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German Pages 258 Year 2015
Sabine Aydt An den Grenzen der interkulturellen Bildung
Kultur & Konflikt | Band 7
2014-12-10 14-26-35 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d9384624420640|(S.
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4) TIT2872.p 384624420648
Sabine Aydt (Mag. iur. Dr. phil.) arbeitet an kulturwissenschaftlichen Themen, lehrt und berät zu Interkulturellen Kompetenzen und Migrationsgesellschaft. Sie ist Mitbegründerin des Bildungsnetzwerks NIC – Networking Inter Cultures.
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Sabine Aydt
An den Grenzen der interkulturellen Bildung Eine Auseinandersetzung mit Scheitern im Kontext von Fremdheit
2014-12-10 14-26-35 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d9384624420640|(S.
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Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der Privatstiftung Kärntner Sparkasse.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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2014-12-10 14-26-35 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d9384624420640|(S.
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Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 11 1. Interkulturelle Bildung als Problem | 15 1.1 Das Feld interkultureller Bildung | 15 1.1.1 Das Praxisfeld | 15 1.1.2 Das theoretische Feld | 18 1.1.3 Die Praxisreflexion | 21 1.2 Das Problem interkulturellen Lehrens | 27 1.2.1 Was ist der Gegenstand interkulturellen Lehrens? | 27 1.2.2 Was ist das Ziel interkulturellen Lehrens? | 35 1.2.3 Welches Wissen kann interkulturelle Bildung vermitteln? | 38 1.3 Die interkulturelle Erfahrung als Problem | 42 1.3.1 Wer macht eine interkulturelle Erfahrung? | 42 1.3.2 Was passiert bei einer interkulturellen Erfahrung? | 47 1.4 Das Problem des Lernens im Kontext von Interkulturalität | 51 1.4.1 Wie geht interkulturelles Lernen vor sich? | 52 1.4.2 Welche Wirkungen hat interkulturelles Lernen? | 60 1.4.3 Welche ethischen Voraussetzungen hat interkulturelles Lernen? | 64 1.4.4 Was sind interkulturelle Kompetenzen? | 68 1.5 Bedingungen und Möglichkeiten interkultureller Bildung | 73
2. Der Ansatz | 79 2.1 Interkulturelle Bildung als Spiel der Heilung | 86 2.2 Interkulturelle Bildung als Spiel des Scheiterns | 88
3. Der Ort der Wissenschaft | 91 3.1 Den Gegenstand beschreibbar machen | 91 3.2 Mit einem lebendigen Gegenstand umgehen | 94 3.3 Einen Weg gehen | 100 3.3.1 Auf den Spuren Wilfred Bions: Lernen durch Erfahrung | 100 3.3.2 Auf den Spuren Otto F. Bollnows: Erkenntnis durch Erfahrung | 107
4. Das Spiel mit Kultur und Scheitern | 125 4.1 Interkulturelle Erfahrungen machen | 126 4.1.1 Begegnung und Befremdung | 126 4.1.2 Modelle finden | 132 4.2 Scheitern kennenlernen | 137 4.2.1 Ein Umweg: zurück zu den Definitionen | 138 4.2.2 Formen des Scheiterns | 143 4.2.3 Scheitern als Tabu | 145 4.3 Scheitern in Modellen denken | 150 4.3.1 Der Schiff bruch | 151 4.3.2 Die Tragödie der Kultur (Georg Simmel) | 158 4.3.3 Das Paradies und Freuds Urhorde | 162 4.3.4 Die griechische Tragödie | 166 4.3.5 Die Geburt der Tragödie (Friedrich Nietzsche) | 167 4.3.6 Übergangsobjekt und Übergangsraum (Donald W. Winnicot) | 173 4.3.7 Wege der Kreativität (Heinrich Popitz) | 177 4.3.8 Katastrophische Veränderung (Wilfred Bion) | 182 4.4 Der Kampf gegen das Scheitern | 188 4.4.1 Im Wechselspiel | 188 4.4.2 Der Eindringling (Jean-Luc Nancy) | 191 4.4.3 Der Fremde Blick (Herta Müller) | 195
5. Von den Modellen zum Modellieren | 201 5.1 Erfahrung mit dem modellhaften Denken der interkulturellen Erfahrung | 201 5.1.1 Schiff bruch und Zuschauer | 202 5.1.2 Die Vertreibung aus dem Paradies | 203 5.1.3 Unschuldig schuldig | 204 5.1.4 Rausch und Traum | 205 5.1.5 Der Urwiderspruch | 207 5.1.6 Kreatives Eindringen | 207 5.1.7 Das Spiel | 208 5.1.8 Der Sprung | 209 5.1.9 Container/Contained | 210 5.2 Ein anderer Blick auf die Praxisreflexion | 211
6. Ein Modell für kulturelles Lernen durch Erfahrung | 217 6.1 Von der Kultur zur kulturellen Kontaktschranke | 217 6.2 Gibt es ein interkulturelles Lernen ohne Interkulturalismus? | 224 6.3 Was kann und soll in interkultureller Bildung gelehrt und gelernt werden? | 228 6.4 Lernen durch Erfahrung in Übergangsräumen | 231 6.5 Der Vorhang fällt | 235
Literatur | 239 Dank | 255
Vorwort
Seit über zehn Jahren arbeite und forsche ich im Bereich Interkulturelle Bildung. Auslöser dafür war ein mehrjähriger Aufenthalt als Entwicklungshelferin in Benin, Westafrika. Dorthin hatte ich mich ohne spezifisches Kulturwissen begeben und Fremdheit erfahren. Nach meiner Rückkehr entdeckte ich, dass der interkulturellen Bildung eine Art prophylaktische Wirkung gegen die unangenehmen Erfahrungen im Kontext von Fremdheit – Verunsicherung, Orientierungslosigkeit, Angst etc. – zugesprochen wird. Mit diesem Wissen wollte ich neue Wege zur Interkulturalität eröffnen. Ich nahm die Aufgabe an, entsprechende Bildungsangebote zu entwerfen. Aber als Forschende und Lehrende stand ich immer wieder vor Hindernissen und unbeantwortbaren Fragen. Je mehr ich den Horizont der Interkulturalität – Begegnung, Synergie, Offenheit, Akzeptanz – anstrebte, desto weiter schien er sich zu entfernen. Eines Tages kam es zu einem Gespräch mit einer befreundeten Anthropologin. Sie fragte: »Was passiert, wenn du nicht weiter nach der Formel des Gelingens suchst, sondern dich mit den gescheiterten Versuchen beschäftigst?« Ich folgte diesem wegweisenden Denkanstoß und schrieb meine Erfahrungen in einem Praxisbericht nieder, um sie unter dem neuen Blickwinkel des Scheiterns zu betrachten. Kann ich neue Einsichten über interkulturelles Lehren und Lernen gewinnen, wenn ich das Scheitern nicht zu vermeiden versuche, sondern es als Wegweiser verstehe? Lassen sich so andere Zugänge zu interkulturellem Lernen erkennen? Vor diesem Hintergrund entstand meine Dissertation mit dem Titel »Woran scheitert interkulturelle Bildung?«. Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung dieser Arbeit. Im ersten Kapitel werden zunächst das Praxisfeld der interkulturellen Erwachsenenbildung in Österreich und das theoretische Feld kurz vorgestellt. Anschließend veranschaulicht ein erster Praxisbericht, welche
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An den Grenzen der interkulturellen Bildung
Schwierigkeiten auftreten können, wenn die Ansätze interkultureller Bildung in Lehr-Lernsettings umgesetzt werden. Zur Reflexion verorte ich das eigene Vorgehen anhand der Theorien der Interkulturalität. Doch die Kernfragen – Was ist Kultur? Was ist Interkulturalität? Was ist Lernen? – führen immer wieder an unüberwindbare Grenzen des Denkens. Das zweite und dritte Kapitel dienen dazu, einen Richtungswechsel vorzubereiten. Auf den Spuren des Philosophen Otto F. Bollnow und des Psychoanalytikers Wilfred Bion zeichnet sich ein Weg der Erkenntnis bzw. des Lernens durch Erfahrung ab. Dabei wird Scheitern als eine relevante Information betrachtet, die auf etwas Neues aufmerksam macht. Mit dem Begriff Scheitern und seinen Implikationen beschäftige ich mich zu Beginn des vierten Kapitels. Danach wird das bis dahin theoretisch Entworfene angewendet, um die eigene Fremdheitserfahrung während meines Lebens in Westafrika zu reflektieren. Eine Reihe von Denkmodellen, die einen Umgang mit dem Scheitern beschreiben – vom Schiff bruch über die Tragödie zum Eindringling –, zeigen neue Aspekte der Fremdheitserfahrung auf. Das fünfte Kapitel führt zu einer schrittweisen Neumodellierung des Denkens interkultureller Erfahrung. Dabei eröffnen sich in Verbindung mit der Kulturtheorie des Psychologen Donald W. Winnicot unerwartet Übergänge zu einem anderen, spielerischen Ansatz kulturellen Lernens durch Erfahrung in »Übergangsräumen« (Winnicot). Im letzten Kapitel kehre ich zur Frage zurück: Was kann in interkultureller Bildung gelehrt und gelernt werden? Es enthält einen Ausblick auf Möglichkeiten des Lernens durch Erfahrung in Lehr-Lernsettings.
Einleitung
Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. Rainer Maria Rilke Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde. Zygmunt Bauman
Die Landkarte Africae nova descriptio von Guiljelmo Blaeuw von 1630 zeigt den afrikanischen Kontinent umgeben vom Meer, durchzogen von Flüssen und Grenzlinien, wie wir es auch von modernen Landkarten kennen. Sie zeigt aber noch mehr: Auf den Meeren fahren die Schiffe der Entdecker, dazwischen tummeln sich Seeungeheuer. Im Landesinneren sind wilde Tiere eingezeichnet. Den oberen Rand schmücken Detailbilder einzelner Orte. An den seitlichen Rändern finden sich Darstellungen von Menschen in landesüblichen Gewändern. Heute erkennen und kritisieren wir anhand solcher Dokumente meist den kolonialistischen Blick, der den anderen seine Sichtweise der Welt aufzwingt. Aber die alten Karten lassen sich noch in anderer Weise lesen. Sie erzählen von den Erfahrungen der Seefahrer. Diese brauchten Schiffe, Mannschaften und günstigen Wind, um neue Kontinente zu erreichen. Die Karte warnt davor, dass auf der Fahrt viele unbekannte Gefahren lauern. Sie weist auf die Begegnungen mit Menschen in den fernen Weltgegenden hin. Die Berichte der Seeleute und Entdecker wurden durch den Kartenkünstler fantasievoll ergänzt. Manches ist im Detail dargestellt, andere Stellen der Karte sind leer. Es handelt sich um eine descriptio, eine Beschreibung, die Erfahrungen und Geschichten in einem Bild versammelt.
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Abbildung 1: Africae nova descriptio, um 1630, Verleger: Guiljelmo Blaeuw (Guilielmus Blaeu); Amsterdam; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Kartensammlung und Globenmuseum Eine Weltkarte, die sich heute in einem Schulatlas findet, schweigt zu all dem. Die Entdecker und die Spuren ihrer Tätigkeiten und Bewegungen sind aus diesen Karten verschwunden. Die moderne Karte steht für den Blick eines unbeteiligten Zuschauers auf die Welt. Während die alten Karten erzählen, was man in und mit einem Raum machen kann (Certeau 1988, 225) nimmt die neuere Karte »eine totalisierende Planierung der Beobachtungen« vor (ebd., 222). Doch heute wie früher bewegen sich die Menschen in der Welt. Im ersten Halbjahr 2014 haben Medienberichten zufolge rund 100.000 Flüchtlinge versucht, von Afrika aus über das Mittelmeer Europas Küsten zu erreichen. Statt in stolzen Segelschiffen fahren sie in einfachen Booten. Ihre Erfahrungen auf der Überfahrt und an den Küsten sind ganz anderer Art als jene der Seefahrer des siebzehnten Jahrhunderts. Wenn sie die Küste erreichen, finden sie dort Grenzen vor. Die Grenzen, an denen sie auf Einlass warten, sind auf Landkarten markiert. Aber auch an den Grenzen geschieht viel mehr als die modernen Landkarten zeigen. An Grenzen passieren Bewegungen. Grenzen sind die Spuren der Tätigkeiten der Grenzziehung. Menschliche Begeg-
Einleitung
nungen haben stattgefunden, um Grenzen festzuschreiben. Sie werden fortgesetzt, um die Grenzen zu erhalten. Grenzen werden überwunden, verwischt oder verschoben. Von Grenzen wird man angezogen und zurückgestoßen. Um Kultur(en) und deren Grenzen darzustellen, bedient sich interkulturelle Bildung meist eines Modus, der dem der modernen Landkarten entspricht. Man bietet mehr oder weniger komplexe Darstellungen von Kultur(en) an, in denen sich die Lernenden selbst verorten können und die dabei helfen sollen, Orientierung in unbekannten Gegenden zu finden. Interkulturelle Bildung entwirft auch neue, interkulturelle Terrains. Damit verspricht sie, das Zusammenleben und -arbeiten unter den Bedingungen von Migration und Globalisierung zu erleichtern. Der Bedarf ist zweifellos gegeben, denn Fremdheit gibt es an den fernen Küsten ebenso wie in der Nachbarschaft. Gesellschaftliche Öffnung schlägt vielfach in Feindseligkeit gegenüber Fremden um. Es entstehen unlösbare Konflikte und mehr Kulturwissen führt oft zu mehr Orientierungslosigkeit. Die zentralen Fragen bleiben unbeantwortet: Was ist Kultur? Wie stellt man gelingende interkulturelle Begegnung her? Wie können Fremde zu Freunden werden oder wie kann man zumindest Feindschaft verhindern? Diese Probleme entziehen sich beharrlich dem theoretischen und pädagogischen Zugriff. Ist dieser Bildungsansatz zum Scheitern verurteilt? Die Erfahrung des Fremdseins und jene des Scheiterns machen die Beziehung zur Welt fraglich. Es geht nicht nur um eine neue Verortung in der Welt, es steht vielmehr die Möglichkeit der Verortung auf dem Spiel. Die Art und Weise des In-der-Welt-Seins muss anders gedacht werden. Genügt es, den Anleitungen der interkulturellen Bildung zu folgen? Diese empfiehlt die Selbstreflexion, das Nachdenken über sich selbst und die eigene Kultur. Damit steht man vor der spezifischen Herausforderung, die alle Humanwissenschaften betrifft. ›Der Mensch‹ macht sich selbst zum Objekt der Erkenntnis. Dazu muss er sich selbst als Beobachter aus der Welt herauslösen. Aus den ›Wissenslandkarten‹, die die Humanwissenschaften zeichnen, werden die Spuren der lebendigen Beobachter/-innen gelöscht. Aber ich bin in der Welt, bin Teil der Welt, das erfahre ich gerade, wenn sie mir als fremd begegnet. Ich erfahre es auch, wenn mir die Welt unerbittlich entgegentritt und mich scheitern lässt. Dieser transdisziplinäre Essay ist der Versuch, entlang des Scheiterns Arten und Weisen des denkenden und fühlenden In-der-Welt-Seins kennenzulernen. Wie kann man damit umgehen, wenn immer wieder das Scheitern droht?
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Meine These lautet: Wenn man erfahren kann, wie man sich in einem Terrain bewegt, das durch Fremdheit und Unsicherheit geprägt ist, hätte man im Feld der Interkulturalität schon sehr viel Kompetenz gewonnen. An den Grenzen der interkulturellen Bildung ist ein Bericht, der den vielen Bewegungen und Tätigkeiten nachgeht, die interkulturelle Bildung hervorbringen und gestalten. Er erzählt von der Suche nach neuen Wegen auf den Spuren des Scheiterns. Er entwirft keine neue ›Landkarte‹, sondern will als Wegbeschreibung verstanden werden. Akteure und Akteurinnen interkultureller Bildung suchen Wege und verirren sich. Es gibt unzählige Gefahren, denen sie begegnen. Unermüdlich versuchen sie, die leeren Flecken der Karten zu füllen. Dieser Text ist eine kritische Reflexion interkultureller Bildung aus der Perspektive einer Praktikerin. Er beschreibt die Erfahrung des Fremdseins, die Angst vor dem Scheitern und das Wagnis, beides zu denken.
1. Interkulturelle Bildung als Problem 1.1 D as F eld interkultureller B ildung 1.1.1 Das Praxisfeld Etwa seit dem Jahr 2000 hat sich in Deutschland und Österreich eine Vielzahl an Angeboten zum Themenbereich interkulturelle Kommunikation, interkulturelle Kooperation und interkulturelle Kompetenzen entwickelt. Wenn ich hier von interkultureller Bildung spreche, dann beziehe ich mich auf jenen Bereich der Erwachsenenbildung in Österreich und im deutschsprachigen Raum, der unter dem Titel Interkulturalität Weiterbildungsmaßnahmen anbietet. Es gibt eine unüberschaubare Anzahl an Anbieter/-innen von Seminaren und Kurztrainings. Trainings gibt es überwiegend im Unternehmensbereich. Sie finden »on the job« oder »off the job« statt und können sowohl kulturübergreifend als auch kulturspezifisch ausgerichtet sein (vgl. Bolten 2007, 89f.; Erll/Gymnich, 152f.). Darüber hinaus gibt es aber auch mehrere Angebote mit einer Mindestdauer von ein bis zwei Jahren, die multidisziplinär orientiert sind und sowohl Theorie- als auch Praxisbezug haben. In Deutschland handelt es sich dabei überwiegend um Bachelor- und Masterstudiengänge, während in Österreich die berufsbegleitenden Zusatzqualifikationen überwiegen. Diese interkulturellen Weiterbildungen in Österreich werden sowohl von Universitäten wie von außeruniversitären Einrichtungen der Erwachsenenbildung angeboten.1 Mein direktes Erfahrungsfeld war der berufsbegleitend 1 | Beispiele in Österreich: Masterstudiengang »Interkulturelle Kompetenzen« M.A. der Donau-Universität Krems, Diplomlehrgang »Interkulturelle Kompetenz« (ICC) und Masterlehrgang M.A. in »Intercultural Studies« der Universität Salzburg, Diplomlehrgang »Leben in der Migrationsgesellschaft« des Internationalen Zentrums für Kulturen und Sprachen der Wiener Volkshochschulen, Lehrgang »Inter-
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konzipierte, vier semestrige Universitätsstudiengang Interkulturelle Kompetenzen an der Donau-Universität Krems. Dieser führt zum Abschluss mit einem Weiterbildungs-Master, Master of Arts.2 Die Teilnehmenden dieses Studiengangs kamen vor allem aus sozialen und pädagogischen Berufen, aus Unternehmen, der Verwaltung und dem Kulturbereich. Sie hatten meist selbst Auslandserfahrung bzw. Erfahrung mit interkultureller Kooperation und wollten diese anhand eines theoretischen Hintergrunds reflektieren. Das so gewonnene Wissen sollte im jeweiligen beruflichen Kontext einsetzbar sein. Einige Studierende hatten das Ziel, selbst interkulturelle Trainings anzubieten. Der didaktische Auf bau umfasste dementsprechend sowohl theoretische Inputs als auch anwendungsorientierte und persönlichkeitsbildende Methoden des interaktiven Lernens. Das Studienprogramm bezog seine Inhalte aus mehreren akademischen Disziplinen. Relevant sind verschiedene sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen wie die Kultur- und Sozialanthropologie, die Psychologie, Philosophie, Soziologie, Politik- und Religionswissenschaft. Manche klassische Disziplinen haben Richtungen hervorgebracht, die sich spezifisch mit Fragen der Interkulturalität beschäftigen, wie die interkulturelle Philosophie und die interkulturelle Psychologie. In der Betriebswirtschaftslehre gibt es die interkulturelle Managementlehre und das interkulturelle Marketing. Darüber hinaus entstanden jüngere Forschungsrichtungen, die der interkulturellen Bildungsforschung zugeordnet werden können. Dazu zähle ich die interkulturelle Kommunikationsforschung, die interkulturelle Kompetenzforschung, die interkulturelle Pädagogik und die Migrationspädagogik. Ergänzende bzw. überlappende Forschungsinteressen haben auch die Migrations- und Integrationsforschung. Die Akteure und Akteurinnen im Praxisfeld des Universitätsstudiengangs Interkulturelle Kompetenzen waren Lehrende, Lernende sowie Vertreter/-innen der Donau-Universität, Universität für Weiterbildung. Die Studierenden waren überwiegend Österreicher/-innen, Deutsche und Angehörige anderer Nachbarländer. Vereinzelt nahmen auch Studierende aus weiteren Ländern, meist mit Wohnsitz in Österreich, an der Ausbildung teil. Die Lehrenden waren unterschiedlicher Nationalität, kulturelle Kompetenzen« des Interkulturellen Zentrums in Wien und akademischer Lehrgang »Transkulturelles Handeln« der FH Campus Wien. 2 | www.donau-uni.ac.at/de/studium/interkulturellekompetenzen/
1. Interkulturelle Bildung als Problem
aus verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern. Die Unterrichtssprachen waren Deutsch und Englisch. Durch die Vielzahl der beruflichen Erfahrungen der Teilnehmenden erstreckten sich meine Beobachtungsmöglichkeiten indirekt auch auf weitere Bildungsbereiche wie die schulische Bildung, die betriebliche Bildung oder die informelle Bildung. Darüber hinaus hatte ich durch den Erfahrungsaustausch mit Kollegen/Kolleginnen auch Zugang zu Informationen, die sich auf vergleichbare Universitätsstudiengänge oder Ausbildungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz beziehen. Der Zeitraum meiner Beobachtungen umfasste zehn Jahre. Meine praktische Aufgabe bestand in der Entwicklung und Durchführung des Studiengangs. Das Curriculum sollte die persönlichen, psychischen, gesellschaftlichen, sprachlichen, rechtlichen, politischen, ethischen, religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren, die in interkulturellen Situationen wirksam sind, und deren Dynamiken berücksichtigen. Die Fragen, die sich bei der Gestaltung eines solchen Weiterbildungsangebots mit interkulturellem Inhalt ergeben haben, sind: • theoretisch: Welche Ansätze sollen aus einem multidisziplinären Feld ausgewählt werden und wie werden sie zueinander in Bezug gesetzt? Wie geht man mit dem Kulturbegriff um? Wie geht man mit der Relativität des Wissens um, die im interkulturellen Kontext deutlich wird? • didaktisch: Ist interkulturelles Lernen steuerbar und wenn ja, wie? Wie können theoretische Ansätze didaktisch an unterschiedliche Zielgruppen vermittelt werden? Welche Rolle und Motive haben Lehrende? Welche Ziele verfolgen Lehrende und Lernende? Welche Emotionen, Projektionen, Verdrängungen sind in den Lehr-Lerndynamiken wirksam? • kulturell: Wie kulturgebunden ist interkulturelles Lehren und Lernen? Sind Ansätze interkulturellen Lernens kulturübergreifend anwendbar? Ist es möglich und sinnvoll, kulturübergreifende Ansätze zu entwickeln? • politisch: Unter welchen sozio-politischen Bedingungen findet interkulturelle Bildung statt und welche Wirkungen hat sie? Welche normativen Vorstellungen werden vermittelt? Vor allem stellt sich die Frage: Welche Zusammenhänge bestehen zwischen diesen verschiedenen Problemebenen? In der Praxis interkultu-
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reller Weiterbildung existieren diese Ebenen nicht getrennt voneinander. Lehrende und Lernende entwickeln ihre Ansätze und Lösungen im Umgang mit der Komplexität des Problemfeldes laufend weiter. Die Reflexion über Lehr-Lernprozesse, die ich während der Arbeit im Praxisfeld angestellt habe, ist Ausgangspunkt dieser Arbeit.
1.1.2 Das theoretische Feld Historisch gesehen ist der Ansatz der interkulturellen Kommunikation von großem Einfluss auf alle Bereiche interkultureller Bildung. Er entstand in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Notwendigkeit heraus, internationale Experten und Expertinnen auszubilden. Dabei musste ethnografisches Wissen an Fachleute vermittelt werden, die im Ausland eingesetzt werden sollten. Der Ethnologe E.T. Hall, der als Begründer dieser Richtung gilt, stellte fest, dass in solchen Trainings das Studieren von klassischen Ethnografien nicht effektiv war. Er erkannte, dass eine Selbstreflexion über den eigenen »kulturellen Bias« notwendig ist, um sich in unbekannten kulturellen Kontexten orientieren zu lernen (Moosmüller 2007a, 14). Im Mittelpunkt des Interesses standen die Prozesse, die Menschen durchleben, wenn sie eine Auslandserfahrung machen. Seither ist der Begriff Interkulturalität stark verbunden mit der Vorstellung, dass Interaktionen von Menschen verschiedener kultureller Herkunft durch ›interkulturelles‹ Wissen und entsprechende Vorbereitung in positiver Weise steuerbar sind. Interkulturelle Bildung soll den Ausgebildeten eine Gestaltungsmacht über die genannten Interaktionen verleihen. Meist wird unter interkultureller Kompetenz die Fähigkeit verstanden, interkulturelle Situationen für alle Beteiligten befriedigend zu gestalten (vgl. Bertelsmann Stiftung/Fondazione Cariplo 2008; Deardorff 2006; Erll/Gymnich 2007). Dabei kann der Schwerpunkt entweder eher auf der effizienten Bewältigung von Arbeitssituationen liegen oder auf der Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung durch die interkulturelle Begegnung (vgl. Rathje 2006). Bei genauerer Betrachtung stellt sich interkulturelle Kompetenz als ein Bündel von individuellen, sozialen, fachlichen und strategischen Kompetenzen dar (Bolten 2007, 86f.). In einem bescheideneren Sinn definiere ich interkulturelle Kompetenz als Bereitschaft und Fähigkeit, den eigenen kulturellen Kontext und die Grenzen des eigenen Wissens bewusst zu reflektieren und dies als Ausgangspunkt für laufendes, selbstgesteuertes Lernen in Beziehung mit anderen zu verstehen.
1. Interkulturelle Bildung als Problem
In theoretischer Hinsicht hat seit dem Jahr 2000 vor allem in Deutschland ein Prozess der Selbstdefinition und Disziplinierung der interkulturellen Kommunikationsforschung bzw. der interkulturellen Kompetenzforschung stattgefunden. Sie bezeichnet sich als »wissenschaftliche Disziplin« (Moosmüller 2007b; Straub 2007) bzw. als »Fach oder Gegenstandsbereich« (Bolten 2005). Dieser Prozess ist, wie Bolten schreibt, dadurch geprägt, dass in der Literatur einerseits Homogenitätsansprüche kritisiert werden, gleichzeitig die Akteure und Akteurinnen aber doch darauf abzielen, »eine verbindliche und möglichst kohärente Konzeption von ›Interkultureller Kompetenz‹ konstruieren zu können« (Bolten 2011, 56). Ähnliche Prozesse sind in der interkulturellen Pädagogik bzw. der Migrationspädagogik zu beobachten. Diese entwickelten sich über längere Zeit relativ unabhängig von der interkulturellen Kommunikationsforschung und hatten Schnittstellen zur Antirassismusarbeit und zur Dritte-Welt-Pädagogik. Während die interkulturelle Kommunikation auf ein individuelles Know-how abzielt, beschäftigt sich die interkulturelle Pädagogik mit Fragen der gesellschaftlichen Anerkennung und (Un-) Gleichheit im Kontext von Migrationserfahrungen (Auernheimer 2005, 20f.). Die Veränderung der Paradigmen in der interkulturellen Pädagogik verlief chronologisch gesehen vom Defizit-, über den Differenz- zum Dominanzdiskurs (vgl. Mecheril 2004, 83ff.; Auernheimer 2005, 34ff.). In den 1970er Jahren waren die Bildungsdefizite der sogenannten ›Gastarbeiter‹ Anlass für die recht spärlichen Bildungsangebote (Defizitdiskurs). Später wurden durch die Rezeption der interkulturellen Kommunikationsforschung die kulturellen Differenzen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt und die Bildungsangebote ausgeweitet (Differenzdiskurs). Dies führte in einer Gegenbewegung dann wiederum zur Kritik am ›Kulturalismus‹, dem vorgeworfen wurde, kulturelle Differenzen zu stark zu betonen. Dies ist der Fall, wenn zum Beispiel Bildungsdefizite von Kindern aus Immigrantenfamilien allein bzw. überwiegend auf ihre kulturelle Herkunft zurückgeführt werden. Solche Erklärungen können als Ausdruck der Definitionsmacht der Mehrheitsbevölkerung verstanden werden (Dominanzdiskurs). Die Bezeichnungen der pädagogischen Ansätze änderten sich entsprechend. Aus der Ausländerpädagogik wurde die interkulturelle Pädagogik und schließlich die Migrationspädagogik bzw. die Pädagogik in Migrationsgesellschaften (vgl. Mecheril 2004). Weitere Impulse zur Überwindung von Dominanzverhältnissen auch in der Pädagogik sind derzeit aus dem Diskurs über »postmigrantische Le-
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benskonzepte« (Yildiz 2010) von Zugewanderten der zweiten oder dritten Generation zu erwarten. Er mündet in die Forderung nach radikaler interkultureller Öffnung der Gesellschaft und ihrer Institutionen in Richtung einer »Interkultur« (Terkessidis 2010). Diese Ansätze betonen, dass (migrationsbedingte) kulturelle Vielfalt keine Ausnahme, sondern der Normalfall in globalisierten Gesellschaften ist. Die Praxis interkultureller Bildung muss sich einerseits an einem relativ jungen und unübersichtlichen akademischen Feld und andererseits an den theoretisch sehr weiten Grundbegriffen Kultur und Interkulturalität orientieren. Außerdem fließen die Phänomene der »Migration von unten« und der »Migration von oben« (Moosmüller 2007a, 23), die über lange Strecken voneinander abgegrenzt wurden, im Zuge der Globalisierung immer mehr ineinander. Die Einsatzbereiche interkultureller Bildung variieren dementsprechend von der Integration von Migrantenkindern bis zur Ausbildung von Führungskräften in Unternehmen. Gängige Diskurse in der interkulturellen Bildung drehen sich um die Definitionen von Kultur und interkulturellen Kompetenzen. Je nach Disziplin, auf die man sich dabei beruft, und nach Einsatzbereich fallen die Ergebnisse sehr unterschiedlich aus. Für die Lehre werden zwar mittlerweile umfangreiche Übersichten (vgl. u.a. Bolten/Ehrhardt 2003; Lüsebrink 2005; Hans Nicklas et al. 2006; Otten et al. 2007; Weidemann et al. 2010; Dreyer/ Hößler 2011) und Methodensammlungen angeboten. Es fehlen aber metatheoretische Untersuchungen, die aufzeigen, welche Zusammenhänge zwischen theoretischen Begriffen, didaktischen Ansätzen und den unterschiedlichsten sozio-kulturellen, politischen und historischen Kontexten bestehen, in denen interkulturelle Bildung stattfindet. Lange Zeit lagen nur wenige transdisziplinär orientierte Analysen expliziter und impliziter Grundannahmen interkultureller Bildung vor. Ebenso wurden die paradigmatischen Gemeinsamkeiten oder metatheoretischen Annahmen der Strömungen innerhalb des Feldes nur ansatzweise herausgearbeitet. Eine umfassende und erhellende Darstellung von Paradigmen innerhalb des Feldes hat erst vor kurzem Helene Haas vorgenommen (Haas 2009). Sie identifiziert als Ursprung der interkulturellen Kommunikationsforschung die sogenannte Nationalcharakterforschung in den USA in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Diese verfolgte militärische Zwecke. Angehörigen der Streitkräfte sollten durch interdisziplinäre Forschung handlungsrelevantes Wissen über potenzielle Gegner (Nationen) zur Verfügung gestellt werden. Dieser Hintergrund erklärt die typische
1. Interkulturelle Bildung als Problem
Praxisorientierung, die kulturvergleichende Herangehensweise und den starken Nationalitätsbezug der interkulturellen Kommunikationsforschung (Haas 2009). Die genannten Grundzüge sind noch heute prägend für das gesamte Feld und rufen immer wieder Kritik hervor. Alle diese Strömungen zusammen bezeichne ich als Feld der interkulturellen Bildung. Wie dieser kurze Überblick zeigt, handelt es sich keineswegs um ein homogenes oder klar abgrenzbares theoretisches Feld.
1.1.3 Die Praxisreflexion In diesen Hintergrund war die Aufgabe der Entwicklung eines Curriculums für einen berufsbegleitenden Studiengang an einer Universität für Weiterbildung eingebettet, die die empirische Grundlage für die vorliegende Untersuchung liefert. Der Studiengang »Interkulturelle Kompetenzen« war damals einer der ersten dieser Art in Österreich und das gesamte Programm musste neu entwickelt werden. Über diese Erfahrung erstellte ich im Sinne der Praxisforschung (vgl. Moser 1995; Moser 2003; Cendon 2008) eine Praxisreflexion. Bei Praxisforschung als ganzheitlichem Ansatz handelt es sich um »wissenschaftliche Bemühungen, die an der Schnittstelle zwischen Wissenschafts- und Praxissystem angesiedelt sind und darauf abzielen, gegenseitige Anschlüsse zu finden und fruchtbar werden zu lassen« (Moser 1995, 9). Als »reflective practitioner« (Schön 1987) schrieb ich eine Aufzeichnung meiner Erfahrungen, um sie so einer Analyse der darin enthaltenen, handlungsleitenden »praktische[n] Theorien« (Altrichter/Posch 2007, 110) zugänglich zu machen. Die Praxisreflexion besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bezieht sich auf die Erfahrung als Lehrgangskoordinatorin (Rückblick auf die Jahre 2002-2007) und der zweite Teil ist ein Rückblick auf interkulturelle Erfahrungen (Italien 1983-1985 und Benin 1994-1997). Die Reflexion der Erfahrung als Lehrende soll einen Einblick in die Aufgabenstellung interkulturelle Bildung aus Sicht einer Akteurin geben. Für das Verständnis dieser Reflexion ist auch mein Ausbildungsund Berufshintergrund relevant. Ich habe ein Studium der Rechtswissenschaften absolviert. Danach bildete ich mich als Controllerin für Non-Profit-Organisationen und als Kommunikationstrainerin weiter. Die relevante berufliche Erfahrung im interkulturellen Kontext war eine mehrjährige Tätigkeit als Entwicklungshelferin in einem Programm für politische Bildung in Westafrika. Später war ich in der Erwachsenenbil-
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dung als Trainerin tätig. Mein theoretisches Wissen zur Interkulturalität erwarb ich im Selbststudium. Im ersten Teil der Praxisreflexion stellte sich meine Erfahrung als Lehrgangskoordinatorin wie folgt dar: »Am Anfang war ich überwältigt und überfordert von der Weite und Unübersichtlichkeit des Feldes. Ich fand punktuell konkrete Informationen, aber gleichzeitig unendlich viele Verweise auf verschiedenste Dispziplinen und wissenschaftlich relevante Felder, die mir neu waren. Das alles war einerseits spannend, andererseits unbefriedigend. Mir wurde klar, dass diese Felder nicht miteinander in Kontakt traten. Sie wurden nur in meinem Kopf verknüpft und ich versuchte mit großer Anstrengung, das alles in eine Ordnung zu bringen. Während dieses intensiven Forschungsprozesses stand ich unter dem Erwartungsdruck der Studierenden. Auch diese erwarteten sich Struktur und Ergebnisse. Zusätzlich waren wir eingebunden in eine heftige Gruppendynamik. Es ging in dieser Phase also stark um Orientierung und Klärung meines Selbstverständnisses. Der akademische Rahmen bot sich gut für Distanzierungen an. Ich warf den Teilnehmenden vor, dass sie sich durch die Kritik an der Theorie vor ihren eigenen Lernprozessen verstecken konnten. In der Gruppendynamik gab es starke Konkurrenz und unterschwellige Aggression. Auch die Dynamik im Arbeitsteam war nicht konfliktfrei. Meine Schwäche als Kursleitung in der Anfangszeit löste Verunsicherung und Aggression bei den Teilnehmenden aus. Ich hatte selbst ein starkes Bedürfnis nach Struktur. Es war eigentlich eine Mangel- und Unsicherheitssituation: zu wenig Wissen, zu wenig stützende Strukturen. Beides empfand ich als Unvermögen. Gleichzeitig versuchte ich, genau diese Bedingungen, die mir aus interkulturellen Erfahrungen bekannt waren, als Kernbedingungen interkultureller Situationen zu verstehen, sie zu definieren und daraus ein Konzept zu entwickeln. Dieses Konzept bestand aus Ansprüchen, aus der Vorstellung, dass etwas möglich sein müsste, was aber noch nicht existierte oder noch nicht entdeckt war. Ich befand mich eigentlich in einer Ambivalenz zwischen Größenwahn und dem Gefühl der Unfähigkeit. Eine ähnliche Erfahrung hatte ich bereits früher in der Entwicklungszusammenarbeit gemacht. Das Konzept, das sich langsam entwickelte, bestand darin, zunächst die Teilnehmenden für die Komplexität der Materie zu öff-
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nen. Im zweiten Schritt sollten sie dann in der Lage sein, sich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. In den ersten Lehrgangsmodulen wurden Themen, Disziplinen, Handlungsfelder angerissen. Die Struktur für das Kursprogramm war immer in Entwicklung begriffen. Dabei entstanden mehr Fragen als Antworten. Das bisherige Bild der Studierenden von Kultur und Interkulturalität sollte aufgelöst, dekonstruiert werden. So wurde didaktisch die Verwirrung, die in interkulturellen Situationen entsteht, noch einmal herbeigeführt. Emotional und didaktisch war darauf zu achten, dass diese Verwirrung noch produktiv genützt werden kann und nicht zu einem Ausstieg führt. Dazu wäre ein intensives Reflexionsangebot nötig gewesen. Die Reflexion lies sich aber zeitlich nur in Ansätzen im Programm unterbringen. Die Zeit dafür ist vom akademischen Rahmen eines Universitätsstudiums nicht vorgesehen. Ich versuchte, diesen Mangel durch persönliches Engagement und viele persönliche Gespräche aufzufangen. Ich bot mich selbst als Reflexionspartnerin, Anker und Orientierungspunkt an. In gewisser Weise waren die Teilnehmenden aufgefordert, mir zu vertrauen und sich dadurch auf den weiteren Prozess einzulassen. Meine Strategie, mich persönlich zur Verfügung zu stellen, war sehr anstrengend. Dabei überschritt ich oft meine persönlichen Grenzen. Die Frage, wo ich meine Grenzen setzen muss und möchte, beschäftigte mich sehr lange. Ich gehe davon aus, dass Lernen (und auch Forschen) in Beziehung stattfindet. Im Grunde kann ich nur lehren, was ich selbst erlebt habe und jede/r kann etwas Anderes von mir annehmen. Natürlich lernen auch alle Teilnehmenden voneinander. Lernen ist dann ein Prozess, in dem sich die Beteiligten in Beziehung zu einander neu konstruieren. Kann es Muster für solche Prozesse geben oder laufen sie immer individuell, je nach Zusammensetzung der Beteiligten ab? Die unterschiedlichen Teilnehmendengruppen zeigten sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten im Prozess. Die Muster können nur im Rückblick hinein interpretiert werden. Selbst wenn bei einer Gruppe die abstrakte, kognitive Öffnung gelungen war, bestand die Frage, wie sich diese nun in eine emotionale bzw. haltungsmäßige Offenheit umsetzen lies. Im zweiten Teil des Studiengangs ging es darum, sich inhaltlich und verhaltensmäßig wieder zu verorten. Wo stehe ich? Wie agiere ich? Dazu sollten interaktive Lehrmethoden zum Einsatz kommen. Das Problem bestand
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darin, dass die bekannten Methoden interkultureller Trainings nicht für Personen gedacht sind, die vorab durch den beschriebenen kognitiven Prozess der Dekonstruktion von Kultur gegangen sind. Sie sind daher vielfach zu wenig komplex oder sie sind nicht kultursensibel. Es gibt meines Wissens sehr wenig Methodik, die komplexe Kulturtheorien in Lernarrangements übersetzbar macht. Welcher Zusammenhang besteht zwischen einer solchen Kulturtheorie und dem affektiven und handlungsorientierten Lernen? Durch klassische interkulturelle Trainingstools (Rollenspiele, Beobachtungsübungen etc.) fühlten sich die Teilnehmenden des Lehrgangs unterfordert, entweder insgesamt oder zumindest kognitiv. Die Teilnehmenden, die sich mit der Komplexität von Kultur beschäftigt hatten, empfanden die Aufgaben als kognitiv zu vereinfachend (was sie auch sind). Sie lehnten manche Übungen ab, obwohl sie sehr wohl auf der emotionalen und Verhaltensebene dabei etwas lernen hätten können. Andere Methoden, die offener und stärker auf die allgemeinen sozialen Kompetenzen zugeschnitten sind (z.B. Mediation, Moderation), können wiederum zu wenig kultursensibel sein. Sie werfen die Fragen auf: Wozu brauchen wir dann überhaupt interkulturelles Lernen? Sollten wir besser gleich Mediation lernen? Um Mediation wirklich zu lernen, fehlt aber wiederum die Zeit im Rahmen dieses Lehrgangs. Die Frage ist: Gibt es wirklich spezifische Methoden für interkulturelles Lernen und wie kulturgebunden sind diese? Wie kann man die theoretische Komplexität in handhabbare Methoden übersetzen? Ich experimentierte dazu. Ein Experiment bestand in einem Workshop mit Piano und Djembe, der von einem deutschen und einem ghanaischen Trainer geleitet wurde. Die Artefakte dienten als Analyseinstrumente für die Kulturen, in denen sie verbreitet sind. Das Musizieren auf dem ›fremden‹ Instrument sollte die Anpassungsschwierigkeiten erlebbar machen. Wesentlich dabei war mir auch die Einbeziehung einer körperlichen Erfahrung. Durch das Musizieren in einer Gruppe konnten die Teilnehmenden eine Situation von Disharmonie und Harmonie unter den Bedingungen von Stress und Unsicherheit erleben. Sie konnten auch ihre eigenen Strategien im Umgang damit wahrnehmen. Das Experiment hätte meiner Meinung nach großes Potenzial gehabt. Eine Vertiefung scheiterte aber an der Zusammenarbeit zwischen den beiden Trainern. Inwiefern dies an interkulturellen Problemen lag, wurde nie aufgearbeitet. Ein weiteres Experiment
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bestand im Einsatz von theaterpädagogischen Methoden für die Bearbeitung von interkulturellen Kommunikationssituationen. Dieses Instrument eignet sich der Erfahrung nach jedenfalls für die Arbeit mit monokulturellen Gruppen zu interkulturellen Themen. Der Zugang von Menschen unterschiedlicher Kulturen zum Theaterspielen würde wahrscheinlich in gemischten Gruppen relevant. Die Methode ist wesentlich erfahrungsnäher als zum Beispiel konstruierte Rollenspiele und kann eher Beziehungslernen fördern. Ein weiteres methodisches Problem bestand darin, die interkulturellen Themen der Gruppe selbst bearbeitbar zu machen. Das akademische Setting lässt kaum selbsterfahrungsorientierte und gruppendynamische Übungen zu. Die gruppendynamischen Wirkungen der interkulturellen Ausbildung sind meines Erachtens stärker als zum Beispiel in einer technischen oder medizinischen Ausbildung. Es gibt aber kaum Bearbeitungsmöglichkeiten. Die Theaterpädagogik hat sich als Mittelweg ganz gut bewährt. In der gesamten Ausbildung kam der Aspekt der Sprache generell zu kurz. Es wurde zwar teilweise in Englisch unterrichtet und manche Teilnehmende waren nicht deutscher Muttersprache, sodass das Thema im Raum war. Es wurde aber damals methodisch nicht aufgegriffen. Eine Methodik, die eine erfahrungsorientierte und nicht rein kognitive Verknüpfung von Sprachlernen und interkulturellem Lernen ermöglicht, ist mir nicht bekannt. Sprache liegt sehr nahe, untrennbar, an der körperlichen Verankerung von Kultur. Sie wird als Schlüssel zum Verstehen und Denken einer Kultur angesehen. Ich denke, dass es aber darüber hinausgeht. Die Erfahrung des Lernens einer Fremdsprache als Erwachsene/r, bedeutet, dass man erfährt, wie es ist, sich nicht verständlich machen zu können. Das versetzt uns in eine kindliche Position zurück. Die psychosoziale Dimension dieser Erfahrung wird im normalen Sprach- und Kulturunterricht nicht angesprochen. Wegen der gesamten psychosozialen Prozesse stellt sich die Frage, ob akademische Programme überhaupt interkulturelle Kommunikation oder interkulturelle Kompetenzen vermitteln können. Die Angebote scheitern einerseits an den Begrenzungen durch den akademischen Rahmen, andererseits am Mangel an adäquaten Übungen und Methoden.« (Aydt 2008)
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Die Reflexion des konkret Erlebten besteht aus einer Verknüpfung von Beobachtungen mit Erklärungen und methodischen Überlegungen. Eine erste Analyse zeigt, dass im Text einige »praktische Theorien« enthalten sind: Der Stand der Orientierungsmöglichkeiten in einem theoretischen Feld hat direkte Auswirkungen auf die Beziehungen innerhalb eines LehrLernsettings. Das emotionale und das kognitive Lernen können nicht voneinander getrennt werden. Die Vorerfahrungen und Erwartungen der Beteiligten beeinflussen die Rezeption von Inhalten. Die Adäquanz oder mangelnde Adäquanz von Methoden setzt unterschiedliche Entwicklungsprozesse bei den Beteiligten in Gang. Blockaden individueller und institutioneller Natur stören diese Prozesse. Auf Zweifel, Mangelerfahrungen und Dekonstruktion folgen Akte der neuen, kreativen Verortung. Die abschließende Problemdefinition bezieht sich auf methodische und institutionelle Voraussetzungen. Zurück bleibt das Gefühl der Unfähigkeit, die Komplexität des Geschehens als Lehrgangskoordinatorin zu bewältigen, ein subjektives Gefühl des Scheiterns. In dem Prozess, der mit dem Schreiben der Praxisreflexion begann, traf ich eine erste forschungsleitende Entscheidung. Sie bestand darin, das subjektive Gefühl des Scheiterns als praktisches und relevantes Phänomen ernst zu nehmen und zu beschreiben. Persönliche Mitteilungen unter Kollegen und Kolleginnen bestätigen die Relevanz dieser Thematik. Aber innerhalb der professionellen Community herrscht meinen Beobachtungen nach große Zurückhaltung in den diesbezüglichen Äußerungen. Die Betroffenen müssen im professionellen Kontext bei einer Veröffentlichung dieser Gefühle, zum Beispiel in Form von Interviews, erwarten, dass sich daraus Nachteile für ihre individuelle Position ergeben. Auch für die Legitimation des gesamten Feldes wäre es nicht förderlich. Deshalb suche ich nicht nach weiteren empirischen Belegen, sondern werde nun analysieren, ob sich die Problemstellung in Bezug auf interkulturelle Bildung abstrakt bzw. allgemein formulieren lässt. Die erste Frage lautet, ob dieses Gefühl des Scheiterns eine rein persönliche Erfahrung oder ein allgemeines Problem ist. Dazu werde ich mich mit dem Kulturbegriff, den normativen Inhalten dieses Bildungsansatzes und der Selbstreflexion als Erkenntnismethode beschäftigen. Ich werde auch die Probleme betrachten, die die interkulturelle Erfahrung und das Lernen als komplexe Phänomene aufwerfen. Dabei werde ich mich der Wissensbestände bedienen, die mir das theoretische Feld der interkulturellen Bildung zur Verfügung stellt. In dieser
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Problembeschreibung werde ich zeigen, wie mich verschiedene Aspekte der Aufgabenstellung interkultureller Bildung in paradoxe oder gedanklich unlösbare Situationen führen. Danach werde ich einen Ansatz ausarbeiten, der danach fragt, welches Potenzial für neue Erkenntnisse gerade in der Auseinandersetzung mit dem Scheitern liegt.
1.2 D as P roblem interkulturellen L ehrens 1.2.1 Was ist der Gegenstand interkulturellen Lehrens? Der Begriff Interkulturalität setzt eine Definition des Begriffs Kultur voraus. Jeder Vortrag oder Workshop zu diesem Thema muss daher auf den Begriff eingehen. Jede/r Lehrende muss sich für einen Umgang damit entscheiden. Da der Begriff Kultur auch umgangssprachlich verwendet wird, fühlt sich im Grunde jede/r in der Lage, sich zum Thema zu äußern. Daneben gibt es im Feld interkultureller Bildung eine Vielzahl von wissenschaftlichen Definitionen des Kulturbegriffs, die miteinander konkurrieren. Die meisten Definitionen gehen von einer Beschreibung anhand von einzelnen Faktoren und Merkmalen (z.B. Werte, Verhalten, Codes, Gewohnheiten, Zeichen) bzw. von einer Kombination dieser Faktoren aus. In der Literatur zur interkulturellen Kompetenz wird dazu als historisches Beispiel häufig die Definition des Ethnologen Edward B. Tylor angeführt. Nach Tylor ist Kultur »im weitesten ethnographischen Sinne jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat« (Tylor in Primitive Culture, 1871, zitiert nach Hansen 2011, 15). Eine der umfassendsten Sammlungen von Kulturbegriffen erstellten im Jahr 1952 die beiden Ethnologen Kroeber und Kluckhohn, die über mehr als hundert Kulturdefinitionen berichten (Kroeber/Kluckhohn 1952). Man kann sich leicht ausmalen, wie umfangreich eine Sammlung ausfallen müsste, die auch die Entwicklungen bis in die Postmoderne einbeziehen wollte. Der Literaturwissenschaftler Eagleton entwickelt aus seiner Beschäftigung mit der Frage »Was ist Kultur?« im gleichnamigen Essay die These, »daß wir im Augenblick zwischen einem entmutigend weiten und einem quälend engen Kulturbegriff gefangen sind und es unser vordringlichstes Ziel auf diesem Gebiet sein muß, über beide hi-
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nauszugelangen« (Eagleton 2009, 48). Tylors Begriff wäre zum Beispiel als weit zu bezeichnen (»alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten«), die verbreitete Gleichsetzung von Kultur mit Nation hingegen als eng. Umfassende Ansätze der Begriffsbestimmung gehen meist von der Begriffsgeschichte beginnend beim lateinischen Wort cultura aus, um dann zu einer strukturierten Darstellung verschiedener Ansätze überzugehen. Der deutsche Kulturwissenschaftler Hansen geht darüber hinaus. Er unterscheidet Kulturbegriffe unter Bezugnahme auf die ihnen zugrunde liegenden Prämissen anhand folgender Linien: erstens »die Gegenständlichkeit des Kulturbegriffs« und zweitens »sein Status im Verhältnis zur Natur« (Hansen 2011, 223). Mit Gegenständlichkeit ist Hansen zufolge ein dinglicher, überindividuell existierender Status von Kultur gemeint. Wenn Kultur zum Beispiel im Sinne des soziologischen Systembegriffs gedacht wird, spricht man ihr eine überindividuelle Eigendynamik zu. Jene Denktraditionen, die sich gegen die Gegenständlichkeit aussprechen, sehen in Kultur ein rein individuell-psychologisches Phänomen. Jede Konstruktion einer überindividuellen Gesetzmäßigkeit sei eine Illusion. Dinglicher und individuell-psychologischer Status sind zwei entgegengesetzte Pole. In der Frage des Verhältnisses zwischen Kultur und Natur unterscheidet Hansen zwischen einem möglichen Primär- und Sekundärstatus von Kultur (ebd., 237). Nimmt man einen Primärstatus an, dann sieht man Kultur als unabhängig und uneingeschränkt von Natur existierend. Sekundärstatus bedeutet, dass man eine Abhängigkeit der Kultur von nicht kulturellen Faktoren, zum Beispiel geografischen Gegebenheiten, annimmt. Unter der Annahme des Sekundärstatus kann Kultur nur einen durch die Natur vorgegebenen Rahmen füllen (ebd., 237). Hansen hebt damit die Frage der Definition von Kultur von der Ebene der Beschreibung von Faktoren, aus denen sich Kultur zusammensetzt (z.B. Wissen, Fähigkeiten), auf ein höheres Abstraktionsniveau. Er setzt auf der Ebene von Prämissen an. Unterschiedliche Prämissen führen auch zu Unterschieden in den Kulturdefinitionen. Diese Prämissen werden aber selten explizit thematisiert und sind selbst wieder kulturabhängig. Das Thema Kultur ist nur in einer kulturellen Form erfassbar. Kein menschliches Denken und Sprechen über Kultur kann losgelöst von der ›Kulturalität‹ der Denkenden sein und erzeugt damit eine Zirkularität der Verhältnisse. Kultur lässt sich nicht vom Menschen trennen. Sie ist eine spezifische Gabe, die ihn von anderen Lebewesen unterscheidet und wird
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gleichzeitig erst durch ihn hervorgebracht. Der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux bringt das folgendermaßen auf den Punkt: »Es ist einfach so, daß zwei Individuen sich voneinander nur unterscheiden können, weil beide Exemplare der flexiblen Spezies ›Mensch‹ sind, und daß Kulturen sich von anderen nur sinnvoll unterscheiden können, weil sie alle Exemplare der Kultur, d.h. Produkte der gattungsspezifischen Fähigkeit des Menschen, Kultur zu schaffen, sind. Das eigentümlichste Merkmal, das allen Menschen gemeinsam ist, ist ihre Fähigkeit, sich von ihren Mitmenschen stärker zu unterscheiden, als ein Löwe sich von anderen Löwen unterscheiden kann.« (Devereux 1998, 190, Herv. i.O.)
