. Die perpetuierte Krise hingegen ist ein Konstrukt, welches sich diesen Sinnen verschließt. Sie zielt auf Erinnerungen von Situationen, in welchen die Menschen sich bedroht und hilflos fühlten. Diese Erinnerungen müssen durch 73
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herrschaftliche Diskurse aktiviert werden, sodass sich die Menschen aus Angst, dass sich das sie traumatisierende Ereignis wiederholen könnte, den herrschaftlichen Normen unterwerfen, die vorgeben, sie vor diesen erinnerten Ängsten beschützen zu können. Die Wirkungszeit des moralischen Friedens ist somit nicht die Gegenwart, in welcher die Norm gesetzt wird, sondern die Zukunft, welche von den Normsetzern herbeierzählt wird, wobei sie für diesen Zweck die Moral aus der Geschichte nach ihrer Erzählweise der Vergangenheit benutzen. Moralische Frieden haben also viel mit Zukunft und Vergangenheit, aber wenig mit der Gegenwart zu tun. Das menschliche, von seinen Sinnen gesteuerte Bewusstsein lebt aber in der Gegenwart, weshalb moralische Friedensbegriffe in erster Linie eine Botschaft für das Unterbewusstsein sind. Aus diesem Grund brauchen moralische Friedensbilder auch immer ein Thema. Sie können sich selbst nicht genügen, denn ohne traumatisierenden Urgrund und ohne teleologischen Endzweck wären sie nicht nachvollziehbar. Ein themenfreier Friede ist für unsere Sinne in der Gegenwart unmittelbar erlebbar, nicht aber als vergangenes Ereignis und nicht als zukünftiges, weshalb der moralische Friede uns in den Spielarten etwa von »Friede und Sicherheit«, »Friede und Gerechtigkeit« oder »Friede und Wahrheit« begegnet. Man kann sich auf vergangene Situationen berufen, in denen die Gemeinschaft in ihrer Sicherheit bedroht war, in denen ihr Ungerechtigkeiten widerfuhren oder sie blind in Irrtümern verfangen war. Die Normsetzung erklärt die zukünftige Erlösung aus diesen Widrigkeiten zum Frieden und verspricht diesen, wenn die Menschen nur der Institution und ihren Normen auf ihrem richtigen Weg folgen. Damit diese Erzählungen Wirkungsmacht erlangen, benötigen sie aber noch ein weiteres diskursives Element – den Dualismus. In energetisch orientierten Modellen werden vorgestellte Dualismen wie männlich – weiblich, oben – unten, schwach – stark, hart – weich und ähnliche funktionell beurteilt und tendenziell aufgelöst, wobei als Ideal stets das Zusammenwirken oder gar Zusammenfallen der Gegensätze angesehen wird. Paradebeispiel dafür ist das Androgyn. In moralisch orientierten Erzählweisen hingegen lassen sich all diese Gegensätze in den Grundraster richtig – falsch oder gut – böse schreiben, und der Dualismus verwandelt sich zu binärer Ausschließlichkeit. Jemand oder etwas kann entweder gut und richtig oder böse und falsch, aber nicht beides gleichzeitig sein. Aus diesem Grund wird der Sieg des Guten über das Böse, des Richtigen über das Falsche, Gottes über Satan, zum moralischen Gebot des Friedens. Dies zeigt, wo das entscheidende Spannungsverhältnis zwischen den energetischen und den moralischen Friedensbildern liegt. Es ist nicht die Norm als solche, die den Unterschied macht, denn Normen kennt auch das energetische Friedensbild. Diese sind aber »unbedingt« in dem Sinn, dass sie 74
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zwischen den kommunizierenden Einheiten sozialer Systeme immanent als verbindlich gelten, während das moralische Friedensbild »absolute« Normen setzt, welche explizit oder stillschweigend auf einen transzendenten Referenzpunkt rekurrieren.
Moderne Fr ieden Jean-Francois Lyotard (1994b: 204-214) bezeichnet die Moderne als einen Gemüts- und Geisteszustand, für den gesellschaftliches und individuelles Tun der Herrschaft eines Meta-Textes unterliegt, der diesem Tun »Sinn« gibt. Er fasst die Moderne als jenes zeitlich nicht exakt begrenzbare Gesellschaftsprojekt, das auf der Newton’schen Physik, dem cartesianischen Reduktionismus und dem Nationalstaatsdenken des Thomas Hobbes fußt. Diese Säulen geben dem politischen Handeln in der Moderne seinen »Sinn«, bewirken eine als real erlebte Selbstverständlichkeit von Zielvorstellungen, Handlungsanleitungen und deren Befolgung. Die daraus resultierenden Friedensbegriffe können nur innerhalb dieser Vorgabe verstanden werden, und weisen viele strukturelle Gemeinsamkeiten mit der phobischen Logik des moralischen Friedens auf. Sicherheit, Gerechtigkeit und Wahrheit als Determinanten der moralischen Frieden penetrieren auch den modernen Frieden. Innerhalb seiner Spielweisen werden sie zwar unterschiedlich gewichtet, spielen aber stets eine entscheidende Rolle. Hatten die Abraham’schen Religionen den Menschen vom Himmel getrennt, so trennte ihn die Moderne nun von der Natur und bescherte ihm die Vorstellung einer als mechanisches Uhrwerk ablaufenden Welt. Das Denken von Hobbes, Descartes und Newton veränderte den Friedensbegriff derart, dass sich der normative Zugang zur Organisation von Gesellschaften voll ausprägte, denn selbst die Moral unterlag nun rationalen Gesetzen. Die Normen folgten jetzt berechenbaren Prinzipien, welche die Interaktionen zwischen Individuen und der Gesellschaft regulieren sollten. Normen galten ab jetzt schlicht deshalb, weil sie als bestmögliche Form der Gestaltung des Gemeinwohls als verbindlich angesehen wurden. Die Variationen der entsprechenden Friedensbilder werden mit den Namen von so unterschiedlichen Denkern wie Hobbes, Rousseau, Kant und Marx assoziiert, deren Lehren ich hier als bekannt voraussetze. Das Bild der Weltmaschine erfordert aber aller Modernität zum Trotz einen außerhalb stehenden Schöpfer, Sinnstifter und Regenten. Die Vordenker der Moderne gingen auch davon aus, dass ein solcher die Welt von oben regiere, indem er ihr seine göttlichen Gesetze auferlege. Der Urgrund der modernen Friedensbegriffe bleibt somit jenseits der beziehungshaften Verfügbarkeit der Menschen. Nur dass an die Stelle der Priester als Experten der 75
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Deutung der absoluten Weltgesetze jetzt zunehmend die Wissenschafter treten, welche nicht nur behaupten, dass sie das Uhrwerk Welt zu deuten und seine Bewegungen vorherzusagen verstehen, sondern überdies auch noch beanspruchen, so an den Rädchen drehen zu können, dass dadurch eine bessere, eine friedlichere Welt entstünde.
Postmoderne Fr ieden Auf der Basis des vorangegangenen Kapitels lässt sich ein postmodernes Friedensbild als ein solches definieren, welches den Hobbes’schen Nationalstaat, den cartesianischen Reduktionismus und die Newton’sche Physik verwindet. Diese aus der üblichen Formel für die Beschreibung postmodernen Denkens abgeleitete Definition ist für unsere Zwecke allerdings nicht ausreichend. Was soll das für ein Friede sein, der einerseits Hobbes, Descartes und Newton im Andenken führt, andererseits deren Leitsätze aufhebt? Und reicht diese dreifache Verwindung schon? Müssen nicht vielmehr auch Kant, Marx, Darwin und Freud gleich mit verwunden werden? Die Antwort kann nur positiv sein. Die Postmoderne ist nämlich nichts anderes als jene unvollendete Verwindung von verschiedenen Teilaspekten der Moderne. Wäre jene Moderne vollständig verwunden, so würden wir weder postmodern denken noch postmodern fühlen können. Da das aber nicht so ist, da die Verwindung ein komplexer, vielfältiger und asynchroner Prozess ist, muss die Vielheit die zentrale Größe postmodernen Friedendenkens sein. Postmoderner Frieden kann nur plural gedacht werden, weil jeder einheitliche Standard der Ungleichzeitigkeit der Verwindung Gewalt antun würde. Postmoderne Frieden entziehen sich der Differenz zwischen Sollen und Sein und lösen auf diese Art die lineare Chronosophie der Moderne auf. Fortschritt und Entwicklung, Gerechtigkeit und Sicherheit verlieren unter dieser Voraussetzung ihre Attraktivität, und wo einmal der trügerische Charakter ihrer Heilsversprechungen, die Leerheit dieser Denkhülsen erkannt ist, verliert das Sollen seine Macht über das Sein. So versteht sich postmoderne Freiheit. Das heißt, die Vorstellung, dass die Evolution einen Sinn habe, zu dessen Erfüllung die Besseren über die Schlechteren siegen müssten, ist der Postmoderne und ihren Frieden nicht zugänglich. Da ihr die Welt ein System ist, in dem alles mit allem zusammenhängt, hat auch jede Handlung Folgen. Die entsprechenden Veränderungen sind ihr aber keine Fortschritte zum Besseren sondern Anpassungen an das Neue. Das gilt auch für alle Subsysteme, inklusive der menschlichen Spezies und ihrem Geschick. Ich kann nun nicht sagen, dass postmoderne Frieden in diesen Ein76
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sichten gründen. Denn just das tun sie nicht. Sie gründen nicht, weil im postmodernen Denken nichts gründet. Sie formieren sich bloß zu unvollkommenen und unvollendbaren Zusammenhängen, zu dynamischen Gleichgewichten eben, die augenblicklich und perspektivisch als Frieden empfunden und definiert werden können, sofern ihre kleine Wahrheit zu nichts Dauerhaften, zu Sicherheit etwa oder zu Gerechtigkeit, erhoben wird. Kaum tut mensch das, verschwinden sie auch schon wieder und neue Anstrengungen werden nötig.
Transrationale Fr ieden Nietzsches Wort von der »Krankheit des Weißen Mannes« meinte die Verdrängung des energetischen Prinzips (Dionysos) durch das formelle (Apollo) (Nietzsche 1983: 585). Diese hermetische Orientierung mache Europa stark, aber eben auch einsam und gefährlich. In der Philosophie führten diese Überlegungen weiter in die Postmoderne, deren zeitgenössische Repräsentanten sich daran machten, dieses starke Denken (Vattimo 2006) zu de-konstruieren 4 und zu beschreibbarer Vielheit (Lyotard 2004a) hin zu verwinden. Siegmund Freud nahm Nietzsches Verdrängungsprinzip als zentrale Überlegung in die Psychoanalyse auf (Walch 2002). Carl Gustav Jung baute schließlich Freuds Lehre von der individuellen zur kollektiven Dimension hin aus und führte den Begriff des kollektiven Unbewussten ein (Stevens o.A.). Auf Jung wiederum bauen die transpersonalen Ansätze, wie sie vor allem seit den sechziger Jahren von Abraham Maslow (1993), und der Schule von Esalen5 versucht wurden.6 Dies spielte sich parallel zur Entwicklung der Friedensforschung als wissenschaftliche Disziplin ab. Von Beginn an gab es dabei viele Gemeinsamkeiten in der Deutung von Gesellschaft und Kultur. Salopp ausgedrückt könnte man sagen, dass die strukturalistische Phase der Friedensforschung und die transpersonale Psychologie der sechziger- und siebziger Jahre in einer sehr fruchtbaren Resonanz zu einander standen. In Biographien wie der des Friedensaktivisten, Dichters und Psychologen Paul Goodman (1960; Perls/Hefferline/Goodman 1979) laufen Friedensbewegung und transpersonale Psychologie unmittelbar zusammen. Seine Vorarbeit wiederum ist entscheidend für die wenig später weltbewegenden Arbeiten von Ivan Illich (1973; 1976), Paolo Freire (1973) oder Augusto Boal (1979). Aber auch die »Väter der Friedensforschung« in Europa und Amerika, wie Johan Galtung oder Kenneth Boulding, bewegten sich in diesem Spannungsverhältnis. Mit der zunehmenden Bedeutung des Kulturbegriffes, dem Übergang 77
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vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus und seiner Orientierung an den Randkulturen, erfolgt dann auch der Übergang von der post-jungianischen Transpersonalität zur Transrationalität, was heißt, dass sich das Friedensdenken nicht nur von der Hermetik des modernen Wahrheitsbegriffs ab- und einer relationalen Deutung sozialer Vorgänge zuwandte, sondern dass darüber hinaus nach einem Verständnis zu suchen begonnen wurde, welches die Beschränktheit des rationalen Denkens »aufhebt«, also erstens bewahrt (weil eine wichtige Kulturleistung des Menschen als soziales Wesen), zweitens neutralisiert (also ihres aggressiven Wahrheitsaspekts entkleidet) und drittens auf eine höhere Bewusstseinsebene hebt, auf der energetisches Friedensverständnis und Rationalität wieder korrespondieren können. Wir finden in Ken Wilber (1995), Fritjof Capra oder Ervin Laszlo (1996; 2005) die wichtigsten Vordenker dieser Richtung. Sie greifen auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis, dass alle wahrnehmbare Materie nichts als Energie in einer spezifischen Geschwindigkeit ist. Daraus schließen sie auf einen systemischen Zusammenhang, der es erlaubt und erforderlich macht, Friedensvorstellungen zu entwickeln, die den reduktionistischen Individualismus hinter sich lassen und viel mehr auf die Balance und Harmonie der Systeme abzielen. Auf dieser transpersonalen Ebene nähern sie sich auf erstaunliche Art den uralten Lehren des Hinduismus und Buddhismus, wobei sie zu einer Art von aufgeklärter Spiritualität und Anerkennung der energetischen Natur des Menschen gelangen. Transpersonalität von Frieden verlangt insofern nach Transrationalität als deren Erfassung nach der »Entdeckung« der Rationalität, nur jenseits der bekannten Daseinsebenen der Physiosphäre, der Biosphäre und der Noosphäre, somit in der Form einer neuen Spiritualität, möglich wäre, die den energetischen Charakter jeder menschlichen Daseins- und Organisationsform anerkennt. Transrationale Frieden unterscheiden sich also von prärational magischen oder mythischen Orientierungen durch die Anerkennung der energetischen Natur des Menschen bei gleichzeitiger Ausschöpfung und Verwindung seines rationalen Potenzials.
Conclusio Transrationalität ist für Gesellschaften, welche die Postmoderne durchleiden mussten, zugleich attraktiv und erschreckend. Sie ist attraktiv, weil sie jene Leerstelle füllt, die der »Tod Gottes« in der Moderne und der Verlust des modernen »Sinns« in der Postmoderne hinterlassen haben. Sie gestattet erfahrbare Spiritualität und vermittelt soziale Wärme. Zugleich droht sie, wie spirituelle Lehren aller Zeiten und Richtungen, mit der Entschlei78
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erung der Konstruiertheit der Individualität in der manifesten Welt, ohne die Leerstelle, welche »Gott« und »Sinn« hinterlassen haben, mit einer neuen Teleologie zu besetzen. Das Individuum wird auf der Suche nach transrationalen Frieden erfahren, dass es bloß ein Dividuum ist. Daraus ergibt sich, dass in einem transrationalen Rahmen Friedenskonzepte der herkömmlichen Art, seien sie nun idealistisch oder realistisch orientiert, nur eine begrenzte Reichweite haben. Ihre Teleologie verhält sich zur Transrationalität wie ein Faden zum Gewebe. Wo das erkannt wird, schlägt es sich zwangsläufig auch in den Leitfragen der Friedensforschung und den Curricula der Friedensstudien nieder. Die zielen dann nicht mehr auf ein mechanistisches, idealistisches und handwerkliches »Frieden Machen« ab, sondern auf einen holistischen Erkenntnisprozess im einzelnen, der in diesem Sinn eher als Suchender denn als Studierender zu verstehen sein wird. Transrationaler Frieden vertraut auf die transpersonale Wirkung dieses Suchens und Erkennens, so wie ich es zuvor im Kapitel über die energetischen Friedenskonzepte, insbesondere das Tao, beschrieben habe. Die entsprechenden Curricula begleiten daher eher die studierend Suchenden auf dem Weg des Erkennens und vermitteln nur begrenzt jenes Maß an kognitivem Wissen, das dafür unerlässlich zu sein scheint. Ein derartiges Curriculum beschreibt somit im eigentlichen Sinn des Wortes einen Weg, es schreibt aber nicht die Erfahrung vor, welche jene machen, die ihn selbst beschreiten. Transrationale Erfahrung mag wohl dann und wann zu einer friedensstiftenden Meisterschaft führen. Meistens aber bleibt sie ein heilsamer und unvollendbarer Versuch, und es ist unwahrscheinlich, dass sie jemanden dazu animiert, emsig von einem Krisenherd zum anderen zu jetten, um die eigene Expertise als Friedenswalterschaft zu verkaufen. Das mag aus der Sicht des idealistischen Mainstreams unserer Tage wenig spektakulär, ja vielleicht sogar langweilig und enttäuschend klingen. Wo bleibt nun das Heil? Gibt es nicht unendlich viel zu tun auf dieser Welt? Erfordert ihr erbärmlicher Zustand nicht ein rasches und konzertiertes Handeln, wenn wir sie überhaupt noch retten wollen? Können wir es uns angesichts des schreienden Unrechts und der allenthalben beobachtbaren Grausamkeiten denn überhaupt leisten, uns in transrationaler Spiritualität zu ergehen? Ist das moralisch zu rechtfertigen? Ich meine nein, moralisch gesehen nicht. Aber könnte es nicht sein, dass uns eben jene moralischen Tiefencodes die kritische Sicht auf die Rationalität jenes Handelns verstellen, das zu diesem Zustand geführt hat? Erfahrungsgemäß hat Friedensarbeit nicht dort ihren größten Effekt, wo Konflikte augenblicklich mit physischer Gewalt ausgetragen werden, sondern da, wo die materiellen Umstände eine konstruktive Bearbeitung von Tiefenkulturen und Tiefenstrukturen erlauben. Da also, wo eine entspre79
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chende Kommunikationspsychologie hörbar eingesetzt und entsprechende Selbst-Reflexionsprozesse angeregt werden können, bevor sich posttraumatische Befindlichkeiten zu neuen Zyklen der Gewalt auf bauen. Wie Kenneth Boulding (1989) oder Francisco Muñoz (2006: 392-434) festgestellt haben, ist es ja erstaunlich, wie sehr unsere Aufmerksamkeit stets den gewaltsam misslungenen Akten der Konflikttransformation gilt und nicht der weit überwiegenden Mehrzahl der völlig unspektakulär gelungenen. Sie sind die eigentliche, weil kooperative und nicht kompetitive, Erfolgsstory der Spezies Mensch und verlangen deshalb nach vielen einigermaßen wachen Exemplaren dieser Art. Diese, auf der Höhe des Bewusstseins ihres rationalen und energetischen Potenzials, sind die aus ihrem Inneren heraus in die Allgemeinheit wirkenden Schlüsselakteure der transrationalen Frieden. Sie brauchen nicht im Rampenlicht zu stehen, werden selten über Schlachtfelder hetzen oder politische Forderungen stellen, sie retten nicht die Welt und halten sie doch im Gleichgewicht. Transrationale Frieden nicht einfach anzunehmen, sondern sie zu lehren und zu lernen erscheint mir daher dann als sinnvoll, wenn wir das Gefühl haben, dass dieses Gleichgewicht ernsthaft bedroht ist. Da offensichtlich viele Zeitgenossen aus ihrer postmodernen Verfassung heraus ein solches Gefühl beschlichen hat, haben wir uns an der Universität Innsbruck über ein solches Projekt transrationaler Didaktik und Methodik der Friedensstudien gewagt.
Anmerkungen 1
www.tirol.gv.at/peacestudies Dazu überzeugend das jüngste Buch von Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren; Hamburg, 2007. S. 95-133. 3 So zum Beispiel Eliade, Mircea: Der Yoga des Patanjali; Freiburg, Basel, Wien, 1999. S. 69-83. (Erstausgabe 1962). 4 Zur umfangreichen Diskussion dieses von Derrida geprägten Begriffes siehe z.B. http://prelectur.stanford.edu/lecturers/derrida/deconstruction.html [abgerufen am 1.8.2006]. 5 Ruth Cohn, Stan Grof, Fritz Perls, Carl Rogers, Virginia Satir und viele andere. 6 www.esalen.org/info/information.index.shtml [abgerufen am 1.8.2006]. 2
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Sexism and the War System 1 Betty A. Reardon
Introduction The fundamental purpose of this paper is to argue the need for an integration of feminist scholarship with peace research in order to overcome the inadequacies of each in their separate attempts to abolish respectively sexism and war. This argument is grounded in the contention that both phenomena depend on violence. It leads to the assertion that only by the application of a theory of reciprocal causation giving equal consideration to both the psychological and the structural causes of sexism and the war system can we gain a sufficient understanding of the problems and their interrelationship to enable us to transcend them. Transcendence is possible because our problems derive primarily from learned behaviors resulting from an interplay between psychological and structural factors. Learned behaviors are subject to change, and change is a question of choice. Feminists and peace researchers are faced with what I argue is a crucial choice in the development of human knowledge and human society. Whether they choose (as I argue they should) to merge their perspectives, modes of inquiry, and strategies for action or to continue on their distinctly separate but significantly parallel paths can make a profound difference in both epistemology and politics, particularly the politics of transformation. Before such a merger can take place, however, peace researchers must recognize the legitimate claims of women to full participation in all human affairs, including peace research, and the relevance of »women’s issues« to the substance and purposes of peace research. Since the United Nations declaration of International Women’s Year in 1975 and the consequent International Women’s Decade, much lip service has been given to the relationship of women to three basic themes: equality, development, and peace – the interrelationships among them, and their 83
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significance to the future of the planet. While most of the »official« and organized concerns and efforts in the industrial world have focused on equality, and in the Third World on development, virtually no substantive consideration nor even lip service has been given in either region to the relationship between women’s issues and peace.
Psychosocial Obstacles to Peace The working assumptions that underlie the basic problems reviewed in this paper (and the monograph which is the source of this paper) arise from a series of hunches, intuitions, and insights. Although the dictionary does not make very fine distinctions between those three concepts, they are to me stages of what has been recognized as a feminine mode of thought development; and it is important for the purpose of this piece – the encouragement of a convergence between women’s movements and the peace movement – to provide at least a brief overview statement of those assumptions especially relevant to that purpose. The initial assumption is one that is becoming widely shared among peace educators. It is that the major obstacle to disarmament is not political but psychosocial; it is fear-the fear of being defenceless in the face of an attacker or an antagonist – that is almost universally manifest in both individuals and in societies. Various peace researchers also assert that the problems of war and sexism arise not from nature or from instinct, but rather from social conditioning and acquired psychological needs. Although social conditioning and learned behaviors are currently a subject of study by both peace researchers and peace educators, few have yet addressed the psychological needs that are met by both the war system and sexism. The works of Garcia Chafardet and Fornari are notable exceptions to this lack of attention to psychological needs, and lead to a consideration of the possibility that social and political institutions actually derive from inner constructs of the human psyche. Therefore, achieving radical institutional change, which probably the abolition of war and certainly the abolition of violence necessitates, will require comprehension of what those inner constructs are. Because we have created our own sociocultural environment, understanding ourselves becomes a primary requirement for changing that environment. A better understanding of our own psychosocial reality and the conditions and experiences that produced it can lead us not only to the requisite knowledge but, even more significantly, it can offer us hope for positive change. Both sexism and the war system are culturally conditioned
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and therefore subject to change. As my Teachers College colleague Patrick Lee put it: It is because we are such deeply socio-cultural creatures (i.e., selfcreated) that socio-cultural and psychic qualities appear as hard as instinct and »nature«. There is a difference between deep and hard. The former is fundamental, but in principle open to relatively rapid historical change; the latter is also fundamental but less open to change (P. Lee, personal communication, 1983).
The profoundly sexist history of the human species indicates that the socially induced and prescribed separations and differences between the sexes are a very significant component of the inner psychic constructs. They may well be the psychic origins of war, sexism, and all structures of violence and oppression. Various feminists have pointed to the oppression of women by men as the first and most fundamental form of structural oppression. It is clear that for both boys and girls the first socially encountered other, a person they perceive as being different from themselves, is usually of the other sex; and our experience indicates that it is others, those different from us, who threaten us and instigate the fear that gives rise to the notion of enemy and, ultimately, the practice of war. Society reinforces and exacerbates this perception of otherness. It is, I think, of some significance that psychiatry has pointed out that the enemy often becomes the embodiment of what we fear or reject in ourselves. We attempt to exorcize our own bad spirits by projecting them on others. A major function of others is, in fact, to meet various needs we cannot fulfi l ourselves. When these needs are recognized as positive and good, we love or feel kindly toward the others who fulfi l them. When they are negative or bad, we hate and despise the others and fear their power over us. For only by granting them such power can we abnegate responsibility for our own negative behavior. A classic case of this process is attributing temptress behavior to women who »lead men astray« and making the prostitute but not her client culpable before the law. We usually manage to punish others for our own sins. Society thus needs criminals and enemies. Eve was the first of many to serve »mankind«. Because we have yet to learn the full wisdom of the popular sage Pogo (»We have met the enemy and he is us«), the enemy is always other, and feared.2 It is widely acknowledged that both sexist society and the war system are kept in order by the capacity to use or threaten the use of violence against those others who arouse fear. It is important to note that various researchers have asserted that the similarities between males and females of the human species are far more significant and numerous than the differences (Lee/Gropper 1974). In fact, in humans the similarities are stronger than in most other species. Lee 85
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and Gropper cite Birdwhistell’s argument that the differences imposed by custom and socialization originated in the need to have visible signs of otherness for purposes of mating and reproduction, purposes served in other species by more readily perceivable signals. Research does indicate that most of the behavioral differences between human males and females are the consequence of socialization and education. The artificial differentiation thus imposed on men and women leaves in its wake a very deep sense of fragmentation and loss, perhaps even a sense of having been wounded or traumatized by a rending of one set of characteristics from every human being at the time of birth – a cleavage that I refer to as the primal wound. A sense of trauma and pain can be one source of what has been identified as an instinctual fear of others and could possibly account for the presence of what has been designated as natural aggression. What is important here is to recognize the common emotional roots as well as the structural interrelationships between sexism and the war system. Both are grounded to a large extent in the primitive fear of the other. These commonalities must be taken into consideration by peace studies and schemes, particularly when such studies and schemes attempt to deal with transition to peace or with the requirements of transformation of the global social system. These psychic areas of concern are not always taken into account in planning for structural change, but should be an integral part of the research and policy planning for what peace researchers call global transformation. In addition to the value changes, some fundamental psychic transformations are required to change both those social processes and those human behaviors that are now primarily energized by violent force. Peace research scholars and advocates should recognize the importance of changes within individuals as necessary components of global transformation because a fundamental fear standing in the way of disarmament is fear in the individual person, projected onto the social order (Fornari 1974). In asserting the need for inner change, the intent is not to argue the irrelevance of sociopolitical determinants, but rather to observe their inadequacy to a truly transformation-oriented analysis. It certainly can be argued that the fears fueling the arms race in times of the Cold War and the present war on terrorism are »organized by human social structures« and »introjected into the individual psyche« (P. Lee, personal communication, 1983). What peace research needs to be working toward is an understanding of the interplay between social structures and psychological forces, for »human sociality and human personality are reciprocally determining« (P. Lee, personal communication, 1983). Finally, it must be recognized that transition as well as transformation will need to be learned, just as the conduct of warfare and the practice 86
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of sexism are learned. The transcendence of warfare and sexism at the behavioural level can also be learned. We can engage in a conscious learning process to change human relations and change the world political system. However, the quality of those changes will depend in large part on how we address the »war within« – the struggle created in every human being by the cleaving of the total human potential and personality into two distinct and separate parts, male and female, which are molded into socially rigid and confining sex roles.
Enemies and Victims: The Militar ist-Sexist Symbiosis Some feminists are now asking the question: Is peace possible in a patriarchal society? If we defi ne peace as a condition in which peace values prevail for the majority of the Earth’s people, the answer clearly is no! Peace and patriarchy are antithetical by definition. Patriarchy is the rule of the fathers. It is a system of male headship, male domination, male power – a system of controlling women through economic dependence, violence, and domestication – a system which assigns women to the private sphere of home and family and directs white males to the public sphere of work and decisionmaking. Patriarchy is a system of dualisms: mind over body, thinking over feeling, heaven over earth, spirit over flesh – dualisms in which women are identified with the negative side. Patriarchy is a system of values developed through male experience: competition, hierarchy, aggression, bureaucracy, alienation from the earth, denial of emotion, generational short-sightedness, the objectification of other, whether it be of sex, race, or class (Zanotti 1979). This dualism is also manifest in war, a competitive game requiring aggressors and victims who play through the deadly combative ritual to achieve status and be recognized as winners or losers. Most often the aggressor becomes the winner. Aggressors also need enemies. The role of enemy is the common denominator. In the war system everyone is and has an enemy, and all are either winners or losers. As societies we strive for the winner role, but as persons defined by sex, men are conditioned to play winners and women losers. (In this aspect racism is also a significant component of the game, with whites the winners and people of colour the losers.) These are their fundamental roles in patriarchy. Although patriarchy certainly has not precluded loving, caring, generous fathers, it has tended to impede the development of those particular human attributes in men. Men are socialized for authority and responsibility rather than for care and 87
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love; women are socialized for submission and dependence rather than for assertion and autonomy. Patriarchy has also legitimated the use of force to assist those in authority to impose their wills on those subject to them. Granted, this imposition is based on the assumption that the will of the authority is in the best interest of all concerned because it stems from superior knowledge and wisdom. As subjects, both men and women are expected to accept the forceful imposition of the will of the authority, but men are expected to develop the capacity to impose their own will on others lower in the authority chain, whereas women have been trained not only to accept imposition but to accommodate totally to it. They must be as pleasing as possible to authority figures, never anger them or risk more forceful, even violent, imposition. Much so called feminine behavior, accommodation and wiles, is the consequence of this particular condition, which requires mechanisms for coping with authoritarianism and avoiding violence. Men are conditioned to be aggressive and ready to use violence and women are conditioned to fear and avoid it.
Threat as System Maintenance: The Issue of Rape In patriarchal society persons are bred to violence and authoritarianism: to cope with it and to impose it. It is developed in us from our earliest days. Indeed, some see patriarchy itself as the fundamental cause of war and oppression (Mallmann 1978). The authority structures that pervade the military also pervade the entire society. The fundamental willingness to use violence against others on which warfare depends is conditioned by early training and continuous socialization in patriarchal society. All are taught to respect authority, that is, fear violence. Men are conditioned to deal with their fear of violence by developing the capacity to use it competitively with equals and oppressively on inferiors. Women are conditioned to deal with the fear of violence, not only by developing behaviors of accommodation and avoidance but also by learning to cope with it as a fundamental given of the human condition. Because they must cope with and avoid violence, women are permitted to express their fear of it. Demonstration of fear is feminine in women but cowardly in men. The sexist conspiracy, however, secretly communicates to boys that, although macho men do know fear, they simply do not show it. Indeed, boys and men are encouraged to become more fierce, more aggressive when they feel fear. Fear in men is channelled into aggression, in women into submission, for such behaviors are necessary to maintain 88
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patriarchal authoritarianism. Aggression and submission are also the core of the basic relations between men and women, accounting, many believe, for women’s toleration of male chauvinism. Some assert that these behaviors are the primary cause of all forceful exploitation, and account for perhaps the most significant common characteristic of sexism and the war system: rape. Rape essentially is forcing a person or persons into submission and accommodation by the threat or use of force and violence. There are analogies to sexual assault in the treatment of enemies and subject peoples that indicate that submission to force in order to survive makes both sexism and the war system possible. Were it not for the possibility that wars could be won and that women would continue to accept sexist domination, neither system could be perpetuated. Both assume that at base most human beings hold physical survival as the highest value. »From prehistoric times to the present, I believe rape has played a critical function. It is nothing more or less than a conscious process of intimidation by which all men keep all women in a state of fear.« (Brownmiller 1976) Rape, as the term is used here by Brownmiller, is to male-female relations what the behavior of conquering troops is to occupied territories, what the trappings of imperial authority are to colonialism. Rape in various forms has been a traditional war system device used for symbolic or deterrent purposes as well as the basic intimidating mechanism to maintain submission. A secretary of state who talks about a demonstration use of a nuclear weapon displays the same underlying motives as the right-wing terrorists who rape and murder women missionaries working for people the right-wingers see as involved in a left-wing or communist struggle. The system, however, obscures the evidence that »nuke rattling« and politically motivated sexual assault are aspects of the same phenomenon. This is demonstrated by the virtual failure of most media to report that the American churchwomen murdered in El Salvador in December 1980 were also raped. In an article in the National Catholic Reporter it was noted, »A special message was sent to us by the rapists and murderers of the four American women. They wanted to make it clear that women who step out of their place will find no special protection behind the labels of ›nun or churchworker.‹ Or even ›American‹.« (Papa 1981) Rape is, indeed, a deliberate device to keep women in line.
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Structural Violence: Systematic Oppression Based on Human Dif ferences Oppression is the most significant manifestation of structural violence. Most frequently it is based on sex, race, and class and, in some cases, on culture, age, or politics. One of the major mechanisms for sustaining oppression is the process of the acculturation of the oppressed, which Frantz Fanon and Paolo Freire, among others, have suggested results in their internalization of the image of the oppressor. This internalization is, I believe, a coping device that enables the oppressed to survive by accepting (or giving the appearance of accepting) the values and world view of the oppressor rather than engaging in a struggle against the oppressor that likely would lead to self-destruction. Thus oppressed peoples frequently have rationalized their condition by accepting the assertion of the oppressor that he is superior and entitled to privilege because he exemplifies an ideal form of humanity. Many oppressed peoples have accepted a sense of their own inferiority as the price of survival. As Garcia Chafardet points out, this phenomenon not only devalues the intrinsic characteristics of the oppressed, it also adds to the chain of oppression, holds hierarchical relations in place, and continues to produce enemies and victims. This prevailing socialization process [i.e., socialization of the oppressed] has conditioned human beings, to a greater or lesser degree, to feel superior or inferior to each individual with whom she or he interrelates. It seems that the more we fear and resent higher authority the more we tend to oppress those we perceive as inferior (Garcia Chafardet 1978). Garcia Chafardet attributes the male-female form of hierarchy to the greater physical strength that men were able to manifest in the earliest stages of human society, thereby according physical strength the capacity to determine inferiority and superiority. If, as asserted by such peace researchers as Johan Galtung (1980), it is true that all unequal relations are essentially conflictual, there has been a battle between the sexes since the earliest days of civilization. It is quite understandable that most human beings believe that war is the consequence of human nature, for our entire history as a species has been characterized by contention and confl ict among and between people, starting with the fundamental conflict between men and women (Brownmiller 1976). A major coping device by which women have sustained themselves in this conflict of inequality is the »If you can’t beat ’em, join ’em« strategy. Women’s acceptance of male superiority has been almost as much a contributing factor to sexism as men’s exercise of intimidation and force. 90
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Thus there is some evidence to uphold the thesis that there can be no oppressive system without the assent of the oppressed. It seems equally evident that the oppressed do battle in their own way. In a sense, many of the negative »feminine« characteristics are manifestations of the earliest type of guerilla warfare against an oppressor. Deception, obstructionism, recalcitrance, and unwelcome surprises are standard elements in non-formal warfare. What Garcia Chafardet refers to as games of victimization that women engage in also are engaged in by men and are part of the standard behavioral repertoire of the oppressor as well. There is a tacit agreement that the oppressor will complain but not respond with destructive force to these tactics, for there is, after all, no need. These tactics, in fact, keep the system in place, and therefore are to the oppressor’s advantage. The oppressor is aware of the battle waged by the oppressed, looks on it with contempt and disdain, but continues to tolerate it. I was, for example, dismayed but not surprised to hear a Catholic priest say, in discussing aspects of the confessional, »Women are totally incapable of telling the truth. I really don’t expect that what they say is what has indeed happened.« These attitudes demonstrate not only techniques of oppression but also the painful lack of understanding between men and women. Much of this lack of understanding, this communication gap, is doubtless a result of the psychosocial conditioning that seems to reify anatomical differences. Men are conditioned to develop pragmatic minds that deal with the concrete and quantifiable. The ideal masculine mind is precise, technical, and logical in the sense that masculine thought is expected to follow the scientific mode of observing and analyzing reality. He must know the reality, the environment, which he must control. Women are conditioned to be intuitive, sensitive, and feeling, more in touch with emotions than with reason. They must sense their environment in dimensions beyond the empirical. Men are perceived to be rational, women emotional and irrational, and therefore not to be trusted with serious responsibility. Women who have become successful in a man’s world are generally those who have demonstrated superior mastery of logic, reason, or the scientific method. They do not overtly exhibit emotion and intuition. Men and women are conditioned to think differently and to speak virtually different languages. At base, because men are conditioned to be warriors and women to be wives and mothers, there is a social expectation that warfare will take place on battlegrounds, in board rooms, at professional conventions, in the marketplace, and any locus where men compete. Because men always must be ready to do battle, society gives them tacit permission to practice in more private, even intimate, settings, and conspires through sex-role separation to produce the »intimate enemy«, the fundamental relationship that makes 91
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possible many subsequent enemy relationships. The relation to the intimate enemy, like the basic misogyny cultivated by total dependence on the mother, serves to instruct men in those feelings toward an enemy that serve as the enabling mechanism for the legal mayhem, rape, and murder which is war. The intimate enemy is found in the closest human relationships – the mother against whom we struggle for individuation, the spouse with whom we contend to maintain individuality, and the presence of the other in ourselves whom we must exorcise to assure our individual identity as a man or a woman. Both sexes struggle with the intimate enemy. As we have observed that human beings are born into a state of warfare, we also might suggest that the most devastating and painful battles are the consequence of Combat in the Erogenous Zones (Bengis 1972). The battle between the sexes takes place not only in intimate relationships but within each human being. The sense of frustration at having been cut off from a whole range of human characteristics is inevitable, given what I believe to be a Procrustean, limiting socialization into sex role differences. As William Sloane Coffi n, senior minister at New York’s Riverside Church and member of the board of the World Policy Institute, has said frequently, »The woman most in need of liberation is the woman within every man.« A similar point is made by Nancy Chodorow (1978), who indicates that the individuation process in boys usually involves very strong rejection of the feminine as they separate from their mothers. Both Chodorow and Gilligan (1982) observe this rejection as a crucial element in the developmental process that leads men to emphasize individualism over relationship, accounting for a major and perhaps the most significant difference between men and women. Although the separation process in a girl requires some rejection of the mother and therefore the feminine, it does not require rejection of the other. However, society sees to it that she stifles masculine attributes. If there is some tolerance of androgyny in childhood, it must be put aside with other childish things at puberty, at least stored if not discarded. So it also might be said that there is a masculine persona imprisoned in every woman. What greater oppression can human beings experience than imprisonment or enslavement? What greater violence than the death by suffocation of the true self? The structures and the social conditioning to which human society is subject oppress and suffocate us all.
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Misogyny: The Mother’s Milk of Militar ism Society helps maintain the imprisonment of the self by other narrow sexual attitudes, such as attitudes toward homosexuality, particularly in despising male homosexuals and attributing this form of sexuality to any man who demonstrates feminine characteristics. Society subjects such »effeminate« persons to discrimination and despisement if they do not indulge in enough self-hatred to completely sublimate these characteristics and sexual preferences, or hide them. So interpreted, misogyny is not only an expected condition but in fact a form of self-hatred in which both men and women are conditioned to despise the feminine and thereby, to some degree, women (Brock-Utne 1981). Some social observers have identified this type of misogyny as a contemporary rather than a traditional characteristic of society. My own assessment is that the phenomenon has become more apparent owing to a growing sensitivity to the significance of these attitudes to other major social issues. However, it is enlightening to read such cogent observations as: »It is symptomatic of the underlying tenor of American life that vulgar terms for sexual intercourse also convey the sense of getting the better of someone, working him over, taking him in, imposing your will through guile, deception or superior force. Verbs associated with sexual pleasure have acquired more than the usual overtones of violence and psychic exploitation. In the violent world of the ghetto, the language of which now pervades American society as a whole, the violence associated with sexual intercourse is directed with special intensity by men against women, specifically their mothers […] all this enters everyday speech that connects sex with aggression and with highly ambivalent feelings about the mother.« (Lasch 1979: 66-67)
The objectification of women as preconditioning for militarism is well demonstrated in a fi lm entitled Between Men (Roberts 1980), wherein several young men recounting their experiences with the military became conscious of this phenomenon and the degree to which it contributed to their own dehumanization. The development of this kind of sensitivity has arisen from consciousness-raising processes taking place in the male counterpart of the women’s liberation movement, a phenomenon described by Mare Feigen-Fasteau in his book The Male Machine (1978). Feigen-Fasteau documents the negative consequences imposed on men by rigid, stereotypic sex-role designations and indicates the degree to which they function to encourage aggression in men while discouraging it in women. Patrick Lee, of Teachers College, Columbia University, also has 93
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hypothesized that the types of role expectation with which boys grow up are so much more rigidly defined and closely monitored than those of girls that the frustration level in boys is higher, a likely cause of aggression in boys and men (P. Lee, private communication, 1981). The opposite side of the objectification coin is the idealization of women, in its own way equally dehumanizing and oppressive to women. Idealization of women is another link between sexism and the war system and sexual conditioning for war. Christopher Lasch (1979: 189) notes that chivalry was devised as a check on the exploitation of women. Chivalry, of course, called for the protection of women from enemies and unchivalrous men, that is, those not subject to appropriate discipline or military restraints. It was also likely a check on misogyny (which some assert also underlies chivalry). Unchecked misogyny could threaten the replenishment of the population. And, of course, some mechanism is necessary to provide the psychic foundations for care and responsibility for wife, children, and close kin that patriarchy bestows on men. (Marilyn French, in her novels, and various sociologists have observed how frequently this »sacred« responsibility has been violated with impunity even today, as evidenced by incest as child abuse in the United States and »dowry murder« in India.) But chivalry placed limits on the particular women whom men were obliged to idealize or extend chivalric protection to. Today, as if bowing to the obsolescence of physical force as the major manifestation of power in a technological age, new forms of intimidation have been derived to oblige women to accommodate to the all-women-arefair-game syndrome. Many feminists have pointed out that the so-called sexual revolution has tended to erode some of the protection against sexual exploitation formerly provided by idealization and chivalric codes. A slogan to encourage draft resistance during the Vietnam war, »Gals say yes to guys who say no«, is cited by many feminists to demonstrate the degree to which the so-called sexual revolution works against the autonomy of women, for it leaves them less protected and without the options of refusal that the older, more puritanical codes of behavior offered. It also demonstrates the degree to which even extreme radicalism is not immune from the sexist bias that feeds the war system. Given my view of the relationship between sexism and the war system, I see this further objectification of women as additional evidence of the militarization of American society. The objectification-idealization phenomenon also reveals the commonalities between sexism and racism, another exploitative component of the war system. People of non-European origins have been perceived, as have women, as chattel, subject to slavery and the whole range of other forms of exploitation. Yet they, too, have been idealized as noble savages or as possessors of mysterious wisdom or capacities beyond those of 94
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rational Western man. It often has been noted that racism serves as a fuel to the military machine; the young men of nonwhite races, in both the »democratic« Army of the United States and the colonial troops of England, France, and Belgium, have provided an inordinate percentage of cannon fodder. Racial minorities, like women, are excluded from power and from access to official and systematic decision making about the application of coercive force.
Feminism as a Peace Force A significant change in the women’s movement seems to be developing since with the worldwide disarmament movement in the 1980s. Many women’s organizations and groups formerly manifesting little or no concern with issues of war and peace or the arms race have been moved by the unprecedented threat of the spiraling nuclear arms race and the increased probability of nuclear warfare to articulate sentiments against the arms race and to take action to prevent a nuclear holocaust. It was in this context that more feminists are beginning to look at the sexist implications of militarization; to take note of the particularly severe consequences that militarization has had on women’s rights, especially in developing countries; and to recognize the relationship between patriarchy and war. There have been numerous conferences, journal and periodical articles, and a few books on feminism and militarism that may have begun a trend toward a convergence of women’s concerns and peace issues, and could initiate a dialogue between the peace movement and the women’s movement. This dialogue is critical in both senses of the word. Convergence of the two is politically essential to global transformation, and each brings a usefully critical eye to the perspectives and approaches of the other. The more vigorous initiatives come from the women’s movements. More systematic but also more tentative efforts were slowly coming from the peace movement. Women in the peace movement brought into focus on the links between masculine socialization and overemphasis on armed force to maintain national security (Brock-Utne 1981; Reardon 1981). Feminist antiwar slogans such as »take the toys away from the boys« indicated an awareness of how childhood social conditioning, which derives from sex-role separation, reinforces the social legitimation of men’s use of force and weaponry. This slogan suggests the link between the different forms of play boys and girls are encouraged to engage in and the maintenance of sex-role stereotypes to the arms race. Boys who have enjoyed the fun and excitement of war games
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and toy weapons are not so likely to grow up to favor disarmament and the abolition of war. Feminist organizations and publications are taking note of the male chauvinist and misogynist nature of the military and the sexism inherent in world militarization. The fundamental similarities between the social structure of patriarchy and the organization of the armed forces are emphasized particularly by those feminists who acknowledge the war/ threat system as the major vehicle keeping women in their place. They urge women not to accept service in the military as a path to equality, encouraging them rather to join their brothers who have resisted military service on grounds of ethics and conscience. Frequently denounced as cowardly, sissy, or effeminate, these male resisters have in fact demonstrated a reverence for life that has been traditionally ascribed to women rather than to men. They have gone a step beyond feminism to authentic humanism by extending the murder taboo to peoples beyond their own tribe/nation. Some, even more significantly, have come to recognize the other in themselves. As women in the process of liberation have come to acknowledge the masculine in themselves (both as a positive and as a negative force), some men have acknowledged, even embraced, the feminine in themselves. Such acknowledgment of the other in ourselves is essential to the healing of the primal wound and to the concomitant process of humanization. It may well be one of the messages of the Christian injunction to love your enemy. If indeed the terrifier is within us, the healing process requires us truly to love ourselves with all our complexity and weaknesses, and both our feminine and masculine sides. This extension, this attribution of humanity to the enemy (the other), is the essential requirement needed to transcend sexism, liberate women from the ever-present possibility of rape, and free the human family from its thralldom to the war system and from the threat of annihilation posed by the nuclear arms race. Although the connection between violence against women and the war system has not yet received widespread feminist attention, it is forming a more significant aspect of the feminist component of the peace movement and a smaller but conceptually significant influence within the peace research community. There is a strong possibility that this connection between violence against women and the war system will gain greater significance in the women’s movement’s current emphasis on equality.
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Notes 1
This text is based on Betty A. Reardon’s book Sexism and the War System, Teachers College Press, 1985 and Syracuse University Press, 1996. The text, extracted, reduced and compiled by Werner Wintersteiner from chapters 1, 2 and 3 of the original has been reviewed and approved by the author who wishes to acknowledge the considerable changes in the field of gender and peace over recent decades. Since the 1982 first draft of this monograph an outpouring of research and publications have advanced its theoretical development and the promulgation of the Declaration on All Forms of Violence Against Women 1993, the Beijing Platform for Action, 1995 and Security Council Resolution 1325 on Women, Peace and Security, 2000 have brought the issues into the political discourse on international security. This text is published with the friendly permission of Syracuse University Press, Syracuse, NY. 2 Pogo was a cartoon series of social commentary, widely read in the 1980s.
References Bengis, I. (1972): Combat in the erogenous zones, New York: Random House. Brock-Utne, B. (1981): The role of women as mothers and as members of society in the education of young people for peace, mutual understanding and peace (Publication S-12/81), Oslo, Norway: Peace Research Institute of Oslo. Brownmiller, S. (1976): Against our will: Men, women, and rape, New York: Bantam. Garcia Chafardet, I. (1978, October): Sexism and a proposed theory of aggression. Paper presented at the International Symposium on Women’s Political Participation, Berkeley, CA. Chodorow, N. (1978): The reproduction of mothering: Psychoanalysis and the sociology of gender, Berkeley, CA: University of California Press. Fanon, F. (1963): The Wretched of the Earth, Grove Press. Feigen-Fasteau, M. (1978): The male machine, New York: Delta Books. Fornari, F. (1974): The psychoanalysis of war (A. Pfeifer, Trans.), New York: Anchor Press. Freire, P. (1973): Pedagogy of the Oppressed, Seabury Press. Gilligan, C. (1982): In a different voice: Psychological theory and women’s development, Cambridge, MA: Harvard University Press. Lasch, C. (1979): The culture of narcissism, New York: Norton.
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Lee, P./Gropper, N. (1974): Sex-role, culture, and educational practice, Harvard Educational Review, 44(3), 369-410. Mallmann, C. (1978, October): Assertion made in opening plenary discussion at the International Symposium on Women’s Political Participation, Berkeley, CA. Papa, M. B. (1981, April 24): Violence, like church, »keeps women in line.« The National Catholic Reporter, S. 33. Reardon, B. (1981, Fall): Militarism and sexism: Influences on education for war, Connexion, 9(3), 6-10. Roberts, W. (Producer/Director) (1980): Between men [Film], Franklin Lakes, NJ: United Documentary. Zanotti, B. (1979, October): Militarism and violence: A feminist perspective, Paper presented at the Riverside Church Disarmament Conference, New York.
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Psyche – Kultur – Gedächtnis
»Kulturell gekocht, r ituell gegr illt«. Zum Kapitel »Psyche – Kultur – Gedächtnis« Utta Isop
Kultur zwischen Mikro- und Makroebene »Was die mögliche Anerkennung und die Verwirklichungschancen des Anliegens globaler Solidarität betrifft, ist die allgemeine Bewusstseinslage also zumindest sehr zwiespältig, wenn nicht schwergewichtig von Abwehrhaltungen beherrscht« [sodass die Erkenntnis nicht zugelassen werden kann] »dass im Innersten alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, wissen: Es wäre möglich, es könnte anders sein. Sie könnten nicht nur ohne Hunger und wahrscheinlich ohne Angst leben, sondern auch als Freie.« Berghold (2005)
Josef Berghold spricht in seiner Monographie »Feindbilder und Verständigung. Grundfragen der politischen Psychologie« (2005) fünf unbewusste Abwehrhaltungen gegen die Umsetzung globaler Solidarität ins alltägliche Leben an: Widerstände gegen den Verzicht auf wirtschaftliche Privilegien, Beschwichtigung narzisstischer Defizite, Widerstände gegen Gefühle der Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Widerstände selbstschädigender Art und zwanghafte Bedürfnisse nach Feinbildern (Berghold 2005: 86ff.). Was verbindet diese auf individueller Ebene manifesten Abwehrhaltungen mit der gesellschaftlichen Ebene? Dies ist eine der zentralen Fragen im folgenden Kapitel: Sind es kulturelle Prozesse, die eine Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft herstellen? Und wenn ja, welche? Welche Prozesse kultureller Art sind es, die dazu führen, dass das Nachdenken z.B. über die 101
Ut ta Isop
Beendigung des Welthungers oder die »Verwirklichung einer freieren Gesellschaft« in unserem alltäglichen medialen und praxisbezogenen Denken maximal in Form von Witzen vorkommt, wenn überhaupt? Alice Pechriggl argumentiert, dass Kultur als »das je spezifische Wie und Wodurch einer Einfügung der Einzelnen in die Gesellschaft« angesehen werden könnte. Dieser kulturelle Prozess ist in einem besonderen Maße durch Gewalt, Konflikt, Spaltung und Verleugnung bestimmt. Ausgehend vom Kulturbegriff der philosophischen Anthropologie, welcher sich durch die Abgrenzung vom Begriff der Natur bestimmt, entwickelt Pechriggl eine Reflexion der gewalttätigen und konflikthaften Elemente von Kultur. Ein neugeborenes Kind wird kulturell zugerichtet, um in eine Gesellschaft integrierbar zu werden: »Das Psyche-Soma […] wird kulturell gekocht oder besser ethisch […] und rituell ›gegrillt‹, erzogen, sozialisiert, kultiviert, gerastert, kategorisiert (zugeordnet) und klassifiziert, verwaltet etc.« Kulturelle Praktiken stellen auch jene Prozesse dar, durch welche sich Politik von der gesamtgesellschaftlichen Ebene auf die individuelle Alltagswelt hin vermittelt. Psychische Prozesse übernehmen die Verwaltung gesellschaftlicher und politischer Widersprüche, von Konflikten und Gewalt auf der intrapsychischen Bühne.
Spaltung als psycho-kultureller Abwehrprozess Bei diesen Prozessen kultureller Selbstwerdung müssen viele »selbstverständliche« Erkenntnisse abgespalten und verleugnet werden, wie Josef Berghold deutlich macht. Die Einsicht in die Notwendigkeit ›globaler Solodarität‹ ist »so offensichtlich und zugleich von so lebenswichtiger Bedeutung, dass davon auszugehen ist, dass es ohnehin von den meisten Menschen gedacht werden muss – mindestens ›irgendwo in einem heimlichen Winkel ihrer Seele‹. Schon sehr wenig Sachkenntnis und Nachdenken sind dafür ausreichend. Es erfordert keinerlei Expertenwissen und übersteigt auch wahrlich nicht den geistigen Aufwand, den eine mäßige Geläufigkeit in den Grundrechnungsarten erfordert. Auch schon bei einem minimalen Bildungs- und Medienkonsum wird man mit bei Weitem ausreichenden Kenntnissen versorgt, dass sich die entsprechenden Schlussfolgerungen ohne weiteres aufdrängen […].« (Berghold 2005: 83f.)
Ein Gedanke wie der an globale Solidarität erzeugt jedoch in den meisten Menschen das Gefühl von Distanzierung und »utopischer Unglaubwürdigkeit« (Berghold 2005: 83f.), wiewohl unsere Eingebundenheit in eine »Weltgesellschaft« eigentlich etwas anderes nahelegen würde. Es sind 102
Zum Kapitel »Psyche – Kultur – Gedächtnis«
kulturelle Prozesse der »Selbstwerdung«, welche zu den oben genannten unbewussten Widerständen führen, wie z.B. das Faktum, dass die Selbstanerkennung und die Anerkennung anderer von Faktoren abhängt wie wirtschaftlichen Privilegien, zur Schau gestellten Selbstbildern narzisstischer Überlegenheit, abgewehrten Gefühlen der Hilf- und Hoff nungslosigkeit, von selbstschädigendem Verhalten und von einem Handeln, das von Feindbildern bestimmt ist. Die Spaltung ist jener psychische Abwehrmechanismus, welcher Alice Pechriggl für die Analyse kultureller Konflikte am relevantesten erscheint. Durch die Spaltung kann ein innerer Konflikt externalisiert und in die Anderen hineinverlegt, von uns selbst distanziert werden. Für diesen psychischen Vorgang scheinen seit dem Ende des Kalten Krieges ethnische Konflikte prädestiniert zu sein, wie Günter Schlee ausführt: »›Ethnische Konflikte‹ ist, insbesondere seit dem Ende des Sozialismus und der Abkehr von einer klassenkämpferischen Perspektive, zu einer selbstverständlichen Phrase geworden. Keiner fragt, was eigentlich ethnisch an ethnischen Konfl ikten ist. Es wird vorausgesetzt, Ethnizität (und nach diesem Modell jede Form von Differenz, insbesondere auch Religion) sei Konfl iktursache. […] Ethnizität ist in dieser Sicht ein zeitkonstanter Faktor, der Konflikt generiert.« (Schlee 2006: 8)
Ein essentialistischer Begriff von Ethnizität, wie der von Schlee kritisierte, bzw. die kulturalistische Perspektive auf Beziehungen innerhalb einer Weltgesellschaft eignen sich hervorragend, um die Herausforderungen globaler Solidarität abzuwehren. Die dynamischen Prozesse der Spaltung sorgen dafür, dass globale Solidarität mit all ihren Anforderungen so weit als möglich vom Alltagsleben der Einzelnen distanziert bleibt.
Gedächtnispolitiken und Er innerungskulturen Solche Abwehrmechanismen im Zusammenhang mit Konfl ikt, Gewalt und Ethnizität untersucht Karin Liebhart. Sie betont die Notwendigkeit, die historische Gewordenheit von ethnischen Konflikten und die Einwirkung historisch erzeugter Politiken auf die psychischen Überlebensstrategien von Menschen zu beachten. Gedächtnispolitiken und die Wiederholung von traumatisierenden Lebensbedingungen schaffen nur im Zusammenhang mit bestimmten historischen und weltpolitischen Kontexten die Voraussetzungen für ethnische Konflikte. Nuruddin Farah beschreibt den Zusammenhang von Erinnerung und »Ethnifizierung« bzw. Identifizierung eines somalischen Clans nach seiner Vertreibung aus Mogadischu:
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Ut ta Isop
»Ihre Erinnerungen waren so vergiftet, dass es mich, weil ich darauf nicht vorbereitet war, regelrecht umwarf. […] ›Wir wissen, wer wir sind‹, wiederholten etliche von ihnen immer wieder bitter. ›Was sich in Mogadischu abgespielt hat, hat uns gelehrt, wer wir sind‹.« (Farah 2003: 24)
Durch die Performativität des Vertreibungsaktes entstehen hier die Identität und Ethnizität eines bestimmten Clans. Die Erinnerungskultur an diesen durch Gewalt entstandenen Identifizierungsprozess setzt unmittelbar nach der Vertreibung in den Flüchtlingslagern Kenyas ein. Karin Liebhart betont, dass die Auswahl, »Verleugnung und Abspaltung« des Erinnerten in erster Linie der Deutung gegenwärtiger politischer Ordnungen dient. Im europäischen Einigungs- und Identifizierungsprozess widersprechen die westliche und die östliche Erinnerungskultur einander konflikthaft. Paradigmatisch ist dies an der Geschichte der baltischen Staaten Estland und Lettland zu beobachten. Ein zentraler gedächtnispolitischer Konflikt lässt sich anhand der 60-Jahr Feiern zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft festmachen. Dieses Datum markiert für die westliche Gedächtnispolitik den Sieg der liberalen Demokratie, für die östliche Gedächtnispolitik aber den Beginn der Diktatur durch die Sowjetunion. Als Veranschaulichung dieses Konflikts berichtet Karin Liebhart von der Versetzung eines sowjetischen Befreiungsdenkmals vom Zentrum der estnischen Hauptstadt Tallinn in deren Peripherie. Der psychische Prozess der Spaltung wird in der estnischen Erinnerungskultur durch das Ausblenden zweier Minderheiten, der russischen und der jüdischen, besonders merkbar. Einerseits wird die Existenz einer eigenständigen von der ehemaligen Besatzungsmacht Sowjetunion unabhängigen russischen Minderheit in Estland verleugnet bzw. heruntergespielt. Andererseits wird aufgrund von Antisemitismus die Ermordung von 90 Prozent der lettischen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus durch die in der Erinnerungskultur vornehmlich berichteten Leiden der nicht-jüdischen lettischen Bevölkerung abgespalten. Liebhart konstatiert durch ihre exemplarische Analyse der Geschichte der baltischen Staaten, dass Europa von einem »erinnerungspolitischen Konsens« weit entfernt ist. Ausschwitz als dem nationale Gedächtnispolitiken übergreifenden Gedächtnisort wird nicht von allen Teilen Europas in gleicher Weise Bedeutsamkeit zugemessen. Sehr kritisch zu hinterfragen ist allerdings das Arbeiten an einem möglichen gedächtnispolitischen Konsens in einer vereinigten EU, solange die Erinnerungskulturen an vergangene Genozide keine positiven Veränderungen für den Umgang mit den heute ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen bewirken. Zu nennen sind z.B. das Sterben von Hunderttausenden u.a. afrikanischen Flüchtlingen an den Grenzen Europas (Milborn 2006) oder die aggressive europäische Agrarpolitik (iz3w Jan/Feb 2009). 104
Zum Kapitel »Psyche – Kultur – Gedächtnis«
Literatur Berghold, Josef (2005): Feindbilder und Verständigung. Grundfragen der politischen Psychologie, Wiesbaden: VS. Farah, Nuruddin (2003): Yesterday, Tomorrow. Stimmen aus der somalischen Diaspora, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Iz3w (Jan./Feb. 2009): informationszentrum 3. welt. Politik des Hungers, Freiburg. Milborn, Corinna (2006): Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarzbuch, Wien: Styria. Schlee, Günther (2006): Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte, München: Verlag C.H. Beck.