Jedes Sprechen und Denken über Kultur ist Teil von Kultur. Je mehr Unterscheidungs- und Abstraktionsschritte eine Definition von Kultur enthält, umso kultureller ist sie. Auch die interkulturelle Bildung ist Teil von Kultur. Konzepte interkultureller Bildung existieren nur in einem kulturellen Modus. Gleichzeitig vertreten Konzepte der Interkulturalität per Selbstdefinition den Anspruch, die eigene Kulturgebundenheit erkennen und relativieren zu können. Bolten spricht zum Beispiel von der »Rollendistanz« und vom »Polyzentrismus« als interkulturelle Kompetenzen (Bolten 2007, 86). Dazu ist es notwendig, dass sich Menschen, die Konzepte der Interkulturalität entwickeln, gedanklich und emotional aus der eigenen kulturellen Weltsicht hinausbewegen. Dann ist es möglich, diese relativ zu anderen Weltbildern wahrzunehmen. Das Gegenteil des Polyzentrismus ist der Ethnozentrismus. Dieser aus Sicht der Interkulturalität bedeutsame Begriff bezeichnet eine Haltung, bei der die eigene Kultur, die einem Menschen durch Sozialisation vertraut ist, zentral für seine Deutung der gesamten Welt ist. Es entsteht dabei ein Weltbild, das bewusst oder unbewusst absolute, universale Geltung für den eigenen Standpunkt beansprucht. Wimmer beschreibt verschiedene Spielarten des Zentrismus und ihre jeweiligen Strategien (Wimmer 2004): Ein Zentrismus kann expansiv vorgehen und versuchen, andere Ordnungen auszuschalten. Ein integrativer Zentrismus setzt auf die Anziehungskraft der eigenen Anschauungen, die schließlich die konkurrierenden Weltbilder in sich aufnehmen. Der separative Zentrismus vertritt die Vorstellung eines friedlichen Nebeneinanders von weltanschaulichen Gruppen bei gleichzeitigem Anspruch auf Homogenität im Inneren der eigenen Gruppe (ebd., 15-17). Die Einsicht, dass es sich dabei jeweils um einen Zentris-
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mus handelt, ist eher von einer Außenposition aus erreichbar. Jede solche Außensicht nimmt aber ebenfalls einen kulturellen Standpunkt ein. Anders gesagt: Es ist leichter den Zentrismus der anderen zu erkennen als den eigenen. Da jedes menschliche Weltbild einen Standpunkt auf der Welt voraussetzt, wäre ein Weltbild jenseits von jeglichem kulturellen Zentrismus nur von einem archimedischen Punkt her konstruierbar, der außerhalb der Welt liegt. Dass sich moderne Menschen gerade in den Naturwissenschaften so verhalten, als handelten sie tatsächlich von diesem Punkt aus (vgl. Arendt 2013, 21), mag diesen Anspruch auch in Bezug auf die Kultur fördern. Ein Denken und Handeln, das der selbst gesetzten Anforderung des Kulturrelativismus gerecht werden will, müsste eine Äquidistanz zu der Vielfalt aller Kulturen einnehmen. Es müsste demnach trotz seiner unvermeidbaren Orthaftigkeit auch ›ortlos‹ sein. Das Problem der (Un-)Möglichkeit, sich vom eigenen Standpunkt zu distanzieren, ist nicht nur definitorischer und philosophischer Natur. Es ist auch ein politisches und in weiterer Folge ein didaktisches Problem. Über viele Jahre hinweg war es für die Akteure und Akteurinnen interkultureller Bildung notwendig, Kultur als einen relevanten Faktor für alle Bereiche der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens zu betonen. Sie taten dies, um für die Notwendigkeit entsprechender Bildungsmaßnahmen zu argumentieren. Der Hinweis auf kulturelle Unterschiede sollte die Forderung nach einer Berücksichtigung von unterschiedlichen kulturellen Lebensformen im alltäglichen Handeln im Sinne einer fairen Behandlung unterstützen. Heute hingegen warnen kritische Stimmen vor einer Kulturalisierung von sozialen und politischen Problemen. Sie fordern, dass Ausbildungen im Kontext der Migrationsgesellschaft dieser gesamtgesellschaftlichen Tendenz zur Kulturalisierung entgegenarbeiten sollen (vgl. zum Beispiel Mecheril 2004; Sprung 2011). Diese Forderung beruht auf der Einsicht, dass jede Problemdefinition ein Ausdruck von Definitionsmacht ist und diese wiederum kulturell eingebettet ist. Sowohl didaktisch als auch politisch bleiben interkulturelle Bildungsangebote unter den genannten Bedingungen in dem Dilemma ›zu viel oder zu wenig‹ Kultur gefangen. Eine selbstkritische interkulturelle Bildung steht damit vor der paradoxen Aufgabe, zunächst ihre eigene Grundlage, nämlich die Fokussierung auf Kultur als Problem, hinterfragen zu müssen. Dabei hat sie gerade erst einen zähen und unabgeschlossenen Kampf für die gesellschaftliche Anerkennung dieser Problemstellung gefochten. Die Herausforderung besteht darin, interkulturelle Bildung anzubieten,
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während man zunächst Kultur und darauf auf bauend Interkulturalität in der bisherigen Art der Problemdefinition dekonstruieren muss. Interkulturelle Bildung ist also ein Konstrukt, bei dessen Anwendung die Akteure/Akteurinnen die eigene Kontextualität berücksichtigen müssen. Sie bringen dabei immer selbst ihren Standpunkt und damit die eigene Handlungsgrundlage mehr oder weniger in Gefahr. Dies führt bisweilen zu dem Versuch, die damit einhergehenden Probleme durch die Einführung immer höherer Abstraktionsniveaus theoretisch zu überwinden. So ist zum Beispiel der Begriff der Interkulturalität noch relativ leicht als Überschneidungssituation vorstellbar. Konzepte wie zum Beispiel »Hyperkulturalität« (Han 2005) oder »Kultur als historisch vermittelte Reziprozitätsdynamik« (Bolten 2009) sind zwar theoretisch interessant, lassen sich aber in interkulturellen Lernsettings kaum mehr veranschaulichen. Dies ist ein Weg, die theoretisch geforderte Ortlosigkeit durch Abstraktion zu verfolgen. Dieser Weg birgt allerdings die Gefahr, sich dabei immer weiter von der konkreten Welt und somit den Zielgruppen interkultureller Bildung zu distanzieren. Praktiker/-innen handeln immer ortsbezogen. Sie müssen die Abstraktionen an den in ihrem Handlungskontext vorherrschenden Problemen überprüfen und von einem Standpunkt aus agieren. Im Sinne der interkulturellen Bildung besteht ihre schwierige Aufgabe darin, an einem Ort die Fähigkeit zur Ortlosigkeit zu vermitteln. Die Problematik der Kulturgebundenheit von Begriffen begegnet uns nicht nur im Zusammenhang mit dem Kulturbegriff, sondern auch mit dem Begriff der Interkulturalität. Das Präfix inter (lat. zwischen) verweist auf ein Verhältnis zwischen mehreren Kulturen. Wir sprechen dann nicht mehr von Kultur in der Einzahl, sondern von Kulturen in der Mehrzahl. Die Verwendung des Begriffs Kultur im Plural geht Eagleton zufolge auf das achtzehnte Jahrhundert und den deutschen Philosophen Herder zurück (Eagleton 2009, 22). Herder legte mit seinem historisierenden Kulturbegriff, dem zufolge »jede Nation […] ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich [hat], wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« (Herder 1997, 35), auch den Grundstein für das kulturrelativistische Denken. Es besagt, dass das jeweilige Glück sowie die jeweilige Ordnung nur aus der Mitte der Kultur heraus verstanden und beurteilt werden kann (vgl. auch Reckwitz 2006, 72f.). Herders Kulturbegriff dient noch heute wegen seiner Geschlossenheit und nationalen Orientierung als Reibebaum für die neueren Ansätze der interkulturellen Kommunikationstheorie (zum Beispiel
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aus Sicht der Transkulturalität Welsch 1994). Die Vorstellung von Kulturen in der Mehrzahl ist also historisch gewachsenen. Das »Unbehagen« der neueren Ethnologie (Moosmüller 2007a, 46) gegenüber der interkulturellen Kommunikationsforschung besteht darin, dass diese weitgehend an Herders Kulturbegriff festhält. Sie hat die Weiterentwicklung des Begriffs in Richtung einer Öffnung für die Komplexität (vgl. zum Beispiel Hannerz 1992) und Mehrdimensionalität (vgl. zum Beispiel Sen 2006) von Kultur nicht ausreichend nachvollzogen. Der Begriff der Interkulturalität setzt also erstens einen gegenständlichen Kulturbegriff voraus und zweitens, dass es Differenzen gibt, die es ermöglichen, mehrere Kulturen voneinander zu unterscheiden. In der Beschäftigung mit interkultureller Literatur fällt rasch auf, dass sie sich oft und gerne mit allen Arten von Differenzierungen zwischen Kulturen beschäftigt. Auch hier war Edward T. Hall ein Vorreiter. Er beschrieb Kulturen anhand ihres unterschiedlichen Umgangs mit universellen, kulturübergreifenden Dimensionen, wie zum Beispiel Zeit und Raum (vgl. Hall 1959). Die Differenzen werden oft als Dichotomien konstruiert, zum Beispiel von »individualistischen« und »kollektivistischen« Kulturen (vgl. Hall/Reed Hall 1990; Hofstede 1997; Trompenaars 1993). Die sogenannten »Kulturdimensionen« (vgl. Hofstede 1997; Layes 2003) und »Kulturstandards« (Thomas et al. 2003) werden gerne als Gegensatzpaare dargestellt und können für Vergleiche verwendet werden. Kulturstandards werden aus der Beobachtung kritischer Interaktionssituationen in kulturellen Überschneidungssituationen abgeleitet. Eine solche Situation wäre zum Beispiel eine Verhandlung einer deutschen mit einer französischen Delegation. Die Kulturstandards beschreiben, welche Haltungen von Angehörigen der beteiligten Kulturen typischerweise im Verhältnis zueinander handlungswirksam werden. Während sich zum Beispiel in einer deutschfranzösischen Begegnung die Deutschen regelorientiert (sachbezogen) verhielten, seien die Franzosen autoritätsorientiert (personenbezogen) (Thomas 2011, 104ff.). Das Kulturstandardkonzept vergleicht jeweils zwei Kulturen und untersucht, welche Unterschiede relativ, also im jeweils untersuchten Verhältnis, relevant sind. Die Kulturdimensionen hingegen erstellen eine weltweite Landkarte von universell anwendbaren Indizes. Die US-amerikanische Kultur hat zum Beispiel nach Hofstede einen hohen »Individualismusindex« von 91 (sehr individualistisch), die japanische Kultur einen solchen von 49 (eher kollektivistisch) (Hofstede 1997, 69). Dabei werden Kulturen entweder als gegebene Einheiten, essenzialistisch,
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oder als verdinglichte Ergebnisse sozialer Prozesse (z.B. Nationalisierung) betrachtet. Nationale Kulturen werden über ihre Merkmale als homogene Einheiten beschrieben und dadurch von anderen unterschieden. Diese Darstellung scheint in Äquidistanz zu den jeweils polaren Ausprägungen zu stehen. Derartige Beschreibungen kultureller Differenzen bestechen dadurch, dass wir in ihnen scheinbare Evidenzen wiedererkennen. Hofstedes Dimensionen werden noch dazu in tabellarischer und grafischer Form übersichtlich dargestellt (vgl. ebd.). Sie bringen eine Welt, die uns fraglich geworden ist, wieder in eine geordnete, begreifbare Form. Das ist ihre große Stärke. Aber diese Form – der nationalkulturelle Vergleich anhand von allgemeinen Kategorien – spiegelt jedoch gerade eine spezifische kulturelle Denkform wieder. Deshalb werden sie von vielen Lehrenden nicht oder nur eingeschränkt verwendet. Die didaktische Aufbereitung komplexerer Kulturkonzepte stellt allerdings enorme Herausforderungen an die Lehre (siehe Praxisreflexion). Die Interkulturalität folgt also auf die Existenz von Kulturen. Mit den Worten eines französischen Doyens der interkulturellen Bildung, Jacques Demorgon, gesprochen ist das ein »interculturel post« (Demorgon 2004, 23). Differenzen zwischen Kulturen markieren eine Grenze, an der bestimmte überindividuelle Gesetzmäßigkeiten enden. Die Grenze ist konstitutiv für das Bestehen dieser Kulturen. Der Akt der Grenzziehung ist eine Trennung und gleichzeitig auch die Herstellung einer Berührungslinie. Dieser Akt bzw. die Fokussierung auf die Grenzziehung bewirkt, dass grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten und Berührungsebenen aus dem Blick geraten und die Differenzen und Grenzen sich in den Vordergrund drängen. Unklar ist, welche Arten von Differenzen dazu geeignet sein sollen, Kulturen voneinander abzugrenzen und wer über diese Eignung entscheiden und damit ein Innen und Außen der Kulturen definieren kann. Dahinter steht die bereits erwähnte Frage nach der Definitionsmacht. Diese Entscheidung müsste interkulturell zustande kommen. Das würde bedeuten, dass die Interkulturalität den Kulturen voraus geht. Das wäre ein »interculturel ante« oder »interculturel d’engendrement«, eine Interkulturalität der Erzeugung von Kulturen (ebd., 23). Da die Existenz von Grenzen zwischen Kulturen zwar postuliert, aber nicht objektiviert werden kann, ergeben sich Ungenauigkeiten in der Verwendung der Begriffe. Einerseits ist von Differenzen ›zwischen Kulturen‹ die Rede, andererseits von ›kulturellen Differenzen‹. Die Zuschreibung ›kulturell‹ als Eigenschaft zu bestimmten Differenzen kann
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zunächst nur bedeuten, dass sie sich von natürlichen Differenzen (z.B. Körpergröße) oder von sozialen Differenzen (Generation, Ausbildung etc.) unterscheiden. Kulturelle Differenzen werden durch Kultur erzeugt. Sie finden sich deshalb nicht nur an der Grenze zwischen Kulturen, sondern auch im Inneren einer Kultur und quer zu kulturellen Grenzen. Andererseits sollen sie die Grenze zwischen Kulturen markieren. Die Unterschiede zwischen Kulturen werden oft als interkulturelle Differenzen und jene innerhalb einer Kultur als intrakulturelle Differenzen bezeichnet, auch wenn es sich um die gleichen Differenzen handelt. Direktheit/Indirektheit der Kommunikation wird zum Beispiel als interkulturelle Differenz zwischen deutscher und österreichischer Nationalkultur genannt. Es heißt, Deutsche kommunizieren direkter als Österreicher/-innen. Die Existenz von unterscheidbarer, deutscher und österreichischer Nationalkultur wird dabei bereits als gegeben vorausgesetzt. Beobachtet man, dass eine österreichische Diplomatin einen indirekteren Kommunikationsstil pflegt als eine österreichische Unternehmerin, spricht man von intrakulturellen Differenzen innerhalb einer österreichischen Nationalkultur. Lassen sich zwischen Diplomatin und Unternehmerin noch weitere Differenzen festmachen, könnte man verschiedene Organisationskulturen annehmen (Diplomatie und Unternehmen), zwischen denen wiederum interkulturelle Differenzen bestehen. Die Beobachtung von unterschiedlichen Kommunikationsstilen sagt aber noch nichts darüber aus, ob diese auf ›kulturelle Ursachen‹, persönliche Vorlieben, Charakterzüge oder eine spezielle Situation zurückzuführen sind. Eine gewisse Summe an Differenzen soll offenbar den Übergang von intra- zu interkulturell markieren. Ebenso kann aber auch nur einem bestimmten Merkmal entscheidende Bedeutung zugewiesen werden. Die Fragen, was oder wer eine Person zum/zur kulturellen ›Österreicher/-in‹ bzw. ›Deutschen‹ macht und ob es diese Kulturen gibt, lassen sich trotz aller Differenzierungen nicht beantworten. Es gibt aber jedenfalls Unterschiede darin, wie Differenzen behandelt werden. Differenzen werden aus Sicht der interkulturellen Bildung zwischen Kulturen als Problem, intrakulturell aber zumindest meist nicht als Problem behandelt. Mit der Unterscheidung zwischen intra- und interkulturell sind auch verschiedene Zielvorgaben verbunden. Intrakulturell ist (ausreichende) Homogenität anzustreben. Interkulturell gilt Akzeptanz von Differenzen als anzustrebende Norm.
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Um die intra-/interkulturellen Abgrenzungsschwierigkeiten zu vermeiden, wird in jüngerer Zeit immer öfter der Diversity Ansatz (vgl. z.B. Krell et al. 2007) herangezogen. Er betont die Existenz von verschiedenen, einander überlagernden Differenzkategorien (z.B. Geschlecht, Alter, Berufsausbildung, Sprache etc.), die sowohl inter- wie intrakulturell existieren. Wenn Organisationen oder soziale Gruppierungen diese Diversity (Vielfalt) richtig nützen, sei sie eine Ressource, die dazu verhilft, flexibel und kreativ Probleme lösen zu können. Der Fokussierung auf ›kulturelle Differenzen‹ kann man vorwerfen, dass sie Differenzen als Keile in die Wahrnehmung treibt und sich dann selbst damit beschäftigt, die Folgen dieses Denkens durch neue Konzepte interkultureller Bildung wieder zu beseitigen. Interkulturalität ist ein Konstrukt, das auf vielen Prämissen auf baut, die selbst wiederum kulturell beeinflusst sind. Interkulturelle Bildung ist immer kulturell. Interkulturelle Bildung fordert dazu auf, diese eigenen kulturellen Annahmen, die zunächst meist einen blinden Fleck darstellen, aufzudecken und ihnen den Status allgemeiner Gültigkeit zu entziehen. Jede Aussage über Interkulturalität steht demnach auf einem unsicheren Grund. Wenn ich ein Studienprogramm auf den Begriffen Kultur und Interkulturalität auf baue, verhalte ich mich wie jemand, der ein Kartenhaus baut, aber immer bereit sein muss, ihm dann die untersten Karten zu entziehen, um wieder neu zu beginnen.
1.2.2 Was ist das Ziel interkulturellen Lehrens? Bisher wurde vorausgesetzt, dass Interkulturalität problematisch ist und interkulturelle Bildung zur Lösung von zwischenmenschlichen Problemen beitragen kann. Ebenso wurde die kreativitätsfördernde Wirkung von Interkulturalität bzw. Vielfalt behauptet. Wenn ich interkulturelle Bildung anbiete, trage ich also eine wertende Vorstellung in mir, wie Interkulturalität sein soll und will andere davon überzeugen. Das Problem der Normativität hat Demorgon durch die Unterscheidung eines interculturel factuel vom interculturel volontaire aufgegriffen (Demorgon 2004). Mit faktischer Interkulturalität bezeichnet er in einem neutralen Sinn eine Begegnung der Angehörigen unterschiedlicher Kulturen. Die tatsächliche Interkulturalität ( factuel) besteht, auch wenn ihr keine Beachtung geschenkt wird, bzw. sie nicht gewollt ist (ebd., 23). Dieses Phänomen wird auch als menschliche Pluralität bezeichnet. Kultur und Pluralität sind
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umfassend menschlich. Wenn sich aber Disziplinen vereinen, um die Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen zu verbessern und Pluralität als positiven Wert zu verbreiten, dann handelt es sich, so Demorgon, um eine gewollte Interkulturalität (volontaire) (ebd., 23). Die gewollte Interkulturalität stellt eine Vorstellung über die Gestaltung der Beziehung zwischen differenten Entitäten dar. Sie gibt eine Antwort, wie die Probleme, die sich stellen, sobald die Unterscheidbarkeit von Kulturen postuliert wird, zu lösen sind. Die gewollte Interkulturalität legt den Maßstab des Kulturrelativismus an die Gestaltung der Begegnungen zwischen Kulturen an. Das Paradigma des Kulturrelativismus wendet sich gegen die Bewertung von Kulturen nach ethnozentrischen Maßstäben und gegen Eingriffe in fremde Kulturen. Welche normativen Auswirkungen eine solche Orientierung haben kann, zeigt zum Beispiel das Statement on Human Rights der American Anthropologist Association aus dem Jahr 1947 (The Executive Board 1947). Für die Mitglieder dieser Vereinigung war es aus ihrer kulturrelativistischen Haltung heraus damals nicht vertretbar, sich dem Geltungsanspruch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die gesamte Menschheit anzuschließen. Sie forderten hingegen, eine solche Erklärung müsse ein Recht der Menschen enthalten, nach ihren je eigenen Traditionen zu leben. Auch wenn der Kulturrelativismus kulturspezifischen Normen ihre kulturübergreifenden Rechte abspricht, so ist er doch selbst Ausdruck eines kulturellen Weltbildes und etabliert paradoxerweise eine neue, kulturübergreifende Norm. Bei der Ausgestaltung dieser Norm werden verschiedene »Ideologien« (Demorgon 2004, 26) verfolgt, so Demorgon. »Im politischen Sinne dienen I. [Ideologien, Anm. SA] zur Begründung und Rechtfertigung politischen Handelns. I. sind daher immer eine Kombination von a) bestimmten Weltanschauungen […], die jeweils eine spezifische Art des Denkens und des Wertsetzens bedingen, und b) eine Kombination von bestimmten Interessen und Absichten, die i.d.R. eigenen (selten: uneigennützigen) Zielen dienen.« (Schubert/Klein 2011)
Lehrende vertreten unter dem Titel Interkulturalität ein inhaltliches Programm. Sie sind regelmäßig gefordert, dies zu begründen und zu rechtfertigen. Historisch gesehen setzt sich zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gesellschaften je eine andere Ideologie durch. Der Multikulturalismus proklamiert das Zusammenleben von unterschied-
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lichen Gruppen als Nebeneinander in einer Form der friedlichen Koexistenz. Die Differenz zwischen den Kulturen bleibt dabei aufrecht. Der Transkulturalismus beruft sich auf die Existenz von kulturellen Merkmalen, die sich quer durch alle Kulturen beobachten lassen. Daraus leitet sich die Möglichkeit der Vereinigung über die verbindenden Elemente ab. Der Ansatz des Interkulturalismus fordert die Nutzung eines Raums zwischen den Kulturen, in dem über die Möglichkeiten der Begegnung angesichts von Differenzen und Gemeinsamkeiten verhandelt werden kann. In der Praxis überwiegt die Konkurrenz zwischen diesen –ismen gegenüber einer komplementären Verwendungsweise (Demorgon 2004, 26). Welsch, als Vertreter des Transkulturalismus, bringt zum Beispiel das Anliegen explizit zum Ausdruck, mit dem er seinen Ansatz gegen die anderen Konzepte in Stellung bringt. »Ich suche einen Kulturbegriff, der deskriptiv der Verfassung unserer heutigen Kulturen angemessen ist und der darüber hinaus auch den normativen Erfordernissen der Gegenwart Rechnung zu tragen vermag.« (Welsch 1994, Herv. i.O.) Die Grenze zwischen deskriptivem und normativem Handeln ist im Falle des Interkulturalismus nicht eindeutig zu ziehen. Um es in Anlehnung an Terry Eagleton zu formulieren: Der Interkulturalismus (ebenso wie nach Eagleton der Kultur- und Naturbegriff) »schwebt […] zwischen dem Deskriptiven und dem Normativen« (Eagleton 2009, 146). Damit will ich nicht die Notwendigkeit bestreiten, über sinnvolle Normen für das Zusammenleben zu diskutieren, sondern darauf hinweisen, dass der Interkulturalismus kein normativ neutrales Konzept sein kann. Man kann deshalb einen Interkulturalismus im engen Sinn von einem Interkulturalismus im weiten Sinn unterscheiden, der alle diese ›Ideologien‹ und ihre Konflikte als gesamtes Feld umfasst. Das Adjektiv ›interkulturell‹ im Begriff ›interkulturelle Bildung‹ bedeutet daher nicht unbedingt, dass es sich um Bildung handelt, die faktisch zwischen den Kulturen angesiedelt ist, sondern dass diese Bildung im Rahmen des Interkulturalismus im weiten Sinn stattfindet. Interkulturelle Bildung baut demnach auf einer gewollten Interkulturalität und einer Entscheidung für eine normative Richtung im Umgang mit dieser Interkulturalität auf. Das Ziel ist die Vermittlung von interkultureller Kompetenz im Sinne der jeweiligen Ausrichtung. Im Feld der gewollten Interkulturalität finden sich demnach verschiedene ›ideologische‹ Strömungen, die wiederum von unterschiedlichen historischen und wissenschaftlichen Denkschulen beeinflusst sind, die innerhalb des Feldes rezipiert werden. Die Debatten innerhalb des Feldes spiegeln die
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Kontroversen zwischen allen diesen Schulen wieder. Für Lehrende ist die Begründung ihrer Positionen mitunter schwierig, da hinter vielen Auseinandersetzungen über den Kulturbegriff und die Ziele interkultureller Bildung Widersprüche in den normativen und politischen Orientierungen der Vertreter/-innen unterschiedlichster Diskurse stehen. Einflussreich sind zum Beispiel so unterschiedliche Denkrichtungen und Diskurse wie der Nationalismus, der Rationalismus, das Fortschrittsdenken, die Cultural Studies, die Postkolonialismustheorie, der Dekonstruktivismus oder die Gender Studies. Manche Vertreter/-innen der interkulturellen Pädagogik zum Beispiel sind insbesondere durch die Cultural Studies inspiriert. Sie kritisieren, dass interkulturelle Bildung als kulturelle Praxis weniger der Lösung interkultureller Probleme diene, als vor allem der Festschreibung gesellschaftlicher Über- und Unterordnung (vgl. u.a. Messerschmidt 1999; Scherr 1999; Mecheril 2004; Castro Varela 2007). Auch immer mehr Stimmen innerhalb der ›Interkulturalisten‹ reflektieren darüber, dass das Konzept interkultureller Bildung amerikanischen und westeuropäischen Ursprungs ist und damit selbstverständlich selbst ein kulturelles Produkt, das sich aber universalistisch gebärde (vgl. Kim 2002; Haas 2009; Bolten 2011) und dadurch normative Wirkungen erzielt. Straub geht sogar so weit, interkulturelle Kompetenz als »Effekt eines Kontroll- und Disziplinardispositives […], das Menschen vorgibt, was sie wollen und sein, tun und lassen sollen« zu bezeichnen (Straub 2011, 34). Gerade die als positiv akzeptierten Normen wie Toleranz und Anerkennung könnten als subtile Druckmittel eingesetzt werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Wirkungen der Praxis des Diskurses zur interkulturellen Kompetenz würde zeigen, so Straub, dass diese »keineswegs so harmlos und glücksverheißend ist, wie es den Anschein hat« (ebd., 31). Die scheinbare Neutralität interkultureller Bildung erleichtert ihre Verwendung zur Durchsetzung von unhinterfragten Normen. Der Interkulturalismus verlangt von Lehrenden, einen Werterelativismus zu vertreten, den sie selbst niemals erfüllen können.
1.2.3 Welches Wissen kann interkulturelle Bildung vermitteln? In den vorangehenden Kapiteln habe ich mich damit auseinandergesetzt, dass meine deskriptiven und normativen Aussagen zu Interkulturalität immer relativ zu meinem kulturellen Kontext zu verstehen sind. Kul-
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turzentristische Verzerrungen sollen durch kulturelle Selbstreflexion vermieden werden. Doch wie geht man dabei vor? Welches Wissen über Kultur kann ich aus der Selbstreflexion ableiten? Es ist dazu notwendig, sich von sich selbst zu distanzieren. Die Anthropologie sieht ihre Arbeitsgrundlage darin, dass Kultur zwar immer existent ist, aber nur von Außenstehenden oder Heraustretenden beschrieben werden kann. Ohne den ›fremden Blick‹ erscheint sie uns selbst als selbstverständlich gegebene, universelle Natur. Dem gegenüber steht die kulturrelativistische Auffassung, dass Kulturen nur aus sich heraus verständlich sind. Die Aufgabe der Wissenschaftler/-innen und auch der Lehrenden bei der Beschreibung einer Kultur besteht folglich darin, die Außensicht des Beobachters (etische Perspektive) und eine Innensicht der Beobachteten (emische Perspektive) miteinander in Bezug zu setzen. Dabei muss die Frage aufgeworfen werden, ob es überhaupt möglich ist, als Anthropologe/Anthropologin die Welt emisch, also wie es Geertz zuspitzt, aus »der Perspektive des Eingeborenen« (Geertz 1987, 289ff.) zu verstehen. Der anthropologische Blick sieht einerseits mehr und andererseits weniger als die von ihm Beforschten. Bei der Beschreibung des eigenen kulturellen Standpunkts lautet die Aufgabe aber nicht, eine fremde Kultur zu beschreiben, sondern die eigene so zu betrachten, als könne man sie auch von außen sehen. Die (etische) beobachtende Außenperspektive kann nur in Form der Selbstreflexion eingenommen werden. Auch E.T. Hall hat erkannt, dass Wissen über fremde Kulturen nur verzerrt aufgenommen wird, wenn es keine Reflexion der eigenen Kultur gibt. Er hat darauf die Lernmethode für interkulturelle Kommunikation aufgebaut (Moosmüller 2007a, 14). Die kulturrelativistische Norm fordert im Sinne der Vermeidung von Verzerrungen der Wahrnehmung diese professionelle Haltung und Fähigkeit ein. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist also eine zentrale Voraussetzung für für die Erforschung von Wissen über Kulturen und für interkulturelles Lernen. Aber die Selbstreflexion ist nicht voraussetzungslos. Auch hier begegnen uns Ante- und Post-Zugangsmöglichkeiten. Geht man von der unhinterfragbaren Existenz von Kulturen aus, dann gehen diese der Erfahrung des ›fremden Blicks‹ voraus (ante). Umgekehrt kann argumentiert werden, dass die Erfahrung, die als ›fremder Blick‹ bezeichnet wird, eine Vorstellung von Kultur(en) erst nach sich zieht (post). Man kann zum Beispiel fragen: Können Menschengruppen, die noch nie mit anderen Menschengruppen in Kontakt kamen, eine Vorstellung von der eigenen Exis-
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tenz als Kulturgruppe haben? Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Existenz von Kultur zum bewussten Erkennen von Kultur. Streng genommen ist die Aussage, dass Kultur existiert erst möglich, wenn die entsprechende Erkenntnismöglichkeit besteht. Die Frage des Erkennens wiederum stellt sich erst, wenn ein Zweifel entsteht und eine Frage aufwirft. Eine Erschütterung des Selbst-verständlichen führt zur Frage nach bewusster Erkenntnis. Bei Meyer-Drawe heißt es aus einer bildungswissenschaftlichen Sicht: »Die Welt muss ihre Verlässlichkeit einbüßen, um uns fraglich und damit für uns zum Gegenstand werden zu können. Bewusstsein von der Welt und Welt selbst bleiben einer vollendeten Synthese beraubt, weil es eines Bruchs mit der Vertrautheit der Welt bedarf, damit Bewusstsein von Welt überhaupt entstehen kann.« (Meyer-Drawe 2008, 97)
Der Kultur-Diskurs ist dann die Reflexion einer Erfahrung, durch die der fraglose »Glaube[n] an die Welt« (ebd., 117) Risse bekommen hat. »Erst wenn dieser [Glaube] verletzt wird, setzt Reflexion ein, und alles verliert seinen Sinn, um durch uns seine Bedeutung zurückzugewinnen.« (Ebd., 117). Die Methode der Selbstreflexion scheint sich als Erkenntnisweg anzubieten. Doch Re-flexion ist immer ein Blick in den Spiegel. Sie spiegelt immer bereits Erfahrenes, also Vergangenes und bereits Erkanntes wieder. Im Spiegel der Reflexion erkennt ein Mensch nichts Neues, sondern bereits Gedachtes. Im zeitlichen Sinn kommt das Denken daher immer zu spät, sodass eine unmittelbare Begegnung mit sich selbst durch das Denken nicht möglich ist (ebd., 51). »Für die Reflexion öffnet sich ein Abgrund zur Welt« (ebd., 117). Kulturelle Selbstreflexion findet am Rande dieses Abgrundes statt. Die Reflexion eröffnet die Möglichkeit, sich in Reflexionsspiralen auf immer neue Metaebenen zu begeben. Die Reflexion der Reflexion eröffnet eine Realität zweiter Ordnung, die sich verhält »wie die Landkarte zum Territorium« (Berghaus 2004, 269). Bei diesem Vorgang wird der Abgrund und Abstand vom sicheren Boden noch vergrößert und gleichzeitig das existenzielle Bedürfnis des Er-gründens der eigenen Lebensweise erhalten. Der Verlust der Vertrautheit mit der Umwelt und das Auf brechen innerer Widersprüchlichkeiten und nicht abschließbarer Fragen sind emotionale Erfahrungen. Diese sollen durch interkulturelle Bildung bewältigt werden. Durch gedankliche und emotionale Anstrengungen kann
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man versuchen, die entstandene Kluft zu überbrücken. Es handelt sich dabei um Abwehrstrategien, die sowohl den theoretischen als auch den lebensweltlichen Kultur-Diskurs beeinflussen. Die Konstruktion von kulturellen Differenzen und von Differenzen zwischen Kulturen stellt einen Ausdruck der verunsichernden Erfahrung der Differenz zwischen Welt und Bewusstsein von Welt dar. Aus dieser Sicht heraus wäre es erklärbar, warum der interkulturelle Diskurs die Aufmerksamkeit nicht auf das sich selbst und einander verschieden und ›fremd‹ Werden als offenes, komplexes Geschehen lenkt. Die Vorstellung von der Existenz getrennter, geschlossener Einheiten, genannt Kulturen, bietet eine gewisse Sicherheit. Die Verunsicherung über das eigene Selbst- und Weltbild löst, so Devereux, die Neigung aus, Differenzen einerseits zu leugnen und andererseits zu vergrößern (Devereux 1998, 195). Daraus entsteht eine Dynamik der Konstruktion von und der Beschäftigung mit Differenzen. Der Fokus auf Differenzen führt aber immer weiter von der ursprünglichen Erfahrung eines Bruchs mit der Vertrautheit der Welt weg. Die Versuche, die Existenz von Kultur(en), die Unterschiede zwischen ihnen und die menschliche kulturelle Existenzweise zu reflektieren und zu erkennen, führen nicht zu einer Verringerung oder Überwindung der Fremdheit, wie sie der Interkulturalismus fordert. Sie entfernen vielmehr von der Erkenntnis der Erfahrung des ›Fremdwerdens‹. Dabei könnte gerade die Befremdung als Gemeinsamkeit erkannt werden. Eagleton beschreibt diese Begegnungsmöglichkeit: »An diesem Punkt, wo das Andere in sich selbst verschoben, nicht völlig in seinen Kontext eingebunden ist, können wir ihm am tiefsten begegnen, da dieses Sich-selbst-Undurchsichtigsein auch für uns selbst gilt.« (Eagleton 2009, 136) Paradoxerweise führt die Auseinandersetzung mit Interkulturalität, die in der Begegnung mit dem »Undurchsichtigsein« anderer Kulturen ihren Anfang nimmt, dazu, dass ich mich immer mehr um mich selbst drehe – nur um mir immer wieder zu bestätigen, dass ich mich selbst nie ganz erkennen werde können. Als interkulturell Lehrende soll ich mein Wissen über Kulturen selbstreflexiv überprüfen und muss dabei feststellen, wie es mir immer zweifelhafter wird.
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1.3 D ie interkulturelle E rfahrung als P roblem 1.3.1 Wer macht eine interkulturelle Erfahrung? In den letzten beiden Kapiteln habe ich die Schwierigkeiten beschrieben, in der Arbeit mit dem Konzept der interkulturellen Bildung die eigene Tätigkeit auf eine tragfähige Wissensgrundlage zu stellen. Die Versuche einer Beschreibung der Begriffe Kultur und Interkulturalität, die Notwendigkeit der Begründung einer normativen Ausrichtung und der Versuch der Erkenntnis durch Selbstreflexion zeigten die Grenzen der Möglichkeiten meines Denkens, Sprechens und Lehrens auf. Ich habe festgestellt, dass ich von Kultur nicht unabhängig von meinem Standpunkt als Lehrende lehren kann. Dies bringt mich nun zu der Frage, wer überhaupt lernt, wenn es um Kultur geht. Dazu müssen wir uns genauer mit dem Ereignis beschäftigen, das die Lehr-Lernsituation auslöst, mit der ›interkulturellen Erfahrung‹. Inwiefern handelt es sich dabei um eine individuelle oder um eine kollektive Erfahrung? Ausgangspunkt für den Interkulturalismus ist eine Begegnung ›zwischen Kulturen‹ bzw. zwischen Menschen ›aus verschiedenen Kulturen‹. Es ist eine ›interkulturelle Erfahrung‹, in der die Beteiligten, in dem oben beschriebenen Sinn, sich selbst und einander ›fremd werden‹. Eine solche Begegnung ist ein Ereignis in der Zeit und im Raum. Es liegt zwischen der faktischen und der gewollten Interkulturalität. Der erste Schritt des Übergangs besteht darin, dass die Begegnung nicht nur faktisch stattfindet, sondern auch – zumindest von einer/einem der Beteiligten – bewusst wahrgenommen wird. In seiner Philosophie der Erkenntnis (Bollnow 1981) verweist Bollnow auf die etymologische Wurzel des Wortes wahrnehmen. Das Wahrnehmen stammt vom Wort wahren, im Sinn von aufmerken, beachten ab (z.B. das Wahren einer Gelegenheit) und ist mit dem Warnen und Warten verwandt (Bollnow 1981, 61). Im Unterschied zum gezielten Beobachten bezieht sich das Wahrnehmen auf eine Veränderung in der umgebenden Welt, die ich plötzlich bemerke. »Wahrnehmen ist immer ein Gewahr-werden, die erste Reaktion auf eine mich möglicherweise betreffende Veränderung in der Umwelt. Und sie bedingt auf meiner Seite eine entsprechende Antwort.« (Ebd., 63) Die Veränderung besteht in der Begegnung mit etwas Neuem. Etwas tritt in mein Blickfeld, das bisher darin nicht enthalten war. Wenn ich zum Beispiel mit dem Fahrrad fahre, kann es sein, dass mir ein Auto entgegenkommt. Es kann aber auch sein,
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dass ich vom Weg abkomme und auf einen Baum zurolle, den ich bis dahin nicht bemerkt hatte. Die Wahrnehmung ist die Voraussetzung für jedes weitere Verhalten. Die gewollte Interkulturalität ist eine mögliche Antwort auf die wahrgenommene Veränderung. Ich werde später noch auf den Unterschied zwischen Wahrnehmung, Erfahrung und Wissen zu sprechen kommen. Im Augenblick genügt aber für die Beschäftigung mit der interkulturellen Erfahrung ein alltagssprachliches, undifferenziertes Verständnis von Erfahrung als ein persönlich wahrgenommenes Ereignis, an das ein Handeln anschließt. Bei der interkulturellen Erfahrung bzw. bei einer Erfahrung im Sinn des Interkulturalismus handelt es sich also um das Bemerken einer Veränderung, die plötzlich für mein Verhalten relevant wird. Diese Veränderung bezieht sich auf Gesetzmäßigkeiten, die ein Mensch als überindividuell gültig kennt (dinglicher Kulturbegriff). Diese Gesetzmäßigkeiten sind aber auch Bestandteil eines subjektiven Weltbildes (subjektiver Kulturbegriff). Durch das Wahrnehmen einer Veränderung werden die Gesetzmäßigkeiten fraglich, sodass auch das subjektive Weltbild erschüttert wird. Ich komme zum Beispiel als Neue in einen Kreis von Kolleginnen und nehme wahr, dass in der gemeinsamen Diskussion Kritik viel direkter ausgesprochen wird, als ich es kenne. In einem interkulturellen Training würde nun typischerweise besprochen, wie ich auf diese Irritation reagieren könnte. Doch wer reagiert hier worauf? Auch hier begegnen wir wieder den Möglichkeiten, diese Erfahrung als ein post oder ante Phänomen mit der entsprechenden Kausalität zu konzipieren. Wird mein Weltbild erschüttert, weil die von mir angenommenen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr gelten? Oder werden die Gesetzmäßigkeiten fraglich, weil sich mein inneres Weltbild im Moment der Wahrnehmung des Neuen verändert hat? Mein Weltbild im Beispiel lautet: Kritik stört die Harmonie und den Gruppenzusammenhalt. In der neuen Erfahrung nehme ich wahr: Kritik stört bei den anderen die Harmonie, aber nicht den Gruppenzusammenhalt. Meine Vorstellung über den ›gesetzmäßigen‹ Zusammenhang zwischen Harmonie und Gruppenzusammenhalt wird durch die neue Erfahrung infrage gestellt. Ich kann nun versuchen, meine Vorstellung an ein neues, differenziertes ›Gesetz‹ anzupassen (z.B. Es gibt Gruppen, die Kritik indirekt kommunizieren, während andere dies direkt tun.). Vielleicht ändert sich aber auch meine Vorstellung davon, was ›Gesetzmäßigkeiten‹ sind und wie ihr Geltungsbereich ist (z.B. Gesetzmäßigkeiten über den Gruppenzusammenhalt sind nicht universell
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gültig). Anders gefragt: Existieren solche kollektiven Gesetzmäßigkeiten unabhängig von mir (dinglicher Kulturbegriff) oder werden sie von mir, gemeinsam mit anderen, geschaffen (subjektiver Kulturbegriff)? Können sie von mir nur erkannt und angenommen oder auch konstruiert und verändert werden? Es geht also um das ungeklärte Verhältnis zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene bei einer neuen Erfahrung. In der Literatur zum interkulturellen Lernen wird die Erfahrung der Veränderung bevorzugt auf der individuellen Ebene behandelt, von einigen Autoren unter dem Titel Kulturschock. Der Begriff wurde von Oberg eingeführt (vgl. Oberg 1960). Er beschreibt anhand eines Phasenmodells den Zeitraum des Kennenlernens einer anderen Kultur aus der Sicht eines Individuums und zeigt, wie sich dessen Reaktionen im Laufe der Zeit verändern. (Zur Kritik an den Studien, auf denen die Phasenmodelle beruhen vgl. z.B. Ward 2004, 188.) Der Begriff Schock verweist auf die Erschütterung und gleichzeitig auf die Wirkungen des Schocks. Medizinisch gesehen ist der Schock eine lebensbedrohliche Situation, in der nicht ausreichend Blut im Körper zirkuliert, wodurch eine Unterversorgung mit lebenswichtigem Sauerstoff entsteht. Im psychischen Bereich wird unter Schock eine akute Belastungsreaktion verstanden, die aufgrund einer extremen Belastung entsteht, für die die Betroffenen keine geeigneten Bewältigungsstrategien haben. Aus medizinischer Sicht kann eine Schocksituation eine psychische Anpassungsstörung auslösen (World Health Organisation [WHO] 2012, F43.2). Beim Kulturschock löst demnach die Begegnung mit Menschen einer fremden Kultur eine Belastung aus, für die keine Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. Der Prozess der Bewältigung wird als »Adjustment, Adaption oder Akkulturation« bezeichnet, wobei diese Begriffe überwiegend synonym verwendet werden (Kraemer 2011, 330). Kraemer hat einschlägige Forschung untersucht und verweist darauf, dass diese sich vor allem mit den Faktoren beschäftigt, die Adjustment beeinflussen. Die Komplexität der psychischen Dynamik und der Einfluss der Lebensumwelt der Betroffenen werden dabei zu wenig erfasst (ebd., 331). Ungeklärt ist, wann, wie und warum die Erschütterung von vertrauten Gesetzmäßigkeiten zu einem Stress führt, der das gesamte psychische System betrifft. Hier sind unterschiedlichste Stressgrade denkbar, von einer kaum spürbaren Irritation bis zu einem vollständigen Zusammenbruch. Nach den Adjustmentmodellen muss das individuelle Weltbild an die geänderten Gesetzmäßigkeiten angepasst werden. Sie legen das Augenmerk auf die Überwindung dieser Zustände
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durch ein Individuum. Wie aber verändern solche individuellen Erfahrungen die überindividuellen Gesetzmäßigkeiten? Und umgekehrt wie beeinflussen bestimmte überindividuelle Gesetzmäßigkeiten die Art und Weise der individuellen Erfahrung? Kraemer weist in einer Studie über deutsche und japanische Expatriates zum Beispiel darauf hin, dass es innerhalb von Expatriate Communities auch möglich ist, sich durch den Rückzug in die Community den Anpassungsanforderungen zu entziehen (vgl. ebd.). Es handelt sich dabei um keine rein individuelle Strategie, da diese Communities unter den Bedingungen der Interkulturalität im Ausland ein spezifisches Wirgefühl entwickeln. Unterschiedliche Gruppen entwickeln unterschiedliche Strategien. Kraemer beobachtete zum Beispiel, dass sich Deutsche und Japaner in ihren Strategien unterschieden (ebd., 332-338). Unabhängig davon, wie man zu der Verwendung des nationalen Kulturbegriffs steht, kann man daraus schließen, dass in der interkulturellen Erfahrung die Interdependenz zwischen der Eigenwahrnehmung als Individuum und überindividuellen Gesetzmäßigkeiten wahrnehmbar wird. Wenn für das Weltbild eines Menschen ein autonomes Selbst zentral ist, dann zeigt sich dem Individuum in der interkulturellen Erfahrung, dass die überindividuellen Gesetzmäßigkeiten in seinen individuellen Raum eindringen und diesen mitbestimmen. Was in diesem Moment fraglich wird, ist die Vorstellung der Autonomie des Individuums. Autonomie bedeutet, die Macht zu besitzen, innerhalb eines bestimmten Raumes allein über sich selbst zu bestimmen. Dies ist im Kontext europäischer Gesellschaften und im Lichte des Aufklärungsideals der Moderne ein graduelles Ziel und Merkmal des Erwachsenwerdens. Die Einschränkung der Allmachtsvorstellung kann einen erwachsenen Menschen emotional in eine frühe, kindliche Lebensphase zurückwerfen. Als Kind wurde der Prozess der Enkulturation, eines Hineinwachsens in die Kultur, ohne bewusste Intention durchlaufen. Nun wird ein bewusster Akkulturationsprozess verlangt, während gleichzeitig das Vertrauen auf die Autonomie und damit die Gestaltungsfähigkeit erschüttert ist. Die interkulturelle Erfahrung ist ein emotionales und kognitives Problem, das durch individuelle Voraussetzungen ebenso wie durch Umweltbedingungen beeinflusst wird. Die Problematik kann bei Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt sein und die persönlichen Voraussetzungen sowie die Umweltbedingen können förderlich oder auch hinderlich für eine Bewältigung sein. Alle diese Faktoren wirken auch in eine Lehr-Lernsituation hinein.
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Die Betrachtung der interkulturellen Erfahrung als Problem des Adjustments nimmt eine rein individuelle Perspektive ein und stellt in Bezug auf die Bewältigung auf rein individuelle Strategien ab. Das Beispiel der Expatriates hat aber bereits gezeigt, dass auch überindividuelles Handeln eine Rolle spielt. Überindividuelle Gesetzmäßigkeiten lassen sich als überindividuelle Phänomene per se beschreiben. Über die Existenz von Kultur oder von Sprache zum Beispiel kann abstrakt ohne Bezug auf konkrete Individuen gesprochen werden. Wenn wir aber annehmen, dass Veränderungen überindividuell wahrgenommen und beantwortet werden können, dann entsteht die Notwendigkeit, ein handelndes Subjekt zu bezeichnen. Wie kann man sich Kultur als überindividuell handelnd vorstellen? Hansen schlägt in seinem Standardwerk Kultur und Kulturwissenschaft deshalb die Trennung von Kultur und Kulturträgern vor. Kollektive sind nach Hansen solche überindividuellen Kulturträger. »Kultur schwebt nicht über den Wassern, sondern wird konkret an Gegenständen angetroffen, die man Kulturträger nennen könnte.« (Hansen 2009, 7) Hansen spricht von Gegenständen, meint damit aber nicht nur materielle Gegenstände wie Kleidung oder Speisen, sondern die dingliche Vorstellung von sozialen Gebilden, den Kollektiven. Aber menschliche Kollektive entstehen nicht instinktiv. Menschen bilden Kollektive nicht wie Tiere ein Rudel bilden. Menschliche »Kollektivität ist nicht biologisch vorgegeben, sondern muss lebensweltlich entstehen, sich entwickeln, verbreiten und verändern. Das geschieht durch einen eigendynamischen, doppelt verschränkten Prozess.« (Ebd., 31) Kollektive entstehen durch gemeinsame Standardisierungen, die wiederum durch Kommunikation zwischen den Mitgliedern des Kollektivs entstehen. Hansen unterscheidet Standardisierungen der Kommunikation, des Denkens, des Fühlens und des Handelns (ebd., 33f.). Erst im Zuge dieses Kommunikations- und Standardisierungsprozesses entsteht ein Kollektivbewusstsein. Österreichische und deutsche Entwicklungshelferinnen könnten zum Beispiel durch das Besprechen ihrer Strategien beim Einkaufen am beninischen Markt Standards einer Expatriate-Kultur und ein entsprechendes Kollektivbewusstsein herausbilden. Hansen fasst zusammen: »Das Phänomen Kultur setzt sich aus drei Faktoren zusammen, aus Standardisierung, Kommunikation und Kollektivität.« (Ebd., 32) Standardisierungen werden kollektiv durch Kommunikation hervorgebracht und Kollektivität im Sinne eines Kollektivbewusstseins wiederum entsteht durch gemeinsame Standardisierungen. Das
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ist die erwähnte doppelte Verschränkung des Prozesses. Solche Prozesse laufen meist selbstverständlich und unreflektiert ab. Immer wenn etwas Neues in die Wahrnehmung eintritt, zum Beispiel ein unerwartetes Verhalten einer beninischen Marktfrau, kann es individuelle oder kollektive Reaktionen darauf geben. Dabei tritt das Spannungsverhältnis zutage, das zwischen der Erhaltung und Stabilisierung des Kollektivbewusstseins und seiner Veränderung durch Kommunikation besteht. Da der verschränkte Prozess ein Kommunikationsprozess ist, sind auch Standards und Kollektivbewusstsein im Prozess und demnach nie abgeschlossen. Die Erfahrung von Interkulturalität beinhaltet die Wahrnehmung, dass sich individuelle und kollektive Erfahrung verschränken. Dementsprechend können als Antwort auf die interkulturelle Erfahrung individuelle und kollektive Strategien zur Erreichung der gewollten Interkulturalität vorliegen, die aber miteinander verschränkt sind. Darauf stützt sich die Vorstellung, dass auf diese Weise eine Interkultur hervorgebracht werden kann. Wie die doppelte Verschränkung zwischen Individuen und Kollektiv stattfindet, liegt aber im blinden Fleck der Beteiligten. Deshalb kann man als Individuum zwar davon sprechen, dass man eine interkulturelle Erfahrung gemacht hat, es ist aber unmöglich zu sagen, wie man gezielt – zum Beispiel durch interkulturelle Bildung – eine Interkultur herstellt.
1.3.2 Was passiert bei einer interkulturellen Erfahrung? Die Vorstellung, interkulturelle Erfahrung müsse durch interkulturelles Lernen – individuell oder kollektiv – bewältigt werden, greift die problematischen Aspekte der interkulturellen Erfahrung auf. Die bereits erwähnten Kulturschockmodelle beschreiben aber als erste Phase der interkulturellen Begegnung, die dem Schock vorangeht, den »Honeymoon« oder die »Euphorie« (Bolten 2007, 60). In dieser Phase haben Unterschiede keine problematische Bedeutung, ja sie werden sogar genossen, wie zum Beispiel exotische, bisher unbekannte Speisen bei einer Reise ins Ausland. Als Lehrende kann es hilfreich sein, wenn man auf positive interkulturelle Erfahrungen der Lernenden verweisen und eine Auflösung der Schwierigkeiten in Aussicht stellen kann. Andererseits will man die Lernenden auch dazu motivieren, unangenehme, weil befremdliche Situationen aushalten zu lernen. Wie stellt sich also das Verhältnis von Glück und Leiden bei einer interkulturellen Erfahrung dar?
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Honeymoon, die Flitterwochen, sind eine Zeit der Verliebtheit. Sie liegt in der Anfangszeit einer Beziehung, in der gerade das Neue und die Veränderung ein Glücksgefühl bewirken. Verliebte sagen typischerweise, dass sie sich ›wie ein neuer Mensch‹ fühlen, ›die Welt mit anderen Augen sehen‹ und aneinander alles ›neu entdecken‹. Das Neue erscheint einzigartig und bringt gleichzeitig eine Befreiung vom Alten mit sich. Die Verliebtheit ist das Gefühl, etwas ganz Einzigartiges zu erleben, das losgelöst von bisher bekannten Verbindungen existiert. In seinem berühmten Exkurs über den Fremden beschreibt Georg Simmel die Begegnung mit dem Fremden, dem Neuen, als ein Verhältnis von Ferne und Nähe. Das Fremdsein bedeute, dass »der Ferne nah ist« (Simmel 1908, 509). Gerade diese Nähe der/des Fernen mache die positive Spannung der Beziehung aus. »Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd – dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinne des Wortes –, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah.« (Ebd., 509)
Die möglichen Bewohner/-innen eines fernen Gestirns treten nicht in unsere Wahrnehmung ein. Das erste Wahrnehmen ist ein Eintreten in ein Verhältnis von fern und nah. Nach Simmel kann man an den Fremden, die (noch) fern sind, nur sehr allgemeine, abstrakte Qualitäten wahrnehmen, zum Beispiel, dass es sich um einen Menschen handelt. Die Qualität einer Beziehung auf einer solch allgemeinen Ebene habe »ein Element von Kühle« (ebd., 511) im Vergleich zu der »Wärme« (ebd., 511) einer Beziehung, die zu den Nahestehenden besteht. Mit diesen verbinden uns spezifische Gemeinsamkeiten aber auch Differenzen. In der »Objektivität«, die durch die Ferne gegeben ist, sei aber eine viel größere Freiheit möglich (ebd., 510). So spricht man ja gerne Außenstehenden mehr Sachlichkeit bei der Beurteilung von Situationen zu als den Beteiligten. Diese Freiheit kann meiner Beobachtung nach wiederum eine Offenheit ermöglichen, die eine besonders rasche Annäherung erlaubt. Die Liebe auf den ersten Blick ist vielleicht deshalb möglich, weil der erste Blick frei davon ist, wahrzunehmen, welche Unterschiede darauf warten, im künftigen Beziehungsalltag eines Paares Reibungswärme zu erzeugen. Auf der Ebene persönlicher Beziehungen ist es daher möglich, von einer großen Ferne zu einer außergewöhnlichen Nähe überzugehen. In
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der Phase der Verliebtheit wird das Neue als einzigartig erlebt (ebd., 511). Sie bezieht ihre Wärme gerade daraus, dass jede Verallgemeinerung und Vergleichbarkeit ausgeschlossen wird. »Erotische Beziehungen weisen in dem Stadium der ersten Leidenschaft jenen Generalisierungsgedanken sehr entschieden ab: eine Liebe wie diese habe es überhaupt noch nicht gegeben, weder mit der geliebten Person noch mit unsrer Empfindung für sie sei irgendetwas zu vergleichen.« (Ebd., 511)
Jede Wahrnehmung allgemeinerer Gemeinsamkeiten, so Simmel weiter, kühlt die Beziehung ab. Eine schmerzhafte Entfremdung setzt ein (ebd., 511). Im Honeymoon verbinden sich im Fremden das Glück der Freiheit und das der Einzigartigkeit. Die Spannung zwischen fern und nah zeigt sich in ihrer glückbringenden Qualität. Nun ist aber der Fremde mit Simmel nicht der, »der heute kommt und morgen geht, sondern […] der, der heute kommt und morgen bleibt« (ebd., 509). Der Fremde, der bleibt, fordert eine Antwort auf seine Anwesenheit. In einem Prozess der gegenseitigen Wahrnehmung treten nun immer mehr neue, konkrete Gemeinsamkeiten und Differenzen auf. Das erste Leiden besteht im Verlust der Einzigartigkeit und im Abkühlen der leidenschaftlichen Verbindung zum Neuen. Das Hinzufügen vom Neuen zum Vertrauten, seine Annäherung, kann reibungslos möglich sein. Das Neue kann aber auch eine Distanzierung vom bisher Nahen fordern. Simmel beschreibt, dass Menschen durch die Begegnung mit dem Fremden wahrnehmen, dass das Gemeinsame der gewachsenen, organischen, verwandtschaftlichen, nahen Verbindungen nicht nur ihr spezifisches Gemeinsames ist, sondern zu einem allgemeineren Begriff des Gemeinsamen gehört. »Vielleicht ist das in manchen Fällen die generellere, mindestens die unüberwindlichere Fremdheit, […] als die durch Differenzen und Unbegreiflichkeiten gegebene: dass zwar eine Gleichheit, Harmonie, Nähe besteht, aber mit dem Gefühle, dass diese eigentlich kein Alleinbesitz eben dieses Verhältnisses ist, sondern ein Allgemeineres, das potenziell zwischen uns und unbestimmt vielen Andern gilt und deshalb jenem allein realisierten Verhältnis keine innere und ausschließende Notwendigkeit zukommen lässt.« (Ebd., 512f.)
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Man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass eine Familie einen Austauschschüler aus dem Ausland bei sich aufnimmt. Das Verhältnis zwischen den Gasteltern und dem Gastkind wird manche Ähnlichkeit zum Verhältnis zwischen den Eltern und den eigenen Kindern aufweisen. Durch die Vergleichbarkeit verliert das Eltern-Kind-Verhältnis etwas von seiner Einzigartigkeit. Die Befremdung, die dadurch in die Familienverhältnisse kommt, ist gerade nicht auf die Andersartigkeit des Gastes zurückzuführen. Eine Entfernung von den vertrauten Verhältnissen ist auch ein sich selbst ›Fremdwerden‹. Der Verlust des Glaubens, dass ein bestimmtes Naheverhältnis einzigartig ist, ist leidvoll. Die Lösung von traditionellen Verbindungen ist nicht ohne dieses Leiden möglich. Jede Veränderung auf individueller wie auf kollektiver Ebene durchläuft diesen Prozess. Die Veränderung kann sich nur im Nachhinein als Glück oder als Unglück erweisen. Weder das Ergebnis noch die Bewertung des Ergebnisses als glücklich oder unglücklich sind planbar. Die gewollte Interkulturalität setzt dieser Ergebnisoffenheit ein Glücksversprechen entgegen. Durch den Erwerb interkultureller Kompetenzen seien das Leiden an der Differenz und Fremdheit und das Unglück vermeidbar bzw. überwindbar. Interkulturelle Kompetenzen proklamieren Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung als Schlüssel zu einer geglückten Interkulturalität. Dabei wollen sie Veränderung auf ein bestimmtes Ziel hin ausrichten. Die Entstehung des Neuen ist aber nicht immer leicht und lässt sich nicht auf das Glücken des Prozesses verpflichten. Auch die Formel »Fremde sind wir uns selbst« (Kristeva 1990), das postmoderne »Wir sind alle Fremde« (vgl. Bauman 2005) oder die Zuspitzung auf die »radikale Fremdheit« als Zustand des Selbst »außer sich selbst« (Waldenfels 2006, 116) überspringen den Prozess des sich ›Fremdwerdens‹. Die Fremdheit und Entfernung von sich selbst muss keineswegs als Dauerzustand, als Bewegung in Richtung der vollkommenen Fremdheit verstanden werden. Nicht jede Begegnung mit dem Fremden führt zum Leiden und Menschen sind auch nicht zum dauernden Leiden an dieser Fremdheit verdammt. Menschliche Beziehungen stellen sich vielmehr dauernd als ein Verhältnis von Ferne und Nähe, Fremdheit und Vertrautheit, Ausgrenzung und Vereinnahmung dar. Es ist deshalb auch nicht möglich, die Fremdheit zu lokalisieren und zu integrieren, indem man sie vom Außen ins Innen verlagert. Auch kann ihr der Schrecken nicht durch den Hinweis genommen werden, dass die Fremdheit mit anderen geteilt wird. Das Versprechen ist trügerisch, durch die Akzeptanz der Fremdheit – sei es durch Integration,
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sei es durch ihre Auflösung in eine (neue) Gemeinsamkeit – vom Leiden am Leiden erlöst zu werden. Das ›Fremdwerden‹ widerfährt einem Menschen und er/sie durchschreitet dabei Leid und Glück. Vielleicht liegt die größte Beschämung, die sich angesichts des Fremden zeigt, darin, dass keine Gemeinsamkeit und keine Differenzierung, keine Relativierung und keine Normierung die Erfahrung ändern kann, dass Glück und Leid unter den Menschen nicht gleich verteilt sind. Die Begegnung mit dem Neuen, Fremden muss nicht an sich schmerzlich sein. Es kann aber ein Problem darin bestehen, wenn die interkulturelle Erfahrung Neid auf das Glück des Fremden oder Angst vor dem Neid des Fremden auf das eigene Glück auslöst. Die Psychoanalyse hat erkannt, dass förderliche zwischenmenschliche Beziehungen nicht möglich sind, solange der Neid das Verhältnis zwischen diesen Menschen bestimmt (vgl. Bion 1992b, 56f., Krejci 1992b, 32). Im Sprechen über Kultur und Interkulturalität scheint das Problem des Neids nicht explizit auf. Es wird durch die Forderung nach Relativismus oder nach postmoderner Vielfalt verschleiert und vielleicht sogar noch weiter angestachelt. Das ›Fremdwerden‹ ist ein ambivalenter Prozess im Spannungsfeld von Glück und Leiden. Es gibt weder eine objektive Beschreibung einer geglückten Interkultur noch eine gesicherte Beschreibung des Wegs dorthin. Das Glücksversprechen des Interkulturalismus erzeugt bei allen Beteiligten den Anspruch des Gelingens. Die Kehrseite des Versprechens sind Selbstzweifel und unter Umständen auch Neid.
1.4 D as P roblem des L ernens im K onte x t von I nterkultur alität Zunächst haben wir uns mit dem Feld des Interkulturalismus und den dort relevanten Begriffen Kultur, Interkulturalität und Fremdheit beschäftigt. In den nächsten Kapiteln geht es darum, diese Begriffe mit dem Begriff des Lernens zu verbinden. Das Lernen als Phänomen wirft ebenso viele Fragen auf wie die Kultur. Wer also beide Begriffe zusammen betrachten will, muss sich auf weitere Unsicherheiten einstellen. Auch das theoretisch relevante Wissensfeld erweitert sich noch einmal und die Dynamik zwischen verschiedenen Sichtweisen steigt. Ich nehme hier wieder die Perspektive der Praktikerin der interkulturellen Bildung ein, die sich einerseits einen Überblick über dieses Feld verschaffen muss, andererseits handlungsorientiert eine Auswahl zu treffen hat, welche Ansätze
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sie berücksichtigt. Das Prinzip, das dabei zur Anwendung kommt, ist jenes eines »Überblicks mit punktuellen Tiefenbohrungen« (Lehner 2011). Kriterium für die Auswahl muss die Relevanz für die Herausarbeitung typischer Problemlagen und Spannungsfelder sein, in denen sich Lehrende der interkulturellen Bildung befinden. Ich werde meine Darstellung an folgenden Problemen orientieren: der Anspruch der Ganzheitlichkeit, der Anspruch einer Befreiung durch das Lernen und der Anspruch der Freiwilligkeit des Lernens.
1.4.1 Wie geht interkulturelles Lernen vor sich? Gerade die Frage des Leidens, die im letzten Kapitel behandelt wurde, verweist auf einen relevanten Aspekt des interkulturellen Lernens: Das Leiden ist kein rein kognitives Phänomen, sondern wirft die Frage nach dem Verhältnis von Wissen, Emotion und Körperlichkeit auf. Sowohl Kultur als auch Lernen sind ganzheitliche Phänomene. Die Körperlichkeit ist die Grundvoraussetzung des menschlichen Denkens und Fühlens. Es ist weitgehend unstrittig, dass der menschliche Körper Teil der Natur und als solcher, deren Gesetzen von Vergänglichkeit und Begrenztheit unterworfen ist. Darüber hinaus können wir sehr unterschiedlichen Sichtweisen über das Verhältnis von Wissen, Emotion und Körperlichkeit begegnen. Im Alltagsverständnis ist der Körper die Bedingung der Möglichkeit als kulturelles Wesen in der Welt zu sein, zu denken, zu fühlen und zu lernen. Viele unserer gedanklichen Vorstellungen sind Abstraktionen aus unserem Körperbewusstsein heraus. Die Bedeutung zum Beispiel, die wir der Nähe und Ferne geben, leiten wir aus der Erfahrung von Räumlichkeit ab, die körperliche Wesen machen (vgl. Bollnow 1956). Auch der Begriff Leiden leitet seine Bedeutung von einer primär körperlichen Erfahrung des Schmerzes ab. Das Wissen über überindividuelle Standards wird nicht nur kognitiv gespeichert, sondern steht auch als konkretes körperliches Wissen zur Verfügung. Das Wissen über einen überindividuell akzeptierten Körperabstand bei einer Begegnung zwischen Unbekannten zum Beispiel muss nicht bewusst abgerufen werden, bevor man die ›richtige‹ Position einnimmt. Es ist unbewusst und körperlich gespeichert. Lernen im Zuge der Enkulturation findet ›ganzheitlich‹ in einer Verschränkung von körperlicher, emotionaler und geistiger Entwicklung statt. Die Ganzheitlichkeit der interkulturellen Erfahrung wurde auch in den vorangegangenen Kapiteln schon implizit angesprochen: Die sinnliche Wahrneh-
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mung, die der körperlichen Sphäre zuzurechnen ist, gilt als Grundlage für das intentionale Handeln. Glück und Leiden schließlich sind Phänomene, die nicht nur emotional, sondern auch körperlich wahrgenommen werden und sich körperlich auswirken, zum Beispiel im Herzschlag oder der Atmung. Die Frage, wie interkulturelles Lernen stattfindet, kann sich demnach nicht auf die rein kognitive Ebene beschränken. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zu den Überlegungen zur Gegenständlichkeit von Kultur. Die Bemühungen um abstrakte Aussagen über Kultur als Wissensgegenstand hängen damit zusammen, dass kognitives Wissen scheinbar problemlos weitergegeben und kognitiv aufgenommen werden kann. Es geht für die Wissenschaft darum, Kultur als Gegenstand aus dem undifferenzierten, ganzheitlichen kulturellen Erfahrungswissen herauszulösen, um sie vermittelbar zu machen. Geertz unterscheidet unter Berufung auf den Psychoanalytiker Heinz Kohut zwischen »erfahrungsnahen« und »erfahrungsfernen« Begriffen (Geertz 1987). »Erfahrungsnahe Begriffe sind […] solche, die ein Mensch […] mühelos verwenden kann, um zu bestimmen, was er oder seine Mitmenschen sehen, denken, sich vorstellen und so weiter, und die er mühelos verstehen kann, wenn sie in derselben Weise von anderen angewandt werden. Erfahrungsferne Begriffe sind diejenigen, welche alle möglichen Spezialisten […] benutzen, um ihre wissenschaftlichen, philosophischen oder praktischen Ziele zu verfolgen. ›Liebe‹ ist ein erfahrungsnaher Begriff, ›Objektbindung‹ ist ein erfahrungsferner.« (Ebd., 291)
Dabei handelt es sich, wie Geertz betont, nicht um entgegengesetzte Pole, sondern eher um graduelle Abstufungen (ebd., 291). Eine gewisse Distanzierung von der unmittelbaren Erfahrung ist eine Voraussetzung für eine intentionale Weitergabe von kulturellem Wissen. Die kulturelle Weitergabe von Wissensinhalten über Generationen hinweg erfolgt zum allergrößten Teil nicht gezielt und bewusst. Kulturelles Wissen wird ›natürlich‹ im Weg der Enkulturation, im Sozialisationsprozess, erworben. Man kann die Enkulturation, als natürlichen kulturellen Lernprozess bezeichnen, sie ist sozusagen ein ›kultürlicher‹ Weg. Wir erwerben auf intentionalem Weg auch ein anderes Wissen als auf ›kultürlichem‹, nämlich jenes, das von Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen wahrgenommen, konstruiert und von Pädagogen/Pädagoginnen übersetzt wurde. E.T. Hall hatte das Problem des Lernens über Kultur oder des intentionalen Erlernens von Kultur erkannt. Der Grundimpuls der interkulturellen Kommunikation
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bestand, wie bereits erwähnt, darin, ethnografisches Wissen in eine Form zu bringen, die auch an ethnologische Laien weitergegeben werden kann. Hall wollte, dass »Kultur individuell erfahrbar wird« (Moosmüller 2007a, 50). Es geht dabei um eine Abfolge von mehreren Schritten. Die Wissenschaft erzeugt im Wege der Abstraktion theoretisches Wissen über Kultur (Ethnografien). Dieses wird in ein didaktisch vermittelbares Wissen (z.B. Kulturstandards) übersetzt und soll schließlich in Verhalten (interkulturelle Kompetenzen) umgesetzt werden. Der gleiche Prozess im Anschluss an Geertz formuliert: Die Erfahrung des kulturellen Lebens wird durch Spezialisten (Ethnologen/Ethnologinnen) in erfahrungsfernen Begriffen beschrieben. Andere Spezialisten (Interkulturalisten/Interkulturalistinnen) übersetzen die Begriffe wieder erfahrungsnäher, um dadurch für die Zielgruppen ihr kulturelles Erleben bewusst erfahrbar zu machen. In der praxisorientierten, interkulturellen Kommunikationsforschung werden jene Begriffe öfter herangezogen, deren ›Übersetzung‹ leichter fällt. Damit handelt sie sich den Vorwurf ein, simplifizierend und theoretisch anspruchslos zu sein. Umgekehrt klagen interkulturelle Trainer/-innen über die sprachliche Abgehobenheit manch kulturtheoretischer Ansätze. Die klassischen Kataloge interkultureller Kompetenzen unterscheiden zwischen kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Kompetenzen. Als affektive Kompetenzen werden Begriffe wie Offenheit, Toleranz und Empathiefähigkeit genannt. Diese Kompetenzen lassen sich dann beschreiben. Daran schließen sich aber weitere Fragen an: Wie können Kompetenzen erlernt werden? Was passiert bei der Umsetzung von kognitivem Wissen in Verhalten? Welches nicht kognitiv zugängliche Wissen ist vorhanden und wie beeinflusst es diesen Prozess? Diese Fragen werden von der interkulturellen Kommunikationsforschung übersprungen. In einer umfassenden Analyse zu Interkulturelle Kompetenz – Zustand und Zukunft eines umstrittenen Konzepts zeigt Rathje (Rathje 2006), dass sich die aktuellen Debatten hingegen vor allem um folgende Themen drehen: »Ziele interkultureller Kompetenz: Was bewirkt interkulturelle Kompetenz, wofür ist sie gut? Generik/Spezifik interkultureller Kompetenz: Ist interkulturelle Kompetenz eher eine kulturspezifische Kompetenz oder eine universelle Schlüsselkompetenz? Anwendungsgebiet interkultureller Kompetenz: In welchen Situationen wird interkulturelle Kompetenz relevant/gebraucht? Kulturbegriff: Welches Verständnis von Kultur liegt dem Konzept interkultureller Kompetenz zugrunde?« (Ebd., 2)
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Die Frage des Was des interkulturellen Lernens wird also umfassend diskutiert. Das Wie und damit das Verhältnis zwischen kognitivem, emotionalem und körperlichem Lernen, sowie zwischen explizitem und implizitem Wissen scheint nicht auf der Agenda der wichtigsten deutschsprachigen Debatten zu stehen. Das kann bedeuten, dass sie sich mit der Hoffnung auf die didaktische Wirkung der Erfahrungsnähe ihrer Begriffe begnügen. Dies könnte erklären, warum die Begriffe der interkulturellen Kommunikationstheorie einerseits relativ unmittelbar einleuchtend sind und sich dennoch so schwer tatsächliche Veränderungen umsetzen lassen. Es fällt mir zum Beispiel leicht, einen direkten oder indirekten Kommunikationsstil zu erkennen. Weniger leicht kann ich lernen, die körperliche Anspannung zu steuern, die sich einstellt, wenn ich direkt auf ein Problem angesprochen werde. Es gibt zwar unzählige Methoden und ›Tools‹ aber kaum Ansätze, die das Wie ganzheitlich und systematisch beschreiben. Einen solchen Versuch unternimmt Milton Bennett in seinem Developmental Model of Intercultural Sensitivity (Bennett 1993), indem er ein Lern- und Entwicklungsmodell (Perry 1999) mit einem Kulturkonzept verknüpft. In Bennetts Modell wird interkulturelles Lernen aus einer konstruktivistischen und phänomenologischen Perspektive als kognitiver Prozess konstruiert. Obwohl Bennett interkulturelles Lernen als Veränderung des gesamten Weltbildes deutet und auf die Bedeutung von Haltungen und Gefühlen verweist, geht er zunächst doch von einem Primat des kognitiven Denkens (»Mindset«) aus. Er erklärt die Rolle der Emotionen und des körperlichen Wissens nicht explizit. Ein solches »Mindset« ist zum Beispiel »Defense«, eine Abwehrhaltung gegenüber kulturellen Differenzen. Typischerweise denkt man bei dieser Haltung in den Kategorien ›Wir‹ und die ›Anderen‹. In Bennetts Modell folgt auf diese Haltung eine Weiterentwicklung zu einem »Mindset« der »Minimization«. Menschen mit diesem Weltbild messen kulturellen Differenzen weniger Bedeutung bei als allgemein menschlichen Eigenschaften. »Wir sind doch alle Menschen.«, wäre ein entsprechender Standpunkt. Nach dieser Phase kann sich die Haltung der »Acceptance« entwickeln, in der kulturelle Differenzen als notwendig und wertvoll akzeptiert werden. Bennett’s Modell ist interessant, weil es einen Lernprozess beschreibt, es kann aber nicht erklären, wie sich der Wechsel von einer Phase in die nächste vollzieht (vgl. Bennett 1993; Bennett J./Bennett M. J. 2004).
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In einer späteren Publikation erkennen Bennett und Castiglioni (Bennett/Castiglioni 2004) den Bedarf nach Weiterentwicklung des Konzepts. Sie verweisen darauf, dass die Interkulturalitätsforschung bisher die körperliche Verankerung von Kultur vernachlässigt hat. Wir verfügen, so Bennett und Castiglioni unter Verweis auf neurowissenschaftliche Forschung, über ein inkorporiertes »feeling of culture«, das ohne weitere bewusste, kognitive Reflexion Auskunft darüber gibt, was sich innerhalb der bekannten Umwelt »richtig« oder »normal« anfühlt. Trainings für interkulturelle Kompetenz müssen, so dieser Ansatz, die Bewusstmachung der Verankerung eigener kultureller Erfahrungen im Körper mit einbeziehen. Ziel sei die Entwicklung von Empathie, also der Fähigkeit, auch bisher unbekannte kulturelle Wahrnehmungen »nachzufühlen« und sich dadurch mit ihnen bekannt zu machen. Bewusste Veränderungen körperlicher Muster könnten auch zur Entwicklung neuer Bewältigungsstrategien beitragen. Die Änderung des Atemrhythmus verändere zum Beispiel die Empfindung einer Situation und eröffne dadurch neue Verhaltensspielräume in der interkulturellen Kommunikation (ebd.). Bennett sieht also die Möglichkeit, einen interkulturellen Lernprozess vom Körper her zu steuern. Das Verhältnis zwischen dem körperlich verankerten »feeling of culture« und dem kognitiven Wissen wird im genannten Artikel nicht weiter ausgearbeitet. Eine Bezugnahme auf die Rolle der körperlichen Verankerung von kulturellem Wissen findet abgesehen von Ausnahmen in der interkulturellen Bildung kaum statt. Im Gegenteil: Eines der einflussreichsten und auch im deutschsprachigen Raum meist rezipierten Modelle der interkulturellen Kommunikationsforschung sind die bereits erwähnten Kulturstandards von Geert Hofstede (Hofstede 1997). Sie beziehen sich explizit auf die kognitive Steuerbarkeit von Kultur und Lernen. Kultur sei in Form von Denk-, Fühl- und Handlungsmustern im Kopf eines Menschen verfestigt. Diese Muster nennt Hofstede unter »Verwendung einer Analogie zur Art und Weise, wie Computer programmiert sind […] mentale Programme« (ebd., 2). Daraus folgt für mich, dass aus dieser Sicht interkulturelles Lernen eine Art der Umprogrammierung dieser Software darstellt. Der Körper als Hardware wäre nicht mehr als ein Behälter für Kultur als Programm. Das Umprogrammieren kann etwas Zeit und Mühe kosten, vielleicht muss man auch ein neues Kabel legen, aber der Körper ist die Hardware, die ausführende Maschine, und nicht mit Empfindsamkeit ausgestattet.
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Dies ist ein Beispiel dafür, wie die Erfahrung der Technik das Denken beeinflusst. Technische Begriffe suggerieren, dass es möglich ist, selbst komplexe, ganzheitliche Phänomene erfolgreich zu steuern. Der Einfluss des technischen Denkens auf Lernkonzepte wird auch in der Pädagogik thematisiert. In einem umfassenden historischen Blick auf Diskurse des Lernens (Meyer-Drawe 2008) weist Meyer-Drawe nach, dass die Maschine als erfahrungsnahes Denkmodell für den Menschen auch auf die Vorstellungen vom Lernen zurückwirkt (ebd., 60ff.; vgl. für die interkulturelle Psychologie Straub 2011, 22). In aktuellen Diskursen spielt dabei die Hirnforschung eine große Rolle. Die moderne Hirnforschung beschäftigt sich mit dem Gehirn als Hardware. Sie kann Prozesse im Gehirn in Computerbildern darstellen. Die Erkenntnisse der Hirnforschung stellen Lernen als Ergebnis von hirnphysiologischen Vorgängen dar, in denen Wissen aufgebaut wird. Die körperlichen Gehirnfunktionen sind das Zentrum des Lerngeschehens. Der Computer dient als Modell für das Denken und Lernen und das Gehirn stellen wir uns als »neuronale Maschine« vor (Meyer-Drawe 2008, 71). Dabei findet eine Reduktion der Verhältnisse auf eine mechanisch-körperliche Ebene statt. Der Körper soll wie eine Maschine Funktionalität und Effizienz bieten. Emotionen und Ganzheitlichkeit beim Lernen werden in diesen Diskursen zwar gefordert, aber nur, um sie in den Dienst der Effizienz zu stellen (ebd., 75). In lebensweltliche Vorstellungen übertragen, bedeutet das, so die Kritik von Meyer-Drawe, in der Konsequenz, dass Lernen eine Art von »brain jogging« ist, bei dem ein Trainer/eine Trainerin dabei unterstützt, »fit« (ebd., 72) für die die Wissens- und Hochleistungsgesellschaft bzw. in unserem Fall für die Interkulturalität zu werden. Für Einsicht in Fehler, für Selbstreflexion, Spannungsfelder und Leiden besteht weder Raum noch Zeit in diesem Konzept. Unser eigenes Gehirn aber, jener Teil unseres Körpers, den wir für das Wissen zuständig erachten, »ist uns radikal fremd« (ebd., 71). Er ist fremd, weil er uns so nah ist, dass er nicht direkt sinnlich wahrgenommen werden kann. Niemand kann sicher feststellen, ob das Gehirn tatsächlich wie ein Computer funktioniert oder ob wir uns das Gehirn nach dem Modell eines Computers vorstellen, weil uns der Computer dazu verhilft, Bilder unseres Gehirns zu produzieren. »Die Bilder, die das Computerprogramm generiert, sind keine Abbilder. Sie sind Artefakte, deren Zusammenhang mit den Funktionen, die sie veranschaulichen,
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durch Deutung hergestellt wird. […] Dabei handelt es sich um empirische Illusionen. Artefakte produzieren Artefakte.« (Ebd., 74)
Auf die Problematik der Verbindung zwischen Kultur und Körperbildern verweist in ganz anderer Weise der Postkolonialismus, der im Interkulturalismus teilweise rezipiert wird. Er geht von der Rassismuskritik aus und hat damit einen direkten Bezug zu Körperlichkeit und zu Unterdrückung. Was wir kulturell zu denken lernen, ist immer auch Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen, so die Kritik. So seien auch körperliche Merkmale wie die Hautfarbe kulturelle Konstruktionen. Als Vordenker des Postkolonialismus gilt der französische Psychiater Frantz Fanon. In Schwarze Haut, weiße Masken (Fanon 1985) legte er den Grundgedanken dar, dass der Kolonialismus nicht nur eine Form der wirtschaftlichen Ausbeutung und gesellschaftlichen Unterdrückung darstellt. Er führt auch zu einer Selbstentfremdung der Menschen »schwarzer« Hautfarbe, die das als universal gesetzte Modell des »Weißen« als Maßstab der Selbstdefinition integrieren. »Schwarze« können sich selbst nur mit dem Blick der »Weißen« sehen (vgl. Fanon 1985). Postkolonialistische Autoren wie Edward Said (Orientalismus), Homi Bhabha (Hybridität) und Gayatri Spivak (Othering) führen diese Kulturkritik weiter. Die Hauptkritik dieser Autoren speist sich aus der eigenen Erfahrung von Migration und hybriden Lebensformen und wendet sich gegen die Norm von Homogenität. Diese Denkrichtung findet sich zum Beispiel auch in der dekonstruktivistischen Geschlechterforschung wieder, die sich mit dem Verhältnis von Identität, Körper und Macht befasst. Wie bereits Michel Foucault in seinen diskurstheoretischen Analysen nimmt zum Beispiel auch Judith Butler die kulturelle Konstruktion von Körper an (Kammler et al. 2008, 195-197). Dabei wird das natürliche, körperliche Merkmal Geschlecht als sozial, kulturell konstruiertes Merkmal aufgelöst. Unser Alltagsverständnis des Verhältnisses von Natur und Kultur muss sich dadurch umkehren. Für uns ist hier im Zusammenhang mit der Körperlichkeit der Menschen interessant, dass sich dahinter wieder die Frage des Verhältnisses von Kultur und Natur verbirgt. Wenn man die Unterscheidung des Primär- und Sekundärstatus von Kultur (Hansen 2011, 237) noch mal heranzieht, würde der Kolonialismus einen Sekundärstatus der Kultur annehmen. Die natürlichen Vorzüge der Kolonialherren drücken sich in kulturellen Vorzügen aus, die wiederum zur Herrschaft legitimieren. Der Postkolonialismus argumentiert dagegen für einen Primärstatus von Kultur. Die kulturelle Konstruktion von Differen-
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zen, einschließlich körperlicher Merkmale, sei (völlig) uneingeschränkt von natürlichen Vorgaben möglich. Dieser Zugang eröffnet die Möglichkeit, Machtausübung sichtbar und kritisierbar zu machen. Kontrovers ist die Frage, wie weit die Konstruktion geht, das heißt, ob es einen natürlichen Körper gibt, in den sich Kultur »einschreibt«, oder ob auch dieser Körper in seiner Materialität kulturell hergestellt wird (vgl. Kammler et al. 2008, 197). Ist Letzteres der Fall, würde dem Lernen und der Kultur der natürliche Körper als Ort der Verankerung entzogen. In jedem Fall ergeben sich für das Verständnis von Lernprozessen unter diesem Blickwinkel ganz andere Probleme als bei den zuvor beschriebenen Zugängen. Dieser kursorische und beispielhafte Durchgang durch theoretische Ansätze zeigt unterschiedliche Herangehensweisen an das Problem der Ganzheitlichkeit von Lernen im Kontext von Kultur. Es ist unbestritten, dass beide Begriffe kognitive, emotionale und leibliche Phänomene miteinander verbinden. Die beschriebenen Ansätze versuchen, etwas, das nicht als Ganzes zu erfassen ist, zunächst in Teilaspekte zu trennen, um dann etwas Ganzes daraus zu machen. Eine Vorgangsweise, besteht darin, eine Wechselwirkung zwischen den Teilaspekten, zum Beispiel dem kognitiven Wissen und dem Gefühl, anzunehmen. Das setzt voraus, dass Ratio und Emotion getrennte Bereiche sind und wir Menschen zwischen ihnen nach Belieben wechseln können. Eine andere Strategie ist die Reduktion der Betrachtung auf einen einzigen Faktor, wie zum Beispiel in der Hirnforschung. Die Hirnforschung kann körperliche Prozesse als Ursache kognitiver und emotionaler Phänomene beschreiben. Die dritte Herangehensweise wendet sich vor allem gegen die Eindeutigkeit einer Ordnung des Ganzen. Ihre Vorgangsweise ist das Aufzeigen eines zusätzlichen Faktors, der Macht, die alles andere durchdringt. Dadurch wird auf ein anderes Ganzes, ein Machtsystem, verwiesen. Diese Denkstrategien sind komplementär und jede für sich betrachtet berührt einen wichtigen Aspekt der Thematik. Aber jede müsste zu einer anderen interkulturellen Didaktik führen. Sie können nebeneinander bestehen, aber nicht zu einem einzigen Konzept zusammengefasst werden. Man kann an dieser Stelle festhalten, dass die ›ganzheitlichen‹ Begriffe Kultur und Lernen das Bestreben auslösen, sie gedanklich als Ganzes zu erfassen. Aber je mehr ich versuche, das Ganze und seine Bestandteile zu fassen, desto mehr entzieht es sich mir. »Das Wie des Lernens zieht sich in die Dunkelheit zurück« (Meyer-Drawe 2008, 90 Herv. i.O.), genauso wie das Wie der Kultur, je mehr ich es in seiner Ganzheitlichkeit be- und durchleuchten will.
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1.4.2 Welche Wirkungen hat interkulturelles Lernen? Ich komme nun vom Wie des Lernens zum Wozu. Das Beispiel des Kolonialismus und des Postkolonialismus zeigt, dass man sich sowohl zum Zweck der Unterdrückung als auch zum Zweck der Befreiung auf Kultur berufen kann. Der Interkultralismus beinhaltet den Anspruch, eine positive Interkulturalität jenseits dieser Pole herzustellen. Er zielt auf individuelle und kollektive Wirkungen ab. Er postuliert die Möglichkeit, dass sowohl Individuen wie auch Kollektive einen, wie auch immer zu definierenden, Status der Zufriedenheit bzw. des Glücks erreichen können. Man muss sich dazu den Zustand eines idealen Interessensausgleichs vorstellen, der wahrscheinlich immer nur annäherungsweise erreichbar ist. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Interessensausgleich immer konfliktfrei hergestellt werden kann. Für einen fairen Interessensausgleich sind selbstverantwortliche Individuen eine Voraussetzung. Lernen, so eine weitere ideale Annahme, kann die Eigenverantwortung stärken. Kultur hingegen wird als ambivalent verstanden, weil sie Eigenverantwortung sowohl fördern als auch verhindern kann. Der Interkulturalismus zeigt sich als ein Konzept, das in das Ideal der Aufklärung – die Befreiung des rational denkenden Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit (Kant) – eingebettet ist. So wie das Projekt der Aufklärung auf einen Kulturwandel zielt, tut es auch der Interkulturalismus. Wie sich bereits im vorangehenden Kapitel gezeigt hat, spielt dabei die Macht eine wesentliche Rolle. Ich möchte also ausschnittweise berichten, wie dieses Thema im Feld des Interkulturalismus verhandelt wird. Helene Haas hat mit ihrer Arbeit Das interkulturelle Paradigma (Haas 2009) eine lang erhoffte Analyse der paradigmatischen Hintergründe des Interkulturalismus vorgelegt. Sie zeigt auch die historische Einbettung interkultureller Ansätze auf. Wie Haas darlegt (ebd., 37-41, 98-110), hat sich im Interkulturalismus ein stark praxis- und lösungsorientierter Ansatz zum Umgang mit Interkulturalität entwickelt. Dieser ist besonders an das gesellschaftlich etablierte Fortschrittsparadigma anschlussfähig. Die Hauptströmung in der interkulturellen Bildung sieht die Aufgabe interkultureller Trainings in der gezielten Steigerung der Effizienz des Handelns. Interkulturelle Kompetenz wird dementsprechend als »Erfolgsinstrument« (Rathje 2006, 3) positioniert. Nebenströmungen definieren die persönliche Weiterentwicklung der an einer interkulturellen
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Interaktion beteiligten Partner/-innen als Ziel und Erfolg. Die Gegenseite wirft ihnen deshalb Idealismus vor (Rathje 2006, 4). Mit der schrittweisen Abkehr von der sogenannten Ausländerpädagogik wurden die Erfolgsstrategien aus der interkulturellen Kommunikation im Umgang mit »Elitemigranten« (Moosmüller 2007a, 23) auch auf unterprivilegierte Minderheitengruppen übertragen. Der Weg des Erfolges solle in der Bildung wie am Arbeitsmarkt zu gesellschaftlicher Anerkennung führen. Interkulturelle Bildung könne dazu beitragen, so lautet die Logik. Wenn im Wirtschaftskontext noch argumentiert werden kann, dass es in der Interkulturalität um einen Dialog auf Augenhöhe unter Gleichen gehen soll, ist interkulturelle Bildung im Umfeld der »Migration von unten« (ebd., 23) jedenfalls kein politisch neutrales Unterfangen. Die in der interkulturellen Bildung propagierte Verbesserung des Verstehens wird von kritischen Stimmen als ein »mit der Ausübung von Macht, Herrschaft und Kontrolle verbundenes Bemühen der jeweils Mächtigen« (Scherr 1999, 62) bezeichnet. Die sogenannten Integrationskurse für Zugewanderte zum Beispiel sind unter anderem Ausdruck der Überzeugung, dass etablierte Personen wissen, was die Ankommenden verstehen müssen. Das Effizienz- bzw. Erfolgskonzept »sieht sich daher massiven Manipulationsvorwürfen ausgesetzt« (Rathje 2006, 4). Dennoch setzen sich herrschaftskritische Positionen (vgl. Mecheril 2004; Castro Varela 2007; Sprung 2011), denen es vor allem um die Selbstermächtigung von Minderheiten oder Migranten/Migrantinnen geht, gesellschaftlich nur ansatzweise durch. Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, verweist Straub anhand einer kritischen Analyse der Kulturpsychologie (Straub 2011) darauf, dass Individuen oder Gruppen gerade durch die Diskurse interkultureller Kompetenz ihre Macht- und Herrschaftsziele verschleiern können. Unter dem Deckmantel von Anerkennung und Toleranz könnten Strategien der Interessendurchsetzung besonders effizient verfolgt werden. Es handle sich um eine Möglichkeit, den Kampf der Kulturen im Verborgenen durchzuführen (ebd., 34f.). Dies geschehe auch mit subtilen aber durchaus gewaltsamen Mitteln. Kompetente Menschen seien immer auch »Kombattanten« (ebd., 35). Unter Bezug auf Foucaults Analysen des Zusammenhangs von Macht und Wissen argumentiert Straub, es sei Skepsis angebracht, wenn plötzlich eine intensive Wissensproduktion zu einem Thema entstehe. Ein Zuwachs an Wissen könne nicht rein als ein Zeichen der Emanzipation gedeutet werden. Aus dieser Perspektive stelle sich der
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interkulturelle Diskurs wie ein »gigantisches Ablenkungsmanöver« dar (ebd., 35). Die historischen Wurzeln des Interkulturalismus liegen tatsächlich wie erwähnt im Bereich der Kriegsführung. Wissen über die kulturellen Praktiken verfeindeter Nationen konnte im Krieg einen entscheidenden Vorteil darstellen (Haas 2009, 37-41). Wenn der interkulturelle Diskurs ein rhetorisches Manöver ist und in einer Tradition kriegerischen Denkens steht, dann ist nach seiner strategischen Funktion in einem weiteren gesellschaftlichen Machtzusammenhang zu fragen. Worauf Straub hinweist, ist der Widerspruch zwischen den expliziten normativen Forderungen im Interkulturalismus (nach Anerkennung und Toleranz) und dem Mangel an expliziter Thematisierung der Machtwirkungen, die damit in Zusammenhang stehen. Die Rede von Anerkennung und Toleranz impliziert Subjekte, die die Macht haben, Anerkennung zu geben und andere, die dieser Macht unterworfen sind. Obwohl die Aufhebung oder zumindest Abschwächung von Machtunterschieden als Ziel genannt wird, bestätigt der interkulturelle Diskurs diese laufend. Die Positionen, die auf diesen Umstand hinweisen, müssen innerhalb des interkulturellen Diskurses um Anerkennung kämpfen, genauso wie die ›Fremden‹ um die Anerkennung ihrer Position in den kulturellen Praktiken der Ansässigen. Auch wenn die Vokabeln eine rein friedliche Begegnung suggerieren, steht dahinter, so Straub, ein veritabler Machtkampf. Macht wird hier erstens als ein Dualismus von (potenziellen) Unterdrückern und (potenziell) Unterdrückten behandelt und zweitens als ein unsichtbares Phänomen, das aufgedeckt werden muss, sich aber dagegen wehrt, sichtbar gemacht zu werden (vgl. Berger 2009, 12). Die Verhältnisse werden als Kampf beschrieben, als Kampf gegen Unterdrückung und als Kampf für die Aufdeckung von Macht. Das Problem besteht darin, dass man gedanklich gefangen ist, sobald man sich in die dualistische Kampflogik begibt. Es ist nicht möglich, über diesen Kampf von einer neutralen Außenposition aus zu sprechen, auch wenn diese gerade das Ideal des Interkulturalismus wäre. Das Lernen als Weg der Selbstbefreiung und Selbstermächtigung, wie es Paolo Freire in seiner Pädagogik der Unterdrückten (Freire 1973) konzipiert, scheint hier der einzige Ausweg zu sein. Aber sogar der Anspruch, sich durch Lernen selbst zu befreien, verwandelt sich durch die Verbindung mit dem Anspruch auf einen Kulturwandel in eine neue Unfreiheit. Es entsteht eine Pflicht, sich selbst und andere befreien zu müssen.
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Mit Michel Foucault ist Macht nicht als Eigenschaft von Personen und Institutionen zu denken, die Macht ›haben‹. Macht kann nicht erworben oder verloren werden. »Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (Foucault 1983, 94). Die »Macht wohnt […] der Wirklichkeit inne, die sie gleichzeitig hervorbringt« (Berger 2009, 13). Wie die Kultur ist die Macht nicht außerhalb einer Gesellschaft anzusiedeln, sondern dieser immanent. Macht in diesem Sinne ist immer produktiv (Berger 2009, 12) und performativ (ebd., 15f.). Macht ist eine Achse in einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Kräfte. Diese Konstellation nennt Foucault Dispositiv. Darunter versteht er eine »heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen […]. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.« (Foucault 2003, 392)
Die Machtverhältnisse seien dadurch gekennzeichnet, dass die gleichen Individuen, die durch das Dispositiv strategisch handeln – »disponieren« – können, auch dessen Wirkungen unterworfen sind (Kammler et al. 2008, 240). In einem Dispositiv vernetzen sich mehrere Diskurse, wie zum Beispiel Fachdiskurse, der Fortschritts-, der Wachstums- und der Bildungsdiskurs, und außerdiskursive Elemente, wie zum Beispiel die Ökonomie. Der Interkulturalismus ist Teil eines solchen Netzes und man kann Überlegungen zu seinem Wirkungshorizont deshalb nicht auf die Ebene der Praktiken von Individuen und kleineren oder größeren Kollektiven beschränken. Er ist auch in den Dimensionen der Einbettung in Dispositive zu denken. Beispiele für Dispositive wären das Sicherheitsund Kontrolldispositiv oder das Konsumdispositiv. Der interkulturelle Diskurs ist gleichzeitig in mehreren Dispositiven vertreten. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Kann ein Dispositiv verändert werden? (Vgl. zu dieser Frage im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit Sorgo 2011b, 122) Die Betrachtungsweise von Macht als performatives Verhältnis verändert die Problemstellung. Wenn Macht performativ gedacht wird, gibt es kein Gegenüber mehr, gegen das man kämpfen kann. Man befindet sich immer innerhalb von Machtverhältnissen. Innerhalb dieser Verhältnisse gibt es Kräfte der Beharrung und Kräfte der Veränderung und es gibt rea-
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le Unterdrückung und Diskriminierung. Dies löst gedankliche Bewegungen zwischen einer Mikro- und einer Makroperspektive aus. In einem Fall konkreter Diskriminierung kann man die Mikroebene betrachten und z.B. fragen: Über welche Sprachkompetenzen und welches Wissen verfügen die Beteiligten, welche Strategien setzen sie ein? Bald stellt sich dann eine Unzufriedenheit ein, weil die Verhältnisse auf der Mikroebene nicht ohne die Makroebene zu erklären sind. Man fragt z.B. weiter: Wie sind die Bildungschancen und ökonomischen Ressourcen gesellschaftlich und global verteilt? Von dort schlägt das Pendel früher oder später wieder zurück auf die Mikroebene und man will wissen: Warum können manche Personen Bildungschancen besser nützen als andere? Welche Rolle spielt das familiäre Umfeld? Doch selbst wenn alle Zusammenhänge zwischen den Ebenen verstanden werden könnten, wäre nicht geklärt, wo nun der ›Hebel‹ des Lernens anzusetzen wäre, um den Kulturwandel im Sinne von Anerkennung, Empathie und verantwortlichem Interessensausgleich zu erreichen. Mit dem Anspruch auf Veränderung und Befreiung kämpft man entweder gegen einen unsichtbaren Gegner oder beteiligt sich an den Bewegungen in einem Netz der Macht. Kultur lässt sich gleichermaßen für progressive wie für konservative Argumentationen heranziehen. Kulturelles Wissen kann sowohl aufklären als auch manipulieren. Es kann zu Befreiung oder zu mehr Unterdrückung beitragen. Dem Interkulturalismus ist es in der Praxis der vergangenen Jahre nicht gelungen, durch interkulturelle Bildung jenen Kulturwandel zu erreichen, den er angibt, anzustreben. Wo Veränderungen in Richtung einer offeneren Gesellschaft erzielt wurden, gab es auch heftige Gegenbewegungen. Als interkulturell Lehrende kann ich mir der Wirkungen interkulturellen Lernens nie sicher sein.