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Ebenen und Topoi der Konfliktualität zwischen Gruppenpsychoanalyse und Gesellschaftstheor ie Alice Pechriggl
Konflikte und Widersprüche bringen Kultur ebenso hervor wie sie Gesellschaften in ihrer kulturellen Integrität zu bedrohen, ja zu zerstören vermögen. Vor dem Hintergrund einer begrifflichen Skizzierung des Verhältnisses zwischen »Kultur« und »Gesellschaft« geht es mir im Folgenden um die Verknüpfung verschiedener Ebenen und Topoi der Konfliktualität an der Schnittstelle zwischen gruppen/psychoanalytischen und politikphilosophischen Perspektiven. Ich unterscheide dabei zwischen »Ebenen« oder »Schichten«, die aus einer gesellschaftsontologischen (die Seins-, Vergehens- und Entstehungsmodi von Gesellschaft betreffenden) Perspektive erschlossen werden. Konkret meine ich damit die Unterscheidung zwischen einer transzendenten Ebene und einer wirklicheren Ebene des Imaginären in Gegenüberstellung zur real-gegenständlichen Ebene (insbesondere der physischen Phänomene). Weiters gilt es zwischen einer kollektiv-imaginären und/oder der einzelpsychischen Ebene der Konfliktualität zu unterscheiden, sowie zwischen einer impliziten und einer expliziten Ebene. Schließlich geht es gerade für die Erhellung von Konfl ikten an der Schnittstelle von kollektiv-imaginärer und einzelpsychischer Ebene der Konfliktualität um die Unterscheidung zwischen eher prozessualen oder mehr fi xierten bzw. »kristallisierten« Phänomenen.1 Anders die »Topoi«, welche auf jene immer wiederkehrenden Themen und »Orte« sowie im weiteren auf die Mechanismen abzielen, die sowohl für das Entstehen als auch für das Verstehen von Konfliktualität bzw. von konkreten Konflikten auf gesellschaftspolitischer Ebene konstitutiv sind – Grenze, Transgression/Übergriff; Spaltung und Integration im Verhältnis 107
Alice Pechr iggl
zu Eigenem und Fremdem bzw. Autonomie und Heteronomie; Angst und Kontrolle; Zerfall und (Pseudo-)Identität etc. … Diese Skizzierung erhebt keinen Anspruch auf vollständige Systematizität, sondern sie ist der Versuch, Konfliktualität als kulturellen Motor bzw. als verleugnetes Hemmnis2 begriffssystematisch zumindest zu erhellen. Nun kann als kultureller »Motor« vieles gelten, die implizite oder explizite Konfliktualität ebenso wie die verschiedenen Dispositive3 der scheinbar friedlichen Einfügung der Einzelnen in die Gesellschaft bzw. in den Bereich der »Sittlichkeit« (Hegel), über welche die Gemeinschaft sich zugleich in den Einzelnen »kulturell verkörpert«. Im Zentrum einer solchen Dispositivanalyse steht die Figur eines anthropologischen double bind oder zumindest einer Aporie, das heißt einer logischen Widersprüchlichkeit (ungesellige Geselligkeit; der notwendig konflikthafte Prozess der Sozialisation; der »nackte Mensch« als lebensunfähiges »Monster«, das sich Sprache und Gesellschaft als stets ambivalente, ein- und ausgrenzende Institutionen schaffen muss/te …).
Kultur – Gesellschaft Zwischen Gleichsetzung und Entgegensetzung dieser beiden Begriffe in Cultural Studies bzw. funktionalistischer Soziologie wähle ich für die Analyse und Reflexion inter- und intrakultureller Konfl ikte die Perspektive, aus der Kultur und Gesellschaft zwar unterschieden, aber zugleich an ihren Schnittstellen miteinander verwoben sind. Die textile Metapher ist vor allem eine räumliche, eine die materielle Physis betreffende, und sie evoziert unmittelbar die Frage nach der Zeitlichkeit, welche geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlich von der Historiographie abgedeckt wird. Castoriadis etwa verwendet in seinem gesamten Werk konsequent den Begriff des »Gesellschaftlich-Geschichtlichen« und verweist damit auf die Unmöglichkeit, beide Dimensionen getrennt voneinander zu nennen (siehe v.a. Castoriadis 1984): Wenn wir Gesellschaft sagen, sagen wir damit immer schon Geschichte. Das Umgekehrte gilt auch dort noch, wo wir meinen, die reine Natur diesseits oder jenseits der Kultur und damit der Gesellschaft wissenschaftlich zu verstehen; eine Naturgeschichte oder Geschichte der Natur ist nicht denkbar als an sich, das heißt außerhalb der Sprache seiende, bzw. werdende und vergehende. 4 Über die Gegenüberstellung von Natur und Kultur gelangen wir allerdings zu einem meiner Ansicht nach zentralen Knotenpunkt in der Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Kultur. Während der Begriff »Gesellschaft« sich auf die Arten und Modi der Verbindung zwischen – und Organisation von – Menschen bezieht (le lien social), konstituierte sich der 108
Ebenen und Topoi der Konfliktualität
Begriff Kultur in der philosophischen Anthropologie zentral über die Abgrenzung von der Natur, was immer dieser Begriff nun bezeichnen mag bzw. wie immer er verwendet sein mag – als zu differenzierender Begriff, als illusionäres Konstrukt, als den Menschen innerliche wie auch zutiefst äußerliche Phänomenalität, oder als verdinglichtes Objekt (philosophisch verstehe ich darunter »natürlich« vornehmlich Ersteres, versuche dabei aber die anderen Gebräuche zu analysieren). Der Mensch ist in der aporetischen Definition des Aristoteles ein von Natur (physei) politisches Wesen, was diesen Naturbegriff als einen den Begriff (des Menschen) und nicht die Materie bezeichnenden ausweist: Am politischen Wesen des Menschen (d.h. bei Aristoteles das, was er seiner Natur gemäß ist) ist wenig materiell, aber so gut wie alles begriffl ich, das heißt sprachlich und damit kulturell bzw. gesellschaftlich »gemacht«. Und doch kann der Mensch gleichzeitig als eine Art kulturell zu gestaltende Erstmaterie gefasst werden: Das Psyche-Soma, das bei der Geburt als infans, aus einer strukturalistischen Perspektive noch gleichsam roh erscheint, wird kulturell gekocht oder besser ethisch (ethos hieß zuerst Sitte) und rituell »gegrillt«, erzogen, sozialisiert, kultiviert, gerastert, kategorisiert (zugeordnet) und klassifiziert, verwaltet etc. Die Geschichte wäre nun aus unserer Aufgabenstellung heraus als eine der psycho-sozialisatorischen Schichtungen und Konflikte zu betrachten. Es war Freud, der wie kein anderer diese Konflikthaftigkeit des Menschen ins Zentrum seiner Entwicklungspsychologie und allgemeiner seiner so genannten Metapsychologie gestellt hat. Eine so benannte Seelentheorie ist an die Metaphysik und damit an Aristoteles angelehnt, insofern Freud versuchte, die allgemeinen Begriffe des psychologisch, dann psychoanalytisch erforschten Seelenlebens miteinander im Hinblick auf die Darstellung der Seins- und »Produktionsweisen« der »Seele« zu verknüpfen (in funktioneller, struktureller und dynamischer Perspektive). Diese Psychologie ist um die Triebtheorie herum aufgebaut und um die angeblich von Schopenhauer stammende Metapher vom Menschen als Stachelschwein. Diese komische Metapher soll zum Ausdruck bringen, dass der Mensch die Nähe der anderen sucht, sich aber bei zu großer Nähe an den Stacheln der anderen sticht (ich habe nicht überprüft, ob Stachelschweine sich tatsächlich so verhalten und wie Schopenhauer es mit ihnen hielt). Immanuel Kant bezeichnete diese Spannung oder gegensätzliche Valenz5 in Zum ewigen Frieden als »ungesellige Geselligkeit«, und Freuds Text Das Unbehagen in der Kultur versucht diese Spannung auf zwei Ebenen zu begreifen: auf jener der intrapsychischen Konflikte und auf jener des wohl grundlegenderen Konfliktes zwischen Kultur bzw. Gesellschaft und dem anti- oder »paragesellschaftlichen« Triebleben der einzelnen Psychen bzw. Leib-Seelen. Hier wird Psyche im radikalen Sinn des »Originären« (Aulagnier 1975) 109
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oder der »psychischen Monade« (Castoriadis 1984) verstanden, der sich dem Prozess oder Verfahren der Zivilisierung und Sozialisierung grundsätzlich zu entziehen sucht und ihm gegenüber stets rebellisch bleibt. Es erhellt nun, dass die beiden Ebenen des Einzelnen und des Kollektivs zutiefst miteinander verwoben sind, denn die psychischen »Instanzen«, die in Freuds Topik miteinander in Konflikt geraten, sind »Repräsentanten« (Vertreter) familiärer, gesellschaftlich-geschichtlicher, moralischer und sogar ethisch-politischer Instanzen: Es geht um Macht, um Herrschaft, um Kastration nicht nur im genitalen Sinn, sondern – wie vor allem Lacan herausstrich – im umfassender psychischen Sinn des ohnmächtig Machens und der Zersetzung des originären Allmachtsphantasmas im einzelnen Menschen (alles zu sein, zu können, zu haben). Dieses psychoanalytisch (durch klinische und theoretische Induktion) angenommene Allmachtsphantasma – bzw. dessen psychische und ideologische »Repräsentanten« total(itär)en Charakters – wirkt und waltet zugleich in der Gesellschaft, etwa als mehr oder weniger strenge bzw. totale Herrschaftsinstanz, die blind angebetet, kritisch zersetzt oder widerständig bekämpft werden kann. Der Begriff Kultur bezeichnet vor allem das je spezifische Wie und Wodurch dieser Einfügung der Einzelnen in die Gesellschaft, in die sozialen bzw. politischen Bande, in das Gefüge, den Betrieb, die Maschine, die Gemeinschaft oder die Gemeinde (koinônia), die Polis etc. … Er umfasst die kultischen Rituale der Einfügung, die zu (imaginären) Bedeutungen und Institutionen gewordenen Phantasmen und Vorstellungen der anonymen Menge (oder mancher Auserwählter), die Kanalisierungsweisen der Affekte, die Prozesse der Sublimierung, die kulturellen Verkörperungen und die Habituierungsweisen etc. Diese Prozesse und Dynamiken des Einfügungsgefüges führen mich zu der schwer zu entscheidenden Frage, ob das von Foucault vor allem auf der Mikroebene der Macht herausgearbeitete Verfügungsgefüge in seiner Heterogenität eher dem Begriff der Gesellschaft oder dem der Kultur zuzuordnen wären. Natürlich ist es immer auch schon kulturell, insofern das, woraus es sich zusammensetzt, von den in der jeweiligen Kultur existierenden und geltenden Bedeutungen, Riten, Praxen etc. nicht zu trennen ist. Doch andererseits bringt es etwas zuwege, hervor etc.; es ist als »Gefüge« zwar insgesamt betrachtet anonym, zumal in komplex organisierten Gesellschaften wie den unseren, aber es impliziert ein agens, AkteurInnen und Aktanten, die mir durch den Begriff der Gesellschaft eher abgedeckt erscheinen als durch den der Kultur. Diese Auffassung setzt allerdings voraus, dass wir nicht eine deterministisch-strukturalistische Position einnehmen, in der die Menschen nur noch passive Effekte der Diskurse, Dispositive und Gefüge sind, in denen es weder falsch noch richtig gibt, weder Autonomie noch Heteronomie, und sei es als konfliktuöse Grenz110
Ebenen und Topoi der Konfliktualität
begriffe, sondern nur noch Macht, Gewalt und Ver/fügung. Eine durchaus psychotisch anmutende Welt übrigens, in der ein totales Zersetzungsimaginäres durch dessen Widerpart, die Allmacht der Struktur bzw. eines unausweichlich heteronomen Dispositivs, abgewehrt wird bzw. umgekehrt, in der nur noch Fragmentierung und umfassende Zersetzung gegen die allumfassende Verfügungsgewalt des Dispositivs zu helfen scheinen.
Konflikt und Spaltung Es würde den Rahmen meines Beitrags sprengen, wollte ich die unterschiedlichen Aspekte dieser miteinander verwobenen Konfliktebenen ausführen, deshalb wähle ich zuerst die Spaltung als jenen Abwehrmechanismus, der mir für die Erhellung kultureller Konflikte am relevantesten erscheint, zumal er stärker von primärprozesshaft aggressiven Impulsen bestimmt ist als die unvollständige, das heißt »schlechte« und deshalb zum Wiederholungszwang disponierende, Verdrängung. Spaltung ist in der Psychoanalyse nicht nur ein als frühkindlich bezeichneter pathologischer, das heißt fi xierter, Abwehrmechanismus; sie bezeichnet ebenso einen gleichsam alltäglichen Vorgang der Regression, der in bestimmten Situationen und auch für das psychische Überleben »normaler«, also für sich genommen »nur« neurotischer Menschen, als vorübergehende Reaktion unerlässlich sein kann (im Fall des Todes einer geliebten Person etwa oder nach heftiger und andauernder Traumatisierung etc.). Nun sind Spaltungsmechanismen auf der intrapsychischen Ebene Abspaltungen psychischer Anteile (Freud spricht von Partialobjekten, Klein von spezifischen Objektbeziehungen, also von primitiven, insbesondere oralsadistischen Beziehungen zwischen den so genannten Objektrepräsentanzen und den sie begleitenden affektiven Besetzungen, während Lacan vom »Abjekten«, l’abject, spricht). Die im Ich verleugneten, aus dem eigenen psychischen Raum verbannten Teile werden aber nicht aufgegeben, sondern im Gegenüber (das damit zur Projektionsfigur wird) illusionär angebetet und »von jetzt auf gleich« hasserfüllt bekämpft. Diese Projektionen im psychoanalytischen Sinn machen den anderen vornehmlich zur Projektionsfläche, hinter der dessen wirkliche Existenz, zum Beispiel sein/ihr Sosein als Person, keine oder eine bloß instrumentalisierte Rolle spielt. Dieser Mechanismus äußert sich z.B. bei Menschen mit so genannten BorderlineStörungen als das, was wir in der Alltagssprache Streitsucht nennen. Der innere Konflikt wird externalisiert, ausgelagert und sozusagen delegiert. Dies erlaubt zwar einerseits eine Affektabfuhr nach außen, andererseits tendiert diese Art der Abfuhr zum zwanghaft wiederholenden Agieren (das aufgrund der Verfehlung nie an das den Konflikt auflösende6 Ziel kommt). 111
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Auf der Ebene des Kollektivs, der Gruppe oder der Gesellschaft werden kulturelle Merkmale und Bedeutungen, Verhaltensweisen der je anderen Gruppe/n zu Trägern projizierter Repräsentanzen, die im Falle der Aggressionsabfuhr zu massiven Konflikten führen können, bis hin zum Genozid. Die Dynamik in Gruppen oder Kollektiven ist eine der potenzierten Affekte und Gefühle, deren Abfuhr oft nur im realitätsverkennenden Modus der Spaltung möglich scheint, was mehr oder weniger totale Ausbrüche eines Agressions- und Angstzirkels zur Folge haben kann. Doch diesseits solch extremer Szenarien sind die genannten Abwehr- und Übertragungsprozesse im Zeichen der Spaltung in jeder interkulturell geprägten Auseinandersetzung geradezu alltäglich, ja sie können für bestimmte Abgrenzungsanforderungen auch hilfreich sein, solange sie sich nicht zu fi xen Mustern kristallisieren. Dies ist dann der Fall, wenn etwa »die verschleierte Frau« zum Emblem (d.h. zuerst zum emblematischen Opfer) repressiver aber auch sadistischer Elemente der »anderen«, muslimischen und als sexistisch-islamistisch hypostasierten »Kultur«, »Religion« und »Sitte« wird.7 Dadurch können diese repressiv-sadistischen Elemente und der Sexismus in der »eigenen« Kultur oder gar in der eigenen Psyche leichter verleugnet, verdeckt und zugleich als »fremde Elemente« bekämpft werden. Das ist wie gesagt nur ein Aspekt, der vor allem aus gruppenpsychoanalytischer Perspektive relevant ist. Es gibt noch viele andere, nicht zuletzt den von Vamik Volkan in seinen Arbeiten forcierten Aspekt der transgenerationellen Transmission von kollektiven politischen oder kriegerischen Traumata und ihrer projektiv-abwehrenden Reaktualisierung gegen den jeweils aktuellen Feind (insbesondere Volkan 2005). Ebenso kann der Konflikt dazu beitragen, vormals abgespaltene oder ausgegrenzte Teile zu integrieren. Jede Veränderung der gesellschaftlichen Organisation ist in gewisser Hinsicht mit einer derartigen Konfliktverwirklichung und -verarbeitung verbunden; vor einiger Zeit konnten wir dies etwa anhand der Aufstände von Jugendlichen aus Migrant/inn/enfamilien in den Vororten von Paris beobachten. Was die Verdrängung auf der Ebene des Kollektivs und das von den Schweizer Ethnopsychoanalytiker/inne/n Mario Erdheim und Maya Nadig bearbeitete »Unbewusste der Gesellschaft« anlangt (Erdheim/Nadig 1988), so sind diese nicht so stark von Vernichtungsszenarien geprägt wie die kollektiven Konfliktformationen im Zeichen psychischer Spaltung und projektiver Identifi kation. Erstens fehlen im Fall der sekundärprozesshaften, also immer schon im Zeichen der Triangulierung und der intellektuellen Vermittlung stehenden Verdrängung das unmittelbare Ausagieren heftiger Affekte und der vom Partialobjekt her sich im Anderen totalisierende Destruktionstrieb.8 Darüber hinaus wirft der Freudsche Begriff der Verdrängung das Problem auf, dass er nicht so direkt auf das Kollektiv an112
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gewandt werden kann wie jener der Spaltung, weil es ja gerade die Gesellschaft vermittels ihrer kulturell gespeisten sozialisatorischen Institutionen ist, die dem Einzelnen den Triebverzicht und die Verdrängung antisozialer Wünsche auferlegt, und zwar durchaus auch explizit. Das heißt, dass das, was im/vom Einzelnen nicht gewünscht werden darf/soll etc., durchaus als potentiell wünschbar vorausgesetzt wird (zumindest implizit). So wissen wir, dass es den Inzest gibt; dass es Genozide gab und wohl weiterhin gibt etc. und das, was offizielle Politik mancher Repräsentant/inn/en im Umgang mit vergangenen Verbrechen eines Kollektivs ist, kann nicht als kollektiv Verdrängtes bezeichnet werden. Dagegen ist etwa die Verleugnung – sie steht im Zeichen der Abspaltung – durchaus auch bewusst. Wie Freud bereits für die so genannten Frühstörungen anmerkte, zeichnen diese sich gerade durch ein zu wenig an Verdrängungsleistung aus. Die Psyche wird dabei in ihrem Ich- und Wirklichkeitsbezug gleichsam invasorisch von mehr oder weniger totalen Affekten überschwemmt, welche durch die Abspaltung der Vorstellungsinhalte eben nur sehr unwirksam aus dem Erlebnisfeld der Psyche heraußen gehalten werden können, weshalb sie sich immer wieder raptushafte Abfuhren verschaffen. Statt nun zum Beispiel die Postmoderne als einen Effekt kollektiver Reminiszenzen zu sehen (was eine gleichsam das Neurotische hervorhebende Perspektive auf dieses Phänomen ist), können wir sie aus einer mehr das psychotische Moment hervorhebenden Perspektive betrachten, etwa im Anschluss an den Psychoanalytiker Stavros Mentzos. Dieser sieht darin einen Effekt zersetzender, fragmentierender Abwehrprozesse (gegen ein als total inszeniertes und/oder erlebtes Ausbeutungs- oder Beherrschungsphantasma). Diese Abwehrprozesse sind strukturell mit gewissen psychotischen Strukturmerkmalen des Ich-Zerfalls und der damit verbundenen paranoischen Angst verwandt und können auch auf der Ebene des Kollektivs plausibel mit ihnen verknüpft werden (Mentzos 1995). Eine solche Verknüpfung darf jedoch nicht im Sinne einer Determination oder eines Kausalverhältnisses verstanden werden, sondern nur auf der relativ abstrakten und nicht genau bestimmten (und ohne detaillierte Analyse auch nicht genauer bestimmbaren) Ebene von Strukturmerkmalen. In jedem Fall müssen wir, wenn wir die aus der Einzelanalyse stammenden psychoanalytischen Kategorien auf Kollektive anwenden, die spezifisch gruppenpsychoanalytischen Aspekte einbeziehen, in deren Zentrum Begriffe wie Kommunikation, Matrix, Valenz, Vernetzung und konflikthafte wie auch im Zeichen der Resonanz stehende Strukturemergenz stehen.9 Erst über diese raumzeitlichen Prozess-, Struktur- und Emergenzbegriffe kommt die Psychoanalyse kultureller und gesellschaftlicher Konflikte über die methodologisch naiven Analogien und hordentheoretischen Allerweltspsychologisierungen hinaus. Es reicht eben nicht, die Rate der Kin113
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desmisshandlungen in einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt zu erforschen und davon einen Genozid abzuleiten. Es kommt darauf an, die je spezifischen Ebenen, Schichten und Prozesse, die in einem Konflikt aktualisiert werden, auszumachen und auf ihre Interaktionen hin genau zu analysieren, sowohl auf der einzelpsychischen Ebene als auch auf der Ebene der Gruppenmatrix, sei diese Gruppe nun eine von physisch gleichzeitig in einem Raum anwesenden Menschen oder eine nur über die unterschiedlichen Medien und imaginären Bedeutungen affektiv verbundene. Die genannten ontologischen Begriffe und Differenzierungen (je nach Seinsweise und Perspektive, z.B. Psyche, Psyche-Soma, Gruppe/Klasse/ Geschlecht, Gesellschaft, Kultur; Sein, Vergehen, Werden etc.) erlauben es, zum Beispiel die Rolle der Grenze und des Übertritts bzw. der Durchlässigkeit von Grenzen in ihrer polysemischen Bedeutung für die zu untersuchenden gesellschaftlichen und kulturellen Konflikte auszuloten. Ich möchte mit einem an der Schnittstelle von Verdrängung und Spaltung angesiedelten Konflikt enden, der mir für unsere politische Kultur und das Regime der »repräsentativen Demokratie« kennzeichnend erscheint und der längst nicht mehr nur die Makroebene der Politik betriff t, sondern alle Fasern der Kultur, der Gesellschaft, der Ökonomie und des Rechts. Es handelt sich um die Ausgestaltung des alten, explizit auf die klassische Antike zurückgehenden Konflikts zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen selbstkritischer und selbstbegrenzender Haltung und Instituierung einerseits, einem megalomanen Allmachbarkeitsphantasma der uneingeschränkten Kontrolle und Beherrschung andererseits. Diese Diagnose ist nicht neu, sie geht auf mehrere AutorInnen in der Nachfolge von Marx zurück, wird aber in letzter Zeit für die Analyse der Politik vor allem von Jacques Rancière (Rancière 2005) wieder aktualisiert, der sie mit dem politisch-ökonomischen Widerspruch zwischen »neoliberal« entgrenzender Globaliserung und nationalstaatlich souveräner Provinzialisierung verbindet. Er diagnostiziert mit der Zuspitzung dieses Widerspruchs (der ja seit Samir Amin für den ungleichen Tausch ökonomisch auf den Punkt gebracht ist, siehe Amin 1977) auf der Ebene der oligarchischen Herrschaft die Krise der sie bisher verfassungsmäßig organisierenden repräsentativen Demokratie. Wir bemerken in allen Institutionen, insbesondere in den (zumindest repräsentativ-)demokratisch verpflichteten Bildungsinstitutionen, diesen Konflikt, der die Individuen, welche in diesen Institutionen arbeiten, in einen ständigen double bind zwischen Verschwendungsappellen und Askeseparolen, zwischen Autonomie und zensurierender Bevormundung, zwischen den Anforderungen an kollektive und individuelle Eigenverantwortung und Befehle exekutierender Bürokratiesystemik verstrickt (um nur einige zu nennen). Diese Konflikte können wir begreifen lernen, auch 114
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wie sie in uns wirken, unsere kritische Widerständigkeit und unsere Kreativität lähmen; wir können versuchen, das sie hervorbringende Szenario politisch zu verändern, aber auslöschen können wir diese Konflikte nicht, nicht einmal, wenn wir in den Modus der Spaltung verfallen.
Anmerkungen 1 Für eine systematischere Darlegung dieser »Ebenen« und Schichtungen des gesellschaftlichen, spezifischer des geschlechtsspezifischen Imaginären, siehe Pechriggl 2000. 2 Bis hin zur stasis, dem altgriechischen Wort für Bürgerkrieg, das zugleich die Immobilisierung der beiden ineinander gleichsam verkeilten gegnerischen Parteien bezeichnet. 3 Das französische Wort dispositif wurde vor allem im Zuge der FoucaultRezeption in den Kultur- und Sozialwissenschaften eingedeutscht. Es bezeichnet allgemein anonyme Anordnungen, Mechanismen, Prozesse sowie Strukturen der Ein- und Verfügung aber auch der An- und Unerordnung. Im juristischen Sinn bezeichnet es jenen letzten Teil eines gerichtlichen Verfahrens, welcher auch das Urteil beinhaltet (Verfügung). Disposer de quelqu’un bedeutet über jemanden verfügen, être disposé à faire … bedeutet bereit zu sein, etwas zu tun, wobei darin eine klare Zustimmung impliziert ist. Foucault greift die gesamte Polysemie des Wortes auf, um aus dem Dispositiv das allumfassende, das heißt Bauweisen, Diskurse, Gesetze, institutionelle Praktiken, Politik etc. umfassende heterogene ensemble (Gesamtheit) zu bezeichnen, durch das die Gesellschaft die Individuen verfügbar macht bzw. sozialisiert. Siehe vor allem das Interview in Foucault 1978, S. 118-175. Diese Bedeutung/ en von »Dispositiv« übersetze ich mit Einfügungsgefüge, womit auch eine gewisse Redundanz und Diffusität (z.B. gegenüber dem Begriff »Diskurs«) in Foucaults Beschreibungen angesprochen sein soll. Diese Diffusität sollte gewissermaßen als Teil der Wirksamkeit des Verfügungsgefüges verstanden werden, sie verweist auf die Unmöglichkeit, die Einfügungsmächte und kräfte mit Gewissheit festzumachen, als diskrete Entitäten einzugrenzen etc. … Die Macht ist überall dicht sozusagen, aber sie ist zugleich da und dort undicht, deshalb sind ihre Institutionen und Dispositive, deren Formationen und Figurationen veränderlich und heterogen, sodass wir dazu angehalten sind, uns reflektierend herauszunehmen und nicht ganz und gar vereinnahmen zu lassen, ja die vorherrschend kristallisierte Macht wo immer dies möglich ist zu unterminieren und im Sinne kollektiver Autonomie neu verfügbar zu machen. 4 Das Problem der Sprache verweist (nicht nur) aus dieser Perspektive unmittelbar auf die Dialektik von je spezifischer, an eine oder mehrere Kulturen gebundener Sprache (oder gar von Sprachspiel) einerseits, Sprache als Vermögen bzw. als allgemeiner Begriff andererseits. Dieser Begriff vermag im abstraktesten Sinn alle
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Sprachen zu enthalten oder – konkreter – die (stets bedingte) Übersetzbarkeit von einer Sprache in die andere. 5 Bion spricht im Kontext psychoanalytischer Gruppentherapie von Valenz, womit er die Gruppentendenz und die gruppenaversive Individuierungstendenz des Einzelnen bezeichnet (Bion 2001). 6 Auflösung im klärenden Sinn und die damit verbundene Gelöstheit ist eine der zentralen Bedeutungen von analysis; es ist die Aufhebung des Zustands der Aufgelöstheit im Sinne der psychischen Zersetztheit aufgrund übermäßiger Verstrickungen: alytos. Schon alleine ob der konsequenten Verwirklichung dieser Begrifflichkeit und der damit verbundenen Praxis ist es unmöglich, die Psychoanalyse als undialektisch zu bezeichnen. Dagegen bleibt die logische Bedeutung von Analyse als bloße Auseinanderlegung der (effektiv immer nur unvollständig voneinander abgrenzbaren) Elemente nach streng logischen Kriterien fl ach und artifiziell. Sie ist aber als Teil der Analyse im umfassenderen Sinn unumgänglich. 7 Es ist zu berücksichtigen, dass die Verschleierung auch Angst macht und abschrecken soll; als solche wurde bzw. wird sie immer wieder explizit ins Feld geführt, insbesondere von jüngeren Musliminnen in Frankreich, die sich – gegen die einseitige Frau=Opferrhetorik der christlichen oder laizistischen KopftuchtgegnerInnen – mit den Kopftuchträgerinnen solidarisierten. 8 Das Partialobjekt ist dadurch charakterisiert, dass es vom Ich nicht als Teil eines integrierten Ganzen wahr-nehmbar ist, sondern selbst zu einem eigenständigen Ganzen aufgebläht wird (die Psyche hängt sich gleichsam an diesem einen Körperteil auf). Durch diese Fixierung auf den Teil (als das zum Fetisch aufgeblähte Detail) vermeidet das Ich bzw. die Psyche die Verknüpfungen zu einem/ihrem Ganzen, welche offenbar zu bedrohlich oder einfach nicht erstrebenswert sind. Durch diese (chronifizierte oder episodisch umfassende) Fixierung im bzw. auf das Teil/chen wird es aber schwer bis unmöglich, den Unterschied zwischen Teil und Ganzem, und damit jenen zwischen (Ich)sein, (Anderen)haben, teilen und teilhaben wirklich zu schaffen – sowohl in der Vorstellung und intellektuell als auch affektiv und synästhetisch. Die Nähe zwischen partialobjekthafter Libido, Wahrnehmung und Praxis (etwa im Zwang und seinen metonymischen, also pars pro toto-Ritualen) einerseits, psychotischer Fragmentierung andererseits ist eine weitere Verbindung von kollektiver Relevanz, die vor allem in Fällen von kriegerischer Auseinandersetzung mit Stellvertretercharakter, von ausagierten »Sündenbocktheorien« und -praktiken sowie in Fällen von Massenvergewaltigungen als Kriegsmittel einige Erhellung zu bringen vermag (siehe hierzu Perko und Pechriggl 1996). 9 Das versäumt Volkan weitgehend, auch wenn er sich immer wieder auf die Gruppenanalyse bezieht. Diese Begriffe sind genauer ausgeführt von Bion 2001 sowie von Foulkes 1992.
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Literatur Amin, Samir (1977): Imperialism and unequal development, New York u.a. Aulagnier, Piera (1975): La violence de l’interprétation, Paris. Castoriadis, Cornelius (1984): Die Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a.M. (frz. Orig. 1975). Bion, Wilfred R. (2001): Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften, Stuttgart (engl. Orig. 1961). Erdheim, Mario in Zusammenarbeit mit Nadig, Maya (1988): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit: eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess, Frankfurt a.M. Freud, Sigmund (1987-1999): Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. Foulkes, Siegmund H. (1992): Gruppenanalytische Psychotherapie, München (engl. Orig. 1957). Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin. Kant, Immanuel (1995): Zum ewigen Frieden, Berlin. Pechriggl, Alice (2000): Corps transfigurés. Stratifications de l’imaginaire des sexes/genres. Band I. Du corps à l’imaginaire civique, Paris 2000. Perko, Gudrun/Pechriggl, Alice (1996): Phänomene der Angst. Geschlecht – Geschichte – Gewalt, Wien. Mentzos, Stavros (1995): Psychose und Konflikt: Zur Theorie und Praxis der analytischen Psychotherapie psychotischer Störungen, Göttingen. Rancière, Jacques (2005): La haine de la démocratie, Paris. Volkan, Vamik (2005): Blindes Vertrauen: Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Terrors, Gießen.
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Divergierende Er innerungskulturen und gedächtnispolitische Konflikte als Faktoren im europäischen Integrationsprozess: Das Beispiel der Baltischen Staaten Estland und Lettland Karin Liebhart
Gedächtnispolitische und erinnerungskulturelle Phänomene1 sind schon allein deswegen von politikwissenschaftlichem Interesse, weil politisches Handeln auch bedeutet, Repräsentationen der sozialen Welt zu kreieren und verbindlich durchzusetzen. Soziale und politische Veränderungen werden von Auseinandersetzungen über Geschichtsnarrative und deren öffentliche Inszenierung begleitet (vgl. Kapitány/Kapitány 1999: 159; Göhler 2002: 32). Repräsentationen des Gedächtnisses und Rituale des Erinnerns fungieren nicht nur als Medien der Kommunikation im öffentlichen Raum, sie sind immer auch Zeichenträger politischer Macht. Die Auswahl, was und die Form, wie etwas erinnert wird (Burke 1991: 291ff.), dient vorrangig der Deutung gegenwärtiger politische Ordnung. Debatten über adäquate Formen des Erinnerns sind Deutungskonkurrenzen vor dem Hintergrund politischer Machtkonstellationen (Uhl 2006: 30), politische Akte (Bunzl 1998: 15f.) und haben immer eine Funktion (vgl. Knigge 2005: 20).
Europäisches Gedächtnis Vor diesem Hintergrund kann der Prozess der europäischen Integration nicht nur hinsichtlich ökonomischer und politisch-institutioneller Frage119
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stellungen analysiert, sondern auf der symbolischen Ebene auch als Versuch beschrieben werden, ein gemeinsames EUropäisches Gedächtnis als Referenz für die Herausbildung einer europäischen Identität zu etablieren. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union stehen gegenwärtig vor der Herausforderung, ihre nationalen Gedächtnistraditionen in Einklang mit EUropäischer Gedächtnispolitik zu bringen (Faulenbach 2005b: 273). Dies geschieht vor dem Hintergrund eines neu geordneten Europas, dem die identitätsstiftende Erzählung von der Teilung des Kontinents und damit die »(b)inäre Struktur von westlicher und östlicher Erinnerungskultur« der Zeit von 1945 bis 1989 (Erll 2005: 3) mit dem Zerfall des Sowjetischen Imperiums abhanden gekommen ist. Zuvor war das herrschende Geschichtsbild sowohl im Westen als auch im Osten von der Zäsur 1945 geprägt, den politischen Entwicklungen und Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte wurde hingegen kaum Beachtung geschenkt (cf. Judt 1998: 3f.). Darüber hinaus zeigte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dass nicht nur in Westeuropa, sondern auch in den ehemaligen sozialistischen Einparteienstaaten Osteuropas Kontinuitäten politischer Kulturmuster (z.B.: nationalistische Komponenten in der Politik, Phänomene wie Antisemitismus und Ausgrenzung ethnischer Minderheiten oder Ethnisierung von Politik) über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus weiter bestanden (vgl. Judt: 1998). Das identitätsstiftende und systemlegitimierende Selbstbild des kommunistischen Widerstandskampfes gegen die Nationalsozialisten und der offiziell propagierte Antifaschismus änderten daran nichts. Sie trugen im Gegenteil dazu bei, die genannten Problematiken zu externalisieren und sie einer von außen kommenden Macht zuzuschreiben – ein auch in Westeuropa nur allzu bekanntes Phänomen.2 Im Falle der postkommunistischen Staaten – insbesondere jener, die wie die Baltischen Staaten im Zuge des Zerfalls des Sowjetischen Imperiums wieder neu gegründet wurden – ist die Herausforderung nach einer Angleichung an vorgegebene Europäische Normen des korrekten Erinnerns mit nationalen Sinnstiftungsbedürfnissen nur schwer in Einklang zu bringen: »Der ›Westen‹, der sich auf den Holocaust als ›Gründungsmythos Europas‹ bezieht, argwöhnt, dass im ›Osten‹ dieser Grundkonsens nicht geteilt wird, und der ›Osten‹ hält den ›westlichen‹ Erinnerungsprimat bezüglich des Nationalsozialismus für patronisierend, okzidentalisierend und mit Blick auf den Kommunismus relativierend.« (Troebst 2006: 12)
Im Rahmen der veränderten politischen und historiografischen Landschaft Europas sind aktuell zwei gegenläufige Tendenzen im Gedächtnis-Diskurs zu beobachten: zum einen eine Internationalisierung der Geschichte des 120
Divergierende Er innerungskulturen und gedächtnispolit ische Konflikte
20. Jahrhunderts mit dem Holocaust als zentraler negativer Referenz, zum anderen Tendenzen zu Renationalisierung von Geschichte, insbesondere in Ost- und Ostmitteleuropa (Faulenbach 2005a: 68). In diesem komplexen Prozess des Neuschreibens nationaler und europäischer Geschichtsnarrative werden vielfältige und vielschichtige Erinnerungserzählungen sichtbar, die zum einen auf unterschiedliche historische Perioden zurückgreifen, zum anderen ein und dieselbe Epoche manchmal unterschiedlich interpretieren. In seinem Buch »The Limits and Divisions of European History« (1950) unterschied der exilpolnische Historiker Oskar Halecki vier europäische Geschichtsregionen: Westeuropa, Osteuropa sowie ein zweigeteiltes Mitteleuropa. Haleckis Kategorie Mitteleuropa deckt sich in etwa mit der vom ungarischen Historiker Jenő Scűzs (1990) beschriebenen europäischen »Zwischenregion«, die durch historisch-kulturelle und ethnische Fragmentierungen gekennzeichnet ist. Seit dem Ende der Blockgrenzen sind die politischen Kulturen insbesondere dieser Region von gedächtnispolitischen Differenzen geprägt, die nicht zuletzt 2005 im Kontext der 60-Jahr Feiern zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges bemerkbar wurden (Troebst 2006: 4). In Westeuropa wurde der 8. Mai als Sieg der liberalen Demokratie über die nationalsozialistische Diktatur gefeiert. In den mittelosteuropäischen Staaten sowie im Baltikum wurde zwar ebenfalls des Endes der nationalsozialistischen Besetzung gedacht, 1945 aber aufgrund der Eingliederung der Staaten in den Einflussbereich des »Sowjetischen Imperiums« zugleich mit dem Beginn einer neuen Phase der Unfreiheit verknüpft. Insbesondere in den Baltischen Staaten bestimmt diese Perspektive aktuelle vergangenheitspolitische Diskurse und Inszenierungen. Am eindrücklichsten kam dies in der im März 2004 im Leipziger Gewandhaus gehaltenen Rede »Old Europe, New Europe« der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete zum Ausdruck.3 Das Fernbleiben hochrangiger politischer Persönlichkeiten des Baltikums von den Befreiungsfeiern in Moskau am 9. Mai 4 2005 und die Solidarisierung zahlreicher politischer RepräsentantInnen aus anderen europäischen und außereuropäischen Staaten stellten den Jahrestag des Kriegsendes als transnationalen europäischen lieu de mémoire5 (Erll 2005: 1) in Frage. In den Medien wurden die Ereignisse mit Begriffen wie »gespaltene Geschichte«, »Arena der Erinnerungen«, »konkurrierende Vergangenheiten« oder »erinnerungskultureller Dissens« beschrieben (vgl. Faulenbach 2005a: 55f. sowie 68). Als ein weiteres illustratives Beispiel des zugrunde liegenden gedächtnispolitischen Konfliktfeldes kann der Streit um die 2007 erfolgte Versetzung des sowjetischen Befreiungsdenkmals in der estnischen Hauptstadt Tallinn gelten. Dieser und ähnliche Diskurse spielen immer auch auf die Frage an, 121
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wie die kommunistischen Regime zwischen 1944 und 1949 in Ostmitteleuropa und Osteuropa überhaupt an die Macht gekommen waren, ob sie quasi »im Rucksack der Roten Armee« importiert wurden oder ob es doch regionale bzw. nationale Anknüpfungspunkte und »eigene Wurzeln« in den Ländern gab (Judt 1998: 5). Stefan Troebst zählt die Baltischen Staaten zu jenem Typus, der das kommunistische Regime als oktroyiert und (ethnisch) fremd wahrgenommen habe.6 Versuche, eine identitätsstiftende Nationalgeschichte nach dem Systemwechsel zu entwerfen, führ(t)en vor diesem Hintergrund manchmal zu unreflektierten Verklärungen von problematischen Epochen der nationalen Vergangenheit, beispielsweise der autoritären Zwischenkriegszeit. Derartige Mythisierungen der nationalen Historie gehen meist mit einer Betonung ethnozentrisch definierter Grundlagen der Nation einher (Ivanišević et al. 2002: 538). In den Staaten des Baltikums ist dies deutlich zu beobachten.
Der Streit um das Tallinner Befreiungsdenkmal Die Entfernung eines sowjetischen Befreiungsdenkmals (einer etwa 2m großen Bronzestatue, die einen um Gefallene trauernden sowjetischen Soldaten zeigt), aus dem Zentrum der estnischen Hauptstadt Tallinn, wo es 1947 aufgestellt worden war, führte zu schweren Krawallen und zu einer ernsten diplomatischen Krise zwischen Estland und Russland. Jahrzehntelang hatte das Denkmal kaum Beachtung gefunden, erst mit der Unabhängigkeit Lettlands begannen Angehörige der russischen Minderheit (etwa ein Drittel der 1,3 Millionen Ew.), dort an jedem 9. Mai Blumen nieder zu legen. Im Mai 2006 erklärte der lettische Premier Andrus Ansip, dieses Denkmal stehe für die Besetzung Estlands und müsse deshalb entfernt werden. Kurz darauf wurde ein diesbezügliches Gesetz erlassen. Umgesetzt wurde das Denkmal (samt neun Särgen gefallener sowjetischer Soldaten) in der Nacht des 27. April 2007 auf einen am Stadtrand gelegenen Friedhof. Der estnische Premierminister legte dort einen Kranz nieder und brachte so seine Würdigung der gefallenen sowjetischen Soldaten zum Ausdruck. Die Folge der Umsetzungsaktion waren dennoch – zum Teil gewalttätige – Krawalle unter Beteiligung von Jugendlichen, Rechtsradikalen und der Polizei; ein junger Russe starb, es gab über 100 Verletzte. Die estnische Botschaft in Moskau und die Vertretung in St. Petersburg wurden durch kremltreue Gruppen von Jugendlichen belagert.7 Russlands Präsident Putin sprach anlässlich der Siegesparade am Roten Platz in Moskau am 9. Mai 2007 von einer Beleidigung des Volkes durch Entweihung der Denkmäler von Kriegshelden und trug damit zu einer weiteren Ethnisierung des Konflikts bei. Russland drohte alle möglichen 122
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Wirtschaftssanktionen an, insbesondere im Bereich der Energieversorgung und des Transportwesens. Zum Teil wurden diese auch umgesetzt. Distributed-Denial-of-Service-Attacken (DDoS) blockierten Websites der estnischen Regierung, in den Medien wurde dies als »Cyberwar« Russlands gegen Estland bezeichnet. Umgekehrt verglichen estnische Politiker die russische Politik mit der sowjetischen und riefen EU und NATO auf, im Denkmalstreit klar Stellung für Estland zu nehmen. Solidaritätserklärungen erfolgten zuerst seitens Finnlands, Schwedens, Lettlands und Litauens.8 RepräsentantInnen der EU versuchten den Konflikt zu deeskalieren. Moskau warf der EU darauf hin Förderung der »Glorifizierung des Faschismus« vor. Die Ereignisse brachten jedenfalls ein Popularitätshoch für den estnischen Ministerpräsidenten. Wie erklärt sich diese Aufregung über ein Denkmal, das nicht gestürzt, sondern lediglich versetzt wurde? Im Hintergrund wirkten sicher auch die Spannungen zwischen Europa und Russland vor dem EU-Russland-Gipfel in Samara im Frühjahr 2007 (etwa der Streit um die Stationierung von US-Raketenabwehrbasen in Polen und Tschechien, zu der es differente Positionen innerhalb der EU gab, oder die Diskussion um die Europäische Energieabhängigkeit von Russland). Ähnliche Diskussionen wie in Estland fanden auch in anderen Ländern statt (etwa hinsichtlich des Monuments in der Nähe des ungarischen Parlaments oder des sowjetischen Ehrenmals in Warschau). Im konkreten Fall gab die polnische Regierung eine Solidaritätserklärung für Estland ab und erklärte, alle an den Sieg der Roten Armee und damit an die Fremdherrschaft über Polen erinnernden Denkmäler mit sowjetischer Symbolik entfernen zu lassen (mit Ausnahme von Friedhöfen). Deutlich wird im Tallinner Denkmalstreit und in ähnlichen Aktionen in anderen postkommunistischen Staaten eine grundlegend divergente Auffassung über die Bedeutung des Jahres 1945: In der Russländischen Föderation bildet der Sieg der Sowjetarmee über den als Faschismus bezeichneten Nationalsozialismus im »Großen Vaterländischen Krieg« und die damit verbundene »Befreiung Europas« den nationalen Gründungsmythos – sämtliche anderen potentiell identitätsstiftenden Bezugsdaten sind aufgrund des Zusammenbruchs des Sowjetischen Imperiums schließlich diskredidiert (Troebst 2006, 4, vgl. auch Szyszkowitz 2005). Die Staaten im Einflussbereich der ehemaligen Sowjetunion. insbesondere jene, die in die UdSSR eingegliedert worden waren, sehen das Datum dagegen als Beginn einer neuen Okkupation.
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Die Interpretation von politischer Geschichte in ethnischen Kategor ien In den Baltischen Staaten kommt zu dieser Deutungsdifferenz noch ein spezieller Aspekt hinzu: die implizite Gleichsetzung der russischsprachigen nationalen Minderheiten mit den ehemaligen sowjetischen Besatzern und damit eine Ethnisierung historischer politischer Konflikte, die aktuell in einem binären Gegensatz »eigenes Volk« versus »die ethnisch Fremden« gefasst wird. So ist beispielsweise das lettische Geschichtsbild von Narrativen dominiert, die von einer »objektiven« lettischen Nation ausgehen (Von Hirschhausen 2002, 195):9 »Die Staatsbürgerschafts- und Sprachgesetzgebung sichert den ethnischen Letten die Vormachtstellung im Land. Lettland definiert sich trotz seiner nationalen Heterogenität als lettischer Nationalstaat, mit dem lettischen Volk als ›grundlegender Staatsnation‹.« (Schmidt 2004: 117)10 Auch zahlreiche aktuelle Darstellungen der Geschichte Lettlands hinterfragen nicht die Konstruktion eines ethnisch lettischen Volkes, das mit der Nation identisch gesetzt wird (ebd.: 197). Ilgvars Misāns (2002) weist darauf hin, dass der erste Band einer 2000 erschienenen »Geschichte Lettlands des 20. Jahrhunderts« mit dem sprechenden Satz beginnt, diese sei »vor allem und hauptsächlich die Geschichte des lettischen Volkes«. 1994 forderte der Leiter des Historischen Instituts, Jānis Graudonis: »Lettische Geschichte muß ein Faktor sein, der das lettische nationale Selbstbewusstsein stärkt, den Stolz über die Zugehörigkeit zu eben diesem Volk weckt und der insgesamt der Garant des lettischen Volkes und eines ewigen lettischen Lettlands ist.« (zit n. Onken 2004: 683)
Der nach dem Systemwechsel zu erneuter Popularität gelangte »nationalgeschichtliche Ansatz« war bereits in der Zwischenkriegszeit populär gewesen, allerdings nicht nur in Lettland oder im übrigen Baltikum, sondern nahezu in der gesamten europäischen Historiographie. Im Fall Lettlands wurde er während der Zeit der Zugehörigkeit zur UdSSR vor allem von HistorikerInnen im Exil weitertradiert. In der aktuellen politischen Kultur Lettlands gilt der souveräne lettische Nationalstaat als zentraler Wert. Auch der lettische Systemwechsel war vorrangig vom Kampf um nationale Unabhängigkeit bestimmt: »Demokratie ist für die Letten immer mit der Betonung der eigenen Nation verbunden, und unter Freiheit wurde in Lettland zwischen 1988 und 1991 die nationale Selbstbestimmung verstanden.« (Schmidt 2004: 143) Lettland wurde 1991 Republik und setzte 1993 die Verfassung von 1922 wieder in Kraft, als Zeichen der identitätsstiftenden Bezugnahme auf die 124
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lettische Republik der Zwischenkriegszeit. Dieser Rückgriff auf »glorreichere« Phasen der lettischen Geschichte und die Bewertung der Ersten Republik 1918 bis 1940 als »Goldenes Zeitalter« ging mit einer allzu positiven Darstellung des autoritären Ulmanis-Regimes der Jahre 1934 bis 1940 einher.11 Wie auch in den anderen Baltischen Staaten fanden in Lettland im Vorfeld des Systemwechsels (1987/1988) mehrere sogenannte »Kalenderdemonstrationen« (Onken 2004: 677) statt. Anlass gaben bisher verschwiegene Jahrestage – beispielsweise die Tage der Erinnerung an die Deportationen nach Sibirien oder der Jahrestag der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Paktes (Latvijas Institūt 2001: 34). Der auch unter dem Namen Hitler-Stalin-Pakt bekannte Vertrag von 1939 bzw. dessen geheime Zusatzprotokolle bezogen Lettland, Estland und Litauen in die Interessen- und Einflusssphäre der UdSSR ein, es folgten die Eingliederung in die Sowjetunion, Repressionen und Deportationen. Der Pakt stellt daher im kollektiven Gedächtnis der Baltischen Staaten das Symbol für die Unterdrückung durch zwei diktatorische Regime dar, insbesondere aber durch jenes der Sowjetunion.12 Vor diesem Hintergrund scheint die nationalsozialistische Besatzung im lettischen Geschichtsbild eine weniger wichtige Rolle zu spielen, das durch Fremdherrschaft erlittene Unrecht sich vorwiegend auf die beiden Okkupationen durch die UdSSR zu beziehen. Die Konsequenzen der sowjetischen Okkupationen werden drastisch dargestellt: demografische Veränderungen durch den Zuzug von ethnischen RussInnen, Präsenz potentiell disloyaler Gruppen (häufig sind damit Juden gemeint) im eigenen Land, Russifizierung der lettischen Sprache und ökonomische Schwächung Lettlands. Die ethnisierende Komponente in Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur kommt hier deutlich zum Ausdruck. Antirussismus als Merkmal lettischer politischer Kultur prägt die lettische Sicht auf die nationale Vergangenheit. Antisemitismus wird kaum thematisiert (Occupation Museum Foundation 2005: 342-345), obwohl der Einmarsch der nationalsozialistischen Wehrmacht in Lettland 1941 – mit der ein Teil der Bevölkerung kooperierte – die Ermordung von 90 Prozent der lettischen Juden zur Folge hatte (Latvijas Institūt 2000: 20).13 Große Teile der Bevölkerung hatten im Juni 1941 die Deutsche Wehrmacht als Befreier von den Sowjets begrüßt. Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass kurz zuvor etwa 14.000 lettische BürgerInnen auf Anordnung des NKWD nach Sibirien deportiert wurden. Valters Nollendorfs schreibt dazu: »Under these conditions the problem of ›greater and lesser evil‹ must be taken into account. Soviet rule was doubtless the lesser evil for the Jewish population. On the other hand, Nazi repression mechanisms could easily seem less
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brutal to Latvians after the terror of the Communist rulers.« (Nollendorfs 2002: 75) Die Vernichtung der lettischen Juden steht im Schatten der Erzählung vom Leiden des lettischen Volkes, zu dem die jüdische Bevölkerung nicht wirklich gezählt wird, trotz einer anders lautenden Deklaration des Supreme Council der Republik Lettland vom September 1990.14 Das nationale Geschichtsbild stellt vorwiegend die ethnischen LettInnen als Opfer dar, Zivilbevölkerung wie Soldaten, inklusive jener, die in der so genannten Lettischen Legion auf der Seite der Nationalsozialisten gekämpft hatten. Das Schicksal dieser Soldaten wird als eine Art »nationale Tragödie« betrachtet. Die Angehörigen der »Lettischen SS-Freiwilligen-Legion«, so die Ausstellung »Lettland kehrt zurück nach Europa«, »wurden zum Dienst in der Legion gezwungen, obwohl sie keine Nazis waren und ihrer Meinung nach nur gegen die Sowjetunion und für ein freies Lettland kämpften.« (Wanderausstellung und Begleitbroschüre des Lettischen Okkupationsmuseums in Riga 2004: 10) Als »Kollaborateure der Faschisten« während der Zeit der sowjetischen Herrschaft 40 Jahre lang »zum Schweigen verurteilt«, werden die Angehörigen dieser Einheit von zahlreichen LettInnen noch immer als »letzte nationale anti-bolschewistische Armee« verehrt (Onken 2004: 682). Die Thematik des »tragischen Bruderkrieges«, in dem Letten gegen Letten kämpften, nimmt auch im Okkupationsmuseum in Riga breiten Raum ein.15 Das Okkupationsmuseum wurde 1993 auf Initiative von Exil-LettInnen eröffnet und vermittelt den BesucherInnen eine eindeutige Botschaft: Für Lettland, wie auch für die anderen Baltischen Staaten, bedeutete das Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem die Rückkehr der stalinistischen Besatzer von 1940/1941 (Onken 2004: 671). Im Folder des Museums wird eine »einundfünzigjährige Geschichte der Okkupation Lettlands« beschrieben, geprägt durch »Terror der fremden Mächte gegen die Bevölkerung Lettlands« (Folder Lettisches Okkupationsmuseum 2005). Verdeutlicht wird die behauptete Kontinuität der drei Besatzungen Lettlands16 auch durch eine Publikation, die auf dem Umschlagbild die überkreuzten Symbole für Nationalsozialismus und Kommunismus zeigt (vgl. dazu auch Abbildung 1: Puisāns 2003, Umschlagbild). Unmittelbar nach Kriegsende konnte die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ausschließlich als sowjetische Befreiungsgeschichte erzählt werden, die mit der sozialistischen Revolution und dem »freiwilligen Beitritt« der Baltischen Staaten zur UdSSR begonnen hätte. Der lettische Beitrag im Kampf gegen »Faschisten und Kollaborateure« wurde nach 1945 zwar durchaus herausgestrichen, die entscheidende Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung Lettlands vom Nationalsozialismus blieb aber unangefochten. Die nationalsozialistische Besetzung Lettlands 1941 wurde als 126
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Abbildung 1: Umschlagbild Besetzung eines Teils der UdSSR dargestellt. Bestrebungen lettischer Nationalkommunisten, diese Sowjetisierung/Russifizierung der lettischen Gedächtnispolitik zu stoppen, konnten sich ebenso wenig durchsetzen wie ähnliche Bestrebungen im politischen und kulturellen Leben. Der Holocaust wurde während der Zeit des Sowjetregimes tabuisiert, jüdische Opfer nicht als Juden und Jüdinnen benannt, sondern als SowjetbürgerInnen (Onken 2004: 674). Über die pauschale Diffamierung der Exil-Letten als Kriegsverbrecher wurde die Schuld am Holocaust »exterritorialisiert« (ebd.). Umgekehrt finden sich in zahlreichen Texten der wissenschaftlichen Exilliteratur Rechtfertigungen der Kollaboration mit den Nationalsozialisten und Versuche, die Diktatur der 1930er Jahre zu verharmlosen. Verwendet wurde dafür auch Propagandamaterial der Nationalsozialisten, insbesondere, wenn von »jüdisch-kommunistischen Verbrechen« am »lettischen Volk« im »Jahr des Grauens« 1940/1941 gesprochen wurde (Onken 2004: 676). Einzelstücke dieser NS-Propagandamaterialien tauchten auch nach dem Systemwechsel wieder auf, etwa der Bilderzyklus des Malers Sigismund Vidbergs »Bagais gads« (»Das Jahr des Grauens«), angefertigt 1952 und 1953 in den USA, 1998 in der lettischen Hauptstadt Riga gezeigt und auch als Buch publiziert. Eine NS-Propagandabroschüre zum »Jahr des Grauens« wurde 1997 ebenfalls unkommentiert in einem lettischen Verlag neu aufgelegt, dies führte jedoch zu heftigen Protesten (Onken 2004: 676 und 680f.). Die Distanzierung der lettischen Nation vom Kommunismus (als poli127
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tisch und ethnisch fremd) kann als ein Hauptmotiv der Erzählung lettischer Geschichte beschrieben werden: so wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die lettische KP nur eine Minderheit ethnisch lettischer Mitglieder hatte (Occupation Museum Foundation 2005: 35). Besonders hervorgehoben wurde nach dem Systemwechsel dafür die Rolle des antisowjetischen Widerstands durch national gesinnte Partisanen. Nach dem Systemwechsel erfuhren jene PartisanInnen, die unter der Okkupation der Nationalsozialisten gegen diese und deren lettische Kollaborateure gekämpft hatten und deshalb zur Zeit der sowjetischen Herrschaft als »heldenhafte Kämpfer gegen die Faschisten« gehuldigt wurden, eine Abwertung im öffentlichen Diskurs: sie galten nunmehr als »Banditen«. Vor dem Systemwechsel wurden hingegen von der sowjetischen Propaganda die antisowjetischen PartisanInnen, die sogenannten »Waldbrüder«, als »Banditen« bezeichnet, heute werden sie dafür als »nationale WiderstandskämpferInnen« geehrt (Onken 2004: 683).
Nationale Interpretationsschemata versus europäische Normen Der Eingangsbereich des Okkupationsmuseums in Riga zeigt zwei überdimensionale Porträtfotos von Hitler und Stalin, jeweils als Kehrseite des Bildes eines Diktators erscheint das Bild des anderen. Diese Symbolik, die auf eine tendenzielle Gleichsetzung beider Okkupationsregime verweist, findet ihre Entsprechung auch in mehreren Publikationen zur lettischen Zeitgeschichte, für die Zitate wie das folgendes typisch sind: »Two totalitarian powers, Nazism and Bolshevism, due to their uninhibited imperialistic tendencies, perpetrated horrific crimes on Latvian soil during World War II.« (Puisāns 2003: Klappentext) Ähnlich äußerte sich – wie eingangs bereits erwähnt – die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete und entfachte damit eine europaweite Diskussion. Kalniete, in Sibirien als Kind einer vom NKWD deportierten Familie geboren, stellte fest, »dass beide totalitären Regime – Nazismus und Kommunismus – gleich kriminell waren. Es darf niemals eine Unterscheidung geben, nur weil eine Seite auf der der Sieger gestanden hat.« (Zit.n. Troebst 2005: 42) KritikerInnen werteten diese Infragestellung der Singularität nationalsozialistischer Terrorherrschaft als Relativierung des Holocaust (Troebst 2005: 44). Mehrmals wurde dabei vor allem in Deutschland auch auf eine Rede der ehemaligen Präsidentin des europäischen Parlaments, der französischen Politikerin und Auschwitzer Überlebenden Simone Veil im Jänner 2004 vor dem Deutschen Bundestag verwiesen, die 128
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als »Gegenmodell« zu Kalnietes Rede gelten kann. Veil (2004) bemerkte in dieser Ansprache, die Shoah sei »in einigen osteuropäischen Ländern nicht ausreichend anerkannt auf Grund der Manipulation durch die kommunistischen Regime«, die zwar die Verbrechen der Nationalsozialisten thematisiert, als Opfer jedoch gerade nicht die Juden ins Zentrum gedächtnispolitischer Diskurse und Inszenierungen gestellt hatten. Zudem hob Veil hervor, dass fallweise Antisemitismus mit dem durch die Sowjets zugefügten Leid des sogenannten eigenen Volkes gerechtfertigt würde und spielte damit auf die viel beschworene Kollaboration Juden/Kommunisten an, die in entsprechenden Debatten oft unterstellt wird. Veil bezeichnete in ihrer Rede diese Phänomene als sehr problematisch für den europäischen Erweiterungs- und Integrationsprozess (vgl. Troebst 2005: 44f.). Die von Kalniete vertretene Perspektive einer tendenziellen Gleichsetzung des nationalsozialistischen mit dem kommunistischen Okkupationsregime bzw. von deren Auswirkungen auf die jeweiligen Staaten scheint im Baltikum geschichtspolitisch konsensfähiger zu sein als in anderen Regionen Europas, vor allem in den westeuropäischen Staaten, wie die Vielzahl der kritischen Reaktionen auf Kalnietes Rede zeigten (Faulenbach 2005a: 65). Das Fernbleiben der estnischen und litauischen Staatsoberhäupter von der Moskauer Befreiungsfeier am 9. Mai 2005 weist – wie bereits erwähnt – ebenfalls auf die Interpretation des Kriegsendes als Beginn einer neuen Zeit der Unfreiheit und des Terrors hin. Indizien für diese Interpretation der beiden Okkupationsregime – die die Totalitarismusthese wieder aufleben lässt – finden sich auch in Polen (wo etwa das Institut des Nationalen Gedenkens für die Erinnerung an die NS-Besatzung und den Zweiten Weltkrieg ebenso zuständig ist wie für die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft), im Genocidmuseum in Vilnius und vor allem im Haus des Terrors in Budapest. Gleich im Eingangsbereich dieses 2002 eröff neten Museums werden durch die parallele Präsentation der beiden Symbole der Pfeilkreuzler und der Kommunisten, die auch auf der Außenfassade angebracht sind – und den UserInnen des Internetauftritts des Museums gleich auf der Introseite entgegenkommen17 – nationalsozialistischer und kommunistischer Terror auf eine Stufe gestellt und darüber hinaus eine Kontinuität zwischen beiden behauptet, die sowohl Täter als auch Opfer betriff t (Kovács 2005/2006: 90 und 98, vgl. Abbildung 2).18 Der Historiker Tony Judt (1993 und 1998) hat in seinen vergleichenden Studien darauf hingewiesen, dass die zwischen West- und Osteuropa divergierenden Erinnerungskulturen kaum kompatibel bzw. bestenfalls mühsam vereinbar und in ein gesamteuropäisches Gedächtnis integrierbar wären. Es wäre dennoch zu einfach, den »vergangenheitspolitische(n) Dissens innerhalb des sich erweiternden EU-Europa« (Troebst 2005: 44)
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Abbildung 2: Genocidmuseum in Vilnius ausschließlich an der Trennlinie des ehemaligen Eisernen Vorhangs festzumachen. »Denn weder sind der starke Rückbezug auf die eigene Nationalgeschichte noch die unterschiedliche Gewichtung von Typen und Aktionsformen von Diktaturen und schon gar nicht ein anderes Mischungsverhältnis von Erinnern und Vergessen – einschließlich des temporären Unter-den-Teppich-Kehrens besonders heikler Vergangenheitsbestandteile – typisch ost(mittel)europäisch. Schweigekonsense und nationalhistorische Fixierungen sind, wie der spanische Fall (und wohl auch der portugiesische und griechische) zeigt, vielmehr der europäische Normalfall« (Troebst 2005: 54).