1.4.3 Welche ethischen Voraussetzungen hat interkulturelles Lernen? Mit dem Anspruch auf eine befreiende und das gleichberechtigte Zusammenleben fördernde Wirkung des interkulturellen Lernens ist ein weiterer Anspruch und ein Dilemma verbunden: Interkulturelles Lernen soll freiwillig erfolgen. Aber was ist im Fall von Widerstand gegen das Lernen zu tun? Muss man sich gegenüber Menschen, die sich dem interkulturellen Lernen verweigern, tolerant und empathisch verhalten? Können Grenzen im Denken immer freiwillig verändert werden, oder gibt es auch
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Haltungen, die man nur aufgibt, wenn man (mehr oder weniger) dazu gezwungen ist? Der kulturelle und institutionelle Rahmen, in dem wir leben, ist ein Beispiel dafür, dass wollen und müssen nicht immer klar trennbar sind. Will ich kulturelle Standards einhalten und muss ich sie einhalten? Will ich in einer interkulturellen Situation lernen oder muss ich lernen? Was soll im interkulturellen Lernen gelernt werden? Wer kann darüber entscheiden? Wie bei Interkulturalität können wir auch beim Lernen versuchen, eine faktische und eine gewollte Ebene zu unterscheiden. Unter gewolltem Lernen verstehe ich nicht nur ein gezieltes und geplantes Lernen, das Lehrende oder Lernende selbst anstoßen. Allgemeiner ist damit ein Lernen gemeint, das einer bewussten Reflexion zugänglich ist oder im Nachhinein zugänglich gemacht wird. Lerngelegenheiten sind nicht immer erwünscht und gewolltes Lernen hat nicht immer die gewünschten Ergebnisse. Lernen verstehe ich als gewollt, wenn der/die Lernende die Möglichkeit zu lernen an sich als positiv ansieht. Das ist von der Frage der Effektivität zu trennen, also davon, ob tatsächlich Lernen stattgefunden hat und ob die Ergebnisse den angestrebten Zielen entsprechen. Den Begriff Bildung wende ich auf den Bereich eines institutionell gewollten Lernens an. Weitere Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen Bildung als Ergebnis oder Prozess, zwischen bilden und sich bilden, formeller und informeller Bildung oder individuellen und gesellschaftlichen Bildungszielen, nehme ich dabei nicht vor. Interkulturelle Bildung verbindet also gewollte Interkulturalität mit gewolltem Lernen. Da interkulturelle Bildung in einem institutionellen Setting stattfindet, spielt nicht nur das individuelle Wollen, sondern auch ein institutionelles, überindividuelles Wollen eine wesentliche Rolle. Bei der Frage nach den Möglichkeiten von interkultureller Bildung im Sinne eines gewollten Lernens sind schon einige Probleme aufseiten der Interkulturalität und des Lernens identifiziert worden. Einige liegen aber auch im Moment des Wollens begründet. Hier sind verschiedene Konstellationen denkbar. Ein Individuum will lernen, aber die Institution, mit der die Person verbunden ist, will das nicht. Oder umgekehrt, die Institution will, aber die Person will nicht. Aber auch im interpersonalen Kontakt kann es diese Unterschiede geben. Ein/e Kommunikationspartner/in versteht die Situation zum Beispiel als Lernsituation, der/die andere nicht. Ein wesentlicher Teil der Anstrengungen von Lehrenden der interkulturellen Bildung bezieht sich darauf, den Willen zum Lernen
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anzuregen. Im Bereich des interkulturellen Managements klagen Trainer/-innen zum Beispiel darüber, dass sich die Zielgruppen bereits als international kompetent verstünden und erst über die Notwendigkeit des interkulturellen Lernens aufgeklärt werden müssten. Im Feld der Migrationspädagogik stoßen Lernangebote oft auf großen Widerstand bei der Mehrheitsbevölkerung, weil diese den Lernbedarf nicht auf der eigenen, sondern aufseiten der Minderheiten sieht. Selbst wenn der Leidensdruck sehr hoch ist, bedeutet das nicht unbedingt, dass das Lernen gewollt ist. Personen, deren Verhalten von außen als Lernverweigerung interpretiert wird, können vielfältige Gründe haben, ihr Verhalten nicht zu ändern. Andererseits kann faktisch Lernen stattfinden, ohne dass es den Betroffenen als solches bewusst ist. So haben Mediennutzer/-innen zum Beispiel gelernt, Flüchtlinge als ›Asylwerber/-innen‹ zu bezeichnen und zu denken, ob sie es wollten oder nicht. Das Problem besteht in diesem Fall darin, dass Lernen nur gewollt wird, wenn die Erwartung besteht, dass das Ergebnis auch den eigenen Wünschen entspricht. Dies wiederum kann rückwirkend anders bewertet werden als im Vorhinein. Lernen als Umstrukturierung von (Vor-)Wissen im weiten Sinn stellt wohl den kleinsten gemeinsamen Nenner für eine Definition von Lernen dar (vgl. Meyer-Drawe 2008, 91). Da man »nicht nicht kommunizieren« kann (Watzlawik et al. 1985, 53), sind wir in einen dauernden Kommunikationsstrom eingebunden, der Wissensangebote bereithält. Aus dieser Perspektive besteht das Problem eher in der Verarbeitung der Angebote, der Auswahl und Stabilisierung von Wissen bzw. der Stabilisierung der Angebote als Wissen. Die Kunst, nicht zu lernen (Simon 2010) besteht darin, im Strom des Lebens und der Vergänglichkeit, Vorräte anzulegen, Wissen zu stabilisieren. Dies geschieht vor allem unbewusst. Das gewollte Lernen besteht darin, Transformation bewusst zuzulassen oder zu suchen. Für die Bereitschaft dazu ist die Qualität der Beziehungen zur Umwelt, mit der das Individuum kommuniziert, von ausschlaggebender Bedeutung. Beziehungen können für den Willen zum Lernen förderlich, hinderlich oder auch unbedeutend sein. So wie wir nicht nicht kommunizieren können, können wir auch nicht nicht in Bezug zu unserer Umwelt sein. Dabei spricht auch die nicht menschliche Umwelt den Willen zum Lernen an. Immer neue Kommunikationstechnologien fordern zum Beispiel die Bereitschaft zur Transformation. Der Wille zum Lernen wirkt wiederum darauf zurück, mit wem bzw. was in meiner Umwelt ich Beziehungen aufnehme oder erhalte. Wenn ich mich zum Beispiel nur ungern
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auf die Handhabung eines neuen Betriebssystems umstelle, dann werde ich ein altes Gerät möglichst lange benützen. Die Bereitschaft zu lernen kann ganz unterschiedlich zwischen Lebensbereichen, zum Beispiel dem technischen und dem sprachlichen Bereich, verteilt sein. Das Wollen besteht aus einem bestimmten Verhältnis stabilisierender und transformierender Kräfte im Individuum und in der Umwelt, die sich auf einander beziehen. Das Problem besteht darin, zu entscheiden, wann Veränderung wünschenswert ist und wann nicht. Doch woran soll das gemessen werden? Der Anspruch interkultureller Bildung lautet, dass man Veränderung ›wollen soll‹. Die paradoxe Forderung lautet: »Du sollst freiwillig wollen.« Der Aufruf »Tue das freiwillig!« ist genauso paradox, wie es Watzlawick für »Sei spontan!« gezeigt hat (Watzlawick 1983, 87). Du sollst dich freiwillig in verunsichernde Situationen begeben! Du sollst offen, neugierig, einfühlsam sein und das auch wollen! Du sollst vergessen, dass es sich dabei um eine Forderung von außen handelt, und davon überzeugt sein, dass du es freiwillig tust! Dieser Anspruch des Interkulturalismus stellt eine moralische Forderung dar, die auf dem Wert der Freiheit und Freiwilligkeit auf baut. Es kann vorkommen, dass es der interkulturellen Bildung gelingt, dass die Zielgruppe eine ›interkulturelle Moral‹ als Zweck an sich internalisiert. Es kann aber auch sein, dass Lernende oder Lehrende eine ›Scheinmoral‹ entwickeln. Offenheit und Anerkennung von Differenzen werden dann nicht gewollt, weil sie an und für sich wertvolle Haltungen sind, sondern weil ihr Einsatz der Durchsetzung bestimmter, konkreter Interessen dient. Das wurde von Straub, wie bereits erwähnt, »Ablenkungsmanöver« genannt. Es kann deshalb aber auch argumentiert werden, dass die Messung des Erfolgs interkulturellen Lernens an konkreten Zielen (z.B. wirtschaftlicher Erfolg) notwendig ist, um die moralisierende Grundhaltung interkultureller Bildung einzuschränken. Dies bringt mich als Interkulturalistin in die untragbare Situation, beurteilen zu müssen, ob interkulturelles Lehren und Lernen von der ›richtigen Gesinnung‹ getragen wird oder nicht. Die Forderung nach der Freiwilligkeit interkulturellen Lernens bewirkt, dass ethische Beurteilungsmaßstäbe ins Spiel kommen. Die Forderung nach der Freiheit zieht aber auch die Frage nach der Rechtfertigung von Grenzen der Freiheit nach sich. Als Lehrende bin ich in ethische und politische Fragen verstrickt. Diese Probleme führen aber weit über das hinaus, was innerhalb des Rahmens der Möglichkeiten interkultureller Bildung bearbeitet werden kann.
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1.4.4 Was sind interkulturelle Kompetenzen? Auch wenn es nicht gelingt, Licht in die Dunkelheit des Wie des interkulturellen Lernens zu bringen, gibt die gewollte Interkulturaliät dem Lernen eine eindeutige Richtung vor. Interkulturelle Bildung will interkulturelle Kompetenz bewirken. Die Verwendung des Kompetenzbegriffs im Interkulturalismus ging einher mit seiner allgemeinen Verbreitung im Bildungsbereich. Kompetenzorientiertes Lernen grenzt sich von der Vermittlung von Fertigkeiten ab. Fertigkeiten sind durch einen Vorher-Nachher-Vergleich überprüf bar. Es lässt sich zum Beispiel eindeutig feststellen, ob ein/e Führerscheinkandidat/in ein Auto starten und die Kupplung bedienen kann. Kompetenz ist hingegen ein Bündel von Fertigkeiten, Fähigkeiten, Haltungen, Kontext- und Erfahrungswissen, das einer Person zur Problemlösung zur Verfügung steht und in konkreten Situationen aktiviert werden kann. Man kann aus Situationen, zum Beispiel Unfallfreiheit, auf eine Kompetenz, zum Beispiel Fahrkompetenz, schließen. Es lässt sich nicht sicher voraussagen, durch welche Lernschritte diese erreicht wird. Man muss also zum Beispiel Prognosen über die Wirksamkeit solcher Schritte erstellen. Auf einer derartigen Einschätzung basiert zum Beispiel die Vorschrift, dass man zu einer Führerscheinprüfung antreten kann, wenn man einen Kurs und zehn Übungsfahrten absolviert hat. Ähnlich muss man vorgehen, wenn man interkulturelle Kompetenz definieren will. Karla Deardorff hat 2006 im Auftrag der Bertelsmann Stiftung in einer Studie 23 US-amerikanische Experten/Expertinnen zu Definition und Modellen interkultureller Kompetenz befragt (Deardorff 2006). Neben Überblicks- und Sammelwerken, die eine Darstellung verschiedener Zugänge bieten (vgl. Otten et al. 2007; Straub et al. 2007; Weidemann et al. 2010), stellt diese Untersuchung die einzige mir bekannte systematische Erhebung und Synthese von Modellen dar. Das Paper geht davon aus, dass die Ergebnisse aus dem US-amerikanischen Raum auf Deutschland übertragbar sind. Die Autorin grenzt das Ergebnis explizit nur gegenüber »nicht westlichen Perspektiven« ab, mit denen es Überschneidungen aber auch Unterschiede gebe, worauf aber nicht näher eingegangen wird (Deardorff 2006, 29). Die höchste Zustimmung unter den Befragten erhielt eine sehr allgemeine Definition interkultureller Kompetenz: »Die Fähigkeit, effektiv und angemessen in interkulturellen Situationen zu kommunizieren, auf Grundlage eigenen interkulturellen Wis-
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sens, eigener Fähigkeiten und Einstellungen« (ebd., 14f.). Danach wurden die Experten/Expertinnen nach ihrer Zustimmung zu bestimmten »Elementen« interkultureller Kompetenz befragt. Diese wurden in mehrere Bündel zusammengefasst: Haltungen und Einstellungen, Wissen und Fähigkeiten, interne und externe Konsequenzen. Diese werden in Form eines Pyramidenmodells und eines prozessorientierten Modells für interkulturelles Lernen dargestellt (ebd., 19ff.): Die Basis der Pyramide bilden »Haltungen und Einstellungen«: Respekt, Offenheit, Unvoreingenommenheit, Neugier, Entdeckergeist und Ambiguitätstoleranz. Auf der nächsten Stufe finden sich »Wissen und Verständnis«: kulturelle Selbstreflexion, umfassendes Kulturverständnis, soziolinguistisches Bewusstsein sowie folgende Fähigkeiten: (aufmerksam) Zuhören, Beobachten, Interpretieren, Analysieren, Bewerten, Zuordnen. Daraus ergeben sich »interne Wirkungen«: Verlagerung des Referenzsystems, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Relativierung der ethnozentrischen Sicht und Empathie. In der Folge entstehen »externe Wirkungen«: effektive und angemessene Kommunikation und Verhalten in interkulturellen Situationen (ebd., 21, Herv. SA). Der Pyramide liegt ein Eisbergmodell von Kultur zugrunde, das sichtbare Elemente von unsichtbaren Elementen, wie gedanklichen Konzepten und Verhaltensmustern, trennt (ebd., 30). Dieses Eisbergmodell geht auf Freud zurück, der das Unterbewusstsein mit jenem Bereich eines Eisbergs verglich, der unter Wasser ist. Das Eisbergmodell der Kultur siedelt ca. 80-90% der kulturellen Elemente im unsichtbaren, unterbewussten Bereich an. Deardorffs Beschreibung interkultureller Kompetenz erfolgt in zwei Schritten. Erstens werden aus vielen potenziellen Möglichkeiten einige Elemente ausgewählt. Zweitens werden diesen Elementen bestimmte Wirkungen zugeordnet. Die Konkretisierung von Elementen interkultureller Kompetenz hängt von der jeweiligen ideologischen Ausrichtung der Experten/Expertinnen innerhalb des Interkulturalismus im weiten Sinn ab – dem Multikulturalismus, Interkulturalismus und Transkulturalismus. Zusätzlich gibt es eine Trennlinie zwischen positivistischen und relativistischen Ansätzen. Eine positivistische Sichtweise geht davon aus, dass die faktische Interkulturalität ein faktisches Problem vorgibt und dass der Interkulturalismus im weiten Sinn eine Chance zur Überwindung dieses Problems im Sinne einer positiven individuellen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung darstellt. Die relativistische Betrachtung ist bereit, die faktische Interkulturalität kritisch zu hinterfragen. Sie führt ins Treffen,
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dass jede Wahrnehmung von Interkulturalität ein Aspekt des Kulturalismus sei und daher alle Versuche, kulturelle Differenzen zu überwinden, diese gleichzeitig bestätigen. Wer kulturelle Differenzen überwinden wolle, setze voraus, dass diese existieren, und sei deshalb an den Mechanismen von Ein- und Ausgrenzung beteiligt, die er gleichzeitig überwinden wolle. Beide Richtungen setzen an Widersprüchlichkeiten an, die es zu bewältigen gilt. Die erste nimmt die Widersprüche als durch Differenzen gegeben an. Sie bilden per se die Problemdefinition. Die zweite hinterfragt ihre objektive Existenz und problematisiert die Definition selbst. Daraus ergeben sich neue, widersprüchliche Anforderungen an das Handeln. Der relativistische Ansatz führt zu immer anspruchsvolleren normativen Forderungen: Man müsse gleichzeitig »normativ und nicht normativ sein«, »den Kulturbegriff klären und auflösen«, »offene Formen der Differenz« schaffen, die negativen Wirkungen von Differenz ausschließen, ohne die positiven Wirkungen zu verlieren, also »Denkbewegungen gleichzeitig machen, die eigentlich nicht vereinbar sind« (Beispiele aus meiner Mitschrift bei der Tagung Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft, Unbekannt 05.05.11). Die unauflösbaren Widersprüche lassen sich vielleicht auf einer abstrakten Ebene denkend ›in Schwebe halten‹. Das ist eine Fähigkeit, die in der Terminologie der interkulturellen Kompetenzen Ambiguitätstoleranz genannt wird. Im Praxishandeln müssen aber laufend Entscheidungen getroffen werden, mit denen man sich auch in Bezug auf die Widersprüche positioniert. Eine Aufgabe, die zum Beispiel durch interkulturelle Kompetenz gelöst werden soll, besteht darin, Komplexität zu erkennen und dann Orientierung angesichts von erhöhter Komplexität zu schaffen (vgl. Fähigkeit zu differenzieren, Analysefähigkeit, Selbstreflexion, Kulturverständnis). Dahinter steht die Frage, wie viel Komplexität ein Mensch bewältigen kann. Es gibt ein Spannungsfeld von zu viel und zu wenig an Komplexität. Auch die Forderung nach Anerkennung der Gleichwertigkeit von kulturellen Denkformen (vgl. Relativierung der ethnozentrischen Sicht) enthält diese Schwierigkeit. Eine absolute Gleichwertigkeit überindividueller Normen würde individuelle Entscheidungen unmöglich machen, weil jede Entscheidung eine Wertung enthalten muss. Was ist zu viel und zu wenig Gleichwertigkeit, um eine optimale Handlungsorientierung zu ermöglichen? Auch das naheliegende Ziel, Missverständnisse verhindern zu wollen (vgl. Zuhören, Beobachten, Interpretieren), hat seine Tücken. Können Missverständnisse jemals ganz ausgeschlossen werden und ist
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ein Zustand des vollkommenen Verständnisses überhaupt anzustreben? Wer unreflektierte Vorurteile abbauen will (vgl. umfassendes Kulturverständnis), kann damit reflektierte Urteile fördern, die der gegenseitigen Anerkennung nicht förderlicher sind. Wenn es darum geht, die Angst vor dem Unbekannten zu reduzieren (vgl. Offenheit, Neugier, Entdeckergeist), kann es passieren, dass man damit Übergriffe in fremde Bereiche fördert. Die Bereitschaft zu Veränderung kann die Existenz von kulturellen Gütern bedrohen, die ihren Wert dadurch verlieren. Das Problem besteht darin, dass das angemessene und verträgliche Maß an Komplexität, an Unklarheit, an Veränderungsbereitschaft, Neugierde oder Wissen nicht abstrakt und allgemeingültig festgelegt werden kann. Es kann nur wiederum in Form einer Relation beschrieben werden. Ein Wert hat einen positiven Pol und ein negatives Gegenüber: frei und erzwungen, nah und fern, gerecht und ungerecht. Zwischen den Polen der Skala besteht eine Spannung. Die Pole stoßen einander ab: Viel Freiheit bedeutet zum Beispiel wenig Zwang. In den bereits erwähnten, kulturvergleichenden Modellen der Kulturdimensionen und der Kulturstandards (Hall, Hofstede, Trompenaars, Thomas) werden Kulturen anhand solcher Werteskalen beschrieben. Man spricht dann zum Beispiel von individuellen und kollektiven Kulturen, von direkter und indirekter Kommunikationskultur, von Kulturen mit hoher bzw. niedriger Unsicherheitstoleranz oder von universalistischer und partikularistischer Orientierung. Innerhalb von Kollektiven und zwischen Kollektiven treten soziale Spannungen auf, wenn die Positionen weit auseinander liegen. Aber auch im Individuum existieren solche emotionalen und kognitiven Spannungen. Wenn wir uns die Widersprüche als eine Skala zwischen oppositionellen Polen denken, kann es einen Punkt geben, an dem der jeweils positiv besetzte Wert ins Negative umschlägt. Das Streben nach Empathie kann in ein Streben nach vollständiger Vereinnahmung durch Verstehen umschlagen. Die Forderung nach Anerkennung der Gleichwertigkeit von unterschiedlichen Werten kann zu einem Verlust jeder Wertorientierung führen. Die Orientierung an metakulturellen Normen im Sinne der Gleichberechtigung kann dazu führen, dass partikulares kulturelles Wissen unterdrückt wird. Was hier verhandelt wird, ist das rechte Maß an Nähe und Ferne, an Differenz und Gemeinsamkeit oder an Einfühlung und Autonomie. Nach Aristoteles’ Ethiklehre (Aristoteles) liegt die Aufgabe des tugendhaften Verhaltens darin, die richtige Mitte zu finden. Interkulturelle Kom-
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petenz wäre die Fähigkeit, im konkreten Kontext die adäquate Position zu finden, die auch mit dem sozialen Umfeld abgestimmt ist. Genau genommen sind bei den Fähigkeiten und internen Wirkungen, die oben genannt wurden – z.B. Offenheit, Neugierde, Anpassungsfähigkeit, Empathie –, solche Mittelpositionen gemeint. Aber im Interkulturalismus stellt sich die interkulturelle Kompetenz als ideal gesetzter Endpunkt einer positiven Entwicklung dar. Laut Deardorff gibt es eine nach oben führende, nach oben offene Lernspirale, in der sich die verschiedenen Elemente wechselseitig beeinflussen, anreichern und zu immer größerer Kompetenz entwickeln (Deardorff 2006, 7f.). Interkulturelle Kompetenz ist in dieser Beschreibung das ideale Ergebnis einer unaufhörlichen Selbstkultivierung. Bei Eagleton heißt es: »Sobald Kultur als Selbstkultivierung begriffen wird, postuliert sie eine Dualität zwischen höheren und niedrigeren Fähigkeiten, […] die sie dann sogleich überwinden will.« (Eagleton 2009, 13) Das rechte Maß gilt unter den Prämissen des kulturellen Fortschrittsund Wachstumsdenkens nicht mehr als Orientierungspunkt. Dabei führen gerade die Ansätze, die Vergleiche zwischen Kulturen anhand von Dichotomien vornehmen, die Entstehung kultureller Werte auf ein Finden des rechten Maßes zurück. Wertdichotomien seien als universelle Gegebenheiten zu verstehen (zum Beispiel Trompenaars 1993, 18-20): Jede Kultur habe die gleichen Grundprobleme zu lösen und müsse sich innerhalb der Denkmöglichkeiten bestimmter Dichotomien entscheiden. Zum Beispiel müsse sich jede Kultur, so Trompenaars, auf der Achse von Individualismus contra Kollektivismus positionieren. Dabei sei die Frage zu beantworten: »Ist es wichtiger, sich zunächst auf den einzelnen zu konzentrieren, der nach eigenem Willen und Gutdünken seinen Beitrag zum Kollektiv leistet, oder ist es wichtiger, zunächst an das Kollektiv zu denken, weil es sich aus vielen einzelnen zusammensetzt?« (Ebd., 22) Jede Kultur müsse die, für sie »richtige Mitte« finden. Die jeweilige Lösung stellt dann einen kulturellen Wert dar. Sobald die Problemlösung einmal gefunden sei, sinke sie in einen unreflektierten Bereich des Bewusstseins ab und »wird zu einer Grunderfahrung, Grundvoraussetzung« (ebd., 19). Diese Werte seien in einem unsichtbaren Bereich angesiedelt. Modelle dafür sind zum Beispiel das bereits erwähnte Eisbergmodell, das Zwiebelmodell oder Schichtenmodell von Kultur (Hofstede 1997, 8f.). Differenzen in Praktiken seien sichtbar, aber ihre kulturelle Bedeutung nicht. Im Kern von Kultur sind die Werte angesiedelt, sie sind überhaupt nicht sichtbar. Deshalb geht es der interkulturellen Bildung darum, sie sichtbar bzw. wahrnehmbar zu machen.
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Der Kulturbegriff dieser Autoren wird häufig als überholt, zu eng und geschlossen kritisiert. Die Zwiebel erinnert an Herders Modell der Kugel mit ihrem Kern. Die Ablehnung wendet sich vor allem gegen die Vorstellung der Begrenztheit von Kultur(en) und gegen die Homogenitätsprämisse innerhalb von diesen. Die Existenz einer unsichtbaren Tiefenstruktur von Kultur ist offenbar unstrittig. Was skeptische Stimmen öfters bestreiten, ist die Relevanz von kultureller Tiefenstruktur zur Erklärung bestimmter Phänomene. Die ebenso unsichtbare Machtstruktur oder die ökonomische Struktur sei in vielen Fällen ausschlaggebender als kulturelle Werte, lautet eine Stoßrichtung der Kritik am Kulturalismus. Die unhinterfragte Wirkungslogik für das Lernen lautet: Wenn bestimmte, kulturell vorgegebene Werthaltungen durch Reflexion ›sichtbar‹ werden, können sie sich verändern. Durch die Einsicht bzw. das Verstehen verändern sich auch die Praktiken. Umgekehrt können Veränderungen der Praktiken die inneren Einstellungen verändern. Wenn ich erkenne, dass ich individualistisch denke, bedeutet das allerdings nicht notwendigerweise, dass mich das weniger individualistisch macht. Der Optimismus, der sich im Streben nach dem Horizont interkultureller Kompetenz ausdrückt und auf der Idee der Selbstkultivierung basiert, ist keineswegs zwingend. Als interkulturell Lehrende kann ich an diesem Optimismus festhalten oder angesichts der Vielzahl an Problemen die Frage nach dem Scheitern stellen.
1.5 B edingungen und M öglichkeiten interkultureller B ildung Zusammenfassend gesehen stellt sich interkulturelle Bildung als gewolltes Lernen im Spannungsfeld von stabilisierenden, transformierenden und kreativen Kräften dar, die im Individuum und in interpersonalen Beziehungen wirken. Überindividuelle Gesetzmäßigkeiten haben stabilisierende Wirkung, sie können aber auch individuelle Transformation fördern. Die Begegnung mit dem Fremden kann transformierende oder stabilisierende Wirkung haben. Sie kann sich als Glück oder Leid herausstellen. Die Transformation kann sich auf unterschiedliche Formen des Wissens beziehen (z.B. kognitiv oder leiblich). Das Kräfteverhältnis stabilisierender, transformierender und kreativer Kräfte ist nach den bisherigen Überlegungen auch als Machtverhältnis zu verstehen. Die Beurtei-
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lung der Wirkungen und Ergebnisse ist auf moralische Urteile oder auf optimistische Annahmen angewiesen. All dies sind Bedingungen der Möglichkeit interkultureller Bildung. Die meisten dieser Bedingungen sind weder von Lehrenden noch von Lernenden direkt beeinflussbar. Die im ersten Abschnitt behandelten Probleme, die sich aus der Praxis ableiten ließen, fasse ich anhand der behandelten Fragen nochmals zusammen: • • • • • • • • •
Was ist der Gegenstand interkulturellen Lehrens? Was ist das Ziel interkulturellen Lehrens? Welches Wissen kann interkulturelle Bildung vermitteln? Wer macht eine interkulturelle Erfahrung? Was passiert bei einer interkulturellen Erfahrung? Wie geht interkulturelles Lernen vor sich? Welche Wirkungen hat interkulturelles Lernen? Welche ethischen Voraussetzungen hat interkulturelles Lernen? Was ist interkulturelle Kompetenz?
Die oben gestellten Fragen leiten implizit das Handeln in der Praxis interkultureller Bildung. Sie sind offene Fragen, auf die viele Antworten möglich sind. Einerseits brauchen Praktiker/-innen Modelle und Ansätze, die in der Praxis ›funktionieren‹. Darüber hinaus suchen sie nach einem Grund in der ›Wirklichkeit‹, aus dem eine normative Begründung des Handelns in der interkulturellen Bildung ableitbar ist. Die Formulierung dieser Fragen ist eine Abstraktion dessen, was sich in der Praxis interkultureller Bildung in seiner vollen, undifferenzierten und unstrukturierten Komplexität realisiert. Die Unfähigkeit, mit dieser Komplexität angemessen umzugehen, habe ich in der Praxiserfahrung subjektiv und emotional als Erfahrung des Scheiterns bezeichnet. Der erste Abschnitt diente dazu, diese Praxis des Scheiterns durch verschiedene Abstraktions- und Strukturierungsschritte erfahrungsferner und damit verallgemeinerbar zu beschreiben. Mein Befund lautet: Die Praxis scheitert einerseits daran, aus der ›Wirklichkeit‹ ›richtige‹ Aussagen über Kultur, Interkulturalität und Lernen abzuleiten, um die Probleme der Interkulturalität und die Inhalte interkultureller Bildung zu definieren. Sie scheitert außerdem daran, aus den verschiedenen möglichen Inhalten, Ziele interkultureller Bildung abzuleiten, die widerspruchsfrei sind. Die Wirksamkeit der Praxis kann auf diesem Weg nicht erwiesen werden. Das Problem hat sich im Zuge die-
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ser Analyse von den Möglichkeiten zu den Bedingungen der Möglichkeiten interkulturellen Lehrens und Lernens verlagert. Die zentrale Bedingung der Möglichkeit interkultureller Bildung ist der Kulturbegriff. Er ist aus dem Interkulturalismus nicht wegzudenken. In diesem Zusammenhang ist die These von Hakan Gürses interessant, dass es zwar unzählige Definitionen des Kulturbegriffs gibt, jedoch »die Funktionen, die der Kulturbegriff in den letzten drei Jahrhunderten erfüllte, mehr oder weniger gleich und zählbar geblieben« sind (Gürses 2003, 17). Gürses hat aus seiner Sicht als interkulturell orientierter Philosoph Kultur in Bezug auf ihre epistemischen Funktionen hin genauer untersucht (Gürses 1998): Kultur nimmt erstens Differenz als a priori Kategorie an und erzeugt immer weitere Differenzen. Der Kulturbegriff entsteht zweitens aus der Dichotomie zwischen Natur und Kultur und bringt in sich weitere Dichotomien hervor. Und drittens basieren die Beschreibungen von Kultur auf der Vorstellung einer »sichtbaren Unsichtbarkeit«, die ein Widerspruch in sich ist. (ebd.). Die Bedeutung der Differenz für den Kulturbegriff insbesondere in der interkulturellen Bildung habe ich bereits an früherer Stelle beschrieben. Der Kulturbegriff zeigt Differenzen auf und bringt sie hervor. Kultur ist eine »differenzstiftende« Kategorie« (ebd., 41). Sogar differenzkritische Konzepte (z.B. Transkulturalität, Hybridität) sind insofern auf das Phänomen der Differenz bezogen, als sie es ablehnen. Auch in Bezug auf die Dichotomien ist Gürses zuzustimmen, wie die Beispiele aus der interkulturellen Kommunikationsforschung gezeigt haben. Der Kulturbegriff hat Gürses zufolge den ursprünglichen äußeren Gegensatz zwischen Natur und Kultur sozusagen »verinnerlicht«, Kultur sei der »ideale ›Ort‹ für Dichotomisierungen« (ebd., 42). Wo und wie sie entstehen, kann damit aber nicht erklärt werden. Dies leitet über zur dritten Funktion von Kultur, der »sichtbaren Unsichtbarkeit« (ebd., 51): Unter Bezug auf Horkheimer und Adornos Dialektik der Auf klärung erklärt Gürses, dass die Moderne die Vergleichbarkeit von »Ungleichnamigem« anstrebe. Sie erreiche dies durch eine Reduktion auf abstrakte Größen. Um den Menschen in seiner Vielfalt zu beschreiben, habe sich eine abstrakte Konfiguration als besonders erfolgreich erwiesen: »das Unsichtbare«. »So entstanden im 19. und im angehenden 20. Jahrhundert unter anderen drei Theorien, die das Unsichtbare zum Prinzip erhoben: Das ›Unbewußte‹ von Sig-
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mund FREUD, die ›Produktionsweise‹ von Karl MARX und die ›Synchronie‹ mit der Interdeterminierung von langue und parole bei Ferdinand DE SAUSSURE.« (Ebd., 52, Herv. i.O.)
Mithilfe der Konstruktion unsichtbarer, determinierender Kräfte könnten nun, führt Gürses weiter aus, Einzelphänomene vergleichbar gemacht werden. Die unsichtbaren Kräfte lägen aber auf einem anderen, höheren Abstraktionsniveau als die durch sie erklärten Phänomene und sie müssten demnach auch wissenschaftlich unterschiedlich behandelt werden. Im Zusammenhang mit der Behandlung kultureller Phänomene trete nun das Problem auf, dass diese Abstraktionsniveaus im Falle von Kultur nicht konsequent getrennt würden (ebd., 55). »Kultur wird auf ein und derselben Ebene gleichermaßen als sichtbares Phänomen und unsichtbare Instanz untersucht. Sie wird als eine Größe ins Spiel gebracht, die von ihrem unsichtbaren Olymp aus Handlungen, Sprache, Denken und sogar menschliche Körper durchdringt und determiniert. Der Nachweis und die Untersuchung dieser Unsichtbarkeit ist aber nur an sichtbaren Trägern möglich.« (Ebd., 55)
Dies nennt Gürses die Funktion der »sichtbaren Unsichtbarkeit« von Kultur. Seiner Meinung nach ergibt sich daraus eine paradoxe Gleichzeitigkeit. Kultur soll gleichzeitig sichtbar und unsichtbar sein. Phänomene, die im Zusammenhang mit Differenzen beobachtet werden, sind der sichtbare Teil von Kultur. Sie werden aber erst durch Kultur als unsichtbare Struktur erklärbar. Die unsichtbare Struktur wiederum kann nur aus den sichtbaren Trägern abgeleitet werden (ebd., 55). Darauf verweist er auch an anderer Stelle: »Kultur wird tautologisch als determinierende Instanz herangezogen, um kulturelle Phänomene zu erklären. Der für die Abgrenzung – Determination – notwendige ›externe‹ Gegensatz, wie bei Basis/Überbau, langue/parole oder unbewusst/bewusst, fehlt dem Kulturbegriff.« (Gürses 2003, 26, Herv. i.O.) Weil auf beiden Seiten der Erklärung Kultur steht, ergäbe sich ein »Holismus« (Gürses 1998, 56) bzw. eine Tautologie im modernen Denken von Kultur. Die Tautologie gelte auch für den Konstruktivismus. (Gürses 2003, 26ff.). Das bedeutet zum Beispiel, dass die Aussage, der Körper sei kulturell konstruiert, selbst wieder eine kulturelle Konstruktion darstellt. Kultur ist das »Quasi-Subjekt«
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dieses Konstruktionsprozesses (ebd., 27, Herv. SA) und es schließt sich die Frage an, ob es überhaupt etwas außerhalb dieses Prozesses gibt. Damit ist auch die Schwierigkeit erklärbar, die in der Kritik am Kulturbegriff auftritt. In den mit großem Engagement geführten Debatten um den Kulturbegriff – mag er als zu eng oder zu westlich kritisiert werden – und allen Vorschlägen zu seiner Modifikation oder Auflösung wird ein holistisches Konzept neben das andere gestellt. Jedes ist in sich selbst begründet und kann nicht an einem Außenstandpunkt überprüft werden. Keines der Konzepte beantwortet die Frage, woher wir wissen, dass es das Quasi-Subjekt Kultur gibt. Der Erfolg des Interkulturalismus liegt insbesondere in der Fähigkeit begründet, die sichtbare Unsichtbarkeit in einleuchtenden, erfahrungsnahen Modellen darzustellen. Dadurch wird das Unbehagen beruhigt, das durch die offenen Fragen ausgelöst wird. Durch das Eisbergmodell zum Beispiel werden eigene kulturelle Erfahrungen mit denen anderer Menschen auf einer bestimmten Abstraktionsebene vergleichbar. Wir alle haben eine solche Tiefenstruktur, so die Botschaft. Diese Vergleichbarkeit des Differenten funktioniert als Entlastung. Das verleitet zu der Annahme, dass durch das Sichtbarmachen der unsichtbaren Tiefenstruktur auch die Determination durch das je spezifische, kulturelle Denken aufgelöst werden kann. Gleichzeitig muss ich aber davon ausgehen, dass dieses Modell von Kultur ebenso durch eine unsichtbare Struktur determiniert ist, wie alle anderen sichtbaren kulturellen Phänomene. Dies führt in einen unendlichen Regress. Das bedeutet, dass damit jeweils ein bestimmtes Modell von Kultur seine eigenen Denkvoraussetzungen unsichtbar macht und weder bestätigt noch widerlegt werden kann. Jedes Modell von Kultur gibt bestimmte Möglichkeiten vor, über Kultur nachzudenken, und schließt andere aus. Interkulturelle Bildung behauptet aber, dass es möglich ist, anders zu denken oder Anderes zu denken – also interkulturell zu lernen. Die Fähigkeit, außerhalb der eigenen Denkmodelle zu denken, soll gefördert werden. Damit ist ein Wechsel zwischen verschiedenen kulturellen Referenzrahmen gemeint. Aus den Überlegungen in diesem Abschnitt ergibt sich aber die Notwendigkeit, nach der Möglichkeit zu fragen, das Denken über Kultur überhaupt von seinen Bedingungen zu lösen und Kultur anders als differenzorientiert, dualistisch, sichtbar-unsichtbar und holistisch zu denken.
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Ein erster Schritt besteht darin, die Fragestellungen anders zu formulieren: • Was bedeutet anders Denken und Anderes denken? • Welche Grundannahmen liegen den gedanklichen Konzepten von interkultureller Bildung zugrunde? • Was wird aus dem Diskurs der interkulturellen Bildung ausgeschlossen? • Wie kann Denken verändert werden? Wie kann Kultur verändert werden? • Gibt es ein interkulturelles Lernen ohne Interkulturalismus? • Was soll in einem anderen Ansatz interkulturellen Bildung gelehrt und gelernt werden? Diese Fragen werden für die kommenden Abschnitte als Leitfragen dienen. Will man also weder rein pragmatisch vorgehen und den Kulturbegriff an die jeweils vorherrschenden Ziele und Bedürfnisse zum Beispiel eines Staates oder einer Organisation anpassen, noch die Begriffe Kultur und Interkulturalität auflösen oder gänzlich über Bord werfen, aber eben so wenig in einem unendlichen Regress gefangen sein, so bleibt nur der Weg der (Selbst-)Reflexivität. Ich kann keinen Anspruch erheben, die Frage zu beantworten, was Kultur ist. Daher muss ich mich damit zufrieden geben, zu beschreiben, wie es ist, interkulturelle Bildung zu betreiben – wohl wissend, dass die Selbstreflexion immer zu spät kommt. Sie ist dennoch angesichts des bisherigen Befunds ein vertretbarer Erkenntnisweg, wenn das Scheitern nicht ausgeschlossen, sondern einbezogen wird. Die Beschäftigung mit dem Scheitern gibt die Richtung zu einer (selbst-)kritischen Reflexion vor. Bei Gürses heißt es über die Aufgabe von Kritik: »Eine Kritik schafft […] ihren Gegenstand keineswegs ab – im Gegenteil: Kritik scheidet das Kritisierte von einem oder einigen seiner Bestandteile. Was danach ›übrig bleibt‹, ist letztendlich auch das, womit der Terminus neu aufgefüllt werden kann.« (Gürses 2003, 29) Der Anspruch dieser Arbeit besteht darin, im Wege der Selbstreflexion über das Scheitern einige »Bestandteile« interkultureller Bildung, die sich für die Praxis als problematisch erwiesen haben, zu »scheiden«. Wenn dies gelingt, kann das, was danach übrig bleibt, mit neuen Inhalten und Zielen für interkulturelle Bildung aufgefüllt werden. Die Aufgabe dieses Textes besteht darin, den Gedankenweg, der zur Formulierung anderer Ziele führt, transparent zu machen.
2. Der Ansatz
Der nächste Abschnitt will an der Frage ansetzen: Was bedeutet anders Denken und Anderes denken? Lässt sich auch interkulturelle Bildung anders denken? Die Hypothese, dass die Orientierung am Scheitern einen Unterschied machen kann, soll in eine Vorgangsweise übersetzt werden. Wenn wir davon ausgehen, dass Denken kulturell ist, ist auch das Denken über Kultur kulturell. Wie ist es dann möglich, über Kultur interkulturelle Aussagen zu treffen? Oder anders gefragt: Gibt es überhaupt interkulturelle Aussagen? Gibt es einen Ort des Denkens und Sprechens außerhalb von Kultur? Ich kehre damit zum Problem der Rückbezüglichkeit und zur Suche nach dem archimedischen Punkt zurück. Da ich dessen Existenz schon zu Beginn ausgeschlossen habe, bleibt noch die Möglichkeit, mit Paul Watzlawick zu fragen: Könnte ich mich wie der Baron von Münchhausen an meinem eigenen Zopf selbst aus dem Sumpf ziehen? (Watzlawick 2008) Ist es möglich, sich aus eigener Kraft aus der Gefangenschaft der Rückbezüglichkeit des eigenen Denkens zu befreien? Wer in seinem eigenen Weltbild gefangen ist, so der Konstruktivist Watzlawick, spielt »was wir in der Kommunikationsforschung ein Spiel ohne Ende nennen, d.h. ein Spiel, das keine Regel für die Änderung seiner eigenen Regeln oder für seine Beendigung hat« (ebd., 170). Alles Bemühen des Interkulturalismus dreht sich um das Erkennen, Verstehen, Ändern, Aushandeln bzw. Beenden der kulturellen Spielregeln. Vorausgesetzt wird, dass es Spielregeln gibt. Eine solche, Wirklichkeit schaffende Prämisse liege allerdings immer im blinden Fleck des Denkens. Die Prämisse jeder wissenschaftlichen Erkenntnis (und damit auch jeder wissenschaftlichen Erkenntnis über Erkenntnismöglichkeiten) bestehe in der Annahme, dass »die Welt eine feste, endgültige Ordnung hat und daß sich diese Ordnung uns erschließt, wenn wir nur die rechten Fragen stellen. Diese Annahme aber ist eine petitio principii, denn sie nimmt als gegeben vorweg, was
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durch sie erst bewiesen werden soll« (ebd., 171). Watzlawick meint, es sei möglich, aus diesem Spiel auszusteigen, wenn es gelingt, die Prämisse aufzugeben. »Wie lange müssen wir alle fehlgehen, bis wir schließlich nicht noch mehr desselben tun, in der Annahme, daß dieses Tun die einzig mögliche Alternative ist, sondern die Annahme selbst in Frage stellen? Wie lange müssen wir vergeblich suchen, bis wir nicht mehr glauben, noch nicht an der richtigen Stelle gesucht zu haben, sondern uns fragen, ob es das Gesuchte überhaupt gibt?« (Ebd., 189)
Am Ende der Problembeschreibung stellt sich erneut eine Erfahrung des Scheiterns ein. Die Suche nach der Möglichkeit von Erkenntnis über Kultur und interkulturelle Bildung stellt sich als vergeblich dar. Gibt es diese überhaupt? Muss ich mein Vorhaben hier abbrechen? Ist es gescheitert? Das Problem besteht darin, die Prämisse zu erkennen, die aufgegeben werden muss. Meine Prämisse besteht darin, dass Kultur eine das Denken ordnende Macht ist und jedes Denken kulturell. Wie ist es möglich, zu denken, dass Kultur mehr ist als eine Ordnung, die mein Denken diszipliniert? Das Problem der Kulturanalyse deckt sich mit jenem der Dispositivanalyse. Die Schwierigkeit und den Ausweg beschreibt Gabriele Sorgo: »Das große Problem für Dispositvanalysen stellt der Umstand dar, dass kein Forscher und keine Forscherin sich außerhalb des Dispositivs befinden. Was zur Verfügung steht, sind nur Methoden der bewussten Entfremdung von den eigenen Praktiken und Denkstilen.« (Sorgo 2011b, 123) An dieser Stelle erinnere ich an die Frage: »Kann ein Dispositiv verändert werden?« Einerseits verändert sich ein Dispositiv ständig von innen heraus, weil es ebenso performativ ist wie die Macht. Andererseits ist es, so Sorgo, notwendig und auch möglich, sich aus einem Dispositiv hinaus zu bewegen und von dort aus Veränderungen anzustoßen. »Kultur ist mehr« als ein Dispositiv, so Sorgo (ebd., 123f.). Hier lässt sich eine Brücke schlagen zu Michel de Certeau. In seiner Untersuchung der Kunst des Handelns (de Certeau 1988) will der französische Historiker »Kombinationsmöglichkeiten von Handlungsweisen herausarbeiten, die auch (aber nicht ausschließlich) zur Bildung einer ›Kultur‹ führen« (ebd., 12, Herv. i.O). Er bezieht sich auf den Ansatz von Foucault und hält diesem entgegen, dass die Überbewertung der disziplinierenden Ordnung der Dispositive dazu führt, dass übersehen wird, »wie es
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einer ganzen Gesellschaft gelingt, sich nicht darauf reduzieren zu lassen« (ebd., 16). Es gehe darum, »die untergründigen Formen ans Licht zu bringen, welche die zersplitterte, taktische und bastelnde Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt, die heute von der ›Überwachung‹ betroffen sind« (ebd., 16). Als Beispiel nennt er die Konsumenten und Konsumentinnen. Sie seien zwar eine gesellschaftliche Mehrheit, die aber durch das Konsumdispositiv in eine »massenhafte Marginalität« gedrängt wird (ebd., 20). Ihr Handeln lasse sich nicht völlig disziplinieren. »Diese Praktiken und Listen von Konsumenten bilden letztlich das Netz einer Antidisziplin« (ebd., 16). An Foucault richtet de Certeau die Frage, wie »die bevorzugte Entwicklung« bestimmter Dispositive zu erklären sei (ebd., 109). Um eine Archäologie der Humanwissenschaften zu beginnen, sei »eine Selektion in der Gesamtheit der Prozeduren vorzunehmen«. Eine solche schließe »die vielen anderen Reihen, die stillschweigend ihrer Wege gehen und es weder zu einer diskursiven Konfiguration noch zu einer technologischen Systematisierung gebracht haben«, aus (ebd., 108f.). Diese »könnten als eine gewaltige Reserve betrachtet werden, die Ansätze oder Hinweise auf differente Entwicklungen enthält« (ebd., 108f.). Ich denke, dass Sorgo dasselbe Phänomen meint, wenn sie von kulturellen »Residuen mit dem Potenzial zur Veränderung« spricht. (Sorgo 2011b, 124). De Certeau meint weiter: »Eine Gesellschaft wäre somit aus bestimmten herausragenden Praktiken, die ihre normativen Institutionen organisieren, und aus zahllosen anderen Praktiken zusammengesetzt, die ›klein‹, ›minoritär‹, geblieben sind, die (auch wenn sie keinen Diskurs organisieren) da sind und die ersten Sprößlinge oder Reste von differenten (institutionellen oder wissenschaftlichen) Hypothesen für diese oder für andere Gesellschaften enthalten.« (de Certeau 1988, 109f.)
Er schließt, dass die Betrachtung der Kräfteverhältnisse zwischen herausragenden und minoritären Praktiken zu einer »kriegswissenschaftlichen Analyse der Kultur« führen müsse (ebd., 20). Er bedient sich für die Analyse kultureller Alltagspraktiken der Begriffe Strategien und Taktiken. Eine Strategie ist eine »Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt […] von einer ›Umgebung‹ abgelöst werden kann« (ebd., 23). Die Trennung von der Umwelt bedeutet, dass das Subjekt in der Lage ist, (s)einen Platz zu besetzen. Strategie bedeutet, ein Subjekt könne von
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einem Ort aus, der als »etwas Eigenes umschrieben werden kann« (ebd., 23), die Beziehungen zur Außenwelt organisieren. Eine Forschungsstrategie setzt zum Beispiel einen Ort (eine Institution) voraus, von der aus man sich mit einem Forschungsgegenstand beschäftigt. Die Taktik sei dem gegenüber »ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen.« (Ebd., 23) Weil die Taktik »keinen Ort hat«, von dem aus sie planen könnte, müsse sie immer darauf aus sein, »günstige Gelegenheiten« zu ergreifen und als Schwacher »aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind« (ebd., 23). Als Beispiel für taktisches Handeln nennt de Certeau das Einkaufen für die Zubereitung eines Essens, bei dem eine Hausfrau eine Entscheidung aus einer Kombination von fremdartigen Gegebenheiten wie den Angeboten, den Vorräten zu Hause und den Geschmäckern der Gäste fällt. Auch Dispositive sind ein Topos, ein Ort. Sie sind eine strategische Kategorie (Kammler et al. 2008, 239). So wie ich de Certeau lese, besteht aber innerhalb der disziplinierenden Ordnung der Dispositive ein Netz der »Antidisziplin« aus minoritären Praktiken. Es gibt eine bastelnde Kreativität, die nicht völlig durch den Kontext des Dispositivs bestimmt ist und sich taktisch verhält. Mithilfe dieser Denkansätze lässt sich nun der Umkämpftheit der Interkulturalität Rechnung tragen, ohne dabei die Ordnung der Diskurse und die Dispositive absolut zu setzen. Die Unterscheidung zwischen Taktiken und Strategien ermöglicht es, neben den diskursiven Praktiken und ihrer inter- und transdiskursiven Ordnung in Dispositiven noch andere Praktiken wahrzunehmen. Diese stumme Reserve von nicht kohärenten, verstreuten Praktiken, von Taktiken und Finten haben keinen Ort. Die interkulturelle Forderung nach der Ortlosigkeit stellt sich damit als eine Strategie dar, die zu ihrer Formulierung bereits einen Ort voraussetzt. Der Interkulturalismus ist strategisch orientiert. Die interkulturelle Bildung bewegt sich innerhalb der disziplinierenden Ordnung der Dispositive. Sie ist verortet in Institutionen der Forschung und der Lehre. Die »ersten Sprößlinge oder Reste von differenten (institutionellen oder wissenschaftlichen) Hypothesen« – das Andere, das Neue – existiert aber in Form ortloser Praktiken und Taktiken. Das Problem der Forscherin im Feld der Interkulturalität, die die Möglichkeiten, das Andere zu denken, erforschen will, besteht dann darin, Taktiken zu finden, die
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als »Methoden der bewussten Entfremdung von den eigenen Praktiken und Denkstilen« dienen können. Mein erster Entfremdungsschritt besteht darin, die subjektive Erfahrung des Scheiterns als Ausgangspunkt meiner Suche zu nehmen. Ich habe beschlossen, mich nicht am idealen Endpunkt zu orientieren, sondern einen Ausgangspunkt festzulegen. Das Leben stellt nun die Möglichkeit eines spielerischen ›Tricks‹ zur Verfügung, dessen ich mich in Anlehnung an Baron von Münchhausen bedienen möchte. Der Trick besteht in der Erschaffung einer ›Als-ob-Wirklichkeit‹, die es mir erlaubt, mich von meinen eigenen Praktiken zu entfremden. Ich werde keine Forschungsstrategie entwickeln, sondern taktisch Gelegenheiten ergreifen und versuchen, daraus Kräfte zu ziehen. Ich greife dazu auf ein kulturelles Residuum zurück, das sich als Praktik innerhalb des Netzes der herrschenden Dispositive erhalten hat. Es ist eben genau das Spiel. Es ist das Spiel, in dem der Kulturhistoriker Johan Huizinga sogar den Ursprung von Kultur sieht (Huizinga 2009). Das freie Spiel ist nicht strategisch, sondern es nützt – taktisch – die Möglichkeiten, die ihm das Leben bietet. Dennoch ist es eine »sinnvolle Funktion« (ebd., 9). Kinder, die ins Spiel vertieft sind, leben gleichzeitig in ihrer ›realen‹ Wirklichkeit und in ihrer gespielten ›Als-ob-Wirklichkeit‹. Das kleine Mädchen weiß, dass es ein kleines Mädchen ist, und kann dennoch gleichzeitig im Spiel mit der Puppe der Vater sein. Das Kind übernimmt die bekannte Form ›Vater‹ und erweckt sie im Spiel zu einem gespielten ›Als-ob-Leben‹, das nicht mit dem des realen Vaters identisch ist, aber auch nicht von ihm getrennt existiert. Dabei lernt das Kind sich selbst und die Wirklichkeit, in der es lebt, kennen. Das Theaterspiel ist zum Beispiel eine Spielform, die es erlaubt, gleichzeitig örtlich (auf der realen Bühne) und ortlos (in der Realität des Spiels) präsent zu sein. Die Formen des freien Spiels sind frei gewählt und seine Regeln sind nicht im Vorhinein festgelegt. Sie entstehen im Laufe des Spiels. Das Spiel besteht auch losgelöst von den großen Dichotomien. Es liegt, so Huizinga, »außerhalb der Disjunktion Weisheit – Torheit, es liegt aber auch ebensogut außerhalb der von Wahrheit und Unwahrheit und der von Gut und Böse« (Huizinga 2009, 15). Auch wenn es biologisch zum Beispiel zur Entspannung dienen kann, würde nach Huizinga eine Reduktion des Spiels auf eine reine biologische Zweckmäßigkeit dem Phänomen nicht gerecht werden. Er will das Spiel als eine »unbedingt primäre[n] Lebenskategorie« (ebd., 11) beschreiben. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Spuren des Spiels im Kult, im Recht, im Krieg,
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im Sport, in der Dichtung und in der Philosophie nachzuzeichnen, wie dies Huizinga tut. Aber alle diese kulturellen Formen gehen nach Huizinga auf die Form des Spiels zurück. »Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also […] eine freie Handlung nennen, die als ›nicht so gemeint‹ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem die Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eignes bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft.« (Ebd., 22)
Die Vorstellung einer absoluten »Motiv-Reinheit« und »Zweckfreiheit« geht wohl zu weit (Popitz 2000, 58). Innerhalb eines Spiels können wohl Interessen verfolgt werden, wie im Wettkampf, aber »nur der spielt, für den das Spiel auch eine Erfüllung in sich selbst ist« (ebd., 58). Inwiefern kann das Spiel nun zur Lösung des Problems der Möglichkeit des anderen Denkens beitragen? Gedankenexperimente, die mit fiktiven Annahmen arbeiten und diese auf ihre logischen Konsequenzen hin überprüfen, seien, so Watzlawick, in der Mathematik völlig problemlos anerkannt (Watzlawick 2008, 107). In der Psychotherapie könne man diese Problemlösungstechnik in Anlehnung an die Philosophie des Als ob von Hans Vaihinger als »Psychotherapie des Als ob« (ebd., 135) bezeichnen. Die Einführung einer Fiktion, die bewusst keinen Anspruch auf Wirklichkeit erhebt, könne einen praktischen Wandel herbeiführen, um dann ihre Bedeutung wieder zu verlieren. Zur Illustration erzählt Watzlawick eine orientalische Parabel: »Ein Vater hat angeordnet, daß die Hälfte seiner Hinterlassenschaft an den ältesten Sohn gehe, ein Drittel an den zweiten und ein Neuntel an den jüngsten. Die Erbmasse besteht aber aus 17 Kamelen, und wie die Söhne nach seinem Tode das Problem auch drehen und wenden, sie finden keine Lösung, außer der Zerstückelung einiger Tiere. Ein Mullah, ein Wanderprediger, kommt dahergeritten, und sie fragen ihn um seinen Rat. Dieser sagt: ›Hier – ich gebe mein Kamel zu den euren dazu; das macht 18. Du, der Älteste bekommst, die Hälfte, also neun. Du, der Zweitälteste, bekommt ein Drittel, das macht sechs. – Auf dich, den Jüngsten, fällt ein Neuntel, also zwei Kamele. Das macht zusammen 17 Kamele und läßt eines übrig, nämlich meines.‹ Sagt’s, steigt auf und reitet davon.« (Ebd., 134)
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Die vorläufige Einführung einer Ebene, die bewusst keinen Anspruch auf Wirklichkeit erhebt, stellt einen Ausweg auch für das Problem des anders Denkens von Kultur in Aussicht. Die Annahme, dass jeder Mensch ein kulturelles Wesen ist, ist etwas, das mich gefangen hält. Es gibt, so Eagleton, »die latente Metapher von der Kultur als einer Art von Gefängnis« (Eagleton 2009, 135). Der Trick oder die Taktik, um sich aus diesem gedachten Gefängnis zu befreien, besteht darin, eine zusätzliche Ebene einzuführen. Auf dieser zusätzlichen Ebene ist es möglich, interkulturelle Bildung als ein freies Spiel zu betrachten und neue Spielvarianten gedanklich durchzuspielen. Ich wähle das Gedankenspiel, weil sich dadurch – so die Annahme – Gelegenheiten bieten werden, das Phänomen anders, neu zu denken. Der Trick enthält vier forschungsrelevante Elemente, die die Bedingungen für das Denken verändern. Erstens nehme ich damit zwei Realitätsebenen als gegeben an. Es gibt also keine Gefangenschaft in einer einzigen Realität und es ist möglich, aus der eigenen Realität bis zu einem gewissen Grad herauszutreten. Zweitens ist es möglich, das Spiel, von dem ich spreche, jederzeit zu beenden, sonst wäre es kein Spiel, sondern Realität. Spieler/-innen können zwischen der gespielten Realität und der gelebten Realität wechseln. Sie sind auch nicht zur unendlichen Suche nach dem richtigen Ende verdammt. Drittens können Spieler/-innen ihre Inhalte und Regeln frei wählen. Es steht ihnen zwar nur ein begrenztes Repertoire zur Verfügung, aber sie sind keineswegs determiniert. Spieler/-innen sind weder vollkommen frei, quasi göttlich, noch sind sie Marionetten, die an unsichtbaren Fäden hängen. Ich muss also bei der Betrachtung keine unsichtbaren QuasiSubjekte mitdenken, die die Fäden ziehen. Viertens erlaubt die (relative) Zweckfreiheit des Spiels den Spieler/-innen das folgenlose Scheitern. Das Scheitern im Spiel und das Scheitern des Spiels muss daher nicht verhindert werden. Dadurch erweitern sich die Handlungsoptionen. Damit stelle ich den homo ludens (Huizinga 2009) in den Mittelpunkt meiner Arbeit und nicht den homo sapiens oder homo faber. Johan Huizinga hat auf die kulturstiftende Funktion des Spiels aufmerksam gemacht. Wenn der homo ludens kulturschaffend ist, dann kann er als solcher auch kulturverändernd sein. Ich werde sowohl interkulturelle Bildung als auch das forschende Denken darüber als Praktiken des homo ludens behandeln. Ausgehend vom Problem des Scheiterns werde ich zwei Spielvarianten interkultureller Bildung entwickeln. Es geht dabei nicht darum, ob eine dieser Spielvarianten die ›wirklichere Wirklichkeit‹ darstellt, sondern da-
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rum, sie auf ihre Auswirkungen hin zu prüfen. Es soll sich nach dieser Arbeit feststellen lassen, ob das subjektive Gefühl des Scheiterns auf diese Weise verändert werden konnte. Könnte es sein, dass das Scheitern gar nicht notwendig ist? Kann es sein, dass wir keine neuen Begriffe, wie »Fuzzy culture« (Bolten 2011), »Hyperkultur« (Han 2005), »Transdifferenz« (Allolio-Näcke et al. 2005) oder »Kompetenzlosigkeitskompetenz« (Mecheril 2008), brauchen, weil uns eine jahrtausendealte soziale Technik – das Spielen – zur Verfügung steht, mit der wir problemlos den Umgang mit der Interkulturalität bewältigen können?
2.1 I nterkulturelle B ildung als S piel der H eilung Der Interkulturalismus im weiten Sinn, also in der Spielvariante, die ich bisher beschrieben habe, sieht Interkultur als herstellbar an. Die Grundspielregel lautet, dass es ein Happy End geben soll. Das Problem des Interkulturalismus im weiten Sinn ist die Differenz. Differenzen können demnach Widersprüche innerhalb von Individuen, zwischen diesen und zwischen Kollektiven hervorrufen. Der Gegenwart von Widersprüchen steht ein Anspruch auf Auflösung gegenüber. An diesen Widersprüchen leiden die Menschen – mehr oder weniger beziehungsweise ab einem gewissen Grad der Spannung. Der Interkulturalismus sieht die Lösung nicht in der Beseitigung von Differenzen und Widersprüchen, sondern in der Vermeidung des Leidens daran. Die gewollte Interkulturalität ist ein Zustand, in dem man ›mit Differenzen‹, ›mit Vielfalt‹ oder auch ›mit Hybridität‹ leben kann, ohne zu leiden. Das Leiden besteht darin, dass ein Mensch in seinem Weltbild gefangen ist. Er macht Wahrnehmungen, die die Spielregeln in Frage stellen und eine Überprüfung oder Änderung der Spielregeln, also eine Veränderung, erfordern. Man soll Differenzen und andere Spielregeln akzeptieren und könne dann daraus sogar Vorteile ziehen. Dann seien sie auch der Schlüssel zu kreativem Handeln. Die Voraussetzung für das Leben ›mit der Vielfalt‹ ist eine Veränderung des eigenen kulturellen Referenzrahmens. Der Schwachpunkt dieser Idee besteht darin, dass sich keine Regelmäßigkeiten nachzeichnen lassen, die zu den gewünschten positiven Ergebnissen führen. Die Begegnung mit der Vielfalt kann bei Menschen ebenso Kreativität wie auch vollständige Abgrenzung oder Identitätsverslust auslösen. Doch das bedeutet aus der Sicht des Interkulturalis-
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mus nur, dass noch nicht genug Anstrengungen unternommen wurden. Die Möglichkeit des Happy End, der glücklichen Vereinigung trotz aller Unterschiedlichkeit, ist die Voraussetzung des Interkulturalismus. Wobei für den Interkulturalismus im weiten Sinn gute Lösungen auch eine Einigung über die Existenz von unüberbrückbaren Differenzen oder ein konfliktfreier Trennungsmodus wären. Das Spiel mit Happy End stellt auf das Grundmodell einer modernen, partnerschaftlichen, gleichberechtigten Beziehung ab. Die Spieler/-innen können sich aus eigener Kraft für eine Einigung entscheiden, die im gegenseitigen Interesse ist oder zumindest so dargestellt werden kann. Wer sich in einem Fall als Verlierer/-in fühlt, hat in dieser Spielanordnung immer die prinzipielle Chance auf einen Ausgleich. Die Differenzen können durch die Arbeit an inneren Einstellungen bewältigt oder durch die Entwicklung neuer Kompetenzen überwunden werden. Interkulturalisten/Interkulturalistinnen nehmen hier die Rolle von Beziehungscoaches oder -therapeuten/-therapeutinnen ein. Die Aufklärung und die Psychoanalyse stellen mit dem Ideal der Selbstaufklärung und mit dem Unbewussten die Formen zur Verfügung, mit denen gespielt werden kann. Eine andere Spielart desselben Themas wäre das Spiel der Erlösung. Auch hier gibt es ein glückliches Ende, eine Befreiung vom Leiden an der Unterschiedlichkeit. Das Erlösungsspiel orientiert sich eher am vormodernen, religiösen Denken. In der christlichen Spielvariante ist die Differenz ein Zustand der Trennung, dem ein paradiesischer Zustand der Einheit vorausgegangen sein muss. Die Trennung hat im Sündenfall stattgefunden, in dem Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Dieses Leiden kann nur Gott beenden, indem er die Menschen von der Sünde erlöst, wenn sie bereuen, und sie in ihren früheren paradiesischen Zustand zurückführt. Interkulturelle Ideale wie Toleranz oder Gewaltlosigkeit stehen in direkter Nähe zu christlichen moralischen Vorschriften. Ein Interkulturalist/eine Interkulturalistin hätte in diesem Spiel die Rolle des Beichtvaters, der Fehlverhalten aufdeckt und Erlösung verspricht. Ein erleichternder Effekt wie in der Beichte tritt zum Beispiel ein, wenn ein bestimmtes Fehlverhalten durch unsichtbare kulturelle Determination erklärt werden kann. Wenn der Mensch dann die Bereitschaft zur Veränderung zeigt, kann ihm getrost die ›Erlösung‹ in Aussicht gestellt werden. Beide Varianten gemeinsam könnte man als Spiel der Heilung bezeichnen. Die Differenz löst ein seelisches Leiden aus, das geheilt werden kann. Heil werden heißt wieder ganz werden. Sowohl aus therapeutisch-
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medizinischer als auch aus seelsorgerischer Sicht kommt daher der Vorbeugung und Vermeidung große Bedeutung zu. Interkulturelle Bildung muss in diesem Spiel den Menschen helfen, zukünftiges Leiden durch Einsicht und entsprechendes Wohlverhalten zu vermeiden. Hier kommt es auf Aufklärung durch die Verbreitung von Wissen und auf die Motivation durch die richtigen Ziele an. Damit ist die Überzeugung verbunden, dass sich die Menschen rational oder moralisch steuern lassen und so ein schrittweiser Fortschritt der gesamten Menschheit erzielt werden kann.
2.2 I nterkulturelle B ildung als S piel des S cheiterns Die vorliegende Arbeit hat das Scheitern als Ausgangspunkt festgesetzt. In einem Spiel des Scheiterns folgt interkulturelle Bildung der Spielregel, dass es gilt, das Scheitern ernst zu nehmen und seiner Spur zu folgen. Im Zentrum des Spiels stehen nicht die Differenzen, ihre Beschreibungen und die Spannungen, die sie erzeugen, sondern Erfahrungen des Scheiterns. Die Aufgabe besteht darin, sich des Scheiterns anzunehmen, und das bedeutet auch, das Leiden, zu dem das Scheitern führt, anzunehmen. Ich möchte hier einen Begriff des Scheiterns verwenden, der seine Grenze im Leiden findet. Ich folge einem Menschenbild von D.W. Winnicot, auf den ich später noch zurückkommen werde. Der Psychoanalytiker Winnicot beschäftigte sich mit Menschen, die wir als gescheitert bezeichnen würden, weil ihre Vorstellung von der Realität nicht mit der sozial anerkannten Realität in Einklang gebracht werden kann. Sein Menschenbild lässt sich anhand von Extrembeispielen veranschaulichen: Menschen, die unterdrückt wurden, in Konzentrationslagern gefangen gehalten oder politisch verfolgt wurden. Er verweist darauf, dass es nur wenigen solcher Opfer gelänge, kreativ zu bleiben. »Natürlich sind das diejenigen, die leiden […]. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob alle anderen, die in solchen pathologischen Gemeinschaften existieren (man kann wohl nicht sagen ›leben‹), alle Hoffnung soweit aufgegeben haben, daß sie nicht länger leiden; sie schienen das Wesentliche, das sie zu Menschen macht, verloren zu haben, so daß sie die Welt nicht länger kreativ erleben.« (Winnicot 2010, 81)
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Wer die Fähigkeit, an der Realität zu leiden, verliert, verliert nach Winnicot etwas, das menschliches Leben über das reine Existieren hinaus hebt. Das Leiden setzt einen Funken Hoffnung voraus. Die Hoffnung bezieht sich darauf, die Realität Kraft eigener Kreativität lebenswert gestalten zu können. Es ist kein absoluter, sondern ein relationaler Begriff des Scheiterns. Das Scheitern ist der Moment, in dem die soziale Realität und die subjektiven Vorstellungen dieser Realität nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Das Gefühl des Scheiterns setzt voraus, dass die Person eine Differenz, einen Widerspruch zwischen sozialer und subjektiver Realität erkennen kann1. Dazu muss die Existenz der subjektiven Realität anerkannt werden. Wenn die subjektive Realität durch Anpassung an die soziale Realität völlig ausgelöscht ist, liegt kein subjektives Gefühl des Scheiterns mehr vor. Das wäre der Fall einer erfolgreichen Gehirnwäsche. Umgekehrt könnte das Scheitern nicht als solches erlebt werden, würde die soziale Realität überhaupt nicht anerkannt. Dieser Zustand wäre als in sich geschlossener Wahn(sinn) zu bezeichnen. Von Scheitern ist meines Erachtens sinnvoll nur dann zu sprechen, wenn ein Widerspruch zwischen äußerer und innerer Realität erlebt wird. Das zeigt sich daran, dass es ein Leiden gibt. Das Leiden wiederum setzt die Hoffnung voraus, dass die subjektive Realität kreativ gestaltend nach außen wirksam werden kann. Gleichzeitig steht dabei aber auch nicht weniger als der Verlust der eigenen Realität auf dem Spiel. Es geht hier nicht um einen Ausgleich zwischen den beiden Realitäten, keine Einigung auf einer Metaebene, auch nicht um Erlösung oder Heilung durch eine übergeordnete Instanz, sondern um Veränderung in Relation mit anderen. Das Scheitern und das Leiden sind also insofern Ausdruck von Kreativität als sie den Keim von Veränderung in sich tragen. Am deutlichsten zeigt sich dies im Falle einer revolutionären Idee. Wenn sie sich verbreitet, verschieben sich die Kräfteverhältnisse und eine neue soziale Realität setzt sich durch, womit nun andere Menschen oder Menschengruppen zu scheitern drohen und leiden. Genauso gut kann die Idee aber unterdrückt werden und nur mehr als subjektive Hoffnung weiterleben. In diesem Spiel gibt es kein Happy End, sondern dauernde Kreationen und Zerstörungen, dauernde Veränderung. Jede noch so partnerschaft1 | Eine interessante Abweichung von der Fähigkeit, einen getrennten subjektiven Innenraums zu erleben, beschreibt Monica Greco in Homo Vacuus. Alexithymie und das neoliberale Gebot des Selbstseins (Greco 2000).
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lich ausgehandelte oder autoritär abgesicherte Einigkeit, die verspricht, die Menschen von diesem Leiden zu erlösen, grenzt auch die kulturelle Lebendigkeit ein. Das Spiel der Heilung behauptet, es gäbe einen kreativen Interkulturalismus ohne Leiden. Die anzustrebende Veränderung und der Fortschritt bestünden gerade in der Heilung vom Leiden. Das Scheitern sei das Gegenteil von Fortschritt und daher zu vermeiden. Dabei zerstört dieses Spiel eine Quelle der Kreativität und Veränderung. Ein Interkulturalismus des Scheiterns, der sich an den Leidenserfahrungen von Betroffenen orientiert, könnte – so die Hypothese im Spiel des Scheiterns – zum Kern des kulturellen Prozesses führen. Nun ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass beide Varianten interkultureller Bildung Spielvarianten sind und nicht eine davon die ›wirklichere Wirklichkeit‹ darstellt. Der Wunsch nach Erlösung vom Leiden ist ebenso nachvollziehbar wie die Konfrontation damit. Es sind durchaus noch viele weitere Spielvarianten denkbar, die hier nicht berücksichtigt werden. Das Wesentliche am Trick, den ich anwenden möchte, besteht darin, dass er daran erinnert, dass die Spieler/-innen, also jeder/jede selbst als Akteur/-in interkultureller Bildung, frei ist, das Spiel zu gestalten, aus vielen Varianten auszuwählen und neue hinzuzufügen. Er befreit aus dem Determinismus den man sich auferlegt, wenn man an der Prämisse einer ganzen Wirklichkeit oder einer ganzen Ordnung festhält. Ich greife diese Möglichkeit auf und werde in den nächsten Kapiteln einen Interkulturalismus des Scheiterns gedanklich durchspielen. Die Leserin/der Leser ist eingeladen, sich auf dieses Spiel einzulassen und die Wirkung dieser Idee auf das eigene Denken an sich selbst zu überprüfen. Insbesondere stellt sich die Frage, ob dieses Spiel zu Lernerfahrungen führen kann. Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass sowohl mein Versuch als Autorin als auch der Versuch der Leserin/des Lesers scheitern kann. Genau darin liegt aber, wie ich vermute, das Potenzial für Neues. Als Autorin und Leser/-in müssen wir allerdings nach dem bisher Gesagten davon ausgehen, dass dieses Neue nicht ohne Leiden zu haben ist.
3. Der Ort der Wissenschaft 3.1 D en G egenstand beschreibbar machen Die Leitfrage für dieses Kapitel lautet: Welche Form ist im Kontext wissenschaftlichen Arbeitens adäquat, um interkulturelle Bildung anders zu denken? Alle bisherigen Bemühungen sind Ausdruck des Bewusstseins, dass wir es im Falle der interkulturellen Bildung mit einem spezifischen Gegenstand zu tun haben. Der allgemeine wissenschaftliche Anspruch besteht darin, eine Methode zu wählen, die adäquat ist, um zu Aussagen über den Forschungsgegenstand zu gelangen. Es ist daher notwendig, sich auch von diesem Ausgangspunkt aus dem Gegenstand interkulturelle Bildung zu nähern. Gegenstand der Arbeit sind keine materiellen Dinge, sondern ein Komplex von Phänomenen, die anhand von menschlichem Verhalten beobachtet werden können. Sie werden durch die Begriffe Kultur und Lernen benannt und schließlich zu einem Konzept von interkulturellem Lernen zusammengefasst. Das habe ich unter der Bezeichnung Interkulturalismus im weiten Sinn zusammengefasst. Die im ersten Abschnitt unternommenen Versuche, diesen Komplex zu beschreiben, haben etliche Probleme mit sich gebracht. Bereits die Existenz von Kultur als Gegenstand ist fraglich. Es hat sich gezeigt, dass die Beschreibung von Kultur aufs Engste mit Grundfragen menschlicher Existenz und ihren Erkenntnismöglichkeiten verknüpft ist. Die Existenz als Individuum, das in einem Verhältnis zum Kollektiv steht, ist das Kernphänomen, um das sich die Beschäftigung mit Kultur dreht. Sowohl das Individuum als auch das Kollektiv haben sich als in Spannungsfelder eingebettete Größen erwiesen. Immer wieder stoße ich im Zusammenhang mit Kultur auf Argumentationen, die das, was durch sie bewiesen werden soll, eigentlich bereits voraussetzen. Die Aufgabe lautet daher nicht, einen fraglos existenten Gegenstand zu beschreiben. Es gilt vielmehr zu überlegen, ob
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und wie ein solcher Gegenstand überhaupt beschreibbar gemacht werden kann. Das Problemfeld besteht eigentlich aus mehreren Gegenständen. Einerseits treten Probleme auf, die sich direkt aus dem menschlichen Handeln ergeben und ein soziologisches bzw. kulturanthropologisches Herangehen nahelegen. Das führt zu der Frage, ob sich diese Phänomene unter dem Titel Kultur verallgemeinern lassen. Da sich diese Arbeit mit dem Begriff Kultur als Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens beschäftigt, müssen kulturtheoretische Überlegungen angestellt werden. Damit ist aber auch die noch abstraktere, erkenntnistheoretische Frage berührt, wie menschliche Erkenntnis zustande kommt, insbesondere wie Erkenntnis von Menschen über Menschen möglich ist. Womit sich der Kreis wieder schließt: alle Bemühungen um Erkenntnis zeigen sich in den Handlungen und Äußerungen von Menschen, die wir wiederum kulturanthropologisch betrachten müssen. Es handelt sich hier um Gegenstände wissenschaftlichen Denkens auf unterschiedlichem Abstraktionsgrad. Beim menschlichen Verhalten handelt es sich um konkret beobachtbare Phänomene. Daraus lassen sich abstrakte Begriffe wie Gesellschaft, Kultur oder Interkulturalität ableiten. Jeder Abstraktionsschritt bringt neue Probleme mit sich, so zum Beispiel, dass die »erfahrungsfernen« Begriffe zu einem »Jargon« werden können (Geertz 1987, 291). Mit jedem Abstraktionsschritt ist die Erwartung verbunden, allgemeingültigere Aussagen treffen zu können. Es ist daher naheliegend, diese Probleme auf ein noch allgemeineres Niveau zu heben, jenes der Erkenntnismöglichkeit an sich. Alle diese Ebenen sind miteinander verbunden. Noch allgemeiner kann man daher vom Problem des menschlichen Lebens sprechen. Anders ausgedrückt: Das Problem besteht darin, dass wir es mit einem lebendigen Gegenstand zu tun haben. Bei einem lebendigen Gegenstand handelt es sich um einen Widerspruch in sich, eine contradictio in adiecto. Ein Gegenstand unterscheidet sich vom Lebewesen vor allem durch hohe Stabilität und dadurch, dass er sich und seine Bezüge zur Umwelt aus eigener Kraft nicht verändern kann. Eine Vergegenständlichung des menschlichen Lebens bedeutet demnach eine Reduktion der selbstgesteuerten Variabilität. Ein Prozess der Abstraktion ist in diesem Sinn ein Prozess der Vergegenständlichung. Dabei ist zu beachten, dass diese Aktion nur rein gedanklich möglich ist. Die Denkfigur ›lebendiger Gegenstand‹ existiert eben nur abstrakt und nicht konkret. Es ist möglich, ein ›Etwas‹ zu denken, das der Erfahrung nach nicht existieren kann. Benedict An-
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derson hat zum Beispiel beschrieben, dass Nationen Imagined Communities sind (Anderson 2005). Sie sind nur in vorgestellter, gedachter Form möglich, da die Personen, die einer Nation angehören, nie persönliche Beziehungen zu allen anderen herstellen können. Das wäre aber die Voraussetzung für eine reale Gemeinschaft. Sobald etwas denkbar ist, stellt sich die Frage, warum es nicht auch existent sein könnte. Immerhin hat der abstrakte Gegenstand (Nationalgemeinschaft) ja einen konkreten ›Inhalt‹ (Personen). Paradoxerweise reduziert sich durch diesen Gedankengang die Frage der wissenschaftlichen Erkenntnis auf eine Frage des Glaubens: Wem glaube ich mehr – meiner empirischen Anschauung oder meinem rationalen Denken? Ich befinde mich damit keineswegs auf einem neuen Gedankenweg, sondern auf einem ausgetretenen Pfad erkenntnistheoretischen Denkens, in den die Überlegungen zur interkulturellen Bildung hier münden. Eine Übersicht über den rationalistischen und empiristischen Weg und die jeweiligen Denkschulen findet sich zum Beispiel bei Bollnow (Bollnow 1981, 12ff.). Womit an dieser Stelle nur angedeutet sein soll, dass der Prozess der wissenschaftlichen Abstraktion sich nicht nur aus beobachteten Phänomenen heraus entwickelt. Jedes wissenschaftliche Denken steht auch zu den von anderen Menschen bereits gedachten Gedanken in Verbindung. Das Phänomen des gedanklichen Austauschs und der Verbindung wiederum ist etwas, worüber wir unter dem Begriff Kultur oder kulturelle Prägung nachdenken. Eine rationale Erkenntnisstrategie besteht darin, ein Problem auf einer allgemeinen, abstrakteren Ebene zu betrachten, in der Hoffnung, dass sich daraus wiederum Rückschlüsse für die darunter liegende, konkretere Ebene ableiten lassen. Es handelt sich dabei um ein logisches Verfahren der Induktion und Deduktion. Jedes Vorurteil entsteht zum Beispiel als Hypothese im Wege der Induktion aus einer Summe von Beobachtungen. Aus dem Ergebnis kann man dann wieder durch Deduktion auf das Verhalten im Einzelfall schließen. Die Erfahrung lehrt uns aber auch, dass ›lebendige Gegenstände‹ sich nicht nur nach logischen Gesetzmäßigkeiten verhalten. Menschen verhalten sich nicht nur rational, sondern auch irrational. Und sie verhalten sich nicht nur linear, sodass sich eine Aktion aus der anderen ableiten lässt, sondern auch sprunghaft oder variabel. So entstehen zum Beispiel große Schwierigkeiten, sogenannte emergente Phänomene, also das unbegründbare Auftauchen von Neuem, auf diesem Weg zu beschreiben. Wie kommt es zum Beispiel zu neuen Wortschöpfungen? Wie entsteht eine neue Idee? ›Lebendige Gegenstän-
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de‹ – Menschen, Gruppen – verhalten sich zeitweise oder teilweise lebendig und verändern sich, dann verhalten sie sich wieder gegenständlicher und stabilisieren sich. Auch dieses Phänomen lässt sich nicht rein logisch deduktiv begründen. Es ist deshalb einsichtig, dass sich die ›lebendigen Gegenstände‹ – menschliches, kulturelles Verhalten – durch diese wissenschaftliche Erkenntnisstrategie nicht vollständig beschreiben lassen.
3.2 M it einem lebendigen G egenstand umgehen Die wissenschaftliche Methode ist ein Werkzeug der Beschreibung. Sie ist eine Strategie der Bearbeitung der jeweiligen Materie, die sie stabilisieren muss, um sie beschreibbar zu machen. Die Aufgabe der Humanwissenschaften ist die Untersuchung des Menschen durch den Menschen. In seiner »Archäologie der Humanwissenschaften« zeigt Foucault, dass der »Mensch« als Gegenstand der Wissenschaften nicht fraglos vorausgesetzt werden kann (Foucault 1974). »Der Mensch« sei eine Denkfigur der Wissenschaften, die im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgetaucht ist und könne ebenso wieder verschwinden »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (ebd., 462). Aus der Perspektive der Ethnopsychoanalyse beschäftigt sich Georges Devereux in Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften (Devereux 1998) mit einem ähnlichen Problem. Die Tatsache, dass immer Menschen als Beobachtende und Beobachtete an der Forschungssituation beteiligt sind und beide in dieser Situation Wahrnehmungen machen können, verdiene besondere Beachtung. Devereux belegt anhand vieler Fallbeispiele, dass die ethnologischen Daten über Menschen in den forschenden Menschen Angst auslösen können (ebd., 67). Jede Kultur behandle das gleiche psychische Material auf unterschiedliche Weise, sodass manche Verhaltensweisen und Deutungen zugelassen, manche besonders betont und andere verdrängt würden. Bei der Untersuchung fremder Kulturen müsse ein Anthropologe/eine Anthropologin daher oft Material beobachten, das in der eigenen Kultur verdrängt würde. Diese Erfahrung könne Angst auslösen, aber auch als Verführung erlebt werden (ebd., 124). Es sei legitim, nach entsprechenden methodischen Mitteln zu suchen, die ein effektives Arbeiten erlauben. Ausschlaggebend sei, ob die Methode bewusst auch zur Angstminderung eingesetzt würde, oder ob dies unbewusst und defensiv geschehe (ebd., S124).
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Devereux vergleicht diesen Vorgang mit der Arbeit eines Chirurgen. Ein Chirurg decke bei einer Operation den menschlichen Körper ab, den er operiert, um die »nützliche Illusion« zu erzeugen, nicht wirklich ein lebendes Wesen aufzuschneiden. Er dürfe dabei aber niemals wirklich vergessen, dass der Patient/die Patientin lebt. Die Operation würde tödlich enden, würde der Chirurg den Menschen wie totes Material behandeln (ebd., 124). Wenn der Mensch stirbt, stirbt auch alles Lebendige an ihm, das ihn gerade als Menschen ausmacht. »Ebenso ›stirbt‹ die lebendige – und deshalb relevante – Substanz des Menschen und der Kultur, wenn der Verhaltenswissenschaftler vergißt, daß die Kultur nicht außerhalb des Volkes und Merkmale nicht außerhalb ihrer psychokulturellen Matrix existieren können.« (Ebd., 124)
Die »psychokulturelle Matrix« ist die Gesamtheit der Lebensbezüge eines Menschen, seine psychische und soziale Verfasstheit, seine zeitliche, historische und räumliche Bezogenheit und seine Lebensgeschichte. So wie ein Herz außerhalb des Menschen nicht existieren kann (abgesehen von technischen Überbrückungsmöglichkeiten) und zu einem toten Muskel wird, existiert zum Beispiel auch Denken und Sprechen als menschliches Merkmal nicht außerhalb des Menschen. Texte und Bücher stellen entsprechende technische Überbrückungsmöglichkeiten dar. Ebenso existiert Kultur außerhalb kollektiver menschlicher Lebensbezüge nur als toter Gegenstand. Laut Devereux ist es nützlich, Mensch und Kultur vorübergehend als vollständig beschreibbare Gegenstände zu behandeln, wenn diese Beschreibung bewusst als »verfahrensmäßige Fiktion« behandelt wird, die der Entlastung dient (ebd., 125). Wenn man aber vergisst oder unterschlägt, dass es sich um Fiktion handelt, bestehe die Gefahr, die Substanz von Mensch und Kultur abzutöten. Jeder Versuch, Störungen, die durch die Lebendigkeit – also Subjektivität und Emotionalität – der Beobachtenden auftreten, komplett auszuschalten, sei demnach erstens illusorisch und zweitens führe dies nicht zu Aussagen über das Leben. Bekanntlich kann man einen Schmetterling, den man mit einer Nadel fixiert hat, gut ansehen, man sieht allerdings nur mehr ein Ausstellungsstück, kein Lebewesen. »Die wirkliche oder fiktive Untersuchung eines ›Präparats‹ liefert Informationen nur über ›Präparate‹ und nicht über Ratten oder Menschen«, warnt Devereux (ebd., 323). Es ist also notwendig, Leben und Leben als Gegenstand von Forschung als zwei ver-
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schiedene Qualitäten zu behandeln. Devereux’ These lautet (ebd., 17ff.): Wenn man Forschung als menschlichen, lebendigen Prozess verstehe, liefere das Verhalten der Forschenden relevante Daten über menschliches Leben. Was bei der Untersuchung eines Präparats als Störung verstanden werde, seien vielmehr höchst relevante Daten, aus denen Aussagen über Menschen abgeleitet werden könnten. Diese Arbeit will Kultur und interkulturelle Bildung als lebendigen Gegenstand behandeln. Die wichtigste Schlussfolgerung ist daher, dass die Untersuchung von Störungen – von emotionalen, irrationalen oder emergenten Phänomenen ebenso wie von Unmöglichkeiten, Aporien und Zirkelschlüssen – zu relevanten Aussagen führen kann. Das Problem der Kulturwissenschaften als Humanwissenschaften, der Wissenschaften vom Menschen, liegt also einerseits im beobachteten Gegenstand, andererseits aber auch aufseiten des Beobachters/der Beobachterin selbst. Die Wissenschaften streben nach wahren und sicheren Aussagen über die beobachteten Gegenstände. Man könnte den Humanwissenschaften nun aufgrund ihrer Befangenheit die Wissenschaftlichkeit absprechen. Der Ansatz dieser Arbeit hingegen besteht darin, subjektive Erfahrungen des Scheiterns als relevante Störungen ernst zu nehmen und auf ihren Erkenntniswert hin zu untersuchen. Es stellt sich daher nun auch methodisch die Frage, was die bisherige Erfahrung, dass keine sicheren, vollständigen Aussagen über interkulturelles Lernen – als menschliches, psychokulturelles Phänomen – gemacht werden konnten, bedeutet und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Die Philosophie der Erkenntnis (Bollnow 1981) von Otto Friedrich Bollnow ist hier relevant, weil sie sich, so der Untertitel, genau mit der »Erfahrung des Neuen« beschäftigt. Bollnow konstatiert auf Basis eines umfassenden Rückblicks auf die Ansätze verschiedener Theoretiker ein »Versagen der Erkenntnistheorie« (ebd., 7). Diese gehe seit Descartes davon aus, dass es möglich sei, einen gesicherten voraussetzungslos evidenten Ursprungspunkt der Erkenntnis zu finden und von dort ausgehend alle Erkenntnis als vollständiges Gebäude aufzubauen. Sowohl der rationalistische als auch der empiristische Weg seien aber daran gescheitert, den sicheren Nullpunkt der Erkenntnis zu finden (ebd., 12-21). »Die Anfangslosigkeit gehört zu den unentrinnbaren Bedingungen aller menschlichen Erkenntnis« (ebd., 21). Bollnow folgert daraus, dass an diesem Punkt eine Wendung vorzunehmen sei, die zum Beispiel in der modernen Ästhetik bereits vollzogen worden sei. Noch bis in die frühe Auf-
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klärung hinein, sei die Ästhetik als eine Anleitung für das künstlerische Schaffen verstanden worden (ebd., 28). Da man erkannte, dass solche Anleitungen scheiterten, vollzog sich eine Wende zur »Philosophie der Kunst, d.h. zur philosophischen Besinnung auf das Wesen der Kunst und ihre Funktion im menschlichen Leben« (ebd., 28). Ebenso sei es nicht die Aufgabe einer »Philosophie der Erkenntnis«, Erkenntnis anzuleiten und zu sichern, sondern »die Entstehung und die Funktion der in der Erkenntnis zusammenwirkenden Leistungen im Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens zu begreifen« (ebd., 30). Interkulturelle Bildung, die sich von einer erkenntnisbasierten Kulturtheorie anleiten lässt und selbst Erkenntnis über Kultur anleiten will, führt in die mittlerweile ausreichend dargelegten Sackgassen. Wenn die wiederkehrenden Störungen ernst genommen werden, muss auch hier eine Wende vollzogen werden. An die Stelle der Kulturphilosophie oder Kulturtheorie könnte, überträgt man Bollnows Idee auf die Kultur, eine Philosophie der Kultur treten. Das philosophische Denken würde über die Entstehung und Funktion der in der Kultur zusammenwirkenden Leistungen im Gesamtzusammenhang menschlichen Lebens nachdenken. Damit sollen die Potenziale der Erkenntnistheorie und der Kulturtheorie, wie auch Bollnow betont, nicht bestritten, sondern ein anderer, neuer Erkenntnisweg beschritten werden. Wir können hier wieder an Gürses’ Analyse von Kultur als Problem anschließen (Gürses 1998). Der Kulturbegriff könne, so Gürses, als Gegenstand oder als Referenz der Wissenschaften dienen. Für die Humanwissenschaften sei Kultur ein Gegenstand, der mit den bekannten Problemen behaftet sei. Für die interkulturelle Philosophie könne Kultur nur eine Referenz, ein Bezugspunkt sein (ebd., 63ff.). Dies kommt der Idee einer Philosophie der Kultur nahe, die ich eben aus Bollnows Philosophie der Erkenntnis gewonnen habe. Daraus ergäben sich aber, so Gürses, weitere Probleme: Wenn Kultur eine Referenz sei, stelle sich die Frage, ob sie ein System oder eine Komponente unter anderen Komponenten in einem Gesamtzusammenhang sei. Die Systemauffassung ließe einige Fragen unbeantwortet: Warum sollte Kultur eine übergeordnete Stellung im Vergleich zu anderen Systemen, wie zum Beispiel der Ökonomie, einnehmen? Betrachte man Kultur wiederum als eine von vielen Komponenten, sei sie zwar ein Kontext, in dem der Gesamtzusammenhang betrachtet werden könne, sie könne aber keinen übergeordneten Bezugspunkt für die Philosophie mehr darstellen. Deshalb schlägt Gürses
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vor, Kultur durch eine andere Referenz zu ersetzen, nämlich die Differenz (ebd., 83ff.). Mein Vorschlag lautet, die Erfahrung des Scheiterns als Referenz einer Philosophie der Kultur zu nehmen, weil Störungen wichtige Daten über Kultur als lebendiges, menschliches Phänomen enthalten. Wenn ich die Störung, die Erfahrung des Scheiterns, als Referenz einer Philosophie der Kultur und der interkulturellen Bildung wähle, ergibt sich daraus auch eine methodische Notwendigkeit. Die Form der Arbeit muss so gewählt werden, dass sie das Scheitern nicht ausschließt, sondern seine Möglichkeit dauerhaft offen hält. Die Form sollte das Scheitern sogar zum wiederkehrenden Impuls der Arbeit machen, zur Achse, die die Bewegung antreibt. Die Möglichkeit des Scheiterns ist notwendig, um den archimedischen Punkt und das vollständige Verstehen immer als Illusion im Bewusstsein zu halten und der Versuchung des Abtötens des Kulturellen auf die Spur zu kommen. Die Möglichkeit des Scheiterns ist notwendig, um die Fragen nicht zu schließen, sondern offen und damit am Leben zu erhalten. Diese Offenheit muss bewusst und aktiv erhalten werden, weil, wie wir später noch sehen werden, die Beharrungskraft des Festhaltens am Alten sich gegen die Öffnung wendet (vgl. Bollnow 1981, 137). Wenn von Philosophie der Kultur die Rede ist, spreche ich nicht von der Philosophie als Disziplin. Jede Disziplinierung und Errichtung einer Ordnung zielt auf das Ausschließen des Scheiterns und der Störungen ab. Auch die Inter- oder Transdisziplinarität begründen ihre Notwendigkeit darin, dass sie die Mängel der einzelnen Disziplinen und ihrer Disziplinierungen überwinden könnten. Mein Vorgehen ist daher ein bewusst »antidiziplinäres« (vgl. de Certeau 1988, 16). Die Philo-sophie der Kultur, die sich durch die Bezugnahme auf das Scheitern entfaltet, ist im ursprünglichen Wortsinn der ›Liebe zur Weisheit‹ verpflichtet und nicht der Wahrheit und der Ordnung. Dieser Ansatz mag auch ein vielleicht zum Scheitern verurteilter Versuch sein, den Kräften einen Widerstand entgegenzusetzen, die das gewollte Lernen und die Interkulturalität zum Zweck der Unterordnung unter ein Dispositiv der Kontrolle oder des Konsums zu instrumentalisieren. Die Form, die daher zu wählen ist, ist der Essay, der Versuch. Das gedankliche Experiment, das Gedankenspiel, auf das ich mich einlassen werde, besteht darin, mein Nachdenken über interkulturelle Bildung nachzuerzählen, die Gedankenwege zur Erfahrung des Neuen transparent zu machen. Der Versuch, der die Möglichkeit des Scheiterns be-
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inhaltet, ist notwendig, um der Lebendigkeit von Kultur und Lernen gerecht zu werden. Der Essay entspricht dem freien spielerischen Umgang nicht nur mit Kultur, sondern auch mit Wissen. Als Autorin kann ich mich deshalb auch durch Wissen aus verschiedenen Disziplinen anziehen lassen und dieses in mich aufnehmen, es gebrauchen, um damit neue Gedanken möglich zu machen. An dieser Stelle ist es wichtig zu ergänzen, dass zwar hier vom ›spielerischen Umgang‹ die Rede ist. Aber der Begriff des Spiels, wie er im letzten Abschnitt eingeführt wurde, steht nicht im Gegensatz zum Ernst. Das Spiel steht zwar im Gegensatz zur Realität und schafft die gewünschte Freiheit, aber es kann sehr ernsthaft sein. Man denke nur an die Versunkenheit eines Schachspielers oder eines Kindes in sein Spiel (vgl. Huizinga 2009, 14). Es ist vielmehr von einer Art »heiligem Ernst« (ebd., 27-30) getragen. Das Spielen findet auch nicht im Geheimen hinter der Gartenhecke statt. Es ist ein öffentliches Spiel, in mehrfacher Hinsicht: Interkulturelle Bildung, der Gegenstand dieser Arbeit, und wissenschaftliches Schreiben, die Form der Beschäftigung damit, wenden sich an eine mehr oder weniger breite Öffentlichkeit. Beide finden vor einem Publikum statt. Auch wenn wir uns das Spiel als ein freies Spiel vorstellen, hat dennoch die Öffentlichkeit eine Wirkung auf das Spiel. Im letzten Abschnitt habe ich das Vorhaben formuliert, mit den Mitteln des wissenschaftlichen Schreibens eine bestimmte Spielform interkultureller Bildung – ein Spiel des Scheiterns – durchzuspielen. In diesem Abschnitt habe ich nun den Essay als passende Ausdrucksform gewählt. Als Spielerin brauche ich, um öffentlich spielen zu können, nun noch eine Bühne, auf der das Spiel stattfinden kann (Berger 21.02.12). Die Bühne muss eine tragfähige Grundlage für das Spielen abgeben. Sie hat die Aufgabe, die Aufmerksamkeit auf einen Ort, den Schauplatz, auszurichten. Sie bietet sowohl der Spielerin als auch dem Publikum die Sicherheit, auf einem ausreichend sicheren Grund zu stehen, um sich auf das Spiel einlassen zu können. Sie bietet den realen Ort, an dem das ortlose Spiel stattfinden kann. ›Real‹ bedeutet hier im Sinne eines pragmatischen Zugangs nicht ›wahr‹ oder ›sicher‹, wohl aber ›gefestigt‹. ›Gefestigt‹ bedeutet, dass es sich um Wissen handelt, das auf fundierten, wissenschaftlichen Bemühungen beruht und bereits in einer fachlichen Community ausführlich diskutiert wurde (vgl. Berger 2010). Im Folgenden werde ich deshalb mit den gedanklichen ›Brettern‹, die vor allem von drei Autoren angefertigt wurden, einen Bühnenboden zimmern. Ich werde nun zwei
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Texte, die sich als für die Beschreibbarkeit des Themas besonders fruchtbar erwiesen haben, ausführlich referieren.
3.3 E inen W eg gehen Die Metapher des Bauens einer Bühne stützt sich auf ein Verständnis von Methode als Tätigkeit. Im Zusammenhang mit inter- und transdisziplinärer Forschungstätigkeit verweist Wilhelm Berger auf die Herkunft des Begriffs Methode (Berger 2010): Das Wort kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus den Worten (h)odos und meta zusammen. (H)odos ist der Weg oder Gang, aber meta ist mehrdeutig. Einerseits bedeutet meta »nach«, die Methode wäre dann der »Nach-Gang«. Wissenschaftliches Arbeiten folgt in diesem Fall einem bereits fertigen Weg, der noch einmal gegangen wird (ebd., 53f.). Die Wissenschaften haben viele solcher Wege hervorgebracht. In seiner zweiten Bedeutung heißt meta »inmitten« oder »dazwischen«. »Methode wäre dann ein Weg inmitten, ein Gang mitten hinein, der im praktischen Feld vielleicht ein Dazwischen erzeugt, eine Spannung, eine Differenz zu dem, was ist, und in dieser Weise Reflexion erlaubt.« (Ebd., 53) Dieses Verständnis von Methode sei, so Berger weiter, gerade für eine inter- bzw. transdisziplinäre, von Praxisproblemen ausgehende Forschung relevant, da ja die wissenschaftliche Praxis selbst Bestandteil des Problemfeldes ist (ebd., 62). Der ›Bühnenbau‹ mit Begriffen und Konzepten ausgewählter Autoren ist der Ausgangspunkt für den »Weg in das Feld hinein«.
3.3.1 Auf den Spuren Wilfred Bions: Lernen durch Erfahrung Im Zusammenhang mit dem Problem der sichtbaren Unsichtbarkeit und des lebendigen Gegenstands hat sich die Psychoanalyse bzw. die Ethnopsychoanalyse schon als Produzentin von sehr brauchbaren ›Brettern‹ erwiesen. Eine zentrale Herausforderung in der Kulturanalyse wie auch in der Psychoanalyse besteht offenbar darin, einander im Denken widersprechende, in der Erfahrung aber gleichzeitig existente Phänomene gemeinsam in den Blick zu nehmen. »Die Analyse der Beziehung zwischen der manifesten und der latenten Seite der Kultur ist unendlich viel wichtiger als die isolierte Entfaltung dieser beiden As-
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pekte. Weniger die Tatsache, daß man die ›Kehrseite der Medaille‹ ignoriert, als das Versäumnis, die unlösbare Beziehung zwischen beiden zu definieren, ist eine Hauptquelle der Verzerrung bei Kultur-Persönlichkeit-Untersuchungen.« (Devereux 1998, 258)
Es handle sich dabei um eine Konfliktbeziehung, die ein grundlegendes menschliches Merkmal sei. Viel wichtiger sei es aber zu erkennen, dass das »Leben des Menschen nicht der Konflikt, sondern der – manchmal überaus erfolgreiche – Versuch ist, diesen Konflikt zu lösen« (Devereux 1998, 258). Die Psychoanalyse hat reiche Erfahrung in der Analyse der Beziehung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, dem Sichtbaren und Unsichtbaren und den in dieser Beziehung auftretenden Konflikten sowie deren Lösung. Der Psychoanalytiker und psychoanalytische Theoretiker Wilfred Bion vergleicht diese Aufgabe mit der »Fähigkeit […], die derjenigen des binokularen Sehens ähnelt: nämlich die Fähigkeit der beiden Augen, zwei Ansichten desselben Objekts in Korrelation zu bringen. Wenn es darum geht, ein psychoanalytisches Objekt zu betrachten, entspricht der Gebrauch des Bewußtseins und des Unbewußten in der Psychoanalyse dem Gebrauch der zwei Augen bei der visuellen Untersuchung eines Objekts, das optisch wahrgenommen werden kann.« (Bion 1992b, 141)
Ebenso muss ein ›kulturelles Objekt‹ binokular wahrgenommen werden. Die Beziehung zwischen der latenten und der manifesten Seite eines ›kulturellen Objekts‹ ist nur binokular einsehbar. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen den individuellen und den kollektiven ›Anteilen‹ dieses Objekts. Für die Betrachtung der Entstehung und Funktion der in der Kultur zusammenwirkenden Leistungen im Gesamtzusammenhang menschlichen Lebens reicht ein Auge nicht aus. Das wissenschaftliche Denken bemüht sich, das Auge des Unbewusstten geschlossen zu halten und bleibt daher immer einäugig. Sowohl Devereux – in Bezug auf kulturelle Objekte – wie Bion – in Bezug auf psychoanalytische Objekte – machen daher das Denken selbst zum Gegenstand ihrer Überlegungen. Beide betrachten die Beziehung zwischen dem unbewussten, irrationalen Denken und dem bewussten, rationalen Denken. Sie verfolgen diese Beziehung von den einfachsten emotionalen Regungen bis zur Ebene wissenschaftlicher Theorien. Devereux schreibt:
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»Auch das logischste und wissenschaftlichste Gedankensystem hat eine subjektive Bedeutung für das Unbewußte der Person, die es entwickelt oder annimmt. Als Abwehr gegen Angst und Desorientierung entspringt jedes Gedankensystem – einschließlich meines eigenen, versteht sich – im Unbewußten; es wird zuerst eher auf affektive als auf intellektuelle Weise in der (alogischen) ›Sprache des Unbewußten‹ (Primärprozeß) formuliert. Stellt sich heraus, daß die Phantasie Angst und Desorientierung vermindert, wird es vom Unbewußten ins Bewußte transponiert und aus der Sprache des Primärprozesses in die logischere und realitätsorientiertere Sprache des Sekundärprozesses übersetzt. Dieses intellektualisierte System übersetzt der philosophische Poet dann teilweise zurück in diejenige Bildersprache, die der Wissenschaftler ablegte, als er es aus dem Unbewußten ins Bewußte transponierte. Daher gewinnt man aus der Neuformulierung eines Gedankensystems durch einen philosophischen Dichter ausgezeichnete Hinweise auf die originale (affektive) Formulierung des Wissenschaftlers, die dem endgültigen, intellektualisierten System vorausging.« (Devereux 1998, 41)
Bion arbeitet das, was Devereux hier beschreibt, zu einer Theorie des Denkens aus, die er in Lernen durch Erfahrung (Bion 1992b) darlegt 1. Er bedient sich dazu einer an die Mathematik angelehnten Sprache. Er verwendet den Begriff »Funktion« für eine »geistige[n] Aktivität, die zu einer Anzahl vereint wirkender Faktoren gehört« (ebd., 48). Die im Denken zusammenwirkenden Leistungen beschreibt Bion anhand einer Funktion. Die von Bion so genannte »Alpha-Funktion« im Menschen erzeuge aus reinen Sinneseindrücken so genannte »Alpha-Elemente«, die für das bewusste Denken und das Traumdenken zur Verfügung stünden. Der abstrakte Begriff »Alpha-Funktion« habe den Vorteil, dass er bedeutungslos und frei von bereits existierenden Assoziationen sei (ebd., 49). Beim Versagen der Alpha-Funktion entstünden »Beta-Elemente«, die als »Dinge an sich«, als »unverdaute Fakten« weder für Denken, noch für Verdrängung oder Lernen zur Verfügung stünden (ebd., 52f.). Die Alpha-Funktion ist nun, so Bion weiter, auch für die Verbannung des Denkens ins Unbewusste verantwortlich, wenn dadurch das bewusste Denken entlastet werden kann. So müsse das, was zum Laufen notwendig ist, vom Kind ursprünglich bewusst gedacht werden, könne aber mit 1 | Die Grundlagen dafür finden sich aufeinander aufbauend in Lernen durch Erfahrung (erschienen 1962, Bion 1992b), Elemente der Psychoanalyse (erschienen 1963, Bion 1992a) und Transformationen (erschienen 1965, Bion 1997).