Fest steht jedenfalls, dass ein erinnerungspolitischer Konsens in der erweiterten Europäischen Union »meilenweit entfernt« ist (Henke 2005: 102). Der – nationale Erinnerungen übergreifende – Gedächtnisort (vgl. Uhl 2003; Kroth 2005) ist zwar seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert »Auschwitz« als »Synonym für die Gewaltgeschichte der Moderne«.19 »Der Holocaust hat sich gerade deswegen als zentrales Bezugsereignis herauskristallisiert, weil hier die Zivilisationsbrüche der eigenen Gesellschaft sichtbar werden und weil sich damit eine klare moralische Botschaft verbindet, nämlich ein entschiedenes Auftreten gegen Rassismus, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und die Diskriminierung von Minderheiten.« (Uhl 2001: 64)
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Nicht nur Claus Leggewie betont jedoch die Notwendigkeit, auch die tragische Doppelerfahrung von Nationalsozialismus und Stalinismus (der der östliche Teil Europas ausgesetzt war) erinnernd zu würdigen und sich mit dieser in öffentlichen gedächtnispolitischen Manifestationen und Ritualen auseinanderzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, die beiden Phänomene gleichzusetzen bzw. umgekehrt eines der beiden tendenziell zu »entschuldigen«: »For the individual, it was a matter of indifference which system he or she fell victim to; analytically, however, the distinction remains important and must result in the rituals of memory […]. The question is not whether to commemorate but how […] The European way can be to voice dissent and discuss open questions regarding history, and in doing so to carefully extract lessons about contemporary European democracy.« (2006)
Auch Aleida Assmann (2001: 121) thematisiert die Gefahr einer »Verengung« aufgrund der »notwendigen Ausblendungen, die die Konzentration auf den Holocaust mit sich gebracht hat«. Es käme darauf an, »auch anderen Opfergruppen im öffentlichen Bewusstsein ihr Recht zurückzugeben« bis hin zur öffentlichen Anerkennung von Traumatisierungen, die aufgrund von Vertreibung entstanden sind: »Solche Erinnerungen zuzulassen und in einem öffentlichen Kommunikationsraum zur Sprache zu bringen, bedeutet in keiner Weise, die Traumatisierungen der Holocaustopfer zu relativieren. […] Vielmehr ist die Wahrheit dieser Erinnerungen angewiesen auf einen öffentlichen Kommunikationsraum, um erzählbar zu werden und in individuelle Lebensgeschichten integriert werden zu können.« (Ebd.: 121f.)
Historische Erzählungen konstituieren immer ein Feld, in dem dominante, marginalisierte und tabuisierte Diskurse aufeinander wirken (Marchart 2005) und in dem »Erinnerungskonflikte« ausgetragen werden – ein Prozess, den Helmut Dubiel (1999) als konstitutiv für pluralistische, demokratische Gesellschaften beschreibt. Maria Marchetta (2001: 292-311) betont, demokratische Erinnerungspolitik müsse reflexive Formen der Gestaltung von Erinnerung wählen, die den Gedenkenden Kommunikationsangebote liefern, eine aktive Auseinandersetzung fördern und sich auch die Verdeutlichung verschiedener Perspektiven zum Ziel setzen. Dem entspricht ein Begriff von (politischer) Kultur als intersubjektiv konstruierter »Interpretationshorizont« (vgl. Schirmer 2002: 20 und 22) und kollektiv geteiltes Muster zur Regelung sozialer Praktiken und von deren Übertragung in normative Strukturen und symbolische Systeme (vgl. Rossade 2002: 71). Umgekehrt können Erinnerungskulturen als Spiegel des politischen 131
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und historischen Selbstverständnisses jeweiliger Gesellschaften verstanden werden. Sie erlauben Rückschlüsse auf Demokratieverständnis und Legitimitätskonstruktionen. Spannungsfelder, Fragmentierungen und Interpretationsdifferenzen zwischen europäischen gedächtnispolitischen Standards und nationalen Erinnerungskulturen prägen aber auch wechselweise Wahrnehmungen politischer AkteurInnen und stellen ein Reservoir für politische Argumentationen dar.20 Ein genauerer Blick auf das Feld der Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur kann vor diesem Hintergrund einen Beitrag zu einem differenzierteren Verständnis nationaler Selbstbilder und Identitätskonstruktionen, wechselseitiger Fremdbilder und der Bedeutung beider für den Prozess der EU-Integration und Erweiterung leisten.
Anmerkungen 1 Erinnerungskultur kann als »nicht spezifisch wissenschaftliche(r) Gebrauch der Geschichte für die Öffentlichkeit« gefasst werden (Hockerts 2002: 41, zit.n. Troebst 2005: 32) und wird in jüngerer Zeit auch als Alternative »zur vergleichsweise pathetisch konnotierten Formulierung »Vergangenheitsbewältigung‹« verwendet (Cornelißen et al. 2004: 12). Von Gedächtnispolitik kann gesprochen werden, wenn etwa politische Ideen, Programme und Entscheidungen, Selbstbilder und Fremdbilder durch Referenz auf ausgewählte Bezugspunkte der Vergangenheit legitimiert und Erinnerung damit politisch funktionalisiert wird, um Tradition zu stiften, Konsens und kollektive Identifikation herzustellen, Herrschaft zu stabilisieren, Interessen durchzusetzen bzw. Abgrenzung zu politischen Ideen, Programmen oder Gruppen deutlich zu machen. Zu betonen ist die dynamische Wechselwirkung zwischen den beiden Bereichen. Gedächtnispolitik wirkt auf die Ausgestaltung von Erinnerungskultur zurück, zugleich geben – widerstreitende – Erinnerungskulturen den Rahmen vor, innerhalb dessen Gedächtnispolitik konzipiert, formuliert und implementiert werden kann (Meyer 2001: 77). 2 Der Widerstandsmythos half im Westen Europas die jüngste Geschichte zu heroisieren und durch gesellschaftliche Harmonisierung sowie Integration der MitläuferInnen die innere Einheit wieder herzustellen – egal ob ein Staat von NS-Deutschland besetzt oder mit ihm verbündet war. Kollaboration mit den Nationalsozialisten wurde einer Minderheit zugeordnet, quasi ausgelagert (DHM 2004, 14). Diese Mythen wurden in den meisten Staaten »diesseits« des Eisernen Vorhanges jedoch seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahren, spätestens – wie etwa in Österreich – seit Mitte der 1980er Jahre fragwürdig. 3 Die umstrittene Rede wurde unter dem Titel »Europe: Reunification of History« und in leicht modifizierter Form, ohne jedoch die Grundthesen abzuschwächen, von Kalniete noch einmal im Februar 2006 in Hamburg gehalten.
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In Russland markiert der 9. Mai das Ende des Zweiten Weltkriegs. Zum Begriff des Gedächtnisortes vgl. Nora (1998). 6 Ebenfalls in diese Kategorie fallen Kroatien und Kosovo, wo von »Serbokommunismus« (Troebst 2005: 38) gesprochen wird und die Slowakei, mit dem Diskurs eines tschechisch konnotierten Kommunismus. Troebst weist auch darauf hin, dass umgekehrt im tschechischen Vergangenheitsdiskurs die kommunistische Repression nach 1968 und dem Scheitern des Prager Frühlings vorrangig als Werk slowakischer Kommunisten und damit als »ethnisch fremd« gedeutet wird (ebd.). 7 Cf. www.tallinn-life.con/tallinn/estonian-russian-relations. [abgerufen am 3.6.2007]. 8 Im Nachhinein übte der lettische Parlamentspräsident allerdings leichte Kritik am Vorgehen Estlands und meinte, Lettland könne aus estnischen Fehlern lernen und erkennen, dass auch die russische Minderheit Opfer des Kommunismus gewesen sei (cf. www.tallinn-life.con/tallinn/estonian-russian-relations. [abgerufen am 3.6.2007]. 9 Inhaltlich und methodisch innovativere Zugänge, die etwa komparative Perspektiven einnehmen, die ethnische Pluralität der lettischen Gesellschaft thematisieren und damit homogenisierenden Tendenzen der Darstellung entgegen wirken, sind häufiger außerhalb der führenden Institutionen der lettischen Geschichtswissenschaft bzw. in anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder im Ausland zu finden (Misăns 2002: 192 und 200). 10 Bis 2002 waren Kenntnisse des Lettischen auf höchster Stufe für die Kandidatur zu Parlament und Gemeinderäten erforderlich, die Bestimmung wurde erst auf internationalen Druck geändert (Schmidt 2004: 143). 11 Im Zuge der Wirtschaftskrise errichtete im Mai 1934 der amtierende Ministerpräsident Kărlis Ulmanis ein autoritäres Regime. Lettland stellt damit keinen Sonderfall dar, ähnliche Entwicklungen gab es auch in Litauen im Dezember 1926, in Estland im März 1934 und in zahlreichen anderen europäischen Ländern (Onken 2004: 677). 12 1988 verlas der Politiker Mavriks Vulkfsons vor dem lettischen Schriftstellerverband erstmals öffentlich die geheimen Zusatzprotokolle zum Molotow-Ribbentrop-Pakt, deren Existenz durch die Sowjetunion stets geleugnet worden war, da sie Beweisstücke dafür darstellten, dass es keinen freiwilligen Beitritt der baltischen Staaten zur UdSSR gegeben hatte (Onken 2004: 676f.). 13 Während der drei Okkupationen verlor Lettland etwa ein knappes Drittel seiner Bevölkerung (rund 600.000 Menschen) (Wanderausstellung und Begleitbroschüre des Lettischen Okkupationsmuseums in Riga 2004: 11). 14 »In the name of the people of Latvia, The Supreme Council of the Republic of Latvia proclaims that it without reservation condemns the genocide against the Jewish people realized during Hitler’s occupation of Latvia […]. With deep regret, we must acknowledge that Latvia’s citizens were also among those who helped to realize this occupant-inspired terror.« (zit.n. Gordon 2001: 129) Der Beitrag von Ai5
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vars Stranga zu einem Sammelband über die Geschichte Lettlands unter den Okkupationsregimen, der detailliert Fakten über die Mitwirkung von ethnischen Letten an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auflistet, bleibt dennoch eher die Ausnahme, die die Regel bestätigt (2005: 165-167). 15 www.occupationmuseum.lv 16 1940/1941 UdSSR, 1941-1944/1945 NS-Deutschland, 1944/1945-1991 UdSSR. 17 www.houseofterror.hu 18 Über die Einschätzung der Jahrzehnte des Kommunismus – und vor allem auch der einzelnen Phasen dieser Periode – existiert in Ungarn kein konsensuelles gesellschaftliches Narrativ. Vielmehr trennt dieses Thema die ungarische Gesellschaft und vor allem die ungarische politische Landschaft und eignet sich daher besonders für parteipolitische Instrumentalisierungen. 19 Vgl. dazu etwa: The Stockholm International Forum on the Holocaust. A Conference on Education, Remembrance and Research. Stockholm. Sweden. 26-28 January 2000/Council of Europe (ed. (2003): Teaching about the Holocaust. European seminar for educational staff. Vilnius. 1-6 April 2000. Council of Europe Publishing. Strasbourg/OSCE/ODHIR (ed.) (2005): Education on the Holocaust and on Anti-Semitism in the OSCE Region. An Overview and Analysis of Educational Approaches/Ambrosevic-Jacobs, Jolanta/Hoĸdo, Leszek (ed.) (2005): Why should we teach about the Holocaust? Cracow/Council of Europe (ed. (2003): Teaching about the Holocaust. European seminar for educational staff. Vilnius. 1-6 April 2000. Council of Europe Publishing. Strasbourg. 20 Als Beispiel können die in Österreich erhobenen Forderungen nach einem »nationalen Schulterschluss« als Reaktion auf die Maßnahmen der zu diesem Zeitpunkt 14 anderen EU-Staaten gegen die ÖVP-FPÖ-Koalitionsbildung im Jahr 2000 angeführt werden.
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Geschlecht – Ökonomie – Kultur
Gegen-Hegemonie erzeugen. Zum Kapitel »Geschlecht – Ökonomie – Kultur« 1 Utta Isop
»›Sie verstehen nicht, was Zeit ist‹, sagte er schließlich. ›Sie behaupten, die Vergangenheit sei vorbei, die Zukunft sei nicht real, es gebe keine Veränderung, keine Hoffnung. […] Sie glauben im Grunde Ihres Herzens nicht an die Veränderung, an Evolution. Sie würden uns lieber vernichten als unsere Realität zu akzeptieren, als zuzugeben, dass Hoffnung besteht!‹« Le Guin (1974)
Kultur als Instrument zur Erzeugung von Hegemonie und Gegenhegemonie »Gegenhegemonie bedeutet das Streben nach Emanzipation. Dies kann zweierlei Gestalt annehmen: Während es meist zunächst auf die Gleichberechtigung innerhalb der gegebenen Verhältnisse zielt, wird eine wirkliche Aufhebung nur in einem Prozess möglich sein, der sowohl die hegemonialen als auch die hegemonisierten Identitäten ihrer binären, das heißt in Abgrenzung zueinander entstandenen, Konstruktionen enthebt. Auch dies impliziert die Veränderung des Kontextes, der nicht unabhängig von den Formen der Identitäten zu denken ist.« (Habermann 2006: 125)
Kultur und kulturelle »(Mikro-)Prozesse« können, wie Friederike Habermann im Anschluss an Gramsci und Laclau/Mouffe ausführt, als Instrumente zur Erzeugung von Hegemonie und Gegenhegemonie innerhalb von durch Konflikte, Dominanzkämpfe, Gewalt und kriegerische Ausein141
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andersetzungen gezeichneten gesellschaftlichen Feldern verstanden werden. Über den Begriff der Hegemonie lässt sich auch die Verbindung zur Sphäre der Ökonomie herstellen, wobei Politik, Kultur und Ökonomie voneinander differenzierte, relativ autonome, aber miteinander eng verknüpfte Felder darstellen, in welchen mit wechselseitigen Koalitionen um Hegemonie und Gegenhegemonie gerungen wird (Habermann 2006: 128). Der »Cultural Turn« (Mae/Saal 2007: 7) bzw. die Dominanz der de-/ konstruktivistischen Debatte in den Gender und Women’s Studies brachte eine Fokussierung auf den Identitäts- und Subjektbegriff mit sich, was eine gewisse Gefahr der Enthistorisierung und Entkontextualisierung birgt. Um nicht in einen Kulturalismus zu verfallen, ist es daher wichtig, den Begriff der Kultur/en mit dem der Hegemonie zu verknüpfen. Es reicht nicht aus, in spielerischen Performanzen die Identitäten (Geschlechter) zu verändern, ohne die gesellschaftlichen Beziehungen im historischen und sozialen Kontext neu zu denken und zu gestalten. Um Gegenhegemonie zu erzeugen, ist es notwendig, ein wirksames Zusammenspiel von veränderten Identitäten, veränderten kulturellen Praxen und veränderten gesellschaftlichen Beziehungen (wie z.B. alternativen, solidarischen Ökonomien) zu befördern. Theorien von der Identität bzw. der Subjektivierung, entwickelt zur Subversion von gesellschaftlichen Dominanzverhältnissen, erfahren eine neue Wirksamkeit durch die Verknüpfung mit Gesellschaftstheorien und Theorien über ökonomische Verhältnisse.
Kulturalistischer Diskurs »Islam versus Westen« wird hegemonial Die Ablöse des »Kalten Krieges« durch den seit dem 11. September 2001 ausgerufenen »weltweiten Krieg gegen den Terror« und die Gegenüberstellung von »islamischen Gottesstaaten versus westliche Demokratien« führte auch innerhalb der Women’s und Gender Studies (wie in den meisten anderen gesellschaftlichen Feldern, Medien, Kultur, Literatur, Schule …) zu vielfachen Kritiken und Differenzierungen in Bezug auf die Polarisierung der »Frauenfrage im Islam und im Westen«, wie z.B. im »Kritischen Okzidentalismus«. Stellungnahmen pro und contra diesen medial, politisch und wissenschaftlich alltäglich und hegemonial gewordenen kulturalistischen Diskurs »Islam versus Westen«, auch innerhalb der Frauenbewegung und in der Frauen- und Geschlechterforschung, verdrängen andere alternative Diskurse (z.B. über Prekarisierung und Globalisierung von Arbeitsbedingungen, z.B. über ein bedingungsloses weltweites Grundeinkommen, z.B. über die Vernichtung von indigenen Kulturen u.v.a.). Ein besonderes Kennzeichen der Hegemonialität dieses kriegerischen Diskurses 142
Zum Kapitel »Geschlecht – Ökonomie – Kultur«
über »Kopftücher, SelbstmordattentäterInnen, Moscheen, MuslimInnen, Terroristen …« ist, dass es keine anderen alternativen wichtigen Diskurse mehr ohne Verweis auf diesen dominanten Diskurs zu geben scheint. Aber selbst die wissenschaftlichen Versuche, diesen dominanten Diskurs zu widerlegen, bleiben ihm verhaftet, wenn die unbewusste Rezeption medialer Berichterstattung, aber auch wissenschaftlicher Diskurse in Rechnung gestellt wird. Wie Freud (1999, Bd.10: 285) dies formulierte: Das Unbewusste kennt keine Verneinung, keinen Zweifel und keine Grade von Sicherheit. So tragen die vielen Dekonstruktionen im Bereich der Wissenschaften paradoxerweise zur Aktualität und Legitimität dieses dominanten Diskurses »Islam versus Westen« bei, obwohl sie versuchen, ihn zu differenzieren, zu graduieren, zu dekonstruieren.
Instrumentalisierung der Frauenfrage im hegemonialen Diskurs Die Instrumentalisierung der »Frauenfrage« in diesem kriegerischen Diskurs wird auf den verschiedenen Ebenen unserer Gesellschaften von Alltagsgesprächen über Medien bis hin zu Wissenschaft, Kunst und Politik unterschiedlich aktiviert und so Flächen deckend betrieben, dass es kaum ein Entkommen gibt. Gerade deshalb wäre es so wichtig, das Konzept von Hegemonie und Gegenhegemonie auch in der friedenswissenschaftlichen Forschung im Zusammenhang mit Kultur kritisch einzusetzen. Dies gilt auch für medial geführte feministische Diskurse. Ein Beispiel für viele Versuche der Dekonstruktion des dominanten kulturalistischen und kriegerischen Diskurses stellt z.B. der Band »Transkulturelle Genderforschung« (Mae/Saal 2007) dar. Diesem ist es ein Anliegen »Kultur/en« als hybride Konstrukte darzustellen und zu betonen, dass die Rede von der Kultur nicht ohne den Konnex zur Transkulturalität auskommen darf, will sie nicht kulturalistisch zu werden: »Kultur ist immer Transkultur in dem Sinne, dass sie eben nicht eine abgeschlossene Einheit ist, sondern durch Austausch, Auseinandersetzung, Durchdringung etc. geprägt ist; […] Unser Ansatz einer transkulturellen Genderforschung, die die beiden genannten Aspekte von Transkulturalität berücksichtigt und mit neuen Erkenntnissen der Genderforschung verknüpft, scheint uns der aktuellen Situation im Globalisierungsprozess angemessen: Genderfragen können nicht losgelöst vom Kulturbegriff und damit auch nicht vom jeweiligen kulturellen Kontext gestellt und bearbeitet werden; sie benötigen vielmehr eine transkulturelle Perspektive, um ihren Gegenstand angemessen erfassen zu können.« (Mae/Saal 2007: 10)
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Die Forderung nach Kontextualisierung von Genderfragen ist aber nicht nur in Bezug auf die kulturelle und transkulturelle Perspektive von Bedeutung, sondern auch in Bezug auf die ökonomische Dimension. Die Besonderheit der ökonomischen Dimension lässt sich sehr gut an den Anti-Diskriminierungsgesetzen der EU verdeutlichen: Während Diskriminierung aufgrund von Religion, Sprache, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung und Behinderung eingeklagt werden können, ist es nicht möglich, Diskriminierung aufgrund von Armut und sozialem Status einzuklagen.
Neoliberale Ökonomie spaltet Frauenbewegungen in »Gewinner_innen« und »Verlierer_innen« Neben diesem hegemonial gewordenen Diskurs vom »Kampf der Kulturen«, insbesondere zwischen »Islam und Westen«, in welchem wissenschaftliche Einsprüche und Differenzierungen oftmals ungehört verhallen oder ihm gegen ihre Intention einverleibt werden, spalten besonders Dynamiken neoliberaler Ökonomie heutige Frauenbewegungen. Diese Spaltungsvorgänge in solche, die sich erfolgreich in die Erwerbsarbeit, die Karriereleitern und den »Freien Markt« integriert haben (Dorn 2006; Haaf u.a. 2006), und solche, die nach wie vor Versorgungsarbeit leisten, ob sie nun in den offiziellen Erwerbsarbeitsmarkt integriert sind oder nicht, erinnern an eines der großen Themen der Frauenbewegungen des 19. und des 20. Jahrhunderts, nämlich an die Spaltung zwischen bürgerlicher Frauenbewegung und der Arbeiterinnen-Bewegung. Dieser historische Konflikt nimmt heutige Debatten zu Intersektionalität z.B. in Bezug auf die Dimension »class« vorweg, die einerseits auf soziologische Dimensionen (mit unterschiedlichen Dominanzgruppen wie Klassen, Schichtungen, Ungleichheiten) und andererseits auf ökonomische Dimensionen (sichtbar durch eine als alternativlos gedachten Markt- und Geldwirtschaft und die Spaltung von Erwerbs- und Versorgungsarbeit) zielt. Die Infragestellung der Geschlechtsidentitäten hat nicht so sehr zu einer verstärkten Kritik und Subversion der Kluft zwischen Erwerbs-Tätigen (entlohnte Arbeit) und Versorgungs-Tätigen (Care-ArbeiterInnen in Hausarbeit, Versorgungs- und Pflegearbeit) und einer Veränderung ökonomisch bedingter Unterschiede geführt, sondern den Identitätsangeboten einer neoliberalen Ökonomie, wie der Verabsolutierung des »Homo Oeconomicus«, wenig entgegenzusetzen gehabt: »Doch heißt das gerade nicht, dass alle weißen Männer Gewinner der Globalisierung wären oder dass Frauen, Schwarze oder Homosexuelle keine Karriere machen könnten – im Gegenteil ist die hegemoniale Bedeutung des homo oeconomicus als Rollen-
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Zum Kapitel »Geschlecht – Ökonomie – Kultur«
modell so stark geworden, dass er auch für Frauen und people of coulour Gültigkeit erlang hat: unabhängig zu sein, flexibel und erfolgreich.« (Habermann 2006: 126)
Umso wichtiger sind die in diesem Kapitel versammelten Ansätze innerhalb der Women’s und Gender Studies von Birgit Rommelspacher, Roswitha Scholz und Barbara Grubner. Die Autorinnen bearbeiten neben der kulturellen Dimension besonders auch die ökonomischen Bedingungen von Dominanzverhältnissen und sozialen Ungleichheiten (Intersektionen und Interdependenzen).
Wer t und Wer tabspaltung »Most people exchange their produced goods in ›informal‹ markets and for household and village ›economies‹; most labour and live for more than just (meagre, formal market) wages. […] In other words, women, men and children who work in the household, the community, the informal sector and in the lower rungs of the formal sector, are not ›valued‹ by hegemonic discursive strategies. The value of whole populations working the community-managed forests, fisheries, pastures, public spaces and household, add up to ›zero‹ in this economist worldview.« (George 1998: 15)
Wie lassen sich diese widersprüchlichen Phänomene in einer die Ökonomie einbeziehenden Kulturtheorie fassen? Roswitha Scholz versucht dies mit ihrer Theorie von der »Wertabspaltung«. Die Kulturtheorie der Wertabspaltung von Roswitha Scholz leistet die seltene Verknüpfung einer Analyse kapitalistischer Ökonomie und der Erzeugung von Geschlechtsidentitäten in modernen Gesellschaften. Sie bewegt sich damit in einem Forschungsfeld, das in der Frauen- und Geschlechterforschung und den Queer Studies ähnlich wie das Forschungsfeld der Friedensforschung aktuell relativ vernachlässigt wird. Phänomene wie Migration, Menschenhandel, gewaltsame Konflikte und Kriege lassen sich nicht nur durch das Paradigma einer Auseinandersetzung von »Kulturen« im Sinne ethnischer Unterschiede (Günther Schlee 2006: 8), und seien diese auch hybride, erklären. Dazu bedarf es einer Kultur- oder Gesellschaftstheorie, die Hypothesen über die Zusammenhänge von sozio-kulturellen Praktiken, psycho-sozialen Bedingungen und ökonomischen Praktiken herstellt. So eine Theorie schlägt Roswitha Scholz vor, wenn sie zu erklären versucht, auf welche Weise die kapitalistische Organisation von Ökonomien mit der Erzeugung von Geschlechtsidentitäten in Verbindung steht. Die gesellschaftliche Produktion von Wert im Sinne von Erwerbsarbeit steht im Zentrum kapitalistischer Gesellschaften. Diese wird tendenziell eher männlichen Geschlechtsidentitäten zugeordnet. Die Bedingung der Möglichkeit für die Erzeugung von Wert/Erwerbsarbeit stellt die Versorgungs-, Pflege- und 145
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Haushaltsarbeit dar, die Scholz als »Wertabspaltung« bezeichnet und die tendenziell eher weiblichen Geschlechtsidentitäten zugeordnet wird. Dieser sehr traditionell wirkenden Spaltung von Erwerbsarbeit und Versorgungsarbeit steht eine zunehmende »Verwertung« von Haushalts-, Pflege- und Versorgungsarbeit durch Umwandlung dieses Bereiches in Erwerbsarbeit gegenüber. Dies führt zu einer verstärkten Einbindung von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt, es führt aber nicht zur intensiveren Einbindung von Männern in die Versorgungsarbeit. Letztere erfährt im Sinne der »Wertabspaltung« eine massive Abwertung durch alle Geschlechter. So werden neue Konzepte von Geschlecht wie das der »hegemonialen Weiblichkeit« von Birgit Rommelspacher notwendig.
Hegemoniale Weiblichkeit Birgit Rommelspacher prägt den neuen Begriff der »hegemonialen Weiblichkeit«, in welchem sehr gut die brisanten Konfliktlinien aktueller Women’s, Gender und Queer Forschung enthalten sind. Trotz der Infragestellung von Geschlechtskonstrukten und der Subversion derselben durch gegenläufige Performanzen in queeren Zusammenhängen lassen sich gesellschaftliche Tendenzen erkennen, die im Kontext neoliberaler Ökonomie und Globalisierung zu einer Fortschreibung von Identitätskategorien wie Geschlecht, Ethnie, Behinderung, Alter, Nation führen. Es lassen sich selbstkritisch und selbstreflexiv sogar Tendenzen zur Verstärkung von Ungleichheit und Dominanzverhältnissen zwischen sogenannten »Europäischen, US-Amerikanischen, Weißen, Mittelschicht-Frauen«, die zu den Gewinner_innen neoliberaler Globalisierung zählen, und Migrant_innen, welche die Versorgungsarbeiten für Erstere übernehmen, erkennen. Von hegemonialer Weiblichkeit lässt sich dort sprechen, wo die Konflikthaftigkeit und Gewaltförmigkeit des Verhältnisses von Erwerbs- und Versorgungsarbeit ausgeblendet wird und davon ausgegangen wird, dass die gebildeten weißen jungen Frauen mit hohem Einkommen entweder ohnehin Versorgungstätigkeiten minimieren (auf Kinder verzichten z.B.) oder diese an migrantische Hausangestellte delegieren: »Das Ideal des rationalen, flexiblen und effizienten Individuums, befreit von reproduktiver Arbeit, gilt nun auch für Frauen. Um ihm aber überhaupt entsprechen zu können, müssen sie zumindest ihre Verantwortlichkeit für Reproduktionstätigkeiten abgeben – denn wenn diese auch nicht mehr zum Ideal der Frau gehören, so werden sie im Postfordismus wie alles, was nicht vom Markt erfasst wird, in die Unsichtbarkeit abgeschoben. In Umkehr zum fordistischen Hausfrauenideal
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Zum Kapitel »Geschlecht – Ökonomie – Kultur«
wird so getan, als sei es jeder gut organisierten ›Familienleiterin‹ möglich, sieben Kinder locker mit einem Doppelberuf zu vereinen.« (Habermann 2006: 126)
Neoliberale postfordistische Verhältnisse befördern den Einstieg von bestimmten Frauen in die Erwerbs- und Lohnarbeit. Sie befördern in einer interessanten Koalition von Marktinteressen und staatlicher bzw. durch die EU regulierter Förderpolitik unterschiedliche Phänomene wie die Karrieremöglichkeiten von einigen wenigen Frauen auf höheren Hierarchieebenen einerseits und die Feminisierung (und damit Lohnsenkung) von ganzen Berufsfeldern andererseits. Mit diesen Berufsfeldern der Versorgungsarbeit und ihrer Delegation an migrantische Subjekte befasst sich Barbara Grubner in ihrem Artikel.
MigrantInnen übernehmen Versorgungsarbeit der »F-Klasse« Barbara Grubner fokussiert auf die strukturelle und institutionelle Gewalt, welche MigrantInnen durch eine »Ökonomisierung von Fürsorge-Arbeit« in »Privathaushalten« erfahren. Entsprechend dem oben dargestellten Spannungsfeld von ökonomischen und sozio-kulturellen Praktiken und psycho-sozialen Bedingungen kommt es in sich globalisierenden und globalisierten Verhältnissen zu einer Verschiebung von Erwerbs- und Versorgungsarbeit. Frauen der »Ersten Welt« drängen zunehmend im Sinne von »Verwertung« und »Hegemonialer Weiblichkeit« auf den Arbeitsmarkt. Die in den Privathaushalten zurückgelassenen Versorgungs-, Pflege- und Haushaltsarbeiten werden entweder durch verstärkte Institutionalisierung oder aber durch die Erwerbsarbeit von Migrantinnen abgedeckt. Es handelt sich dabei um ökonomische und strukturelle Gewalt, denn der Gewaltbegriff kann nicht auf personale und direkte Gewalt reduziert werden, wie Barbara Grubner argumentiert. Wie mit dem Begriff der »Wertabspaltung« (Roswitha Scholz), so weist Barbara Grubner auf die Praxis einer »auf Dauer gestellten Vernachlässigung der Fürsorgearbeit« (Birgit Sauer) in auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Gesellschaften an. Diese »Wertabspaltung« oder eben Vernachlässigung und Abwertung von Fürsorgearbeit bereitet den Boden für die internationale, strukturelle Gewalt, mit welcher Migrantinnen in Privathaushalte geschleust werden. Das gewaltförmige Konzept »hegemonialer Weiblichkeit« zieht einen symbolischen Mehrwert (Statuszugewinn) aus der Auslagerung von Fürsorgearbeit an Migrantinnen und nähert sich dadurch scheinbar der Position der durch Erwerbsarbeit gestifteten männlichen Identität in kapitalistischen Gesellschaften an. Barbara Grubner betont wie Birgit Rommelspacher und Roswitha Scholz ebenfalls 147
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die Notwendigkeit, die legalen, hegemonialen und ökonomischen Gewaltverhältnisse innerhalb unserer Gesellschaften zu skandalisieren. Angeprangert werden die »normalisierten, naturalisierten, tolerierten ökonomischen, politischen Geschlechterverhältnisse«, welche kulturelle Praktiken »hegemonialer Weiblichkeit« befördern, Wert und Wertabspaltung kanalisieren und Gewalt in Privathaushalten unterstützen.
Anmerkungen 1 Ich verwende unterschiedliche geschlechtergerechte Schreibweisen, um die Vielfalt theoretischer und politischer Positionen in feministischen, geschlechtertheoretischen und queeren Bewegungen zu betonen. Das Binnen-I steht so neben der aktuellen Schreibweise mit dem Unterstrich (z.B. Arbeiter_innen), welche über die Zweigeschlechtlichkeit hinauszugehen versucht.
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Zum Kapitel »Geschlecht – Ökonomie – Kultur«
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Das warenproduzierende Patr iarchat. Thesen zu Kapitalismus und Geschlechter verhältnis Roswitha Scholz
In den 1990er Jahren standen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kulturalistische und differenztheoretische Ansätze in der Frauenforschung, die nun zur Genderforschung mutierte, hoch im Kurs. Marxofeministische Konzepte, die bis Ende der 1980er Jahre die Diskussion bestimmt hatten, traten in den Hintergrund. Mittlerweile erleben nun durch zunehmende Delegitimierung des Neoliberalismus in der sich zuspitzenden ökonomischen Krise (Stichworte: Prekariat, Unterschicht, Hartz IV in der BRD etc.) diverse Marxismen wieder einen Auftrieb. Diese Entwicklung scheint bislang im Kontext feministischer Theorie-/Genderforschung jedoch kaum einen Niederschlag gefunden zu haben, sieht man vom globalisierungskritischen Diskurs und einigen »Spezialgebieten«, etwa zum Thema Arbeit und Geschlecht, einmal ab. (De-)konstruktivistische Theorien bilden im Chor der allgemeinen feministischen bzw. Gender-Theorie nach wie vor die Hauptstimmen. Gleichzeitig wird allenthalben die Forderung laut, dass ein neuer Feminismus vonnöten sei und auch – schon seit längerem – materielle Ebenen wieder stärker einbezogen werden müssten. Der Ideologie, wir hätten es zunehmend mit einer »Verwirrung der Geschlechter« zu tun, wie sie seit Mitte der 1980er Jahre und besonders in den 1990er Jahren vorherrschend war, folgt nun die Ernüchterung. Es wird deutlich, dass es mit der vielbeschworenen Angleichung der Geschlechter doch nicht so weit her ist und das dekonstruktivistische »Spiel mit den Zeichen« nicht viel eingebracht hat. Die »Neuentdeckung« marxistischer Theorie einerseits und die Ein151
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sicht, dass der Feminismus keineswegs anachronistisch und überflüssig geworden ist, auch wenn er in den Spielarten der letzten Jahrzehnte nicht mehr fortgesetzt werden kann, verlangen meines Erachtens nun einen neuen marxo-feministischen theoretischen Rahmen, der geeignet ist, der heutigen Entwicklung nach dem Ende des »realexistierenden Sozialismus« und der fortschreitenden kapitalistischen Weltkrise Rechnung zu tragen. Denn es versteht sich von selbst, dass an traditionell marxistische Vorstellungen im 21. Jahrhundert nicht einfach bruchlos angeknüpft werden kann. Ein direkter Anschluss ohne kritische Weiterentwicklung ist auch an solche Theorien nicht möglich, auf die ich mich im folgenden selbst teilweise stütze, wie etwa die Kritische Theorie Adornos, auch wenn in diesen Untersuchungen meines Erachtens wichtige Vorarbeiten für eine patriarchatskritische Theorie der Gegenwart geliefert wurden. Dabei müssen auch manche Theorieansätze, die sich in der bisherigen Feminismusdebatte der letzten 20 Jahre auf Adorno und die Kritische Theorie insgesamt gestützt haben, modifiziert werden. Auf all dies kann ich hier jedoch nicht ausführlich eingehen (siehe hierzu u.a. Scholz 2000: insbes. 61ff./107ff./184ff.; Scholz 2005 a). Stattdessen möchte ich einige theoretische Aspekte der von mir vertretenen Theorie des Geschlechterverhältnisses, der Wert-Abspaltungstheorie, vortragen, die ich in der Auseinandersetzung mit derartigen Theorieansätzen gewonnen habe. Dabei kann auch das asymmetrische Geschlechterverhältnis heute, wie ich zeigen werde, nicht mehr im Sinne des »klassischen« modernen Geschlechterverhältnisses in Augenschein genommen werden; allerdings ist es unerlässlich, sich der Ursprünge in der Modernisierungsgeschichte zu versichern. Postmodernen Differenzierungsprozessen und der Relevanz der kulturell-symbolischen Ebene, wie sie seit den 1980er Jahren deutlich geworden sind, muss dabei Rechnung getragen werden. Die kulturell-symbolische Ordnung ist als eigenständige Theoriedimension anzuerkennen. Gleichzeitig gilt es jedoch, diese Dimension mit der Wert-Abspaltung als gesellschaftlichem Grundprinzip zusammen zu denken, ohne die Marxsche Theorie als rein materielle zu begreifen. Diese Theorie ist vielmehr an ihrem Totalitätsanspruch zu »packen«, insofern als die kulturell-symbolische, aber auch die sozialpsychologische Ebene im Kontext eines gesellschaftlichen Ganzen mit einbezogen werden muss. Ökonomie und Kultur sind so weder miteinander identisch (wie dies eine identitätslogische Betrachtung nahelegen würde, die Differenzen gewaltsam gleichnamig machen muss), noch können sie in einem dualistischen Sinne strikt voneinander getrennt werden. Vielmehr muss ihre Identität und Nichtidentität in ihrer gleichermaßen unvermeidlichen konfl ikthaften Inkompatibilität im warenproduzierenden Patriarchat im Sinne eines
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selbst-widersprüchlich gedachten Grundprinzips der Wert-Abspaltung als gesellschaftlicher Form begriffen werden. Primäre theoretische Bezugspunkte sind dabei neben der erwähnten Kritischen Theorie Adornos eine neue fundamental-kritische Theorie des »Werts« und der »abstrakten Arbeit« als Weiterentwicklung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, deren prominenteste Vertreter in den letzten Jahrzehnten Robert Kurz und teilweise Moishe Postone waren (vgl. etwa Kurz 1991; Kurz 1999; Postone 1988; Postone 2003). Deren Ansätze gedenke ich feministisch zu wenden.
Der Wer t als gesellschaftliches Basispr inzip Gemäß diesem neuen wertkritischen Verständnis steht nicht der sogenannte Mehrwert für sich, das heißt die bloß äußerlich bestimmte Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital qua juristischer Eigentumsverhältnisse, im Zentrum der Kritik, sondern bereits die Wertform selbst, also der gesellschaftliche Charakter des warenproduzierenden Systems und damit die Tätigkeitsform der abstrakten Arbeit. »Arbeit« als Abstraktum entsteht demzufolge erst im Kapitalismus zusammen mit der Verallgemeinerung der Warenproduktion und darf deshalb nicht ontologisiert werden. Die verallgemeinerte Warenproduktion zeichnet sich nun dadurch aus, dass unter dem Diktat der »Verwertung des Werts« die Individuen in Kapitalunternehmen zwar hochgradig vernetzt, aber der Form nach paradoxerweise dennoch »ungesellschaftlich« produzieren, während eine Vergesellschaftung erst durch den Austausch auf dem Markt hergestellt wird. Als Waren repräsentieren die Produkte »vergangene abstrakte Arbeit« und insofern »Wert«, das heißt sie stellen eine bestimmte (auf dem Markt als gesellschaftlich gültig anerkannte) Quantität verausgabter menschlicher Energie dar. Und diese »Darstellung« drückt sich wiederum im Geld als dem universellen Vermittler und gleichzeitigen Selbstzweck in der Kapitalform aus. Auf diese Weise erscheinen die Personen einerseits als ungesellschaftlich und die Gesellschaft durch Sachen konstituiert, die sich über die abstrakte Quantität des Werts miteinander vermitteln. Das Resultat ist eine Entfremdung der Gesellschaftsmitglieder, denn ihre eigene Gesellschaftlichkeit wird nur über ihre Produkte gestiftet, also tote Dinge, in der gesellschaftlichen Darstellungsform losgelöst von jedem konkret-sinnlichen Inhalt. Diesen Zusammenhang meint zunächst der Begriff des Fetischismus, der aber noch unvollständig ist. In vormodernen Gesellschaften hingegen wurde unter anderen (personalen statt warenförmig versachlichten) Herrschaftsverhältnissen primär 153
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für den Gebrauch produziert, und zwar sowohl im agrarischen Bereich als auch im Handwerk, das spezielle Zunftgesetze hatte, die ein abstraktes Gewinnstreben ausschlossen. Der sehr begrenzte vormoderne Warenaustausch fand nicht über Märkte im modernen Sinne mit Konkurrenzverhältnissen statt. Es konnte damals noch nicht von einer gesellschaftlichen »Totalität« wie heute gesprochen werden, in der Geld und Wert zu einem abstrakten Selbstzweck (Kapitalverwertung) geworden sind. In der Moderne geht es also darum, aus Geld mehr Geld und insofern »Mehrwert« zu machen; aber nicht als bloß subjektiver Bereicherungszweck, sondern als tautologischer System-Bezug des Werts auf sich selbst. Marx spricht in dieser Hinsicht vom »automatischen Subjekt«. Menschliche Bedürfnisse werden nebensächlich und Arbeitskraft selbst wird zur Ware; das heißt, das menschliche Produktionsvermögen ist zu einem fremdbestimmten geworden, aber nicht im Sinne personaler Herrschaft, sondern im Sinne anonymer blinder Mechanismen. Nur deshalb sind die Produktionstätigkeiten in der Moderne in die Form abstrakter Arbeit gepresst. Schließlich wird mit der Entfaltung des Kapitalismus das gesamte Leben rund um den Erdball durch die Selbstbewegung des Geldes geprägt, und damit zusammenhängend erscheint die erst im Kapitalismus entstandene abstrakte Arbeit jetzt unhistorisch als ontologisches Prinzip. Gegenüber diesem Systemzusammenhang problematisierte der traditionelle Marxismus nur die juristische Aneignung des Mehrwerts durch die »Kapitalistenklasse«. Nicht der Warenfetischismus als solcher war das Skandalon, sondern lediglich die ungleiche Verteilung. Die Kapitalismuskritik und die Vorstellungen einer postkapitalistischen Gesellschaft beschränkten sich daher auf das Ziel einer »gerechten Verteilung« innerhalb des warenproduzierenden Systems und seiner unüberwundenen Formen. Es wurde nicht gesehen, dass die Leiden des Kapitalismus aus diesem Formzusammenhang selbst kommen und das juristische Eigentum bloß eine Folge davon ist. Dementsprechend beschränkte sich der Arbeiterbewegungsmarxismus auf eine Legitimationsideologie für systemimmanente Entwicklungen und soziale Verbesserungen. Heute ist dieses Denken für eine Erneuerung der Kapitalismuskritik ungeeignet, weil es sich alle grundlegenden kapitalistischen Vergesellschaftungsprinzipien zu eigen gemacht hat, insbesondere die Kategorien des Werts und der abstrakten Arbeit. Diese Kategorien wurden als überhistorische Menschheitsbedingungen missverstanden. Dabei von der Warte einer radikalen Wertkritik als auch den vergangenen »real existierenden« Sozialismus als warenproduzierendes System einer staatsbürokratischen »nachholenden Modernisierung« im Osten und Süden, das vermittelt über Weltmarktprozesse und den Wettlauf in der Produktivkraftentwicklung mit dem Westen auf der postfordistischen Stufenleiter der kapitalistischen 154
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Entwicklung Ende der 1980er Jahre zusammenbrechen musste (siehe dazu genauer: Kurz 1991; zusammenfassend: Scholz 2000: 13ff.). Im Westen werden seither im Zuge von Krise und Globalisierung die sozialen Reformen wieder zurückgenommen.
Die Wer t-Abspaltung als gesellschaftliches Basispr inzip Mit dem »Wert« bzw. der abstrakten Arbeit ist die Grundform des Kapitalismus meines Erachtens jedoch noch nicht hinreichend als fetischistisches Verhältnis bestimmt. Gleichermaßen muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass im Kapitalismus auch Reproduktionstätigkeiten anfallen, die vor allem von Frauen erledigt werden. Dementsprechend meint Wert-Abspaltung, dass im Kern als weiblich bestimmte Reproduktionstätigkeiten, aber auch damit verbundene Gefühle, Eigenschaften, Haltungen (Emotionalität, Sinnlichkeit, Fürsorglichkeit u.ä.) eben vom Wert d.h. der abstrakten Arbeit abgespalten sind. Der weibliche Lebenszusammenhang, die weiblichen Reproduktionstätigkeiten im Kapitalismus haben so einen anderen Charakter als die abstrakte Arbeit; deshalb können sie auch nicht umstandslos unter den Arbeitsbegriff subsumiert werden. Es handelt sich um eine Seite der kapitalistischen Gesellschaft, die durch das Marxsche Begriffsinstrumentarium nicht erfasst werden kann. Diese Seite zusammen mit dem Wert gesetzt, gehört notwendig zu ihm; andererseits befindet sie sich jedoch außerhalb davon und ist deswegen auch seine Voraussetzung. In diesem Zusammenhang übernehme ich von Frigga Haug die These, dass es in der Moderne einerseits eine »Zeitsparlogik« gibt, die prinzipiell der Produktionssphäre, der »betriebswirtschaftlichen Vernutzungslogik« (Robert Kurz) entsprechend zuzuordnen ist, und andererseits eine »Logik der Zeitverausgabung«, die dem Reproduktionsbereich entspricht, auch wenn Haug ansonsten eher altmarxistischen Annahmen verpfl ichtet ist (Haug 1996: insbes. 139ff.). Wert und Abspaltung stehen so in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das eine kann nicht aus dem anderen abgeleitet werden, sondern beide Momente gehen auseinander hervor. Insofern kann die WertAbspaltung auch als übergeordnete Logik begriffen werden, die über die warenförmigen Binnenkategorien hinausgeht. Exakt in diesem Sinne ist ein Verständnis von (fetischistischer) Vergesellschaftung zu gewinnen, und eben nicht allein über den »Wert«. Betont werden muss dabei jedoch, dass die scheinbar unmittelbar gegebene Sinnlichkeit im Reproduktionsbereich, der Konsum und die ihn umgebenden Tätigkeiten, als auch die Bedürfnisse, die hier befriedigt werden, selbst vor dem Hintergrund der 155
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Wert-Abspaltung als Gesamtprozess historisch geworden sind. Sie dürfen nicht als unmittelbar-natürliche missverstanden werden, auch wenn Essen, Trinken, Lieben usw. nicht nur in Symbolisierungen aufgehen, wie dies Vulgärkonstruktivismen behaupten. Die Kategorien zur Kritik der politischen Ökonomie reichen jedoch auch noch in anderer Hinsicht nicht aus. Die Wert-Abspaltung impliziert ein spezifisches sozialpsychologisches Verhältnis. Bestimmte minderbewertete Eigenschaften (Sinnlichkeit, Emotionalität, Verstandes- und Charakterschwäche usw.) werden »der Frau« zugeschrieben und vom männlich-modernen Subjekt abgespalten. Derartige geschlechtspezifische Zuschreibungen charakterisieren wesentlich die symbolische Ordnung des warenproduzierenden Patriarchats. Es gilt also beim kapitalistischen Geschlechterverhältnis über das Moment der materiellen Reproduktion hinaus sowohl die sozialpsychologische als auch die kulturell-symbolische Dimension zu berücksichtigen. Gerade auch in der Existenz auf diesen Ebenen erweist sich die Wert-Abspaltung als Formprinzip des warenproduzierenden Patriarchats. Das asymmetrische Geschlechterverhältnis ist meines Erachtens in theoretischer Hinsicht beschränkt auf die Moderne/Postmoderne zu untersuchen. Dies soll nicht heißen, dass dieses Verhältnis keine vormoderne Geschichte hat; allerdings nahm es mit der Verallgemeinerung der Warenform eine gänzlich neue Qualität an. Frauen sollten nun primär für den minderbewerteten, nicht in Geld darstellbaren Reproduktionsbereich, Männer für die kapitalistische Produktionssphäre und die Öffentlichkeit zuständig sein. Widersprochen wird so Auffassungen, die das Geschlechterverhältnis im Kapitalismus als vorkapitalistischen »Rest« sehen. So taucht zum Beispiel die Kleinfamilie, wie wir sie kennen, erst im 18. Jahrhundert auf; wie sich überhaupt eine öffentliche und eine private Sphäre in unserem Sinne erst seit der Neuzeit herausbildeten. Behauptet wird von mir dabei, dass nicht bloß die kapitalistische Warenproduktion in diesem Zeitraum ihren historischen Lauf nahm, sondern dass nun vielmehr eine gesellschaftliche Dynamik in Gang kam, die das Wert-Abspaltungsverhältnis zum Grundprinzip hat.
Das warenproduzierende Patr iarchat als Ziv ilisationsmodell Dabei gehe ich wiederum mit Frigga Haug davon aus, dass das warenproduzierende Patriarchat als Zivilisationsmodell aufzufassen ist, modifiziere ihre Überlegungen jedoch gemäß der Wert-Abspaltungstheorie (vgl. Haug 1996: 229ff.). Wie im Grunde hinlänglich bekannt, zeichnet sich die sym156
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bolische Ordnung des warenproduzierenden Patriarchats demnach durch folgende Annahmen aus: Politik und Ökonomie sind dem Mann zugeordnet; männliche Sexualität wird zum Beispiel als subjekthaft, aggressiv, gewaltsam u.ä. angenommen. Frauen firmieren dagegen als reine Körper. »Der Mann« wird so als Mensch/Geistmann/Körperüberwinder gesehen, die Frau dagegen als Nichtmensch, als Körper. Der Krieg ist männlich konnotiert, Frauen dagegen gelten als friedfertig, passiv, willenlos, geistlos. Männer müssen nach Ruhm, Tapferkeit, unsterblichen Werken streben. Frauen obliegt die Sorge um die Einzelnen wie für die Menschheit. Dabei werden ihre Taten gesellschaftlich minderbewertet und in der Theoriebildung vergessen, wobei in der Sexualisierung der Frau ihre Unterordnung unter den Mann beschlossen liegt und ihre gesellschaftliche Marginalisierung eingeschrieben ist. Der Mann wird als Held und werktätig gedacht. Dabei muss Natur produktiv unterworfen, beherrscht werden. Der Mann befindet sich ständig im Wettstreit mit anderen. Diese Vorstellung bestimmt auch die Ordnungsbilder der modernen Gesellschaft insgesamt. Mehr noch: Leistungsfähigkeit und -willigkeit, rationelle, wirtschaftliche, effektive Zeitverausgabung bestimmen das Zivilisationsmodell auch in seinen objektiven Strukturen als Gesamtzusammenhang, seine Mechanismen und seine Geschichte ebenso wie die Handlungsmaximen der Einzelnen. Insofern könnte auch etwas reißerisch und zugespitzt vom männlichen Geschlecht als dem »Geschlecht des Kapitalismus« die Rede sein; vor dem Hintergrund, dass eine dualistische Fassung von Männlichkeit und Weiblichkeit die dominierende Vorstellung von Geschlecht in der Moderne überhaupt ist. Das warenproduzierende Zivilisationsmodell hat somit Frauenunterdrückung, die Marginalisierung von Frauen sowie damit gleichzeitig eine Vernachlässigung des Sozialen und der Natur zur Voraussetzung. Deshalb sind Subjekt-Objekt, Geist-Natur, Herrschaft-Unterwerfung, Mann-Frau etc. typische Dichotomien, antagonistische Gegensätze des warenproduzierenden Patriarchats (vgl. Haug 1996: 229ff.). In diesem Zusammenhang gilt es jedoch Missverständnissen vorzubeugen. Die Wert-Abspaltung ist auch in dem Sinne als Meta-Ebene zu begreifen, als es um eine theoretische Bestimmung auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau geht. Das heißt für die empirisch Einzelnen, dass sie sich weder den gesellschaftlich-kulturellen Mustern entziehen können, allerdings ebensowenig in ihnen aufgehen. Zudem unterliegen Geschlechtervorstellungen dem historischen Wandel, wie noch zu sehen sein wird. Vor einer simplifizierenden Interpretation der Wert-Abspaltungstheorie etwa nach dem Muster einer »neuen Weiblichkeit«, wie wir sie aus dem Differenz-Feminismus der 1980er Jahre kennen, oder gar im Sinne
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eines neuen »Eva-Prinzips«, wie es neuerdings wieder von konservativer Seite propagiert wird (Herman 2006), sei also gewarnt. Festzuhalten gilt es dabei: Abstrakte Arbeit und Hausarbeit sowie einschlägige Kulturmuster von Männlichkeit und Weiblichkeit bedingen sich gegenseitig. Es ist unsinnig, hier zu fragen, ob zunächst die Henne oder das Ei da war. Auf eine solch undialektische Fragestellung rekurrieren jedoch Dekonstruktivistinnen, wenn sie darauf bestehen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit »zunächst einmal« kulturell hergestellt werden müssten, »bevor« eine geschlechtliche Verteilung der Tätigkeiten erfolgt (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992: 214ff.), aber auch F. Haug, wenn sie umgekehrt in ontologisierender Weise annimmt, dass sich im Laufe der (Menschheits-) Geschichte an eine vorgängige geschlechtliche Arbeitsteilung, die im Grunde als »Basis« gedacht ist, dann sekundär kulturelle Bedeutungen heften (vgl. Haug 1996: 127f.).
Kulturell-symbolische Ordnung und sozialpsychologische Dimension Es kann also im Sinne der Wert-Abspaltungstheorie auch nicht gemäß dem traditionellen Basis-Überbau-Schema davon ausgegangen werden, dass die materielle Ebene der geschlechtlichen Arbeitsteilung den Primat hat. Vielmehr sind die materiellen, die kulturell-symbolischen und die sozialpsychologischen Momente auf derselben Relevanzebene anzusiedeln. Die kulturell-symbolische Dimension, wie sich kollektive Vorstellungen herausbilden, was Männer und Frauen sind, erschließt sich zum Beispiel über Diskursanalysen im Anschluss an Foucault (so etwa in den Arbeiten von Landweer 1990; Honegger 1991; Duden 1987). Die sozialpsychologische Seite des Mann-Seins, des Frau-Seins und des Werdens der kapitalistisch-patriarchalen Individuen lässt sich mit einem psychoanalytischen Instrumentarium erfassen. Sichtbar wird so, dass beim männlichen Kind, das später einmal dominiert, eine Desidentifikation mit der Mutter stattfinden muss und damit eine Verdrängung/Abspaltung des Weiblichen einhergeht, um eine männliche Identität ausbilden zu können. Dagegen muss sich das Mädchen mit der Mutter identifizieren, um eine weibliche Identität zu erwerben und bereit zu sein, eine untergeordnete Position nicht nur im häuslichen Bereich einzunehmen. Zumindest gilt dies für die klassische Moderne. Was passiert, wenn die Kleinfamilie sich auflöst, wäre zu untersuchen (vgl. etwa Chodorow 1985). Überhaupt geht es bei der Auseinandersetzung darum, sowohl die Beschränkungen der verschiedenen Ansätze (zum Beispiel das behavioristische Menschenbild, den Positivismus, die Machtontologie bei Foucault) 158
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aufzuzeigen als auch ihrer gleichzeitigen Berechtigung nachzukommen, die sie in einer verdinglichten, disparaten und fragmentierten Gesellschaft haben. Es kann also nicht um ein ableitungslogisches Vorgehen bei der wert-abspaltungskritischen Integration der verschiedenen Ansätze gehen. Gerade in der Postmoderne müssen mit Adorno theoretische Zwangsvereinheitlichungen in Frage gestellt werden. Vielmehr geht es darum, zu »synthetisieren ohne eindimensional zu systematisieren«, und zwar ohne dass die erkenntnistheoretischen Prämissen gleichgemacht werden, wie die Adorno-Schülerin Regina Becker-Schmidt richtig sagt, auch wenn sich deren Ansatz ansonsten von der Wert-Abspaltungstheorie unterscheidet (Becker-Schmidt 1987: 214).
Die Wer t-Abspaltung als Basispr inzip aller gesellschaftlichen Sphären Im warenproduzierenden modernen Patriarchat bilden sich, wie schon gezeigt, ein öffentlicher Bereich, der seinerseits verschiedene Sphären umfasst (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft usw.), und ein Privatbereich heraus, wobei Frauen primär dem Privatbereich zugeordnet werden. Diese verschiedenen Bereiche sind einerseits relativ autonom, auf der anderen Seite bedingen sie sich aber; sie stehen also in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Entscheidend ist nun, dass die Privatsphäre nicht als Emanation des »Werts« angesehen werden kann, sondern eben ein abgespaltener Bereich ist. Es braucht eine Sphäre, in die Tätigkeiten wie Hege, Liebe, Pflege, »Liebe« abgeschoben werden, die der Wertlogik, der Zeitsparlogik mit ihrer Moral von Konkurrenz, Profit, Leistung etc. entgegengesetzt ist. Aus diesem Verhältnis zwischen Privatsphäre und öffentlichem Bereich erklärt sich so auch die Existenz von Männerbünden, die sich über den Affekt gegen das »Weibliche« gründen. So sind der gesamte Staat und die Politik über die Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit seit dem 18. Jahrhundert männerbündisch konstituiert. Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass das Patriarchat in den solcherart aufgespaltenen Sphären »sitzt«. Frauen waren zum Beispiel schon immer auch im Erwerbsbereich tätig. Dennoch zeigt sich die Abspaltung auch hier, sind Frauen auch innerhalb der öffentlichen Sphären als Minderbewertete situiert, verdienen sie weniger als Männer, ist ihnen der Weg in die oberen Etagen trotz Angela Merkel & Co. nach wie vor weithin versperrt. All dies verweist eben wiederum auf die Wert-Abspaltung als durchgängiges (nicht mechanisch in Sphären aufteilbares) gesellschaftliches Formprinzip auf einem entsprechend hohen Abstraktionsniveau. Das bedeutet, dass das Wirken der Wert-Abspaltung durch alle Ebenen und 159
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Bereiche hindurchgeht, also auch durch die verschiedenen Bereiche der Öffentlichkeit.
Wer t-Abspaltung als gesellschaftliches Basispr inzip: die Kr itik der Identitätslogik Somit verbietet sich im Sinne der Wert-Abspaltungstheorie ein identitätslogisches Vorgehen, das heißt eines, das alles im Begriff, in der Struktur aufgehen lässt und Ungleichnamiges unter sich subsumiert, und zwar sowohl, was die Übertragung von Mechanismen, Strukturen, Merkmalen des warenproduzierenden Patriarchats auf nicht-warenproduzierende Gesellschaften angeht, als auch was eine In-Eins-Setzung verschiedener Ebenen, Sphären, Bereiche im warenproduzierenden Patriarchat selbst betriff t, die von qualitativen Unterschieden absieht. Dabei ist vom WertAbspaltungsverhältnis als einer gesellschaftlichen Grundstruktur auszugehen, der das androzentrisch-universalistische identitätslogische Denken entspricht, und nicht bloß vom Wert. Denn entscheidend ist nicht einfach, dass es – unter Absehen von verschiedenen Qualitäten – das gemeinsame Dritte, die durchschnittliche Arbeitszeit, die abstrakte Arbeit ist, die gewissermaßen hinter der Äquivalenzform des Geldes steht; vielmehr hat es der Wert seinerseits noch einmal nötig, die Hausarbeit, das Lebensweltliche, das Sinnliche, Emotionale, Nichtbegriffliche, Nichteindeutige als minderwertig zu betrachten und auszugrenzen. Dabei ist die Abspaltung jedoch nicht deckungsgleich mit dem NichtIdentischen bei Adorno; stattdessen stellt sie eben die dunkle Kehrseite des Werts selbst dar. Damit ist die Abspaltung allerdings Voraussetzung, dass das Kontingente, Nicht-Regelhafte, das Nicht-Analytische, mit wissenschaftlichen Mitteln nicht Erfassbare in den männlich dominierten Bereichen Wissenschaft, Politik und Ökonomie weithin unterbelichtet blieb; also ein klassifizierendes Denken federführend ist, das nicht die besondere Qualität, die Sache selbst in Augenschein nehmen kann und damit einhergehende Differenzen, Brüche, Ambivalenzen, Ungleichzeitigkeiten usw. nicht wahrzunehmen und auszuhalten vermag. Umgekehrt bedeutet dies für die »vergesellschaftete Gesellschaft« des Kapitalismus, um hier eine Formulierung Adornos zu verwenden, allerdings genauso, dass die genannten Ebenen und Bereiche nicht bloß irreduzibel als »reale« aufeinander bezogen werden, sondern dass sie gleichermaßen in ihrer objektiven »inneren« Verbundenheit betrachtet werden müssen gemäß der basalen Ebene der Wert-Abspaltung als Formprinzip
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der gesellschaftlichen Totalität, die Gesellschaft überhaupt auf der Wesensals auch auf der Erscheinungsebene konstituiert. Dabei weiß die Wert-Abspaltungstheorie zugleich immer auch um ihre Grenzen als Theorie. Die Infragestellung der Wert-Abspaltungstheorie seitens ihrer selbst geht dabei so weit, sich selbst in ihrer Absolutsetzung als gesellschaftliches Formprinzip Einhalt zu gebieten. Was ihrem Begriff entspricht, kann nicht zum »Hauptwiderspruch« erhoben werden. Denn nach meinen bisherigen Ausführungen kann sich die Theorie der Wert-Abspaltung genauso wenig als »Logik des Einen« setzen wie die Theorie des Werts. In ihrer Kritik der Identitätslogik bleibt sie sich vielmehr treu und kann nur bestehen, indem sie sich relativiert, ja wo es nötig ist, sich sogar dementiert. Und dies meint auch, dass die Theorie der Wert-Abspaltung anderen Formen der sozialen Benachteiligung (ökonomische Disparitäten, Leiden unter Rassismus und Antisemitismus) theoretisch gleichberechtigt Platz einräumen muss. Diesem in mancherlei Hinsicht vielleicht kryptisch anmutenden Gedanken kann ich hier jedoch nicht weiter nachgehen (vgl. dazu ausführlicher vor allem Scholz 2005 b: insbes. 163ff.) und muss meine Ausführungen auf das moderne Geschlechterverhältnis im engeren Sinne beschränken (siehe den Beitrag von Wolfgang Dietrich in diesem Band).