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der Zeit im Unbewussten abgespeichert werden (ebd., 54f.). Nach Bions Theorie entsteht so eine »Kontaktschranke«, die die Funktion einer durchlässigen Membran hat und bewusste Phänomene von unbewussten trennt (ebd., 68). Bion bezeichnet all dies als »seelischen Apparat«, den der Mensch zur Verarbeitung von Sinneseindrücken ausbildet (ebd., 73). Er geht davon aus, dass sich das Denken als »Apparat« aus der frühkindlich erlebten Notwendigkeit der Anpassung an die Realität entwickelte und immer weiter entwickelt. Die ersten Eindrücke, die das Kind verarbeiten müsse, seien solche, die mit der Verdauung zu tun haben (ebd., 108). Am Anfang dieser Entwicklung stehe die emotionale Erfahrung des Hungers oder Dursts. Bion beschreibt diesen Vorgang so (ebd., 108-112): Das Kind erlebt das Bedürfnis nach einer Brust als quälend. Es ist eine »böse Brust«, die »nicht da« ist, aber dennoch in ihm selbst ist. Diese böse Brust muss nach dem Gefühl des Kindes ausgeschieden werden. Im positiven Fall passiert das Ausscheiden durch das Trinken an der realen Brust, wodurch die böse Brust »verschluckt« wird. Die böse Brust, die verschluckt wird, ist nicht die reale Brust, sie ist ein »Gedanke«, doch die emotionale Erfahrung, die geistige Vorstellung und das Ding an sich sind nicht zu unterscheiden. Dies entspricht einem BetaElement. Das Ausscheiden setzt aber die Berührung oder zumindest das Sehen der realen, objektiven Brust voraus. Bei der Befriedigung eines subjektiven Bedürfnisses nach der Brust, das als Ausscheidung des Bedürfnisses durch oder in eine objektive Brust erlebt wird, kann die Brust weder als subjektives noch als objektives Objekt angesehen werden. Bion nimmt nun an, dass das Kind eine Fähigkeit zur Abstraktion entwickelt, die es ihm ermöglicht, von der Gesamterfahrung ein Element abzusondern. Vom subjektiv-objektiven Objekt der guten Brust kann Süße abstrahiert werden oder der Glaube, dass es ein objektives Objekt gibt, dass dem Kind seinen Wunsch erfüllen kann. Diese Abstraktion kann dann in anderen Situationen (»Realisierungen«) verwendet werden, die der ursprünglichen Erfahrung nahe kommen. Alle Aussagen, die heute darüber gemacht werden können, was das Kind, das gestillt wird, empfindet, sind Abstraktionen dieser ersten Abstraktion, die sich immer mehr von der konkreten Erfahrung entfernen (ebd., 108-112). Die Gedanken durchlaufen, so lese ich Bions Ansatz, einen Prozess von der konkreten Erfahrung über schrittweise Abstraktion hin zu einem ganzen System von Hypothesen und Konzepten. Jede Abstraktion wird dann wieder anhand von konkreten Erfahrungen auf ihre Gültigkeit in
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Bezug auf andere Realisierungen hin überprüft und entsprechend abgewandelt. Die Abstraktion ist notwendig, damit wir uns anderen mitteilen können, denn keine Erfahrung ist gleich wie eine andere. Die erste Form der Abstraktion, die noch sehr nah an der emotionalen Erfahrung liegt, nennt Bion Modell. Bion betont die Bedeutung, die den Modellen im Laufe der Geschichte von Gedanken zukommt (ebd., 116f.). Ein Modell bezieht seine Kohärenz nicht aus einer abstrakten, deduktiven Logik, sondern aus der Erfahrung. Ein Modell besteht aus Bildern, deren Elemente erfahrungsgemäß miteinander verbunden sind. So beschreibt Bion anhand einer imaginären Geschichte als Beispiel, wie sich das Modell »Daddy« aus mehreren Erfahrungen heraus bildet: Der »Anblick eines Mannes, ein Gefühl, von diesem Mann geliebt zu werden, ein Gefühl diesen Mann herbeizuwünschen, ein Bewusstsein, daß die Mutter einen Satz wiederholt: ›Das ist Daddy.‹« (ebd., 119). Das Kind abstrahiert bestimmte Elemente und gibt diesen Elementen, die erfahrungsgemäß verbunden sind, den Namen »Daddy«. Es vergibt den gleichen Namen auch in anderen Situationen, in denen die gleichen Elemente in Verbindung miteinander auftreten (ebd., 119). Ich fasse zusammen: Das Modell ist die Repräsentation einer Erfahrung. Da aber keine Erfahrung wie die andere ist, besteht ein dauernder Reiz, die Repräsentationen zu überprüfen und anzupassen. Wenn das Kind andere Situationen (z.B. das Gefühl, von diesem Mann gehasst zu werden,) durch dieses Modell nicht repräsentiert sieht, muss es sein Modell verändern oder durch einen weiteren Abstraktionsschritt die Repräsentation erweitern. Dabei können natürlich auch Abstraktionen bestehen, die eine Unlust, die mit bestimmten Erfahrungen verbunden ist, vermeiden (ebd., 97f.). Zum Beispiel könnte das Modell »Daddy«, die unerträgliche Erfahrung, diesen Daddy in bestimmten Situationen zu hassen, verleugnen. Daraus folgt: Je größer die Fähigkeit eines Menschen ist, Unlust zu ertragen, desto genauer repräsentieren seine Modelle und Abstraktionen auch die tatsächlich gemachten Erfahrungen. Dies wiederum hängt davon ab, ob das Kind die Erfahrung machen kann, dass Unlust in Lust überführt werden kann und daher nicht dauerhaft zerstörerisch wirkt. Für das Modell, so verstehe ich Bion, ist es unwichtig, wie die Elemente miteinander verknüpft sind, es wird als Ganzes wahrgenommen. Die Verbindung zwischen den Elementen lässt sich als Geschichte erzählen, aber nicht logisch herleiten. Eine Abstraktion oder Theorie hingegen abstrahiert aus der Erfahrung die Beziehung zwischen den Elementen
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mit der Methode der Logik. Die Elemente selbst treten dabei in den Hintergrund. Ein Modell speist sich aus Elementen der Vergangenheit eines Individuums. Die logischen Zusammenhänge einer Abstraktion können von der Vergangenheit gelöst und auch in die Zukunft übertragen werden. Sie erzeugen Erwartungen, sodass »eine Abstraktion mit Prä-Konzeptionen der Zukunft des Individuums sozusagen geschwängert ist« (ebd., 117). Bion versteht seine Erklärungen zum Denken ebenfalls als Modell. Er wählt als Modell eines Gedankens ein »Hungergefühl, das mit dem visuellen Bild einer Brust verbunden ist« (ebd., 138). Der Wert eines Modells liege darin, damit den Kontakt zum Erfahrungshintergrund wieder herstellen zu können, wenn sich Abstraktionen schon weit davon entfernt hätten (ebd., 116). Daraus schließe ich, dass man anhand von Modellen den Weg zu den mittlerweile unbewussten Erfahrungen zurückverfolgen kann. Das ist es, was bei Devereux der »philosophische Poet« mit seiner »Bildersprache« tut. Die Modelle kommen dem »binokularen Sehen« am nächsten, weil sie die unbewusste Erfahrung aus größter Nähe repräsentieren und gleichzeitig dem bewussten Denken zuzurechnen sind. Die Abstraktion ist die kreative Lösung einer Krise oder eines Konflikts, die das Kind im Zusammenhang mit der Erfahrung von Hunger entwickelt. Das Modell des Gedankens als Hungergefühl beschreibt die Beziehung zwischen dem Gedanken und der emotionalen Erfahrung. Daraus entwickelt nun Bion die Theorie, dass das Denken eine Form der Beziehung ist. Er nennt diese Beziehung wieder in Anlehnung an die mathematische Sprache »K« wie Kennenlernen. »K« steht für Bion auf einer Ebene mit den Beziehungsformen »L« wie Lieben und »H« wie Hassen (Krejci 1992b, 16). Das »x K y« beschreibt also eine psychoanalytische Beziehung. Diese Beziehung bedeutet, dass x nie »im Besitz eines Stücks Wissen, genannt y, ist, sondern daß vielmehr x dabei ist, y kennenzulernen, und y dabei ist, von x kennengelernt zu werden« (Bion 1992b, 95). Bion hat diese Theorie aus dem Modell des binokularen Sehens und den zugrunde liegenden Erfahrungen als Psychotherapeut abgeleitet. Er kann damit nun die psychoanalytische Beziehung ganz anders beschreiben als mit Theorien, die nicht auf ein Modell des binokularen Sehens zurückgreifen.
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»Es zeigt sich, daß unsere rudimentäre Ausstattung für das ›Denken‹ von Gedanken angemessen ist, wenn die Probleme mit dem Unbeseelten zusammenhängen, nicht aber, wenn der Gegenstand der Untersuchung das Phänomen des Lebens selbst ist. Konfrontiert mit der Komplexität des menschlichen Geistes muß der Analytiker vorsichtig damit sein, selbst anerkannten wissenschaftlichen Methoden zu folgen; ihre Schwäche mag der Schwäche des psychotischen Denkens näher stehen, als man bei einer oberflächlichen Prüfung zugeben würde.« (Ebd., 60)
Erika Krejci, die Bions Hauptwerke übersetzt und mit einer Einleitung versehen hat, erläutert Bions Vorgehen bei der Untersuchung lebendiger Phänomene. »Durch das Herausarbeiten der wechselseitigen Bezüge von Emotionen, Gesichtspunkten […], Begriffen und theoretischen Konzepten […] wird […] eine Dichte der Zusammenhänge spürbar, die etwas von einem Körper an sich hat.« (Krejci 1997b, 11f.) In Bions Ansatz, seinem »Tun und Denken, Denken und Tun […] entsteht ein lebendiger, psychoanalytischer ›fühlender Denkraum‹ (ebd., 12, Herv. SA). So werden »im eigenen Denken Beziehungen aktualisiert, miteinander verbunden und verfügbar, die vorher verstreut und unverbunden erschienen oder unbewußt waren« (ebd., 14). Bion will die Trennung von emotionalen und kognitiven Prozessen in der Wissenschaft überwinden und verlangt dabei dem »Fassungsvermögen« (ebd. 14) des Lesers/der Leserin viel ab. Folgt man Bions Gedankengang, dann lässt sich in Bezug auf mein Vorhaben folgern, dass jedes Denken und jedes wissenschaftliche Denksystem, das sich mit Kultur beschäftig, eine Geschichte hat. Diese nimmt in individuellen emotionalen Erfahrungen ihren Ausgang. Was Bion für die Untersuchung von Phänomenen des Lebens fordert, gilt auch für Kultur. Man muss vorsichtig sein, selbst anerkannten Methoden zu folgen. Bions Ansatz zeigt die alternative Möglichkeit auf, nach den Erfahrungen und Modellen zu fragen, auf denen Theorien über Kultur aufbauen. Anhand der Modelle ist es möglich, die Elemente, die abstrahiert wurden, zu erkennen. Es ist möglich, den Weg der Denkerfahrung zu denken. Kein Modell und keine Theorie können die Wirklichkeit vollkommen repräsentieren. Folglich impliziert dieser Ansatz einerseits, dass andere Erfahrungen zu anderen Modellen führen und dass außerdem andere Modelle auch andere Elemente derselben Erfahrungen abbilden können. Außerdem ist es möglich, dass Modelle die zugrunde liegenden Erfahrungen »mißrepräsentieren« (Bion 1992b, 96). Das scheint nun
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zwar im Ergebnis nicht neu zu sein und nur das ›interkulturelle Mantra‹ der Vielfalt und Relativität zu wiederholen. Wirklich neu ist aber, dass mit dem Modell des Modells ein methodisches, denkerisches Werkzeug zur Verfügung steht, um die Verbindung zwischen der Erfahrung und dem Denken, zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten, zwischen der individuellen und der verallgemeinerbaren Erfahrung zu denken. Diese Verbindung ist das Wesen dessen, was gemeint ist, wenn wir sagen, dass unser Denken kulturell ist. Es ist also – und das ist die Pointe von Bion – notwendig, dass wir uns unsere Denkmöglichkeiten aus Erfahrungen des Mangels und des Konflikts – in anderen Worten: aus Scheitern und Leiden – heraus selbst schaffen, um damit neue Erfahrungen zu ermöglichen. Diesen Prozess der dauernden Versagung von gesichertem Wissen, das man wie einen Gegenstand besitzen kann, nennt Bion Lernen durch Erfahrung. »Wenn der Lernende nicht fähig ist, die dem Lernen innewohnende Versagung zu ertragen, gibt er sich Phantasien von Allwissenheit hin und glaubt an einen Zustand, in dem die Dinge bekannt sind. Irgendetwas zu wissen besteht darin, ein ›Stück‹ Kenntnis zu ›haben‹, und nicht in dem, was ich K genannt habe. Die Beschreibung der Konstruktion von Modellen und von Abstraktion […] ist selbst ein Beispiel für das Konstruieren von Modellen und für Abstraktion im Dienste von K (oder für ›Wissen‹ im Sinne von ›etwas kennenlernen‹).« (Ebd., 118)
Ein Modell dient der Beziehung des Kennenlernens. Spiel und Bühne sind Modelle, die ich im Dienste von K, dem Kennenlernen dessen, was ich die Kultur und kulturelles Denken nenne, konstruiert habe. Sie dienen dem Denken der Lebendigkeit von Kultur, mit der ich als wissenschaftlich Denkende in einer Beziehung stehe. In der Philosophie der Kultur, die sich durch die Bezugnahme auf das Scheitern entfaltet, finden der Wunsch nach dem Kennenlernen und die Erfahrung, dass der »Wissensdurst« (Sorgo 2010) nie stillbar sein wird, zusammen.
3.3.2 Auf den Spuren Otto F. Bollnows: Erkenntnis durch Erfahrung An dieser Stelle taucht der Einwand auf, dass auch Bions Theorie des Denkens die Form eines Gebäudes annimmt, das auf einem Ursprung oder Grundstein auf baut, nämlich der sinnlichen oder emotionalen Er-
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fahrung. Wie verhält es sich nun mit der unentrinnbaren Bedingung der »Anfangslosigkeit« der Erkenntnis (Bollnow 1981, 21)? Wurde hier nur ein weiteres Mal nach einem sicheren Grundstein der Erkenntnis gesucht, der sich wiederum als Sand erweist, sobald er näherer Betrachtung unterzogen wird? Wird hier versucht, auf der Suche nach dem Ursprung eine kontinuierliche Historie der Gedanken zu schreiben, statt ihre Genealogie? (vgl. Foucault 2007) Welchen blinden Fleck und welche Grenzen hat selbst das binokulare Sehen noch aufzuweisen? Ist das Kennenlernen als unendliche Bewegung von Erfahrung über Modelle zu Abstraktionen und wieder zurück zu Realisationen eine dauernde Modifikation des gleichen Grundmodells und insofern begrenzt? Wie kommt es zur Abstraktionsfähigkeit? Ist das Kennenlernen ein nicht abschließbares Aufdecken von etwas immer schon unbewusst Gegebenem? Kann dieses Denken zu wirklich neuen Gedanken führen, wie es in interkulturellen Situationen gefordert ist? Wann führen neue Erfahrungen auch zu neuen Modellen und zu anderem Denken? Und da der Begriff Erfahrung bei Bion so eine zentrale Bedeutung einnimmt, ohne genauer bestimmt zu werden, ist auch zu fragen, ob der Begriff voraussetzungslos verwendet werden kann. Das Problem der »Anfangslosigkeit« führt bei Bollnow zu einer ausführlichen Beschäftigung mit der Erfahrung. Er beschreibt, dass die klassische Wissenschaftstheorie nach Descartes davon ausgehe, dass es möglich sei, »von allem Erkannten und Vermeinten abzusehen, um von Grund aus neu zu beginnen« (Bollnow 1981, 13). Dem stellt er die Ansicht gegenüber, wir befänden uns »vielmehr schon immer in einer verstandenen Welt und müssen uns in ihr mit unseren Bemühungen um eine sichere Erkenntnis einrichten« (ebd., 31). Diese verstandene Welt wird bei verschiedenen Autoren unterschiedlich benannt: »Lebensbezug« oder »natürliches Weltverständnis« bei Dilthey (ebd., 32ff.), »Lebenswelt« bei Husserl (ebd., 36), »gewohnte Handlungen« oder »Praxis« bei Bergson (ebd., 37ff.), »Gewohnheiten« nach Dewey (ebd., 40ff.) und bei Heidegger »besorgender Umgang« mit der Welt, die zu einer Einbettung in eine »Bewandtnisganzheit« führt (ebd., 44ff.). All diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie beschreiben, dass das »vortheoretische, unmittelbare, gefühlsbedingte Verhältnis des Menschen zu seiner Welt« (ebd., 34) dem Menschen durch den praktischen Umgang mit der Welt gegeben ist. Es geht daher jeder Erkenntnis und jedem Bewusstsein voraus. Die Erkenntnis setzt, auch dies stellen alle
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genannten Autoren fest, erst im Falle einer Störung des gewohnten Umgangs ein. Übereinstimmung gibt es auch dahingehend, dass das bewusste Erkennen sich von der Lebendigkeit des unmittelbaren Weltbezugs entfernt in Richtung einer Gegenständlichkeit und damit auch zu einer Starre der Formen führt. Nach Heidegger sind die bewussten Aussagen über die Welt und ihre Eigenschaften sogar ein »defizienter Modus« (ebd., 48), in dem etwas fehle, was eigentlich ursprünglich dazugehörte. Die Welt begegnet uns, hier treffen sich Bollnow und Bion, als Erfahrung. Das gefühlsbedingte Verhältnis zur Welt bei Bollnow entspricht dem modellhaften Denken bei Bion. Beide beschäftigt die Frage, wie aus dieser Erfahrung heraus Kennenlernen bzw. Erkenntnis möglich ist. Bollnow fragt weiter, worauf die Erfahrung zurückgeht. Er setzt dabei bei der Wahrnehmung an, die allgemein als Anfang aller Erkenntnis angesehen wird. Sie liefere durch sinnliche Eindrücke das Material für alle Deutungen (ebd., 52). Er verfolgt anhand der Untersuchungen von Cassierer auch die Genese der Wahrnehmung (ebd., 53-60): In der frühkindlichen Entwicklung orientiere sich diese am »Urphänomen des Ausdrucks« des »Du« (ebd., 54f.). Erst durch die Fähigkeit des Hinzeigens werde es möglich, ein Ding aus dem Fluss der Ausdrücke herauszuheben. Durch die Sprache eröffne sich dann weiter die Möglichkeit, ein Wort von diesem Ding abzulösen und damit ein Symbol zu schaffen (ebd., 54f.). Die Sprache sei demnach die Voraussetzung für die Abstraktion. Der Mensch lebe folglich in einem symbolischen Universum und jedes Bemühen um Erkenntnis sei immer schon eine Interpretation von Interpretationen (ebd., 58f.). Die Beschäftigung mit der sprachlichen Wurzel des Begriffs Wahrnehmung zeigt (ebd., 60ff.), dass wahren mit warnen sprachlich verwandt ist. Die Wahrnehmung habe, so Bollnow, eine Warnfunktion. Wahrnehmen sei ein Bemerken von etwas, das aus dem Gewohnten herausfällt und zum Handeln aufruft. Doch auch dabei greife die Wahrnehmung auf schon bekannte Deutungen der bereits verstandenen Welt zurück (ebd., 60-64). Sie zwinge jedoch zum genauen Betrachten des Neuartigen. Betrachten, ansehen, genau hinsehen sei, so Bollnow, auch die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes theoria. Die Theorie entstehe also immer aus einem Bedürfnis der Praxis heraus als Reaktion auf eine Wahrnehmung. Sie müsse daher immer aus dem schon gegebenen Vorverständnis heraus begriffen werden (ebd., 67f.). Damit ist in anderen Worten beschrieben, was bei Bion die Mo-
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dellbildung und die Ausbildung einer Theorie (als weiterer Abstraktionsschritt) genannt wird. Auf der Suche nach dem Anfang der Erfahrung muss Bollnow noch einen Schritt weiter zurückgehen, zur reinen Anschauung (ebd., 69-81). Die Anschauung basiere rein auf der Sinnlichkeit, sei aber, wie bereits dargelegt wurde, nicht selbstverständlich gegeben. »Wir haben die Anschauung schon immer irgendwie übersprungen« (ebd., 71). Sie müsse vielmehr als »höhere Leistung« in einem »Rückgang« zu einem »Ursprung« ausdrücklich gewonnen werden (ebd., 73). Ein solcher Ursprung liege aber nie zeitlich am Anfang, sondern müsse erst in einer »Gegenbewegung« gegen einen »uneigentlichen« Zustand erreicht werden. Das sei auch der Grundgedanke der Kulturkritik seit Rousseau (ebd., 74). Auch die Phänomenologie beschreitet als philosophische Strömung mit der »phänomenologischen Reduktion« denselben Weg (ebd., 77-79). Die Anschauung aber, so Bollnow, sei immer nur in besonderen Momenten, zum Beispiel in ästhetischen Erfahrungen durch die Begegnung mit der Kunst oder in Augenblicken der Muße, erreichbar. Sie könne zwar eine »Quelle« sein, nie aber ein »fester Grund« für gesicherte Erkenntnis. Es sei außerdem fraglich, ob sich die durch reine Anschauung gegen alle symbolischen Formen gewonnene Einsicht wiederum als »Material« einer neuen »Formung« in der Erkenntnis eignet (ebd., 80f.). Wenn man eine solche Einsicht in der Form der Sprache auszudrücken versucht, entgleitet sie wieder. Bion nennt einen der Anschauung förderlichen Zustand in der Psychoanalyse »rêverie«, Träumerei. Das ist eine freischwebende Aufmerksamkeit, die dem Analytiker/der Analytikerin erlauben soll, möglichst frei von Vorwissen und Wahrnehmungsbegrenzungen den Analysanden/ die Analysandin »anzuschauen«. Dies entspricht der »träumerischen Gelöstheit« der Mutter, die es ihr erlaubt, die projektiven Identifikationen des Kindes aufzunehmen (Bion 1992b, 83ff.). Bions Forderung geht so weit, dass er den Analytiker/die Analytikerin auffordert, sich darin zu üben, auf Erinnerung, Wunsch und Verstehen zu verzichten (Bion 2009, 52-66), um einem Zustand nahe zu kommen, den Bollnow Anschauung nennt. Die Anschauung sei in jedem Fall auf den Bereich der sichtbaren Welt bezogen und nicht auf den Bereich von Sitten und Gebräuchen, erklärt Bollnow weiter. Für die kulturellen Verhältnisse, die in einem von Bollnow nicht näher definierten »Medium der Gemeinsamkeit« (Bollnow
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1981, 84) vorlägen, wählt Bollnow den Begriff »Meinungen« (ebd., 85-88). Das seien kollektive, selbstverständlich gegebene Meinungen, von denen der Einzelne nicht sagen kann, wann und wie er sie erworben hat. Bemerkenswert sei der Umstand, dass die »Meinungen« so selbstverständlich seien, dass die Sprache dafür kein eigenes Wort geschaffen habe. Es sei aber möglich, einen Teil dieser Meinungen kritisch zu überprüfen und in Wissen bzw. Überzeugungen zu verwandeln. Dies sei auch die Grundidee der Aufklärung. Doch auch dieses Wissen sei nie ein endgültig gesichertes Wissen (ebd., 87). »Der verantwortliche urteilende Mensch kann einen Teil von ihnen [einen Teil der Meinungen, Anm. SA] in gesicherte Urteile verwandeln, aber es bleibt immer ein enger Ausschnitt […]. Es ist hiermit wie bei einem Eisberg, dessen weitaus größere Masse unter Wasser ist und der nur zum kleineren Teil sich über die Meeresoberfläche erhebt.« (Ebd., 87)
Die Metapher des Eisbergs ist interessant, weil sie auch von Freud in Bezug auf das Unbewusste verwendet wurde und in der interkulturellen Bildung als Modell für Kultur dient. Bei Freud trennt die Wasseroberfläche das Bewusstsein vom Unterbewussten. Sie entspricht der Kontaktschranke bei Bion. Im Kulturmodell trennt sie das Sichtbare vom Unsichtbaren in der Kultur. Für Bollnow liegen unterhalb der Wassergrenze die Meinungen und darüber die Erkenntnis, die durch eine kritische Überprüfung daraus hervorgehoben wurde. In diesem Modell spielt der Eisberg die zentrale Rolle, während das Wasser, das doch eigentlich für den Unterschied sorgt nicht weiter beachtet wird. Interessant ist auch, dass eine Beweglichkeit innerhalb des Eisbergs impliziert wird. Das wäre eine Veränderungsmöglichkeit, die aber bei einem Eisberg, der ja – abgesehen davon, dass er sich völlig umdrehen kann – für große Stabilität steht, gerade nicht denkbar ist. Da Bollnow in der Folge seine Theorie der Erkenntnis insbesondere in Bezug auf die Veränderung der Vorerfahrung weiterentwickelt, müsste er auch das Modell des Eisbergs anpassen. Bollnow wendet sich der Frage der Veränderung zu (ebd., 93ff.): Erkenntnis werde nicht zufällig, sondern durch eigene Anstrengung erworben und führe zu einer eigenen Meinung. Die öffentliche Meinung, das kollektive Vorverständnis, habe einen Hang zur Beharrung und übe auch einen Druck auf die einzelne Person aus. Daraus ergebe sich ein
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Konflikt zwischen einem kritischen Individuum und der beharrenden Gesellschaft. Das Erringen einer eigenen Meinung benötige daher Mut, Anstrengung und Überwindung der eigenen Trägheit (ebd., 94f.). Viel schwieriger sei aber der Konflikt, der im Inneren eines Individuums in Form der Selbstkritik auszutragen sei, weil das Individuum ja die allgemeine Meinung auch in sich übernommen hat. Der Wunsch nach Fortschritt und jener nach Erhalten des Bekannten stünden einander in diesem Prozess gegenüber (ebd., 97f.). Ein Mensch strebe danach nicht »aus freischwebender Freude an der Erkenntnis, sondern nur dann, wenn er durch den Verlauf seines Lebens selbst dazu gezwungen wird, d.h. nur dann, wenn es auf dem bisherigen Wege nicht weitergeht, wenn er mit seinem Leben in eine für die bisherigen Anschauungen ausweglose Situation gekommen ist. Eine solche ausweglose Situation bezeichnen wir als Krise.« (Ebd., 98)
Die Krise – und nur die Krise – führe, dies ist Bollnows Schlussfolgerung, einen Menschen zur selbstverantwortlichen Existenz. Erkenntnis sei »einbezogen in den krisenhaften Charakter des menschlichen Lebens« (ebd., 99). Bollnow zufolge ist jede echte Erkenntnis zugleich eine Selbsterkenntnis und hart errungen. Erkenntnis im Wege der Kritik und Krise geschehe daher nie als »bruchlose stetige Entwicklung«, sondern »in der ständigen Gegenbewegung gegen ein schon Vorhandenes, in Auseinandersetzung und Kampf« (ebd., 101). Die vorhandenen Meinungen seien dabei aber nicht lästig, sondern grundlegend, weil ihr Widerstand die Kritik erst möglich mache. Damit hat Bollnow die Grundlagen seiner Philosophie der Erkenntnis dargelegt. Im Zentrum der Erkenntnis steht nach Bollnow die kritische Überprüfung und Auslegung des vorrationalen Vorverständnisses, das immer schon gegeben ist und hinter das nicht zurückgegangen werden kann. Es gibt daher keinen voraussetzungslosen Anfang der Erkenntnis. So wie ich Bollnow lese, ist der Grund und damit der Auslöser jeder Erkenntnis eine Störung, ein Konflikt, eine Krise, ein auswegloser Zustand – in meinen Worten: das Scheitern –, das dazu nötigt, das als selbstverständlich angenommene Weltverständnis in einer bestimmten Hinsicht zu überprüfen. Es ist zwar erfreulich, mich mit meinem Ansatz in guter Gesellschaft zu befinden, damit verschiebt sich das Problem der Erkenntnissicherheit allerdings nur auf eine andere Ebene, denn: Anhand welcher Kriterien und Verfahren lässt sich diese Überprüfung so
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vornehmen, dass sich ein »gesichertes Urteil« vom »naiven« Weltverständnis abheben kann? Wird hier der Ort der Sicherheit der Erkenntnis nur vom Anfang an das Ende verlegt, dem man sich durch wiederkehrendes Scheitern annähern kann? Oder bewegt man sich weiterhin im Kreis? Kann die Überprüfung tatsächlich zu einer Erkenntnis führen, die über den Rahmen des Vorverständnisses hinausgeht oder bleibt dieses für immer ein gedankliches Gefängnis? Dieser letzte Punkt ist vor allem im Kontext der Interkulturalität relevant: Ist es möglich, sich aus dem je eigenen kulturellen Weltverständnis heraus für etwas vollständig Neues und Fremdes zu öffnen? Was bedeutet anders Denken oder Anderes denken lernen? Und wenn man sich für mehrere Denkmöglichkeiten geöffnet hat, nach welchen Kriterien trifft man dann seine Entscheidungen? Abgesehen von der sprichwörtlich durch Schaden erworbenen Klugheit: Warum sollten die Urteile, die durch das Scheitern zustande kommen, ›richtigere‹ sein? Bollnow ist sich über diese Schwierigkeiten durchaus im Klaren. Im handwerklich-technischen Bereich gäbe es als gut nachvollziehbares, pragmatisches Kriterium für das Urteil den Erfolg in der Umsetzung (Bollnow 1981, 102). Sittliche Anschauungen oder Gesellschaftsordnungen seien aber kein einfaches »Material«, das man auf seine Tauglichkeit hin überprüfen könne. Es brauche aber auch im kulturellen und sittlichen Bereich die Möglichkeit, das Handeln vernünftig zu begründen, wenn man es nicht der Willkür überlassen möchte (ebd., 103). Die moderne Wissenschaftstheorie habe jedoch alle jene Aussagen, die sich als rein »präskriptiv« und nicht durch Verifikation und Falsifikation »überprüfbar« erweisen, aus dem Bereich der Wissenschaftlichkeit ausgeschlossen (ebd., 148). Bereits ganz zu Beginn seiner Überlegungen hatte Bollnow schon den pragmatischen Ausweg aus diesem Problem angedeutet, indem er die Frage nach der Sicherheit der Erkenntnis umkehrte: »Ist in der Erkenntnis alles unsicher und fragwürdig, wenn es nicht gelingt, einen solchen archimedischen Punkt zu finden?« (Ebd., 14) Anders gefragt: Gibt es noch etwas Anderes als rein präskriptive oder normative Aussagen einerseits und empirisch verifizierbare Aussagen andererseits? Das bejaht Bollnow. Er bezieht von Gehlen den Begriff der »irrationalen Erfahrungsgewißheit«, womit »eine nicht rationale, aber durchaus erfahrungsgesättigte Gewißheit« (Gehlen, zit.n. Bollnow 1981, 103, Herv. SA) gemeint ist. Er setzt sie als ursprünglichste Form der Erkenntnis, von der aus andere Formen zu entwickeln seien.
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Bollnow baut von hier ausgehend eine Theorie der Erkenntnis durch Erfahrung auf, indem er die bis dahin herausgearbeiteten und übernommenen anthropologischen und philosophischen Grundgedanken um zusätzliche Begriffe ergänzt und verändert. Bollnow geht nun wie folgt vor (Bollnow 1981, 104ff.): Die »Erfahrungsgewißheit« entspricht dem, was er bis dahin als das »elementare Lebensverständnis« oder die »herrschende Meinung« bezeichnet hatte. Diese bieten eine selbstverständliche Sicherheit bis man damit an eine Grenze stößt oder in eine Krise gerät. Dies ist der Anlass für eine »Hermeneutik des Vorverständnisses« (ebd., 106), also für dessen bewusste Auslegung. Er kann nun aber zeigen, dass im Unterschied zur hermeneutischen Interpretation von Texten bei der Auslegung des Vorverständnisses der feste »Widerstand der Sache« fehlt, an dem sich die jeweilige Deutung überprüfen lässt (ebd., 106). Den Widerstand der Sache, das betont Bollnow auch an anderer Stelle, hält er für zentral für den geisteswissenschaftlichen »Forscher«, der seine Aussagen daran messen muss, »daß der Gegenstand vor seiner Deutung standhält und sich nicht einfach nach seinen Wünschen fügt« (Bollnow 2009b, 255). Anderenfalls kann immer wieder nur das bereits immer schon Verstandene bewusst gemacht und nur mit den Mitteln ausgearbeitet werden, die das Vorverständnis zur Verfügung stellt. Bollnow nennt diese Auffassung das »geschlossene Vorverständnis« (Bollnow 1981, 118). »Dieses Vorverständnis selber ändert sich nicht. Es zeichnet den Rahmen einer immer gleichen Welt. Alles, was geschieht, geschieht in dieser Welt, aber die Welt selber ändert sich nicht. Der Mensch ist wirklich eingespannt in den Käfig seines unwandelbaren Vorverständnisses. Es gibt für ihn nichts wirklich Neues, wenn wir darunter etwas verstehen, was nicht in den Rahmen des vorgezeichneten Verständnisses hineingeht, was diesen vielmehr im Ganzen sprengt und zu einer grundsätzlichen Revision zwingen würde.« (Ebd., 118)
Das geschlossene Vorverständnis ist problematisch, hier ist Bollnow vollkommen zuzustimmen, weil es keinerlei Öffnung für Neues und Unvorhersehbares ermöglicht und konsequenterweise alle zukünftigen Möglichkeiten ausschließt. Bollnow setzt daher alles daran, die Voraussetzungen für das Denken eines »offenen Vorverständnisses« zu formulieren, bei dem neue Erfahrungen das Vorverständnis verändern und erweitern können (ebd., 119). Dazu verwendet Bollnow zwei Begriffe: die »Tatsachen« und die »Erfahrung«. Bei der Annäherung an die Begriffe
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geht er jeweils vom allgemeinen Sprachgebrauch aus und entwickelt daraus, um mit Bion zu sprechen, ein Modell, indem er die jeweilig relevanten Elemente in ihrer erfahrungsgemäßen Verbindung darstellt. Die Tatsachen (ebd., 121ff.), so erläutert Bollnow anhand einiger Sprachbeispiele, sind »etwas, das als etwas Störendes in unsere vertraute und gewohnte Welt herein ragt – oder besser: hereinbricht. Denn Tatsachen sind nie von Anfang an vorhanden. In der gewohnten und vertrauten Welt gibt es darum auch keine Tatsachen.« (Ebd., 122) Man »stößt« auf Tatsachen oder stellt »jemand[en] vor vollendete Tatsachen«. Sie sind etwas »Fertiges und Festes«, das durch menschliche Tat geschaffen und »vollendet« wurde und »wollen anerkannt werden« (ebd., 121f.). Im übertragenen Sinn kann auch nicht vom Menschen Geschaffenes, das sich als unerwünscht erweist, als Tatsache bezeichnet werden. Man beruft sich auf Tatsachen in strittigen Situationen, um klar zu machen, dass sie »berücksichtigt« werden müssen. Tatsachen sind »hart« und »unbequem«. Sie sind »etwas Fremdes und Unverständliches«, das man zu »erklären versucht« und das nach »Bewältigung« verlangt (ebd., 123ff.). Im Zusammenhang mit Migration kann so zum Beispiel die Zahl der an einem Ort wohnhaften Zugewanderten als Tatsache in eine Diskussion eingebracht werden. Im interkulturellen Kontext kann sich auch ein im eigenen Vorverständnis unbekanntes Verhalten, wie die Praxis der Genitalverstümmelung, um ein extremes Beispiel zu wählen, als Tatsache erweisen, die bewältigt werden muss. Die wohl nicht nur interkulturell wirkungsmächtigste Tatsache der jüngeren Vergangenheit sind die Ereignisse des 11. September 2001. Sie stellen auch rein bildlich das Hereinbrechen von etwas Störendem in die vertraute Welt dar. Sobald etwas subjektiv oder kollektiv als Tatsache festgestellt wird, stellt sich die Frage, ob es »bruchlos in den Zusammenhang des vorhandenen Weltverständnisses einbezogen werden kann« oder ob es »imstande ist, dieses Weltbild aufzusprengen und zu einer grundsätzlichen Revision zu zwingen« (ebd., 126). Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, eine Tatsache zu leugnen, auf die Bollnow nicht eingeht, und die nach Bion zu Missrepräsentationen führen kann. Das ›aufsprengende‹ Potenzial erklärt jedenfalls auch den allenfalls auftretenden Widerstand gegen die Anerkennung von Tatsachen. Das Neue tritt also in Form von Tatsachen in die vertraute Welt und durch die Auseinandersetzung und Bewältigung von Tatsachen entsteht Erfahrung, so setzt Bollnow seine Gedanken fort. Er betont, dass es dabei um eine Erweiterung eines rein sinnlichen Erfahrungsbegriffes geht,
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den wir oben bereits im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Anschauung berührt haben (ebd., 128). Mit diesem erweiterten Erfahrungsbegriff kann er auch die Brücke zum Lernen schlagen und ich wiederum kann damit an Bion anknüpfen. Ausgehend von der Wortgeschichte lernen wir bei Bollnow (ebd., 129f.), dass das Wort »fahren« ursprünglich ein allgemeines »Sichfortbewegen« nicht nur im Wagen bedeutete. Die Vorsilbe »er-« steht für »ein »Durchhalten bis zum Ende«. Im übertragenen Sinn heißt erfahren daher, »etwas dadurch kennenlernen, daß man im ›Fahren‹, auf der ›Fahrt‹ damit in Berührung kommt, wobei dann die Erinnerung an die ausgestandenen Mühen und Gefahren und an die Unfälle, die einem am Wege zugestoßen sind, mitschwingt« (ebd., 129). Zur Schmerzhaftigkeit führt Bollnow weiter aus (ebd., 127-132): Erfahrungen könne man nur selbst machen, sie können »bitter oder schmerzhaft« sein und man »macht« sie, wenn »unerwartete Hindernisse« auftreten, sodass es sich eher um ein »Machen-müssen, ein Erleiden« handelt. Nicht der Mensch, sondern die Tatsache, die der Mensch erfährt, stehe im Mittelpunkt. Es gehe um die wiederholte Beobachtung von »allgemeinen Zusammenhängen«, die schließlich auch den Menschen bleibend verändern. Die Erfahrung trete uns aber auch in ihrer verfestigenden Eigenschaft entgegen (ebd., 132ff): Wenn die wiederholten Versuche, etwas zu ändern, zur Resignation führten, dann endeten sie in Form von »routinemäßig erprobten Verfahren«, die sich fortan neuen Erfahrungen entgegenstellen. Die Routine könne zu einer »abstumpfenden Erfahrung« führen, oder aber zur Ausbildung eines »erfahrenen Praktikers« (ebd., 135ff.). Dessen Erfahrung ist so sehr in sein Können übergegangen, dass sie ihm gar nicht mehr ausdrücklich als Wissen bewusst ist. Erfahrung, im Sinne menschlichen Reifens, setze aber immer wieder die schmerzliche Erfahrung der Grenzen des eigenen Könnens voraus. Deshalb brauche es immer wieder den Mut, sich für das Neue zu öffnen (ebd., 137ff.). Bollnow grenzt die Erfahrung von der Empirie in der Forschung ab (ebd., 140ff.): Während die Erfahrung unberechenbar sei, wird das empirische Experiment geplant. Im Idealfall sollte es sogar wiederholbar sein. Die Antwort sei in diesem Fall immer schon durch die Fragestellung vorgegeben, sodass die Forschung immer »im Rahmen eines geschlossenen Vorverständnisses« bleibe. Damit solle nicht die Sinnhaftigkeit der empiristischen Forschung bestritten, sondern die beiden Erkenntnisformen in ihrer Komplementarität dargestellt werden (ebd., 141f.).
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Der in dieser Arbeit angekündigte Essay, das Gedankenexperiment mit dem Spiel des Scheiterns, ist kein empirisches Experiment, vielmehr ein Fortbewegen durch das Feld der Interkulturalität, durch das Spannungsfeld von beharrenden und erneuernden Kräften. Die Begegnung mit unerwünschten Hindernissen, die Erfahrung des Scheiterns, können wir dann mit Bollnow als Einbrüche des Neuen in das teils unbewusste, teils erfahrungsmäßig gesicherte, jedenfalls immer existente Vorverständnis verstehen, die zur Bewältigung aufrufen. Wenn diese Arbeit also ein Erfahrungsvorgang ist, dann ist nun zu klären, inwieweit dabei Erkenntnis und Lernen stattfinden können bzw. ob es auf diesem Weg möglich ist, ein anderes Denken zu entwickeln. Nicht jedes Lernen sei schon eine Erfahrung und umgekehrt nicht jede Erfahrung führe zum Lernen, führt Bollnow weiter aus (Bollnow 1981, 142-145): »Angelerntes Wissen« oder von anderen vermitteltes Wissen habe eine andere Qualität als selbst Erfahrenes. Doch auch selbst gemachte Wahrnehmungen können beim »bloßen Zur-Kenntnis-nehmen« stehen bleiben. Erfahrung setze eine Beteiligung und Betroffenheit der Person voraus. Sie könne nicht aus der »Absicht des Lernen-wollens entstehen«, sondern sei eine nachträgliche Verarbeitung von ungeplanten und unverständlichen Ereignissen. Im Laufe des Lebens bilde sich so die »Lebenserfahrung« aus (ebd., 142f.). Das allgemeine – kulturell und sprachlich gegebene – Vorverständnis gebe bestimmte Möglichkeiten vor, die durch Erfahrung konkretisiert werden. Doch damit begegnet er wieder dem Problem des geschlossenen Vorverständnisses. Bollnow betont daher: »Erfahrung im vollen Sinne ist sie erst, wenn sie sich auf etwas Neues bezieht« (ebd., 145). Er unterscheidet das »relativ und das absolut Neue«. Das »relativ Neue« füge sich in die bis dahin verstandene Welt ein, während das »absolut Neue« diese »im ganzen sprengt« und »zurückwirkend den Verständnishorizont selbst verwandelt«. Das »absolut Neue« kann, so Bollnows Ansatz, das Vorverständnis verändern, sodass wir es mit einem »wachsenden, sich entwickelnden und verwandelnden Apriori« zu tun haben (ebd., 145). Da die Erfahrung nie systematisch stattfinde, sondern immer zufällig und lückenhaft bleibe, so Bollnow weiter, sei eine Ergänzung des Wissens durch gezielte, empirische Forschung notwendig und sinnvoll (ebd., 146ff.). Nicht sinnvoll sei es allerdings, zentrale Lebenserfahrungen, wie zum Beispiel die »Begegnung« (ebd., 149ff.), aus dem Bereich wissenschaftlicher Forschung auszuschließen, mit dem Argument, solche Er-
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eignisse seien nicht überprüf bar. Auch wenn Erfahrungen wie eine »Begegnung« oder die »Bereicherung des ganzen Lebens durch die Geburt eines eigenen Kindes« (ebd., 148) nicht planmäßig wiederholbar seien, so könnten sie doch durch geeignete Methoden überprüft werden. Wenn man sie ausschlösse, bliebe nur ein »verstümmeltes, letztlich niemanden mehr interessierendes Bild der Wirklichkeit übrig« (ebd., 151). Einer »Hermeneutik der Erfahrung« sei durch die »großen Erfahrungen«, durch die Begegnung mit dem »absolut Neuen«, etwas »Festes« gegeben, an dem sich das Verständnis tatsächlich erweitern könne (ebd., 152). »Es geht dabei nicht um die ›kleinen Erfahrungen‹, die sich bruchlos in den vorhandenen Rahmen des Vorverständnisses einfügen lassen, sondern die ›großen Erfahrungen‹, die sich von ihm aus nicht ohne weiteres bewältigen lassen und die zur Korrektur des bisherigen Verständnisses und zur Ausbildung neuer Auffassungs- und Verständnisformen zwingen.« (Ebd., 152, Herv. SA)
Bei diesem »offenen Vorverständnis« handelt es sich um eine »unauflösliche Verknüpfung« des mitgebrachten Vorverständnisses mit der Erfahrung des Neuen (ebd., 152). Hat Bollnow ganz zu Beginn die Sicherheit eines archimedischen Punkts der Erkenntnis, der außerhalb jeder Erfahrung und daher auch außerhalb jeder Relativität liegt, verworfen, so findet er doch zum Schluss zu einer absoluten Größe, zum »absolut Neuen«. Es verleiht der Philosophie der Erkenntnis in ihrer Beweglichkeit die notwendige Stabilität. Das »absolut Neue« ist kein fester, im Weg der Erkenntnis auffindbarer Punkt, sondern definiert sich gerade dadurch als neu, dass es noch vollkommen undefiniert ist. Aber auch das Neue ist immer schon in Beziehung zum Alten. Bollnow kann die Existenz eines absolut Neuen modellieren und denken. Er kann sie auch deduktiv begründen, allerdings nur durch ein negatives Argument: In einer geschlossenen Welt, ohne absolut Neues, wäre keine Zukunft denkbar. Das ist aber noch kein zwingender Grund dafür, dass es das absolut Neue gibt. Es gibt kulturelle Weltbilder des zeitlichen Kreislaufs und der zeitlichen Wiederkehr (vgl. zum Beispiel zur indischen und chinesischen Philosophie Wimmer 2004, 183-215). Es scheint, dass es nur ein pragmatisches Argument gibt: Um in der hermeneutischen Auslegung die Aussagen an einem Widerstand der Sache zu messen, ist es notwendig, ein von außen kommendes, festes Element zu haben. Dennoch kann Bollnow das »absolut Neue« nur rückwirkend definieren. Etwas, das das Vorverständnis als
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Ganzes gesprengt hat, kann daran als »absolut Neues« erkannt werden. Das Absolute ergibt sich aus der zwingenden Kraft. Ich gehe davon aus, dass Bollnow erfahren hat, wie sich ihm etwas Neues aufgezwungen hat. Diese Begegnung beschreibt er in einem Modell. Das Modell ist das Hereinbrechen von etwas Hartem und das Sprengen der bisherigen Form, so wie man etwa mit einem Löffel die Schale eines Eis aufklopft und dadurch dessen Form zerstört. Das setzt voraus, dass sowohl das Neue als auch die bis dahin bestehende Form über eine gewisse Starre und Stabilität verfügen. Das stabile Vorverständnis wird durch das Einbrechen des Neuen verwandelt, um danach eine neue Form anzunehmen. Die alte Form könnte aber auch wesentlich härter sein als ein Ei und daher mehr Widerstand bieten oder auch wesentlich weicher und durch ihre Flexibilität dem Bruch ausweichen. Dann müsste das Modell angepasst werden. An diesem Punkt muss noch auf einen berechtigten Einwand eingegangen werden, den Bollnow selbst aufgreift. Er wird auch im Zusammenhang mit dem Scheitern oft eingebracht: Ist dieser Ansatz nicht einseitig pessimistisch? Gibt es nicht auch positive Erfahrungen, die zu Veränderung führen? Ist nicht auch eine freiwillige innere Bereitschaft zu Neuem möglich? Welche Rolle spielt die Kreativität? Bollnow unterscheidet »beglückende Ereignisse« (Bollnow 1981, 139f.) und »schmerzliche Erfahrungen«: Beiden sei gemeinsam, dass sie unerwartet ins Leben treten. Der wesentliche Unterschied besteht nach Bollnow darin, dass die schmerzlichen Erfahrungen eben gerade »nicht fragen, wie dem Menschen zumute ist«, während die beglückenden Ereignisse schon eine »innere Bereitschaft«, eine »gewisse heitere Gestimmtheit« voraussetzen (ebd., 139). Er verweist damit auf ein weiteres Feld seiner Forschung, die Stimmungen (Bollnow 2009a; vgl. auch Gantke 2005). Das wäre zwar interkulturell ebenso interessant wie die Erfahrung, es kann aber hier nicht näher darauf eingegangen werden. Die Erfahrung sei immer auf einen praktischen Bereich bezogen, während die beglückenden Ereignisse es ermöglichen, sich von dieser Ebene zu lösen und frei zu werden für die Wahrnehmung des »Reichtum[s] des Lebens« (Bollnow 1981, 139). Schon im Zusammenhang mit der Anschauung hat Bollnow darauf verwiesen, dass diese ein »Material« ergebe, das nicht unbedingt in die Form der Erkenntnis zurücküberführt werden kann. Bollnow bestreitet also keineswegs die Existenz und Bedeutung von positiven Ereignissen, spricht sich aber gegen eine Nivellierung des Unterschieds durch einen
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»indifferent-neutralen Erfahrungsbegriff« (ebd., 139f.) aus. Aus dieser differenzierenden Perspektive lässt sich zum Beispiel die Schwierigkeit begreifen, die sich ergibt, wenn man erwartet, dass sich Lernerfahrungen, die in einer geschützten Lernumgebung gemacht werden, direkt in der Praxis umsetzen lassen. Ein Fall eines beglückenden Ereignisses, wäre das Auftauchen einer Erkenntnis (Heureka!), die auftreten kann, wenn es gelingt, in einem Lernsetting eine innere Bereitschaft für Neues zu erzeugen. An anderer Stelle spricht Bollnow von der »aufschließenden Kraft der glücklichen Stimmung« (Bollnow 2009a, 94). Das bedeutet aber keineswegs, dass dieses neue Wissen sich automatisch in der Lebenspraxis gegen die Beharrlichkeit der routinemäßigen Verfahren, gegen die »träge Erfahrung«, behaupten kann. Erst die im Weg der Kritik, Selbstkritik und Krise erkämpfte Erfahrung führt zu einer Veränderung des Vorverständnisses und damit zur Umsetzung des Neuen. Dennoch haben beide Erkenntniswege ihre eigenständige Bedeutung und Berechtigung. Ich verstehe Bollnow so, dass das »absolut Neue« gerade kein rational, deduktiv bestimmbarer Wert ist, sondern ein Datum, das nur durch Erfahrung bestimmbar ist. Damit kann nicht gemeint sein, dass dieses Neue aus dem Nichts erschaffen würde und von niemandem bisher gedacht oder erfahren worden wäre. Hier ist Bollnows Begriff des absolut Neuen irreführend. Es kann ja nur etwas in ein Vorverständnis hereinbrechen, das bereits eine Tatsache geworden ist. Und diese Erfahrung ist schmerzhaft. In die Erkenntnis durch Erfahrung ist die Gesamtheit des Vorverständnisses eines Menschen – letztlich die ihn ausmachende Lebendigkeit – einbezogen. Was Bollnow »große Erfahrung« nennt, findet eine Parallele in Bions »katastrophischer Veränderung« (Wiedemann 2007, 262). Die Psychoanalyse, so Bion, kann einen »kontrollierten Zusammenbruch« bewirken (Bion 1997, 29), der zu einem weiteren Kennenlernen (K) führt. Wobei bei Bollnow sinnlich wahrnehmbare Tatsachen Auslöser für den Veränderungsbedarf sind, während Bion sich auf die Begegnung mit einer gerade nicht sinnlich wahrnehmbaren »letzten Realität« (Bion 2009, 35) bezieht (genauer siehe Kapitel 4.3.8). Bion zufolge geht jede Theorie aus einem Modell und dieses wiederum aus einer Erfahrung hervor. Das lässt den Schluss zu, dass sowohl Bollnow als auch Bion eine Begegnung mit etwas Unerklärlichem erlebt haben und sich diese Erfahrung über die spezifischen Modelle und die daraus abstrahier-
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te Theorie denkend erschlossen und damit auch bewältigt haben. Es gibt mit den vorhandenen Mitteln also keine andere Möglichkeit, die Existenz des »absolut Neuen« oder die »letzte Realität« und deren Wirkung zu begründen, als die bis zu einem gewissen Grad durch Verallgemeinerung vergewisserte Erfahrung. Wie Bollnow selbst betont, bleibt die Erkenntnis durch Erfahrung lückenhaft und muss daher durch andere Erfahrungen, Modelle und Theorien ergänzt werden. Daraus kann man schließen, dass das »absolut Neue« nicht der Anfang ist, auf den sich alles gründen lässt, sondern es ist ein Anfang. Und ein solcher Anfang kann jederzeit wieder über uns hereinbrechen und uns in einen Kampf der beharrenden und fortschreitenden Kräfte verstricken. Das ist die beunruhigende Botschaft aus Bollnows Philosophie der Erkenntnis. Es ist der dauernde Weg des Kennenlernens (K). Der Weg zum Anfang zurück beruht auf dem Wunsch nach einem Ende der Suche und des Leidens. Erkenntnis durch Erfahrung ist aber ein immer wieder Anfangen und damit ein Weg zur schmerzlichen Erfahrung von Endlichkeit und Unendlichkeit gleichzeitig. Devereux, Bion und Bollnow nehmen auf unterschiedlichen Wegen die Mühen des beidäugigen Denkens auf sich, das irrationale und rationale Erkenntnis verbindet. Sie stellen jeden vorschnellen Objektivitätsund Wahrheitsanspruch von wissenschaftlichen Aussagen über den Menschen in Zweifel. Sie geben aber den Anspruch nicht auf, die Wirklichkeit möglichst ›richtig‹ zu repräsentieren, um nicht in reine Subjektivität und Willkür zu verfallen. Bion und Bollnow arbeiten zwar ein abstraktes Gedankensystem aus, achten aber immer darauf, den Anschluss an die Erfahrungswelt nicht zu verlieren. Sie suchen bewusst nach Möglichkeiten, Aussagen über etwas Ganzes zu machen, die aber keine vollständigen, also abschließenden Aussagen sind. Sie messen den unerwünschten Störungen die zentrale, bewusstseinsbildende Bedeutung zu. Sie betonen, dass Offenheit aktiv erarbeitet werden muss, aber nicht zu reiner Beliebigkeit führen darf. Bollnow erreicht dies durch den Bezug auf das »absolut Neue« und Bion durch die Einführung einer bedeutungsfreien »Unbekannten«, der Alpha-Funktion. Bion betont, dass er das Konzept der Alpha-Funktion braucht, »um die Lücken in meinem Wissen […] zu füllen. Auf diese Weise war […] ich in der Lage, mit der Mitteilung fortzufahren, ohne auf die Entdeckung der fehlenden Fakten warten zu müssen und ohne Aussagen zu machen, die nahelegen können, daß die Tatsachen schon bekannt sind.« (Bion 1992b, 65)
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Devereux hat gewarnt, dass es sich bei vollständigen Aussagen nur um eine vorübergehende »verfahrensmäßige Fiktion« handeln könne, weil der Mensch immer nur in einer »psychokulturellen Matrix« existiere (Devereux 1998, 125). Die Alpha-Funktion stellt eine solche verfahrensmäßige Fiktion dar. Sie markiert den Platz, den Bion dabei ist, kennenzulernen. Die Bezeichnung Funktion impliziert, dass die Lücke nicht leer ist, sondern durch Faktoren bestimmt ist, die zusammenwirken. Devereux verweist auf eine Gefahr, die andernfalls besteht, nämlich dass die Leere unbewusst durch reine »Projektionen« gefüllt wird (Devereux 1998, 229). Die Funktion verwendet Bion als Platzhalter für eine Realisierung, die sich »vom Unbekannten zum Bekannten verändert« (Bion 1992b, 73). Es geht darum, einen Raum bereit zu halten, der die Möglichkeit der Erfahrung von etwas Neuem offenhält. »Binokular« betrachtet ist dieser Raum ein »fühlender Denkraum« (Krejci 1997b, 12). Auch der Ansatz, die interkulturelle Bildung als Spiel zu beschreiben, dient als verfahrensmäßige Fiktion dem Zweck, sinnvolle Aussagen machen zu können, ohne dabei den Raum für die Lebendigkeit zu schließen. Er wird bewusst auch zur Angstminderung eingesetzt (vgl. Devereux 1998, 124). Das Scheitern als Referenz für das Spiel wiederum soll diesem Verfahren die Festigkeit des Widerstands der Sache verleihen. Diese Erfahrung ist nicht als empirisches Experiment planbar. Genauer ausgedrückt geht es um den Versuch, mein Vorverständnis sprengen zu lassen und im Dienste von K, dem Kennenlernen der Phänomene Kultur und Lernen, eine »große Erfahrung« zu machen. Jedes Spiel findet auf einem immer schon existenten Boden statt. Beim Bau einer Bühne wird bewusst ein Boden geschaffen, der sich über den natürlichen Boden erhebt und damit die Sicht auf ein spezifisches Geschehen erlaubt. Dazu muss Material ausgewählt werden und auf seine Tragfähigkeit und Eignung hin überprüft werden. Dazu hat die intensive Beschäftigung mit Devereux, Bion und Bollnow gedient. Der folgende Versuch steht also auf dem (Bühnen-)Boden von Devereux’ Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Bions Lernen durch Erfahrung und Bollnows Philosophie der Erkenntnis. Die von ihnen entwickelten Konzepte von binokularem Sehen, Funktion, Gedanke, Denken, Modell (Bion) und Vorverständnis, Tatsachen, absolut Neues und Erfahrung (Bollnow) sollen die tragenden Bretter sein. Nun fehlt noch ein Element im Modell des Spiels auf der Bühne: das Publikum. Das Publikum beobachtet das Spiel. Es wird beim Lesen viel-
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leicht Erfahrungen machen. Die Zuschauer/-innen sind Forschende, die relevante Erkenntnisse machen können, wenn sie Wahrnehmungen über die hier aufgebaute Inszenierung dieses Experiments machen. Das Publikum hat die Möglichkeit des Lernens durch Erfahrung. Voraussetzung dafür ist, dass es eine Verbindung zum eigenen Vorverständnis herstellen kann und sich durch die Inhalte des Spiels betreffen lässt. Es handelt sich also um eine gemeinsame Erfahrung der Spielerin – Autorin – und des Publikums – den Leserinnen und Lesern.