Die Wer t-Abspaltung als histor ischer Prozess Den angedeuteten erkenntnistheoretischen Prämissen der wert-abspaltungskritischen Theoriebildung gemäß darf auch keine lineare Betrachtungsweise gewählt werden, wenn es um die Analyse der warenförmigpatriarchalen Entwicklung in den verschiedenen Weltregionen geht. Diese Entwicklung hat nicht in allen Gesellschaften in derselben Weise stattgefunden, bis hin zu (vormals) geschlechtssymmetrischen Gesellschaften, die das moderne Geschlechterverhältnis bis heute nicht bzw. nicht gänzlich übernommen haben (vgl. zum Beispiel Weiss 1995); es gilt aber auch »anders gestrickten« patriarchalen Verhältnissen Rechnung zu tragen, die im Zuge der Weltmarktentwicklung vom modern-westlichen versachlichten Patriarchat überlagert worden sind, ohne gänzlich ihre Eigenart verloren zu haben. In diesem Zusammenhang muss ferner berücksichtigt werden, dass sich das Geschlechterverhältnis und die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit auch innerhalb der abendländisch-modernen Geschichte nicht immer gleich darstellen. Dabei ist festzuhalten, dass sowohl der moderne Arbeitsbegriff als auch der Geschlechterdualismus Produkte der spezifischen Entwicklung hin zum Kapitalismus sind und beides Hand in Hand geht. Erst im 18. Jahrhundert bildete sich das moderne »System der 161
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Zweigeschlechtlichkeit« (Carol Hagemann-White) heraus und es kam zu einer »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« (Karin Hausen); vorher wurden Frauen dagegen eher als eine gewissermaßen bloß andere Variante des Mann-Seins betrachtet. Deshalb wird in den Sozial- und Geschichtswissenschaften der letzten 15 Jahre von der Institution eines »Ein-Geschlechtmodells« in vorbürgerlichen Zeiten ausgegangen. So sah man etwa in der Vagina einen nach innen gestülpten Penis (Laquer 1996: insbes. 39 ff ). Obwohl Frauen auch damals als minderwertig galten, hatten sie über informelle Wege noch viele Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, solange sich eine moderne Öffentlichkeit im großen Maßstab noch nicht herausgebildet hatte. Der Mann hatte in vor- und frühmodernen Gesellschaften eher eine symbolische Vorrangstellung. Frauen wurden noch nicht ausschließlich als Hausfrau und Mutter definiert, wie dies ab dem 18. Jahrhundert der Fall war. Der weibliche Beitrag zur materiellen Reproduktion wurde in agrarischen Gesellschaften ähnlich wichtig erachtet wie der des Mannes (vgl. Heintz/Honegger 1981: 15). War das moderne Geschlechterverhältnis mit den entsprechenden polaren Geschlechterzuweisungen zunächst auf das Bürgertum beschränkt, so breitete es sich mit der Verallgemeinerung der Kleinfamilie allmählich auf alle Schichten und Klassen aus mit einem letzten Schub der fordistischen Entwicklung in der 1950er Jahren. Die Wert-Abspaltung ist somit keine starre Struktur, wie sie bei manchen soziologischen Strukturmodellen anzutreffen ist, sondern ein Prozess. Sie ist also nicht als statisch und als immer dieselbe zu begreifen. In der Postmoderne zeigt sie wiederum ein neues Gesicht. Frauen gelten nun als »doppelt vergesellschaftet« (Regina Becker-Schmidt), das heißt, sie sind für Familie und Beruf gleichermaßen zuständig, auch in biographischer Versetzung. Das Neue daran ist jedoch nicht dieses Faktum – ein großer Teil von Frauen war auch früher schon irgendwie berufstätig –, sondern dass im Zuge der Veränderungen in den letzten Jahrzehnten diese Tatsache und die damit einhergehenden strukturellen Widersprüche nun ins Bewusstsein treten. Dabei muss, wie schon angedeutet, prinzipiell von einer Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft ausgegangen werden: Die Individuen gehen einerseits niemals in den objektiven Strukturen und den Kulturmustern auf, andererseits wäre jedoch auch die Annahme verfehlt, dass diese Strukturen und Muster ihnen bloß äußerlich gegenüberstehen; so geraten die Widersprüche der »doppelten Vergesellschaftung« mit einer Differenzierung der Frauenrolle im Zuge von Individualisierungstendenzen in der Postmoderne erst voll ins Blickfeld. Gegenwärtige Diskursanalysen von Filmen, Werbung, Romanen usw. würden wohl ergeben, dass Frauen schon lange nicht mehr primär als Hausfrau und Mutter gesehen werden. 162
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Deshalb ist es übrigens nicht nur müßig, sondern höchst fragwürdig, wenn Queer-Bewegungen, deren klassische Bezugstheoretikerin Judith Butler ist, den modernen Geschlechterdualismus dekonstruieren zu müssen glauben. Sie sehen in der internen Subversion des bürgerlichen Geschlechterdualismus durch wiederholende, parodistische Praktiken, wie sie in schwulen und lesbischen Subkulturen anzutreffen sind, eine Möglichkeit, die moderne Geschlechtsidentität »radikal unglaubwürdig« zu machen (Butler 1991: 208). Das Problem dabei ist jedoch, dass hier karikierend unglaubwürdig gemacht werden soll, was im kapitalistischen Sinne selber schon obsolet ist. Es haben längst »Realdekonstruktionen« stattgefunden, ablesbar etwa an der »doppelten Vergesellschaftung« von Frauen, aber auch an der Kleidung, dem Habitus von Männern und Frauen etc., ohne dass die Geschlechterhierarchie deswegen prinzipiell verschwunden wäre. Anstatt die klassisch modernen und die modifizierten bzw. flexibilisierten postmodernen Geschlechtervorstellungen in Frage zu stellen, affirmiert Butler aber so bloß die schlechte postmoderne (Geschlechter-)Realität. Das rein kulturalistische Konzept Butlers gibt so keine Antwort auf aktuelle Fragen, vielmehr wird das eigentliche Problem des hierarchischen Geschlechterverhältnisses in der Postmoderne, das sich nicht zuletzt in der (pseudo-)zwittrigen Frau zeigt, im Grunde mit progressiver Attitüde als Lösung kredenzt.
Die Dialektik von Wesen und Erscheinung Entscheidend bei der Bestimmung des postmodernen Geschlechterverhältnisses ist es nun, auf einer Dialektik zwischen Wesen und Erscheinung zu bestehen. Das heißt, Veränderungen des Geschlechterverhältnisses müssen selbst aus Mechanismen und Strukturen der Wert-Abspaltung verstanden werden, die als Formprinzip alle gesellschaftlichen Ebenen bestimmt. Dabei untergraben vor allem die Produktivkraftentwicklung und die Marktdynamik, die eben selbst auf der Wert-Abspaltung in diesem Sinne beruhen, ihre eigene Voraussetzung, indem sie bewirken, dass Frauen sich ein gutes Stück von ihrer traditionellen Rolle entfernen. So wurden seit den 1950er Jahren immer mehr Frauen in den Bereich der abstrakten Arbeit, in den Erwerbsprozess eingebunden u.a. bedingt durch Rationalisierungsprozesse im Haushalt, die Möglichkeit der Empfängnisverhütung, das bildungsmäßige Gleichziehen mit den Männern, die AuchBerufstätigkeit von Müttern u.ä., wie vor allem Ulrich Beck gezeigt hat (Beck 1986: 174ff.). Insofern hat freilich auch die »doppelte Vergesellschaftung« von Frauen gegenüber früheren Zeiten eine Veränderung erfahren.
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Sie gibt nun das gesellschaftliche Leitbild auf einem höheren Niveau ab, auch für das Selbstverständnis der Frauen. Obwohl nun Frauen zu einem Gutteil in die »offizielle« Gesellschaft integriert worden sind, bleiben sie dennoch immer noch für Haushalt und Kinder zuständig, müssen sie mehr kämpfen als Männer, um in die oberen Etagen zu gelangen, verdienen sie im Durchschnitt weiterhin weniger als Männer usw. Die Wert-Abspaltungsstruktur hat sich somit gewandelt, ist aber prinzipiell gesehen noch durchaus vorhanden. In diesem Zusammenhang spricht einiges dafür, dass wir vermutlich wieder auf ein »EinGeschlechtmodell« zugehen mit dem Inhalt: Frauen sind Männer, bloß anders. Ein Modell, das allerdings durch den klassisch-modernen Wert-Abspaltungsprozess hindurch gegangen ist; es hat somit ein anderes Gesicht als in vormodernen Zeiten (vgl. auch Hauser 1996: 21). Die alten bürgerlichen Geschlechterverhältnisse sind dem »Turbokapitalismus« mit seiner rigorosen Flexibilitätsanforderung nicht mehr angemessen; es kommt zu einer Ausbildung von Zwangs-Flexi-Identitäten, die sich aber immer noch geschlechtsspezifisch jeweils anders darstellen (vgl. etwa Schultz 1994: 198ff.; Wichterich 1998). Das alte Frauenbild ist obsolet, die »doppelt vergesellschaftete« Frau steht auf der Tagesordnung. Mehr noch: Neuere Analysen zum Thema »Globalisierung und Geschlechterverhältnisse« legen die Schlussfolgerung nahe, dass nach einer Zeit, in der es so scheinen konnte (oder auch tatsächlich so war), als hätten sich Frauen systemimmanent immer mehr Freiräume ergattert, es im Zuge von Globalisierungstendenzen gleichzeitig zu einer Verwilderung des Patriarchats kommt. Dabei müssen freilich auch hier die verschiedenen gesellschaftlich-kulturellen Kontexte in verschiedenen Weltregionen berücksichtigt werden. Genauso muss die unterschiedliche Situiertheit von Frauen grundsätzlich berücksichtigt werden, wenn eine Logik von Gewinnern und Verlieren triumphiert, die demnächst noch die Gewinner im Zuge eines Absturzes der Mittelklasse zu verschlingen droht (vgl. Kurz 2005). So können sich hierzulande gutsituierte (Karriere-)Frauen meist schlecht bezahlte Migrantinnen aus dem Ostblock als »Dienstbotinnen« und Pflegepersonen leisten. Auf diese Weise findet eine Umverteilung der Pflege- und Sorgearbeiten innerhalb von weiblichen Lebenswelten statt (vgl. die Beiträge von Barbara Grubner und Birgit Rommelspacher in diesem Band). Für einen großen Teil der Bevölkerung meint »Verwilderung des Patriarchats« jedoch auch hierzulande, dass vermutlich Verhältnisse heraufziehen, wie wir sie zumindest zum Teil aus den (»Schwarzen«-)Ghettos der USA oder den Slums in sogenannten Drittweltländern kennen: Frauen sind für Geld und Überleben gleichermaßen zuständig. Sie werden zunehmend in den Weltmarkt integriert, ohne eine Chance zur eigenen Exis164
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tenzsicherung zu bekommen. Sie ziehen die Kinder unter Heranziehung von weiblichen Verwandten und Nachbarinnen auf (auch hier findet eine weiblichkeitsinterne Verteilung der Sorgearbeiten statt). Die Männer kommen und gehen, hangeln sich von Job zu Job und von Frau zu Frau, die sie womöglich noch miternährt. Der Mann hat durch das Prekärwerden der Beschäftigungsverhältnisse, verbunden mit der Erosion der traditionellen Familienstruktur, nicht mehr die Rolle des Familienernährers inne (Schultz 1994: 198ff.). Die soziale Atomisierung und Individualisierung schreitet vor dem Hintergrund ungesicherter Existenzformen und bei einer zunehmend schlechter werdenden allgemeinen ökonomischen Lage immer weiter voran, ohne dass die Geschlechterhierarchie beim Rückzug des Sozialstaats und den Zwangsmaßnahmen der Krisenverwaltung prinzipiell verschwindet. Die Wert-Abspaltung als gesellschaftliches Formprinzip löst sich gewissermaßen bloß aus den starren institutionellen Halterungen der Moderne (vor allem Familie und Arbeit). Das warenproduzierende Patriarchat verwildert so nur, ohne dass das Verhältnis von Wert bzw. abstrakter Arbeit und abgespaltenen Momenten der Reproduktion überwunden wäre. Dabei ist zu konstatieren, dass vor allem auch auf den verschiedensten Ebenen das Ausmaß männlicher Gewalt wächst; von der häuslichen Gewalt bis hin zu islamistischen Selbstmordattentätern, wobei nicht nur islamische Fundamentalisten synthetisch angeblich authentisch-religiöse patriarchale Geschlechterverhältnisse in der Krise zu rekonstruieren versuchen. Damit steht das westlich-patriarchale Zivilisationsmodell prinzipiell zur Disposition. Es kommt gleichzeitig auch zu Veränderungen in der psychischen Befindlichkeit von Frauen. In der Postmoderne bildet sich ein »gleichgeschlechtlicher Gefühlscode« heraus, der dem alten Code der Männer entspricht, wie Kornelia Hauser im Anschluss an Arlie Hochschild konstatiert (allerdings im Kontext optimistischerer Einschätzungen als der meinen, vgl. Hauser 1996: 21). Dennoch müssen auch hier noch alte Affektstrukturen nachwirken, käme es doch andernfalls nicht weiterhin dazu, dass Frauen abgespaltene Reproduktionstätigkeiten noch in postmodernen »Ein-Geschlecht-Verhältnissen« (trotz zunehmender Angleichung der Geschlechter) übernehmen, sei es in Form einer Van-Leyen-Mehrfach-Mutter, die trotzdem Ärztin, Wissenschaftlerin, Politikerin und vieles mehr zu sein scheint, sei es andererseits in Form eines erneuten hilflos-haltlosen Rückgriffs auf traditionelle Frauenbilder noch bei heutigen »Karrierefrauen« Eva Hermanscher Provenienz (Herman 2006), wobei ein »Eva-Prinzip« in der Krise geltend gemacht wird. Zwar klagt der Turbokapitalismus, wie gesagt, geschlechtsspezifische Flexi-Zwangsidentitäten ein. Andererseits kann nicht davon ausgegangen 165
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werden, dass das entsprechende postmoderne Geschlechter-Modell der »doppelt vergesellschafteten« Frauen im gegenwärtigen Krisenkapitalismus die soziale Reproduktion dauerhaft stabilisieren kann, dreht er selbst doch zunehmend durch und schlägt im »Kollaps der Modernisierung« (Kurz 1991) Rationalität in Irrationalität um. Die »doppelte Vergesellschaftung« der individualisierten Frauen ist unter diesem Aspekt dennoch auf paradoxe Weise im Sinne einer Funktionalität für das warenproduzierende Patriarchat im Verfall zu sehen. So werden zum Beispiel krisenverwalterische Selbsthilfegruppen in der sogenannten Dritten Welt vor allem von Frauen getragen, wobei gesagt werden muss, dass Reproduktionstätigkeiten generell in Zeiten der Just-in-time-Orientierung noch mehr ins Hintertreffen geraten als bisher. Sie werden gewissermaßen als Müll vor allem den doppelt belasteten Frauen zugewiesen. Aufschlussreich für die westliche Entwicklung ist der Bestseller »Minimum« des FAZ-Mitherausgebers und konservativen Publizisten Frank Schirrmacher (2006), der über das »Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft« räsoniert und dabei den Frauen heute gerade in ihrer geschlechtsspezifischen Flexi-Identität vor allem einen Platz als Krisenmanagerinnen, als »Trümmerfrauen«, als »Putz- und Entseuchungsmittel« (Thürmer-Rohr 1987) zuweisen will. Zu diesem Zweck zieht nicht bloß Schirrmacher wieder krude biologistische und anthropologische Begründungen heran, um die kollabierenden Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse zu erklären und angebliche Auswege auf Kosten der Frauen zu offerieren; solche Tendenzen finden sich im Krisendiskurs allenthalben. Um derartige Scheinkonzepte zurückzuweisen, bedarf es eines Rückbezugs der sozialen Krisenverhältnisse auf gesellschaftlich-historische Kontexte im Sinne der Wert-Abspaltungstheorie. Auf diesem Fundament könnte man dann auch diskutieren, welche weiteren theoretischen und praktischen Konsequenzen gezogen werden müssen, um aus den Dilemmata der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung hinauszukommen, die heute zunehmend Mensch und Natur auf ein »Minimum« setzt und der im Sinne altlinker oder keynesianischer Reformprogramme nicht mehr beizukommen ist. (De-)konstruktivistiche und postkolonialistische Ansätze, die etwa auch den Rassismus kulturalistisch beschränkt interpretieren, haben dem Krisenprozess erst recht nichts entgegen zu setzen, ebensowenig aber auch postoperaistische Ansätze, die vor solcherlei Fragen flüchten, sich stattdessen in den bewegungsreligiösen Übungen »multitüder« Rosenkränze ergehen und dabei so tun, als hätten sie eine Kritik an Rassismus und Sexismus per se schon intus (Hardt/ Negri 2002; zur Kritik: Scholz 2005 b: 247ff.). Not tut eine Wendung zur erneuten Kritik der politischen Ökonomie, die aber nicht mehr in der alten arbeitsontologischen und androzentrisch-universalistischen Manier zu 166
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haben ist, sondern nur als radikale Wert-Abspaltungskritik einschließlich der erkenntnistheoretischen Konsequenzen.
Conclusio Es geht somit darum, und dies habe ich skizzenhaft zu zeigen versucht, Ökonomie und Kultur in ihrer widersprüchlichen Identität und Nichtidentität im Sinne einer selbst widersprüchlich gedachten Wert-Abspaltung als gesellschaftliches Basisprinzip zusammen zu denken. Dabei kommt es gleichermaßen darauf an, die Wert-Abspaltung nicht als starre Struktur, sondern als historisch-dynamischen Prozess zu begreifen. Erst über diesen Zugang, der nicht in der identitätslogischen gewaltsamen Verengung das Besondere unter das Allgemeine subsumiert, sondern die Spannung zwischen Begriff und Differenzierung aushält (ohne den Begriff dabei jedoch ins Unbestimmt-Unendlich-Differente aufzulösen), können heute sowohl Homogenisierungs- als auch Differenzierungsprozesse erfasst werden und auch damit zusammenhängende Konflikte sowie eine damit einhergehende (männliche) Gewalt, wie ich dies zumindest zum Schluss angedeutet habe. Entscheidend ist hierbei auch, dass die Theorie der Wert-Abspaltung im Sinne eines übergreifenden gesellschaftlichen Basisprinzips (daher als nicht bloß mit dem Geschlechterverhältnis im engeren Sinne befasste), gezwungen ist, sich insofern selbst zu dementieren, als sie neben Sexismus auch Rassismus, Antisemitismus und ökonomischen Disparitäten als »gleichberechtigten« Analysedimensionen Platz einräumt, ohne den Anspruch des Allgemeinen und der Wesensbestimmung aufzugeben. Nur indem sie sich dergestalt selbst zurücknimmt, kann sie paradoxerweise überhaupt als sie selbst existieren (darauf konnte hier nicht ausführlich eingegangen werden – vgl. dazu ausführlich: Scholz 2005b). Vorstellbar ist in diesem Zusammenhang, dass sich ein Rassismus von Mittelschichtsfrauen der »Dominanzkultur« (Birgit Rommelspacher) nicht bloß in einem Ausleben von Privilegien zeigt (prominentes Stichwort: Migrantinnen als Dienstbotinnen), sondern deshalb weil sie mittlerweile selbst »Angst vor dem Absturz« haben und ein rassistisches Ressentiment sich aus dem drohenden Verlust der Privilegien speist, sie also befürchten müssen, womöglich selbst bald zu den Subalternen zu gehören.
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Die Emanzipation der Frauen sei in den letzten Jahrzehnten weitgehend verwirklicht worden, so lautet der allgemeine Tenor in den meisten öffentlichen Debatten. Zwar triff t es zu, dass Frauen im Bildungsbereich aufgeholt haben und in vielen Berufen aufgestiegen sind, aber zentrale Parameter wie die Kluft im Einkommensgefälle zwischen Männer und Frauen oder auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung haben sich kaum geändert. So sind Frauen nach wie vor im Wesentlichen für die Haus- und Erziehungsarbeit zuständig, und in der Arbeitswelt hat sich die Spaltung in »typische« Tätigkeiten für Frauen und »typische« Männerberufe kaum verschoben (vgl. Wahl 1999). Warum also sind Frauen wie Männer so sehr davon überzeugt, dass die Frauen heute emanzipiert seien? Um das besser zu verstehen, müssen wir zunächst fragen, von welchen Frauen hier die Rede ist, und was unter Emanzipation verstanden wird. Im Allgemeinen handelt es sich bei »den« Frauen1 um weiße, deutsche Frauen der Mittelschicht, die in der Tat in den letzten Jahrzehnten vielfach beruflich aufgestiegen sind. Dabei wurden auf den unteren Rängen Positionen frei, die aber nicht von deutschen Männern, sondern neben Frauen der unteren sozialen Schichten nun vor allem von Migrantinnen und Menschen ohne Papiere eingenommen werden. Dank dieser ethnischen Unterschichtung sind allerdings auch die einheimischen Männer aufgestiegen, so dass sich die Relation zwischen den Frauen und Männer der Mittelschicht nicht wesentlich verschoben hat – entsprechend einem Fahrstuhleffekt. Die deutschen Mittelschicht-Frauen verdanken also ihren Zuwachs an Einkommen und Macht nicht einer Verschiebung im Geschlechterverhältnis, sondern vor allem der Entstehung einer neuen, einer ethnischen Hierarchie. Diese neue Hierarchie wird durch verschiedene Massnahmen hergestellt und abgesichert: In erster Linie trägt das sog. Inländerprimat dazu bei.2 Ein weiterer Faktor ist das Bildungssystem, das scharf zwischen 171
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sozialen und ethnischen Klassen unterscheidet. Deutschland ist, wie die PISA Studien zeigen, das Land in der OECD, das am stärksten anhand dieser Faktoren diskriminiert. Schließlich kommt für Frauen mit Migrationshintergrund ein weiterer erschwerender Faktor hinzu. Ihnen wird generell ein traditionelles Rollenverständnis unterstellt: Sie seien in ihrem traditionellen Denken primär an ihrer Familie interessiert und würden deshalb auch keinen beruflichen Ehrgeiz entwickeln. Demgegenüber sei »die« deutsche Frau emanzipiert. Die Migrantinnen können also kaum mit den deutschen »emanzipierten« Frauen Schritt halten, da Intelligenz und berufliche Kompetenz vielfach mit Modernität gleichgesetzt werden. Dementsprechend haben Migrantinnen besonders schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt (Attia/Marburger 1998; Castro Varela/Clayton 2003). Die Frage ist nun, können wir von einer »Emanzipation« bei den deutschen Frauen sprechen, wenn sie ihren beruflichen Aufstieg vor allem dieser ethnischen Unterschichtung verdanken? Ebenso fragt sich, welche Bedeutung dieser Emanzipationsbegriff hat, wenn er gleichzeitig dazu dient, die »anderen« Frauen an ihrem beruflichen Aufstieg zu hindern. Und schließlich fragt sich, ob und inwiefern ein Zusammenhang zwischen der Tatsache der neuen Hierarchien und der Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen besteht.
Emanzipation und Eurozentr ismus Die Ausgrenzung der Anderen Frau gelingt, indem sie auf einen Begriff von Emanzipation verpflichtet wird, der in einem anderen Kontext als dem ihren entwickelt wurde. Die kulturellen Normen der Mehrheitsgesellschaft werden im Sinne eines Ethnozentrismus als die allgemein gültigen angesehen, während die der Anderen abgewertet werden. Auf dem Hintergrund der Geschichte des ›Westens‹ ist dieser Ethnozentrismus jedoch genauer als ein Eurozentrismus zu verstehen. Dabei ist das Spezifische des Eurozentrismus, dass die anderen Kulturen als rückständige Vorstufen der eigenen gedeutet werden, deren Auflösung bzw. Angleichung möglich und notwendig sei. Die »entwickelten« Gesellschaften sind hier die Norm, andere Gesellschaften hingegen defizitäre Abweichungen. Die »westlichen« Gesellschaften stehen aus dieser Perspektive für Rationalität, Entwicklung, Technologie, während die Anderen Tradition, Unterdrückung und Irrationalität repräsentieren. Die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Kollektiven, Völkern und Nationen werden also gewissermaßen auf eine Zeitschiene projiziert. Indem die westlichen Gesellschaften sich ständig weiterentwickeln, neu ausdifferenzieren und umdefinieren, können die Anderen jedoch in der Regel die vorgegebenen Standards kaum errei172
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chen und werden immer ein Stück weit zurückgelassen. Bernhard Giesen (1999) spricht in dem Zusammenhang von einer »Diff usionsverzögerung« von Seiten derer, die die Deutungsmacht innehaben. Sie bauen ihren »Vorsprung« ständig aus und hindern so die Anderen daran aufzuholen. Der Eurozentrismus in Bezug auf die Frauen aus dem Süden und Osten zeigt sich in einer Verpflichtung dieser Frauen auf ein Emanzipationskonzept, das auf westliche Lebensverhältnisse und hier insbesondere auf die der Mittelschichten zugeschnitten ist. Das kommt in der besonderen Betonung der individuellen Autonomie zum Ausdruck, die durch diese Lebensverhältnisse generiert und gefordert wird. Und so fragt sich, ob dieser Emanzipationsbegriff nicht notwendig falsch wird, wenn er auf andere soziokulturelle, ökonomische und politische Kontexte übertragen wird. Der Feminismus westlicher Prägung muss nicht unbedingt attraktiv für andere Frauen sein. Er ist vor allem für die Frauen interessant, die durch die Erwerbsarbeit ihre Lebenssituation nachhaltig verbessern können. Und das ist – weltweit gesehen – für die wenigsten Frauen der Fall. So ist etwa die Hälfte der Weltbevölkerung von der Geldwirtschaft abgekoppelt. D.h. der Unterhalt kann nicht durch Erwerbstätigkeit gesichert werden. Insofern macht auch ein Emanzipationsbegriff, der sich primär auf die Erwerbstätigkeit von Frauen stützt, hier keinen Sinn. Die Erwerbsarbeit kann den Frauen weder einen gesicherten Lebensunterhalt versprechen, geschweige denn die Gleichstellung mit den Männern. Vielmehr müssen sie schauen, dass sie im informellen Sektor, in der Reproduktionsarbeit, im Wechsel zwischen Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit ihr Auskommen finden. Insofern sind diese Frauen auf soziale Netzwerke angewiesen, die ihnen ein Minimum an sozialer Sicherheit gewährleisten. z.B. auch über einen Geschlechtervertrag, der den Männer die Pflicht auferlegt für sie und ihre Kinder zu sorgen (siehe den Beitrag von Roswitha Scholz in diesem Band). Denn Unterstützung können sie meist nur von ihrem Familienverband erwarten. Das heißt auch, dass Regelungen, die die Loyalität etwa zwischen Eltern und Kindern oder die zwischen den Geschlechtern sichern, von großer Bedeutung sind. So ist etwa die Heirat nicht in erster Linie ein emotional motivierter Bund zwischen zwei Individuen, sondern sie hat vor allem die Funktion, soziale und wirtschaftliche Stabilität zu sichern. Insofern können die Familien die Heirat ihrer Kinder auch nicht so etwas Prekärem wie einem Liebesverhältnis überlassen, sondern werden sie entsprechend den sozialen und ökonomischen Notwendigkeiten im Sinne arrangierter Ehen mit beeinflussen und zu steuern versuchen (Kesselring 2003: 147). Das Konzept individualistischer Autonomie, wie es im westlichen libe173
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ralen Feminismus vertreten wird, hat sicherlich ebenso viel mit den ökonomischen Lebensverhältnissen zu tun wie mit universalen Prinzipien der Frauenbefreiung. Denn es fragt sich, ob die Autonomie im Sinne der Selbstbestimmung tatsächlich der absolute Wert ist, an dem alle andere gemessen werden müssen. Nach Bhikhu Parekh (2000) wird damit die Einzigartigkeit des Individuums in erster Linie durch den Grad der Unabhängigkeit von Gruppen oder auch von Institutionen bestimmt. Das ist seiner Meinung nach jedoch nicht das Entscheidende, sondern vielmehr gehe es darum, ob die Würde des Menschen gewahrt bleibt, und diese hängt vor allem davon ab, ob einem etwas mit Zwang aufoktroyiert wird oder nicht. Ob aber der Lebensentwurf in Verbundenheit mit und auch in Abhängigkeit von einer Gruppe realisiert wird oder eher im Sinne individueller Selbstbestimmung, ist für ihn eine sekundäre Frage. So kann das Recht, einer Gruppe anzugehören, ebenso elementar sein wie das der individuellen Selbstbestimmung. Das heißt, Freiheit von Zwang und individuelle Selbstbestimmung müssen nicht notwendig zusammenfallen. Freiheit kann sowohl bedeuten, seinen individuellen Handlungsspielraum zu erweitern, wie es auch heißen kann, sich auf andere verlassen zu können. D.h. nicht, dass sich diese Konzepte polar gegenüber stehen. So haben etwa die Frauen der Mittel- und Oberschicht in den Ländern der »Dritten Welt«, die ebenfalls zunehmend Zugang zu Bildung und neuen Berufen haben, vielfach ähnliche Forderungen wie die nach Gleichberechtigung im Beruf und öffentlicher Repräsentanz gestellt wie die westlichen Frauen (Moghissi 1999). Je größer die Möglichkeit ist, individuell über unterschiedliche Ressourcen zu verfügen, desto größer ist auch die Tendenz, Forderungen nach persönlicher Autonomie zu stellen, so ein ganz generelles Ergebnis der Demokratieforschung (Welzel/Inglehart 1999). Insofern ist das westliche Emanzipationskonzept eng mit Individualisierungsprozessen verknüpft, die vor allem auch auf einem enormen Zuwachs an individuell verfügbaren Ressourcen wie Einkommen und Bildung basieren. Die neue Optionsvielfalt macht dann Entscheidungen notwendig, für die der Emanzipationsdiskurs Orientierung bieten kann. Aus Sicht des Westens sind jedoch alle Konzepte, die nicht den eigenen entsprechen, traditionalistisch und letztlich inhuman, da sie die Gleichheitsforderungen verletzen. Deshalb gilt es den Anderen zu helfen und sie zu befreien. Dieses Befreiungsmotiv hat eine lange europäische Tradition, insbesondere in Bezug auf die muslimischen Frauen. Schon die christlichen Kreuzfahrer sahen ihre Aufgabe darin, die orientalische Prinzessin zu befreien. Ebenso war die »Befreiung« der Frauen ein zentraler Kern kolonialer Strategie. Leila Ahmed spricht in dem Zusammenhang von einem »kolonialen Feminismus« (1992), da es bei dieser »Befreiung« ihrer Meinung nach im wesentlichen darum ging, die kolonisierten Frauen an 174
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das Rollenmodell der Kolonialgesellschaften anzupassen. D.h. im Namen von Freiheit und Gleichheit sollte vor allem die koloniale Dominanz abgesichert werden. Dieser Widerspruch zwischen Gleichheitsrethorik und Machtabsicherung ist ein Kernbestand des europäischen Selbstverständnisses. Schon seit den bürgerlichen Revolutionen, in denen Freiheit und Gleichheit für alle Menschen ausgerufen wurden, sollten diese Rechte nur für eine kleine Minderheit in der Gesellschaft tatsächlich gelten. Ebenso wenig galt dieser Anspruch weltweit, trotz der angeblichen Universalität der Menschenrechte. D.h. es klaff te eine ungemeine Legitimationslücke zwischen dem Anspruch auf Gleichheit aller Menschen und ihrer realen Ungleichheit. Dieser Grundwiderspruch der europäischen Moderne äußert sich in einem ständigen Kampf zwischen egalitären Ideologien auf der einen Seite und solchen, die hierarchische Ordnungen legitimieren auf der anderen, so wie Rassismus, Sexismus, Heteroseximus, Meritokratie etc. (vgl. ausführlicher dazu Rommelspacher 2002). Und dieser Widerspruch ist auch im Emanzipationsbegriff selbst enthalten, indem er auf der einen Seite Gleichheit einfordert und auf der anderen Ungleichheit legitimiert. Dies gelingt vor allem deshalb, weil er sich nicht nur auf das Geschlechterverhältnis, sondern immer auch auf andere Dominanzverhältnisse zugleich bezieht. Dies soll im Folgenden anhand der Kopftuchdebatte veranschaulicht werden, bei der es nicht nur um das Geschlechterverhältnis, sondern auch um kulturelle und andere Auseinandersetzungen geht.
Unterschiedliche Positionen in der Kopftuchdebatte In den meisten europäischen Ländern gab es in den letzten Jahren eine Diskussion darüber, ob es muslimischen Frauen erlaubt sein soll ein Kopftuch zu tragen. Diese Diskussionen richteten sich primär gegen gebildete muslimische Frauen, die als LehrerInnen oder Rechtsanwältinnen berufliche Karriere machen wollten. Niemand hatte sich bisher an dem Kopftuch gestört, solange es Putzfrauen oder Arbeiterinnen trugen. Aber sobald die Töchter der Arbeitsmigrantinnen auf der sozialen Leiter aufsteigen wollten, wurde das Kopftuch zu einem hoch umstrittenen Symbol. Dabei ist im westlichen Feminismus die Position des dogmatischen Feminismus vorherrschend. Dieser Begriff stammt von Halina Bendkowski (2005), die Freiheit und Gleichheit für alle Frauen ohne »Wenn und Aber« einfordert. Für sie ist das Kopftuch eindeutig ein Symbol für weibliche Unterdrückung. Alice Schwarzer geht sogar soweit, das Kopftuch mit dem
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Hakenkreuz gleich zusetzen und sie befürchtet, wenn wir das Kopftuch erlauben, würde demnächst die Sharia in Deutschland eingeführt. Bei diesem Feminismus »ohne Wenn und Aber« ist vor allem die Gewissheit bemerkenswert, mit der er behauptet zu wissen, was das Kopftuch für die betroffenen Frauen bedeutet. Fern von jeder kritischen Selbstrelativierung werden die Probleme ausschließlich an der anderen Kultur festgemacht, d.h. externalisiert. Ähnlich argumentiert, wenn auch von einem anderen Standpunkt aus, die Position der kulturellen Dominanz. Diese fordert die Anpassung kultureller Minderheiten an die westliche Lebensweise, wobei jedoch die Frage der Gleichstellung der Frauen unerheblich ist und nur als Vehikel dient. Wir finden diese Position zum Beispiel bei all den Politikern, die sonst für Feminismus und Frauenrechte nichts übrig haben und die diese jetzt nutzen, um ihren Assimilationsforderungen Nachdruck zu verleihen. Allerdings existiert auf muslimischer Seite ein analoger Dogmatismus, der in derselben Weise die Probleme ausschließlich bei den anderen sieht. So sind IslamistInnen davon überzeugt, dass die Unterdrückung der Frauen im Wesentlichen ein Resultat der westlichen Ideologie und des Kapitalismus sei. Die Frauen würden hier ausgebeutet und versklavt, zum Sexobjekt degradiert und der öffentlichen Belästigung preisgegeben. Die Zwänge der Konsumindustrie machten die Frauen zu ihrem wehrlosen Objekt. Zudem habe die ›Frauenemanzipation‹ ihnen nur Mehrbelastungen eingebracht, die jede Form der Selbstbestimmung unterlaufe. Das Kopftuch wird hier als ein Medium zur Emanzipation und Bewahrung der Würde der Frau verstanden. Der Islam ist die Lösung. Er macht den Feminismus überflüssig, denn nach dem Koran ist die Frau dem Mann gleichgestellt im Sinne eines sogenannten ethischen Egalitarismus. Sie ist zwar verschieden, aber gleichwertig. Dementsprechend gibt es klare Rollenabsprachen, die den Frauen und Männern gleichermaßen Rechte und Pflichten auferlegen, wenn auch unterschiedliche. D.h. durch dieses Vertragswerk wird der Geschlechterkampf überflüssig. Wie im dogmatischen Feminismus wird hier das Problem externalisiert: Die anderen haben die Probleme, während selbstkritische Überlegungen so gut wie keine Rolle spielen. Im Gegensatz dazu wird hier jedoch der Kultur der Vorrang eingeräumt, während das Geschlechterverhältnis in den Hintergrund tritt. Das gilt auch für den Kulturrelativismus. Auch für ihn geht es in dieser Debatte in erster Linie um kulturelle Auseinandersetzungen. Da patriarchale Machtverhältnisse immer nur in einem spezifischen kulturellen Kontext existieren, ist die Generalisierung eines bestimmten Emanzipationsbegriffs auf andere kulturelle Kontexte hin im besten Fall Paternalismus, im schlechtesten kultureller Imperialismus. 176
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Grundvoraussetzung für eine adäquate Auseinandersetzung ist deshalb, erst einmal zu fragen, welche Bedeutung das Kopftuch für die entsprechenden Frauen in ihrem jeweils spezifischen Kontext hat. So bedeutet das Kopftuch im Iran etwas anderes als in Deutschland. Oder das Kopftuch einer Frau aus einem traditionellen agrarischen Milieu kann etwas anderes bedeuten als das Kopftuch einer jungen aufstiegsorientierten Akademikerin. So zeigen etwa Untersuchungen über junge muslimische Frauen in verschiedenen Ländern, dass das Kopftuch für sie ein wichtiges Symbol sein kann, um ihre Eigenständigkeit in einer als kulturell dominanten Umwelt zu behaupten oder auch um ihre transnationale Verbundenheit mit Muslimen aus aller Welt auszudrücken. Es kann aber auch ein Medium sein, sich von der konventionellen Religiosität der Eltern abzusetzen. Insofern kann die Neuerfindung der Tradition gerade dazu dienen traditionelle Rollen aufzubrechen, insbesondere was den Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit anbetriff t (vgl. Klein-Hesseling/Nökel/Werner 1999; Göle 1996; Bilgin 1997; Watson 1994). Die große Emotionalität, die die Kopftuchdebatte häufig auslöst, ist für die kulturrelativistische Position ein Zeichen dafür, dass auch viel eigene Projektionen mit im Spiel sind. D.h. zum Beispiel, dass viele ungelöste Probleme in der westlichen Frauenbewegung auf die Anderen Frauen projiziert werden (ausführlicher dazu Rommelspacher 2002: Kapitel sieben). Die Gefahr bei dieser Position besteht darin, Unterdrückung und Gewalt zu einem kulturellen Phänomen zu erklären und durch Nicht-Intervention unwürdige Verhältnisse zu stützen. Es besteht die Gefahr der Gleich-Gültigkeit; da jede Kultur als verschieden gilt, verlieren sich auch die Bewertungsmaßstäbe. Demgegenüber müssen auch die patriarchalen Machtverhältnisse in den muslimischen Communities angeprangert werden. Es geht im Kern also darum, eine Balance zu finden zwischen Relativismus und Universalismus, zwischen Selbstkritik und Fremdkritik, zwischen internalisieren und externalisieren; und schließlich geht es darum, nicht nur einer Dimension der Dominanz, nämlich dem Geschlechterverhältnis, sondern den verschiedenen hier involvierten Machtdimensionen gerecht zu werden. In der theoretischen Diskussion wird dies unter dem Begriff der Intersektionalität diskutiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass ständig unterschiedliche Bereiche wie etwa Klasse, Ethnizität und Geschlecht in Wechselwirkung miteinander treten. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Achsenmodell populär geworden, in dem man sich die soziale Kategorien als Achsen vorstellt, die sich miteinander überschneiden. Vielfach wird darüber hinaus angenommen, dass sich dabei die negativen Effekte von Diskriminierungen potenzieren (vgl. etwa Klinger/Knapp 2005). 177
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Demgegenüber hat aber bereits Kimberle Crenshaw (1998) in einem einflussreichen Artikel gezeigt, dass die »Achsen« nicht neutral sind, sondern dass mit ihnen bestimmte normative Vorstellungen transportiert werden. So wird bei der »Achse« Sexismus die Diskriminierung weißer Frauen als Norm zugrunde gelegt, während in Bezug auf Rassismus die normative Grundlage die schwarzen Männer sind. Die »Achsen« selbst sind also normativ aufgeladen und präjudizieren bereits bestimmte Gruppenbeziehungen. Auch kann man nicht einfach von einer »Addition« der Unterdrückungsverhältnisse sprechen. Davina Cooper (2004) schlägt angesichts dieser Probleme ein Konzept der Organisationsprinzipien von Ungleichheit (organizing principles of inequality) vor. Diese Prinzipien prägen soziale Dynamiken wie auch gesellschaftliche Institutionen. Ein Organisationsprinzip ist nach Cooper umso mächtiger, je stärker es gesellschaftliche Normen, Diskurse und soziale Beziehungen zu prägen und mit anderen Prinzipien in Wechselwirkung zu treten vermag. Auf diese Weise können relevante von weniger relevanten Differenzen unterschieden werden. Das entscheidende Kriterium dabei ist, inwiefern ein Organisationsprinzip Ungleichheit fördert bzw. abbaut. Dementsprechend lässt sich auch die Frage, worum es bei der Kopftuchdebatte geht, am besten an ihren Wirkungen ablesen. Dabei fällt auf, dass von Seiten der dogmatischen Feministinnen ebenso wie von der Position kultureller Dominanz vor allem repressive Maßnahmen gefordert werden. Es geht in erster Linie um das Verbot des Kopftuchs. Damit verbunden ist der Ausschluss von vielen Berufen. Demgegenüber findet man kaum Vorschläge zum Ausbau von Unterstützungsmaßnahmen. Es werden so gut wie nie Programme zur Hilfestellung für die berufliche Integration von muslimischen Frauen gefordert; oder aber Bildungskonzepte angeboten, die die kulturellen Differenzen so thematisieren, dass sich alle Beteiligten offen damit auseinander setzen können. Repressiv sind auch weitere Vorschläge, wie die, das Nachzugsalter für Ehefrauen hoch zu setzen und mehr noch die Forderung nach einem Test für Muslime, die einwandern wollen. Per Dekret, Verbot und Repression soll hier Demokratie verordnet und erzwungen werden. Diese Maßnahmen haben vielfach den Effekt, die Gruppe der Muslime unter Generalverdacht zu stellen. Insofern wird soziale Ungleichheit eher verschärft als abgebaut. Das zeigt sich auch daran, dass oft mit zweierlei Maß gemessen wird. Das Kopftuch soll verboten werden, nicht aber das Kreuz oder die Kippa. Ebenso wird von den Muslimen unbedingte Loyalität mit den herrschenden Gesetzen gefordert, nicht jedoch von traditionellen Christen. So hat sich der deutsche Staat sogar per Konkordat mit dem Vatikan verpflichtet, die katholische Morallehre zu stützen – obwohl sie der
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bestehenden Rechtslage widerspricht, da sie z.B. Abtreibung, Verhütung oder schwul/lesbischen Partnerschaften ablehnt. Es gibt allerdings auch Initiativen, die sich verstärkt für eine Unterstützung von Frauen einsetzen, die von Zwangsheirat oder Ehrenmorden bedroht sind. Diese spielen jedoch bisher eine ziemlich untergeordnete Rolle. Insofern ist eher davon auszugehen, dass die mit einem dogmatischen Feminismus verknüpften repressiven Forderungen kaum helfen, die Position der muslimischen Frauen zu verbessern. Nun fragt sich, welche Auswirkungen der hier verwendete Emanzipationsbegriff auf die Frauen der Mehrheitsgesellschaft hat.
Emanzipation und Dominanz Der berufliche Aufstieg der deutschen einheimischen Frauen in den letzten 20 bis 30 Jahren ist, wie wir sahen, nicht unwesentlich auf die ethnische Unterschichtung durch Migrantinnen zurückzuführen. Die Frage ist aber, ob ein solcher Machtzuwachs als Emanzipation verstanden werden kann. Diese Frage ist keineswegs neu, denn es gibt durchaus historische Beispiele, die zeigen, dass ein Zuwachs an Macht bestimmter Frauen auf Kosten anderer Frauen (und Männer), zu zwiespältigen Ergebnissen führen kann, was die Frage ihrer Emanzipation anbetriff t. Das lässt sich etwa anhand der Rolle der deutschen Frauen im Kolonialismus zeigen. Hier war die soziale, ökonomische und symbolische Aufwertung der weißen Frauen gegenüber der kolonialisierten Bevölkerung offensichtlich. Was dies für ihr eigenes Selbstverständnis als Frauen bedeutete, fragt Katarina Walgenbach in ihrer Dissertation (2004) zum Thema »Weiße Identität, Geschlecht und Klasse in den deutschen Kolonien«. Die Frauen, die in die Kolonien auswanderten, kamen meist aus den unteren sozialen Schichten oder der unteren Mittelschicht und erlebten mit ihrer Auswanderung einen enormen sozialen Aufstieg und Machtgewinn. Sie wurden die »Weißen Herrinnen« gegenüber schwarzen Frauen und Männern. Dieser Machtzuwachs zog jedoch keine Machtverschiebung in Bezug auf den weißen deutschen Mann nach sich. Möglicherweise sogar im Gegenteil, denn der Preis für den Machtgewinn war eine forcierte Identifi kation mit der traditionellen Frauenrolle. Es waren vor allem die »Tugenden« der deutschen Hausfrau, wie Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und Dienstbarkeit, die die »deutsche Kultur« oder »weiße Zivilisation« gegenüber der schwarzen Bevölkerung repräsentieren sollten. Deshalb wurden auch die Frauen zu Schlüsselfiguren der »zivilisatorischen Mission« der Kolonisatoren. Die deutschen Männer fühlten sich dieser Aufgabe alleine nicht ge179
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wachsen und hatten dringend deutsche Frauen aus dem Reich angefordert. Ohne »ihre« Frauen schien vielmehr die Gefahr zu bestehen, dass sie im Kontakt mit der schwarzen Bevölkerung selbst »verwildern« und »verkaffern«, wie es hieß. Indem die »weiblichen Tugenden« der weißen Frauen zum Symbol und Medium der »Zivilisation« wurden, fand eine Re-Traditionalisierung des Geschlechterverhältnisses statt. Die Einordnung in die patriarchale Familie wurde für die weißen Frauen zum Entree für ihre Macht. D.h. von Emanzipation kann in dem Zusammenhang weder in Bezug auf die Gleichstellung mit den weißen Männern in den Kolonien noch in Bezug auf eine grundsätzliche Umstrukturierung im Geschlechterverhältnis die Rede sein. Der Machtzuwachs von Frauen muss also nicht notwendig zu einer Umverteilung führen, sondern kann im Gegenteil sogar die symbolische Ordnung verfestigen, da die traditionellen Geschlechterrollen im Interesse ethnischer Dominanz affi rmiert werden. Die patriarchale Geschlechterordnung wird zum Medium von Herrschaft, und die Machtdividende entschädigt die weißen Frauen gewissermaßen für ihre Unterordnung im weißen Geschlechterverhältnis. Das Interesse am Kolonialismus war bei allen Fraktionen der Frauenbewegung groß. Sie sahen hier eine Chance, ihre Position zu verbessern und ihren frauenpolitischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Insofern spricht Annette Dietrich (2006) davon, dass die Kolonien eine Projektionsfläche für Emanzipationsphantasien war, die z.B. im Bild der »mutigen Farmerin« ihren Ausdruck fanden. Tatsächlich aber waren die Kolonien im Wesentlichen ein Experimentierfeld für eine antimoderne, agrarische Gesellschaft mit einer klaren geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. Ein weiteres Beispiel für die Hierarchie zwischen Frauen ist die Spaltung zwischen den bürgerlichen und proletarischen Frauen. Diese Spaltung wurde zu Beginn des letzten Jahrhunderts besonders anhand der so genannten »Dienstbotenfrage« in der deutschen Frauenbewegung virulent. Lily Braun, eine Sozialdemokratin, die zuvor dem radikalen Flügel der Frauenbewegung angehört hatte, schrieb damals, dass die bürgerlichen Frauen die Arbeiterinnenbewegung mit Wohlwollen betrachteten, solange sie sich außerhalb ihres Hauses abspielte. »Die Dienstbotenfrage aber machte sie in ihrem eigensten Reich, im Hause selbst, empfindlich geltend, sie verlangte direkte Opfer von ihnen und damit verwandelte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihr Wohlwollen in Abneigung, ja vielleicht in Hass.« (1901 zitiert nach Rerrich 2002: 17) Und Ute Gerhard (1990) kommentiert, dass die Dienstbotenfrage zum Prüfstein weiblicher Solidarität zu dieser Zeit geworden war, »über den die Mehrheit bürgerlicher Frauen bis zuletzt gestolpert ist« (ebd.: 16). Auch heute finden wir diese Hierarchien zwischen Frauen im Privat180
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bereich – mit dem Unterschied, dass die Mehrzahl der Hausangestellten heute Migrantinnen sind oder Frauen ohne Papiere. Vielfach pendeln hochqualifizierte Frauen aus dem ehemaligen Ostblock zwischen ihren Herkunftsregionen und ihren »heimlichen« Arbeitsplätzen, wie dies etwa Helma Lutz untersucht hat (2002). Auch Sabine Hess (2002) stellt fest, dass die Au Pair »Mädchen« heute in Deutschland zu 90 Prozent aus dem Ostblock stammen. Das führt nicht zuletzt zu einer Umwertung der Hausarbeit: Sie wird insofern kulturalisiert, als die Anstellung der Au Pairs als ein Beitrag zur »Zivilisierung« der »rückständigen« Osteuropäerinnen verstanden wird. Ihre Indienstnahme wird als ein persönlicher Gefallen, als Entwicklungshilfe oder Bildungsprogramm verstanden – denn was »ist denn schon Hausarbeit«, »das sind ja keine schweren Arbeiten« (ebd.: 113), so zitiert sie die von ihr befragten Gastgeberinnen (siehe den Beitrag von Barbara Grubner in diesem Band). Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird für die deutschen Mittelschichtfrauen also zunehmend durch bezahlte Dienstleistung ermöglicht. Diese Option ist durchaus legitim, denn warum sollten diese Arbeiten nicht auch privat outgesourct werden? Warum aber werden keine regulären Arbeitsplätze geschaffen, mit einem professionellen Profi l ausgestattet und öffentlich anerkannt? Warum wird diese Arbeit nicht über den Markt vermittelt z.B. mit Hilfe von Dienstleistungspools, in denen entsprechende Arbeitskräfte offiziell angefordert werden können? Emanzipation wird in dem Zusammenhang zu einer Illusion, weil sie nicht auf Umverteilungen im Geschlechterverhältnis basiert, sondern auf der Hierarchie zwischen Frauen. Emanzipation wird hier mit ethnischer Privilegierung verwechselt. Diese Illusion hat allerdings ihren Preis: Nun wird nämlich angenommen, dass in Bezug auf die Emanzipation der deutschen Frauen kein Handlungsbedarf mehr bestehe, da ja »die deutsche Frau« emanzipiert sei. Für sie steht also nicht mehr das Geschlechterverhältnis im Vordergrund, sondern sie arbeitet sich vor allem an der Kontrastierung zwischen sich und der unterdrückten anderen Frau ab. Emanzipation wird nicht mehr am Geschlechterverhältnis, sondern am Abstand zwischen der privilegierten Frauen und ihrem Gegenbild gemessen. Der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen weicht gewissermaßen auf andere Machtverhältnisse aus. So wird das Geschlechterverhältnis vom Veränderungsdruck entlastet, der Konfliktstoff wird gewissermaßen externalisiert. Entsprechend engagiert sind auch plötzlich viele Männer der Mehrheitsgesellschaft in Sachen Gleichberechtigung, geht es doch nun vor allem darum, die Probleme mit der Emanzipation der »eigenen« Frauen als gelöst zu erklären. Zur selben Zeit wird die Haus- und Beziehungsarbeit durch ihre Ethnisierung entwertet. Nun wird es überflüssig, für einen feministischen 181
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Arbeitsbegriff zu kämpfen, der Hausarbeit und Fürsorge dieselbe gesellschaftliche Anerkennung verschaffen möchte wie der bezahlten Erwerbsarbeit. In diesem Sinn kann man auch hier von einer Re-Traditionalisierung sprechen, indem die typisch weibliche Arbeit zunehmend unsichtbar gemacht und entwertet wird. Da der Machtzuwachs der einen Frauen im Wesentlichen auf der Diskriminierung der anderen Frauen basiert, wird der Emanzipationsbegriff auch seines politischen Gehalts entkleidet. Er wird für die Interessen einer bestimmten Gruppe von Frauen funktionalisiert und aus seiner Bindung an seine politische Basis, nämlich die Grundwerte von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, herausgelöst. Der Emanzipationsbegriff wird hier also auf zweierlei Weise problematisch: Zum einen, weil er eine nüchterne Bestandsaufnahme blockiert und zum anderen, weil er der Legitimation von Dominanzverhältnissen dient und damit auch die Spaltung zwischen Frauen verschärft. Die Migrantinnen werden hier im Wesentlichen als bedauernswerte Opfer und nicht als Mitstreiterinnen im Kampf um Gleichberechtigung wahrgenommen, und so werden schließlich auch die Potentiale eines gemeinsamen politischen Kampfes ausgeschlagen. In diesem Sinne können wir von einer hegemonialen Weiblichkeit sprechen in Anlehnung an den Begriff der hegemonialen Männlichkeit, wie ihn Robert Connel (1999) entwickelt hat.3 Dementsprechend müssen die unterschiedlichen Konzepte von Weiblichkeit auch in ihrer jeweiligen Positionierung in der symbolischen und sozialen Ordnung betrachtet werden. Denn die Geschlechterverhältnisse sagen nicht nur etwas über die Beziehungen zwischen Frauen und Männern, sondern immer auch etwas über andere Machtverhältnisse aus. Je mehr dabei die Forderung nach Emanzipation mit der Verteidigung hegemonialer Positionen verbunden wird, desto mehr verliert diese auch ihre kritisches Potential und ihren politischen Anspruch.
Anmerkungen 1 Im Folgenden beziehe ich mich in erster Linie auf die Situation und Daten aus Deutschland. 2 Das bedeutet, dass freie Arbeitsplätze grundsätzlich zunächst Deutschen, dann EU-Bürgern und dann erst Bewerbern aus nicht EU-Ländern angeboten werden. 3 Er beschreibt männliche Hegemonie als einen Typus kultureller Dominanz, bei dem heterosexuelle Männer ihre Überlegenheit nicht nur gegenüber Frauen sondern auch gegenüber den Anderen Männern wie den homosexuellen, den Schwarzen
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und den armen Männern demonstrieren. Der weiße westliche Mann nimmt für sich in Anspruch, die höchste Form der Zivilisation zu repräsentieren. Rückständige Formen der Männlichkeit werden durch den Andren symbolisiert, wie etwa den orientalischen »Pascha« oder den lateinamerikanischen »Macho«.
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Frauenmigration und Gewalt. Überlegungen zu transnationalen Arbeits- und Gewaltverhältnissen im Pr ivathaushalt Barbara Grubner
Einleitung Eine der großen Herausforderungen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gewalt und Konflikt liegt in der Frage, ob und auf welche Weise heute von neuen Erscheinungsformen, von neuen »Signaturen der Gewalt« (Heitmeyer und Soeff ner 2004: 13) gesprochen werden muss. BefürworterInnen dieser Annahme verweisen dabei auf die weltweite Zunahme von terroristischen Angriffen, Guerillakämpfen, Straßenschlachten, von so genannten ethno-nationalen, religiösen und kulturellen Konfl iktformen, kurz auf die »Erfindung des globalen Kleinkriegs« (Trotha 2002: 161), der in hohem Maße die Zivilbevölkerung involviert (Braun et al. 2006: 7). Im Windschatten der blutig ausgetragenen Konflikte, Massaker und Angriffe, die sowohl die wissenschaftliche als auch die öffentliche Debatte dominieren, existieren heute jedoch zahlreiche Gewaltformen, die weniger spektakulär und medial präsent sind und dennoch das zeitgenössische Gesicht von Gewalt und Konflikt maßgeblich prägen: Jene weder personen- noch körperbezogene Gewalt in den urbanen Metropolen der gegenwärtigen Weltgesellschaft, die als stetig steigende »Produktion von Ausgeschlossenen« bezeichnet werden kann (Schroer 2004). Diese unsichtbarere Form der Gewalt besteht darin, dass immer mehr Menschen aus dem inklusiven Kreis derer herausfallen, die gesellschaftliche, ökonomische
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und politische Teilhabe geltend machen können, und sich statt dessen an den äußersten Rändern der sozialen Welt wiederfinden. In der Gewaltforschung gibt es immer wieder prominente Versuche, derartige Entwicklungen zeitgenössischer Gesellschaften aus der Gewaltdiskussion zu verbannen und ihre Umschreibung mit alternativen Begriffen zu verordnen (soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Ausbeutung etc.), um – so das Argument – die Brennschärfe des Gewaltbegriffs nicht zu beeinträchtigen. Statt den Gewaltbegriff um strukturelle, institutionalisierte, symbolische, ideelle oder andere nicht-materialistische Dimensionen zu erweitern, soll er sogar enger als die strafrechtliche Defi nition gefasst werden und der »zielgerichteten, direkten physischen Schädigung von Menschen durch Menschen« (Schwind et al. 1990: 36) vorbehalten bleiben.1 Wenn die Frage nach den aktuellen Ausprägungen von Gewalt und Konflikt jedoch ernsthaft und mit dem Ziel gestellt wird, zukünftige Gewaltentwicklungen vorhersehbarer und verstehbarer zu machen und ihnen etwas entgegenzusetzen, dann ist eine derartige Engführung des Gewaltbegriffs ein fragwürdiges analytisches Hilfsmittel. Der vorliegende Beitrag geht statt dessen davon aus, dass bedeutende Gewaltsignaturen der Gegenwartsgesellschaft nur dann hinreichend verstanden werden können, wenn die Verbindungen und Wechselwirkungen unterschiedlicher Formen und Ausprägungen von Gewalt, Verletzung und Grenzüberschreitung – strukturelle, symbolische und »verdeckte« ebenso wie physische, direkte und akteursbezogene – ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Einer der signifi kantesten Kontexte für Gewalt, Ausschluss und Rechtlosigkeit in der heutigen Weltgesellschaft ist die Frauenmigration. Die folgende Diskussion konzentriert sich auf haus- und personenbezogene Dienstleistungen im Privathaushalt als einem der größten und rasant wachsenden Arbeitsmärkte für Migrantinnen. Gezeigt werden soll, dass die aktuelle Organisation bezahlter Putz-, Haus- und/oder Pflegearbeiten in Europa2 mit einem breiten Gewaltparadigma erfasst werden kann und muss und dass gerade in Hinblick auf Migrationsprozesse die Markierung und Skandalisierung unsichtbarer, akteursloser Gewalt in wissenschaftlicher wie in politischer Hinsicht sinnvoll und notwendig ist. Die Diskussion von Gewaltverhältnissen im Zusammenhang mit informellen Reinigungs- und Betreuungsarbeiten im Privathaushalt ist dabei keineswegs neu: Seit die Haushaltsarbeit in jüngster Zeit vermehrte Aufmerksamkeit in sozialwissenschaftlichen und politischen Debatten erhält, ist diese Frage ebenso zentral wie umstritten. Wenn dargelegt werden soll, auf welche Weise und in welcher Hinsicht die Haushaltsarbeit mit globalen Gewaltverhältnissen in Verbindung gebracht werden muss, dann ist im Vorfeld eine Klärung dieser schwelenden Debatte notwendig: Nach einer Skizze wichtiger Merkmale der aktuellen Organisation von Haus186
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haltsarbeit und den damit verbundenen Problemfeldern sollen daher die zwei wichtigsten Einwände diskutiert werden, die gegen die Anwendung eines Gewaltparadigmas auf globalisierte Haushaltsarbeit vorgebracht werden. Im Anschluss daran folgt eine Differenzierung der relevanten Gewaltformen, -verhältnisse und -kontexte und deren Zusammenspiel sowie eine kulturtheoretische Annäherung: diese soll abschließend zur Reflexion über die Frage anregen, ob und auf welche Weise sich die Haushaltsarbeit von anderen prekarisierten und informalisierten Arbeitsmärkten unterscheidet und welche Mechanismen dazu beitragen, diese Tätigkeit(en) in konstanter ideologischer Abwertung zu halten.
Haushaltsarbeit im Zeitalter der Globalisierung Zur Bezeichnung von haus- und personenbezogenen Dienstleistungen hat sich in der gegenwärtigen Debatte der Begriff »Haushaltsarbeit« durchgesetzt. Er geht in seiner Definition auf die Bielefelder Soziologin Birgit Geissler zurück und umfasst drei Elemente: Hausarbeit (Putzen, Kochen, Waschen, Bügeln), Pflege-/Betreuungsarbeit und Erziehungsarbeit (Geissler 2002), d.h. jene Tätigkeitsbereiche, die in der angloamerikanischen Literatur unter Cooking – Caring – Cleaning gefasst sind. Gegenüber dem gängigen Terminus »Reproduktionsarbeit« hat er den Vorteil, dass er die produktiven Anteile dieser Arbeit nicht schon in der Begriffsbestimmung negiert.3 Wenn im Folgenden die bezahlte Haushaltsarbeit im Zentrum steht, so ist klar, dass das Arbeitsprofi l im Einzelfall nicht alle drei Dimensionen umfassen muss, sondern theoretisch die spezialisierte Form einer Reinigungskraft, eines Kindermädchens oder einer Altenpflegerin annehmen kann. Tatsächlich ist es aber ein Charakteristikum von Haushaltsarbeit, dass die Grenzen zwischen diesen Aufgabengebieten fließend sind. Ein weiteres Spezifikum ist, dass die Arbeitsinhalte enorm variieren und eine klar umrissene Beschreibung der Tätigkeit nicht leicht möglich ist. Haushaltsarbeit war und ist keine festgelegte, selbstverständliche oder elementare Reproduktionsleistung, sondern wird durch soziale und kulturelle Bedürfnisse geformt: Zu welchem Zeitpunkt ein Haus als sauber betrachtet werden kann oder was notwendig ist, damit eine Wohnung zu einem wirklichen »Zuhause« wird (Lutz 2005: 66), ist sehr unterschiedlich. Dasselbe gilt auch für den angemessenen Umgang mit und Reinigung von Kleidung oder Möbeln (umweltschonend oder chemisch), für die mehr oder weniger aufwendige Nahrungszubereitung (Biokost oder Fertigmenüs), für die mehr oder weniger aufwendige Kindererziehung (autoritärer Stil oder alternative Methoden): Haushaltsarbeit hängt sehr stark von Lebensstil und Beziehungsformen ab, die Erreichung des gewünsch187
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ten Standards und die damit verknüpften Aufgaben sind daher »tendenziell unendlich« (Schwenken 2001: 143; Anderson 1999: 119). Historisch ist die Haushaltsarbeit durch drei Merkmale definiert: Entökonomisierung, Feminisierung und ideologische Abwertung. Es handelt sich um jene Bereiche der materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnisbefriedigung, die aus dem wirtschaftlichen und produktiven Bereich hinaus- und dem privaten Lebensbereich als nicht-bezahlte Arbeit zugewiesen wurden. Viele Aspekte dieser Tätigkeit wurden und werden darüber hinaus nicht als »Arbeit« angesehen, sondern als selbstverständliche Versorgungsleistung und Liebesdienste, die mit der Geschlechtsrolle von Frauen einher gehen und ihre Position im Familiengefüge bestimmen. Gleichzeitig gilt Haushaltsarbeit als langweilig, redundant, mühselig, undankbar und schmutzig, als eine Aufgabe, für deren Verrichtung (zumindest bei Frauen) keine Qualifi kation oder Ausbildung notwendig ist und aus der sich kein gesellschaftliches Ansehen ableiten lässt (vgl. Holzer 1997; Gather/ Geissler/Rerrich 2002). Die Abwertung der Haushaltsarbeit und ihre traditionelle Klassifizierung als genuin weiblicher Zuständigkeitsbereich war eines der zentralen Themen der neuen Frauenbewegung seit den 1970er Jahren, aus dem sich die Forderung nach Anerkennung von Haushaltsarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit und nach einer geschlechtergerechten Verteilung von Reproduktions- und Lohnarbeit ableitete. In der Frage der Verteilung von Erwerbsarbeit hat sich seither einiges verändert: Viele Frauen konnten oder mussten ihre Beschränktheit auf den »privaten Raum« aufgeben und sind in den »öffentlichen« Arbeitsmarkt eingetreten. Trotz der gravierenden geschlechtsbezogenen Defizite im Sektor Erwerbsarbeit wie Lohnschere, gläserne Decke oder die Beschränkung auf Bereiche der Obsorge, Bedienung, Betreuung sowie der »Präsentation und Repräsentation« (Krondorfer 2001: 203) erscheint die Haushaltsarbeit im Vergleich mit den Transformationsprozessen auf dem offiziellen Arbeitsmarkt als konserviert und veränderungsresistent: Nach wie vor ist sie entwertet, die Tätigkeiten und ihre produktiven Aspekte unsichtbar und einer geschlechtergerechten Verteilung kommt kein einziges der europäischen Länder nahe. Haushaltsarbeit ist eine genuin weibliche Arbeit geblieben: sie wird entweder weiterhin von (jetzt auch außer Haus beschäftigten) Frauen oder von weiblichen Verwandten unentgeltlich verrichtet oder sie wird – in steigendem Ausmaß – an bezahlte Arbeitskräfte ausgelagert, die in der Mehrheit Migrantinnen sind. Signifi kant für diese Beschäftigungsverhältnisse ist, dass sie überwiegend der so genannten »Schattenwirtschaft« zuzurechnen sind, d.h. dass die Migrantinnen in der Haushaltsarbeit meist über keinen legalisierten Aufenthaltstitel und/oder gültige Arbeitserlaubnis verfügen. Die gesetzlichen Regelungen sind in Europa sehr unterschiedlich, manche Länder wie 188
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Italien oder Frankreich haben auf die »Versorgungslücke« im Privathaushalt, die durch die steigende Berufstätigkeit von Frauen, aber auch durch die Überalterung der Gesellschaft und fehlende staatliche Alten- und Krankenversorgung entsteht, mit Ausnahmeverordnungen aus den Quotenregelungen der Einreisebestimmungen reagiert, so dass Migrantinnen legal angeworben werden können. Die relativ komplizierte Handhabung dieser Regelungen und die Erhöhung der Löhne für die Dienstleistungen haben allerdings dazu beigetragen, dass sich an der informalisierten Situation kaum etwas geändert hat. Die Situationen und Rahmenbedingungen für die Haushaltsarbeit sind insgesamt sehr heterogen, dennoch gibt es im europäischen Vergleich sehr starke Parallelen in Bezug auf Problemfelder. Am häufigsten berichtet wird von folgenden Übergriffen und arbeits- und sozialrechtlichen Missständen: • sehr niedriges Einkommen (oft unter der Mindestlohngrenze) • nicht-bezahlte Überstunden • Verweigerung von Lohn (Entlassung nach Versuchs- und Bewährungsperioden) • Physische Gewalt und sexualisierte Übergriffe • Zwang zu zusätzlicher Arbeit (für FreundInnen, KollegInnen) • Arbeitsüberlastung (vor allem dort, wo neben der Pflege von Kindern und Alten auch die gesamten Hausarbeiten übernommen werden müssen) • hochpersönliches Verhältnis zum/zur ArbeitgeberIn • Isolation (kaum Netzwerkstruktur oder gar gewerkschaftliche Organisation) (vgl. Anderson/Phizacklea 1997; Momsen 1999; Hess 2002; Malgesini Rey et al. 2004) Aus den vorliegenden Studien geht hervor, dass die angesprochenen Probleme für jene Haushaltsarbeiterinnen besonders gravierende Ausmaße annehmen, die auch an ihrer Arbeitsstelle wohnen. Diese als live in bezeichnete Form ist in Südeuropa (z.B. Griechenland, Italien, Spanien) aber auch in Großbritannien verbreitet, in Österreich, Deutschland oder Frankreich dominiert hingegen die Form des live out, d.h. stundenweise Dienste im Haushalt (vgl. Caixeta 2004). Allerdings gibt es auch im deutschsprachigen Raum eine verdeckte Variante von live in-Haushaltsarbeiterinnen, die junge Frauen umfasst, die als Au Pairs ins Land kommen. Au Pair-Arrangements sind aus der Quotenregelung ausgenommen und haben sich längst vom »Kulturaustausch« zu einer verdeckten Migrationsstrategie für (großteils osteuropäische) Frauen in die Haushaltsarbeit entwickelt (vgl. Hess 2002). Angesichts der gravierenden Probleme und Menschenrechtsverletzun189
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gen in Bezug auf Lebens- und Arbeitsbedingungen im Privathaushalt sind in den letzten Jahren Stimmen laut geworden, die von globalen Ausbeutungs- und Gewaltverhältnissen und sogar von einem Prozess der »Refeudalisierung« (z.B. Kurz-Scherf 1995 zitiert in Lutz 2002: 173) sprechen, der sich hier unter dem Deckmantel eines »optimalen Arrangements für alle« herausbildet. Die Auslagerung von Haushaltsarbeit bietet scheinbar für alle involvierten AkteurInnen Vorteile: für eine steigende Zahl von Migrantinnen ist sie eine der wenigen leicht zugänglichen Erwerbsquellen, Frauen der Dominanzgesellschaft ermöglicht sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und ihren Männern weiterhin die Nichtzuständigkeit für Versorgungs- und Reproduktionsangelegenheiten. Tatsächlich aber basiert dieses Arrangement auf der mehr oder weniger verborgenen Tatsache, dass Frauen für diese Tätigkeit nur dann interessant sind, wenn sie als billige und flexible Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, d.h. wenn sie sich durch internationale Arbeitsteilung, Migrationspolitik und Einwanderungs- bzw. Arbeitsgesetzgebung in einer zivilrechtlich schwachen Position befinden.
Arbeits-, Menschen-, Frauenrechte und die Opferdebatte Die Charakterisierung bezahlter Haushaltsarbeit als Ausdruck globaler Gewaltverhältnisse ist in der gegenwärtigen Debatte nicht unwidersprochen geblieben, bisweilen sogar heftig zurückgewiesen und als frauenpolitisch problematisch kritisiert worden. Diese Kritik bezieht sich auf zwei miteinander verbundene Argumentationen: Der erste Einwand gibt zu bedenken, dass die Skandalisierung der Haushaltsarbeit als Form »moderner Sklaverei« oder »Wiederkehr feudaler Verhältnisse« vor allem eines zur Folge hat: nämlich diesen Erwerbsarbeitszweig insgesamt und auf pauschalisierende Weise in Misskredit zu bringen und ihn im schlimmsten Fall überhaupt nur mehr unter dem Etikett »Frauenhandel« zu diskutieren – und damit nicht als Form der Arbeit, sondern als international geächtetes Verbrechen und schwere Menschenrechtsverletzung. Obwohl in der öffentlichen Diskussion oft vergessen wird, dass Frauen und Mädchen nicht nur zum Zweck der sexuellen Ausbeutung verschleppt, misshandelt und über nationale Grenzen hinweg »gehandelt« werden, sondern auch zum Zweck der Ausbeutung im Privathaushalt (als »Dienstmädchen« oder als »Ehefrauen«) und die Ausweitung des Terminus »Frauenhandel« auf Zwangsarbeit und Zwangsdienstbarkeit ein Erfolg jahrelanger Bemühungen von NGOs und Migrantinnenvereinen war, wird hier vor einem kontraproduktiven Umkehrschluss gewarnt: nämlich die 190
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verkürzende und sozialpolitisch bedenkliche Subsumtion der Haushaltsarbeit unter die Problematik des Frauenhandels. Statt Fragen nach den Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisation, nach umfassender Politisierung und der Forderung nach Arbeits- und Aufenthaltsrechten für Migrantinnen aufzuwerfen, stehen bei der Frauenhandelsdebatte sehr schnell die Bestrafung der Täter, Maßnahmen zum polizeilichen Grenzschutz und zur effektiven transnationalen Kriminalitätsbekämpfung sowie zur weiteren Verschärfung von Einwanderungsbestimmungen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dieser Fokus, in dem Arbeits-, Menschen- und Frauenrechte bestenfalls sekundär sind, kann in weiterer Folge Migrationskanäle von Frauen zerstören und legalisierte Migrationsmöglichkeiten weiter reduzieren (vgl. Schwenken 2003). Mit dem zweiten Einwand verweisen Kritikerinnen darauf, dass die Haushaltsarbeit auch eine enorme Chance und Ermächtigungsmöglichkeit für viele Frauen ist, die sich – aus welchem Grund auch immer – für die Migration entscheiden. Niederschwelligkeit, Informalisierung und live inHaushaltsarbeit können eine schnelle Verfügbarkeit des Arbeitsplatzes und der Unterkunft garantieren und bieten Schutz vor Polizeikontrollen. Informelle Vereinbarungen bedeuten meist auch eine bessere Zuverdienstmöglichkeit für die Arbeitnehmerinnen. Es stellt sich auch die Frage, ob die Ausübung dieser »klassisch weiblichen« Tätigkeit (dienend, fürsorglich, häuslich, versorgend) notwendiger Weise zu einer Zementierung oder einem »Rückfall« in überkommene, starre Geschlechterstereotypen führt, wie mit dem Begriff der »Hausfrauisierung der Migration« 4 nahegelegt wird: Frauen können durch die Migration in den Privathaushalt gerade auch eine Befreiung aus traditionellen Erwartungen ihrer Familien erreichen und an sie gerichtete Geschlechtsrollenzwänge transzendieren, z.B. durch ihre Rolle als Familienernährerinnen oder durch eine Neuausverhandlung der Beziehung zu ihren Partnern (vgl. Auf hauser 2000: 113), es kann zu einer neuen Thematisierung von Gewalt gegen Frauen und einer Neuverteilung der Arbeitslast in der Herkunftsfamilie kommen (Wagner 2006: 13). Auf theoretischer Ebene geht es bei diesem Einwand um eine Kritik an der Ausblendung von Handlungs- und Entscheidungsoptionen der betroffenen Frauen, an der Ignoranz gegenüber ihren komplexen Perspektiven und ihre Reduktion auf Opfer von Gewaltverhältnissen. Was auf politischer Ebene mit diesem Diskurs erreicht würde, so das Argument, ist oft das Gegenteil dessen, was mit der Problematisierung der Situation ursprünglich intendiert war: Statt die Frauen und ihr Migrationsprojekt zu unterstützen, werden sie im anklagenden öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs erst (recht) passivisiert und viktimisiert. Ist es angesichts dieser nachdrücklichen Vorbehalte überhaupt sinnvoll, 191
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die Haushaltsarbeit mit Gewaltverhältnissen in Verbindung zu bringen? Zunächst ist dem ersten Einwand vorbehaltlos zuzustimmen, dass es wenig nützlich und sogar befremdlich ist, Haushaltsarbeit unter dem Aspekt des Frauenhandels erschöpfend diskutieren zu wollen: die Charakteristika und Besonderheiten dieses Arbeitsbereiches werden sicher nicht dadurch erkennbar, dass sie auf eine Extremform sexualisierter Gewalt bzw. auf ein internationales Delikt reduziert werden. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass einige der NGOs und Organisationen, die sich für die Ausweitung der Frauenhandelsdefinition eingesetzt haben, auch dafür kämpfen, die Frauenhandelsdebatte insgesamt aus dem verengten Blick auf die Sphäre der Kriminalität zu lösen und sie im Kontext der Frauenmigration zu verorten und zu problematisieren. Die Weigerung einer strikten und prinzipiellen Grenzziehung zwischen Frauenmigration und Frauenhandel stellt dabei in Rechnung, dass »Frauenhandel […] in einen internationalen Migrationsprozess eingebettet [ist]« (Boidi 2003: 58) und »die Strukturen für Frauenhandel in der Gesellschaft bereits vorgezeichnet sind« (LEFÖ 1996: 72). Arbeitsmigration und Frauenhandel müssen als Phänomene getrennt werden, jedoch zusammen gedacht werden. Statt des problematischen Kriteriums der »Freiwilligkeit« oder »Unfreiwilligkeit/Zwang« wird damit die Logik und das Zusammenspiel globaler Wirtschaftsprozesse, patriarchaler Geschlechterregimes und restriktiver Einwanderungs-, Aufenthalts- und Arbeitsgesetze in den Blick gerückt, die Frauen eine legale und sichere Migration in geschützte Arbeitsverhältnisse verunmöglichen. Dieser dritte Weg erlaubt es daher, den Blickwinkel auf »domestic slavery« und jenen auf »mehr Frauen- und Arbeitsrechte« nicht als entweder-oder zu betrachten, wie Schwenken 2003 nahelegt. Statt einem Berufszweig ein höchst empfindliches und sensationalistisches Etikett zu verpassen, müssen vielmehr die »legalen« Gewaltverhältnisse radikal hervorgehoben und skandalisiert werden: jene normalisierten, naturalisierten, tolerierten ökonomischen, politischen und Geschlechter-Verhältnisse, die leise aber effizient zur Aufrechterhaltung des Status quo beitragen. In Bezug auf den zweiten Einwand stellt sich die Frage, ob die Rede von Gewaltverhältnissen tatsächlich notwendiger Weise in eine personalisierte Täter-Opfer-Debatte führt, in der Migrantinnen sich auf der Seite der passivisierten Opfer wiederfinden und ihnen »eigenständiges und selbstbewusstes Handeln abgesprochen« wird (Aufhauser 2000: 98). Diese Einschätzung beruht auf einer doppelten Verkürzung: Einerseits scheint sie sich implizit auf ein enges, akteursbezogenes Gewaltverständnis zu stützen, das durch permanente Einschüchterung und Übergriffe keinerlei Bewegungsspielraum offenlässt. Sofern auch strukturelle Gewaltverhältnisse mitberücksichtigt werden, bedient sie sich hingegen einer konservativen Gesellschafts- und Subjekttheorie, die Freiwilligkeit, Entscheidungs- und 192
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Handlungsmacht der vollkommenen Unterwerfung und Passivisierung gegenüberstellt. Gesamtgesellschaftliche Gewaltverhältnisse benennbar zu machen bedeutet nicht, Menschen zu Marionetten einer determinierenden Sozialstruktur zu machen oder ihnen ein »besetztes Bewusstsein« zuzuschreiben, das sie jeder Evaluierung der eigenen Situation sowie eigener Handlungsstrategien oder Widerstandsformen notwendig beraubt.5 In Bezug auf die eigene »agency« ist ein Gewaltverhältnis nicht per se ein lückenloser Maschenzaun, in dem jene, die nicht dominieren, gänzlich unterworfen sind. So wie es in den 1970er und 1980er Jahren in bestimmten Kontexten wichtig war, die weibliche »Opferrolle« zu betonen (z.B. um Gelder für Frauenschutzeinrichtungen zu lukrieren), so ist es heute wesentlich, die Rolle als »Akteurin« oder »Protagonistin« zu betonen, um missverstandenem Mitleid, Patronanz und falschen politischen Schlussfolgerungen in Form der weiteren Verschärfung von Einwanderungsgesetzen etwas entgegenzusetzen. Das sollte aber nicht dazu führen, die massiven Beschränkungen und strukturellen Barrieren aus dem Blick zu verlieren, die die Handlungsmöglichkeiten bestimmter Gruppen heute in signifi kanter und sich verschärfender Weise einengen.6 Statt dessen sollte es darum gehen, unterschiedliche Ausprägungen und Dynamiken von Gewalt zu unterscheiden, darunter jene typisch modernen Formen, die über weite Distanzen hinweg funktionieren, sowie jene Formen, die man »nur unter der Bedingung adäquat zu erfassen vermag, dass die naive Alternative von Nötigung und Einwilligung, von Zwang und Zustimmung überwunden wird« (Bourdieu 1997: 164). Mit der Doppelstrategie eines starken Fokus’ auf aktuelle Herrschaftsstrukturen (personalisiert, institutionalisiert, national, global) sowie auf Migrantinnen als Protagonistinnen, die ihr Migrationsprojekt aktiv gestalten, neu definieren und prägen, wird in der politischen Auseinandersetzung eine verkürzende Sichtweise vermieden und der Komplexität weiblicher Handlungskontexte und -strategien besser Rechnung getragen. Wenn im Folgenden die Diskussion von Gewaltformen und -verhältnissen und deren Zusammenspiel im Kontext der gegenwärtigen Organisation globaler Haushaltsarbeit skizziert wird, dann unter der Voraussetzung, dass ein Gewaltparadigma diesen Arbeitsbereich und die Situation der Arbeiterinnen natürlich nicht erschöpfend beschreibt. Sie basiert darüber hinaus auf der Annahme, dass »Ausbeutung/Gewaltverhältnis« und »Selbstermächtigung« ebenso wie »passives Opfer« und »Progatonistin, aktiv handelndes Subjekt« in diesem Zusammenhang keine Alternativen darstellen. Auf dieser Basis werden Herrschafts- und Gewaltkontexte auf einer analytisch-strukturellen Ebene in den Blick genommen.
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Haushaltsarbeit und Gewalt Wenn es um die Frage nach Gewaltverhältnissen im Privathaushalt geht, so ist als erstes die aus der Sicht der Arbeiterinnen höchst folgenreiche Verknüpfung von »Illegalisierung« und »Privatraum« zu nennen. Migrantinnen ohne gültige Papiere sind in der Unsichtbarkeit des Privathaushaltes jenseits aller Regelungen und rechtlichen Bestimmungen ausbeutbar und missbrauchbar. Dieses »doppelte Niemandsland« aus Privatheit und Illegalität (Gather/Geissler/Rerrich 2003: 9) überlässt Arbeits- und Lebensbedingungen gänzlich der Willkür von ArbeitgeberInnen. Eine entscheidende Rolle bei der Produktion dieses arbeits- und sozialrechtlichen Vakuums spielen restriktive Einwanderungs-, Aufenthaltsund Arbeitsgesetze, die es Frauen verunmöglichen, autonom und legal zu migrieren und zu arbeiten. Sie sind daher auf prekarisierte, marginalisierte und ungeschützte Arbeitsverhältnisse – vor allem im Dienstleistungsund Versorgungsbereich – angewiesen. Diese Form institutionalisierter Gewalt ist in einigen europäischen Ländern wie Österreich und Deutschland durch ein doppeltes Unrechtssystem charakterisiert: Bestimmte Migrantinnen werden illegalisiert und müssen damit auch bei wohlfahrtsstaatlichen Leistungen nicht berücksichtigt werden. Gleichzeitig werden sie aber als Unterstützungsstruktur einkalkuliert (vgl. Haidinger 2004: 68; Hess 2002: 115): Eine Politik des staatlichen Rückzugs aus der Fürsorgearbeit geht ungebrochen davon aus, dass Familien, tatsächlich aber Frauen, individuelle Lösungen bei der Frage der Versorgung finden – entweder indem sie selbst weiterhin unbezahlt diese Aufgaben erledigen, oder indem sie informell für einen »Ersatz« sorgen. Nachdem sich das System mittlerweile eingespielt und offensichtlich bewährt hat, gibt es in dieser Rechnung keinerlei Handlungsbedarf.7 Durch die auf Dauer gestellte Vernachlässigung der Fürsorgearbeit, so die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer, institutionalisiert der Wohlfahrtsstaat neue geschlechtsbezogene Gewaltstrukturen. Sie spricht von »Gewalt durch Unterlassung«, die weiterhin Ungleichheit, Abhängigkeit und Diskriminierung von Frauen ermöglicht und sogar intensiviert, sowie von einem breiten Gewaltdiskurs: »Staaten kennen spezifische Subjektivierungsweisen, d.h. Diskurse, die Menschen einordnen, sie bestimmten Subjekt›sorten‹ zuweisen und sie mit bestimmten Handlungsfähigkeiten ausstatten […]. Wohlfahrtsstaaten produzieren spezifische herrschaftsförmige Identitäten – ›abhängige Hausfrauen‹, Prostituierte, Migrantinnen –, die mit diesen Identitäten verbundenen ›Sicherheitsrisiken‹ und mithin eine geschlechtsspezifische ›Verletzungsoffenheit‹.« (Sauer 2002: 99)
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Illegalisierung führt in der nationalstaatlichen Logik zum Phänomen der »multiplikatorischen Exklusion«. Mit diesem Begriff bezeichnet Markus Schroer jene strukturelle Gewalt, die er in Anlehnung an Niklas Luhmann und Johan Galtung für die urbanen Metropolen der Gegenwartsgesellschaft für kennzeichnend hält. »Multiexklusion« meint jene Dynamik, die durch den Ausschluss aus einem gesellschaftlichen »Funktionssystem« produziert wird und den Ausschluss auch aus den meisten anderen Teilsystemen zur Folge hat (Schroer 2004: 167). Illegalisierung setzt einen derartigen Teufelskreis mit einem Schlag in Gang: »Eine fehlende Aufenthaltserlaubnis führt zu sozialer Verletzbarkeit, zu Problemen mit dem Anmieten einer Wohnung, mit Sozialversicherungen, mit der Gesundheitsversorgung, mit der eventuellen Versorgung von Kindern und deren Beschulung.« (Lutz 2005: 72)8 Eine Analyse des Zusammenhangs personalisierter und akteursloser Gewaltformen im Kontext von Frauenmigration und Haushaltsarbeit führt jedoch nicht zum selben Ergebnis wie Schroer es für multi-exkludierte Gruppen herausarbeitet. An die Ränder der sozialen Welt gedrängt, gemieden und ignoriert sind Eskalationen körperlicher Gewalt aus seiner Sicht »ein bevorzugtes Mittel, um aus der Unsichtbarkeitsfalle zu fliehen« (2004: 168, Hervorhebung im Original). Weil das Leben in der ausdifferenzierten Gesellschaft von der Inklusion in die Funktionssysteme abhängt, so das Argument, befinden wir uns heute auf dem besten Weg, dass Irrelevant-, Überflüssig- oder Unsichtbarwerden eine ärgere Bedrängnis darstellt als die Tatsache, ausgebeutet zu werden. In Bezug auf bezahlte Haushaltsarbeit lässt sich einerseits sagen, dass sich die besondere Form struktureller Gewalt darin ausdrückt, dass sich Unsichtbarkeit und Ausbeutung perfekt ergänzen und kombinieren können. Akteurslose Gewalt führt hier außerdem kaum dazu, dass die marginalisierte Gruppe körperliche Gewalt »im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit« (Schroer 2004: 169) einsetzt, um Beschränkung, Ausschluss und Unsichtbarkeit zu entkommen. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: die unterschiedlichen Formen institutionalisierter, bürokratischer und symbolischer Gewalt wirken auf sehr effektive Weise zusammen, um eine »Opportunitätsstruktur« (Sauer 2002: 81) für personalisierte Gewalt zu schaffen. Es ist klar, dass keinesfalls in allen Fällen direkte Gewalt gegen Arbeiterinnen angewandt wird. Aktuelle Untersuchungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in der Haushaltsarbeit zeugen jedoch von einer signifi kant hohen Rate an Übergriffen und Verletzungen in diesem Bereich. In einer vergleichenden europäischen Studie wird dabei neben sexualisierten und physischen Übergriffen durch Männer auch die Gewalt durch Arbeitgeberinnen hervorgehoben: sie reicht von psychischer Gewalt wie permanente Kontrolle, Schikanen und besonders erniedrigen195
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de Aufgaben9 bis hin zu physischer Gewaltausübung. Eine Erhebung der Migrantinnenorganisation Kalayaan über die Schwierigkeiten von Frauen, die gemeinsam mit ihren ArbeitgeberInnen und einem domestic worker Visum nach London gekommen waren, führten für die Jahre 1996-1997 zu folgenden Angaben (Anderson 2002: 107f.): • 84 Prozent der Frauen berichteten von psychologischem Missbrauch • 34 Prozent von physischem Missbrauch • 10 Prozent von sexuellem Missbrauch • 54 Prozent von Freiheitsentzug (wurden in ihren Zimmern eingesperrt) • 55 Prozent hatten keine eigenen Betten • 38 Prozent bekamen nicht regelmäßig zu essen. Ähnlich wie in der Analyse von Schroer wird auch in anderen Studien der Zusammenhang von sozialer Ausgrenzung und Gewalt daraufhin untersucht, unter welchen spezifischen Bedingungen strukturelle Gewaltverhältnisse zu körperlicher (Gegen-)Gewalt auf Seiten der Marginalisierten und Verunsichtbarten führt. Albert Scherr beginnt seine Analyse dabei mit folgender Überlegung: »Die schmutzige körperliche Arbeit und auch das schmutzige Geschäft mit der physischen Gewaltausübung wurden und werden gewöhnlich an die sozial Untenstehenden delegiert.« (Scherr 2004: 202) Adornos Satz »Ein Herr prügelt nicht«, den Scherr an dieser Stelle anführt, muss im Kontext von Migration und Haushaltsarbeit – und dabei gerade im Zusammenhang mit bessergestellten Familien, die »ihre Dienstboten« aus dem Ausland mitbringen (vgl. Anderson 2002; Anderson/Phizacklea 1997) – überdacht werden. Denn es handelt sich hier vielmehr um ein System der Potenzierung: Strukturelle akteurslose Gewaltverhältnisse wirken sowohl als Nährboden für und in Kombination mit personalisierten Verletzungen der »Inkludierten« gegen die »Exkludierten« – und all diese Formen der Gewaltausübung können sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit auf Straffreiheit verlassen. Die gegenwärtige, informalisierte Regelung der Haushaltsarbeit spiegelt und reproduziert gesellschaftliche/globale Hierarchien und ordnet sie entlang der Kategorien Geschlecht, »Rasse«, Klasse und Religionszugehörigkeit neu an. In allen europäischen Ländern existieren »ethnische Hierarchisierungen, die mit rassistischen Stereotypen legitimiert werden […] und die sich in der Bezahlung materialisieren« (Lutz 2002: 167). Die bezahlte Haushaltsarbeit verwandelt sich in diesem Zuge zu einem »Berufsghetto« für bestimmte ethnisierte Gruppen (vgl. zur Situation in Großbritannien Cox 1999). Statt um rein ökonomische und demographische Faktoren geht es hier also auch um ein breites ideologisch-symbolisches Abwertungsregime, das 196
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sich besonders deutlich im neu entstandenen ethnisierten Status- und Machtgefälle zwischen Frauen zeigt: Wie in der aktuellen Diskussion häufig angesprochen wird, können Frauen der Dominanzgesellschaft aus der Auslagerung der Haushaltsarbeit einen »symbolischen Mehrwert« ziehen. Die Weitergabe der redundanten, unangenehmen, entwerteten Arbeit auf Migrantinnen ermöglicht ihnen neue Chancen und Privilegien wie den Auf bau einer Erwerbsarbeitsidentität, einen Zugewinn an qualitativer Zeit (für Kinder, Partnerschaft, Weiterbildung, Freizeit), die Vermeidung von Konflikten rund um »Hilfe« bei der Hausarbeit und in jedem Fall einen »Statuszugewinn« durch die Differenzierung von der Arbeiterin als abhängiger Anderen. Das neue Arbeitsverhältnis zwischen Frauen, das in Europa stark im Steigen begriffen ist, wird im folgenden, letzten Abschnitt näher beleuchtet. Zumindest in der gegenwärtigen Situation weisen bestimmte Aspekte dieser Beziehung bzw. dieses Arrangements auf Konfliktlinien hin, die über ein einseitiges Täterin-Opfer-Schema der involvierten Frauen hinausgehen, die sich aber auch durch die bereits angesprochenen strukturell-ökonomischen, strukturell-bürokratischen oder strukturell-institutionalisierten Gewaltdimensionen nicht gut erfassen lassen. Auch eine intersektionale Analyse – die Untersuchung des Zusammenwirkens, der Überschneidung und Potenzierung unterschiedlicher Kriterien der soziokulturellen Unterordnung (Geschlecht, Nationalität, Klasse, religiöse Zugehörigkeit etc.) – bietet diesbezüglich keine gänzlich befriedigende Erklärung an. Um sich dieser Konfliktdynamik auf anderem Wege anzunähern, soll ein kulturtheoretischer Zugang skizziert werden.
Beziehungs- und Konfliktdynamiken im transnationalen Pr ivathaushalt Grundsätzlich macht ein näherer Blick auf das gegenwärtige Interaktionsund Beziehungsgefüge im Privathaushalt, das durch die Auslagerung der Haushaltsarbeit entstanden ist, fundierte empirische Forschungen dringend erforderlich. Der Kenntnis- und Informationsstand über die alltäglichen Routinen von Haushaltsarbeiterinnen, über die Ausverhandlungen und Strategien sowie über die Perspektiven und Reflexionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeberinnen ist zwar noch immer sehr gering, in den letzten Jahren sind jedoch einige sehr gute qualitative Studien erschienen. Zur Illustration kulturtheoretischer Aspekte werde ich mich in der Hauptsache auf die exzellente Arbeit von Barbara Thiessen (2002) beziehen, um einige symbolische und kulturelle Aspekte des Arrangements »bezahlte Haushaltsarbeit« zu diskutieren. 197
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Die Durchsicht der vorliegenden qualitativen Forschungen macht eines sehr deutlich: Das konkrete Verhältnis zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin im Privathaushalt ist oft von beiden Seiten durch starke Ambivalenzen geprägt. Eine Ursache für eine gewisse Unbehaglichkeit und Zwiespältigkeit mag darin liegen, dass der Raum des »Privaten« per se als erwerbsarbeitsloser Raum konstruiert wurde und es keine bewährten Modelle und klaren Rollenvorbilder für das Arbeitsverhältnis gibt. Nachdem die einzigen historischen Rollenmodelle inadäquat sind, sofern die »Hierarchien der Dienstbotengesellschaft in einem modernen Habitus keinen Platz haben« (Lutz 2007: 123), muss der Umgang miteinander erst ausgehandelt und gestaltet werden. Weiters kann die eingangs angesprochene Grenzenlosigkeit der Arbeitsinhalte zu unterschiedlichen Erwartungen und Einschätzungen führen, insbesondere dann, wenn sich die Ansprüche mit Einstellung einer Haushaltshilfe erhöhen (Anderson 2002: 106; Schwenken 2003: 143). Die Besonderheit der Arbeitsbeziehung im Privathaushalt liegt aber nicht nur in den beliebig erweiterbaren Arbeitsinhalten (z.B. neben dem Saubermachen auch noch schnell einkaufen gehen, ein Auge auf die Kinder haben oder eine Kranke versorgen), sondern vor allem in der Qualität des Verhältnisses zwischen Arbeitnehmerin und Arbeitgeberin: Anders als andere Beschäftigungsverhältnisse ist die Beziehung zwischen den Frauen meist sehr persönlich oder wird bisweilen sogar als freundschaftlich eingestuft. In ihrer Untersuchung von Haushaltsarbeiterinnen in Los Angeles County rollt Hondagneu-Sotelo (2002) die Beziehung zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin von ihrem Ende her auf: Statt auf eine nüchterne Lösung eines Vertrages triff t sie vor allem bei live in-Arrangements auf Blowups and Other Unhappy Endings: Die Frauen gehen wie verletzte Partnerinnen auseinander, nachdem sie mit bitteren Vorwürfen ihren oft jahrelang aufgestauten Kränkungen Luft gemacht haben – ein Muster, das weniger dem Charakter der Auflösung einer Arbeitsals der Beendigung einer Liebesbeziehung entspricht. Barbara Thiessen widmet ihre Untersuchung ebenfalls der Arbeitsund Beziehungsdynamik im Privathaushalt, jedoch im Kontext von live out-Arrangements (Thiessen 2002). Sie stellt sich dabei die interessante Frage, warum in den von ihr geführten biografisch-narrativen Interviews mit Haushaltsarbeiterinnen und Arbeitgeberinnen im Raum Bremen das Thema »Schmutz« kaum erwähnt und weitgehend vermieden wird – obwohl es für die Einschätzung dieser Arbeit und für das Verhältnis zwischen Beschäftigter und Arbeitgeberin höchst bedeutsam ist. Warum wird dieses Thema ausgeklammert und was bedeutet Schmutz in diesem Zusammenhang? In Anlehnung an die Sozialanthropologin Mary Douglas geht Thiessen davon aus, dass sich »Schmutz« nicht durch innere Eigenschaften definieren lässt, sondern relational bestimmt werden muss. Schmutz ist 198
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dabei nicht nur die Kehrseite von »Sauberkeit«, sondern steht in Bezug zu »Ordnung« in einem breiteren Sinn. Abstrakt gesehen ist »Schmutz« all das, was in Ordnungsprozessen verworfen wird und kann damit sozial und kulturell aber auch kontextuell etwas je anderes sein. »Unreines«, so Douglas, wird stets als etwas verstanden, das gefährlich ist, denn es droht, die etablierte Ordnung und damit die Strukturierungsleistung zu (zer-)stören. Aufgrund von Verfemung und Ächtung des »Unreinen« und »Schmutzigen« laufen in der Folge auch diejenigen, die mit dem Unreinen bzw. mit dessen Beseitigung befasst sind, Gefahr, ausgegrenzt zu werden. In anderen Worten: »Dirt tends to attach to the people who remove it.« (Ehrenreich 2002: 102) Wenn man der These zustimmt, dass die Differenzierung von rein und unrein nicht nur in religiösen Universen, sondern auch für sekularisierte Weltbilder Bedeutung hat, so stellt sich die Frage, welche Teilungen und Verwerfungen für uns heute besonders aktuell und heikel sind, welche Form Schmutz und Unreinheit annehmen. Christian Enzensberger hat 1968 einen Größeren Versuch über den Schmutz geschrieben. Dieser kann dabei helfen, elementare Arten und Dimensionen von »Unreinheit« näher zu bestimmen. Gleichzeitig illustriert die folgende Passage aus dem Werk Enzensbergers, was bei der zeitgenössischen Klassifizierungsleistung auf dem Spiel steht: »Schmutz sei erstens alles, was die säuberliche Abgetrenntheit der Person antaste, ihr ängstlich gehütetes Fürsichsein. Daher lasse sie ungern etwas an sich heran und aus sich heraus. Neben diesem Berührungs- und Ausscheidungsschmutz meide sie ferner als unrein, was ihr nur zweideutig zugehöre, sie ekle sich, durch Analogie, vor der Vermischung. In ihrer Nähe nämlich fürchte sie, der Zweideutigkeit und dem Mischmasch selbst anheimzufallen, auseinanderzufließen, sich zu verlieren, Schaden zu nehmen durch Beimengung, Einschub, Zusatz, Abfluss, Abzapfung und Unterwanderung. Daher seien ihr auch Dinge wir Pumpen, Trichter, Rüssel, Röhren nicht ganz geheuer, und deswegen zähle sie so viele Stoffgemische und Zwischenzustände auf, wenn man sie um Beispiele für Schmutz ersuche. Hier liege wohl auch der Grund für die unausrottbare Verknüpfung von Schmutz mit der ersten, nämlich geschlechtlichen, Vermischung. Nach dem Vermischungsschmutz habe sie drittens Angst vor dem Zerfall, wende sich schaudernd ab, wenn sich Unteres nach oben, Oberes nach unten kehrt, wenn Gliederung sich auflöst oder umgekehrt: ein verfaulender Pilz, eine am Knie erscheinende Nase. Und schließlich trete neben den des Zerfalls noch ein Massenschmutz; denn als Einzelding sei der Person alles Gewimmel und Gekrabbel verhasst, alle Massenhaftigkeit, in der es geschehen kann, dass sie versinkt, verlorengeht und unauffindbar wird.« (Enzensberger 1968: 23f. zitiert in Theweleit 2000 [1977]: 402)
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Enzensberger beschreibt deutlich, wie sehr die Definition, Bestimmung, der Ekel und die Ausgrenzung von »Schmutz« mit dem Konzept der Person, mit Körperlichkeit, Geschlecht, Vermischung und einem existenziell anmutendem Streben nach einer sehr spezifischen Ordnung zu tun hat. Vor diesem Hintergrund erscheint Thiessens Überlegung sehr plausibel, dass in unserer Gesellschaft dasjenige besonders schmutzig und verfemt ist, was »Spuren des Lebens« trägt: Ausscheidungen, Körpersäfte, Essenreste, Flecken, Müll. Diese Spuren, so ihr Argument, sind der lebendige Beweis dafür, dass Menschen abhängig und auf andere angewiesen sind, sie sind somit Erinnerungsspuren an Körperlichkeit und Bedürftigkeit, die im Widerspruch zur Selbstbeschreibung des modernen Individuums stehen: Das dominante Modell betont Souveränität, Unabhängigkeit, Autonomie und Männlichkeit und lässt keinen Platz für Geschlechtliches, Relationales und Unselbständigkeit – diese »Zustände«, ihre drohende Wiederkehr und die Erinnerungsspuren selbst müssen daher ausgegrenzt werden. »Ausgegrenzt wird damit« so Thiessen, »die Bedeutung sozialer Beziehungen und alltäglicher Notwendigkeiten. Mithin werden diejenigen, die sich mit den Spuren des Lebens beschäftigen, ebenso verdrängt. Sie müssen selbst unsichtbar sein.« (2002: 145)10 Aus dieser Perspektive erscheinen bestimmte Verhaltensmuster, die sich im Arrangement der bezahlten häuslichen Dienstleistungen wiederholt finden, als Versuche beider Seiten, mit dem Thema Schmutz und seiner Verfemung zurande zu kommen. Als dominante Strategien lassen sich Distanzierung und Vereinnahmung identifizieren. Auf Seiten der Arbeitgeberin erleichtert die ethnische Differenz die Distanzierung: Interviewpartnerinnen erwähnen, dass die Tatsache sie erleichtere, dass die Haushaltsarbeiterin »aus einem anderen Kulturkreis« stamme, weil dadurch das Gefühl des Kontrolliertwerdens abgeschwächt werde. Auch die Gefahr, sich außerhalb des Hauses zufällig zu treffen, ist somit gering. Eine andere Form der Distanzierung ist die »Zettelkommunikation« und damit die Vereinbarung, die Reinigungsarbeiten in Abwesenheit der Arbeitgeberin zu erledigen. Eine Vereinnahmungsstrategie liegt umgekehrt darin, die Arbeiterin in eine Freundin oder Verwandte zu verwandeln (Thiessen 2002: 145). Als »Teil der Familie« kann das (Familien-)Fremde eliminiert werden und muss erst dann wieder erinnert werden, wenn es um Differenzen oder Streitpunkte geht (vgl. Hondagneu-Sotelo 2002: 59). Während die verwandtschaftliche Konstruktion bei live ins, insbesondere bei Au Pairs häufiger vorkommt (bisweilen unter dem Blickwinkel der »Entwicklungshilfe« für die als unerfahren, rückständig und formbar erlebte Fremde, vgl. Hess 2002: 113), ist die Konstruktion der Freundin eher bei live out-Verhältnissen zu finden. Sie äußert sich nicht zuletzt in kleinen »Aufmerksamkeiten« wie dem Aufdrehen des Radios zur Arbeit, dem Vorbereiten von 200
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Keksen, gemeinsamen Kaffeepausen bis hin zum »symbolischen Mitputzen« (Ehrenreich 2002: 86; Thiessen 2002: 148). All das kann auch dazu dienen, das »schlechte Gewissen« abzubauen, mit dem die Auslagerung der Haushaltsarbeit bisweilen verbunden ist (weil der Statusunterschied oder die Funktion der Kontrollinstanz dem egalitären Weltbild der Arbeitgeberin zuwiderläuft, weil mit der Auslagerung ein Teil der gesellschaftlich erwarteten Frauen- und Mutterrolle nicht erfüllt wird etc.). Als Distanzierung auf Seiten der Haushaltsarbeiterinnen interpretiert Thiessen unter anderem das starke Bedürfnis und die Betonung ihrer Interviewpartnerinnen, ein gepflegtes Äußeres zu haben und saubere Kleidung zu tragen. Eine Strategie der Vereinnahmung kann umgekehrt darin liegen, den fremden Schmutz in »eigenen« umzudefinieren und damit auch die eigene sozial entwertete Rolle in die anerkanntere Rolle der Hausfrau (oder helfenden Hausfreundin) zu transformieren. Eine Möglichkeit zu gleichzeitiger Distanzierung und Vereinnahmung besteht schließlich darin, die Arbeitgeberin als Rabenmutter darzustellen, die ihre Kinder mit Fertigmenüs abspeist und keine Zeit für sie hat, und sich selbst als die »bessere Mutter« zu präsentieren (vgl. Hess 2002: 114). In den meisten qualitativen Studien finden sich Hinweise auf den ambivalenten Umgang mit dem Thema Schmutz/Intimität im Zusammenhang mit der Haushaltsarbeit.11 Diesen Hinweisen nachzugehen und sie vor dem Hintergrund der sozialen Produktion von Reinheit und Unreinheit zu systematisieren, könnte sich als lohnenswertes Unternehmen herausstellen: Denn sie bieten einen Anknüpfungspunkt zur Reflexion einer höchst wirksamen kulturellen Verknüpfung und Abwehr von Unreinheit, Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit, die der Abwertung von Haushaltsarbeit und Haushaltsarbeiterinnen noch eine zusätzliche Schärfe verleiht.
Anmerkungen 1
Aktuelle Plädoyers für die Einschränkung des Gewaltbegriffs auf die physische Verletzung finden sich u.a. in Trotha 1997 und Nunner-Winkler 2004. 2 Der Beitrag beschränkt sich auf die Situation in Europa bzw. auf europäische Studien. Bisweilen werden Referenzen auf die Diskussion in den USA gemacht, wo ähnliche Themen und Bedingungen für die ausgelagerte Haushaltsarbeit vorherrschen. 3 Weil sie diese soziokulturelle Dimension explizit in ihre Definition hineinnimmt, ist auch die Begriffsbestimmung von Peredo Beltrán sehr interessant. Sie fasst unter Haushaltsarbeit alle für die tägliche Reproduktion notwendigen Tätigkeiten: Herstellung von Nahrungsmittel, Instandhaltung von Kleidung, Putzen, Kinderbetreuung, Betreuung von Außenräumen wie Gärten etc., Aufzucht von Tie-
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ren, aber auch den Erhalt des Familieneigentums, die tägliche Instandhaltung und Bewachung des Hauses sowie die Betreuung Alter, Kranker und Kinder. Damit geht es hier um eine dreifache Re/Produktionsarbeit: die biologische (Nahrungsmittel, Fortpfl anzung, Gesundheitsversorgung), der Arbeitskraft (tägliche Regeneration der Familienmitglieder) und die soziale (Weitergabe von Werten, Sitten, Gebräuche, Habitus, kulturelle Aufgaben) (2004: 74). Da sich Peredo Beltrán aber auf den lateinamerikanischen Raum bezieht, in dem andere Bedingungen und historische Voraussetzungen für die Haushaltsarbeit bestehen, verwende ich für den europäischen Raum die Definition von Geissler. 4 Zum Begriff der »Hausfrauisierung«, mit dem die Bielefelder Soziologinnen Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies und Claudia Werlhof Ende der 1980er Jahre die spezifische Entwertung, Prekarisierung und Feminisierung bestimmter Arbeitsbereiche bezeichneten, und seiner Anwendung auf den Kontext der Migration siehe Caixeta 2004: 7. 5 Zum Streit um diese Frage in der Sozialanthropologie siehe Langheiter 1989. 6 In der aktuell erschienenen Publikation zu ihrer breit angelegten Forschung über globalisierte Haushaltsarbeit äußert sich Helma Lutz sehr kritisch zu den mit der Frauenmigration einher gehenden Veränderungen von Geschlechterrollen und Familienmodellen, die in der gegenwärtigen Debatte als emanzipative Aspekte angeführt werden: »[D]ie Gendercodes der Herkunftsländer der transnationalen Migrantinnen ändern sich nicht automatisch dadurch, dass Mütter zu Haupternährerinnen der Familien werden. Die Übernahme der traditionell weiblichen Aufgaben ist weder in unserer Gesellschaft noch in den Herkunftsgesellschaften mit Gratifikationen verbunden. […] Die Praxis des motherblaming ist zudem weiterhin ein machtvolles moralisches Instrument, welches Mütter an ihre Pflichten erinnert und sie an ihre ›natürlichen‹ Aufgaben bindet. Statt des antizipierten Wechsels der Genderdkodierung in den Herkunftsländern gibt es vielmehr Anzeichen dafür, dass mit der weiblichen Migration eine genuine Krise des männlichen Selbstverständnisses verbunden ist (Versagen als Familienernährer, Alkohol- und Drogenprobleme etc.).« (Lutz 2007: 167 Hervorhebung im Original) 7 Eine ähnliche Logik findet man in Spanien, Italien und den USA. Elisabeth Aufhauser betont zu Recht das implizierte konservative Frauenbild: es wird davon ausgegangen, dass Frauen die Haushalts- und Erziehungsarbeiten weiterhin erledigen, obwohl die Realität gänzlich anders aussieht. Weil es die Grauzone, in der sich »Lösungen« eingespielt haben, erlaubt, an diesem Frauenbild festzuhalten, wird sie stillschweigend toleriert (2000: 114). 8 Um diesbezüglich von struktureller Gewalt zu sprechen, müssen die Ausgeschlossenen nicht, wie Schroer vorschlägt, auf ihre »nackte Existenz« reduziert sein, auf »bloße Körper […] die damit beschäftigt sind, wie sie den nächsten Tag erreichen und wie sie Gewalt und Hunger und Sexualität bewältigen können, also reine Körperphänomene« (Luhmann 1996 zitiert in Schroer 2004: 167).
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Frauenmigrat ion und Gewalt 9 Bridget Anderson erwähnt etwa das Säubern von Katzenanus und das mehrmals tägliche Schrubben des Bodens mit der Zahnbürste (2002: 108). 10 Ganz ähnliche Beobachtungen macht Lynn May Rivas zur Situation von persönlichem Pflegepersonal (personal attandents) in amerikanischen Haushalten, die ebenfalls in der Mehrheit Migrantinnen sind. Ihre These ist, dass die Rund-umdie-Uhr-Betreuung verunsichtbart werden muss, damit die meist schwer (bewegungs)eingeschränkte Person, die betreut wird, ihr Selbstbild als selbstsicherer, unabhängiger Mensch aufrecht erhalten kann – ein Bild, das ihrer Ansicht nach das Zentrum der amerikanischen Vorstellungswelt besetzt (Rivas 2002: 75). 11 Thiessen erwähnt auch die erstaunlich häufige Bereitstellung ausgedienter Unterwäsche als Putzmittel und insgesamt den steten Mangel an adäquaten Arbeitsgeräten und Reinigungsmitteln. Anderson berichtet vom Verbot von Handschuhen beim Wechseln der Windeln von inkontinenten Personen, die Zuständigkeit für das Betätigen der Klospülung für die Familienmitglieder und das Entfernen gebrauchten Papiers aus dem Abfluss (Anderson 1999: 120) und Hess beschreibt das Verbot für Au Pairs, am selben Tisch zu essen wie die Familie (Hess 2002: 106). All diese Hinweise können, wie es Anderson tut, als Erniedrigung und psychologische Gewalt gegen die statusmäßig unterstellte Andere gelesen werden. In der vorgeschlagenen Perspektive könnten diese Vorfälle aber auch auf damit verbundene Fragen nach Körperlichkeit, Reinheit und Intimität an der Schnittstelle von Öffentlichkeit und Privatheit verweisen.
Literatur Anderson, Bridget (2002): »Just Another Job? The Commodification of Domestic Labor«. In: Barbara Ehrenreich/Arlie Russel Hochschild (Hg.), Global Woman. Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy, New York, S. 104-114. Anderson, Bridget (1999): »Overseas domestic workers in the European Union: invisible women«. In: Janet Henshall Momsen (Hg.), Gender, Migration and Domestic Service, London, New York, S. 117-133. Anderson, Bridget/Phizacklea, Annie (1997): Migrant Domestic Workers: A European Perspective, Brüssel. Aufhauser, Elisabeth (2000): »Migration und Geschlecht: Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit in der internationalen Migration«. In: Karl Husa/Christof Parnreiter/Irene Stacher (Hg.), Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts? Frankfurt a.M., S. 97-122. Boidi, Maria Cristina (2003): »Frauenhandel. Das neue Gesicht der Migration«. In: Arbeitsgruppe Migrantinnen und Gewalt (Hg.), Migration von Frauen und strukturelle Gewalt, Wien, S. 53-68. 203
Barbara Grubner
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Medien – Macht – Histor izität
»Mythen im neuen Design«. Zum Kapitel »Medien – Macht – Historizität« Viktorija Ratković
»Die Medien haben nur wiederentdeckt, was sie schon vorher wußten: daß die Promiskuität mit den Führern und der Macht, mit ihren politischen Zielen perfekt funktioniert; sie haben entdeckt, was sie vorher vielleicht nicht wußten – die Dimension der eigenen Macht! Sie berauschten sich an der Gewissheit, daß die Lüge sehr leicht zur legitimen Wahrheit wird, an der Erkenntnis, daß das Volk mangels anderer Informationen denen glaubt, die ihm zur Verfügung stehen, daß es trotz der Existenz anderer Informationen denen glaubt, denen es glauben will, also seinen Medien, seinen Mythen in neun Design. […] Die (vom Regime und dem Führer ferngesteuerte) serbische Medienpropaganda erreichte schließlich, was sie wollte: die Entgegnung in den kroatischen Medien. Und als auch die kroatischen Medien voll waren von Geschichten über ›Halsketten aus Fingern kroatischer Kinder‹, die von serbischen ›Schlächtern‹ getragen würden – da konnte der eigentliche Krieg beginnen.« Ugrešiþ (1995)
Der Kampf um Bedeutungen als Kampf um die Macht steht im Zentrum dieses Kapitels. Mit Hilfe verschiedener Ansätze und unterschiedlicher Blickwinkel wird die Rolle der Medien – die in besonderer Weise dazu da sind, Bedeutungen zu konstruieren, sichtbar zu machen und zu transportieren – analysiert. Ingvild Birkhan, Brigitte Hipfl, Anna Bergmann und Anna Schober, die in ihren Beiträgen vielfach historische Bezüge herstellen, gelingt es aufzuzeigen, dass Medien nicht erst heute, im so genannten
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Informationszeitalter, einen entscheidenden Schauplatz der Auseinandersetzung um Hegemonie darstellen.
Die Rolle der Medien Medien sind im ursprünglichen Sinne des Wortes Vermittler. Sie liefern uns Informationen über die Welt, in der wir leben. Sie lassen uns allerdings keineswegs sehen, wie die Welt ist, sondern wie sie die Welt sehen. Einerseits liegt dies im Wesen der Medien begründet: Die Kamera kann sich etwa nur auf einen bestimmten Punkt konzentrieren und in drei Minuten lassen sich nicht alle Hintergründe und Details eines Konfliktes beleuchten. Andererseits werden die Inhalte der Medien von Menschen bestimmt und gestaltet, die ihre Erfahrungen und Urteile in die Arbeit einbringen. Obwohl Medien als Teil der Kultur zu sehen sind, erhalten sie ihre Bedeutung gerade aus der Tatsache, dass sie Kultur (mit-)produzieren und einer der zentralen Orte des Kampfes um Dominanz sind. Was Medien aber potentiell sehr gefährlich macht, ist ihr Machtpotential, die Tatsache, dass sie bewusst – oder unbewusst – eingesetzt werden können, um zu manipulieren: Jene, die über Informationen verfügen und die Medien kontrollieren, verfügen über Macht. Gerade in Kriegen wird uns diese Macht der meist Wenigen deutlich vor Augen geführt, und es stellt sich die Frage, auf welche Seite sich die ProduzentInnen von Informationen schlagen. So stieß der Einsatz der »Embedded Journalists« in den aktuellen Kriegen auf viel Kritik, weil hier besonders augenscheinlich wurde, wie leicht JournalistInnen von den MachthaberInnen abhängig gemacht werden können und wie stark diese Abhängigkeit mancherorts ist. Eine kritische Distanz zu den MachthaberInnen ist allerdings nicht erst im Kriegsfall notwendig, um so etwas wie »neutrale« und ausgeglichene Berichterstattung gewährleisten zu können. Wenn die in den Medien verwendeten Bilder, Stereotype und Urteile weder hinterfragt noch umsichtig eingesetzt werden, laufen Medien und ihre ProduzentInnen schnell Gefahr, zu den einflussreichsten Betreibern des »Vorkrieges« zu werden (siehe die Einleitung zu diesem Band).
Der (histor ische) Kampf um Macht Die Auseinandersetzung mit dem Kampf um Bedeutungen und damit um Macht ist allen Beiträgen dieses Kapitels gemein. Die Autorinnen gehen allerdings von durchaus unterschiedlichen Voraussetzungen aus und beleuchten verschiedene Konsequenzen. Ingvild Birkhan wählt in ihrem 210
Zum Kapitel »Medien – Macht – Histor izität«
Artikel »Ausschlüsse im religiösen und säkularen Kontext. Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt« einen historisch-philosophischen Ansatz, um die schwer darstellbare Kausalbeziehung zwischen den Medien, dem Monotheismus und dem Patriarchat aufzuzeigen. Die Einführung des neuen Mediums Buch und der neuen Religion des Monotheismus sowie das damit verbundene Bilderverbot werden hier als Zäsur im Geschlechterverhältnis, d.h. als wichtige Momente der Einführung bzw. Festigung des Patriarchats beschrieben: Indem Frauen (und Nicht-Gläubigen) der Zugang zum Buch verwehrt wurde, wurden sie auch von der Macht ausgeschlossen. Die Monopolstellung der Männer hat dabei weit reichende Konsequenzen: Frauen werden nicht nur im Rahmen der Religion ausgeschlossen, vielmehr führt die Eigenlogik des Monotheismus mit seinem Bilderverbot zum Ausschluss von allen »Anderen«. Dieser Ausschluss ist allerdings keineswegs als rein historisch zu sehen, vielmehr zieht er sich – wie Birkhan aufzeigt – durch die Neuzeit, von der Auf klärung bis hin zur Gegenwart. Ähnlich geht auch Anna Bergmann vor: In ihrem Artikel »›Neue Männer braucht das Land …‹, ›…die neue Freiheit kam mit Lippenstiften …‹:« lenkt sie die Aufmerksamkeit auf »die Darstellung von Gewalt und Geschlechterbildern in der westlichen Berichterstattung über den Afghanistan- und Irakkrieg«. Ihre Analyse zeigt auf, dass die Stereotypisierungen, die in den westlichen Medien schon im Ersten Weltkrieg auf nichtweiße Soldaten angewendet wurden und die sich nun in der aktuellen Medienberichterstattung zum Afghanistan- und Irakkrieg wieder finden, als gemeinsames Element die kulturelle Entwertung von Frauen beinhalten. So kann sie nachweisen, dass heute in westlichen Medien afghanische Soldaten teilweise so dargestellt werden, wie Frauen früher generell dargestellt wurden: als ungebildet oder den (westlichen) Männern nicht ebenbürtig. Hier wird deutlich, dass aktuelle Medien in ihren Berichten laufend auf Bilder und Stereotype zurückgreifen, die im westlichen kulturellen Gedächtnis verankert sind. So werden etwa Taliban-Kämpfer mit Ungeziefer verglichen und gleichgesetzt; es wird also eine Metapher verwendet, die schon in der nationalsozialistischen Propaganda zur Rechtfertigung der Ermordung der jüdischen Bevölkerung dienen sollte. Ihre Relevanz erhält diese Offenlegung historischer Verankerungen der heute transportierten Inhalte in den Medien insbesondere dadurch, dass sie ein tieferes Verständnis aktueller Konflikte ermöglichen kann. Obwohl sie ebenfalls den Blick auf die Vergangenheit richtet, bewegt sich Brigitte Hipfl in ihrem Beitrag »Kultur und Konflikt: Lektionen der Cultural Studies« auf einer anderen Ebene. Die Autorin betrachtet die Cultural Studies als Beispiel für produktive Auseinandersetzung mit Konfl ikten: Zum Einen werden die Konflikte der VertreterInnen der Cultural Studies 211
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mit den WissenschafterInnen, die Kultur als »Hochkultur« definieren, geschildert, zum Anderen wird auf die Konflikte innerhalb der Cultural Studies selbst eingegangen. Insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen den VertreterInnen der Cultural Studies machen deutlich, dass der Kampf um Bedeutungen nicht als abgehobene wissenschaftliche Arbeit gesehen werden kann, vielmehr hat dieser Kampf auch praktische Auswirkungen auf unser aller Selbstverständnis. Gerade weil die Auseinandersetzungen nicht rein theoretisch geführt wurden, war die Identität der Beteiligten betroffen. Bei wissenschaftlichen Diskussionen wird – so Hipfl – folglich nicht lediglich über Diskurse, sondern auch um die darin enthaltenen Subjektpositionen gerungen, weswegen Angriffe auf diese Subjektpositionen auch als Bedrohung der eigenen Identität erlebt werden können. Hipfl schlägt vor, die Cultural Studies als »eine Praxis der Spannungsverhältnisse« zu sehen, die Ansatzpunkte zum Verständnis des Zusammenspiels von Kultur und Konflikt liefern. Konflikte werden, unter einem anderen Gesichtspunkt, auch in Anna Schobers Beitrag »Ästhetische und politische Taktiken in einem Gefüge aus Gesten, Blicken, Bildern, Gefühlen und Blindfeldern« thematisiert. Schober verwendet den Begriff »Konflikträume« und versteht darunter soziale Räume, die von verschiedenen AgentInnen gemeinsam produziert werden, wobei laufend Auseinandersetzungen um Macht und Bedeutung stattfinden. Gerade weil sie nicht von einzelnen Menschen kontrolliert werden können, haben in »Konflikträumen« auch jene, die traditionell mit wenig Macht ausgestattet sind, die Möglichkeit, sichtbar zu werden und Aktionen zu setzen. Die Autorin zeigt konkrete Handlungsmöglichkeiten auf, wie etwa Aktionen von KünstlerInnen, die das Potential haben, herkömmliche Zuordnungen zu irritieren. Beispielhaft schildert sie dies anhand der serbischen KünstlerInnengruppe Škart, die Flüchtlingsfrauen die Gelegenheit zur öffentlichen Präsenz gab, indem sie sie bei der bildlichen Darstellung ihrer Wünsche und Ängste unterstützte.