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Im ersten Abschnitt bediente ich mich der Landkarten und Skripte der Interkulturalität und versuchte, meine eigenen Erfahrungen darin zu erkennen. Ich stellte die Fragen: Was ist Kultur? Was ist Interkulturalität? Was ist Lernen? Ich scheiterte im Spiel der Heilung. Es war notwendig, mich aus dieser Situation selbst zu befreien. Durch die Erlaubnis zum Gedankenspiel gab ich mir die Freiheit, meinem Denken eine eigene Bühne zu bauen und darauf Erfahrungen zu machen. Ich gehe den von Bion und Bollnow beschriebenen Weg (hodos) des (Kennen-)Lernens bzw. der Erkenntnis durch Erfahrung. Indem ich mich in die Erfahrung hinein (meta) begebe, möchte ich feststellen, wie das Erfahren als Methode wirkt. Die Leserin/der Leser kann mich dabei beobachten. Meine Möglichkeit ist darauf begrenzt, einen Gedankenweg zu gehen und die Erfahrung des Kennenlernens in einem »fühlenden Denkraum« zu machen. Meine These lautet: Wenn man herausfinden und beschreiben kann, ›wie es geht‹, zu neuen, erfahrungsgesättigten Gewissheiten über Lernen und Kultur zu gelangen, hätte man im unsicheren Feld der Interkulturalität schon sehr viel gewonnen. Der Weg der Erkenntnis durch Erfahrung bringt einen Perspektivenwechsel auch für die Leserin/den Leser mit sich. Während ich als Autorin Denkerfahrungen mache, sehe ich den gesamten Weg nicht. Deshalb mache ich Umwege oder ich suche immer wieder nach Anhaltspunkten in Form von Theorien. Bisweilen muss ich anhalten, um mich meiner aktuellen Position zu versichern. Anhand der vorgestellten Konzepte »Erfahrung«, »Modell« und »Kennenlernen« beginnt nun der Versuch, den Weg der Erfahrung des Denkens von etwas Neuem zu beschreiben. Die Leitfragen, die ich am Ende des ersten Abschnitts formuliert habe, lauten: Was bedeutet anders denken? Welche Grundannahmen liegen meiner Wahrnehmung von Konzepten interkultureller Bildung zugrunde? Was wird ausgeschlossen? Anders ausge-
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drückt: Wie geschlossen oder offen ist mein Vorverständnis? Dazu beginne ich zunächst mit dem Bericht über die eigene interkulturelle Lernerfahrung in Benin (Praxisreflexion). Ich möchte mein erfahrungsmäßiges Vorverständnis kennenlernen. Es ist nicht möglich, an den Ursprung der Erfahrung zurückzugehen. Jede Beschreibung stellt schon eine gedankliche Repräsentation von Erfahrung dar. Da neue Erfahrungen auch auf das Vorverständnis zurückwirken, muss sich die Beschreibung zum Zeitpunkt x (Auslandsaufenthalt) von einer Beschreibung zum Zeitpunkt y (Schreiben eines Berichts darüber zu Beginn der Forschung) unterscheiden. Bei der nun folgenden Praxisreflexion kann es sich daher weder um eine Beschreibung der ursprünglichen Erfahrung noch um eine abschließende Beschreibung handeln. Unter diesen Bedingungen erlaubt die verfahrensmäßige Fiktion des Spiels, einen Anfang und ein Ende zu setzen. Anfang und Ende zu setzen bedeutet, die Erfahrung als chronologischen, zeitlichen Ablauf darzustellen, obwohl es sich auch dabei um eine verfahrensmäßige Fiktion handelt.
4.1 I nterkulturelle E rfahrungen machen 4.1.1 Begegnung und Befremdung »Meine erste interkulturelle Lernphase war emotional positiv. Mein erstes Bezugsland war Italien. Insbesondere durch eine Liebesbeziehung als Jugendliche wurde Italien zum Symbol für eine Welt, die anders und besser war als die bekannte, heimische. Die Sprache war das Tor zu dieser anderen Welt. Ich konnte erleben, dass ich in einer anderen Umgebung und mit einer anderen Sprache ein anderer Mensch werden konnte. Überwiegend konnte ich Positives in dieses Gegenüber hineinprojizieren. Ein Teil des Gefühls der Freiheit bestand darin, die fremde Umgebung und Sprache eben frei interpretieren zu können und von all den tieferliegenden, impliziten Bedeutungen befreit zu sein. Mein Ziel war es, in dieser anderen Welt aufzugehen, möglichst nicht mehr als Außenstehende erkennbar zu sein. Durch meine Andersartigkeit erlebte ich mich aber auch als interessant für andere, die eigene Kultur und ihre Eigenheiten gewannen an Attraktivität. Die Beziehung zu meinem Freund kam wohl auch dadurch zustande, dass wir uns beide am Rande der eigenen
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Gesellschaft empfanden. Es gab aber auch schmerzhafte Momente, in denen die Verständigung an ihre Grenzen stieß. Teilweise ging es auch um Themen, die tiefe, durch Sozialisation erworbene Überzeugungen berührten (z.B. Geschlechterrollen). Diese Phase ging auch einher mit einer intensiven Auseinandersetzung mit der Fremdsprache, die sicher für das Einfühlen in die Kultur förderlich war. Die Beziehung war durch eine prinzipiell positive Herangehensweise geprägt und bot mir die Möglichkeit für Öffnung und das Erkennen, dass Kultur eine Tiefenstruktur hat.« (Aydt 2008) »Mein zweiter intensiver Lernprozess hat sich während eines dreieinhalbjährigen Aufenthalts in Benin abgespielt. Ich war vor meiner Ausreise noch nicht in Afrika südlich der Sahara gewesen. In meiner Erinnerung gab es so etwas wie einen Vorhang, durch den ich hindurchging, als ich in Cotonou aus dem Flugzeug stieg. Ein Vorhang, der zwei Welten trennte. Der Vorhang zwischen dem Bekannten und dem Unvorstellbaren, Undenkbaren, Unbegreif baren. Der Wechsel war körperlich spürbar durch das Eintauchen in eine andere Luft. Ich musste ab diesem Zeitpunkt die andere, ungewohnte Luft atmen, konnte ihr nicht entgehen. Die erste Zeit war geprägt durch körperliche Umstellung und geistige Orientierungslosigkeit. Das Grundgefühl war: Meine Welt ist wie ein Kartenhaus eingestürzt. Mir fehlten die gewohnten, alltäglichen Interpretationsrahmen. Ich konnte Personen nicht mehr nach ihrem Aussehen, Gestus etc. einordnen. Der unsichtbare Kitt, der die Teile der Welt zusammenhält, war zerbröselt. Es war ein Gefühl der kindlichen Hilflosigkeit. Einige Wochen nach der Ankunft kam der einschneidende Moment, als ich die neue Umgebung als Realität erkannte. Es war wie ein Moment des Erwachens. Ich dachte: ›Seit ich hier war, habe ich immer das Gefühl gehabt, in einem Film zu sein.‹ Es war das Gefühl, außerhalb der Realität zu stehen, mit einer gewissen Distanz. Ich fühlte mich selbst nicht als Teil dieser Welt. Das Erwachen war das (An-)Erkennen dessen, was ich sehe, als Wirklichkeit. Mir fiel das Bild des Schleiers ein, ein Schleier hatte sich gehoben und den Blick auf die Wirklichkeit freigegeben. Prägende Themen der ersten Zeit waren: Meine ökonomischen Privilegien führten zu schlechtem Gewissen einerseits und andererseits zu dem dauernden Verdacht, ausgenützt zu werden. Die körperlichen und statusmäßigen Merkmale als ›Weiße‹ gaben mir
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das Gefühl, ständig den Blicken, Interpretationen, Bewertungen und Wünschen von anderen ›ausgesetzt‹ zu sein. Es gab kein Verschwinden in der Masse von Gleichartigen. Ich musste mir ständig ›meiner Haut‹, d.h. meines Erscheinens nach außen, meiner Grenze bewusst sein. Ich konnte mich nicht vergessen, ›eins sein‹ mit meiner Umgebung, mich in den Schutz des Vertrauten zurückziehen. Ich spürte den Wunsch, aufzugehen in der neuen Umgebung. Die Interpretationen und Erwartungen der anderen bezogen sich nicht auf mich als Person, sondern auf meinen Status als ›Weiße‹, d.h. als Trägerin einer Rolle, die ohne mein Zutun im Laufe einer langen gemeinsamen Geschichte im kollektiven Bewusstsein aller Beteiligten entstanden ist. Ich war einerseits getrennt von meiner vertrauten Gemeinschaft, wurde andererseits aber dadurch, wie mich andere wahrnahmen, anders, neu mit ihr verbunden. Ich konnte mir das Bild, das man sich von mir machte, nicht aussuchen, spürte aber seine konkreten Auswirkungen. Die Kategorien ›entwickelt‹ und ›nicht entwickelt‹ waren zentrales Thema für mich. Viele Fragen kreisten um diese Dimension – Warum gibt es wenig Entwicklung? Wie wäre sie verlaufen ohne Kolonialisierung? Wie kann man Entwicklung fördern? – doch lange stellte ich die Existenz von Entwicklung nicht infrage. Die Auseinandersetzung mit dem Kontext der Entwicklungshilfe begann. Meine eigene Anwesenheit in Benin war (nur) damit zu rechtfertigen. Die ökonomischen, materiellen Kriterien waren massiv, ebenso tief verankert war in mir die Vorstellung von linearen Verläufen. Bei den ersten Erlebnissen, die ich weiter oben geschildert habe, handelte es sich um unmittelbare, teilweise körperlich verankerte Erfahrungen. Beim Thema Entwicklung begann eine andere, mittelbarere Ebene, das Fragen nach Bedeutungen. Es ging darum, Widersprüchlichkeiten zu überwinden, die eigene Position in der Gesellschaft zu bestimmen. Die ersten Erlebnisse fanden in einem inneren Raum statt, der mit einem äußeren Raum in Berührung kam. Sobald ich den äußeren Raum betreten hatte, versuchte ich, dieser Situation einen Sinn zu geben, distanzierte mich aber dadurch von den unmittelbaren Erfahrungen. Ein guter Teil der ›Kultur‹ sitzt im Körper. Ich hatte die Landschaft, die Geschmäcker, die Gerüche, die mich seit meiner Geburt umgeben hatten, in mir gespeichert. Ebenso die Erfahrung von laut und leise, von nah und ferne, warm und
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kalt, von Ruhe und Anstrengung. Kann man den Prozess, in dem sich diese Wahrnehmungen ändern bzw. anpassen, als ›Lernen‹ bezeichnen? Im ersten Jahr konnte ich mich immer nur eine begrenzte Zeit lang der fremden Umgebung aussetzen, dann musste ich in meine Oase zurückkehren. Die Anpassungsfähigkeit war begrenzt. Wird diese Grenze physisch oder psychisch gezogen? Während der ersten Phase war ich noch nicht in einem Projekt tätig. Ich versuchte, mich im Alltag zurechtzufinden. Zuerst ging es um die notwendigsten Kontextinformationen, die zur Interpretation und Orientierung in der Umwelt nötig waren: Taxi fahren, einkaufen, Gefahren einschätzen, alltägliches soziales Verhalten. Hier ging es überwiegend darum, wie ich mich so anpassen kann, dass ich mein Selbstverständnis gut aufrechterhalten kann. Ein gewisser Grad an Anpassung war unvermeidbar, bis zu einem gewissen Grad konnte ich wählen, ob ich mich in Räume oder Gegenden begebe, die weniger Anpassung erfordern. Kaufe ich am Markt ein oder im Supermarkt, esse ich an einem Stand oder im Restaurant? Viele Fragen drehten sich darum: Wer bin ich? Wie weit konnte und kann ich wählen, wer ich bin? Wer möchte ich sein, bzw. wie passe ich mein Selbstbild an, an das, was ich derzeit erlebe? Ich bin ein kulturelles Wesen. Ich bin mehr von meiner Kultur geprägt, als ich je geahnt habe. Es erschreckte mich, wie tief das sitzt. Ich fühlte mich verbunden mit der gesamten Geschichte meiner Kultur. Ich wurde auch jetzt wieder von außen definiert. Ich setzte mich in Bezug zu den anderen. Ich war hier in Benin diejenige, die mehr Wissen hatte, die mehr Mittel hatte, die Verständnis hatte und die sich bemühte, sich anzupassen. In der nächsten Phase war ich im Auftrag des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) als Entwicklungshelferin in einem Bildungsprojekt der beninischen NGO Centre Afrika Obota (CAO) tätig. Ich hatte eine Aufgabe, auch wenn sie nicht klar definiert war. Zunächst fühlte ich mich beschränkt durch meine Sprachkenntnisse. Mir schien, dass ich meine Kollegen (ich war unter Männern) nicht ausreichend überzeugen konnte, weil ich meine Argumente nicht gut genug formulieren konnte, und war oft frustriert davon. Ich war mit meiner Unkenntnis konfrontiert, kannte mich in den örtlichen Verhältnissen viel zu wenig aus und sollte doch meinen Status als Expertin rechtfertigen. Ich war von den Leistungen der beninischen Kollegen sehr beeindruckt und gleichzeitig schockiert, wie schlecht
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viele Dinge ›funktionierten‹. Diese Ambivalenz konnte ich überbrücken, indem ich begann, nach ›Gemeinsamkeiten‹ zu suchen. Ich begann, das Fremde in vertraute Termini zu übersetzen, in vertrauten Bildern zu interpretieren. Ich erkannte, dass unabhängig von Kultur und Entwicklung in der Organisation Fähigkeiten und Entscheidungsmacht ungleich verteilt waren, wie auch ›bei uns‹. Ich denke, dass dies nur möglich war, weil ich mit den Kollegen auf einer sprachlich und intellektuell relativ gleichen Ebene kommunizieren konnte. Dadurch konnten wir einander Respekt und Interesse entgegenbringen. Ich begann, mich in die Kollegen hineinzuversetzen und ihr Verhalten als ›rational‹ und nicht ›irrational‹ zu verstehen. Ich bemühte mich um Anpassung an ihren Kommunikationsstil. Es fühlte sich aber an, als müsste ich dabei immer in eine Rolle, eine andere ›Haut‹, schlüpfen. Wenn ich diese dann abends ablegen konnte, war ich erleichtert. Mein Bemühen, dennoch etwas zu ›verbessern‹ kam einerseits aus innerer Überzeugung, andererseits aus dem Druck der Entwicklungshelferinnen- und Expertinnen-Rolle. Zum Beispiel war ich überzeugt, dass die anderen nur etwas wissen müssten, dann könnten sie es anders machen. Ich erkannte langsam, wie tief verankert, mein Bedürfnis war, in einer bestimmten, gewohnten Art zu planen. Ich war überzeugt, dass es besser war, so zu planen, wie ich es kannte, als gar nicht oder anders zu planen. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen, mein Planungssystem anzubieten und daran festzuhalten, sprang irgendwann mein Denken um, ich begann, ›Planen‹ neu zu definieren. Ich definierte dieses Konzept nun neu: als meinen Umgang mit Unsicherheit, als Ausdruck meines Zeitverständnisses und meines Weltbildes, das davon ausging, dass ich Zukunft gestalten kann. Ich verstand, dass es nicht um das Erlernen einer Methode gehen konnte, weil diese nur Ausdruck von dahinter stehenden ›Konzepten‹ ist. Damit stellte sich die Frage, ob es sinnvoll und möglich wäre, diese Konzepte zu ändern. Es stellte sich auch die Frage, was es bedeutet, wenn ich andererseits die Konzepte der anderen übernehme. Ich spürte langsam die Entfremdung vom europäischen Kontext. Ich spürte auch, was so zu mir gehört, dass ich es nicht ändern und abgegeben möchte, z.B. das Bedürfnis nach einem Privatbereich, meine Erziehungsvorstellungen. Sobald ich mich in einem neuen Konzept eingerichtet hatte, tauchten aber immer wieder neue Fragen auf, die mir wieder den Boden unter den
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Füßen wegzogen. Das Gefühl der Fremdheit war wieder da und auch die Frage, ob diese Fremdheit jemals aufhören kann. Die Fremdheit fühlte sich kalt an. In Bezug auf die Arbeit fühlte ich mich als zwischen allen Stühlen sitzend. Diese Rolle zwischen den Systemen wurde gegen Ende der Vertragszeit immer spürbarer. Es war klar, dass ich für meine weitere Arbeit im europäischen System Ergebnisse vorweisen würde müssen. Ich war mit den bisherigen Ergebnissen nicht zufrieden, sie waren auch nicht eindeutig genug mir zuzurechnen. Ich probierte dazu mehrere Strategien aus: Selber machen – ich erarbeitete passende Managementtools und stellte sie zur Verfügung. Selber initiieren – ich initiierte ein Projekt und versuchte, es durchzuziehen. Beides halte ich nachträglich für problematisch und nicht erfolgreich. Schließlich gelang es mir noch, mit den Kollegen für die Nachbesetzung meiner Stelle an einem Anforderungsprofil zu arbeiten. Dadurch konnte ich meine eigene Aufgabe und ihr Ergebnis umdefinieren. Ergebnis meiner Arbeit war schließlich eine fundierte Organisations- und Bedarfsanalyse des CAO, die dazu geeignet gewesen wäre, die Grundlagen für die Kooperation zwischen CAO und DED neu zu bestimmen. Leider wurde dies vom DED nicht aufgegriffen. Mir blieb schließlich nur mehr die Möglichkeit, meine Rolle darin zu sehen, in dem fremden Umfeld eine Art kulturellen Reibebaum darzustellen. Ich musste und konnte die Kriterien für meinen Erfolg umdefinieren. Es war mir gelungen, Vertrauen aufzubauen, und das schien mir ein gutes Ergebnis. Die Organisationsanalyse war nur möglich, weil mich die Kollegen für vertrauenswürdig hielten. Sie vertrauten mir ihre wirklichen Probleme und Ziele an und sprachen über ihre internen Beziehungen mit mir. Aber dieses Ergebnis führte nicht zu den erwünschten Änderungen in der Zusammenarbeit zwischen CAO und DED. Ich war während der gesamten Zeit oft mit dem Gefühl des eigenen Unvermögens konfrontiert. Das hatte eine innere und äußere Dimension, d.h. das Gefühl wurde ausgelöst durch Ansprüche von innen und außen. Ich hatte zwar ein Ergebnis erreicht, aber es wurde vom DED nicht umgesetzt. Und ich hatte nicht das umgesetzt, was ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, insofern war ich also doch gescheitert. Genau das war der Antrieb, neue Wege zu suchen. Am Ende der Zeit in Benin entdeckte ich, dass es das Feld des interkulturellen Management und der interkulturellen Trainings gibt. Ich fand
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so viele Übereinstimmungen zwischen meinen Erkenntnissen und den Inhalten dieser Modelle und dachte, dass es wichtig wäre, dieses Wissen weiterzugeben. Ich wünschte, dass mich jemand vorbereitet hätte auf das, was mich erwartet, und dass das Lernen dadurch weniger anstrengend und schmerzlich gewesen wäre. Hätte ich aber nicht ohne den Schmerz etwas Anderes gelernt?« (Aydt 2008)
4.1.2 Modelle finden Ich werde dieses Textmaterial dahingehend betrachten, welche Modelle darin zu finden sind. Es handelt sich hier um eine Erzählung über Erfahrungen. Die Erzählung enthält Reflexionen, das heißt, sie versucht, bewusst auf Erfahrungen zurückzublicken und diese zu deuten. Es ist darin von Ereignissen, von Gefühlen und auch von Gedanken die Rede. Die Erzählung folgt der Spur der Erinnerung und ist eine nur lückenhafte Darstellung des Geschehenen. Das Erzählen ist getragen von dem Wunsch, die gemachten Erfahrungen zu deuten. Im Erzählen werden einzelne Elemente des Erlebten ausgewählt und in einen gedanklichen Zusammenhang gebracht. Es findet ein dauernder Wechsel statt zwischen Beschreibungen von körperlichen Wahrnehmungen (»Eintauchen in eine andere Luft«), Beschreibungen von Gefühlen (»Gefühl der kindlichen Hilflosigkeit«), Berichten über Ereignisse (»Auftrag des Deutschen Entwicklungsdienstes«), Erstellung von Modellen (»Meine Welt ist wie ein Kartenhaus eingestürzt«) und Schlussfolgerungen über Zusammenhänge (»Die Interpretationen […] bezogen sich […] auf meinen Status als ›Weiße‹, d.h. als Trägerin einer Rolle, die ohne mein Zutun im Laufe einer langen gemeinsamen Geschichte im kollektiven Bewusstsein aller Beteiligten entstanden ist.«). Eine nähere Betrachtung der Modelle zeigt zunächst, dass sie unterschiedlich verteilt sind im Text. Die größte Dichte findet sich in der Erzählung über die erste Zeit in Afrika: »Ein Vorhang, der zwei Welten trennte.«, »Meine Welt ist wie ein Kartenhaus eingestürzt.«, »Der unsichtbare Kitt, der die Teile der Welt zusammenhält, war zerbröselt.«, ich »habe […] immer das Gefühl gehabt, in einem Film zu sein«, »ein Schleier hat sich gehoben«, »Ich muss mir ständig ›meiner Haut‹ […] bewusst sein.« Im weiteren Verlauf gibt es einen Rückblick auf diese erste Zeit, in dem wieder Modelle verwendet werden. Diese sind sehr räumlich: »Die ersten Erlebnisse finden in einem inneren Raum statt, der mit einem äußeren
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Raum in Berührung kommt.«, »[…] dann musste ich in meine Oase zurückkehren«. Später kehrt das Modell der Haut wieder: »[…] als müsste ich dabei immer in eine Rolle, eine andere ›Haut‹, schlüpfen. Wenn ich diese dann abends ›ablegen‹ konnte, war ich erleichtert.« Auch die Anfangserfahrung der Fremdheit wiederholt sich immer wieder: »[Es] tauchten aber immer wieder neue Fragen auf, die mir wieder den Boden unter den Füßen wegzogen.« Eine der letzten Erfahrungen wird ebenfalls als Modell beschrieben: »Mir blieb schließlich nur mehr die Möglichkeit, meine Rolle darin zu sehen, in dem fremden Umfeld eine Art kulturellen Reibebaum darzustellen.« Eine Gruppe von Modellen bezieht sich auf Erfahrungen der Berührung und Trennung: der Vorhang, der Kitt, der Schleier, die Haut, auch der Reibebaum. Sie bringen in Verbindung und markieren gleichzeitig eine Trennung. Die Erfahrung der neuerlichen Distanzierung wird durch einen Wechsel der Temperatur qualifiziert: »Die Fremdheit fühlte sich kalt an.« Die Modelle enthalten Hinweise auf Bewegung, Veränderung und Auflösung: das Kartenhaus ist »eingestürzt«, der Kitt »zerbröselt«, der Schleier »hat sich gehoben«, die Haut kann man »ablegen« oder man kann in eine andere Haut »schlüpfen«, das Denken »springt um«. Diese Bewegungen finden in realen oder imaginären Räumen statt: Ich befinde mich »in einem »Film« und komme wieder heraus, in einem »inneren Raum« und »äußeren Raum«, in einer »Oase«. Der »Vorhang«, der »Schleier«, die »Haut« bilden und begrenzen ebenfalls Räume. Sie sind beweglich oder werden als beweglich imaginiert (die Haut »ablegen«). Auch das »Kartenhaus« ist eine räumliche und leicht bewegliche Konstruktion. Die Grundstimmung in Bezug auf diese Veränderungen ist im Spannungsfeld von schwer und leicht anzusiedeln. Das Einstürzen ist eine tendenziell schwerwiegende Erfahrung, das Kartenhaus selbst aber eine sehr leichte Konstruktion. Auch der Vorhang und der Schleier bestehen aus relativ leichtem Material. Nur die Haut kann nicht leicht abgelegt werden, auch wenn der Wunsch danach besteht und es so dargestellt wird. Der erste Teil der Erzählung liegt zeitlich in größerer Ferne und ist durchzogen von einer positiven Grundstimmung. Hier findet sich das Modell »Die Sprache war das Tor zu dieser anderen Welt.« Das »Tor« ist das Bild schlechthin für den Übergang von einem Raum zum anderen. Der Vorhang, mehr aber noch der Schleier und der unsichtbare Kitt, bringen eine geheimnisvolle, vielleicht sogar etwas unheimliche Stimmung mit sich. Durch die Verwendung von Modellen wird es auf einer intuitiven Ebene
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nachvollziehbar, wie sich diese interkulturelle Erfahrung angefühlt hat. Die Modelle erklären die Erfahrung aber nicht allgemeingültig und lösen abstrakte Fragen und Überlegungen aus: »Wer bin ich?« – »Ich bin ein kulturelles Wesen.« In den letzten Sätzen der Praxisreflexion wird die gesamte Erfahrung als Lernerfahrung zusammengefasst, die mit einem Gefühl verbunden ist – dem »Schmerz«. Die Begegnung mit dem Feld der interkulturellen Trainings (im konkreten Fall dem Ansatz von Geert Hofstede, vgl. Hofstede 1997) löste den Gedanken aus, dass dieser Schmerz vermeidbar gewesen wäre, wenn entsprechendes Wissen vorab zur Verfügung gestanden wäre. Die Botschaft der interkulturellen Trainings war: »Du bist ein kulturelles Wesen. Was du erlebt hast, ist eine interkulturelle Erfahrung und nicht einzigartig. Deine Erfahrung kann eingebettet werden in die Erfahrungen anderer. Wir bieten dir Modelle an, in denen du deine Emotionen wiederfinden kannst. Und wir haben auch ein abstraktes Gedankenmodell zur Erklärung von Kultur entwickelt, das deine Erfahrungen verallgemeinert. So kannst du Kulturen verstehen und zukünftig Frustrationen vermeiden.« Zu der Erfahrung der Begegnung mit der beninischen Umwelt und den sich daraus ergebenden Veränderungen kam nun eine weitere Erfahrung hinzu – die Begegnung mit einem theoretischen Feld und seinen Aussagen. An dieser Stelle ist nun im Rückblick von der Schmerzlichkeit des Lernens die Rede. Die Begegnung mit der Tatsache der Existenz interkultureller Bildung traf auf das bis dahin vorhandene Vorverständnis. Davor waren verschiedene Gefühle angesprochen worden: Orientierungslosigkeit, Hilflosigkeit, Frustration, Unvermögen, Ambivalenz, schlechtes Gewissen, Getrennt-, Beschränkt-, Ausgesetzt-, Nicht-eins- und Schockiertsein, aber auch Erwachen, Frei-, Erleichtert-, Attraktiv- und Beeindrucktsein. Auch »schmerzhafte Momente, wenn das Verständnis an seine Grenzen stieß« werden erwähnt. Es zeigt sich hier ein ambivalentes Gemisch an Gefühlen: Anstrengung aber auch Anziehung durch das Andere. Es gibt den Wunsch, »in dieser anderen Welt aufzugehen«, aber auch sich davon abzugrenzen und in einer »Oase« vor der Nähe des Fremden zurückzuziehen. Im Text finden sich auch Hinweise auf das neu entstehende Bewusstsein, mit Kultur untrennbar verbunden zu sein. »Kultur sitzt im Körper« und kulturelle Erfahrungen sind »in mir gespeichert«. Das »erschreckt«. »Ich bin verbunden mit der gesamten Geschichte meiner Kultur«, sogar über die große räumliche Entfernung hinweg
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ist sie näher als je zuvor. Die Versuche der Deutung und des Verstehens dienen dazu, mich von den »unmittelbaren Erfahrungen« und dem Gefühl der unmittelbaren Verbundenheit mit »meiner Kultur« zu distanzieren. Immer wieder schlägt Verengung im Gefühlsbereich in Öffnung um und umgekehrt. Das Gefühl der Nähe führt zu Distanzierung und die Distanz weckt den Wunsch nach Nähe. Was in diesem Umschlagen passiert, bleibt zwar rätselhaft, aber das Lernen selbst oder auch die Veränderung wurden vor der Begegnung mit der interkulturellen Bildung nicht als schmerzhaft bezeichnet. Vielleicht war der Schmerz gar nicht das mit der ursprünglichen Erfahrung verbundene Gefühl, sondern der Schmerz der Enttäuschung darüber, dass mir ein Wissen vorenthalten worden war? War es eine Enttäuschung, dass all die Anstrengung entwertet wurde, weil der Anspruch entstand, dass das Lernen auch leicht vor sich gehen hätte können? Dann wäre das Schmerzhafte erst durch die Begegnung mit dem Bildungsangebot zu meinen Wahrnehmungen hinzugekommen. In jedem Fall war die Begegnung mit dem Wissen über Interkulturalität eine neue Erfahrung, die die Vorerfahrung rückwirkend verändert hat. Dies ist zu bedenken, wenn man über interkulturelle Bildung spricht. Es ist auch zu bedenken, dass die Praxisreflexion geschrieben wurde, nachdem ich mich mehrere Jahre intensiv mit interkultureller Bildung beschäftigt hatte. Im Text zeigt sich, dass sich das Wissen aus verschiedenen Erfahrungen überlagert und vermischt. Ich kann im zeitlichen Ablauf mehrere Erfahrungsphasen unterscheiden. Die früheste Erfahrung ist jene, in einer Kultur aufzuwachsen (Enkulturation). In dieser Erfahrungsphase bauen Menschen ein ganzes System von Modellen und Theorien auf, die unser Weltbild ausmachen. Der Gedankenapparat verarbeitet dabei gedankliches Material, das ihm seine Umwelt anbietet und ist aber auch in der Lage, kreativ eigenes Material zu entwickeln. Die Erfahrung der Trennung von der vertrauten Welt der Vorerfahrung, nennen wir sie interkulturelle Erfahrung oder Fremdheitserfahrung, geht einher mit dem Bewusstsein, mit der kulturellen Vorerfahrung aufs Engste verbunden zu sein. Auch das Denken darüber findet Großteils in Modellen statt und ist noch sehr nahe an die Emotionen gebunden. Es unterscheidet sich von der Erfahrung, die man macht, wenn man die interkulturelle Erfahrung im Nachhinein zu verstehen versucht und dabei das eigene Vorwissen und das Wissen anderer Menschen über Kultur in Verbindung bringt. Dafür eignet sich das Denken in Abstraktionen. Man könnte das die Pha-
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se der wissenschaftlichen Erfahrung nennen. Eine weitere Erfahrungsphase eröffnet sich, wenn man über das eigene kulturelle Vorwissen oder über interkulturelle Erfahrungen lehrt – eine Lehrerfahrung. Dabei werden abstrakte Konzepte daraufhin überprüft, ob sie die Erfahrungen der Lernenden repräsentieren können. In jeder dieser Phasen bildet sich das Vorverständnis für alle weiteren aus. Jede neue Erfahrung wirkt auf das Vorverständnis so zurück, dass sich dieses anpassen oder sogar völlig erneuern muss. Jeder dieser Schritte ist mit Gefühlen verbunden, die modelliert und in das Gesamtverständnis eingebaut werden. Der »fühlende Denkraum« verändert sich immer wieder. Es gab die Erfahrung der Unmöglichkeit und jene der Möglichkeit des Verstehens. Die Erfahrungen von Trennung und Verbindung, von Nähe und Distanz, Unsicherheit und Sicherheit, Beharrung und Anpassung gehen Hand in Hand. Es zeichnet sich ab, dass es keine Beständigkeit gibt. Ein Schleier des Nichtverstehens kann sich plötzlich heben, der Vorhang langsam weggezogen werden, sodass er neue Blicke freigibt. Man kann sich durch ein Tor hindurch in ein Neuland bewegen. Das Hungergefühl und die Sättigung im Denken wechseln sich ab. Wobei immer noch unergründlich bleibt, wie der Umschlag von einem zum anderen vor sich geht und was er bedeutet. Wenn ich nach der Auseinandersetzung mit Bion und Bollnow von der interkulturellen Erfahrung spreche, dann meine ich damit eine wiederkehrende Versagung des Wissens und Verstehens, die mit einem Mangelgefühl verbunden ist. Es gibt ein emotionales Problem, das mit all den interkulturellen Modellen und Theorien, die mir begegnet sind, nicht gelöst wird. Es besteht darin, der Unsicherheit und Unlust, die mit diesen Bewegungen verbunden sind, eine Bedeutung zu verleihen bzw. deren eventuelle Sinnlosigkeit zu bewältigen. Unlust ist hier nicht als Laune, sondern im Sinn einer schmerzlichen Grunderfahrung gemeint, wie sie zum Beispiel durch Hunger ausgelöst wird. Es löst Unlust aus, dass das Vorverständnis immer wieder geöffnet werden muss und der »Hunger« nach einer kohärenten und sinnvollen Deutung der neuen Erfahrungen immer wiederkehrt. Das ist der emotionale Impuls, der auf weitere Veränderung drängt und sich in diesem Text ausdrückt. Die Bewältigung wäre daran erkennbar, dass die Unlust, die mit der dauernden Veränderung und Unsicherheit durch die Versagung des Wissens verbunden ist, ertragen werden kann. Nach Bion kann die Unfähigkeit, Unlust zu ertragen, dazu führen,
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dass gedankliche Repräsentationen, wie zum Beispiel diese Arbeit, dazu verwendet werden, um unbewältigte Gefühle zu verleugnen.
4.2 S cheitern kennenlernen Die erste Reaktion auf die Unlust war das Streben nach Vermeidung. Die gewollte Interkulturalität postuliert, dass Interkulturalität und die mit ihr verbundenen Erfahrungen per se sinn- und wertvoll sind. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten seien bewältigbar und die Unlust daher vermeidbar. Das ist ein attraktives Versprechen. Die Erfahrungen mit der Umsetzung dieses Versprechens habe ich unter 1.1.3 als Praxisreflexion beschrieben. Wieder und immer wieder stellte sich dennoch mein Unvermögen heraus, die Interkulturalität von Unlust und Mangelgefühl zu lösen. Daraus entwickelte sich die Frage, ob dies mein persönliches Unvermögen ist oder ob es sich um eine allgemeinere Erfahrung handelt. Die Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die verschiedenen Erscheinungsformen der Unmöglichkeit. Ich nahm wahr, wie viele Widersprüche und Paradoxien in der Theorie und Praxis des Interkulturalismus existierten. Diese werden auch von vielen Autoren/Autorinnen angesprochen. Eine Weile lang hatte ich die Hoffnung, dass die Interdisziplinarität als Herangehensweise den Ausweg darstellt. Doch sie stellte sich bald als unerfüllbar heraus, da sich die Disziplinen, die ihrerseits »Wissenskulturen« (Arnold/Fischer 2004) sind, in den bereits bekannten interkulturellen Dilemmata und Widersprüchen verfangen. Gleichzeitig wuchs der Druck und Wunsch, aus diesem Zustand der Enge auszubrechen. Mein Perspektivenwechsel wurde nicht durch theoretische Überlegungen herbeigeführt, sondern war das Ergebnis einer Begegnung. Eine Freundin und Kollegin berichtete mir über ihre Erfahrungen als Ethnologin in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit einer Psychologin in einem Projekt zur transkulturellen Psychiatrie (vgl. Hardung 2006). Wir erkannten Gemeinsamkeiten in unseren Erfahrungen des Unvermögens und der Unmöglichkeit. Sie schlug vor, gerade das Scheitern von interkultureller und interdisziplinärer Zusammenarbeit zum Gegenstand meiner Untersuchungen zu machen. Aus der Zuwendung zum Versagen ließe sich viel mehr lernen über Interkulturalität als durch die Entwicklung von Lösungen oder durch Diskussionen über den Kulturbegriff, so die Hypothese.
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Das Gefühl, das darauf folgte, war eine große Erleichterung. In der Ausweglosigkeit hatte sich ein Tor geöffnet. Der Blickwinkel des Scheiterns erlaubte mir, eine Wendung zu vollziehen. Anstelle des Anspruchs auf positive Problemlösung stand nun die Störung im Mittelpunkt meines Interesses. Doch auch mit dem Begriff Scheitern muss man umgehen. Ich bemühte mich zunächst darum, eine für meine Arbeit adäquate Definition zu finden. Die Probleme, die dabei auftraten, ähneln jenen, die ich mit der Definition von Kultur hatte. Auch der Begriff Scheitern ist eine Abstraktion, die von Erfahrungen und Modellen abgeleitet wird bzw. auf solche zurückgeführt werden kann. Ich werde nun zunächst über meine Auseinandersetzung mit Definitionen von Scheitern berichten. Dabei wird der »fühlende Denkraum« der Modelle zeitweise wieder verlassen. Danach beginnt der Versuch, Scheitern in verschiedenen Modellen zu denken – vom Schiff bruch über das Paradies und die Tragödie zum Übergangsraum. Den Kampf gegen das Scheitern werde ich anhand zweier weiterer Modelle, der Eindringling und der fremde Blick, beschreiben. In weiterer Folge werden die gedanklichen Bewegungen wieder zur interkulturellen Erfahrung zurückführen. Insbesondere interessiert mich, ob die Modelle des Scheiterns Erfahrungen in einer Weise denkbar machen, die durch die Begriffe Kultur und Lernen nicht repräsentiert werden. Schließlich werde ich Überlegungen anstellen, wie interkulturelle Bildung anders modelliert werden kann.
4.2.1 Ein Umweg: zurück zu den Definitionen 4.2.1.1 Der Begriff Scheitern Im nächsten Kapitel werde ich mich mit dem Begriff Scheitern beschäftigen. Es geht dabei nicht um eine abschließende Darstellung, sondern darum, weitere Erfahrungen mit dem Begriff zu machen. Ich bin dabei, kennenzulernen, was Scheitern ausmacht und der Begriff Scheitern macht dabei etwas mit mir. Wir treten in die Beziehung des Kennenlernens. Scheitern ist ein konkretes Verb. Es gibt also eine Akteurin/einen Akteur, doch die Handlung ist nicht willentlich herbeigeführt. Im Gegenteil, scheitern bedeutet, dass ein Handlungsziel gegen den Willen der Akteurin/des Akteurs nicht erreicht oder zumindest als nicht erreichbar erlebt wird. Dafür können Faktoren in der Person selbst (Fähigkeiten), aber auch externe, nicht direkt beeinflussbare Faktoren verantwortlich sein. Scheitern bezeichnet eine Differenz zwischen Willen und Möglich-
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keiten. Scheitern ist die Negation der Möglichkeit, das Handlungsziel zu verwirklichen. Die subjektive Erfahrung besteht in der Wahrnehmung einer Grenze der eigenen, willentlich verfügbaren Möglichkeiten. Insofern bringt Scheitern, so wie ein Fehler, »negatives Wissen« (Oser/Spychinger 2005) hervor. Man kann wissen, wie etwas nicht ist oder nicht funktioniert. Ein konkreter Wille und die Differenz zwischen Willen und der Realisierung von Möglichkeiten sind also konstitutiv für Scheitern. Scheitern setzt eine Beziehung der Machbarkeit voraus und verneint diese nicht generell, sondern in einem konkreten Fall. Die Ursache für das Scheitern mag in der Person liegen, im Kontext oder in einem Irrtum über die Erreichbarkeit eines bestimmten Ziels mit bestimmten Mitteln. Im engen Sinn muss die (theoretische) Analyse der Machbarkeit der Zielsetzung vorausgehen. Ergibt diese ex ante Analyse, dass die Machbarkeit nicht in der alleinigen Macht (des Willens) des einzelnen liegt, dann handelt es sich nicht um ein individuell umsetzbares Ziel. Bei sozialen Themen ist die Machbarkeit abhängig vom Zusammenwirken mehrerer Personen oder von Kontextfaktoren, daher ist individuelles Scheitern im engen Sinn ausgeschlossen. In diesem Fall werden die sozialen Fähigkeiten zum Erfolgsfaktor, das heißt, die Frage, ob es dem Einzelnen gelingt, seine Umwelt so zu steuern oder auf sie so zu reagieren, dass das Ziel erreicht wird. Machbarkeit hängt also auch von der Vorhersehbarkeit bzw. (Un-)Veränderbarkeit von Kontextfaktoren ab. Die entsprechenden Einschätzungen enthalten eine große Unschärfe. Die Faktoren Wille und Machbarkeit werden individuell und kulturell sehr unterschiedlich bewertet. Je nachdem, ob man den Willen als (überwiegend) frei oder unfrei, einflussreich oder schwach, die eigene Position als mächtig oder ohnmächtig und den Kontext als stabil oder instabil versteht, strebt man ein Ziel überhaupt an. Dementsprechend kann sich das Scheitern als eine sachliche Unmöglichkeit, als Erliegen gegenüber der ›Macht der Verhältnisse‹ oder z.B. als Schicksalsschlag darstellen. In einer imaginierten Stufenskala der Bewertung der erlebten Differenz zwischen Willen und Möglichkeit nimmt im deutschen Sprachgebrauch Scheitern eine hohe Stufe ein. Scheitern deutet auf eine hohe emotionale Relevanz der Zielerreichung hin. Alltägliche Misserfolge werden weniger leicht als Scheitern bezeichnet als das Nichterreichen bedeutsamer Ziele. Die Zubereitung eines Mittagessens ist ›misslungen‹, aber die Bewerbung um einen Traumjob oder das Lebensprojekt Ehe sind gescheitert. Diese Einschätzung und Bewertung von Zielen und Möglich-
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keiten hängt von subjektiven und sozialen (kulturellen) Wertehierarchien ab. Wobei subjektive und soziale Bewertung auseinanderfallen können. Wenn z.B. soziale Harmonie in der Werteskala vor beruflichem Erfolg steht, würde sich die oben genannte Einschätzung umkehren und das Familienessen vielleicht als gescheitert betrachtet werden. Im Sinne einer graduellen Abstufung von Unmöglichkeiten deutet Scheitern außerdem darauf hin, dass die Unmöglichkeit als dauerhaft eingeschätzt wird. Ein Fehler verweist tendenziell auf Behebung, ein Misserfolg auf den möglichen Erfolg. Scheitern hingegen entspricht einem endgültigen Versagen. Wenn die aktiven Möglichkeiten ausgeschöpft, ungenützt verstrichen oder unerreichbar sind und man sich als passiv erlebt, bleibt nur der Befund, dass die Zielerreichung dauerhaft unmöglich ist. Zu welchem Zeitpunkt und ob man sich überhaupt als nicht mehr handlungsfähig erlebt, hängt von einer persönlichen Einschätzung ab. Diese subjektive Einschätzung kann sich natürlich von einer externen Beurteilung stark unterscheiden. Jemand kann zum wiederholten Male sein Ziel verfehlen und trotzdem noch immer Handlungsmöglichkeiten erkennen. Man kann die eigenen Fähigkeiten über- oder unterschätzen. Es gibt also keinen objektiven Maßstab für Scheitern, der Maßstab ist aber auch nicht rein subjektiv. Scheitern ist eine Erfahrung im Sinne Bollnows, eine schmerzhafte Begegnung mit unerwarteten Hindernissen, durch die sich ein Mensch betreffen lässt und verwandelt. Die Unmöglichkeit lässt sich nicht vollständig, systematisch erforschen und verallgemeinern, sondern nur durch Erfahrung bis zu einem gewissen Grad der Gewissheit bringen. Auf diesem Weg kann es verschiedene Abstufungen der Unmöglichkeit geben: Wir können »temporäre« und »dauerhafte Unverfügbarkeit« und dem entsprechend ein »graduelles« und »absolutes« Scheitern unterscheiden (Junge 2004, 16). Anhand der Elemente Wille, Machbarkeit, Ziel, Wert, Dauer und Erfahrung von Unmöglichkeit lässt sich daher folgende Begriffsbestimmung formulieren: Als Scheitern bezeichne ich die schmerzhafte Erfahrung der dauerhaften Unmöglichkeit, ein subjektiv und/oder sozial bedeutsames Ziel, das willentlich verfolgt wurde, zu erreichen.
4.2.1.2 Scheitern weiter gedacht Der Soziologie Matthias Junge konzipiert Scheitern aus handlungstheoretischer Sicht. Er unterscheidet in Bezug auf den Aspekt der Dauerhaftigkeit ein »graduelles« und ein »absolutes« Scheitern. Während das gradu-
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elle Scheitern eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit darstellt, ist das absolute Scheitern das Ende der Verfügungsmöglichkeiten für Handeln. »Die Grenze des Handelns dringt in die Handlungsbedingungen ein und zerstört von innen die Voraussetzungen für das Handeln.« (Junge 2004, 16) Junge nennt das Scheitern einen »Grenzfall, vor dem sich die Konzeption des Handelns abheben kann« (ebd., 16). Von der Grenze des Handelns her lässt sich Handeln erst konzipieren. Da es im absoluten Scheitern kein Handeln mehr gibt, entzieht sich dieser Zustand auch der Möglichkeit der Beschreibung. Junge setzt das absolute Scheitern mit einem sozialen Tod gleich. Es sei nicht möglich, darüber zu kommunizieren, weil es tendenziell zu einer »Privatsprache« (Wittgenstein) führt. In diesem Zustand gibt es für Gescheiterte auch keinen Zukunftshorizont für das Handeln mehr (Junge 2004, 25f.). Damit ist, wie Junge feststellt, die Grenze der Aussagemöglichkeiten aus handlungstheoretischer Perspektive erreicht. Das Bollnow’sche Konzept der Erfahrung führt über diese Grenze hinaus. Wenn das absolute Scheitern nicht theoretisch konzeptualisiert werden kann, so kann es doch erfahren und damit der Erkenntnis mit der der Erfahrung eigenen Gewissheit zugänglich gemacht werden. Absolutes Scheitern stellt dann eine »große Erfahrung« dar, bei der etwas – das »absolut Neue« bei Bollnow bzw. die »Grenze des Handelns« bei Junge – in die Vorbedingungen des Handelns eindringt und sie sprengt bzw. zerstört. Umgekehrt ist die »große Erfahrung« (Bollnow) ein Scheitern des Vorverständnisses, wenn auch kein absolutes. Für Bollnow ist das spezifische der »großen Erfahrung« gerade, dass sie kein Handeln sondern ein »Machen-Müssen, ein Erleiden« (Bollnow 1981, 131) darstellt. Im absoluten Scheitern wird die »Autonomie des Handelnden […] in Zweifel gezogen«, stellt auch Junge fest (Junge 2004, 17). Absolutes Scheitern ist die Erfahrung des Verlustes aller Handlungsvoraussetzungen. Es ist auch die Erfahrung des Verlustes der Zeitstruktur. Beides kann sich als absolut neue Erfahrung erweisen. Sobald wir von Erfahrung sprechen, impliziert das, dass Scheiternde aktiv am Erleiden beteiligt sind. Die Deutung von Scheitern als Erfahrung verleiht der Zerstörung und dem Verlust einen möglichen Sinnhorizont, der jenseits des Wollens liegt. Nach Bollnow sind die großen Erfahrungen jene, die das Gefängnis unseres Vorverständnisses aufsprengen, es öffnen und damit die Zukunft als Bedingung für das absolut Neue erst denkbar machen. An dieser Erfahrung ist man beteiligt, kann sie aber nicht bewusst und gezielt herbeiführen.
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Auch der Sinn des Scheiterns kann nicht gefunden oder erkannt, nur erfahren werden. Und er lässt sich sicher nicht vorhersagen. Es kann aber auch bei einem Widerstand gegen die Tatsachen oder einem bloßen ZurKenntnis-nehmen bleiben. Scheitern kann vermieden und die Erfahrung klein gehalten werden. Es ist unmöglich, die Erfahrung des Scheiterns willkommen zu heißen und dennoch kann man sich auf das Scheitern zu bewegen oder sich abwenden. Man ist am Scheitern aktiv beteiligt und gleichzeitig muss man sich unterwerfen. Scheitern kann »nur im Rahmen eines Selbstwiderspruchs gedacht werden« (Junge 2004, 15). Einen solchen Akt bezeichnet Meyer-Drawe als »medialen Akt«. Das »Medium« ist eine Form des Verbs im Griechischen, bei der »jemand und etwas nicht als Subjekt und Objekt konfrontiert« sind (Meyer-Drawe, 151f.). Das Subjekt befindet sich in einem Prozess. Käte Meyer-Drawe nennt als typisch mediale Akte: »sich freuen, sich täuschen oder auch geboren werden, altern, und aufwachen. Allen diesen Vollzügen ist gemeinsam, dass wir selbst daran beteiligt sind, ohne sie auszulösen. Wir sind dabei nicht lediglich passiv, aber auch nicht ausschließlich aktiv.« (Ebd., 151, Herv. SA) Sie zählt auch »zu lernen anfangen« zu den medialen Vollzügen, in denen »eine Möglichkeit verwirklicht wird, ohne dass eine Entscheidung vorausginge« (ebd., 151). Auch die interkulturelle Erfahrung, bei der ich und die Umwelt durch Trennung und Verbindung, Nähe und Distanz, Beharrung und Anpassung auf unheimliche Art miteinander agieren, ist ein solcher medialer Akt. Ebenso wenig wie man sagen kann, wer entscheidet, dass (interkulturelles) Lernen stattfindet, wo es anfängt und wo es aufhört, kann man Anfang und Ende des Scheiterns feststellen. Auch das Kennenlernen »K«, von dem Bion spricht, ist ein medialer Akt. »K«, ist eine Beziehung, in der »x dabei ist, y kennenzulernen, und y dabei ist, von x kennengelernt zu werden« (Bion 1992b, 95). X und y sind gleichzeitig Subjekt und Objekt. Die Konzeption von absolutem Scheitern als Erfahrung, als medialer Akt oder als Realisierung von »K« hat weitreichende Konsequenzen. Sie bedeutet, dass dann auch der Verlust der Vorstellung einer absolut und prinzipiell ziehbaren Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Handlung und Nicht-Handlung, zwischen aktiv und passiv, zwischen Ich und Welt, innen und außen, Ursache und Wirkung, Freiheit und Unfreiheit, Rationalität und Irrationalität, Schuld und Unschuld, Sinn und Unsinn ertragen werden muss.