Verzicht auf Messer? Anna Schobers Ansatz eröffnet eine neue Perspektive, indem er die Möglichkeit der Veränderung (von sozialen Räumen) von unten her beleuchtet. Er beantwortet auch die Frage, ob jene, die traditionell mit wenig oder keiner Macht ausgestattet sind, jemals Macht erlagen können – eine Frage, die sich beim Nachdenken über Macht zwangsläufig ergibt. Obwohl die Analyse von aktuellen Massenmedien aufzeigt, dass Rudolf Gerhards Aussage, dass der »Kampf mit Medien […] wie ein Kampf um ein Messer sein [kann], von dem der eine den Griff in der Hand hält – und der andere die Klin212
Zum Kapitel »Medien – Macht – Histor izität«
ge« (Gerhardt 2000: 190f.) auch heute größtenteils zutrifft, ergeben sich beispielsweise durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien immer mehr Möglichkeiten und Wege, diesen Kampf, wenn schon nicht zu gewinnen, so doch zu umgehen. Die Produktion »alternativer« Medien oder Ansätze des Friedensjournalismus führen vor Augen, dass es in Zukunft immer weniger darum gehen könnte, wer das Messer in Händen hält, sondern vielmehr darum, auf den Gebrauch von Messern in der Auseinandersetzung zu verzichten – ganz im Sinne einer Kultur des Friedens.
Literatur Gerhardt, Rudolf (2000): Journalisten: Besser als ihr Ruf? Plädoyer für einen gefahrengeneigten Beruf. In: Rudolf Gerhardt/Hans-Wolfgang Pfeifer (Hg.), Wer die Medien bewacht. Medienfreiheit und ihre Grenzen im internationalen Vergleich. Frankfurt a.M.: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Abt. Verlag. Ugrešić, Dubravka (1995): Die Kultur der Lüge, Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp.
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Ausschlüsse im religiösen und säkularen Kontext bedenken. Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt Ingvild Birkhan
Religion – Medialität – Geschlecht als Schlüssel zum Verständnis heutiger Konfliktlinien Das Konzept Kultur & Konflikt rückt uns in einen bestimmten Bedeutungsrahmen. Stichworte wie kulturwissenschaftliche Gesellschaftsanalyse, Gender, Fremde sind wir uns selbst, Hybridisierung und Globalisierung tauchen auf – und damit die Landschaft mannigfaltiger kultureller Koexistenzen im gegenwärtigen Begegnungsraum. Es erscheint eine Globalisierungsdynamik, die sich weithin unter säkularen Vorzeichen vollzieht und überwiegend von da her gedacht wird. Wenn in der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung die Vielfalt von Kulturen im Globalisierungsprozeß angesprochen wird, nimmt das Prinzip der Achtung und der Anerkennung der Produktivität von Unterschieden einen hohen Stellenwert ein (siehe bes. Kreff 2003). Diese positive Vorgabe für den Austausch und das Miteinander im Sinn von Dialog/Polylog (vgl. z.B. Polylog 2005)1 stößt in der gesellschaftlichen Realität wiederholt auf schroffe Ablehnung. Das geschieht nicht nur, weil unvereinbar scheinende Werthaltungen auftauchen, sondern auch, wenn etwa die Offenheit der Grenzen angsterregend wirkt. Brennpunkte für Konflikt und Gewaltsamkeit im Horizont von gender, race, class aufzusuchen, ist zweifelsohne eine entscheidende Perspektive. Vielfältige weitere Problemebenen wären zu nennen: Nicht-Anerkennung bestimmter Sprachen, traumatische Wirkmacht historischer Ereignisse, Zerstörung von Orten der Toten (vgl. den Beitrag von Karin Liebhart in 215
Ingv ild Birkhan
diesem Band), Missachtung religiöser Symbole oder Verletzung von Tabus, die über politisch-soziale Grenzziehungen hinweg beispielsweise als Signifi kanten einer neuen Epoche fungieren. Im Globalisierungskomplex stellt die Auseinandersetzung mit Religionen eine zunehmende Herausforderung dar. Säkularität und Religiosität stehen nicht selten in einem prekären Differenz- und Spannungsverhältnis. Wie könnte auch eine schlüssige argumentative Architektonik aufgebaut werden, wenn um Antworten auf Sterblichkeit gerungen wird oder um die unheimliche Welt der Toten und der Erinnerung – Komponenten, für die speziell der religiöse Raum mit seiner Semantik einstehen soll (siehe Assmann 2000). Das säkulare Feld aber hat eigene starke Verbindlichkeiten geschaffen, die wesentlich über Menschenrechte, Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichstellung der Geschlechter, Demokratie, internationale Verträge, wissenschaftliche Argumentation etc. verlaufen und universelle Geltung beanspruchen. All das heißt nicht, dass religiöse Machtzusammenhänge aufgehört hätten, die Gesellschaften mitzugestalten. Die mir vorgegebenen Problembereiche führen unabdingbar auch in den Raum religiöser Bindung. Damit ist die Tür geöffnet zu einem Dispositiv kultureller Identität, das von religiöser Tradition mitbestimmt ist (siehe den Beitrag von Alice Pechriggl in diesem Band). Es ist von mir eine doppelte Linienführung vorgesehen. Da, wo sich die beiden Linien im Zuge transformativer Vorgänge deutlich verschränken, setze ich an. Zum einen wird die Linie der konfliktträchtigen Anordnungen der Geschlechterpositionen auch mit Blick auf patriarchale Momente in Betracht gezogen. Zum anderen betriff t die Thematik die Gestalt des religiösen Imaginären in seiner diachronen Wirklichkeit. Der kürzlich aktuelle (von Dänemark ausgegangene) Bilderstreit, der vehemente Erschütterungen und Proteste ausgelöst hat (vgl. Der Spiegel, Nr. 6/6. 2. 06) kann Anlassfall sein, den wichtigen Hintergrund von Bildverwerfung zu beleuchten. Neben dem Konzept des Austausches und der synchronen Verräumlichung, in dem multikulturelle/interkulturelle Diskurse sehr wesentlich angesiedelt sind, hat sowohl für den Umgang mit der Differenz der Geschlechter als auch für die Bildthesen eine Hinwendung zur Perspektive der Verzeitlichung zu erfolgen. Dass es sich angesichts der Rede von religiöser Identität namentlich auch um Übereinkunft im Feld gemeinsamer Todesmetaphorik handelt (bes. Macho 1987), ist ein Faktor, der in diesem Beitrag nicht explizit ins Licht gerückt wird. Mein Themengeflecht führt also in die zeitliche Tiefe, und ich gehe bewusst von einem geschichteten Zeithorizont aus, um das Faktum einer kulturellen Wende beziehungsweise Revolution als solcher anzusprechen und das Konzept von ›Differenz und Wiederholung‹ (Deleuze 1992) in 216
Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt
seiner Produktivität auch Richtung Erneuerung und Zukunft hervorzuheben. Auf diese Weise ist, konflikttheoretisch gefragt, das Potential für Handlungsalternativen durch Re-Lektüre evoziert. Den Schwerpunkt für meine Fragestellungen bildet die alttestamentarische Zäsur Richtung Monotheismus. Hinsichtlich der monotheistischen Entfaltungen konzentriere ich somit den Blick auf diejenige Monotheismusform, die rigoros ein Bilderverbot in den Vordergrund gestellt hat und zugleich eine beachtenswerte Geschlechter-Neuordnung impliziert, die nachhaltige Wirkung zeitigte. Letztere ist maßgeblich in den Rahmen patriarchaler Machtkonstellationen gefasst. Die mit der bezeichneten Zäsur hervortretende bestimmende Instanz im religiösen Kontext fordert unbedingte Anerkennung ihrer souveränen Macht und signifi kanten Autorschaft bezogen auf die (schriftliche) Gesetzgebung. Sie versteht sich als Entgegensetzung zu einem polytheistischen Modell, das sie gleichwohl ihrer Genese nach wesentlich voraussetzt, und sie verwirft dessen Bildgebundenheit einschließlich dazugehöriger Rituale und Herrschaftskonzepte. Der Imperativ der sich selbst setzenden und aussagenden Instanz ist strikt.
Polytheismus- und Bilder verbot Das Polytheismusverbot und das Bildtabu ergeben, wie sogleich erörtert werden soll, einen Konnex und gehören beide zum Zentrum der Innovation. Inwiefern die differentielle Geschlechterordnung dieser Topologie der distanzierenden und verwerfenden Akte zugehört, thematisiere ich ein wenig später, um als Ausgangsfrage vorerst den religiösen Bilderstreit zu beachten und zu beleuchten. In unmittelbarem Nebeneinander finden sich beide Postulate in der Dekalogfassung des Deuteronomiums 5, 7 und 8: die Verpflichtung auf den Einen und dann sogleich: »Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt.« Zuvor heißt es schon 4, 16: »[…] macht euch […] kein Abbild eines männlichen oder weiblichen Wesens.« Da der Exodus die Schlüsselsituation darstellte, hatte das Konzept der Herauslösung aus der religiös-imaginären Welt Ägyptens konstitutive Bedeutung. Und es war zunächst die ägyptische Bildkultur und das ägyptische Prinzip der Repräsentation, sofern es in erheblicher Weise Bilder zu Herstellung der Beziehung zu Verstorbenen und Gottheiten einsetzte, das verbannt und überschrieben werden musste (vgl. bes. auch Assmann 2003). In der Folge sind die Bildwerke aller ›Heiden‹ gemeint. Und das Tabu der Bildhaftigkeit selbst wird ausgedehnt. Mein Referenztext für diese weiteren Differenzierungen ist wieder Deuteronomium 4, 16-20, wo es 217
Ingv ild Birkhan
heißt, dass auch keine bildliche Darstellung zugelassen sei vom »Tier auf dem Land« und »Fisch im Wasser« etc., denn die Bilder seien »zugewiesen allen anderen«. Beachten wir den Verweisungshorizont ›alle andere‹ im Zusammenhang der Eigendynamik des neuen Prinzips. Der Wahrheit der einen Autorität und ihren Ansprüchen ist Bildsignifi kation nicht angemessen. Dass der Bildaskese-Imperativ bisweilen an Striktheit eingebüßt hat, und aus welchem Grund die christlichen Prämissen vollends eine Art Wiederaufnahme der Bildlichkeit gewährten, wenngleich von ikonoklastischen Phasen unterbrochen, das bleibt im Augenblick ausgeblendet (siehe v.a. Belting 1990). Der bisherige Akzent der genealogischen Analyse wollte in Kürze verdeutlichen, wie grundlegend die Forderung der Nicht-Verbildlichung in einem bestimmten Kulturmodell verankert ist. Der in der Jetztzeit entbrannte Streit angesichts der Mohammed-Bilder hat von da her Tiefendimensionen, die das Register der Emotionalität und des Handelns mit beeinflussen. Die jeweilige Kontingenz von Anlässen und Motiven, die bei konkreten Entscheidungen eine Rolle spielen, sei keineswegs in Abrede gestellt. Dennoch wird es für die Arbeit der Konfl iktbewältigung sehr relevant sein, auch um solche tiefendimensionale Aspekte und nichtkontingente respektive weniger kontingente kulturelle Vorgaben und Dispositionen zu ringen. Den Ausbau des Polylogs im breitgefächerten kulturellen Weltbezug und Zusammenleben zu befürworten, das ist naheliegend und sagt sich leicht. Die laufenden sogenannten Integrationsdiskurse zeigen allerdings, wie schwierig und mehrdeutig die Sachlage und die Begriffe sind. Vielleicht hätte ein intensiver Dialog/Polylog im erwähnten Karikaturenstreit bei der Konfrontation von religiösem Verbot bildlicher Konkretion versus säkularer Pressefreiheit aber doch Gewalt hintangehalten und möglicherweise im Schnittpunkt des Dilemmas eine symbolische Verabsolutierung der Perspektiven abgefedert.
Monotheismus – Buch – Ausschluss der Frau Damit verlasse ich den Bilderstreit und sammle Bausteine für einen Brückenschlag zur Genderperspektive, wie sie unter den Auspizien des genannten religiösen Umbruchs hervortritt (siehe den Beitrag von Roswitha Scholz in diesem Band). Die polyzentrische ›heidnische‹ Logik war im Hinblick auf andere Kulturen und deren religiöse Imaginationen und Institutionen in hohem Maß dem Prinzip der Entsprechung und Übertragung gefolgt. Das römische 218
Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt
Imperium etwa wollte seine strukturierenden Gottheiten, ihre Machtdomänen und Bilder auch in der griechischen oder gallischen Semantik finden. Beachtenswert ist, dass die polytheistische Topologie mit ihren Bildformationen zum einen durchaus gewisse Identität und Konstanz bot und zum anderen ein widersprüchliches, bewegtes, Tod und Geburt umgreifendes Austausch- und Beziehungsnetz repräsentierte, ob nun figurativ wiedererkennbar in Stein gebannt oder mit Texten und rituellen Performanzen verknüpft oder narrativ in Jenseitsvorstellungen und Kosmologien eingelassen. Zudem waren sie regional oder zentralisierend eingesetzt, verbunden mit Rechtskonzepten oder Frieden/Krieg-Anordnungen oder Beleuchtung kultureller Erfindungen wie etwa der Schrift. Die zur Diskussion gestellte Monotheismusform, die bestrebt war, sich dezidiert aus der Welt der Bilder herauszureißen, hatte damit eine Eigenlogik entfaltet, die, wie erwähnt, sich ›allen anderen‹ entzieht. Sofern die Zerstreuung von Instanzen und ihre repräsentative Anwesenheit vermittels bildlicher Darstellungsform einem Verbot unterstellt wurde, war dem Ansatz nach ein weitreichender Kulturkontext außer Kraft gesetzt und abgelehnt. Ohne Zweifel war damit ein Riss, eine Leere, ein Freiraum geschaffen. Meine Lesart betont, dass mit dem skizzierten Schritt und seiner Anerkennung in einzigartiger Weise die Möglichkeit gegeben war, dass fester Erinnerungstext und Gesetz, Buch und Schrift in den Vordergrund treten (vgl. Birkhan 2001). So gesehen ein wichtiges utopisches Moment in der Bildaskese. Dem Akzent nach war es auch ein Wechsel im Medium. Schrift als Technologie anzusprechen, die insbesondere eine herrschende Klasse oder ein herrschendes Geschlecht zur Machterweiterung nützen kann, das zu erwägen hat Relevanz, griffe aber hier zu kurz. Ich will hervorheben, dass es bei dieser wichtigen Inanspruchnahme von Schrift auch um die Setzung des Buchs der Bücher, für sich genommen, geht – in diesem Sinn ein revolutionärer Akt. Das Soziale ist gleichsam in Schriftform, in Buchform gebannt. Auch die Präsenz des Buches als Symbol für die Versammlung hat Gewicht. Zweifelsohne bleibt darüberhinaus die Schrift als Schrift in ihrer Bedeutsamkeit in meinen Ausführungen zu sehr im Hintergrund. Die Bestimmungen, die Derrida zum Begriff der Schrift vorgebracht hat, führen in die Tiefe und bieten neue Perspektiven (z.B. Derrida 1988 und eine bemerkenswerte Weiterführung des Konzepts der Offenheit der Schrift bei Schäfer 2006). Und wo für ein kanonisiertes Buch unantastbare Geltung beansprucht wird, da könnte das Konzept des offenen produktiven Weiterschreibens die Fixierungen hintergehen, um, im Sinn der Methode kreativer Wiederholung und Verschiebung, die reale Macht von Virtualität einzubringen. Mit deutlichem Akzent auf die Auseinander-Setzung der Geschlechter hat von Braun Dimensionen der Schrift, auch ihr Hervor219
Ingv ild Birkhan
treten und die differenten Ausformungen in den verschiedenen Kulturen, beleuchtet (für Ausführungen dazu siehe etwa von Braun 1985). Eine Transformation des Patriarchats im Kontext dieser Wende zum entscheidenden Buch zu verzeichnen, hat meines Erachtens Berechtigung, besagt aber keineswegs, dass patriarchale Logik im mythischen Denken respektive in Religionen, die nicht als Buchreligionen auftreten, nicht wirksam wäre. Dieses Gesetz aber und die Schrift – die einen Halt, eine Identitätsachse bieten –, sind maßgeblich in die Hand von Männern gegeben. Sie sind die Adressaten, die überwiegend Erinnerten, die eigentlich Angesprochenen und Beauftragten, vor allem, wo es um den Wir-Gehalt im öffentlichen Raum zu tun ist. Frauen war/ist hier der wichtige Zugang verwehrt, auch zum kanonisierten Buch. Sollen wir sagen: ein Abbruch, ein Scheitern der Inter-Gender-Kommunikation? Jedenfalls eine Zweiteilung und eine bedeutsame Abwesenheit der Frauen. Die Gemeinsamkeit und Konsistenz der Männer basiert auf dem heiligen Buch, dem sie unterstellt sind und in dessen Geltungszusammenhang sie fest eingebunden sind. Das Gemeinsame der Frauen wäre, dass sie ohne wichtigen Zugang im Außerhalb stehen? Damit bin ich schon mitten im Genderproblem und will zunächst andeuten, dass mit dieser Wende noch über die generell fassbaren Kennzeichnungen patriarchaler Ordnung wie Patrilinearität und -lokalität oder Brautgabe etc. hinaus, eine außergewöhnliche Neukonstitution der weiblichen versus männlichen Seite an Profi l gewonnen hat. Mein Rückgriff auf die erörterte Zäsur der religiösen Semantik zielt auf eben diesen archimedischen Punkt, von dem her es möglich wurde – nicht zuletzt über ganz bestimmte Formen der Ab- oder Anwesenheit, des Aus- oder Einschlusses von Frauen – Raum und Zeit und soziosymbolisches Zusammenspiel neu zu organisieren, wobei das Modell wie gesagt durchaus in einem patriarchalen Rahmen gefasst ist (siehe u.a. Birkhan 1992). Die gewohnte Entgegensetzung Poly- versus Monotheismus beleuchtet für die Gendersituation kaum, in welchem Ausmaß durch den Einsatz dieses spezifischen Prinzips des Einen die Geschlechterrollen in eine neue Umlauf bahn geraten sind. Damit soll nun keineswegs darüber ein Urteil gefällt sein, ob sich in verschiedenen anderen religiösen Kulturen nicht ähnliche entscheidende Bruchlinien ausmachen ließen. Vielleicht verlaufen verschiedene Ausformungen der sogenannten Achsenzeit wesentlich über die Hintanstellung und Destruktion der Frau als signifi kanter Kulturträgerin. Mein Anliegen bezieht sich auch auf die Gedächtniskultur, denn für die Gründung dieses Monotheismus ist das Verbot der Bilderwelt und der Poly-Anordnungen klar und direkt benannt. Weitaus verdeckter bleibt, wie entscheidend der Weg über eine paradigmatische Sexuierungsform und 220
Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt
Gender-Trennlinie verläuft. Sogar in geachteter Kulturtheorie der Gegenwart geschieht es – ähnlich wie bei Freud –, dass da, wo diese Wende ausführlich erkundet wird, die genderspezifische Grenzziehung und damit das Drama der Neupositionierung, insbesondere der weiblichen Seite, als einer zentralen Implikation übergangen wird. Führen solche Streichungen oder Lücken in unserer Gedächtniskultur nicht zu einer einseitigen Fortschreibung bestimmter Machtverhältnisse und damit eben nicht in Richtung einer Konfliktlösung? Ein Ansatz, der sich primär die Frage nach dem kulturell Erinnerten in seiner Positivität stellt, wird dem Ausgeschlossenen und Vergessenen nicht gerecht. Die Machterwartung des Einen und weitere wichtige symbolische Universalisierungsschritte und Sinnbildungsprozesse in seinem Namen definieren das Verhältnis oft genug auch im säkularen Raum so, dass angesichts von Feldern wie Wahrheit versus Nichtwahrheit, sinngebende Sprache/Schrift versus Sprachlosigkeit, Wissen versus Unwissenheit etc. die weibliche Seite dem Nicht-Moment, gleichsam dem Nichts, zugehört. Ihr, der Frau, war wiederholt die abgründige Repräsentanz dieser Negativität übertragen worden. Dazu kommt, dass besonders im Zusammenhang mit Frauen weiterhin eine ambivalente Attraktion der Bildmacht und beunruhigende Vielfalt konstruiert wurde. Mit den letzten Sätzen und Begriffen wurde antizipiert, was feministische Theoriegebäude und Analysen in den letzten Jahrzehnten besonders eindringlich und umfassend zur Sprache gebracht haben. Diese Aussage erscheint ›negativ‹, doch die Thematik bezeugt zugleich einen tiefgreifenden Auf bruch (vgl. insbes. de Beauvoir 1992; Irigaray 1980; Nagl-Docekal 2000).
Patr iarchat – Logozentr ismus – Säkular isierung Das Interfakultäre Forschungsnetzwerk Kultur & Konflikt nimmt selbstredend seinen Ausgang vom sogenannten europäischen Weg und dessen Säkularitätsgestalt. Nun geht es darum, die Dynamik, die von dem deutlich religiösen Apriori weggeführt hat, explizit – wenn auch völlig umrisshaft – darzulegen. Für die Erschütterung, die hinsichtlich der longue durée der autoritativen Buchordnung im christlich-europäischen System eingetreten ist, richtet sich der gebündelte Blick auf die neuzeitliche Wende. Individuelle Autonomie und Macht und staatliche Autonomie und Macht sind im Aufschwung. Erobernde Expansion und der verstärkte Ausbau einer kapitalistischen Wirtschaftsform charakterisieren die profane Welt ebenso wie der konsequente methodische Neuansatz in den Wissenschaften, im 221
Ingv ild Birkhan
Besonderen im naturwissenschaftlichen Feld. Und die deutlichere Eigenständigkeit der Philosophie und der Kunst gehören unabdingbar zur Genese des säkularen Subjekts. In vielen Bereichen erfolgt ein Rückgriff auf die nicht-christliche Antike und die einflussreiche Aufnahme derselben in die kulturelle Erinnerung. Die Postulate der praktischen Vernunft schaffen Orientierungen, die eine Entflechtung und Unabhängigkeit von der souveränen autoritativen Anordnung erlauben. Auch die Kirche selbst unterliegt von da her motivierten Spaltungen. Erneut sollen Streiflichter auf die Genderdiskurse fallen. An dieser Stelle unter dem Gesichtspunkt, ob und wie Hegemoniekonzepte aufgebaut und legitimiert wurden, als nun etliche Knoten der religiös-patriarchalen Autoritätsbindung gelockert waren. Hat die Gesellschaft sich für aktives kreatives Mitwirken der Frauen geöff net? Das pädagogische Regime, die hierarchische Formation der Ehe, die Einschränkung der Bildungsmöglichkeit, um nur einiges zu nennen, künden weit eher von Schattenseiten, als dass sie Sternstunden der Interaktion ahnen lassen. Dazu kommt die Art und das Ausmaß der Hexenverbrennungen, die überwiegend in die Neuzeit fallen und von Kirche und Staat gemeinsam gerechtfertigt und durchgeführt wurden. Aus dieser Wüste der Gewalt führte damals kein Ausweg (siehe Birkhan 1993). Das Ringen gegen die Frauen steht nicht zuletzt auch im Zeichen der ihnen zugeschriebenen Bildmacht und ihrer exzentrischen Einbildungskraft, die in den Diskursen rund um die Prozesse beschworen wird. Die Akkumulation der Macht bindet sich wie gesagt nun stärker an eine androzentrische Logik der Praxis. Für die Bannung der sexuellen Differenz aber existiert hier ein unheimliches Zusammenspiel zwischen kirchlich-autoritären und säkularen Männerwelten. Und das religiöse Patriarchat hat sich in der Moderne auch weiterhin strukturelle Machtmöglichkeiten im säkularen Kontext erhalten, die ihm bis in die Jetztzeit erlauben, Grundrechte der Verfassung speziell in Hinsicht auf die Frauen außer Acht zu lassen. Im weiteren Verlauf der Moderne erarbeitet die Ordnung der Brüder ihr universelles revolutionäres Aufklärungspostulat der Gleichheit und Freiheit – primär im Rahmen der Brüderlichkeit. Dass die Revolution nicht stattgefunden habe, ist darum eine Lesart selbst-bewußter Frauen in Anbetracht der Verweigerungsgeste der Französischen Revolution, die weiblichen Menschen in die demokratischen Subjektivierungsformen einzubeziehen. Es sind folglich in erster Linie Frauen, die sich hiermit für das Allgemeine einsetzen (dazu etwa Pellikaan-Engel 1992). Durch eine kurze erneute Drehung zur Bilderfrage – nun der Auf klärungszeit – und ein Hinhören auf Thesen Kants, bezogen auf die Domäne der Kunst, erfahren wir, dass die Bildlosigkeit auf das Erhabene und wei222
Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt
ters auf Männlichkeit zu beziehen sei. Für die Größe und Bedeutung dieser Forderung verweist der Philosoph ausdrücklich auf das mosaische Gesetz. Weiblichkeit hingegen verknüpfe sich mit Bildhaftigkeit. In Verbindung damit klingt die Botschaft an, dass wahrhaft moralisches Handeln – das im Kunst-Erhabenen fassbar um Ausdruck ringe – nicht Sache der Frauen sei (bei Kant 1974; weiters siehe Bovenschen 1979 und Eiblmayr 1993 zum Bildsein der Frau und zur Ästhetik des Erhabenen Pena Aguado 1994.). Die säkularen Begründungsversuche zur dichotomisch ausgrenzenden Geschlechterspaltung wollten dieselbe weitgehend in der Natur verankert wissen – bis hin zum Differenzstatus Natur versus Kultur und bis hin zur These, der Frau sei Kulturfähigkeit abzusprechen respektive ihr Beitrag zur Kultur gehe gegen Null (besonders zu denken wäre hier etwa an Freud oder Weininger oder Strindberg). Der Manifestation aktiver Kreativität der einzelnen Frauen wiederum wirkt dieses signifizierende Ordnungssystem radikal entgegen, indem Kinder schon früh über Körperwahrnehmung die differentielle Norm internalisieren müssen und damit das weibliche Kind sich einen defizienten Modus des Menschseins gleichsam einverleibt. Für das politische Handeln und für die Genderforschung war die Naturalisierung der Rollen und ihre körperliche Festschreibung ein wichtiger Stein des Anstoßes. Besonders vehement hat bekanntlich Butler im Sinn der Genderkonstruktion das Thema entscheidender Denaturalisierung – auch der heterosexuellen Norm – benannt und umkreist (vgl. Butler 1990). Die Enteignung der kulturellen Mitwirkung verleiht der Frau andererseits aber eine Position und Bedeutung, die sie zum bedrohlichen und bedrohten Körperding werden lässt. Es sind dies traumatische Dimensionen, die nicht selten – ganz explizit etwa bei Valie Export – als Brennpunkt künstlerischer Arbeit aufgegriffen werden. Mit dem Vorrang der monotheistischen Sinnformation war der symbolische Status der heterosexuellen Zwei dem neuen Prinzip untergeordnet worden. Dass innerhalb dieser Zwei die weibliche Seite noch einmal hierarchisiert war, ist für sich genommen ein gravierendes Faktum. Doch im Rahmen des Globalisierungskontextes führt für mich die Unterordnung der Zwei selbst und die zusätzliche Subordination einer Seite zu einer weiteren Überlegung, die in die Frage mündet: War mit dieser Zwei nicht auch die grundlegende Zwei ausgeblendet respektive unterwandert, die als Prinzip der Differenz im Sinn der Eröff nung von Unterschied und sich fortschreibender Mannigfaltigkeit gelesen werden kann (vgl. zu Fragen der Differenz bes. auch Kimmerle 2000).
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Ingv ild Birkhan
Anerkennung des Anderen Eine maßgebliche Verdunklung und Dezentrierung der weiblichen Seite konnte und kann in meinen Augen den Anerkennungsweg zum Anderen verstellen – auch zum Denken des Anderen. Für die Art und Weise, wie auf das Andere im Sinn des Unterschieds, eben auch des kulturellen Unterschieds, geantwortet wurde, ist die Formierung der Geschlechteranordnung selbstredend aufschlussreich. Ich hole ein wenig aus, indem ich frage, ob es angesichts der erörterten Dezentrierung – sowohl im religiösen als auch im säkularen Kontext – erstaunlich ist, wenn die Frau schließlich nicht nur als Natur, sondern auch als dunkler Kontinent, als die Andere, als die Fremde erfahren und bezeichnet wurde (dazu ausführlich u.a. Rohde-Dachser 1991; Kristeva 1990; List 1993). Und diese Wahrnehmung war mit der Vorgabe verflochten, Beherrschung und Enteignung zu erstreben – Handlungen und Vorgänge, die sich auch mitten durch den Alltag ziehen. Im Herzen des gesellschaftlich-geschichtlichen Binnenraumes konnte also die Frau eine innere Grenze bedeuten und das Bild dafür abgeben, wie kolonialisierend der Natur und dem Fremden zu begegnen sei. Der Umgang mit fremder Kultur, fremdem Land lässt sich gewiss in vieler Hinsicht im Licht dieser Konstellation lesen. Die grundsätzliche Überlegung, dass Positionierungen im Außerhalb (zumal insoweit sie nicht unter Zwang erfolgen) innovativ und subversiv wirken, wäre im Anschluss eine zentrale Frage, führt hier aber zu weit. In diesen Zusammenhängen gilt es hervorzuheben, dass Frauen im Horizont der Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Wertsysteme und etwaiger Konfliktlösungen im Grunde ein sehr entscheidendes Mandat übertragen war. Das Faktum ist zwar bekannt, aber in seiner außerordentlichen Tragweite als konkrete Vermittlungsrolle hat es in kulturwissenschaftlicher Theoriebildung vielleicht zu wenig Beachtung erfahren. Das nachhaltige Verfahren, demgemäß gesellschaftliche Bande unablässig und wie selbstverständlich geknüpft und überkreuzt werden sollten, war/ ist die Exogamie. Die traditionelle Genderpraxis sieht hier im Allgemeinen vor, dass es die Frau als fremde Braut ist, die den Ort ihrer primären Identität verlässt, eine Unterbrechung in Kauf nimmt, einen Sprung ins Unbekannte wagen muss und ihre neue Identität – wenn überhaupt – in vermittelndem und oft genug nachrangigem Status bestimmen kann. Mit dieser Schlüsselbedeutung im Rahmen der Heiratspolitik bildet die Frau die Garantie ständiger Austauschdynamik und womöglich Konfliktbewältigung – sei es zwischen Familien, zwischen einzelnen Orten und gegebenenfalls anderen Kulturen, sogar zwischen religiöser Bild- und Buchkultur. Sie ist die, die gleichsam immer aus der Fremde kommt. Sie kann als Signifi kant dieser Situation gelten. 224
Skizzen zum Bilderstreit und Genderkonflikt
Soweit nun der Versuch einer Re-Lektüre, die nicht einfaches Erinnern meint, sondern in Bezug auf die konfliktträchtigen Ausgrenzungen ReKonstitution im Auge hat. Die Entscheidung für eine Zeitreise ergänzt betont synchrone Strukturierungen der Theorien zur globalen Gesellschaft und ihren Konfliktlinien. Innerhalb der Zeitreise war es meine Absicht, dass konkrete Umbrüche in Schlüsselmomenten auftauchen. Auch Momente, die, indem sie etwas für den europäischen Weg besagen, indirekt eine spezifische nicht-europäische Situation darstellen. Insbesondere war es mein Anliegen, das kontingente Produzieren von Genderdifferenzen so wieder aufzunehmen und zu beleuchten, dass sich die Tür für Neuformulierungen öffnet.
Anmerkungen 1
Dieser Band befasst sich insbesondere mit Menschenrechten.
Literatur Assmann, Jan (2000): Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt a.M. Assmann, Jan (2003): Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München, Wien. Beauvoir, Simone de (1992): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg. Belting, Hans (1990): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München. Birkhan, Ingvild (1992): »Todbringende Weiblichkeit – prokreative Männlichkeit«. In: Maja Pellikaan-Engel (Hg.), Against Patriarchal Thinking. A Future without Discrimination? Amsterdam. Birkhan, Ingvild (1993): »Erobernmüssen. Die europäische Spirale der Macht und die Distribution der Geschlechter im Zeichen des Feuers«. In: Eva Waniek/Franz Wimmer (Hg.), Mit Eroberungen leben. Zu einem neuzeitlichen Syndrom. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 48. Jg. 1993, Nr. 1/2. Birkhan, Ingvild (2001): »Gender-Entwürfe im Licht von Bild und Sprache«. In: Eva Waniek/Silvia Stoller (Hg.), Verhandlungen des Geschlechts. Zur Konstruktivismusdebatte in der Gender-Theorie, Wien. Bovenschen, Silvia (1979): Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M. 225
Ingv ild Birkhan
Braun, Christina von (1985): Nicht ich. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt a.M. Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York. Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung, München. Derrida, Jacques (1988): Randgänge der Philosophie, Wien. Eiblmayr, Sylvia (1993): Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin. Irigaray, Luce (1980): Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt a.M. Kant, Immanuel (1974): Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel, Werkausgabe Bd. 10, Frankfurt a.M. Kimmerle, Heinz (2000): Philosophien der Differenz. Eine Einführung, Würzburg. Kreff, Fernand (2003): Grundkonzepte der Sozial- und Kulturanthropologie in der Globalisierungsdebatte, Berlin. Kristeva, Julia (1990): Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a.M. Macho, Thomas (1987): Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M. List, Elisabeth (1993): Die Präsenz des Anderen. Theorie und Geschlechterpolitik, Frankfurt a.M. Nagl-Docekal, Herta (2000): Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a.M. Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2005, Nr. 14. Pena Aguado, Maria Isabel (1994): Ästhetik des Erhabenen. Burke, Kant, Adorno, Lyotard. Wien. Rohde-Dachser, Christa (1991): Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin, Heidelberg. Pellikaan-Engel, Maja (Hg.) (1992): Against Patriarchal Thinking. A Future without Discrimination? Amsterdam. Schäfer, Elisabeth (2006): Die offene Seite der Schrift. J. D. und H. C. Côte à Côte, Wien (im Erscheinen bei Turia und Kant, Wien).
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Kultur als Konflikt: Lektionen der Cultural Studies Brigitte Hipfl
In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Cultural Studies interessante Ansatzpunkte zum Verständnis des Zusammenspiels von Kultur und Konflikt liefern, da sie selbst als produktive Auseinandersetzung mit Konflikten beschrieben werden können. Dies lässt sich an der Entstehungsgeschichte der Cultural Studies, an den zentralen theoretischen Konzeptionen, aber auch an der Art und Weise, wie die Begründer der Cultural Studies mit ihren eigenen Konflikten und Ambivalenzen umgegangen sind, vorführen. Wenn ich hier von Cultural Studies spreche, beziehe ich mich auf die Entwicklungen, die in den 1950er Jahren in Birmingham in Großbritannien ihren Ausgangspunkt nahmen und sich zu den British Cultural Studies ausformten. Zwar gab es in anderen Regionen der Welt vergleichbare Ansätze, aber die Arbeiten am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham haben nicht nur am nachhaltigsten das geprägt, was gemeinhin als Projekt der Cultural Studies gilt, sondern auch international den größten Einfluss ausgeübt (vgl. z.B. Fornäs 2005).
Gesellschaftliche Umbrüche als Chance Die Anfänge der British Cultural Studies lassen sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verorten – einer Zeit, die als Modernisierung und politische Umbruchsituation mit der Chance zur Entwicklung eines »New Britain« erlebt wurde (vgl. Turner 1990: 41; Kuna 1996: 226; Bromley 1999: 10f.). Die Amerikanisierung der Populärkultur sowie die politischen und kulturellen Effekte der neu aufkommenden Massenmedien werden stark diskutiert. Einerseits werden die Massenmedien als Gegenpol zur vorherr227
Br igit te Hipfl
schenden elitären Hochkultur begrüßt, andererseits von Vertretern und Vertreterinnen der kulturellen Elite, wie etwa einer Gruppe rund um den Literaturwissenschaftler F.R. Leavis, massiv kritisiert: Es fehle ihnen an moralischer Seriosität und an ästhetischer Qualität, was nur einen Niedergang der britischen Kultur zur Folge haben könne. Mit ähnlichen Argumenten werden auch andere Formen populärer Kultur, die sich im Zuge der Industriealisierung im englischen Lebensalltag herausgebildet haben, problematisiert. Die Bildungsreform, eine weitere Neuerung in der Nachkriegszeit, eröffnet begabten jungen Menschen, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund, mithilfe von Stipendien den Zugang zu höherer Bildung. Damit gelangen erstmals Absolventen und Absolventinnen aus niedrigeren sozialen Klassen in akademische Positionen und setzen sich kritisch mit den bestehenden Lehrmeinungen auseinander. Viele der »scholarship boys and girls«, unter anderem auch die Begründer der Cultural Studies, Raymond Williams und Richard Hoggart, kommen aus der Arbeiterklasse. Sie haben einen persönlichen Bezug zu der aus elitärer Perspektive abgewerteten Populärkultur und wollen die Abwertung der eigenen kulturellen Erfahrungen nicht einfach so hinnehmen. In ihren wissenschaftlichen Arbeiten machen sie genau dies zum Thema. Hoggart verwendet beispielsweise literaturwissenschaftliche Methoden, um das Leben der Arbeiterklasse zu analysieren. Er demonstriert, dass auch die Arbeiterklasse »Kultur hat«, indem er ihren Alltag als ein komplexes und reichhaltiges kulturelles Gewebe von miteinander geteilten Bedeutungen darstellt. In den öffentlichen kulturellen Praktiken im Pub, beim Sport oder in diversen Zeitschriften finden sich diese genauso wie in den Strukturen des privaten Alltags, erkennbar etwa an den sprachlichen Ausdrucksmustern oder den Geschlechterbeziehungen (vgl. Hoggart 1976). In eine ganz ähnliche Richtung geht Williams mit seiner inzwischen berühmt gewordenen Aussage »culture is ordinary«. Galt Kultur zuvor als »Sammelbegriff für ›das Beste des je neu Gedachten und Gesagten‹, als Gipfel zivilisatorischer Errungenschaften« (Hall 1999: 116), beschreibt Williams Kultur nun als gesellschaftlichen Prozess, in dem es um Sinnstiftung und die Ausbildung eines gemeinsamen Bedeutungsfundus geht. Er stützt sich dabei auf ein anthropologisches Verständnis von Kultur: »Culture is a description of a particular way of life, which expresses certain meanings and values not only in art and learning but also in institutions and ordinary behaviour. The analysis of culture, from such a definition, is the clarification of the meanings and values implicit and explicit in a particular way of life, a particular culture.« (Williams 1966: 57)
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Kultur al s Konflikt: Lekt ionen der Cultural Studies
Aus heutiger Perspektive erscheint diese Definition problematisch, da sie homogene und voneinander klar abgetrennte Kulturen spezifischer Gruppen nahe legt. Das ist eine Position, die dem »neuen kulturellen Rassismus« entspricht (Balibar/Wallerstein 1990), in dem von (unüberbrückbaren) kulturellen Differenzen ausgegangen und eine Politik gegenseitiger Abschottung und Ausgrenzung betrieben wird. Damals jedoch entsprach das Aufzeigen der besonderen Alltagspraktiken in verschiedenen Klassen einem radikalen Gegenmodell zur vorherrschenden Sichtweise von Kultur, da Kultur nun die gesamte Lebensweise umfasst und zwar konkret die »Organisationsmuster und charakteristischen Formen menschlicher Energie, die sich […] im Rahmen sämtlicher gesellschaftlicher Praktiken ausdrücken bzw. ihnen zugrunde liegen.« (Hall 1999: 117-118) Damit verknüpft ist die Überzeugung, dass die Fokussierung auf Kultur ein tiefer gehendes Verständnis gesellschaftlicher Prozesse verspricht. Denn der Fokus auf »Kultur als gesamte Lebensweise« verlangt eine Form von Kulturanalyse, die das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente in dieser komplexen Gesamtheit deutlich machen kann und bezieht auch Aspekte ein, die von den meisten als gar nicht mit Kultur zusammenhängend gesehen werden. Dazu gehören etwa die gesellschaftlichen Strukturen und ökonomischen Bedingungen, welche die sozialen Beziehungen und die verschiedenen Kommunikationsformen steuern.
Cultural Studies als Kr itik und Weiterentwicklung marxistischen Denkens Das Verständnis von Kultur in den Cultural Studies ist gleichzeitig eine Kritik an dem klassischen marxistischen Modell von Basis und Überbau, in dem Kultur bloß als Effekt der ökonomischen Basis verstanden wird. Die theoretische Untermauerung ihrer Vorstellungen finden die Vertreter der Cultural Studies in den neo-marxistischen Entwicklungen von Gramsci und Althusser, die von der »relativen Autonomie« der Kultur ausgehen und Kultur selbst als ein Kräftefeld verstehen, das großen gesellschaftlichen Einfluss ausübt. Gleichzeitig können die Cultural Studies selbst als eine spezifische Weiterentwicklung marxistischen Denkens verstanden werden (vgl. Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 6/I: 709). Konkret verortet Richard Johnson (1999: 141f.) die marxistischen Einflüsse in drei zentralen Prämissen der Cultural Studies: »Die erste besagt, dass kulturelle Prozesse eng mit gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängen. Dazu zählen vor allem Klassenverhältnisse und -formationen, geschlechtsspezifische und ethnisch bestimmte Strukturen sowie bestimmte
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Altersgruppen, die in Formen der Abhängigkeit und Unterdrückung leben. Die zweite besagt, dass Kultur Machtstrukturen einschließt und im Hinblick auf die Fähigkeit von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, ihre Bedürfnisse zu definieren und zu verwirklichen, zur Produktion asymmetrischer Verhältnisse beiträgt. Aus diesen beiden Prämissen ergibt sich die dritte, die besagt, dass Kultur kein autonomes, aber auch kein von außen determiniertes Feld, sondern ein Bereich gesellschaftlicher Kämpfe und Differenzen ist«.
Insbesondere Althusser und Gramsci, und zwar konkret die Konzeptionen von Ideologie und Hegemonie, haben die Cultural Studies nachhaltig beeinflusst. Ideologie ist bei Althusser nicht mehr im traditionellen marxistischen Sinn das »falsche Bewusstsein«, sondern das »imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen« (Althusser 1973: 133). Ideologie ist demnach unser Verständnis von der Realität und damit das, was uns als normal und selbstverständlich erscheint und sich in den diversen Institutionen und sozialen Praktiken, über die wir unseren Lebensalltag organisieren, materialisiert. Althusser spricht in diesem Zusammenhang von »ideologischen Staatsapparaten« und meint damit gesellschaftliche Institutionen wie Kirche, Familie, Schule, Medien, Recht etc., denen er eine zentrale Rolle in der Vermittlung gesellschaftlicher Normen und Regeln – und damit eben von Ideologie – zuschreibt. Jede Institution ist »relativ autonom« und dennoch leisten die verschiedenen Institutionen insofern gemeinsame ideologische Arbeit, als sie an demselben Verständnis der Realität (in den westlichen Gesellschaften definiert durch patriarchale Strukturen, Individualismus und Konkurrenz) ausgerichtet sind. Von Gramsci wird das Konzept der Hegemonie übernommen, wonach kulturelle Vorherrschaft nicht durch Zwang, sondern durch Zustimmung organisiert wird (vgl. Gramsci 1991). Das heißt, die Menschen werden dazu gebracht, von sich aus eine bestimmte Sicht der Welt zu übernehmen. Dies funktioniert nur dann, wenn sie davon überzeugt sind, dass diese Sicht ihren eigenen Interessen dienlich ist. Die Aufrechterhaltung kultureller Vorherrschaft erfordert also, ständig dafür zu sorgen, dass diese Zustimmung gegeben ist. Damit wird deutlich, dass es sich bei Kultur um ein höchst umkämpftes Terrain handelt. In den Cultural Studies wird nun gerade das, was uns im Alltag als normal und selbstverständlich erscheint, als immer nur vorläufiges (und nie endgültiges) Resultat von Machtkämpfen unterschiedlicher politischer und ökonomischer Interessen verstanden. Diese Kämpfe sind, da sie auf einer Ebene ausgetragen werden, die unsere Gewohnheiten, Begehren, Wünsche, Erfahrungen von Gemeinsamkeit etc. betreffen, häufig auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar. Die Cultural Studies wollen unseren Blick für die gesellschaftlichen Antagonismen schärfen, die in den 230
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Kämpfen um Hegemonie zum Ausdruck kommen, aber in der Herstellung von »Normalität« und Konsens wieder verdeckt werden. Das Alltägliche und Gewöhnliche gewinnt demnach große politische Relevanz. Die Geschichte der Cultural Studies lässt sich auf theoretischer Ebene als Geschichte einer konfliktreichen Auseinandersetzung mit bestehenden bzw. vorherrschenden Theorien darstellen. Wie Stuart Hall in seinem Rückblick auf die Entstehung der Cultural Studies anmerkt, sind diese gekennzeichnet durch »signifikante Brüche – jene Momente, in denen alte Denkgewohnheiten aufgebrochen und frühere Konstellationen verworfen werden und sich alte wie neue Elemente um ein verändertes Gefüge aus Prämissen und Themen ordnen« (Hall 1999: 113).
Cultural Studies als Vermittlung von Er fahrung und Struktur Vielfach wird, so Stuart Hall (1999: 122), das Verständnis von Kultur als das dominante Paradigma der Cultural Studies bezeichnet: »Auf unterschiedliche Weise faßt es Kultur als eng mit sämtlichen gesellschaftlichen Praktiken verknüpft auf, die wiederum als eine gemeinsame Form menschlichen Tätigseins begriffen werden: als sinnliche menschliche Praxis, jenes Tätigsein, durch das Männer und Frauen Geschichte machen.«
Dabei kommt der Erfahrung – und zwar verstanden als Art und Weise, »wo und wie Menschen ihre Lebensbedingungen erfahren, wie sie sie defi nieren und auf sie reagieren« (Hall 1999: 124) – eine zentrale Rolle zu. Denn nach Williams (vgl. Hall 1999: 124) »kreuzen sich (in der ›Erfahrung‹) […] sämtliche Praktiken; innerhalb der ›Kultur‹ wirken sie aufeinander ein«. Gleichzeitig wird das kreative Element deutlich, das in dem Erfahrungsbegriff enthalten ist. Dies entspricht einer humanistischen Perspektive, in der die Handlungsfähigkeit der Menschen betont wird. Es wird davon ausgegangen, dass die strukturellen Bedingungen und die verschiedenen Beziehungen, die als Kultur wirksam werden, auf der Ebene der Erfahrungen analysiert werden können. Erfahrung nimmt dabei eine authentifizierende Rolle ein. Diese Ausrichtung mit der Fokussierung auf historisch-spezifische Erfahrungen wird als »kulturalistischer« Strang der Cultural Studies bezeichnet (vgl. Hall 1999: 124). Erfahrung gilt als »der Boden – das Terrain des ›Gelebten‹ –, auf dem sich Bewußtsein und Verhältnisse überschneiden« (Hall 1999: 127). Demgegenüber wird von den Entwicklungen in den Cultural Studies, die als »strukturalistischer« Strang bezeichnet werden, diese Fokussie231
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rung auf Erfahrung problematisiert und davor gewarnt, einem naiven Humanismus aufzusitzen. Hier wird betont, »daß ›Erfahrung‹ per definitionem nicht als Grundlage herangezogen werden könne, da die jeweiligen Verhältnisse schließlich erst innerhalb der und durch die Kategorien, Klassifizierungen und grundlegenden Strukturen einer Kultur ›gelebt‹ und erfahren werden können« (Hall 1999: 127). Erfahrung wird als Effekt gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse gesehen, da »Männer und Frauen […] in Verhältnisse hineingestellt werden, die sie als Handelnde erst konstituieren« (Hall 1999: 129). Deshalb ist es wichtig, die Wirkweise dieser Verhältnisse zu verstehen und zu erkennen, dass subjektive Handlungsfähigkeit notwendigerweise mit den gesellschaftlichen Machtrelationen verknüpft ist. Mithilfe der theoretischen Entwicklungen von Althusser und Gramsci wird es möglich, die ideologische Dimension von Erfahrung begreif bar zu machen. Wie Stuart Hall (1999: 137) betont, können die Fragen und Kernprobleme der Cultural Studies am ehesten über eine Zugangsweise bearbeitet werden, in der die besten Elemente des kulturalistischen und des strukturalistischen Strangs miteinander verknüpft werden. Jeder Strang ist für sich genommen einseitig. In der »kulturalistischen« Position gilt die Kohärenz und Einheit einer bestimmten sozialen Struktur und ihrer Machtbeziehungen als gegeben und alle kulturellen Praktiken und Erfahrungen sind darauf zurückzuführen. Dies schlägt sich in einer Äquivalenzkette nieder, in der eine spezifische soziale Identität mit spezifischen Erfahrungen, mit »authentischen« kulturellen Praktiken, Bedürfnissen, Interessen etc. einhergeht. Als Grundlage für diese Beziehungsstruktur fungieren die ökonomischen Produktionsbeziehungen (vgl. Grossberg 1996: 155). Die Einzelnen werden als historisch situierte Handlungsträger gesehen, die in kreativer Weise agieren können. Strukturalistische und post-strukturalistische Theorien dekonstruieren die Vorstellung von solch kohärenten Einheiten und verweisen dagegen auf den Pluralismus von Machtverhältnissen, Praktiken und Subjektpositionen, der hier wirksam wird. Subjektivität wird als Effekt dieser Praktiken und Machtverhältnisse verstanden (vgl. Grossberg 1996: 155-156). Gerade in der Kombination dieser beiden Zugänge wird es möglich, spezifische kulturelle Praktiken unter Einbeziehung des gesamten Ensembles der gesellschaftlichen Bedingungen zu untersuchen. Das ist ein produktiver Weg zur »begrifflichen Erfassung der Spezifität unterschiedlicher Praktiken (auf abstrakter Ebene und analytisch ausdifferenziert)« (Hall 1999: 132). In seinen eigenen theoretischen Arbeiten versucht Stuart Hall, zwischen einer kulturalistischen und (post-)strukturalistischen Position zu vermitteln. Er geht nicht von einer völligen Determiniertheit des menschlichen Lebens durch soziale Strukturen und Prozesse aus, genauso wenig 232
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aber auch von der völligen Freiheit menschlichen Handelns. Mit seinem Konzept der Artikulation versucht er dies theoretisch zu fassen. Als Artikulation bezeichnet er einen relativ autonomen Moment, in dem unter bestimmten Bedingungen durch die Verknüpfung von zwei oder mehr Elementen bestimmte soziale Formationen, spezifische Bedeutungskomplexe und Subjektpositionen entstehen. Dabei handelt es sich nicht um rein zufällige Verbindungen, sondern um Verbindungen, die aufgrund von sozialen Kräften zustande kommen und demnach immer von Machtrelationen gekennzeichnet sind. Damit steht ein ganz anderes Modell zum Verständnis sozialer Praktiken und Identitäten zur Verfügung. Denn mit dem Konzept der Artikulation wird nicht länger davon ausgegangen, dass sich all dies in einem bestehendem Kontext entwickelt, der die Praktiken und Identitäten beeinflusst, sondern es besteht eine wechselseitige Bedingtheit der Art, dass diese Praktiken und Identitäten gerade auch den Kontext konstituieren, in dem sie sich entwickeln (vgl. Slack 1996). Slack schreibt dem Konzept der Artikulation eine zentrale Bedeutung in den Cultural Studies zu. Es fungiert als Modell zum Verständnis der Funktionsweise der sozialen Welt und weist gleichzeitig den Weg, sowohl für dessen Analyse als auch für Ansatzpunkte einer Intervention. In dieser Sichtweise ist eine bestimmte sozio-kulturelle Praktik und die damit verknüpfte Bedeutung und politische Relevanz das Resultat einer spezifischen Strukturierung der komplexen und widersprüchlichen Kräfte und Beziehungen. Kulturwissenschaftliche Forschung hat nach Grossberg (1996: 154f.) den Auftrag, die konkreten Praktiken zu verstehen, mit denen bestimmte Artikulationen hergestellt werden. Gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen an der Open University entwickelte Hall das Modell des kulturellen Kreislaufs, in dem der für Kultur konstitutive Aspekt des Konflikthaften in seiner ganzen Komplexität erkennbar wird (vgl. z.B. Du Gay/Hall/Janes/Mackay/Negus 1997). Kultur wird anhand des Zusammenspiels von fünf Momenten als Arena umkämpfter Bedeutungen beschrieben. Diese fünf Momente sind immer miteinander verwoben und aufeinander bezogen, für heuristische Zwecke und ein besseres Verständnis ihrer Wirkweise ist es jedoch hilfreich, sie jeweils für sich zu betrachten. Bei jedem dieser fünf Momente – Produktion, Repräsentation, Identität, Konsum, Regulierung – geht es um Bedeutungen und um die Frage, welche Bedeutungen sich durchsetzen. Bei der Produktion geht es um ökonomische Bedingungen, die in der gegenwärtigen Lebenssituation, nicht losgelöst von Kultur verstanden werden können. Im Gegenteil, es wird davon ausgegangen, dass sich Kultur und Ökonomie gegenseitig konstituieren. So sind die aktuellen Bemühungen von Organisationen und Unternehmen, eine erkennbare Corporate Culture und Corporate Identity herzustellen, oder die Corporate Social Responsibility 233
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ihres Unternehmens zu betonen, nichts anderes als Konsequenzen aus der Einsicht, dass wirtschaftlicher Erfolg immer stärker von der Kultur der Organisation und den damit verknüpften Bedeutungen, Normen und Werten bestimmt wird. Außerdem werden im Herstellungsprozess Entscheidungen getroffen, die auf bestimmten Erwartungen und Vorstellungen der Adressaten beruhen und diese gleichzeitig auch als solche konstituieren. Ein zweites Moment betriff t die Repräsentationen – das sind die symbolischen Systeme wie Sprache und Bilder, mit denen in Form von Medienberichten, Filmen, öffentlichen Aussagen, Werbung, Gesetzestexten etc. spezifische Bedeutungen in Umlauf gebracht werden. Ein drittes Moment bezieht sich auf die in diesen »Texten« enthaltenen Subjektpositionen, mit denen die Menschen als Staatsbürger, Konsumenten, als unterschiedliche Ausformungen von Männlichkeit und Weiblichkeit etc., angesprochen werden und ihnen damit Positionen anbieten, die sie einnehmen können. Ob und in welcher Weise diese attraktiv erscheinen, ist die Frage des vierten Moments, das als Konsum bezeichnet wird. Welche Bedeutung dieses kulturelle Produkt oder der Umgang damit, seine Nutzung, für das soziale Leben hat und wie darauf von verschiedenen Gruppierungen reagiert wird, ist eine Frage des fünften Moments, der Regulierung.
Cultural Studies als Inter vention Die Cultural Studies haben sich von Anfang an nicht nur als Kritik herkömmlicher Denkweisen verstanden, sondern als »radikale und konkrete Einmischung« (Bromley 1999: 10) in das, was die bestehende Kultur ausmacht. Nach Bromley (1999: 12) haben »diejenigen, die in den 50er und den frühen 60er Jahren mit Cultural Studies befasst waren […], sich selbst als Reformer der britischen Gesellschaft verstanden. Sie wollten den kulturellen Privilegien, der politischen Macht und Autorität derjenigen Klasse, die der Nation bis zum Zweiten Weltkrieg ihrem Stempel aufgedrückt hatte, ein Ende bereiten.«
In diesem Sinne sind die Cultural Studies als ein politisches Projekt angelegt. Sie erheben den Anspruch, sich kritisch mit der Gegenwartskultur auseinanderzusetzen und Möglichkeiten für eine bessere Zukunft zu entwickeln. Mithilfe der Cultural Studies sollten bestehende Herrschafts- und Machtstrukturen, Ungleichheiten, Ausgrenzungen, Marginalisierungen, Konstruktionen von Andersheit etc., sowie die Konsequenzen, die sich daraus für die Handlungsfähigkeit verschiedener Menschen ergeben, erkennbar und kritisierbar werden. Das erfordert einerseits theoretische An234
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strengung, um, so Hall (2000: 41f.), »wirklich mehr zu wissen, nicht nur so zu tun als wisse man mehr, nicht nur die Fähigkeit zum Wissen haben, sondern tief greifend und umfassend zu wissen«. Es geht dabei nicht um die Produktion von etwas, »das wir schon gewusst haben!« (Hall 2000: 41). Andererseits sind diese theoretischen Einsichten auch praktisch-politisch nutzbar zu machen. Nach Grossberg (1999: 55) sollten die Menschen in die Lage versetzt werden, »die Situation (Kontext) und damit auch die Machtbeziehungen, in denen sie sich befinden, zu verändern«. Für die wissenschaftliche Arbeit in der Tradition der Cultural Studies bedeutet das, die Politik intellektueller Arbeit ernst zu nehmen. Ein Beispiel, das uns dies eindrucksvoll vorführt, ist die umfassende Arbeit »Policing the crisis. Mugging, the State, and Law and Order« von Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke und Brian Roberts (vgl. Hall et al. 1978/2002). An dieser Studie wird nachvollziehbar, wie Artikulation konkret funktioniert. Die Autoren zeigen in sehr differenzierter Weise, dass die starken öffentlichen Reaktionen auf einen Raubüberfall dreier junger Männer in der Nacht des 15. August 1972 auf einen älteren Mann, der sich in London nach einem Theaterbesuch auf dem Heimweg befand, Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise ist. In den Medienberichten wird der Vorfall als ›mugging‹ bezeichnet, womit dieser Begriff, der zuvor fast ausschließlich im Zusammenhang mit den USA verwendet wurde, erstmals mit einer gewalttätigen Handlung in Großbritannien verknüpft wurde. In den USA steht ›mugging‹ zu dieser Zeit für die Krise der amerikanischen Gesellschaft, die an der hohen Kriminalitätsrate bei Schwarzen und Drogenabhängigen, an der Ausweitung schwarzer Ghettos, der Militarisierung von Schwarzen, an einer krisenhaften Situation in den Städten festgemacht wird und sich in der Angst vor zunehmender Kriminalität und der Tendenz zu einer ›law-and-order‹-Politik niederschlägt. Mit der Verwendung der Bezeichnung ›mugging‹ in England wird der gesamte Bezugsrahmen mit all den Konnotationen, die in den USA damit verknüpft sind, und die den Briten über die Medien als Materialisierung der Krise der amerikanischen Gesellschaft vertraut waren, nun auch in Großbritannien aktiviert. Konkret verdichtet sich dies in einer spezifischen Konstellation von Rasse, Kriminalität und Jugend, nämlich im Bild vom schwarzen Jugendlichen als potentiellem Kriminellen. Die öffentliche Erregung über ›mugging‹ wird von den Autoren als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise, als Gefühl, die soziale Ordnung und ›the British way of life‹ würden zerbrechen, beschrieben. Dies wird dargestellt als Resultat einer historisch-spezifischen ›conjuncture‹, eines Zusammentreffens verschiedener Bedingungen. Dazu zählt, dass die Entwicklungen in den USA von den britischen Medien unter der Perspektive verfolgt werden, ob sie, mit einer gewissen Verzögerung, auch in Großbri235
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tannien auftreten könnten. Um sich vor der Ausbreitung »amerikanischer Zustände« zu schützen, sind law-and-order-Maßnahmen nötig. Dazu gehören verstärkte Polizeikontrollen und der Einsatz spezieller Polizeieinheiten, die sich auf spezifische Gruppen (vor allem schwarze Jugendliche) konzentrieren, strenge Gerichtsurteile und ausführliche Medienberichte – die gemeinsam genau das produzieren, das sie verhindern wollen. Dies findet in einem Kontext statt, der durch strukturelle Veränderungen innerhalb der Polizei gekennzeichnet ist. Früher waren die Polizisten die freundlichen, hilfsbereiten ›Bobbies‹, die ein gutes Verhältnis zu den Menschen in ihrem Revier hatten und sich als Einzelpersonen für ein friedliches Zusammenleben einsetzten, um auf diese Weise Kriminalität zu verhindern. Nun sind sie professionelle ›Cops‹, gehören einer Einheit an, die Kriminalität bekämpft und haben fast keine persönlichen Kontakte mit den Menschen, mit denen sie es zu tun haben (vgl. Hall et al. 1978/2002: 46). Ihre Vorstellungen von potentiellen Kriminellen beruhen auf den weit verbreiteten Stereotypen, die vor allem farbigen Einwanderern diese Position zuschreiben. Es ist nicht überraschend, dass vor diesem Hintergrund das Verhältnis zwischen der Polizei und schwarzen Jugendlichen extrem schlecht ist. Die Autoren beschäftigen sich ausführlich mit der Rolle, welche die Medien in diesem Kontext einnehmen. Sie demonstrieren, dass aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen bei den Medien, die sich unter anderem in den Kriterien der Nachrichtenauswahl und der Zuteilung von ›Definitionsmacht‹ niederschlagen, Medien dazu tendieren, bestehende Machtstrukturen auf symbolischer Ebene zu reproduzieren (vgl. Hall et al. 1978/2002: 58f.). Berichte über Kriminalität und über Aktionen zu ihrer Kontrolle und Eindämmung vermitteln in ideologischer Hinsicht, dass die gesellschaftlichen Wächter der öffentlichen Ordnung und Moral (Polizei und Justiz) die Werte der Gesellschaft wieder bestätigen – vor dem Hintergrund, dass nur der Staat das Monopol auf legitimierte Gewalt hat. Anhand detaillierter Analysen der Medienberichte über den vorher erwähnten Raubüberfall führen die Autoren vor, wie mit der Einführung von ›public images‹ (das sind Bilder, die aus Eindrücken, Quasi-Erklärungen etc. bestehen), weiterführende, tiefer gehende Analysen, die den ideologischen Konsens in Frage stellen würden, gestoppt werden. In diesem Fall war dies das Bild des Ghettos, womit Kriminalität mit Immigration, Rasse und Armut verknüpft und damit klar lokalisiert wurde. Entsprechend werden auch lokale Lösungen für dieses Problem gesucht (vgl. Hall et al. 1978/2002: 81f.). Besonders wichtig für Fragen zum Verhältnis von Kultur und Konflikt ist der Begriff der kulturellen Hegemonie der Autoren, welche den Umstand bezeichnet, dass es keine grundlegenden gesellschaftlichen Konfl ik236
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te mehr zu geben scheint, da das gesamte soziale Leben von bestimmten sozialen Vorstellungen, die alle teilen, geprägt ist. Das heißt, die Wirkweise von Hegemonie beruht gerade darauf, über die Organisation von Zustimmung diese Vorstellungen als natürlich erscheinen zu lassen und auf diese Weise Konfl ikte und Antagonismen zu überdecken. Damit geraten die eigentlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse völlig aus dem Blick (vgl. Hall et al. 1978/2002: 216). Sie charakterisieren die Rolle des Konsenses treffend als »what makes the rule of the few disappear into the consent of the many« (Hall et al. 1978/2002: 216). Wenn diese Hegemonie gefährdet ist, was einer Krise der Hegemonie gleichkommt – und für die Autoren ist die öffentliche Auseinandersetzung mit ›mugging‹ Ausdruck einer solchen Krise –, wird dagegen die Wirkweise der dominanten Kräfte erkennbar. Denn sie müssen nun noch stärker und damit auch viel offensichtlicher eingesetzt werden, um die soziale Formation zusammenzuhalten. Konkret bedeutete das: mehr Polizeieinsatz, Überwachung und Kontrolle sowie strenge Bestrafung von Angriffen auf die bestehende gesellschaftliche Ordnung. Um dies konsensfähig zu machen, leisten insbesondere die Medien (nicht unbedingt immer in der Weise den Medienmachern auch bewusst) ideologische Arbeit, indem sie über die Verknüpfung von verschiedenen Phänomenen, die nicht notwendigerweise zusammengehören, spezifische Bedeutungen, Konnotationen und Assoziationen in Umlauf bringen.
Reflexion der eigenen Positionierungen als Auseinandersetzung mit Konflikten in uns selbst Die Studie zu ›mugging‹ ist auch ein gutes Beispiel für ›situiertes Wissen‹. ›Situiertes Wissen‹ geht von der Erkenntnis aus, dass Wissenschaft nicht neutral und objektiv sein kann, sondern immer von einem bestimmten Standpunkt und in einem bestimmten historischen Kontext praktiziert wird. Dies verlangt einerseits nach einer genauen Analyse sowohl des eigenen Standpunktes als auch des jeweiligen Kontextes. Andererseits ist damit die Herausforderung für die Wissenschaft verbunden, bestehende Begriffe, Theorien und Konzepte daraufhin zu hinterfragen, ob sie für die spezifischen Fragen und Phänomene, welche untersucht werden, geeignet sind oder weiterentwickelt werden müssen. All diese Punkte treffen auch auf die frühen Arbeiten der Cultural Studies zu. In den Anfängen war das Interesse vor allem auf die Klassenfrage gerichtet (vgl. Hall 2000: 27f.), aber schon bald weitete es sich auf Machtverhältnisse aus, die im Zusammenhang mit Rasse und Geschlecht wirksam werden. Kennzeichnend war gerade für die Anfangsphase, dass die 237
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Auseinandersetzung mit diesen Machtverhältnissen nicht nur auf einer theoretischen Ebene stattfand, sondern auch die Erfahrungen der eigenen gesellschaftlichen Positionierung umfasste beziehungsweise davon ihren Ausgangpunkt nahm. Für Rolf Lindner (2000: 21) sind die Studien von Williams and Hoggart zur Arbeiterkultur eine Form der Bearbeitung ihrer Erfahrungen mit der kulturellen Elite. Indem sie auf die durch Herablassung und Geringschätzung ausgelösten Kränkungen eingehen, »die durch den anmaßenden Habitus, die habituell gewordene Anmaßung zugefügt werden, die dem Gegenüber durch den Gestus der Herablassung vermittelt, dass man keine Kultur ›hat‹« (Lindner 2000: 21), reflektieren sie die ambivalente Situation, in welcher sie sich selbst befinden: Einerseits sind sie beeindruckt vom Wissen und dem kulturellen Kapital, über das die ›Kultivierten‹ verfügen und verspüren den Wunsch, sich auf der Ebene genauso souverän bewegen zu können. Zugleich realisieren sie, wie einseitig dieses Wissen ist, wenn darin das Leben all der übrigen Menschen nicht vorkommt. Und sie erleben es am eigenen Köper, wie es ist, als anders und nicht zugehörig positioniert zu werden. Gerade durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Zerrissenheit, die sie, so Rolf Lindner, als Personen, die »zwischen die Kulturen geraten sind«, erfahren, werden sie dafür sensibilisiert, Kultur als Mittel symbolischer Macht zu erkennen und zu erforschen. Dasselbe gilt auch für Stuart Hall, der aus Jamaika als Student nach London kam, sein eigenes »Schwarzsein« erlebt und reflektiert und in der Folge viel zur Rassenthematik gearbeitet hat. Stuart Hall beschreibt die Arbeit am Centre for Contemporary Cultural Studies nicht als ein kontinuierliches Wachsen und Entfalten, sondern als etwas, das durch Risse, Brüche und Unterbrechungen gekennzeichnet war (vgl. Hall 2000: 42). Eine solche Unterbrechung schreibt er zum Beispiel dem Feminismus zu. Am Zentrum arbeiteten in den 1970er Jahren neben den Männern, die in den Werken zur Entstehungsgeschichte fast ausschließlich zitiert werden, auch einflussreiche Frauen. Charlotte Brunsdon, Angela McRobbie, Chris Weedon, Dorothy Hobson und Jackie Stacey sind einige, die inzwischen sehr bekannt geworden sind. Sie wurden ins Zentrum geholt um feministische Zugänge in die Cultural Studies einzubringen und sich etwa mit Jugendkulturen von Mädchen oder mit Frauenzeitschriften auseinanderzusetzen. Aber sie begannen auch kritisch zu hinterfragen, welche Themen und Fragen generell in den Cultural Studies behandelt und welche theoretischen Konzepte verwendet werden. Sie beeinspruchten Leselisten für Seminare, wenn sie keine feministischen Texte enthielten, bildeten Gruppen, denen nur Frauen angehören konnten und thematisierten ihre eigene Position als Frauen in dem Zentrum. Getragen waren diese Aktionen von der die Anfänge der Zweiten Frauenbewegung bestimmenden Annahme, dass Frauen in patriarchalen Strukturen spezi238
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fische Formen der Unterdrückung erfahren und daher Maßnahmen auf struktureller Ebene erforderlich sind, um eine Veränderung zu bewirken. Die feministischen Interventionen werden im Rückblick von Stuart Hall als Störungen des Zentrums beschrieben. Er nutzt dafür die Metapher der »Diebin in der Nacht«, die eingebrochen ist, die Arbeit gestört hat und »auf den Tisch der Cultural Studies« geklettert ist (Hall 2000: 43). Die Aktionen der Frauen haben Hall in dramatischer Weise damit konfrontiert, dass ein Unterschied besteht zwischen der Unterstützung und Förderung feministischer Politik und der Erfahrung, selbst damit konfrontiert zu werden, wenn der »Feminismus sich dann tatsächlich autonom zu Wort meldete« (Hall 2000: 28). Konkret bedeutete das für Hall, trotz seines Einsatzes für den Feminismus, »zum »Feind« gemacht zu werden als die leitende patriarchale Figur« (Hall 2000: 29). Das brachte ihn in eine »unmögliche, widersprüchliche Position« (Hall 2000: 29). Er verstand und akzeptierte die Aktionen der Frauen am Zentrum als strukturell und politisch notwendige Maßnahmen, durch die er aber gleichzeitig »Schachmatt gesetzt« wurde, da er im »Arbeitsprozess des Zentrums […] damit nicht fertig werden« (Hall 2000: 29) konnte. Dies veranlasste Hall dann auch, vom Zentrum zur Open University zu wechseln. Im Rückblick spricht Hall sehr abgeklärt über diese Erfahrung, die er zusammenfasst als: »Die Politik zu leben ist etwas anderes als abstrakt dafür zu sein.« (Hall 2000: 29) Dabei handelt es sich aber, so führt neben Hall Charlotte Brunsdon (1996), eine der Aktivistinnen, aus, nicht nur um einen theoretisch ausgetragenen Konflikt – so gab es lautstarken Streit und Leute, die aus Protest den Raum verlassen –, sondern auch um eine Situation, in der sich die Beteiligten verletzt und zurückgewiesen fühlen. Brunsdon argumentiert rückblickend, dass bei theoretischen Auseinandersetzungen oft die Identität der Beteiligten betroffen und es deshalb wichtig ist, respektvolle und wohlwollende Formen zu finden, welche den psychischen Investitionen in einzelne Identitätspositionen gerecht werden. Denn bei Diskussionen dieser Art, so möchte ich dieses Argument noch weiterführen, geht es nicht bloß um Diskurse, sondern immer auch um die darin enthaltenen Subjektpositionen, mit denen sich die Diskutanten und Diskutantinnen identifiziert haben. Werden diese Subjektpositionen angegriffen und kritisiert, dann fällt die für unser Selbstverständnis wichtige Anerkennung und Bestätigung weg, was als existenzielle Bedrohung der eigenen Identität erlebt werden kann. Wie in den Berichten von Stuart Hall und Charlotte Brunsdon zur Bedeutung des Feminismus für die Entwicklung der Cultural Studies deutlich wird, materialisieren sich Machtstrukturen immer in konkreten sozialen Praktiken. Aus den Erkenntnissen zur performativen Konstituierung von Identität wissen wir, dass diese sozialen Praktiken gleichzeitig identi239
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tätsstiftend sind und deshalb immer auch mit uns selbst zu tun haben. Das macht es oft schwierig, Dinge, die wir aus theoretischen und politischen Gründen für wichtig und erstrebenswert halten, dann, wenn wir im eigenen Alltag damit konfrontiert werden, zu akzeptieren. Damit lässt sich auch die Wirk- und Funktionsweise hegemonialer Praktiken erklären: es ist viel schwieriger und aufwendiger – da es mit der Hinterfragung und Veränderung der eigenen Identität verknüpft ist – diese Praktiken zu verändern als sie beizubehalten.
Cultural Studies als eine Praxis der Spannungsverhältnisse Für Stuart Hall (2000: 13) ist Kultur »einerseits zutiefst subjektiv und persönlich […] und zugleich eine Struktur, die man lebt«. Die Erforschung dieses höchst komplexen Zusammenhanges erfordert, »die theoretischen und die politischen Fragen in einem stets unlösbaren, aber niemals sich auflösenden Spannungsverhältnis (zu) halten. Sie erlauben den einen immer, die anderen zu irritieren, zu belästigen und zu stören, ohne auf einer endgültigen theoretischen Schließung zu bestehen« (Hall 2000: 47). Den Stellenwert von Theorie beschreibt Hall (2000: 50-51) nicht als Wille zum Wissen, »sondern als eine Reihe umkämpfter, lokalisierter, konjunktureller Wissenselemente, die in einer dialogischen Weise debattiert werden müssen. Aber auch als eine Praxis, die immer über ihre Interventionen in einer Welt nachdenkt, in der sie etwas verändern, etwas bewirken könnte«. In diesem Sinne sind die Cultural Studies nicht nur offen und prinzipiell unabgeschlossen (vgl. Bromley 1999: 24), vielmehr sind ihre Vertreter und Vertreterinnen aufgefordert, immer wieder neue Versionen der Cultural Studies zu entwickeln, die sich auf das Spezifische der gegenwärtigen Bedingungen beziehen (vgl. dazu z.B. Jenkins/McPherson/Shattuc 2002 oder Hall/Birchall 2006).
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»Neue Männer braucht das Land …«, »die neue Freiheit kam mit Lippenstiften …«: Die Darstellung von Gewalt und Geschlechterbildern in der westlichen Ber ichterstattung über den Afghanistan- und Irakkr ieg Anna Bergmann
»Mit Leib und Seele« sei er Soldat, verkündeten die Medien im April 2006 anlässlich der Feier, in der Prinz Harry und weitere 199 junge Offiziere an der Elite-Militärakademie Sandhurst verabschiedet wurden. Fotos, auf denen der Prinz in soldatischer Montur und mit stahlharter Miene abgebildet war, untermalten Pressemeldungen, in denen bekannt gegeben wurde, dass er sich nach seiner Offizierskarriere dazu entschlossen habe, ›seinem Land bei Einsätzen in Afghanistan und im Irak zu dienen‹.«1
Das Hamburger Abendblatt berichtete im Februar 2007: »Prinzessin Dianas (36) jüngster Sohn soll über die Entsendung überglücklich sein. Denn das Recht, in den Krieg zu ziehen, musste er sich schwer erkämpfen: Lange Zeit galt es als ausgeschlossen, das Leben der Nummer drei der britischen Thronfolge zu riskieren. Harry selbst hatte stets betont, dass er nicht anders behandelt werden wolle als alle anderen Soldaten der britischen Streitkräfte. ›Ich will auf keinen Fall eine Ausbildung in Sandhurst durchstehen, um danach zu Hause auf meinem Arsch zu sitzen, während meine Jungs für ihr Land kämpfen‹, wetterte er vergangenes Jahr in einem Interview.« (Nürnberger 2007)
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In seiner jugendlichen Lebensphase (21) fühlt sich laut Pressemeldungen Prinz Harry einem militärischen Auftrag verpfl ichtet. Er verkörpert damit eine soldatische Geisteshaltung, die keineswegs der Vergangenheit angehört. Auch der Journalist Tomas Avenarius bezog sich in der Süddeutschen Zeitung (März 2002) in seinem Bericht über den Auf bau einer afghanischen Armee unter Anleitung amerikanischer, britischer und deutscher Offiziere auf ein soldatisches Männlichkeitsideal, das – folgen wir den Medien – in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts eine ungebrochene Anziehungskraft zu besitzen scheint: »Neue Männer braucht das Land. Die Soldaten kennen sich aus mit Kalaschnikows, an militärischen Drill aber müssen sie sich erst gewöhnen«. Unter diesem Titel meldete Avenarius die »Geburt der neuen afghanischen Armee«: »[…] was sich in der Kaserne in der afghanischen Hauptstadt in den vergangenen sechs Wochen abgespielt hatte, entsprach kaum dem, was an der britischen Militärakademie in Sandhurst oder auf einem deutschen Exerzierplatz vor sich geht. Die bärtigen Männer, die unter dem Kommando britischer Offiziere mit schlackernden Uniformen und hoch in die Luft gerecktem Holzstecken über den staubigen Hof marschierten, hatten oft sichtbar Mühe, im Gleichschritt zu bleiben. ›Mit Disziplin war bei denen nicht viel‹, sagt Bundeswehrhauptmann Holger Wilhelm […]. Da mußte man ganz von vorne anfangen‹.« (Avenarius 2002a: 9)
»Ganz von vorne anfangen« – diese Forderung bezieht sich auf den militärischen Drill – eine Disziplinartechnik, die den Auf bau einer schlagkräftigen Armee durch die Organisation einer strengen hierarchischen Ordnung und die Synchronisierung soldatischen Handelns im Krieg zum Ziel hat. Dieses Konzept der Manneszucht entstand im Europa des 17. Jahrhunderts – »das Jahrhundert des Immerwährenden Krieges« (Burkhardt 1992: 10) –, in dem 5193 militärische Auseinandersetzungen auf europäischem Boden gezählt werden (vgl. Pröve 1997: 24). Jene Epoche der europäischen Geschichte war gekennzeichnet von einer unübertroffenen Kriegsdichte, einem Anwachsen der Armeen, immer größer werdenden Kriegsschauplätzen, längeren Schlachten, dem Einsatz neuer Kriegstechnologien und eben der Einführung des Drills. Historiker sprechen auch von der »Geburt des Militarismus«. Der entstehende moderne Staat schuf Armeen und umgekehrt wurde das Militär ein zentraler Bestandteil in der Herausbildung von Staatlichkeit. Preußen spielte dabei eine Vorreiterrolle. Es entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem Militärstaat, in dem die Armee den Kern des Regierungsapparats bildete. Dieser zunehmenden gesellschaftspolitischen Bedeutung des Militärs entsprechend wurde Kriegsführung zu einer eigenen Wissenschaft und durch Gründungen von Kriegsakademien perfektioniert. 244
Darstellung von Gewalt und Geschlechterbildern
Ein »roher Haufen« oder eine Ansammlung aggressiver Männer sollten in eine straff organisierte Armee mit Uniformen, Rangabzeichen, Kampfmoral und Korpsgeist umgewandelt werden und Soldaten hatten dabei wie Automaten im Rahmen einer militärischen Befehlsstruktur kriegerisch zu fungieren (vgl. Horn 1998/99). Aber erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als die Armeen nicht mehr nur Männer des Adels, der gebildeten Schichten und Vaganten rekrutierten, sondern das Massenheer durch die Einführung der Wehrpflicht den Beginn des modernen Krieges markiert, wurde der scharf gedrillte Soldat zum Leitbild für ein neues Männlichkeitsideal, das ab jetzt unter dem Topos »männlicher Natur« schichtübergreifend für alle Männer verbindlich werden sollte und dann noch eine völkische oder gar rassische Note erhielt. War noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vaterschaft ein wesentlicher Bestandteil im kulturellen Verständnis von Männlichkeit, so wurden nunmehr familiäre Gefühlsbindungen zugunsten des Militärs verworfen und dem neuen Männlichkeitsideal soldatische Attribute wie Kampf bereitschaft, disziplinierte Aggressivität und Härte eingeschrieben. Obzwar erst durch die militärische Dressur zum Ideal stilisiert, biologisierten im wissenschaftlichen Begründungszusammenhang vor allem Mediziner und Anthropologen diese kriegerischen Eigenschaften und forderten jedem einzelnen Mann eine gewisse Apathie gegenüber außermilitärischen sozialen Beziehungen ab. Soldatische Männlichkeit avancierte zu einem hohen Wert in einer als männlich verstandenen Nation. Das Militär wurde zur Schule der Männlichkeit und der scharfe militärische Drill teilweise sogar zum Erziehungsmodell kindlicher Sozialisation in der Schule (vgl. Mosse 1997; Frevert 2001; Reulecke 2001; Levsen 2005). Die Wehrpflicht, so Ute Frevert, »universalisierte die Funktion des Mannes als Krieger […] Sie attackierte den unkriegerischen Habitus des Zivilisten und denunzierte ihn als Ausdruck persönlicher Feigheit« (Frevert 1996: 81). Verletzungen des Körpers, Drill und Inszenierungen von gewalttätigen Extremsituationen standen bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Zentrum der kulturellen Genese männlicher Geschlechtsidentität, die mit der Durchsetzung des Nationalgefühls an eine politische Identität geknüpft wurde.
Die Reaktualisierung von kolonialen Männlichkeitsbildern Im Zuge der momentan zu beobachtenden »Wiederkehr der Gewalt«, die sich in der zunehmenden Kriegsbereitschaft westlicher Allianzen manifestiert, stellt sich die Frage nach Formen der Reaktualisierung eines 245
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im Militär sich formierenden Männlichkeitskults, der für die zwei Weltkriege des letzten Jahrhunderts konstitutiv war. Denn jene Verhöhnung afghanischer Männer, deren Körper sich in Diskrepanz zu ihrer Uniform »unsoldatisch« bewegen, entspricht ganz und gar dem Arsenal westlicher Vorstellungen von Militär und Männlichkeit. Die von Tomas Avenarius vermittelte Norm des durch Drill erzeugten Soldatentums ist exemplarisch für eine bestimmte Wahrnehmungsstruktur, die auch in der aktuellen Kriegsberichterstattung auftaucht. Diese transportiert Ordnungs- und Wertvorstellungen, die aus unserer eigenen Geschichte der zwei Weltkriege stammen. Paradoxerweise machen sie vor dem Hintergrund unseres Selbstverständnisses einer zivilen Gesellschaft die durch westliche militärische Operationen verursachten Kriegsgräuel gleichermaßen unsichtbar. Meine These ist, dass insbesondere Kriegsbilder aus Afghanistan in ihrem jeweiligen Darstellungsmodus von Gewalt deren Rechtfertigung in der Figur des »Befreiers« bzw. deren Verurteilung in der des »Schurken« codieren. Sie greifen dabei auf die im europäischen kulturellen Gedächtnis verankerten Männlichkeitsbilder zurück und haben eine innere Verwandtschaft mit dem Klischee vom »zivilisierten« Weißen als disziplinierten Soldaten auf der einen Seite und vom »blutrünstigen« bzw. »infantilen Wilden« auf der anderen Seite. Diese Stereotypisierungen blühten während des Ersten Weltkriegs im Zuge des Einsatzes von über einer Million nichtweißer Soldaten aus den Kolonien Frankreichs und Großbritanniens auf und wurden im internationalen politischen Diskurs sowie von der Kriegspublizistik im öffentlichen Bewusstsein verankert (vgl. Koller 2001). All solchen aus der kolonialen Fremdwahrnehmung hervorgegangenen Zuschreibungen lag eine Männlichkeitskonstruktion zugrunde, die europaweit mit den verschiedenen Rassenbildern und dem Duktus des »Herrenmenschen« korrespondierte. Ihre gängigen Stereotypien beinhalteten auch gemeinsame Elemente mit der kulturellen Entwertung von Frauen als »inferiore« Wesen. Denn der wissenschaftliche Rassismus war mit der zeitgleich entwickelten »Sonderanthropologie Frau« und der psychiatrischen Entartungslehre von der »weiblichen Minderwertigkeit« aufs engste verknüpft: Analog zur Frau wurden dem »Wilden« sowohl Schönheit als auch atavistische Züge mit einer gewissen Tiernähe nachgesagt (vgl. Honegger 1991: 126ff.; Bergmann 1992; McClintock 1995; Koller 2002). Standen Eigenschaften wie Intelligenz, Rationalität und positiv konnotierte Kampfeslust im Zentrum männlicher Normalität, so wurde für den »weiblichen Geschlechtscharakter« das genaue Gegenteil behauptet. Frauen galten als infantil, instinkthaft, chaotisch, lügenhaft, tierähnlich, geistlos und wenn zum Verbrechen neigend, dann als weitaus gewalttätiger und bestialischer als das männliche Geschlecht (vgl. Bergmann 1992: 246
Darstellung von Gewalt und Geschlechterbildern
91ff., 135ff., 246ff.). Die Weiblichkeitskonstruktion des 19. Jahrhunderts, in der die »Minderwertigkeit der Frau« zu einem Wesensmerkmal der weiblichen Anthropologie erhoben wurde, deckt sich teilweise frappierend mit der Attributierung von Kolonialsoldaten, die in der Kriegsberichterstattung als tierähnlich, primitiv, unzivilisierbar und blutrünstig geschildert wurden (vgl. Koller 2001). Ohne die Tyrannei des Talibanregimes und die irakische Diktatur unter Saddam Hussein bagatellisieren zu wollen, geht es mir im Folgenden darum, die Berichterstattungen der Medien und deren immanente Wertvorstellungen nach den in unserem kulturellen Gedächtnis verankerten Geschlechterbildern zu befragen und diese auf ihre eigene Geschichtlichkeit hin zu überprüfen. Denn die polarisierende Setzung des »Zivilisierten« und »Barbarischen« geht auf das im Zuge des Kolonialismus entwickelte eurozentristische Muster der Fremdwahrnehmung zurück. Dieses Gegensatzpaar war laut Urs Bitterli vor allem ein Resultat der kaum zu bewältigenden Verarbeitung von der Begegnung des Europäers mit Menschen aus ihm fremden Kulturen (vgl. Bitterli 1976: 167ff.). Schließlich rechtfertigte die Polarisierung vom »Zivilisierten« und »Barbarischen« die eigene unrechtmäßig ausgeübte Gewalt durch die Eroberer und ist daher am wenigsten dazu geeignet, Differenzen zwischen anderen Gesellschaften und der europäischen Kultur zu erfassen. Elemente dieses kolonialen Wahrnehmungsschemas fließen in die kriegsberichterstattende Perspektive auf die afghanische Kultur im Zeichen der Coalition against Terrorism (2001) und teilweise auch in Darstellungen des Irakkrieges ein. So zeichneten westliche Medien in ihrer Berichterstattung über den Afghanistankrieg die Talibanherrschaft (19942001) als Urbild einer tief verwurzelten archaischen, »unterentwickelten«, gewalttätigen und »unzivilisierten« Männerherrschaft. Laut eines SPIEGEL-Artikels »hockte« der »Chef-Terrorist Osama Bin Laden noch in den Höhlen von Tora Bora«, (Neef 2001: 151 Herv. A.B.) zudem war von »Blutsäufern« (Hoyng u.a. 2001: 171), »Steinzeitkriegern« (Ilsemann u.a. 2001: 141) und einem »blutrünstigen Regime« (Klußmann 2001: 155) die Rede. Diese Diktion ist historisch vergleichbar mit der Propaganda, die während des Ersten Weltkrieges die Presseberichte über nicht weiße Kolonialsoldaten beherrschte: Rekruten aus Afrika wurden als »bestialisch« gekennzeichnet und, wie Christian Koller herausgearbeitet hat, in einen genauen Gegensatz zu »gutgedrillten deutschen Soldaten« (Koller 2001: 108) gestellt. Bevorzugt Kannibalismusgeschichten prägten das Bild vom afrikanischen Mann (vgl. Koller 2001: 110f.).2 Der Simplicissimus beispielsweise zeigte 1915 eine Karikatur, auf der ein weißer Soldat nach dem Verbleib der Kriegsgefangenen fragt. »Gefressen, mein Kapitän«, antworten
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seine afrikanischen Untergebenen (Ausgabe vom 4. Mai 1915, zit.n. Koller 2001: 102). Auch die Verstümmelung des Feindes, wie z.B. das Abschneiden von Ohren, galt als eine ureigene Manier des »unzivilisierbaren Wilden« (vgl. Koller 2001: 140). Damit wurde die Tatsache verschleiert, dass diese Praktik ein in kriegerischen Auseinandersetzungen interkulturell gängiges Handlungsmuster ist. Schilderungen von einer speziellen Verstümmelungslust finden sich auch in der westlichen Medienberichterstattung über kriegerische Konflikte in Afghanistan: Taliban-Kämpfer, so meldete im Dezember 2001 der SPIEGEL-Korrespondent Christian Neef, hätten »sechs bartlose Afghanen aus einem Bus geholt und ihnen Nasen und Ohren abgeschnitten« (Neef 2001a: 170). Wie er selbst notiert, hatte Neef sich in dieser Reportage auf die Erzählung eines Fahrers verlassen. Ähnliches weiß Tomas Avenarius in einem Buch über seine Reise durch Afghanistan zu berichten. Auch er beruft sich auf seinen Fahrer, den er noch wenige Seiten zuvor mit einer aus der Ideologie des Antisemitismus nur allzu bekannten stereotypen Attributierung vorstellt: »geldgierig, rechthaberisch und nur selten ehrlich« (Avenarius 2002: 14) sei Shirin Agha. Obwohl Avenarius seinen Fahrer der Lügenhaftigkeit bezichtigt, kolportiert er schließlich dessen Erzählung: Taliban hätten ihren Gefangenen die Augen herausgerissen und die Ohren abgeschnitten (vgl. ebd.: 21). Solche Berichterstattungen machen vergessen, dass Gräueltaten (Vergewaltigung, Totenschändung, Verstümmelungen, Folter, Massaker) per se zum Wesen des Krieges gehören und sich noch nie auf bestimmte Streitkräfte beschränkt haben, und zwar trotz der im Laufe der Geschichte erfolgten methodischen, technologischen und konzeptionellen Veränderungen des Krieges. Und so bleibt es ein Strukturelement westlicher Berichterstattungen, die durch die Taliban verübte Gewalt als eine (kulturelle) Eigenheit dieser Kriegspartei in den Vordergrund zu rücken, ohne einmal die Grundfrage nach Zusammenhängen von Todesangst, Töten und Gewalteskalationen zu stellen, die dem Krieg immanent sind. Diesem Darstellungsmodus entsprechend wurden die Leichenschändungen durch deutsche Bundeswehr-Soldaten im Zuge des Afghanistanfeldzugs von der Politik und den Medien als »einzelne furchtbare Ausnahmefälle« (tagesschau.de vom 30.10.2006)3 suggeriert und somit aus der Normalität der westlichen Kriegskultur verbannt. Im Oktober 2006 kursierten in der Presse mehrere Fotos, die aus dem Jahr 2003 stammten – auf einem dieser Bilder war ein deutscher Soldat zu sehen, der einen Totenschädel an seinen entblößten Penis heranführt. Deutsche Politiker warnten vor Pauschalangriffen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte dieses »Verhalten« zu einer Beleidigung für die vielen tausend Bundeswehrsoldaten, die sich im Auslandseinsatz befänden (vgl. ebd.). 248
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Obwohl im Christen- wie im Judentum und über ihr religiöses Verbot hinaus die Leichenschändung in westlichen Rechtskodices als kriminelles Delikt mit Geld- und Gefängnisstrafen verfolgt wird, stellte anlässlich der Totenschändungen durch Bundeswehrsoldaten in Afghanistan die Berliner Zeitung Der Tagesspiegel online die Meldung der internationalen Nachrichtenagentur AFP »Die Totenruhe ist im Islam heilig« (Der Tagesspiegel online vom 25.10.2006). 4 Mit dem Hinweis auf einen zu erwartenden »Zorn der islamischen Welt« wurde in diesem Artikel das Recht auf Totenruhe als eine der westlichen Kultur mehr oder weniger überholte, wenn nicht gar fremde Sitte vermittelt: »Nach islamischer Auffassung ist der Tod nicht das Ende des Lebens, sondern nur eine Übergangsphase zwischen dem irdischen Dasein und der Auferstehung der Toten. Folglich gebührt Toten ebenso Respekt wie Lebenden. […] Der Leichnam muss möglichst unversehrt zu Grabe getragen werden. Eine Einäscherung – wie im Westen mittlerweile weit verbreitet – ist für viele Muslime undenkbar.« (Ebd.)
Diese Information hinterlässt den Eindruck, als würden die Gesetze des christlichen und jüdischen Totenkults sowie seine zugrunde liegenden Todesauffassungen von den muslimischen überhaupt abweichen. Wenn es eine zentrale Gemeinsamkeit unter den drei monotheistischen Religionen gibt, dann ist es die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode. Vor diesem Hintergrund setzten auch die christlichen Kirchen einen entschiedenen Widerstand der verbrennungstechnologischen Erfindung und Einführung des Krematoriums im späten 19. Jahrhundert entgegen. Denn auch für sie war der Glaube an eine leibliche Auferstehung verbindlich. Die Katholische Kirche hob das strikte Verbot der Feuerbestattung erst 1962 durch das Zweite Vatikanische Konzil zwar auf, doch stellt auch heutzutage das Einäschern in katholischen Regionen ein Tabu dar. Nicht zuletzt schuf die Einführung des Krematoriums am Ende des 19. Jahrhunderts die technischen Rahmenbedingungen für die Massenvernichtung in den Konzentrationslagern – ein Aspekt, der auch die Entwicklungsgeschichte der Einäscherung »im Westen« berührt: »Die Industrialisierung des Todes, die im späten 19. Jahrhundert mit der Feuerbestattung begonnen hatte, erreichte in den Krematorien der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager ihren zynisch-brutalen Höhepunkt«, so der Historiker Norbert Fischer (Fischer 2001: 78).
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Codierungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung: Geschlechter verhältnisse und Gewalt In der Darstellung von Gewalt, von der sich die westliche Zivilisation gut zu distanzieren weiß, figuriert auch die auf dem sozialen Ausschluss von Frauen basierende Geschlechterordnung der Talibanregierung als Ausdruck eines antizivilisatorischen Gegenpols zu unserer demokratisch verfassten zivilen Gesellschaft (siehe den Beitrag von Barbara Grubner in diesem Band).5 Die Misshandlung von Frauen schrieb sich in die westliche Vorstellungswelt als das Hauptmerkmal der afghanischen Kultur ein, die zudem als eine homogene Gesellschaft suggeriert wurde. Realiter allerdings zeichnet sich insbesondere Afghanistan durch eine äußerst große Vielfalt nicht nur in sprachlicher und ethnischer, sondern auch in religiöser Hinsicht aus (vgl. Schetter 2004). In der Charakterisierung der in Afghanistan herrschenden männlichen Gewalt durch die Taliban wurde zudem bevorzugt der Vergleich mit dem mindestens fünf hundert Jahre zurückliegenden europäischen »finsteren Mittelalter« gezogen (vgl. z.B. Falksohn 2001: 137). Diese Epoche wird im europäischen Geschichtsbewusstsein fälschlicherweise mit der erst in der Frühen Neuzeit erfolgten Gewalteskalation vor allem durch den Anstieg kriegerischer Auseinandersetzungen, Folterungen, Hexenverfolgungen und Hinrichtungsexzessen im 17. Jahrhundert identifiziert. Diese Chaotisierung ging einher mit einer zunehmenden Patriarchalisierung der europäischen Kultur, die im 19. Jahrhundert in die langfristige Etablierung einer rigiden und biologistischen Geschlechterordnung unter männlicher Dominanz als ein zentrales Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft mündete. Die gängige Gleichsetzung von Gewaltverhältnissen des europäischen Mittelalters mit denen der afghanischen Gesellschaft hingegen entspricht dem evolutionären Geschichtskonzept, das zum einen den kolonialen Blick auf nicht christliche Kulturen reproduziert und zum anderen das der Moderne eigene Gewaltpotential verschleiert. So dient diese historische Parallelisierung der Idealisierung unserer westlichen Zivilisation, die sich so zu einer gewaltfreien und durch geschlechtliche Gleichberechtigung auszeichnenden Zivilgesellschaft, kurzum zur Repräsentation der höchsten Kulturstufe stilisiert. Dieser Idealisierung entsprechend wurde in der politischen Rechtfertigung der europäischen Beteiligung durch die International Security Assistance Force (ISAF) und des Eurocorps an der Coalition against Terrorism in Afghanistan, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Rassismus, Kolonialismus, zwei Weltkriegen und Totalitarismus gezeichnete und von Gewalt überhäufte Geschichte Europas ausgeblendet. Und auch 250
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die von den Medien besonders in den Blick genommene Unterdrückung der Frauen durch das Taliban-Regime gab dem Afghanistankrieg eine wesentliche Legitimationsbasis, obwohl bis in die jüngste Vergangenheit auch das Geschlechtersystem der westlichen Zivilisation auf dem militärischen Männlichkeitsideal und der Verhäuslichungsideologie der Frau, also auf einer tief verwurzelten eigenen patriarchalen Tradition beruhte. Diese Geschlechterordnung verbannte Frauen durch deren fundamentale Entwertung als »minderwertige Wesen« aus Geldökonomie, Politik, Wissenschaft und Kunst. Vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte erscheinen die politische Legitimation der europäischen Beteiligung an der »Operation Enduring Freedom« in Afghanistan sowie deren praktische Durchführung ohne kritische Distanz zu dem aus dem westlichen Wertesystem hervorgegangenen militärischen Männlichkeitsideal um so dubioser. In ihrem Buch »Das Leiden anderer betrachten« (2003) reflektiert Susan Sontag anlässlich der Ereignisse des 11. Septembers 2001 und der darauf folgenden Kriege, die mediale Darstellung und Darstellbarkeit von Gewalt, Schrecken und Tod. Darin problematisiert sie die allgemein zu beobachtende Tendenz der Kriegsfotografie und des Fernsehens, Informationsangebote mit Unterhaltungselementen anzureichern, wodurch eine Entgrenzung von Fakten und Fiktion noch forciert wird. Anknüpfend an die von Sontag thematisierte Rechtfertigung der Gewalt durch sich selbst in der Rivalität zwischen dem von Kriegsbildern ausgelösten »Ruf nach Frieden« und dem »Schrei nach Rache« (Sontag 2003: 20) kann, hinsichtlich der historisch tief verwurzelten Funktionszuschreibung des männlichen Geschlechts zu der Realisierung der aus dem »Ruf« und »Schrei« geforderten militärischen Friedenssicherung bzw. Rache, auf die Rolle des westlichen Militärs verwiesen werden. So wurde diese von Sontag beschriebene Ambivalenz in den negativ und positiv codierten, von Medien vermittelten Männlichkeitsbildern aus dem Afghanistankrieg evident. Kameras nahmen einerseits ISAF-Soldaten als Befreier und Friedensstifter in den Blick, andererseits Afghanen als Rächer, Gewalttäter, »Schurken« oder »große Kinder«. Dem kolonialen Wahrnehmungsmuster des 19. und 20. Jahrhunderts verhaftet, lieferte Tomas Avenarius in seinem Reisebericht unter der Kapitelüberschrift »Dem Teufel auf der Spur« eine physiognomische Beschreibung seines afghanischen Fahrers, der ihn durch das nordafghanische Gebirge führte: »Leicht nach vorne gebeugt saß Shirin Agha am Steuer, sein spitzes Bärtchen und die in die Stirn geschobene Filzkappe drückten sein Gesicht zu einem satanischen Dreieck zusammen.« (Avenarius 2002: 13) Weiter wird Shirin Agha als hinterwäldlerische Witzfigur verhöhnt – eine
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Stereotypisierung, die im Ersten Weltkrieg auch den Kolonialsoldaten charakterisierte (vgl. Koller 2001: 113). »Shirin Agha hatte den rechten Fuß gleichzeitig auf Gas und Bremse, bearbeitete dabei mit dem linken die Kupplung, ruckte und zerrte an den Schaltknüppeln. […] Die Pannen häuften sich. Immer öfter stieg auch Shirin Agha selbst aus. Seine Eingriffe erinnerten an die Frühzeit der Kriegschirurgie.« (Avenarius 2002: 14-15)
Erst der von Tellermütze, Filzkappe und vom Turban »befreite«, westlich gekleidete afghanische Mann mit gestutztem Bart und Kurzhaarschnitt repräsentierte in der medialen Darstellung eine in geschlechtlicher wie sozialer Hinsicht neue zivile Ordnung. Seine Emanzipation schien durch den seiner Kultur fremden soldatischen Drill geradezu vollendet und keineswegs konterkariert. Abgeschnittene Bärte und Hosen im westlichen Stil sowie Lippenstift, Make-up und Büstenhalter wurden zu Sinnbildern für eine Geschlechter- und Gesellschaftsordnung, die in der westlichen Kultur offenbar Emanzipation und Gleichheit symbolisieren. So suggerierte auch Avenarius den Lippenstift als ein Zeichen weiblicher Freiheit: »Aufatmen nach dem Schleierfall. Die neue Freiheit hat auch in Afghanistans Provinz Einzug gehalten – sie kam mit Lippenstiften…« – lautet die Überschrift seines Reiseberichts (Avenarius 2002: 79; vgl. weiter ebd.: 79ff.). Parallel dazu legte die westliche Berichterstattung über getötete Taliban-Kämpfer ein entmenschlichendes Wahrnehmungsmuster von afghanischen Männern nahe und verwendete Ungeziefermetaphern: So war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der Frankfurter Rundschau von »Widerstandsnestern«, der »Vernichtung«, »Zerstörung« und »Aushebung von Nestern« oder von »eingenisteten« Taliban die Rede (Busse 2002: 6; Nonenmacher 2002: 2; Ilsemann 2001: 160). Der SPIEGELKorrespondent Christian Neef zitierte unkritisch einen amerikanischen Journalisten von Fox News: »Die da oben sitzen sind alles Ratten […] wir müssen sie in Grund und Boden bomben – wie Ratten eben.« (Neef 2001: 151)6 Die Gleichsetzung des erklärten Feindes mit Ungeziefer und Ratten beherrschte auch die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten. Wegen ihres historischen Beigeschmacks stieß die Verwendung dieser politischen Metaphorik auf Kritik, als am 29. Januar 2002 US-Präsident George W. Bush in seinem »Bericht zur Lage der Nation« von »terroristischen Parasiten« sprach.7 Die Verwendung von Sprachbildern im Krieg ist eine gängige Methode zur Erzeugung von Feindbildern. Anlässlich der westlichen Medienberichterstattung über den Ersten Golfkrieg bemerkt Uwe Pörksen: »›Feindbild‹ ist verbildlichen, ihn als Bild festzufrieren, bevor man gegen ihn anrennt, und es gilt im höchsten Maße für die kriegerische Vernichtungswut, 252
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dass sie sich dieses Mittels der Bildaufprägung bedient.« (Pörksen 1991: 17) Umgekehrt können Metaphern in der Darstellung von Gewalt auch als Beschwichtigungsmittel gegen die Realität des Schreckens und des Todes eingesetzt werden. Rhetorische Verniedlichungen in der Namensgebung von Tötungsinstrumenten und Massenvernichtungsmittel ziehen sich durch die Geschichte des Krieges und der Gewalt insgesamt. So wurden in Afghanistan und im Irak Treibstoff bomben namens »Daisy Cutter« (Gänseblümchenschneider) verwendet, die im Umkreis von einigen hundert Metern alles Leben töten. Ebenso Feldzugbezeichnungen wie z.B. »Operation unbegrenzte Gerechtigkeit«, »Operation dauerhafte Freiheit« (seit 2001), »Operation Irakische Freiheit« (2003) oder die in Afghanistan mit über 4500 Soldaten geführte »Frühjahrsoperation Achilles« (März 2007) der »Internationalen Schutztruppe« ISAF, verleihen dem Krieg ein gewaltfreies Gesicht und machen das alle kriegerischen Auseinandersetzungen beherrschende Vernichtungsprinzip unkenntlich. Den Gebrauch von Euphemismen in Zusammenhängen des organisierten Tötens deutet Hans von Hentig als ein Phänomen, das als »geistiges Hilfsmittel« (von Hentig 1958: 144) dient, um Gewissensängste zu beschwichtigen und gleichsam Gewalthandlungen zu verdunkeln. Eine andere kulturelle Technik zur Auf hebung des Tötungstabus kam schon in der Organisation der frühneuzeitlichen Hinrichtungsrituale zum Zuge: So wurde der Augenkontakt mit dem Exekutionsopfer durch eine Gesichtsverhüllung des Henkers ebenso wie des Hinrichtungsopfers zu vermeiden versucht, um Tötungshemmungen beim Vollstrecker zu reduzieren. Da die Maske für die Täterseite generell die Funktion hat, eine andere Identität zu erzeugen, dem zu attackierenden Objekt Angst einzuflößen und gleichzeitig die eigene Furcht des Maskierten zu beschwichtigen, wird die Gesichtsverhüllung gerade auch im Krieg genutzt. Beispielhaft hierfür sind die im Irak eingesetzten schwarz bebrillten US-Marines und die irakischen Gefangenen mit über den Kopf gezogenen Säcken. Die Erzeugung der Gesichtslosigkeit durch das Verbinden der Augen bietet eine wesentliche Voraussetzung zur Überwindung von Hemmungen, die sich im direkten Blickkontakt auf bauen und die Ausführung einer gezielten Gewalttat gefährden könnten. In den Hinrichtungsritualen auf europäischem Boden war es daher Regel, dass der Henker ausschließlich von hinten mit dem Schwert zuschlug (vgl. Bergmann 2004: 144ff.). An dem Blickkontakt mit seinem sterbenden Opfer zerbrach der USElitesoldat Tyrone Stone, der im Irakkrieg in der 101. Airborne Division als bester Schütze galt. Seit Stone sich einem von ihm als getötet geglaubten irakischen Soldaten genähert und ihm in seine hasserfüllteen Augen geschaut hatte, während dieser starb, fühlt Stone sich als Mörder. Dieses Erlebnis veranlasste ihn, den Soldatenberuf aufzugeben. Von Alpträumen 253
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geplagt, versucht er seither seine Schuldgefühle los zu werden, indem er die ihm aus seiner indianischen Kultur vertrauten Entschuldigungsrituale täglich praktiziert (vgl. Dolz 2004). Während die Entpersonalisierung von Kampf handlungen durch die Vermeidung des Blicks mit afghanischen und irakischen Opfern auch in der westlichen Kriegsberichterstattung ein zu beobachtendes Phänomen ist, wurde in der politischen sowie journalistischen Rhetorik und Darstellung von US-Soldaten im Irakkrieg eine gänzlich andere Perspektive eröffnet: z.B. der »Embedded Journalist«, der vor dem Bildschirm als Reporter und gleichsam in der Gestalt eines uniformierten Soldaten im ABCSchutzanzug mit Gasmaske und Stahlhelm als Teil der Truppe im Stil des traditionellen Kriegshelden für die Zuschauergemeinde agierte und sein Leben riskierte. Bei gleichzeitigem Verschwinden der Bilder von westlichen Kampfhandlungen, Kriegsschauplätzen, von verwundeten und getöteten Soldaten auf Seiten der amerikanischen Kriegskoalition (vgl. Paul 2004: 454ff.) verkörperte der »eingebettete Journalist« einen Helden, der den Zuschauern Krieg als rein männliches Abenteuer mit dem gewissen Kick und den »Spaß an der Sache« vermittelte (vgl. z.B. den Bericht des »Embedded Journalist« Evan Wright 2005: 37-38; Beuthner/Weichert 2005: 154ff.).
Heldin und Bestie: Bilder von Frauen als Soldatinnen Sowohl in den europäischen Diktaturen als auch in der Arbeiterbewegung galt bis weit ins 20. Jahrhundert der Krieger, der gewalt- und tötungsbereit sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, als höchste Repräsentation von Männlichkeit. In der Spätmoderne wurde dieses Geschlechterkonzept zunehmend verworfen. Zwar blieb das Militär eine wichtige Bastion auch westlicher Demokratien und Allianzen, sein Männlichkeitskult jedoch schien zu verblassen. Im Zuge von Gleichberechtigungsbestrebungen haben Frauen als Soldatinnen seit Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zuerst in den USA Zugang zum Dienst an der Waffe gefunden. Und dennoch: »In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich«, so Ruth Seifert, »wird die Kategorie ›Geschlecht‹ noch als so ›natürlich‹ und ›unvermeidlich‹ empfunden wie in den Institutionen kollektiver Gewaltausübung. Das Militär hat auch in post-modernen Gesellschaften ein hegemonial-männliches Geschlecht« (Seifert 2002: 54). Um so erstaunlicher und paradoxer erscheint die Tatsache, dass die Folterpraktiken in dem Bagdader Gefängnis von Abu Ghraib ausgerechnet unter dem weiblichen Namen Lynndie England firmieren – weltweit die berühmteste Soldatin, die ihren Bekanntheitsgrad wegen ihrer auf den ver254
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öffentlichten Fotos gezeigten Gewalttätigkeit erlangte. Dass diese Folterpraxis System und eine lange Vorgeschichte mit über Jahrzehnten durchgeführten psychologischen und medizinischen Folterexperimenten unter der Regie der CIA hatte, verschwindet hinter Bildern, auf denen Lynndie England außerhalb von jeglicher Befehlstruktur als Sadistin individuell zu handeln scheint. Das Konzept der »sensorischen Deprivation«, das auf eine systematische Regression und Zerstörung der Persönlichkeit von Häftlingen abzielt, war ein Resultat der seit den fünfziger Jahren einsetzenden Folterforschung der CIA (vgl. McCoy 2005: 32ff.). Techniken der sinnlichen Isolation, der Außerkraftsetzung menschlicher Rhythmen wie Schlafen, Essen und Trinken durch Schlaf-, Licht- und Nahrungsentzug, unerträgliche Temperaturen wie Hitze und Kälte, extreme Lärm- und Geruchsbelästigungen, die Verhüllung des Kopfes auch zur Erzeugung von Todesangst schufen ein neuartiges Folterparadigma, das von der Bush-Regierung im »Krieg gegen den Terror« speziell für Mitglieder von Al Qaida und die Taliban eine neue Legitimation erfuhr. Die 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Erklärung der Menschenrechte und auch das 1949 von den Vereinigten Staaten ratifizierte Genfer Abkommen, wonach Kriegsgefangene mit Menschlichkeit zu behandeln und entsprechend jede Art von Folter und Grausamkeit untersagt sind, gelten laut einem Memorandum des US-amerikanischen Justizministeriums vom 9. Januar 2002 nicht für die Haftbedingungen Gefangener von Al-Qaida und Taliban (vgl. ebd.: 95ff.; Willemsen 2006). Die zunächst in den US-Stützpunkten Bagram bei Kabul und in Guantánamo auf Kuba angewandten Verhörmethoden gegenüber Häftlingen – z.B. stundenlanges Verharren in schmerzhaften Positionen mit farbbesprühten Taucherbrillen oder über den Kopf gestülpten schwarzen Säcken – brachte bereits im Dezember 2002 die amerikanische Zeitung Washington Post (vgl. McCoy 2005: 111, Anm.1: 218) an die Öffentlichkeit – also lange vor der Publikation einiger weniger von über hundert vorliegenden Folterbildern aus dem Gefängnis Abu Ghraib im Frühjahr 2004. Ausgerechnet die Gewalttaten einer Frau wurden mit den zur Veröffentlichung freigegebenen Fotos in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben (vgl. Weckel 2004). Mit einer Zigarette im Mundwinkel und grinsendem Gesicht demütigt und quält Lynndie England entblößte afghanische Männer auf besonders perfide Weise. Während England zum Sinnbild der grausamen Gewaltexzesse in Abu Ghraib wurde, blieben, wie der Historiker Alfred W. McCoy bemerkt, die eigentlichen »Architekten der Folterpolitik in Abu Ghraib, Bagram und Guantánamo: Alberto Gonzales, Donald Rumsfeld, William Haynes, Jay Bybee und Stephen Cambone« (McCoy 2005: 152) im Hintergrund. Politi255
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ker, höhere Militärs und Geheimdienstler werden bis heute nicht mit den Geschehnissen im Bagdader Gefängnis in Verbindung gebracht, obwohl im Zuge der Gewalteskalationen auf irakischem Boden seit Herbst 2003 und der daraufhin erfolgten sprunghaften Zunahme von Verhaftungen irakischer Männer – allein in Abu Ghraib stieg die Zahl der Gefangenen von 7000 auf 14.000 (vgl. Mc Coy 2005: 116) – das Konzept entstand, Abu Ghraib zu »gitmoisieren«, d.h., Strukturen von Guantánamo (in den USA Gitmo genannt) auch im Bagdader Gefangenenlager zu etablieren (vgl. ebd.: 115ff.). Stattdessen stehen die Taten von Lynndie England für die Pathologie einer sexuell perversen Frau, keineswegs jedoch für eine politisch motivierte Straf- und Verhörpraxis. Dieser Darstellungsmodus von weiblicher Gewalt ist zwar nicht identisch, hat aber eine gewisse Verwandtschaft mit der Hexe als weiblicher Repräsentationsfigur sexueller Übermacht und dem Bösen schlechthin. Nicht zuletzt war auch in der deutschen Tageszeitung Bild von der »Folterhexe« die Rede (zit.n. Weckel 2004). Darstellungen von Seuchen wie z.B. Pest, Cholera und Syphilis in Gestalt von Frauenfiguren sowie die feminine Benennung von Tötungs- und Folterinstrumenten haben in der europäischen Kulturgeschichte eine lange Tradition – so z.B. die Marter- und Hinrichtungsmaschinen wie die Eiserne Jungfrau oder die Guillotine, deren Namen auf ihren Erfinder, den französischen Arzt Joseph Ignace Guillotin (1738-1814) zurückgeht und verweiblicht wurde (vgl. Barley 1998: 260; Kershaw 1959: 19). Stammte die Grundidee des Fallbeils von Guillotin, so war es der Chirurg Antoine Louis (1723-1792), welcher die konvexe Schneidetechnik für dieses Tötungsinstrument entwickelt hatte. Deshalb bezeichnete man die Guillotine auch als Louisette (Louischen) oder La petite Louison (die kleine Louise) (vgl. Barley 1998: 259). »Nackt ist ihr Hals, ihr Kuß ist tödlich, das Blut verrinnt, und langsam stirbt man. Charmante Umarmung, ohne letzte Ölung, ohne falsche Träne, ein süßes Wagnis – […] Es lebe Louisette, die würdige Tochter, zärtlich und närrisch« (zit.n. Kershaw 1959: 64f.) – lautete ein Vers aus der Feder des Poeten Pierre Laujon (1727-1811), den er anlässlich der Neukonstruktion dieser Tötungsmaschine im Jahre 1792 verfaßt hatte. Schon der frühen Guillotine des 15. Jahrhunderts, in Schottland maiden (Jungfrau) genannt (vgl. Kershaw 1959: 37), lag eine doppeldeutige Vorstellung über das »asketische« Töten zugrunde. Auf das weibliche Geschlecht projiziert, löste eine Maschine die »schmutzigen« Hände des Henkers ab und machte die DelinquentInnen zu sexuellen Opfern einer tötenden Weiblichkeit.8 Und so lenken auch die Folterbilder von Abu Ghraib den Blick auf eine Frau, die sexuelle Gewalt ausübt und die männliche Geschlechtsehre der Häftlinge zu verletzen sucht. Eine andere Version der gezielten sexuellen 256
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Demütigung von männlichen Häftlingen offenbarte sich zudem auf Fotos mit nackten arabischen Männern, denen ein Frauenslip über das Gesicht gestülpt war. Eine gänzlich andere Darstellungsvariante von einer im Irakkrieg eingesetzten Soldatin lieferten die Medien mit der Befreiung der 19-jährigen US-Gefreiten Jessica Lynch am frühen Morgen des 2. April 2003 aus der Kriegsgefangenschaft durch ein Sonderkommando, das sich aus Truppen der Eliteeinheiten »Delta Force«, »US-Rangers« und »Navy Seals« zusammensetzte. Diese Aktion wurde der Weltöffentlichkeit in einem mit Nachtsichtkamera aufgenommenen Video gezeigt. »It was a classic joint operation done by some of our nation’s finest warriors who are dedicated to never leaving a comrade behind« (zit.n.: Rötzer 2003), kommentierte Brigadegeneral Vincent Brooks diese Aktion (vgl. zu dieser Medieninszenierung: Dorsch-Jungsberger 2005: 333-355). Bei einer Wartungseinheit war Lynch am 23. März 2003 Presseberichten zufolge in Gefangenschaft geraten und wurde verletzt in das SaddamHospital bei Nassirijah gebracht. Zunächst berichtete die Presse nur von einer Schusswunde. Noch am selben Tag berief sich die New York Times in ihrer Meldung auf einen Armee-Sprecher, der die Medien über mehrere Schussverwundungen informiert hatte. Wenig später war in der Washington Post nicht nur von mehreren Schuss-, sondern von zusätzlichen Stichverletzungen die Rede, die aus einer Kampfhandlung gestammt haben sollen. Die New Yorker Daily meldete einen Tag später, Jessica Lynch sei gefoltert worden und schließlich wusste die New York Times von einer Vergewaltigung zu berichten (vgl. ebd.: 341). Andere Pressemitteilungen wiederum gaben bekannt, Jessica Lynch sei nicht durch Schüsse oder Stiche verletzt und beriefen sich dabei auf das deutsche Militärhospital in Landstuhl. Bis heute liegen die tatsächlichen Begebenheiten zwischen dem 23. März und dem 1. April im Dunkeln, so stellt Petra Dorsch-Jungsberger fest (vgl. ebd.: 342). Auf alle Fälle jedoch wurde Jessica Lynch als Nationalheldin in den amerikanischen Medien gefeiert. In diesem Medienspektakel avancierte die »hübsche Blondine« selbst zum »Heldenmädel Jessica Lynch« (zit.n. ebd.: 350), deren Heldentum nicht etwa auf den klassisch militärischen Attributen ihrer männlichen Befreier beruhte. Vielmehr war es ihr weiblicher Opferstatus als irakische Kriegsgefangene – angeschossen, verletzt, gefoltert und sexuell geschändet –, der sie zu einer weiblichen Kriegsikone machte. Die über sie erzählte Geschichte wurde, wie Petra Dorsch-Jungsberger hervorhebt, ihr buchstäblich »auf den Leib geschrieben« (ebd.: 348), obgleich Lynch die Berichterstattung über ihre Befreiung in einem Interview mit der amerikanischen Journalistin Diane Sawyer des Fernsehsenders ABC dementiert hatte (vgl. ebd.). 257
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Zwar verschwinden zunehmend die Bilder vom Töten im Krieg durch westliche Allianzen, so dass diese militärischen Handlungen immer abstrakter und aus unserem Bewusstsein gelöscht werden, aber dennoch blieb das Terrain manifester Gewalt auf dem Kriegsschauplatz, im Bodenkampf wie das Töten aus der Luft durch Bomberpiloten (vgl. Schüler-Springorum 2002; Geercken u.a. 1983: 100-113), unbeschadet eine ureigene männliche Domäne. Beide Formen kriegerischer Gewalt sind, obgleich auf sehr verschiedene Weise, einem Männerkult verhaftet, der ein Grundelement des Krieges zu bleiben scheint. Wie die vormoderne Soldateska von TalibanKämpfern ebenso wie das moderne Soldatentum, das technologisch hoch aufgerüstet und gedrillt in der westlichen Wahrnehmung von Krieg allerdings eine positiv konnotierte ordnungsstiftende Polizei- und Sicherheitsfunktionen symbolisiert, wird.
Anmerkungen 1 Prinz Harry, der Harte. Bilder als Kämpfer zum Sandhurst-Abschied, in: www.heute.de/ZDFheute/inhalt/19/0,3672,3923731,00.html [abgerufen am 12.03.2007]. 2 Der Begriff »Kannibalismus« geht auf die Eroberungsgeschichte Amerikas zurück. Er stammt aus dem Spanischen caníbal und bezieht sich auf die karibischen Indianerstämme. Caribe, cariba, caniba heißt in der Sprache der Kariben ›stark‹, ›geschickt‹, ›klug‹. Im 16. Jahrhundert drang mit von dem spanischer Eroberer geprägten Wahrnehmungsmuster der Begriff des »Kannibalen« in die europäischen Sprachen (vgl. Etymologisches Wörterbuch 1995: 615f.; Lebek 2001: 53ff.). Kannibalen waren von vornherein »die Anderen«. Der Menschenfressereivorwurf stellt keineswegs nur in der westlichen Zivilisation eine der am meisten verbreiteten Methoden dar, um sich von Menschen fremder Kulturen und Religionen abzugrenzen, denn umgekehrt wurde in afrikanischen Ländern auch dem »weißen Mann« Kannibalismus nachgesagt. Anthropophagie gilt in vielen Kulturen als das Böse schlechthin – eine Zuschreibung, die in Europa zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert Juden, Hexen und im Zuge der kolonialen Unterwerfung anderen Völkern galt. Seit dem 16. Jahrhundert drang sie als festes Klischee in das europäische Bild über fremden Kulturen (vgl. Lewis 1989: 93ff.; Lebek 2001: 53ff.). 3 www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID6054268,00.html [abgerufen am 30.10.2006]. 4 www.tagesspiegel.de/tso/aktuell/nachrichten/hintergrund/78393.asp [abgerufen am 14.5.2007]. 5 So behauptete im Jahre 2002 der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Psychohistorische Forschung Ludwig Janus in seinen »Psychohistorischen Überlegungen zum 11. September in New York« einen Zusammenhang zwischen dem Bedürf-
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nis nach der »in der Beziehung zu Allah gesuchten Vaterimago« und einer besonderen Gewaltbereitschaft »in der arabischen Welt«. Die Differenz zwischen der »arabischen und der europäischen Welt« versucht der Autor anhand einer ferndiagnostischen Persönlichkeitsanalyse von Osama Bin Laden zu erklären und folgert: »In männerdominierten hierarchischen Gesellschaften mit polygamen Strukturen spielt in der Geschlechterbeziehung Gewalt und Macht eine wesentlich bedeutsamere Rolle als in der mehr monogamen Beziehung in egalitären Gesellschaften.« (Janus 2002: 39) 6 Angeblich in einem »Erdloch« spürte eine US-Infanteriedivision Saddam Hussein auf – »gefangen wie eine Ratte«, waren die Worte des Kommandeurs Raymond Odierno, der in der Bildunterschrift der Süddeutschen Zeitung zitiert war (Flottau/ Leyendecker 2003: 3). 7 Vgl. Rede des amerikanischen Präsidenten, George W. Bush, zur zweiten Phase des Krieges gegen den Terror am 11. März 2002 in Washington, abgedr., übersetzt und gekürzt in: www.internationalepolitik.de/archiv/jahrgang2002/april/ rede-des-amerikanischen-prasidenten--george-w--bush--zur-zweiten-phase-deskrieges-gegen-den-terror-am-11--marz-2002-in-washington--gekurzt-.html# [abgerufen am 14.03.2007]. 8 Die Phantasie von einer sexuell mordenden Frau dürfte auch die Namensgebung für den zweiteiligen Badeanzug Bikini beflügelt haben: Angelehnt an die zeitgleich stattfindenden amerikanischen Experimente mit Atom- und Wasserstoffbomben (Operation Crossroads) auf dem Bikini-Atoll der Marshall-Inseln im mittleren Pazifik wurde der Bikini als Strandmodenmodell 1946 von dem französischen Couturier Louis Réard so benannt (vgl. Geercken u.a. 1983: 100– 113). Die amerikanische Regierung hatte das Bikini-Atoll zwischen 1946 und 1957 als Versuchsgelände für insgesamt 23 Atom- und Wasserstoffbombentests genutzt. Auch die zur selben Zeit entstehende Metaphorik des Atombusens, der Sexbombe sowie der Pilotenkult der fünfziger Jahre – Pin-up-Girls zierten die amerikanischen Bomber-Maschinen (vgl. ebd.) –, schließen an die Todeslogik der Hexenverfolgung an, in denen der Tod als sexuell überwältigende Frau repräsentiert ist, weibliche Autonomie hingegen ist zugunsten einer männlichen Macht über den Tod eliminiert.
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Ästhetische und politische Taktiken in einem Gefüge aus Gesten, Blicken, Bildern, Gefühlen und Blindfeldern Anna Schober
Soziale Räume und Blindfelder »Post-urban Landscapes« von Krassimir Terziev (2003) zeigt ein modernes, aus Hochhäusern, sogenannten »Plattenbauten«, zusammengesetztes, grau-beige-blau gehaltenes Stadtgebiet, das von überproportional riesigen Hunden belagert wird. Das Foto wurde an einem leicht nebeligen Wintertag aufgenommen, wie die dünne Schneehaut zeigt, die sich über die durchwegs gleichförmigen, kastenartigen Gebäude und die dazwischen sichtbar werdenden Park- und Vorhof-Situationen zieht. Zwischen den Häusern und über sie hinweg steigen die großen Tiere, Schäferhunde bzw. schäferhundartige Mischlinge, mit grau-beigem Fell und manchmal auch schwarz oder weiß gefleckt. Einige von ihnen bewegen sich so nahe an uns Betrachtenden vorbei, dass die Struppigkeit des Fells fast schon greif bar wird, andere wieder starren fest in die auf sie gerichtete Kamera, und wieder andere scharen sich zu einem Rudel oder drehen sich schnüffelnd nach hinten.
Abbildung 1: Post-urban Landscapes von Krassimir Terziev 265
Anna Schober
Mit dieser Collage hat Krassimir Terziev in ein Bild gefasst, was in vielen Städten Südosteuropas in den Jahren nach der »Wende« um 1989 Wirklichkeit geworden war. Denn verschiedenenorts – in Belgrad und Priština wie in Bukarest oder Sofia – haben damals wirtschaftliche und politische Krisen im Verein mit Hyperinflation, kriegerischen Auseinandersetzungen und Massenwanderungen eine Vielzahl von Tieren herrenlos gemacht, die sich dann zu Rudeln gesammelt und als solche den Alltag dieser Städte in neuer Art geprägt haben. Man fand sie in Parkmulden schlafend, sich in Hinterhöfen aus Mülltonnen ernährend, tagsüber träge in Hauseingängen herumlungernd und nachts die Straßenzüge bellend bewachend. Selbst wenn heute viele dieser Hunde wieder aus den Stadtbildern verschwunden sind, tauchen mit ihnen verbundene Erinnerungen und Bilder weiterhin punktuell im Alltag auf. Die von Terziev gestaltete, überlange (im Original 150 x 20 cm) Collage gibt Zeugnis von diesem für eine Zeitlang real gewordenen Alptraum. Dadurch, dass das Bild die vor Kurzem alltäglich gewesene Desintegration im Verein mit Krieg, Verlust oder Herrenlosigkeit, präsent hält, gewinnt es seine unheimliche, beängstigende Wirkung.1 Die Collage, die den Titel »Suburbia« trägt, stammt aus einer Serie von einander sehr ähnelnden Bildern, die der Künstler mit dem Begriff »Post-urban Landscapes« überschrieben hat. Wir haben es hier also mit einem Vorstadtgebiet zu tun, das zugleich mit einem »Danach« in Verbindung gebracht wird. »Danach« könnte heißen: nach dem Krieg, nach dem Sozialismus, nach der Auswanderung, nach der Krise oder nach der Revolution. Hier scheint damit jedoch in erster Linie markiert zu werden: nach dem Urbanen. Zudem spricht der Titel der Serie von »Landschaften« in der Mehrzahl – was vom Bild her insofern unterstützt wird, als wir hier auf einen Ausschnitt aus einem Stadtgefüge treffen, das keinerlei Indizien bereithält, wo genau es denn zu verorten sei. Die kastenförmigen Bauten könnten sowohl in Osteuropa, in Belgrad oder Sofi a, als auch in Westeuropa, in einem Vorort von Paris oder Genua oder in manchen Suburbs in den USA, Kanada oder Südamerika stehen. Der Ausschnitt, den wir hier vorgeführt bekommen, stammt also aus einem posturbanen, städtischen Landschaftsgefüge, das global ähnlich aussieht, gleichsam in Serie gefertigt vorliegt. Das Fragmenthafte der Szenerie wird dabei nachdrücklich von verschiedenen ästhetischen Kunstgriffen unterstützt: Zunächst sind die Häuser an der linken und rechten Seite sowie nach unten hin abgeschnitten, was suggeriert, dass sich diese »Landschaft« in alle Richtungen hin weiter ausbreiten könnte. Zugleich ist der Ausschnitt-Charakter durch die extrem lang-gezogene und dabei schmale Form der Collage betont, die an eine, an beiden Seiten fortsetzbare Bordüre denken lässt. Die fast schon regelmäßige Wiederholung eines immer ähnlichen »Musters« aus Häusern und 266
Ästhet ische und polit ische Takt iken
Hunden ruft zudem Vergleiche mit einer ebenfalls unendlich erweiterbaren Bildtapete auf. Für ein solches, globalisiertes, post-urbanes Gelände hat Henri Lefèbvre den Begriff der »Verstädterung« geprägt. Damit spricht er eine Gesellschaft an, die nach der urbanen Revolution entstanden ist und in der »sich die symbolträchtigen Elemente zu neuen Gegensätzen umgruppieren und bestimmte Verkettungen eingehen« (Lefèbvre 1990: 60). Im Zuge dieses Prozesses werden auch die Wahrnehmungsformen auf dem Land sukzessive von der Stadt aus dominiert und zu einem Teil des »Stadtgewebes«, worunter Lefèbvre »die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren« (ebd.: 9f.), versteht. Daraus ergibt sich ein komplexer, pluraler und von Ungleichzeitigkeiten gekennzeichneter Umarbeitungsprozess, an dem verschiedenste Agenten ihre zum Teil sehr unterschiedlichen Projekte und Strategien zur Durchsetzung zu bringen versuchen. In diesen Umarbeitungsprozessen werden bisherige Abgrenzungen (etwa zwischen Zentrum und Peripherie, Nahem und Fernen) teilweise niedergerissen und neue (zwischen einem Innerhalb der EU oder der USA und einem Außerhalb oder zwischen den global cities London, New York und Tokio und den je umliegenden, lokalen »Sekundärstädten«) errichtet. Aber nicht nur durch die Visualisierung eines Ausschnitts aus einem verstädterten Landschaftsgefüge, das an den diversen geografischen Koordinaten weltweit in ähnlicher Weise präsent ist, hat Terziev etwas sichtbar gemacht, das den von Lefèbvre entwickelten Konzepten nahe kommt. Das von den überdimensionalen Hunden bewohnte Bild, in dem es zu verschiedenen Zusammenballungen sowie zu einem Zu- und Gegeneinander von diversen Perspektiven kommt, macht auch anschaulich, was dieser mit dem Begriff »sozialer Raum« beschrieben hat. Denn darunter versteht Henri Lefèbvre eben einen solchen von verschiedenen Agenten gemeinsam produzierten Raum, der immer schon mit mehr oder minder monströsen Bildern, Erinnerungen, Wünschen und Ängsten verschiedener Art sowie mit Produkten der Imagination – Projekten und Projektionen – genauso »angefüllt« ist wie mit Gebäuden, Straßen und unterschiedlichen Arten von menschlichen Gesten.2 Wie die Hunde auf Terzievs Bild, so kommen auch diese Aufladungen immer aus den unterschiedlichsten Richtungen, halten sich wechselseitig in Schach, verbinden sich zu »Rudeln« und können sich in ganz unterschiedliche Richtungen weiter bewegen. Keiner der an einem solchen Raumbildungsprozess beteiligten Agenten ist dabei souverän – zwar können alle Handlungen setzen und ihre Perspektiven, Wünsche und Befürchtungen zum Ausdruck bringen, sie sind dabei jedoch stets auf andere angewiesen, die das einmal Begonnene entweder weiterführen, jedoch auch ignorieren oder bestreiten können. 267
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In diesem Zu- und Gegeneinander von Wahrnehmungen, Repräsentationen und Gebrauchsweisen machen sich Blindfelder breit: Verzerrungen, Verkennungen, Missverständnisse. Diese Blindfelder sind, so Lefèbvre, »nicht nur dunkel und ungewiss, kaum erforscht, sondern blind, so wie es auf der Netzhaut einen blinden Fleck gibt, der Mittelpunkt und gleichzeitige Negation des Gesichtssinns ist. Paradoxa. Das Auge sieht nicht, es bedarf des Spiegels. Der zentrale Fleck des Gesichtssinns sieht sich nicht und weiß nicht, dass er blind ist. Gelten diese Paradoxa nicht auch für das Denken, das Gewissen, das Wissen?« (Lefèbvre 1990: 35) All die in einem (post-)urbanen Gefüge präsenten Perspektiven und Ansätze, die Welt zu ordnen und mit Sinn auszustatten, sind demnach durch eine Kluft voneinander getrennt, wobei diese Kluft von Lefèbvre allerdings nicht als eine präsentiert wird, die vermeidbar wäre, sondern als eine, die konstitutiv für unseren Umgang mit der Welt ist. An manchen Punkten kommt es jedoch zu Zusammenstößen, die Verkettungen zwischen den unterschiedlichen Perspektiven und Handlungen herstellen. Solche Verkettungen können auf unterschiedliche Weise in Existenz gebracht werden: Auf der Ebene des Handelns beispielsweise dadurch, dass von einem (kollektiven) Subjekt ein Anfang gesetzt wird, der dann von anderen aufgegriffen, damit aber auch angeeignet, transformiert und weiterbefördert wird. Auf der Ebene der Wahrnehmung dadurch, dass Bilder und Sichtweisen Faszinationsgeschichten nach sich ziehen, die unterschiedliche Subjekte psychisch und physisch involvieren. Auf der Ebene der Imagination kann es zu Zusammenballungen kommen, indem manche Projektionen und Vorstellungen von verschiedensten Agenten und Agentinnen »geteilt« werden. Auf der Ebene der Repräsentation kann ein und derselbe Körper oder können Körper, die eine gewisse Familienähnlichkeit aufweisen, ebenfalls von ganz unterschiedlicher Seite mit ganz diversen Gruppen von Repräsentation anstrebenden Personenkreisen und mit völlig verschiedenen, der Repräsentation zugänglichen Sachverhalten in Zusammenhang gebracht werden. Als eine Art abstrahierender Überbegriff für das Sich-Ergeben von solchen Verkettungen haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe den Begriff der »Artikulation« (Laclau/Mouffe 1985: insbes. 109f.) vorgeschlagen und gezeigt, dass darüber relative und prekäre Fixierungen zwischen Elementen hergestellt werden, deren Identität als Resultat der artikulatorischen Praxis auch selbst modifiziert wird. »Artikulation« meint demnach Momente der Bezugnahme, durch die sich Subjekte erst konstituieren, wobei die Notwendigkeit eines In-Beziehung-Tretens daraus resultiert, dass jede Identität immer unvollständig und prekär bleibt. Mit diesem Begriff des Sozialen Raums wandte sich Henri Lefèbvre gegen eine, wie er es nennt, »doppelte Illusion«, welche die Sichtweise und Nutzung von Raum im Abendland sehr lange geprägt hat und zum 268
Ästhet ische und polit ische Takt iken
Teil immer noch prägt und die zum einen darin besteht, dass Raum als gleichsam leer, transparent und überblickbar vorausgesetzt wird. Die zweite, komplementäre Illusion dagegen sieht Raum als unbeweglich, starr und nicht-plural an, allein mit erkennbaren Objekten gefüllt und voll von Substanz, Natürlichkeit und Dichte. Gegen diese beiden in Architektur, Stadtplanung, Philosophie oder den Sozialwissenschaften vorherrschenden, meist nicht explizit gemachten Konzepte, schlägt er vor, einzelne Territorien als zugleich gelebte, wahrgenommene und repräsentative Räume zu untersuchen. Diese werden von verschiedenen Seiten aus – zum Beispiel jener der Stadtplanung, jener der Polizei, jener des Magistrates, jener der mulinationalen Kauf haus- oder Kinoketten und jener verschiedener Verbrauchergruppen – auf je eigene Weise wahrgenommen und benutzt. Sie werden von all diesen Agenten aber auch in Form von Verordnungen, Konzepten oder Plänen repräsentiert und sind dabei immer auch räumlich gelebte Erfahrung dieser unterschiedlichsten Gruppen. Lefèbvre geht darüber hinaus jedoch davon aus, dass Raum in jeder historischen »Entwicklungsstufe« von einem Set von immanenten Bedeutungen dominiert ist, d.h. »absoluter Raum« wird in seinem Konzept abgelöst von »abstraktem Raum« und dieser dann wieder von »differenzialem Raum«. Trotz des Zu- und Gegeneinanders von Wahrnehmungen und Repräsentationen, die er beinhaltet, bleibt sein Raumbegriff demnach auch einer orthodoxen, marxistischen Evolutionstheorie verhaftet. Diese verführt ihn auch dazu, zwischen sogenannten »Produzenten« von Raum und »Nutzern« von Raum zu unterscheiden. Ersteren schreibt er ausschließlich die Rolle des Produzierens und Manipulierens, letzteren – selbst wenn er die von ihnen geteilten Mythen und Logiken durchaus auch der Interpretation zuführt – schlussendlich nur mehr die Rolle des Bearbeitet- und Manipuliert-Werdens zu: »Perhaps we shall have to go further, and conclude that the producers of space have always acted in accordance with a representation, while the ›users‹ passively experienced whatever was imposed upon them inasmuch as it was more or less thoroughly inserted into, or justified by, their representational space. How such manipulation might occur is a matter for our analysis to determine.« (Ebd.: 43f.)
Hier weicht Lefèbvre den Fragen aus, warum die Benutzer von Raum denn bereit sind, diese Repräsentation anzunehmen bzw. ob diese überhaupt immer dazu bereit sind und sich nicht an bestimmten Punkten den herrschenden Deutungen und Nutzungsweisen von Raum und den dort dominierenden Sichtweisen auch entgegensetzen. Um diese Fragen berücksichtigen zu können, ist jedoch eine Theorie nötig, die nicht nur wie jene Lefèbvres zeigt, dass Räume immer schon von unterschiedlichen 269
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Positionen aus gesehen, begriffen und gelebt werden, sondern die auch die prinzipielle Offenheit dieses Zusammen- und Gegeneinanderspiels anerkennt. Dies legt eine Zusammenführung der Analyse von Raum als sozialem Raum mit Methoden der Untersuchung von öffentlichen Auseinandersetzungen um Macht, Symbolisierung, Bedeutung sowie um kulturelle und politische Hegemonie nahe, wie sie in den letzten Jahren von verschiedener Seite in Anlehnung an und in Weiterentwicklung von Arbeiten von Antonio Gramsci oder Hannah Arendt vorgelegt wurden (Laclau/ Mouffe 1985: insbes. 95 ff ).3 An die Stelle des von Lefèbvre präsentierten je einzigen, eine historische »Entwicklungsstufe« dominierenden Raumes, könnte so ein Konzept des »Konfliktraums« treten, das einerseits präsent hält, dass der Ausgang der dabei involvierten Auseinandersetzungen offen ist und andererseits aufzeigt, dass wir es stets mit mehrschichtig vor sich gehenden, von Ungleichzeitigkeiten und an manchen Stellen von Brüchen gekennzeichneten historischen Transformationen zu tun haben. In dieser Herangehensweise erscheint Raum dann immer schon in einen prinzipiell offenen und unabschließbaren »Streit um Anerkennung« involviert, der stets mit der Schaff ung des Gegebenen einhergeht.
Die zeitliche Dimension: Moderne, Verstädterung und Globalisierung Dieser von Auseinandersetzung und Konfl ikten geprägte Erscheinungsraum ist jedoch selbst aus einem historischen Umbruchprozess hervorgegangen. Mit der Französischen Revolution und den ihr folgenden Emanzipationsbewegungen hat sich ein, wie Claude Lefort es nennt, neues »konflikthaftes In-der-Welt-Sein« verbreitet, das einen Bruch mit Tradition und überlieferter Autorität markiert und mit dem es zu tief greifenden Verschiebungen dessen kommt, wie das menschliche Zusammensein »in Form« gesetzt wird. Mit der Französischen Revolution wurde der zentrale, vormals vom König in seiner Doppelfunktion als Spitze des Staates und Verkörperung Gottes eingenommene Platz der Macht leer geräumt. Der Repräsentant selbst wurde geköpft und die Embleme der Monarchie (der Thron des Königs, Wappen, königliche Stoffe und Fahnen) wurden öffentlich verbrannt. Im Zuge der emanzipatorischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts bildete sich dann ein neues Paradigma heraus: der unter einer Vielzahl von politischen Protagonisten (und bald auch schon Protagonistinnen) ausgetragene Widerstreit um das temporäre Erlangen von Macht. Dabei werden die neuen politischen Repräsentanten nun jedoch nicht mehr wie früher aufgrund von Tradition an der Spitze der politischen Pyramide platziert, sondern sie erreichten diese Positionierung durch 270
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einen Prozess, im Zuge dessen sie die Zu-Repräsentierenden, die neuen »Staatsbürger«, überzeugen und zur Stimmabgabe verführen mussten. Für diese Überzeugungsarbeit wurden wieder neue Symbole kreiert – Fahnen, Embleme, Poster, Plakate, Uniformen, Kleider- und Selbstaufführungsstile – durch welche die Positionen der einen von denen der anderen unterscheidbar markiert werden konnten. Mit der Französischen Revolution bildete sich demnach ein Diskurs heraus, der das Konzept verbreitete, dass die Ausübung von Macht einen periodisch wiederholten Wettstreit benötige – einen Wettstreit, an dem Bilder, Performances und räumliche Anordnungen ebenfalls teilnehmen. Dieser Prozess beinhaltete die Errichtung einer Bühne von Politik im engeren Sinn, auf der solche Konflikte um die Macht für alle Augen sichtbar ausgetragen und in Szene gesetzt werden. Zugleich gab und gibt es eine anhaltende Auseinandersetzung darüber, wer sich als »Staatsbürger« bezeichnen dürfe, d.h. wem (Frauen, Einwanderern, Sans Papiers, Homosexuellen etc.) das Recht zum Agieren auf dieser Bühne zukomme. Der Zugang zum Schauspiel der Politik und der Austausch bezüglich der eigenen Position in der Gemeinschaft und des Sinns der Welt wurde damit selbst zu einer Frage von Auseinandersetzungen, die mit dem Begriff »politisch« bezeichnet werden können. Es gibt also einen Unterschied zwischen der Bühne von »Politik im engeren Sinn« und dem Raum des »Öffentlichen« und »Politischen«. 4 Zur zeitlichen/historischen Dimension des hier verhandelten Umbruchs hin zur »Moderne« zählt zudem Folgendes: Die sich nun durchsetzende Industrialisierung, die Landflucht, die kapitalistische Warenvermarktung, die alle diese Prozesse begleitenden wissenschaftlichen Diskurse sowie die neuen Arbeitsbedingungen oder die veränderten Transportund Kommunikationsmittel hatten auch auf das menschliche Sensorium vielfältige Auswirkungen. Eisenbahnen, Autos, Fotografie, Film oder Bildzeitschriften fordern eine neue Form des »Betrachtens« und strukturieren die produktiven und kognitiven Fähigkeiten der Menschen und ihre Bedürfnisstruktur auf eine neue Weise (dazu: Schober 2001: insbes. 54ff.). Es entstand eine ganz bestimmte Formung der Wahrnehmung und der Ausrichtung von Aufmerksamkeit, die für die Moderne charakteristisch geworden ist: Der Blick ist nun gegenüber allem Sichtbaren aufmerksam, gleichzeitig zerstreut und auf Details fi xiert. Dieses nun aufgewertete Sehen ist zugleich von einer neuartigen Ereignishaftigkeit gekennzeichnet, d.h. mit einem »intensiven« und uns oft selbst »überraschenden« Sehen wird dem Vergänglichen des Wirklichen und einer zunehmenden Ferne des Realen entgegengetreten. Und zugleich wird durch dieses »intensive Sehen« die Bedeutsamkeit von Anschaulichkeit und Gegenständlichkeit wiederum bestätigt. Dabei ist die Aktivität des Auges in der Moderne auch 271
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in einer veränderten Weise mit »Glauben« verbunden: Etwas hat jetzt sichtbar, zeigbar und im Licht des Tages angesiedelt zu sein, um uns gläubig zu stimmen und in Bewegung zu versetzen. Überlieferte Praktiken des Glaubens, der Selbstkultur und der Bildung von Gemeinschaftskörpern wurden im Zuge dieses Prozesses vollständig umgearbeitet und neu ausgerichtet. Damit wird der Raum des Politischen im ganz eigentlichen Sinn zum Erscheinungsraum – weshalb es auch nicht völlig korrekt ist, für bestimmte, in diesem Raum auftauchende Phänomene von einer »Ästhetisierung der Politik« zu sprechen.5 Denn jedes Handeln in diesem Raum ist nun stets ein zugleich politisches und ästhetisches – beide Dimensionen sind untrennbar miteinander verquickt. Dieser sich im 19. Jahrhundert ausbreitende Transformationsprozess setzt sich im 20. Jahrhundert fort. Im Zuge der bereits erwähnten »Verstädterung« breiten sich die zunächst in den urbanen Zentren entstandenen Erfahrungs- und Erlebnisweisen auf das Umland aus. Es entsteht eine sogenannte »Massengesellschaft«, in der die ehemals so wichtigen sozialen Einheiten wie Dorf, Großfamilie, Nation oder die traditionellen Religionen weiter an Bedeutung verlieren und neue Formen entstehen, wie sich Menschen zu Gemeinschaften verbinden. Die sichtbare Welt wird in diesem Kontext auf neue Weise bedeutsam: Sie wird zu einem Vehikel, mit dem sowohl gesellschaftlich dominierende wie auch gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, Sinn und Identität herzustellen vermögen. Damit einher geht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Verschiebung der politischen Aktivität von der Parteipolitik zu Protestbewegungen, die oft auf geschlechtlichen, religiösen, sprachlichen, ethnischen und kulturellen Kollektivkörperformationen beruhen und die den konstitutionellen Rahmen und die Identitätsgrenzen des politischen Gemeinwesens auf neue Weise herausfordern. Der Streit um die Anerkennung von Differenz tritt damit zunehmend neben jenen um soziale Gleichheit und Umverteilung (Benhabib 1999: 16 und 34). Damit einher gehen weitere Veränderungen in der Form politischen Sprechens und Handelns: Waren Emanzipationsbewegungen bis zur Epoche, die wir als »Postmoderne« bezeichnen, also bis etwa in die ausgehenden 1960er Jahre hinein, von einem Willen zu »predigen« gekennzeichnet – d.h. davon, dass stets einige Vorreiter und Vorreiterinnen zu einer »Masse« oder »Menge« anderer sprachen, die zugleich als formbare und der »Aufklärung« und »Mobilisierung« potenziell zugängliche Körper behandelt wurden, so werden ab diesem Zeitpunkt solche Praktiken zunehmend skeptisch betrachtet.6 Gründe dafür sind auf weltanschaulicher Ebene die mit der Studentenbewegung der 1960er Jahre einsetzende verstärkte Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit sowie eine gleichzeitige Erschütterung und ein Brüchig-Werden überlieferter weltanschaulicher Alternati272
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ven und hier insbesondere marxistischer Überzeugungen, ausgelöst u.a. durch die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1957 und in Prag 1968 sowie durch die von Chruschtschow 1956 abgegebene Stellungnahme zu den Verbrechen des Stalinismus. Dazu gesellt sich in den 1970er Jahren die »zweite Frauenbewegung«, welche Hierarchien und Verhaltensweisen innerhalb der Bewegungen offensiv zu thematisieren begann. Vor allem die in den 1980er Jahren teils aus diesen traditionellen Verbänden heraus, teils neben diesen entstehenden »neuen sozialen Bewegungen« (ethnische, nationale und sexuelle) haben dann aber ganz explizit gegen jene »totalisierenden Ideologien« rebelliert, die eine Politik der Emanzipation und Aufklärung bislang dominiert hatten. Zudem ist die nachdrückliche Veränderung der Auftrittsweise politischer Auseinandersetzung seit den 1970er Jahren aber vor allem von folgenden Faktoren geprägt: einem stark beschleunigten Kapitalismus, einer Intensivierung und Ausweitung von Prozessen der Globalisierung sowie einer steigenden Durchdringung und Beeinflussung von Bewegungen durch die Medien (Gibbins/Reimer 1999: 24f.). Neue Kommunikationsund Informations-Technologien, ein Aufstieg transnationaler Korporationen, eine Expansion im internationalen Handel sowie eine Ausweitung von Migrationen und von Reisen haben die Welt kleiner und vernetzter gemacht. Dies hatte insofern politische Auswirkungen, als dadurch nationalstaatliche Aktivitäten eine stärkere Konkurrenz als bislang erhielten und dabei in ihrer Funktion neu bestimmt wurden. Internationale Kooperationen wurden ntionalstaatlichen Aktivitäten gegenüber nachdrücklich unterstützt. Kultureller Austausch überschreitet heute zudem ganz allgemein verstärkt die nationalen Grenzen und bringt immer neue Beziehungen zwischen dem Lokalen und dem Globalen hervor. Dazu treten als weiterer wichtiger Agent von Transformationen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Medien, die sich selbst wandeln: Eine Printkultur wird zunehmend von einer elektronischen Kultur abgelöst, die Vertreiber der Medien sind selbst in transnationale Prozesse mit extrem ungleichen Ausgangsbedingungen für die aus verschiedenen Weltteilen stammenden Anbieter verstrickt, werden steigend kommerzialisiert und dereguliert. Sie werden in einer schrumpfenden Anzahl von Korporationen konzentriert, und ihre Produktionen zeigen nun mehr inter-textuelle Verbindungslinien als je zuvor. Das über solche Kanäle verbreitete Fernsehen, das Internet, Film und Video sowie ein differenziertes Set an Printmedien werden nun noch stärker als bisher zu Foren für eine Sinn- und Selbstsuche, geben für viele eine Strukturierung des Alltags vor und haben eine enorme Kapazität, Ereignisse und Schicksale durch Repräsentation und Distribution zu vergrößern. In diesem veränderten, globalisierten und verstädterten Gefüge – das je nach geografischer Verortung 273
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stets anders ausfallen und doch auch Ähnlichkeiten aufweisen wird – gibt es weiterhin vielfältige, zugleich auf politischer wie auf ästhetischer Ebene ausgetragene Auseinandersetzungen, die mannigfaltige und rivalisierende Erzählungen genauso hervorbringen wie mehr oder minder Aufsehen erregende Stile der Selbstdarstellung oder der Raumbesetzung.
Das Kalkulieren des Nicht-Kalkulierbaren Einzelne Künstler und Künstlerinnen bewegen sich, wenn sie ihre Produktionen in den öffentlichen Erscheinungsraum einschleusen, immer schon in einer Auseinandersetzung um die Aufmerksamkeit des Publikums, an der zugleich eine Vielzahl anderer kollektiver Agenten teilnimmt, wie etwa die Werbeabteilungen internationaler Konzerne oder die ebenfalls zunehmend vernetzt handelnden Medienkanäle oder Erziehungsinstitutionen. Ihre Arbeiten verbinden sich dabei in vielfältiger Weise mit von anderen produzierte Bildern und Bedeutungen – auch, um herkömmliche Zuordnungen zu irritieren und/oder um andere, neue Erfahrungen zu provozieren. In diesem Prozess können sie sich – temporär oder längerfristiger – mit politischen Bewegungen und Parteien verbinden, können jedoch auch unabhängig davon versuchen, politisch wirksam zu werden. Ich möchte vorschlagen, ihre künstlerischen Produktionen und Aktionen als von keiner Seite aus vollständig kontrollierbare Eingriffe in sozial gefertigte Räume aufzufassen. Denn selbst wenn die verschiedensten künstlerischen Anstrengungen darauf ausgerichtet sind, die Unkontrollierbarkeit herausragender Wahrnehmungsmomente zu kalkulieren, bleibt der lebendige Sinn unberechenbar (dazu auch Nancy 1997: 9f.). Die Bilder »verstehen sich«, wie ich nun zeigen werde, oft besser, als diejenigen, die sie in Umlauf setzen – d.h. es ergeben sich unter Umständen auf kontingente Weise ganz diverse, von niemandem direkt angepeilte Interaktionen, Herausforderungen, Polarisierungen sowie Handlungs- und Bilderketten. Eine ganz besonders enge Beziehung zwischen Kunst und politischem Aktivismus prägte die rezenten Demokratisierungsbewegungen in Osteuropa – was vor allem an der Anti-Milošević-Bewegung in Serbien in den 1990er Jahren demonstriert werden kann. Aus diesem Milieu stammt die Gruppe Škart, die neben ihrer Arbeit als Designer seit Beginn der 1990er Jahre mit künstlerischen Initiativen im Stadtraum auftritt, die sowohl versöhnlich als auch provozierend gestimmt sind.7 Im Folgenden soll eine ihrer mit eher vertrauten Formen operierenden Aktionen diskutiert werden, um zu zeigen, dass auch über solche Eingriffe eine Irritation erzielt werden kann, die dann selbst wieder Anlass zu weiteren öffentlichen Handlungen gibt. 274
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Im Jahr 2000 führte Škart in Kooperation mit der Single Mother Society in Zemun, einem Stadtteil Belgrads, einen Workshop mit Flüchtlingsfrauen aus dem Kosovo durch.
Abbildung 2: Eine Teilnehmerin des Workshops und ein Kind Bei diesem Workshop luden sie die Frauen ein, Wünsche und Bilder, die ihnen spontan durch den Kopf gingen, auf ein Blatt Papier zu zeichnen und diese Zeichnung dann auf ein großes, weißes Tuch in der Art von Küchenwandbehängen zu übertragen, die gängigerweise jedoch fast immer traditionelle Motive und sentimentale Sprüche zeigen. Die Entwürfe wurden in gemeinsamen Sitzungen gestickt und schließlich eine Woche vor den Wahlen im Jahr 2000 im Rahmen einer Ausstellung in Schaufenstern von Buchgeschäften in Belgrad und Novi Sad präsentiert. Als eine Art »Happening« wurden zur Eröff nung Cevapcici zubereitet und gemeinsam verzehrt, ein traditionelles Gericht, das eine der Frauen als Mangelware ihres Alltags und als Wunschbild auf einem Tuch verewigt hatte. Škart versuchte mit dieser Aktion, den neu in Serbien Angekommenen eine Gelegenheit zum Ausdruck und zur öffentlichen Präsenz zu geben und auf diese Weise eine konstruktive, gemeinschaftsbildende Geste zu setzen. So steht in dem von Dusica Tomic (damals 40 Jahre alt) kreierten Wandbild jedes der zusammen mit dem Schriftzug »Deset sa lukom, deset sa mukom« (Zehn mit Schwierigkeiten, zehn mit Zwiebeln) aufgestickten Cevapcici für ein Jahr zwischen 1991 und 2000, das neue Konflikte im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens mit sich brachte. Auf einem wieder anderen Bild wird der Zusammenhang zwischen Depression und 275
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Verdrängung durch nostalgische Bilder in Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen ganz direkt angesprochen, wenn – diesmal von Milka Orlić (damals 68 Jahre alt) – festgehalten wird »Ako kažem da je mrak, poješće me mrak, zato vezem lepo cveće pojesti me niko neće« (Wenn ich sage, dass es dunkel ist, wird die Dunkelheit mich aufessen; deshalb sticke ich hübsche Blumen und niemand wird mich aufessen). Diese Gemeinschaftsaktion von Škart und den Flüchtlingsfrauen operierte auf mehrgleisige Weise im sozialen Raum: Einerseits ermöglichte sie, dass die Frauen im neuen Umfeld an Sichtbarkeit gewinnen konnten. Ein ihnen von der Tradition her zugeschriebenes bildnerisches Medium – das der Stickerei von Wandbehängen, die meist in dem ebenso dem Weiblichen zugeschriebenen häuslichen Bereich zu finden sind – wurde hier aufgegriffen und zugleich umgeformt: Die Aktion ermutigte die Frauen, aktuelle Wünsche und Ängste zu thematisieren, die ansonsten kaum öffentlich artikuliert werden. Zudem erschienen die Stickereien nicht in privaten Räumen, sondern im öffentlichen Raum der Straße bzw. in den Auslagen von Buchhandlungen, die in Serbien als Zentren der intellektuellen Elite fungieren. Auf diese Weise trat die Aktion in eine Kollision zum Gewohnten ein. Dies ist jedoch nur eine Ebene der Auseinandersetzung. Denn parallel dazu bestätigte sie einen weiteren in Belgrad oder Novi Sad in den 1990er Jahren präsenten Diskurs, wie er unter anderem vom Soros Centre8 in Belgrad und weiteren NGO-Organisationen mit Nachdruck geschürt worden war, in welchem politisch korrekte Positionen und sozial aufmerksame Kunstpraktiken massiv beworben und institutionell wie finanziell unterstützt und eingebunden worden sind. Ein ironischer Kommentar, den ein weiterer Künstler, Saša Marković, bezüglich dieser Art von Kunstpraxis in Szene gesetzt hat, macht deutlich, dass Aktionen wie dieses »Stickerei-Happening« nicht nur Sympathie erregt haben. Auf einem öffentlich verteilten Folder präsentierte Marković sich selbst, mit einem Megafon in der Hand und kündigte sinngemäß an: »Endlich findet der Mikrofanclub, der Club Underground statt: Organisiert von den«,– wie im Inneren des Folders dann spezifiziert wird – »geschiedenen und allein erziehenden Müttern und noch in etwa zwanzig Mädchen. Einladung zum 1. Serbischen Festival der Oma-Mädchen«. Diese »Mütter« und »Mädchen« werden dann durch kleine, Passbildern ähnelnde Porträtzeichnungen, welche mit den für den Künstler typischen »Masken« verfremdet und mit Herzen, Speisen und Getränken »verziert« wurden, den jeweiligen Namenszügen und kleinen, den jeweiligen Beruf (Büglerin, Busfahrerin) visualisierenden Piktogrammen einzeln vorgestellt.
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Abbildung 3: Folder von Saša Marković Auf der Rückseite des Folders präsentierte sich der Künstler schließlich selbst inmitten einer Gruppe von Boys, die sich mit den »Mädchen« im Inneren durch ähnliche Masken optisch verbinden, und verbreitete die, wie in einem Comic in einer Sprechblase platzierte Botschaft: »Supernaut sagt und Microb (ein weiterer bekannter Codename für den Künstler selbst, A.S.) ist einverstanden: für niemanden etwas.« Die Aktion parodierte auf diese Weise den sich in der patriachal dominierten Umgebung der Kriegsgesellschaft als innovativ präsentierenden Diskurs von Gruppen wie Škart oder anderer Künstlerinitiativen, der die Erfahrungen und Erlebnisse von Frauen in der Vordergrund rückte und dabei – wie das gemeinsame Braten von Cevapcici oder das von anderen Künstlern praktizierte öffentliche Aufkochen von Suppen zeigt – offensiv Gesten der »Großzügigkeit« setzte. Die von Marković verbreitete Parodie zielte auf ironische Verunsicherung solcher neuen Erscheinungen – womit hier allerdings, wie in den meisten Fällen, auch ein Beobachten und Ausloten der Grenzen dessen einhergeht, was in welcher Form und von wem legitimerweise öffentlich gesagt und gemacht werden darf. Dieses Beispiel macht deutlich, dass selbst eine auf den ersten Blick ganz unspektakuläre und vom Grundton her eher versöhnlich gehaltene Aktion neben den integrativen, Zusammenhalt und Austausch herstellenden Prozessen zugleich durchaus irritierend und provokativ wirken kann. Und umgekehrt zeigt es auf, dass ironische Kommentare wie jener von Saša Marković alias »Supernaut« zur Überwachung und Kontrolle des Sagbaren und Zeigbaren eingesetzt werden können. Ästhetische Taktiken wie 277
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Parodie, Ironie, Verfremdung oder Montage sind demnach keine Zaubermittel, die gleichsam unmittelbar zur Herstellung eines »Gegendiskurses« oder zur Ermächtigung marginalisierter Gruppen führen würden – wie oft behauptet wird. Sie verkörpern zudem keine fi xierbaren politischen Statements, können jedoch in offensiver Weise an öffentlichen Auseinandersetzungen teilhaben, wobei sie in den jeweiligen sozialen Räumen jedoch ganz unterschiedliche, zwiespältige Effekte zeitigen.
Äquivalenzen und Dif ferenzen Ästhetischen Taktiken wie Ironie, Parodie, Montage und Verfremdung bergen das Potenzial, herrschende Sinnangebote infrage zu stellen, Gewohntes herauszufordern und Zweifel und Unsicherheit zu verbreiten, weshalb sie Bestehendes auch in neue Richtungen weisen können: Sie wirken dann verstörend, destruierend oder irritierend – was jedoch, neben dem Genuss, der so freigesetzt werden kann, und den Neudefinitionen, Reflexionen und Umwegen der Wahrnehmung und des Denkens, die so ausgelöst werden können, dazu führen kann, dass die abgerissenen Grenzen schnell wieder aufgerichtet und übertretene Tabus re-installiert werden. Andere Körper können über solche Taktiken also sowohl fern gehalten, als auch über die mit ihnen verbundene Verstörung und Faszination angezogen und involviert werden. Trotz der vielen, bis heute präsenten Diskurs-Strömungen, die das Gegenteil ausrufen, bedeutet dies also nicht, dass solchen Taktiken wegen dieses »Anstoßpotenzials« ein politisches Konzept gleichsam »innewohnen« würde oder dass mit ihrer Hilfe das öffentliche Geschehen kontrolliert werden könnte. Sie werden politisch jedoch in dem Sinn wirksam, als mit ihnen Handlungen initiiert werden können, deren weiterer Verlauf dann aber von den Reaktionen und Weiterverhandlungen anderer abhängen wird – womit solche Taktiken notwendigerweise mit Unsicherheit und Ungewissheit verbunden sind. Auch ein solches Sich-Ergeben von überraschenden Beziehungen, »Artikulationen«, zwischen ganz unterschiedlichen Objekten, Bildern, Gestaltungen oder Orten wird von Seiten der Kunst thematisiert – etwa von Gabriel Orozco in einer Reihe von in den 1990er Jahre entstandenen Fotoarbeiten. In Island within an Island (1995) erscheint im Vordergrund einer städtischen, am Wasser gelegenen Platz-Szenerie eine Gestaltung, mit der insofern eine Differenz markiert ist, als sich über sie jemand in das Bildganze eingefügt, dieses dabei transformiert und sich selbst so als gestaltendes Subjekt hervorgebracht hat.9
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Abbildung 4: Island within an Island von Gabriel Orozco Vor einer, auf dem ansonsten fast völlig leeren Platz aufgebauten Betonsperre ist eine aus Holzabfällen und anderem Müll zusammengesetzte Montage platziert, wie sie ein Kind, jemand Herumflanierender, Obdachloser oder irgendwie anders aus dem Kreis zielgerichtet Tätiger Ausgesonderter hinterlassen haben könnte. Auf den zweiten Blick zeigt diese Gestaltung jedoch eine überraschende formale Ähnlichkeit mit der im Bildhintergrund sichtbar werdenden Hochhaus-Silhouette. Wie im Bildhintergrund so wechseln sich auch in der Müllgestaltung im Vordergrund verschieden hohe und breite »Hochhaustürme« ab, und an der Basis beider wird ein differenzierteres, kleinteiligeres »städtisches« Wirrwarr sichtbar. Durch das Inszenieren einer solchen Äquivalenz wird ein stets mögliches, überraschendes In-Beziehung-Treten zwischen diversen Entitäten thematisiert, bei dem unentscheidbar ist, inwieweit es geplant oder ungeplant entstanden ist. Es kann jedoch durch sein ästhetisches Bestechen zur weiteren Erfindungen von Konnotationslinien und Assoziationen anregen. Auf einem anderen Bild wird der Prozess von Artikulation dann auf humorvollere Art thematisiert. In Owl (1993) triff t man auf die Nahaufnahme einer Ananasdose, die in einem Supermarkt mit einem, an der Wand hängenden, mit Kräutern gefüllten transparenten Plastikbehältnis so zusammengefügt wird, dass beide Objekte zusammen eine »Eule« ergeben: Die beiden gelben, großen Ananasringe bilden die Augen, und der, mit einem gelben Fleck versehene und mit gefiederartig wirkenden, trockenen Blättern gefüllte, längliche Behälter stellt den Körper dar.
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Abbildung 5: Owl von Gabriel Orozco Dieses Zusammenbringen herkömmlicherweise nicht zusammengehörender Objekte bezieht mich als Betrachterin insofern mit ein, als ich dabei zu derjenigen stilisiert und als diejenige bestätigt werde, welche die beiden Objekte »zusammenbringt« und die etwas Drittes, Neues, nämlich eine Eule, wahrnimmt. Jemand anderer im Supermarkt an derselben Stelle Vorbeischlendernder, wie vielleicht mancher Angestellte, könnte einfach nur zwei Objekte wahrnehmen oder eine zu beseitigende Unordnung. Die Präsenz weiterer, an der Supermarktwand hängender, gleichartiger, mit Kräutern gefüllter Plastik-Behältnisse hält zudem die Möglichkeit zu immer anderen, ungeahnten Verkettungen und Objektverschränkungen offen. Beide Foto-Arbeiten spielen also mit einem Wahrnehmungsprozess, bei dem zwei Einheiten (Gestaltungen, Objekte) miteinander in eine Beziehung gesetzt werden: einmal in eine der formalen Ähnlichkeit und ein andermal in eine, bei der etwas Drittes entsteht. Auf diese Weise thematisieren sie, dass nicht nur unser Handeln mit dem Handeln anderer in Beziehung steht und unter Umständen etwas Neues generieren kann, sondern dass auch unser Blicken und unsere Imagination Einheiten auf überraschende Weise miteinander in Beziehung setzen und dabei etwas erzeugen kann, das dann – wie die Arbeiten von Orozco in diesem Text – zum Ausgangspunkt für andere, weitere Verkettungen und Verarbeitungen wird. Beide Beispiele demonstrieren zudem, dass die dabei sich ergebenden Wahrnehmungs- und Handlungsketten stets zugleich von Äquivalenz und Differenz geprägt sind: Denn einerseits setzen sie Unterschiedliches in eine Beziehung der Ähnlichkeit oder Zusammengehörigkeit. Anderer280
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seits aber geben sie auch Zeugnis von einem je spezifischen Moment des Sich-Einhakens und Andockens, in dem sich der oder die Handelnde oder Blickende (diejenigen, die eine »Eule« oder die formale Ähnlichkeit der »Hochhaustürme« wahrnehmen) augenblicklich seiner oder ihrer eigenen Identität versichert. Auf diese Weise wird auch deutlich, dass Artikulationsbeziehungen, wie sie in den Bildern Orozcos thematisiert werden, immer zugleich auch Sinnbeziehungen sind bzw. jene Stellen darstellen, an denen eine – in ganz diverse Richtungen weiter verhandelbare – Verschiebung von Sinn möglich wird. Denn die Überraschung, die mit der Herstellung von formalen und inhaltlichen Bezüge verbunden ist und die dabei erfolgende Bestätigung des Selbst kann nicht an sich kommuniziert werden: Sie markiert zunächst einen Sprung in unserer bisherigen Organisation von Welt, der dann durch ein Zusammensuchen von Begriffen und ein Neuerfinden von Zusammenhängen be-deuted werden muss – womit Umbildungen und Verschiebungen in der Hervorbringung des Status Quo einhergehen. Vergleichbare Prozesse, wie sie in den Bildern von Orozco thematisiert werden, geschehen demnach auch im sozialen Raum: Über solche Verkettungen von Bildern und Wahrnehmungen bilden wir, je aktuell und immer wieder anders, Kollektivkörper, die dann ihrerseits wieder vielfältige weiteren Andockungen und Abgrenzungen generieren. Was wir tun, interagiert auf diese Weise mit dem Tun anderer und etabliert für alle Unvorhersehbares.
Anmerkungen 1 Denn das Unheimliche ist, so Freud, davon bestimmt, dass etwas in Erinnerung gerufen wird, das früher einmal alltäglich, ja heimelig gewesen ist (Freud 1999 [1919]: 227-278). 2 Lefèbvre spricht diesbezüglich von einer »perceived-conceived-lived triade« (Lefèbvre 1999 [1974]: 40). 3 Zur Anwendung dieses Hegemonie-Konzeptes auf die Kategorie Raum siehe: Keith/Pile 1993, insbes. 23ff.; vgl. Hall, 1996: 24-46, vgl. Benhabib 1999. 4 Letzterer Begriff bezeichnet ein Agieren, das Prinzipien der Gesellschaft infrage stellt, Neuordnungen vorschlägt oder etwas aufblitzen lässt, das zum aktuellen Zeitpunkt unerreicht und eventuell auch utopiegeladen erscheint. Der Begriff der »Politik« ist dem gegenüber für einen separaten sozialen Komplex reserviert, der auf ganz spezifische Weise mit diesem beweglichen, lose gefügten Terrain des Politischen umgeht. Künstlerische Interventionen sind in eine solche Definition des Politischen eingeschlossen. Denn auch durch ästhetische Provokationen können Weisen
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des Seins und die Qualitäten derer, die auf einer gemeinsamen Bühne präsent sein dürfen, in Frage gestellt werden (zu dieser Unterscheidung: Laclau 1990: 68f.). 5 Wie etwa Walter Benjamin es gemacht hat, indem er versucht hat, eine Grenze zwischen einer Ästhetisierung der Kunst und einer Politisierung der Kunst zu ziehen (siehe: Benjamin 199: 506). Zur Kritik an dieser Aufspaltung siehe u.a.: BuckMorss Oktober 1962: 3-41, 4. 6 Diese Transformationen in der Form politischen Agierens wurden von mir im Rahmen des Forschungsprojekts Ästhetische Tricks als Mittel politischer Emanzipation (2003-2006, gefördert vom FWF. Austrian Science Fund) einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Die Ergebnisse sind publiziert als: Anna Schober (2009): Ironie, Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München. 7 Škart sind seit 1992/93 in Belgrad aktiv. Ständige Mitglieder sind Dragan Protiþ und żorāe Balmazoviþ. » Škart« bedeutet »Lumpen, Abfall«. 8 Das Soros Centre wurde deshalb in diesen Jahren auch als »Alternatives Kunstministerium« bezeichnet. 9 Der Moment dieser Verschiebung, die tropologische Bewegung, ist dabei, wie Ernesto Laclau festhält, auch jene Stelle, an der das Subjekt entsteht (siehe Laclau 2000: 78).
Literatur Benhabib, Seyla (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a.M. Benjamin, Walter (1991): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: Gesammelte Schriften in 7 Bänden, Hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem, Frankfurt a.M., Bd. I.2, S. 506. Buck-Morss, Susan (Oktober 1962): »Aesthetics and Anasthetics: Walter Benjamin’s Artwork Essay Reconsidered«. In: October 62, S. 3-41, S. 4. Freud, Sigmund (1919): »Das Unheimliche«. In: Sigmund Freud, Gesammelte Werke Bd. XII, Frankfurt a.M., S. 227-278. Gibbins, John R./Reimer, Bo (1999): The Politics of Postmodernity. An Introduction to Contemporary Politics and Culture, London, Thousend Oaks, New Delhi. Hall, Stuart (1996): ›The problem of ideology. Marxisms without guarantees‹. In: David Morley/Kuan-Hsing Chen (Hg.), Stuart Hall. Critical dialogues in cultural studies, London und New York. 282
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Keith, Michael/Pile, Steve (1993): Place and the Politics of Identity, London und New York. Laclau, Ernesto (2000). In: Butler, Judith/Laclau, Ernesto/Žižek, Slavoj: Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London, New York. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1985): Hegemony & Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London und New York. Laclau, Ernesto (1990): New Reflections on the Revolution of Our Time, London und New York. Lefèbvre, Henri (1990): Die Revolution der Städte, Frankfurt a.M. Lefèbvre, Henri (1999) [1974]: The Production of Space, Oxford, Massachusetts. Nancy, Jean-Luc (1997): Kalkül des Dichters. Nach Hölderlins Maß, Stuttgart. Schober, Anna (2001): Blue Jeans. Vom Leben in Stoffen und Bildern, Frankfurt a.M. und New York. Schober, Anna (2009): Ironie, Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München.
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Autor innen und Autoren
Anna Bergmann, Professorin für Kulturgeschichte an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder); promoviert am Institut für Politische Wissenschaft und am Institut für die Geschichte der Medizin der FUB; habilitiert an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder); Gastprofessuren an den Universitäten Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, Leipzig, Braunschweig, Hildesheim und an der FUB; Buchpublikationen: Die verhütete Sexualität. Hamburg 1992 (1998 Auf bau TB); mit Ulrike Baureithel: Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende. Stuttgart 1999 (2001); Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod. Berlin 2004; im Druck: Klimakatastrophen, Pest und Massensterben. Christliche Angstbewältigung zwischen Rationalität und Magie in der Moderne, scripvazVerlag 2009. Ingvild Birkhan, Schwerpunkte der Publikationen und der (Mit-)Herausgabe von Sammelbänden liegen im Bereich der Gender Studies und der Hochschulpolitik. Vorlesungstätigkeit am Institut für Philosophie Wien und in Klagenfurt sowie Salzburg. 1993-2000 Leiterin der Interuniversitären Koordinationsstelle für Frauenforschung Wien. Mitwirkung im Wiener Philosophinnen Club, v.a. für Konzept und Organisation des Internationalen Kongresses zum Thema Krieg/War im Rahmen der IAPh 1995. Wolfgang Dietrich, Historiker und Jurist, habilitierter Politikwissenschaftler. Programmdirektor des MA Programms für Frieden, Entwicklung, Sicherheit und Internationale Konflikttransformation sowie Chairholder des UNESCO Chair for Peace Studies an der Universität Innsbruck; Forschungsschwerpunkte: Lateinamerika, Geschichte der Friedensforschung, Frieden und Entwicklung, Frieden und Postmoderne. Zahlreiche Publikationen, darunter: Wolfgang Dietrich/Josefina Echavarría/Norbert Koppensteiner (Hg.): »Schlüsseltexte der Friedensforschung« (= Kommende 285
Gewalt – Kultur – Konflikt
Demokratie/2); Wien, Münster, 2006 und »Variationen über die vielen Frieden«, Band 1: Deutungen, Schriften des UNESCO Chair for Peace Studies der Universität Innsbruck, Wiesbaden, VS-Verlag, 2008. Wilfried Graf, Friedensforscher in Wien; Schwerpunkt integrative Konfliktbearbeitung; 1982 – 2006 Mitarbeiter des Österreichischen Studienzentrums für Friedensforschung und Konfliktlösung, Stadtschlaining; seit 2005 Co-Direktor des von ihm mitgegründeten Institute for Integrative Conflict Transformation and Peacebuilding (ICCP); Schwerpunkte: Friedensund Konfliktforschung; Konfliktintervention und -beratung; Mediation; Transitional Justice; Gewaltverminderung; Peacebuilding; zahlreiche Feldforschungen und Mediationseinsätze in Zentral- und Südasien, in Israel/ Palästina und in Kärnten. Herausgeber der deutschen Ausgabe von Edgar Morins »Terre Patrie« (Wien: Promedia 1999), zuletzt mit Gudrun Krammer Herausgeber des Bandes »Kärnten neu denken« (2007, Klagenfurt: Heyn/Drava). Barbara Grubner, Sozialanthropologin und Genderforscherin, dissertierte Kultur- und Sozialanthropologin. Lehrende am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und im Rahmen des Masterstudiums Gender Studies der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte: Feministische Theorie und Gender Studies, Gewalt und Geschlecht, Migration und Hausarbeit, Lateinamerika. Publikationen unter anderem: Sexualisierte Gewalt. Feministisch-anthropologische Überlegungen zur »neuen Gewaltsoziologie.« In: Austrian Studies in Social Anthropology 2. ISSN 1815-3704 (2005) sowie gemeinsam mit Patricia Zuckerhut und Eva Kalny Herausgeberin von »Pop-Korn und Blut-Maniok. Lokale und wissenschaftliche Imaginationen der Geschlechterbeziehungen in Lateinamerika«. Frankfurt a.M. u.a. (2003). Brigitte Hipfl, Professorin für Medienwissenschaft am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Medien- und Rezeptionsforschung, Cultural Studies, Gender Studies, theoretische und forschungspraktische Fragen zu Identitätsformationen, postkoloniales Europa und Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: »Bewegte Identitäten. Medien in transkulturellen Kontexten« (hg. mit B. Busch und K. Robins, Klagenfurt 2001), »Identitätsräume« (mit E. Klaus und U. Scheer, Bielefeld 2004) und »Media Communities« (hg. mit T. Hug, Münster 2006).
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Autor innen und Autoren
Utta Isop, Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie an der Universität Wien, seit 2005 am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterstudien, Philosophie und soziale Bewegungen. Mitarbeit beim Interfakultären Forschungsnetzwerk Kultur & Konflikt u.a. im Projekt »Kultur und Konflikt: Bedingungen regionaler Gewaltprävention am Beispiel der Situation von Migrantinnen und ihrer medialen Wahrnehmung«. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter: Brigitte Hipfl/Utta Isop/Kirstin Mertlitsch/Alice Pechriggl (Hg.) (2009): Jenseits der Geschlechterdemokratie, Drava Verlag. Karin Liebhart, habilitierte Politologin, freiberufliche Sozialwissenschafterin, Lektorin an den Instituten für Politikwissenschaft der Universitäten Wien und Innsbruck, Visiting fellow am Jean Monnet Chair der Universität Bratislava (Slowakei), der WSHE Lodz (Polen) und der Universität Podgorica (Montenegro), dzt. Gastprofessorin an der Universität Tartu (Estland), Secretary general der Central European Political Science Association (CEPSA); Forschung und Publikationen im Bereich: Gedächtnispolitiken und Erinnerungskulturen; Politische Kulturen, Alltagskulturen und Identitätskonstruktionen; Politische Bilder, Symbole und Repräsentationen; Europäischer Integrations- und Erweiterungsprozess; Gender Studies; Publikationen u.a.: Europäische Bildpolitiken. Politische Bildanalyse an Beispielen der EU-Politik. Wien WUV 2009 (mit Petra Bernhardt, Leila Hadj-Abdou und Andreas Pribersky); The Discursive Construction of National Identity. Second Edition (revised and updated). Edinburgh University Press 2009 (mit Ruth Wodak, Rudolf de Cillia und Martin Reisigl); Nationale und europäische Gedächtnispolitiken nach 1989. Wien Böhlau (im Erscheinen). Alice Pechriggl, Studium der Philosophie, Politologie und Alten Geschichte an den Universitäten Wien, Florenz und an der EHESS in Paris (PhD 1998); 1999 Habilitation in Philosophie, Univ. Wien; seit 2000 Ausbildung zur Gruppenpsychoanalytikerin. Diverse Gastprofessuren in Wien und Paris. Seit 2003 Professorin für Philosophie an der Universität Klagenfurt, Mitarbeit im Forschungsschwerpunkt »Kultur & Konfl ikt«. Coautorin von »Phänomene der Angst. Geschlecht – Geschichte – Gewalt«, gem. mit Gudrun Perko (Milena 1996); Autorin u.a. von »Corps transfigurés. Stratifications de l’imaginaire des sexes/genres« Band I: »Du corps à l’imaginaire civique«, (L’Harmattan 2000); »Chiasmen. Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns«, Teil II »Polis« (Transcript 2006); »Eros« (UTB 2009).
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Gewalt – Kultur – Konflikt
Viktorija Ratković, Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (AAU). Von 2006 bis 2008 Koordinatorin des Interfakultären Forschungsnetzwerks Kultur & Konflikt der AAU. 2008-2009 Geschäftsführerin des Zentrums für Frauen- und Geschlecherstudien der AAK. Arbeitschwerpunkte: Medien, Migration, Frauen- und Geschlechterstudien. Co-Autorin von »Frauenhandel in Österreich. Kulturwissenschaftliche Aspekte«, herausgegben vom Interfakultären Forschungsnetzwerk Kultur & Konflikt, Drava Verlag 2009. Betty A. Reardon, Friedenspädagogin und feministische Friedensforscherin, New York; Begründerin des friedenspädagogischen Studienprogramms am Teachers College, Columbia University; Gründerin des International Institute for Peace Education (IIPE); zahlreiche Aktivitäten und Publikationen für die UNESCO; Preisträgerin des UNESCO Prize for Peace Education (Honorable Mention); Mitbegründerin der Hague Appeal for Peace Global Campaign for Peace Education (1999) und Co-Autorin von »Learning to Abolish War« (2002); zu ihrem einflussreichsten Texten gehören »Sexism and the War System« (1985), »Women and Peace« (1993) sowie »Comprehensive Peace Education« (Teachers College Press, 1988). Birgit Rommelspacher, Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und Geschlechterstudien an der Alice Salomon Hochschule und Privatdozentin an der Technischen Universität Berlin (emeritiert seit 2007). Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Rechtsextremismus, Geschlechterverhältnisse und Antiislamismus, Intersektionalität sowie interkulturelle Öffnung der sozialen Dienste. Zahlreiche Veröffentlichungen, z.B.: Der Hass hat uns geeint. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene. Frankfurt: Campus Verlag, 2006. Mit Ingrid Kollak: Interkulturelle Perspektiven für das Sozial- und Gesundheitswesen, Frankfurt: Mabuse Verlag, 2008. Anna Schober, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin; derzeit (20092011) Marie-Curie-Fellow an der Universität Verona mit dem Forschungsprojekt »Picturing Gender«; zwischen 2006 und 2009 hatte sie eine vom FWF. Austrian Science Fund finanzierte Forschungsstelle am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien inne. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind: Zeitgeschichte, Geschichte und Theorie des öffentlichen Raums, Visuelle Kultur und Gender Studies. Sie publizierte u.a.: Ironie, Montage Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München 2009 (Wilhelm Fink Verlag); Blue Jeans, Vom Leben in Stoffen und Bildern, Frankfurt a.M. und New York 2001 (Campus Verlag); und ist Herausgeberin von: Ästhetik des Politischen, ÖZG 288
Autor innen und Autoren
(Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften), Nr. 03/2004 (Studien Verlag). Roswitha Scholz, diplomierte Sozialpädagogin, freie Publizistin und Redakteurin der Theoriezeitschrift EXIT!, Forschungsschwerpunkte: Kapitalismuskritik, Geschlecht, Wertkritik, Patriachat. Zahlreiche Publikationen, darunter: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die Metamorphose des Patriarchats. Horlemann Verlag, Bonn 2000; Differenzen der Krise – Krise der Differenzen. Horlemann Verlag, 2005. Werner Wintersteiner, Professor für Deutschdidaktik und Friedenspädagogik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Gründer und Leiter des universitären Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik; Mitglied der Leitung der PEC (Peace Education Commission der IPRA) sowie im Redaktionskomitee des »Journal of Peace Education«. Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Friedensforschung und Friedenspädagogik, Literaturdidaktik und literarische Bildung, Interkulturelles Lernen und literarische Mehrsprachigkeit. Zahlreiche Bücher und Aufsätze zu Friedenspädagogik, interkulturellem und globalem Lernen; darunter »Pädagogik des Anderen. Bausteine zu einer Theorie der Friedenspädagogik« (Münster 1999), zuletzt: »Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung Globalisierung.« Klagenfurt: Drava 2006.
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