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4.2.2 Formen des Scheiterns Die bisher vorgenommenen Begriffsbestimmungen beschreiben Scheitern als ein Ereignis bzw. eine Erfahrung in der Zeit. Darin sind noch keine Aussagen über Wirkungen und Formen des Scheiterns und seine Bewertung enthalten. Für die Bewertung des Scheiterns ist es ausschlaggebend, ob und wie es nach dem Scheitern weitergeht. Fürs erste können wir festhalten, dass der Begriff Scheitern zwei Geschichten zulässt. Die eine ist pessimistisch und endet mit der Vernichtung, die andere ist optimistisch und führt schließlich zu einer ›Wiederauferstehung‹. Scheitern kann als Sieg des Realismus und der Moral (»Hochmut kommt vor dem Fall.«) zur Erniedrigung führen oder als Sieg der Weisheit (»Aus Schaden wird man klug.«) einen Zwischenschritt auf dem Weg nach oben darstellen. Daran schließt sich die Frage an: Wer entscheidet darüber und nach welchen Kriterien? Die Beurteilung des Scheiterns erfolgt in einem kulturellen und historischen Kontext. Das Phänomen des Scheiterns als historische Konstruktion begegnet uns in Sprichwörtern und Märchen ebenso wie in der Literatur und der Wissenschaft. Im deutschen Sprachgebrauch ist Scheitern im Allgemeinen negativ besetzt. Man denke nur an den Ausdruck, jemand sei eine ›gescheiterte Existenz‹. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich aber viele Ambivalenzen in der Bewertung seiner Wirkungen. Das Scheitern kann existenzielle Auswirkungen haben, man kann sich aber auch mit seinem Scheitern abfinden oder es vielleicht sogar als Taktik der Selbstentlastung einsetzen. Ein Pechvogel wie Donald Duck bleibt sein Leben lang dem Schicksal eines sympathischen Versagers treu, der immer wieder aufsteht. Er stellt nie auch nur eine ernst zu nehmende Konkurrenz für seinen milliardenschweren Onkel dar und gibt sich im Grunde zufrieden mit seinem Dasein. In manchen Fällen verbirgt sich hinter dem Scheitern sogar eine gewisse Schläue oder Weisheit. So bei den Schildbürgern, die weise sind, aber sich als Dummköpfe darstellen, die an den einfachsten Aufgaben scheitern. Oft tritt das Scheitern begleitet von seinem Antagonisten, dem Glück, auf. Für Hans im Glück zum Beispiel stellt sich das materielle Scheitern durch den Verlust all seiner eintauschbaren Werte schließlich auf immaterieller Ebene als Befreiung und glückliches Ende einer lehrreichen Irrfahrt dar (vgl. Jeggle 2005, 227). Das Scheitern von Menschen mit hehren Zielen an den niedrigen Beweggründen anderer zeichnet diese als edle Menschen oder Helden aus, auch wenn sie ihr Ziel nicht erreicht haben. Die Geschich-
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te der Märtyrer im Christentum zum Beispiel lehrt, dass Scheitern in der materiellen Welt im Jenseits hoch belohnt werden kann, solange ein Mensch dem göttlichen Willen folgt. Mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft haben die Menschen die Verantwortung für das Scheitern dem göttlichen Schicksal abgerungen und in der Sphäre des Menschen angesiedelt (vgl. Scholz 2005). Die Entwicklung der modernen Weltanschauung hat das Scheitern in einem »Prozess seiner Generalisierung und Demokratisierung« (Lechner 2004, 33) nun in greif bare Nähe jedes/jeder Einzelnen gerückt und zum »behandelbaren Phänomen« gemacht (ebd., 40). In einem rationalen Weltbild ist Erfolg machbar und messbar, damit wird auch der Misserfolg greif bar und vermeidbar. Scheitern wird in der modernen Welt »kurierbar« (ebd., 41). Samuel Beckett drückt dies poetisch aus – »Ever tried, ever failed./ No matter/try again, fail again,/fail better.« (Samuel Beckett zitiert nach Jeggle 2005). Dieser Zugang wird in jüngerer Zeit zunehmend auch von Medien und populärwissenschaftlicher Literatur aufgenommen. Es gibt ein »fail better«. Scheitern kann der entsprechenden Ratgeberliteratur zufolge »erfolgreich«, »schön« oder auch »lässig« vonstattengehen und als »Chance« oder »Kraft« verstanden werden.1 Unter der umfassenden Orientierung an der Machbarkeit lässt sich das Scheitern paradoxerweise in ein Mittel zum Erfolg verwandeln und damit in die Logik der Erfolgsgesellschaft integrieren. Die inflationäre Verwendung des Begriffs macht ihn durchlässig und anpassbar. So kann das von Richard Sennett diagnostizierte »große moderne Tabu« Scheitern (Sennett 1998, 159) scheinbar immer öfter gebrochen werden. Es entzieht sich gleichzeitig immer mehr den Versuchen der Beschreibung und Erfassung. Damit geraten aber auch die Schicksale der an der modernen Fortschrittskultur Gescheiterten aus dem Blickfeld. Für den »flexiblen Menschen« (Sennett 1998) gibt es in der »flüchtigen Moderne« (Bauman 2008) unzählige Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten, sodass es paradoxerweise immer wahrscheinlicher und 1 | Vgl. die folgenden Titel: Die heilende Kraft des Scheiterns. Ein Weg zu Wachstum, Aufbruch und Erneuerung (Eurich 2006), Lässig scheitern. Das Erfolgsprogramm für Lebenkünstler (Lauterbach 2007), Die Kraft des Scheiterns (Scheucher und Steindorfer 2008), Schöner Scheitern. Warum es genauso schwierig ist, die Welt zu retten, wie den richtigen Biergarten zu finden (Ott 2006), Das DonaldDuckprinzip. Scheiterns als Chance für ein neues Leben (Tarr 2006).
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gleichzeitig immer unwahrscheinlicher wird, zu scheitern. Wenn die »ganze Lebensgeschichte nur aus einer willkürlichen Sammlung von Fragmenten besteht«, ist Scheitern »nur ein weiterer Zufall« (Sennett 1998, 182). Die Erweiterung persönlicher Handlungsspielräume vor allem in den letzten Dekaden hat dem/der einzelnen immer mehr Verantwortung für sein/ihr Leben übertragen und damit auch das individuelle Risiko des Scheiterns enorm erhöht. Studienabbrecher/-innen, Straftäter/innen, Verkehrstote, Privatkonkurse und unternehmerische Insolvenzen, Asylwerber/-innen, Obdachlose, Scheidungen – Scheitern ist überall, alltäglich und die Zahlen dieser Fälle steigen (vgl. Junge/Lechner 2004, 8ff.). Das Scheitern breitet seine Präsenz in der Weltrisikogesellschaft (Beck 2007) über alle individuellen, gesellschaftlichen, räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg aus. Die Ausrufung einer als Notwendigkeit konstruierten Beschäftigung mit den Risiken übertönt die schmerzliche Realität der Gescheiterten. Der Rückgang der moralischen Bewertung und gesellschaftlichen Stigmatisierung der Scheiternden hat ihren Preis. Sie führt zu einer Unterwerfung unter eine neue Form der Selbst-Regierung, die Lemke in Anlehnung an Foucaults Konzept der Gouvernementalität »Regierung der Risiken« (Lemke 2000; Foucault 2000) nennt. Ein wesentliches Merkmal der Selbst-Regierung besteht darin, dass Kontrolle internalisiert wird. Die Regierenden werden dadurch unangreif barer. Das Problem des Scheiterns wird individualisiert, nach innen verlagert und immer weniger besprechbar.
4.2.3 Scheitern als Tabu Beim Streifzug durch populär-, sozialwissenschaftliche und sozialphilosophische Literatur, die konkret auf Scheitern Bezug nimmt, fällt auf, dass immer wieder auf Richard Sennetts These verwiesen wird, das Scheitern sei das große moderne Tabu. Was sehr einleuchtend klingt, sollte doch genauer betrachtet werden. Was versteht der Autor darunter? Welche Schlussfolgerungen zieht er? Sennett widmet dem Scheitern ein Kapitel in seinem Buch Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus (Sennett 1998, 159-185): Scheitern ist erst durch die enge Verbindung mit dem Erfolg zum modernen Tabu im Sinne Sennetts geworden. Im Kapitalismus ist Erfolg aufs Engste an den finanziellen Erfolg gebunden. Für Sennett ist ein gelingendes Leben nicht in materiellen Leistungen abbildbar. Auch viele angehäufte Erfolge erlösen nicht von der Angst vor
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dem Nicht-mehr-Erfolg, es könne immer die Angst zurückbleiben, nicht zu genügen. Das Gefühl des Gelingens des Lebens gewinnt ein Mensch nach Sennett in dem Bewusstsein, dem Leben seine eigene Richtung, einen subjektiv als sinnvoll erlebten Verlauf geben zu können. Auch wenn die endgültige Verwirklichung der Ziele, der messbare Erfolg, ausbleiben sollte, behielte der Mensch das Bewusstsein, eine eigene »Stimme« zu haben, der er gefolgt ist. Es sei nicht unbedingt notwendig, das Scheitern zu vermeiden, aber es zu ertragen. Die »Erhaltung der eigenen aktiven Stimme [ist] der einzige Weg, das Scheitern erträglich zu machen«, wenn Hoffnung und Sehnsucht zerstört sind (ebd., 183). Unter den Anforderungen der umfassenden Flexibilisierung der Lebensbedingungen nehmen die Möglichkeiten für eine kontinuierliche Ausrichtung des Lebensweges ab. Damit werden auch die Erfahrungen der Möglichkeit der Zielerreichung aus eigener Kraft seltener. Das Konsumprinzip aber auch das lebenslange Lernen verlagern die Erfüllung von Bedürfnissen unaufhörlich in die Zukunft. Zygmunt Bauman formuliert es prägnant: »Auf dieser Rennbahn zu Glück und Zufriedenheit wird nie ein Zielstrich in Sicht kommen.« (Bauman 2010, 21) Sennett geht nicht weiter auf die Bedeutung des Wortes Tabu ein. Aus seiner Verwendung des Begriffs ist zu schließen, dass damit ein Sprechverbot gemeint ist. Das Brechen des Tabus durch das Reden bringt das Scheitern an die Oberfläche (Sennett 1998, 178). Im ursprünglichen Sinn ist das Tabu ein Verbot der Berührung. Wenn jemand oder etwas tabu ist, darf er/es nicht berührt und nicht getötet werden. Dieser Schutz bezieht sich ursprünglich auf Naturwesen, die eine große Macht ausüben können und daher in keiner Weise gereizt werden dürfen. Das Tabu markiert gleichzeitig aber auch die große Anziehungskraft, die von dieser Macht ausgeht (Kittler 2001, 195f.). Kulturgeschichtlich betrachtet ist das Tabu eine »Technik[en] der Naturbeherrschung« (ebd., 195). Freud meinte, der Ausdruck »heilige Scheu« käme dem Tabu nahe (Freud 2007, 66). Eine bestimmte Kraft wird also kulturell mit einem Tabu belegt und dadurch unberührbar und beherrschbar gemacht. Wenn nun das Scheitern nach Sennett zum modernen Tabu geworden ist, dann müsste das bedeuten, dass ihm eine gefährliche Macht und Anziehungskraft zugeschrieben wird, die es zu beherrschen gilt. Nach meiner Lesart trifft Sennett den Punkt, dass Scheitern, wenn es nicht mit vorläufiger Erfolglosigkeit gleichgesetzt wird, die Macht hat, auf spezifische Bedingungen modernen Lebens aufmerksam zu machen.
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Scheitern zeigt, so Sennett, dass gerade die moderne Verpflichtung auf den technischen und materiellen Erfolg hin in Verbindung mit der Flexibilisierung und Fragmentierung der Lebensverhältnisse die Gestaltung eines selbst gewählten Lebensverlaufes verhindert. Das Erfolgsstreben macht die Entwicklung eines Maßstabs für das Gelingen des Lebens aus eigenem Willen und eigener Verantwortung heraus unmöglich. Nur wer sich mit einem Ziel im Leben wirklich verbinden kann, hat auch die Möglichkeit zu scheitern. Der Strom des Erfolgsstrebens und der Flexibilisierung löst die Möglichkeit des Scheiterns auf. Genau durch diese Verhältnisse werden immer mehr Menschen an den Rand des kapitalistischen Systems gespült. Den Erfolglosen wird nicht einmal mehr die Würde zuerkannt, die im Scheitern liegen kann. Sie werden zu reinem Abfall, zum Abschaum, der aus dem System gefiltert werden muss. Bauman beschreibt in seiner erhellenden Analyse Moderne und Ambivalenz (Bauman 2005) eine wesentliche Grundlage der Moderne: »Als Lebensform ermöglicht sich die Moderne dadurch selbst, daß sie sich eine unmögliche Aufgabe stellt.« (Ebd., 25) Das Scheitern als abstoßender Gegenpol des Erfolgs ermöglicht einen dauernden Antrieb des Strebens nach dem Unmöglichen. »Der Gegensatz von Erfolg und Scheitern ist eine Art, sich der Auseinandersetzung mit dem Scheitern zu entziehen.« (Sennett 1998, 160) Die Gegenüberstellung von Erfolg und Scheitern führt zu einer dauernden Beschäftigung mit Erfolg. Wer sein Scheitern anerkennt, bringt diese Bewegung zum Stillstand. Das ist für die Kultur des neuen Kapitalismus eine Gefahr. Das Scheitern wird mit einem Tabu belegt, weil es in der Lage ist, der Kultur des neuen Kapitalismus die Antriebsgrundlage zu entziehen. Bemerkenswert ist es, dass Sennett in diesem Zusammenhang die heutigen Lebensbedingungen mit jenen der Immigranten vergleicht, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA landeten. »Wir sind alle Immigranten.«, zitiert er den Journalisten Walter Lippman (ebd., 161). Dieser forderte 1914 in Drift and Mastery für alle Menschen die Möglichkeit, mit Entschlossenheit und harter Arbeit eine persönliche und moralische Entwicklung (»Karriere«) zu verfolgen (ebd., 161). In Bezug auf aktuelle Verhältnisse formuliert Sennett: »Wie Immigranten müssen wir dem Widerstand der Realität einen Sinn abringen; niemand schenkte den Einwanderern der Lower East Side etwas. Es ist an uns […], aus kurzfristiger Arbeit, amorphen Institutionen, oberflächlichen gesellschaftli-
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chen Beziehungen und der ständigen Gefährdung der Arbeitsstelle eine persönliche Karriere zu machen. Gelingt es uns nicht, diesen Bedingungen Kontinuität und Zielbewußtsein abzutrotzen, versagen wir buchstäblich vor uns selbst.« (Ebd., 165f.)
Die Umdeutung von Scheitern in den besseren Weg zum Erfolg kann also nicht bedeuten, dass das Tabu des Scheiterns gebrochen wurde. Das Gelingen des Lebens bestünde nach Sennett darin, dem eigenen Lebensweg eine Richtung zu geben. Der Realität des neuen Kapitalismus ein Zielbewusstsein abzutrotzen bedeutet, die Möglichkeit zu scheitern wieder zu gewinnen. Scheitern vor sich selbst bedeute, ziellos dahin zu driften oder zwischen immer neuen Zielen herum zu jagen. Mit der Gleichsetzung von »Wir« und »Immigranten« hebt Sennett auch den Unterschied zwischen jenen, die durch ihren Status als Gebildete, Wohlhabende oder Ansässige einen Vorteil haben, und den gesellschaftlichen Randgruppen auf. Er weist darauf hin, dass eben gerade jene Unterprivilegierten deutlich machen, wovon das Gelingen des Lebens abhängt. In einem Beispiel zeigt Sennett, wie eine Gruppe Privilegierter, ehemalige Programmierer der Firma IBM, mit dem Scheitern umging (ebd., 166-177): Als sie von IBM im Zuge von Umstrukturierungen entlassen wurden, verstanden sie sich zunächst als Opfer ihrer Chefs oder der Globalisierung. Erst als sie sich eingestanden, dass sie es zu der Zeit, als sie als erfolgreiche Manager noch aufseiten der Gewinner standen, verabsäumt hatten, ihrem Berufsleben selbst die richtige Richtung zu geben, näherten sie sich dem schmerzlichen Tabu an. Sie erkannten, dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, die Weichen selbst anders zu stellen, wenn sie sich zum Beispiel rechtzeitig an neuen technischen Entwicklungen orientiert hätten. Die Bewältigung bestand nicht darin, dass sie nun wieder einen Weg zum Erfolg vor sich sahen, sondern darin, dass sie die Verantwortung für ihr Scheitern übernahmen. Dies gelang ihnen, indem sie ihre Lebensgeschichten im Erzählen teilten. Es war ihnen nicht möglich, die Bedingungen der Gesellschaft zu verändern, noch für sich selbst eine erfolgreiche Zukunft zu sichern. Aber sie rangen dem Widerstand der Realität, dem sie begegnet sind, durch das Sprechen über das Scheitern gemeinsam einen Sinn ab und fanden damit zu einer »Überlebensstrategie« (ebd., 185). Dieses Sprechen über das Scheitern hat nach Ansicht Sennetts eine gemeinschaftsbildende Funktion.
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»Ein klares Scheitern ist die persönliche Erfahrung, die die meisten Leute dazu bringt, ihr Angewiesensein auf andere anzuerkennen. Was an der Erfahrung der IBM Programmierer auffällt, ist die Tatsache, daß sie schließlich von ihrem Scheitern ohne Scham oder Schuldgefühl sprechen konnten. Aber die Voraussetzung dafür war, daß andere dieses Schicksal mit ihnen teilten, daß sie nicht allein waren. Auf diese Weise kamen sie sich näher. Ihre Leistung – und das ist genau das richtige Wort – liegt darin, zu einem Zustand zu gelangen, in dem sie sich weder ihrer Bedürfnisse noch ihres eigenen Versagens schämten.« (Ebd., 94)
Wir haben damit bei Sennett zwei Formen des Sprechens über das Scheitern kennengelernt. Die eine bewegt sich zwischen dem Scheitern und dem Erfolg unter den Bedingungen der flüchtigen Moderne. Ihr Zweck liegt in der Bewältigung des Scheiterns durch Verschieben oder Verdrängen, indem laufend neue Forderungen und Erfolgshorizonte aufgestellt werden. Die Erfolgsorientierung bewirkt eine Distanzierung vom Scheitern und von Erfolglosen. Diese Haltung fördert eine Form von individueller Verantwortungsübernahme, die gesellschaftliche Desintegration bewirkt. Unter diesen Bedingungen können ganze Gesellschaften »als Programme der Scheiternsvermeidung« (Junge 2004, 27) verstanden werden. Die andere Form des Sprechens nähert sich dem Scheitern als Scheitern »vor uns selbst«. Dieses besteht darin, dass sich Menschen unter bestimmten Umständen im Leben nicht mehr mit Zielen verbinden können. Dieser Zustand kann sich sowohl bei Misserfolg, aber auch bei laufendem Erfolg einstellen, wenn trotz Erfolgs ein Gefühl der Sinnhaftigkeit ausbleibt. Er ist auch unabhängig vom gesellschaftlichen Status und vom Kapital. Der Schmerz dieses Scheiterns berührt nachhaltiger als jener eines Misserfolgs und wird deshalb tabuisiert, also nicht öffentlich gemacht. Die Bewältigung muss durch den Schmerz hindurch führen. Das Sprechen über den Schmerz ist in diesem Fall eine Ressource der individuellen Bewältigung des Scheiterns, bei der die Betroffenen auch die Angewiesenheit auf das soziale Umfeld anerkennen. Die »Scheiternsleistung« liegt darin, sich für das Scheitern nicht mehr zu schämen. Laut Sennetts Beispiel führt das Sprechen über das Scheitern zu einer »Art der Selbstheilung« (Sennett 1998, 183). Die heilende Wirkung des Narrativen bestehe nicht darin, dass die Geschichte gut ausgeht (ebd., 184). Diese »Heilung« bestand nicht in der Umwandlung des Scheiterns in Lernen oder Erfolg. Die Wirkung trat ein, so lese ich es, als die Gescheiterten dem »Widerstand der Realität« die Erkenntnis abrangen, dass sie aufeinander
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angewiesen waren. Sie teilten die Erfahrung des Scheiterns. Sie empfanden sich nicht mehr als allein und fremd, sondern waren einander nah. Sie traten nun in ein neues Verhältnis zu ihrer Umwelt.
4.3 S cheitern in M odellen denken Die Erfahrung des Scheiterns verändert die Betroffenen und deren Verhältnis zur Umwelt. Mir ist meine Beziehung zur Welt in der interkulturellen Erfahrung fraglich geworden. Der Interkulturalismus konnte viele Fragen, die dadurch aufgeworfen wurden, nicht beantworten. Ich möchte mich ihnen nun auf andere Weise annähern, nämlich durch die Beschäftigung mit Scheitern. Es handelt sich bei dieser Herangehensweise um einen Versuch, die interkulturelle Erfahrung näher und lebendiger denken zu können, als dies im Rahmen einer Kulturtheorie und des Interkulturalismus möglich war. Bion empfiehlt dafür die Verwendung von Modellen. »Der Wert, den die Verwendung eines Modells hat, liegt darin, den Sinn für das Konkrete wiederherzustellen, wenn eine Untersuchung durch Abstraktion und die theoretischen deduktiven Systeme, die mit ihr verbunden sind, den Kontakt mit dem Hintergrund verloren hat.« (Bion 1992b, 116) Bevor ich verschiedene Modelle verwende, möchte ich noch mal in Erinnerung rufen, wie das Sprechen in Modellen im Sinne Bions verstanden werden muss. Die Grundannahme lautet, dass diese Modelle eine Brücke zwischen der gefühlsmäßigen Erfahrungsebene und abstrakten Repräsentationen darstellen. In dieser Wirkung überschneiden sich die Begriffe Modell (Bion), Metapher und Mythos. Bion betont, dass sein Begriff Modell selbst ein Modell ist. Ich verwende ihn daher auch als solches für bildhafte Begriffe, die einen nicht rein rationalen Zugang zu Erfahrungen erlauben. Ich behandle auch die Metapher und den Mythos in ihrer Qualität als Bion’sches Modell. Bions Modell repräsentiert eine persönlich gemachte Erfahrung, die durch das Modell verallgemeinert und dadurch mitteilbar gemacht wird. Der Mythos ist ein Modell, dessen Ursprung nicht mehr auf eine Person zurückgeführt werden kann und das bereits in einem kollektiven Vorwissen zur Verfügung steht. Die Metapher kann sowohl individuell geschaffen als auch kollektiv vorhanden sein. Von einer Theorie erwartet man, dass sie »wahr« ist, während ein Modell nur »gut« sein muss, erläutert Bions Biograf Bléandonu dessen Ansatz (Bléandonu 2008, 211). Im interkulturellen Kontext ist es nicht
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zielführend, auf der Ebene der Wahrheit zu verhandeln. Das muss jedoch nicht in einen reinen Zweckrationalismus münden, wenn gute Modelle zur Verfügung stehen, die sich im konkreten Zusammenleben als nützlich erweisen. Das Denken in Modellen setzt einen kreativen Prozess in Gange, in dem Modelle erweitert und weitere Modelle produziert werden. Sie können, so Bléandonu, genützt, später wieder fallen gelassen oder schließlich in eine Theorie überführt werden (ebd., 211). Das Modell »Daddy« zum Beispiel könnte von einer Person lange genützt, im Falle der Erfahrung einer gleichgeschlechtlichen sexuellen Beziehung mit Kinderwunsch völlig verändert werden und schließlich in Überlegungen zu einer Gendertheorie münden. Aus einem Modell kann durch eine graduell zunehmende Abstraktion mittels rationaler Verfahren eine Theorie entwickelt werden. Bion meint mit Modell und Theorie verschiedene Praktiken des Denkens. Dies darf nicht mit der häufig verwendeten Unterscheidung von Praxis (im Sinne von Anwendung) und Theorie verwechselt werden. Die Praktiken des Denkens stellen für Bion eine Beziehung zur Welt dar. Wissen ist für ihn eine Beziehung und niemals ein Alleinbesitz. Wenn ich nun frage, wie ich Scheitern in Modellen denke, frage ich nach verschiedenen Weisen, mich zur Welt in Bezug zu setzen.
4.3.1 Der Schiffbruch Im Fall des Scheiterns bietet die Etymologie einen Zugang zum modellhaften Denken. Der Begriff Scheitern entwickelte sich sprachgeschichtlich aus dem »zu Scheitern werden«. Als Beispiel dient ein Schiff, das an einer Klippe scheitert und in Stücke (Scheiter) zerbricht (vgl. Kluge 1999). Dabei ist nicht nur das Ziel der Fahrt verfehlt, auch das Fahrzeug selbst geht dabei zugrunde. Aus derselben Sprachwurzel scheit ging auch die Entscheidung hervor, die man zum Beispiel an einer Weggabelung zu treffen hat, an der sich zwei Wege scheiden, also trennen. Auf die Ausweglosigkeit und das Auseinanderbrechen folgt immer eine Entscheidung, wie nun mit den übrigen Scheitern zu verfahren ist. Die Schiff brüchigen stehen vor der Entscheidung, ein Scheit zu ergreifen, um sich zu retten oder aufzugeben. Erst rückwirkend wird sich sagen lassen, ob das Auseinanderbrechen zu einem neuen Anfang oder zu einem endgültigen Untergang geführt hat. Ich kann dieses Modell gut mit meiner interkulturellen Erfahrung in Verbindung bringen. Dort hieß es: »Meine Welt ist wie ein Kartenhaus eingestürzt« und »Der unsichtbare Kitt, der die Teile
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der Welt zusammenhält, war zerbröselt«. Der Schiff bruch als Modell für das Zerbrechen »meiner Welt« repräsentiert mehr als das Kartenhausmodell. Das Schiff bruchmodell gibt auch die Erfahrung wieder, mir würde »der Boden weggezogen«. Die Etymologie des Wortes Scheitern führt also direkt zum Modell bzw. zur Metapher des Schiff bruchs. Der Philosoph Hans Blumenberg führt in seinem Büchlein Schiff bruch mit Zuschauer (Blumenberg 1997) durch die Kulturgeschichte dieser Metapher. Blumenbergs »Metaphorologie« (ebd., 87) geht über die Beschäftigung mit einer einzigen Metapher hinaus. Sie ist eine philosophische »Theorie der Unbegrifflichkeit« (ebd., 93). Sie stellt »die der Geschichte unseres Bewußtseins zugehörige Anstrengung, die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen« (ebd., 95) zur Diskussion. Auch wenn Blumenberg sich damit auf ein anderes theoretisches Feld bezieht als Bion mit seinem psychoanalytisch hergeleiteten Begriff des Modells, finden sich viele Parallelen. Beide Autoren sehen im modellhaften Denken kein mangelhaftes oder rein überbrückendes Denken. Sie weisen ihm vielmehr eine eigenständige Bedeutung »als eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen« (ebd., 87) zu. Im Sinne Bollnows handelt es sich um eine Erkenntnis, die nicht »diszipliniert«, also empirisch bewiesen, aber dennoch mit einer übersubjektiven Gewissheit festgestellt werden kann. Die Metapher oder das Modell sind also mehr als ein bloßer Vergleich oder eine Übertragung von Bedeutung. Die Metapher selbst wirkt auch auf die Bedeutung von Begriffen zurück. Wie Blumenberg anhand der vielen Beispiele der Rezeption der Schiff bruchmetapher zeigt, entwickelt die Metapher eine eigenständige Geschichte. Wenn ich die Schiff bruchmetapher verwende, stehe ich – gewollt oder ungewollt – in Verbindung zu dieser Geschichte. Im Sinne des Kennenlernens (K) referiere ich auszugsweise Blumenbergs Schiff bruch mit Zuschauer. Für Blumenberg ist der Schiff bruch Teil einer »Daseinsmethaphorik«, ein Aspekt der Metapher vom Leben als Seefahrt (Blumenberg 1997, 13). In der Fahrt auf dem Schiff verlässt der Mensch die Sicherheit des festen Landes und geht über seine natürlichen Grenzen hinaus. In diesem Akt treffen einander Frevel und Kühnheit. Andererseits können wir es auch so betrachten, dass wir in diesem Leben immer schon eingeschifft (»embarqué«) (ebd., 23) sind. Das sichere Land liegt dann nicht hinter, son-
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dern immer vor uns. Für heimatlose Seefahrer/-innen bedeutet das Leben Bewegung und Unsicherheit. Das Leben als Schifffahrt umfasst neben dem Schiff und dem Meer viele Elemente, die das Bild anreichern: »Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Windstillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompaß und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen« (ebd., 9). Blumenberg führt die Schiff bruchmetapher auf den römischen Dichter Lukrez zurück, der als erster von der Vorstellung spricht, »vom festen Ufer her die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer zu betrachten: […] e terra magnum alterius spectare laborem« (ebd., 31, Herv. i.O.). Damit ist noch ein wesentliches Element hinzugefügt: der Zuschauer. Diese Figur vertritt die Perspektive des festen Ufers. Von dort aus lässt sich das grausame Schauspiel aus sicherer Distanz betrachten. Auf die Überschneidung der Schiff bruchmetapher mit der Theatermetapher und ihrer Nähe zur Tragödie wird noch einzugehen sein. Die Selbsterhaltung des Schiff brüchigen hängt davon ab, ob er eine Planke findet, an die er sich halten kann. Er rettet nur sich selbst, während all sein sonstiges Hab und Gut verloren ist. Unter Bezug auf Montaigne schließt Blumenberg: »Nicht ein wie auch immer ins Innere zurückgenommener Besitz erweist sich als das, was im Schiff bruch des Daseins gerettet werden kann, sondern der im Prozeß der Selbstentdeckung und Selbstaneignung erreichbare Selbstbesitz.« (Ebd., 18f.) Damit enthält der Schiff bruch die Möglichkeit zur existenziellen Selbsterkenntnis. Doch die »Probe«, was die »unverlierbare Substanz« ist, deren Besitz der Schiff brüchige retten kann, ist damit nicht abschließend beantwortet und endet für den Skeptiker »erst mit dem Leben« (ebd., 19). Nach dieser Erfahrung wird der gerettete Schiff brüchige das feste Land anders erleben (ebd., 26f.) als der Zuschauer, der es nie verlassen hat. Weder den Schiff bruch noch diesen Weg der Selbsterkenntnis hat der Schiff brüchige willentlich gesucht. Ganz anders ist die Situation der Figur des Zuschauers, der sich Blumenberg widmet. Sein Zusehen ist in irgendeiner Art motiviert und dementsprechend wird er auch durch die Szene berührt. Sein Handeln hat eine moralische Dimension. Blumenberg hat bei mehreren Autoren dafür verschiedene Deutungsmöglichkeiten zusammengetragen (ebd., 31-51): Der Zuschauer könnte sich am Leid des anderen erfreuen. Er mag aber auch nur die eigene Sicherheit angesichts der Not des anderen zu schätzen lernen. Wenn er seine Distanz zu philosophischer Reflexion nützt, kann
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ihm Gefühllosigkeit vorgeworfen werden. Es kann aber auch Bosheit sein, die ihn die eigene Unbetroffenheit genießen lässt. Wenn reine Neugierde der Antrieb ist, dann handle es sich um eine harmlose menschliche Leidenschaft. So lauten einige der Überlegungen, die Blumenberg anführt. Die Figur des Zuschauers führt zu einer Verbindung zwischen der »nautischen Metapher« des Schiff bruchs und der Theatermetaphorik und weg von der moralischen zu einer ästhetischen und schließlich einer didaktischen Dimension. Je sicherer sich der Zuschauer fühlt und je größer die Gefahr ist, die er sehen kann, desto stärker wirkt die tragische, komische oder epische Kunst (ebd., 44). Auch das historische Weltgeschehen kann aus der Zuschauerposition betrachtet werden. Herder sieht zum Beispiel in der Französischen Revolution ein »Lehrstück, das von der Vorsehung gespielt wird« (ebd., 51). Man könne diesem vom sicheren Ufer aus zusehen, wenn nicht ein »böser Genius« die Zuseher wider Willen ins Meer stürze (ebd., 51). Eine mögliche Ansteckung durch das mitreißende Geschehen gefährdet das didaktische Potenzial des Schiff bruchs. Der Zuschauer muss immer die sichere, das heißt rationale Distanz wahren. In der Reflexion kann sich der Mensch von den eigenen emotionalen Bewegungen distanzieren. Nebenbei sei bemerkt, dass Blumenberg auch immer wieder darauf hinweist, dass manche der von ihm zitierten Philosophen oder Dichter selbst einen Schiff bruch erlebt (erfahren) haben. In ihrem Denken lassen sich Spuren davon finden (vgl. zum Beispiel Herder, ebd., 49). Schopenhauer lässt schließlich, so Blumenberg, in seiner Verwendung der Metapher die Position des Schiff brüchigen mit der des Zuschauers endgültig zusammenfallen (ebd., 65). Durch die Vernunft kann der Mensch zum Zuschauer seines eigenen Leidens werden. »Der Mensch führt ein Doppelleben, ein konkretes und ein abstraktes.« (Ebd., 65) Während das konkrete Selbst in seiner Existenz bedroht sei, könne sich das abstrakte Selbst über das Interesse des Lebenswillens hinaus zur reinen Anschauung erheben. Das finde seinen Ausdruck im Gefühl der Erhabenheit. Der Zuschauer im Sturm »empfindet sich zugleich als Individuum, als hinfällige Willenserscheinung, die der geringste Schlag […] zertrümmern kann, hilflos gegen die gewaltige Natur, abhängig, dem Zufall preisgegeben, ein verschwindendes Nichts ungeheuren Mächten gegenüber; und dabei nun zugleich als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens, welches als Bedingung des Objekts der Träger eben-
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dieser ganzen Welt ist und der furchtbare Kampf der Natur nur seine Vorstellung, es selbst in ruhiger Auffassung der Ideen, frei und fremd allem Wollen und allen Nöten.« (Schopenhauer, zit.n. Blumenberg 1997, 66)
Diese Situation lässt sich auch in der Theatermetapher beschreiben und weiterdenken (Blumenberg 1997, 69): In der ambivalenten Doppelrolle des Schauspielers und Zuschauers liege die Möglichkeit zur Gelassenheit. Doch wenn sich der Schauspieler den Stürmen und dem Leiden nicht mehr aussetzen wolle und nur mehr Zuschauer sein wolle, dann findet das Stück überhaupt nicht mehr statt. »Es ist die andere Antwort auf die schlichte Frage der Aufklärung, ob denn wirklich die Meeresstille der vollendeten Einsicht die Lösung des Problems der Vernunft sein könne. Worauf die schon berichtete Antwort gewesen war, die Stille sei tödlich für das Leben, das Segel bedürfe des treibenden Winds der Leidenschaften.« (Ebd., 69)
Eine andere, paradoxe Wendung nimmt eine weitere Transformation der Metapher aus der Sicht der erkenntnistheoretischen Situation eines Historikers zum Ende des 19. Jahrhunderts (ebd., 74ff.): Jacob Burckhard, Autor der Weltgeschichtlichen Betrachtungen, hebt den Dualismus von Mensch und Realität auf. Für einen Historiker seiner Zeit gebe es keinen sicheren Standort als Zuschauer der Wellen des Weltgeschehens mehr – »wir sind diese Welle selbst« (ebd., 74). Blumenbergs Geschichte der nautischen Metapher endet damit, dass es historisch unmöglich geworden ist, Zuschauer des Weltgeschehens zu bleiben (ebd., 78ff.). Die Wissenschaft selbst, die gerne distanzierte Zuschauerin wäre, muss mit dem Schiff bruch leben. Sie kann, so übersetze ich, das Ziel ihrer Fahrt, den sicheren Hafen, nicht erreichen, sich nur mehr an den Planken ihrer gescheiterten Versuche festhalten. Doch dies sei nicht zu unterschätzen, denn »eine ordentliche Planke rettete schon manches Menschenleben« (ebd., 79). Auch wenn die Wissenschaft den in sie gesetzten Erwartungen nicht gerecht werde, könne sie doch zur Erhaltung des Lebens beitragen. An dieser Stelle entschließt sich Blumenberg zu einer Umkehrung der Metapher. Er folgt dabei einem Impuls, der sich, wie er meint, einstellt, wenn eine Metapher immer prägnanter und deutlicher ausgestaltet worden ist (ebd., 80). Er fragt nach dem Anfang der Reise. Es geht dabei um den Anfang des menschlichen Denkens und damit der menschlichen
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Sprache. Es könne sein, dass die Sprache ein Schiff ist, das schon auf hoher See gebaut wurde. Es ist denkbar, dass der im Meer an der Planke treibende Schiff brüchige der Ausgangspunkt sei (ebd., 81f.). Einen Anfang denken, hieße also »im Gedankenexperiment die Handlungen nachzuvollziehen, mit denen wir – mitten im Meer des Lebens schwimmend – uns ein Floß oder gar ein Schiff bauen könnten.« Er schließt: »[Offenbar] enthält das Meer noch anderes Material als das schon verbaute. Woher kann es kommen, um den neu Anfangenden Mut zu machen? Vielleicht aus früheren Schiffbrüchen?« (Ebd., 83, Herv. i.O.)
4.3.1.1 Schiffbruch weiter gedacht: Modellierung der eigenen Fremdheitserfahrung als Schiffbruch Interkulturelle Bildung modelliert die Fremdheitserfahrung als einen Zusammenstoß mit dem Anderen, dem Unbekannten. Der Interkulturalismus vermittelt, dass es möglich ist, die Position des Zuschauers einzunehmen. Ein (einmaliger) Schiff bruch nach einem Zusammenstoß mit einem ›kulturellen Eisberg‹ ist als Ausgangspunkt in Kauf zu nehmen, doch in Zukunft sei es mithilfe des Interkulturalismus möglich, sich auf die Zuschauerposition zurückzuziehen. Als Zuschauer/in befindet man sich dann am Nicht-Ort oder am archimedischen Punkt. Der/die Zuschauer/in weiß nun mehr als die Seefahrer. Er/sie tröstet sich mit der neuen Erkenntnis über den Schiff bruch hinweg. Fortan geht es darum, Seekarten zu erstellen und zu studieren, um weiteren Schaden zu vermeiden und alle Seefahrer/-innen in einem sicheren Hafen der Interkulturalität zu versammeln. Doch ohne Seefahrer/-in im Sturm des Lebens (und der Kultur) tritt die tödliche Stille ein. Der Rückzug auf die Zuschauerrolle vermeidet die Erfahrung der Doppelrolle im Schiff bruch mit Zuschauer. Das Unheimliche der Fremdheitserfahrung liegt in der Verdoppelung der Erfahrung. Was gerade noch als Nähe erfahren wurde, kann plötzlich in Distanz umschlagen und umgekehrt. Ebenso ist das Umschlagen von Verbindung und Trennung, Zerstörung und Konstruktion, ausgeliefert Sein und Beherrschen, Sinnlosigkeit und Sinn möglich. Kann ich noch dieselbe sein, wenn ich diese Wechsel erleben kann? Die Doppelrolle – Schiff brüchige und Zuschauerin – ist ein Modell, das einen Selbstwiderspruch abbildet, der nicht überwunden oder aufgelöst werden kann. Es beginnt ein dauernder innerer Kampf. Als Schiff brüchige beneide ich die Zuschauerin
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um ihren festen Standpunkt. Als Zuschauerin fürchte ich die Schiff brüchige, die mich der Festigkeit meines Bodens entfremdet. Ich weiß aber auch, dass sie es ist, die sich zu neuen Erkenntnissen aufmacht. Als Zuschauerin will ich der Situation einen Sinn abringen, um die Schiff brüchige zu beruhigen und meine eigene Existenz zu rechtfertigen. Doch das ist eine Strategie, um der Einsicht in die Unvermeidbarkeit des Lebens als ›Doppelwesen‹ auszuweichen. Leidenschaft und Vernunft, Konkretes und Abstraktes können nur miteinander leben. Doch durch die Vernunft bin ich Zuschauerin meiner eigenen Leidenschaften, meines Glücks und Leids. Das ist Segen und Fluch meines Lebens. Woher kann ich wissen, ob dies mein ganz persönlicher Segen und Fluch ist oder meine Lebensbedingung als moderner Mensch? Woher kann ich wissen, ob ›Ich‹ konkret bin oder ein abstrakter Gedanke? Lässt sich das Modell des Schiff bruchs als Einbruch noch verändern, um diese Situation anders zu erfassen? Blumenberg verweist auf die Sprengung als Modell, um über das Unaussprechliche einer »coincidentia oppositorum«, eines Zusammentreffens der Gegensätze, zu sprechen (Blumenberg 1997, 95, Herv. i.O.). Der Bruch ereignet sich nach diesem veränderten Modell, wenn im Verhältnis widerstreitender Kräfte ein Überschuss an Spannung entsteht, die sich nur mehr durch eine Ausdehnung entladen kann. Blumenberg beschreibt dies als die »Sprengmetapher des Kreises, dessen Radius unendlich wird, wobei die Peripherie eine unendlich kleine Krümmung erhält, so daß Bogenlinie und Gerade zusammenfallen« (ebd., 95). Die Sprengung, die Bollnow als Einbruch des Neuen nach innen denkt, kann hier als Entladung nach außen gedacht werden. Der Einbruch nach innen kann zu Ende oder Neuanfang führen. Die Entladung nach außen kann zu einer Erweiterung des Horizonts, zu Lernen, Gelassenheit, Erhabenheit, Kreativität oder ›Verrücktheit‹ führen. Das ist ein anderes Modell für die Erfahrung, die Bollnow als Aufsprengen des eigenen Weltbilds oder der Vorerfahrung bezeichnet hat. Dieses Modell kann darauf verzichten, die verändernde Kraft als zerstörende Kraft von außen aufzufassen und auf den Anderen, den Fremden, das Neue zu projizieren. Das Unheimliche dieser Kraft besteht darin, dass sie durch die Ausdehnung innen und außen aufhebt. In diesem Modell kann auch die Illusion der Autonomie des immer in sich abgegrenzten Individuums nicht aufrechterhalten werden. Die Erfahrung der Ausdehnung kommt auch in meiner Praxisreflexion vor. Ich habe sie so beschrieben: Ein Schleier wur-
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de gehoben, ein Vorhang aufgezogen, die Trennung zwischen mir und der ›fremden Welt‹ aufgehoben. Doch woher kann ich nun wissen, dass es ›mich‹ noch gibt? Die unsichere Fahrt geht weiter.
4.3.2 Die Tragödie der Kultur (Georg Simmel) Ich berichte nun also – als Seefahrerin (Schauspielerin) und Zuschauerin – weiter von meinem Spiel mit den Modellen. Die Planke, an die ich mich seit meinem letzten Schiff bruch klammere, heißt Theater. Scheitern und Theater verbinden sich dem Alltagsverständnis folgend in einer spezifischen Art des Schauspiels, nämlich in der Tragödie. Es ist daher naheliegend zu untersuchen, wie das Scheitern in der Tragödie gedacht wird. Ich folge daher der Spur der Tragödie in meinem Denken. Die erste Begegnung fand statt beim Lesen von Matthias Junges’ Überblick über soziologische Theoretiker, die Anknüpfungspunkte für eine Theorie des Scheiterns bieten (Junge 2004). Junge verweist dort auf Simmels kulturphilosophische Schrift Der Begriff und die Tragödie der Kultur (Simmel 1996). In diesem Essay sieht Simmel das Scheitern von Kultur schon in ihrem Ursprung angelegt. Er ist in einer Sammlung aus dem Jahr 1911 beinhaltet, die den Titel Philosophische Kultur trägt (Simmel 1996). Simmels Beschäftigung mit Kultur ist deshalb interessant, weil er auch der Autor des bereits zitierten Exkurs[es] über den Fremden ist. Der Sammlung ist eine Abhandlung über die Hauptprobleme der Philosophie vorangestellt. Eine zentrale Stellung nimmt dabei das Verhältnis von Subjekt und Objekt ein. »Wenn man eine Grundtatsache sucht, die als die allgemeinste Voraussetzung aller Erfahrung und aller Praxis, aller Spekulation des Denkens und aller Lust und Qual des Erlebens gelten könnte, so wäre sie vielleicht so zu formulieren: Ich und die Welt. Das Dasein, von dem wir überhaupt sprechen können, kann sich gar nicht anders vollziehen, als daß einem Subjekt ein Reichtum von Objekten gegenübersteht, den es lieben oder hassen, den es erkennen und bearbeiten kann, von dem es gefördert oder gehemmt wird.« (Ebd., 80)
Simmels Überlegungen gehen davon aus, dass die Unterscheidung zwischen einer subjektiven Seele und einer ihr gegenüberstehenden Welt der Objekte in der Menschheitsgeschichte relativ spät entstanden ist. Dabei
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habe sich nicht das Bewusstsein eines Subjekts aus einer objektiven Welt heraus entwickelt, sondern der Unterscheidung ging ein Indifferenzzustand voraus. Subjekt und Objekt entwickelten sich parallel und in Relation zueinander (ebd., 80f.). Damit ist aber, so Simmel weiter, das Bewusstsein von der »Ungeschiedenheit« nicht zu einem festzumachenden, historischen Zeitpunkt verschwunden, sondern es lebt in dem Problem, die Einheit wieder herzustellen, weiter. »Diese Einheit heißt nun Wahrheit: die Übereinstimmung des subjektiven Vorstellens und des objektiven Seins. Sie trägt in sich die Chance, zu gelingen oder nicht zu gelingen, die für die ursprünglich ungeschiedne Gegebenheit gar nicht in Frage kommt.« (Ebd., 81, Herv. SA) In der »Ungeschiedenheit« gab es, so meine Schlussfolgerung, die Möglichkeit zu scheitern (noch) nicht. An diesem Grundverhältnis von Subjekt und Objekt setzt nun auch Simmels Beschreibung von Kultur an (ebd., 385ff.): Dieser Dualismus treibt das Subjekt zu einer unendlichen Aufgabe an. Die kulturellen Tätigkeiten des Menschen, zum Beispiel das Erkennen, die Arbeit, die Kunst und die Religion, zielen darauf ab, den Dualismus von Subjekt und Objekt zu überwinden. Der subjektive Geist kann geistige Objekte erschaffen. Nur wenn »beide Parteien Geist sind«, kann das Subjekt sich mit dem Objekt »zu einer innerlich einheitlichen Bezogenheit organisier[en]« (ebd., 390). Eine solche »Vergegenständlichung des Geistes« im Objekt schafft einen Wert, der zwar im subjektiven Geist entsteht, aber über das rein subjektive Bewusstsein hinausgeht (ebd., 391). Als Beispiel nennt Simmel das Bild eines Malers. »Ein Sonnenaufgang, den kein Menschenauge sieht, macht die Welt durchaus nicht wertvoller oder erhabener, weil ihre objektive Tatsächlichkeit für diese Kategorien überhaupt keinen Platz hat; sobald aber ein Maler in ein Bild dieses Sonnenaufgangs seine Stimmung, seinen Form- und Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat, so halten wir dieses Werk […] für eine Bereicherung, für eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt.« (Ebd., 394)
Simmel sieht in der subjektiven Seele des Menschen höchstpersönliche Möglichkeiten angelegt. Die menschliche Entwicklung besteht darin, diese Möglichkeiten zu verwirklichen, sich mit dieser inneren Wahrheit zu verbinden (ebd., 386f.). Hier siedelt Simmel die Idee der Kultur an, die er in einem Gleichnis beschreibt: »als den Weg der Seele zu sich selbst« (ebd., 385). Diese Arbeit kann aber nicht aus rein subjektiver Kraft heraus
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bewerkstelligt werden. »Kultiviertheit« entsteht, »wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind« (ebd., 389). Zusammengefasst: »Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« (Ebd., 387) Hier zeigt sich wieder Simmels schon in den Hauptprobleme[n] der Philosophie formulierte Überzeugung einer Lösung des Subjekt-Objekt Problems: »[D]as Ich ist Tätigkeit und diese kann nur an einem Gegenstande wirklich werden, der ihr Widerstand leistet – einen Widerstand, den zu brechen freilich ihr Wesen als Tätigkeit ist, wie die künstlerische Arbeit keine Statue erschaffen könnte, wenn der Marmor ihr keinen Widerstand entgegensetzte, in dessen Überwindung sie ihre Formen realisiert.« (Ebd., 83, Herv. SA)
Darin besteht das »Paradoxon der Kultur« (ebd., 389, Herv. SA): Der tätige Mensch strebt nach seiner Vollendung, indem er aus subjektiver Kraft geistige Objekte schafft. Dennoch ist er zu seiner Vollendung genau von jenen, jetzt von ihm getrennten und ihm fremden Objekten abhängig. Der Geist erzeugt Gebilde wie Kunst, Recht, Religion oder Technik, die eine feste, geronnene Form annehmen. Diese existieren unabhängig von ihm fort, sind unbeweglich und zeitlos gültig. Sie treten damit in Gegensatz zur strömenden Lebendigkeit des subjektiven Lebens, das zeitlich endlich ist (ebd., 385). Auch wenn Simmels Idee der Vollendung des Menschen in dieser Form, wie er selbst einräumt, infrage gestellt werden kann, so kann man ihm doch darin folgen, dass in diesem Weg »eine der äußersten Garantien dagegen [liegt], sich nicht selbst als Illusion erkennen zu müssen« (ebd., 413). In Bollnows Worten wäre dies der »Widerstand der Sache«, der der Erkenntnis erst ihre Festigkeit geben kann (siehe Kapitel 3.3.2). In den unterschiedlichen Prinzipien, die die Sphäre des Subjektiven und des Objektiven bestimmen, zeichnet sich aber auch schon die »Tragödie der Kultur« ab. Einerseits liegt in der Kultur und »Kultivierung« als Tätigkeit des Menschen die Möglichkeit, den Dualismus von Subjekt und Objekt zu überwinden, andererseits entwickelt sich die Welt der Objekte nach ihrer ganz eigenen Logik unabhängig von den Subjekten (Simmel 1996, 402). Seit der Mensch sich selbst zum Objekt gemacht hat, kann er »Ich« sagen und kann diesem »Ich« die Form eines Objekts, also einer geschlossenen Einheit gegeben. Damit setzt sich das »Ich« aber auch der Dynamik des Objektiven aus (ebd., 403). Der Mensch steht »im Schnittpunkt« zweier Kreise und ist dem Zugriff der unterschiedlichen Mächte
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ausgesetzt (ebd., 404). Simmel beobachtet, dass die Arbeitsteilung eine massenhafte Herstellung von Objekten ermöglicht. Die Objekte können »die Brücken abbrechen« zu den Lebensprinzipien der Subjekte (ebd., 405). Durch ihre vom Subjekt gelöste Gültigkeit kann das »Reich der Kulturprodukte« ins Unendliche wachsen. Die Produkte verlieren ihre Beziehung zu den Produzenten und es hat keine Bedeutung mehr, ob sich Menschen durch diese Produkte entfalten können (ebd., 408). Simmel weist darauf hin, dass nur das Kunstwerk, weil es keiner Arbeitsteilung zugänglich ist, sich dieser Dynamik entziehen kann (ebd., 414). »Die Grundfähigkeit des Geistes: sich von sich selbst lösen zu können, sich gegenüberzutreten wie einem Dritten, gestaltend, erkennend, wertend, und erst in dieser Form das Bewußtsein seiner selbst zu gewinnen – hat mit der Tatsache der Kultur gleichsam ihren weitesten Radius erreicht, hat das Objekt am energischsten gegen das Subjekt gespannt, um es wieder in dieses zurückzuführen. Aber eben an dieser eigenen Logik des Objektes, von der das Subjekt sich als ein in sich selbst und sich selbst gemäß vollkommeneres zurückgewinnt, bricht dieses Ineinander der Parteien entzwei.« (Ebd., 413)
Innerhalb der Kultur entstehe »ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist« (ebd., 402). Das bezeichnet Simmel als die »Tragödie der Kultur«, weil für ihn ein »tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes« – sich darin ausdrückt, dass die »gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen« (ebd., 411). Sowohl die Trennung zwischen Schiff brüchigem und Zuschauer als auch die von Simmel als Tragödie beschriebene Trennung zwischen Subjekt und Objekt sind Modelle, die beschreiben, wie tief die Dualität von innen und außen in meinem Denken verankert ist. Auch ich leide an der Rastlosigkeit des Geistes, der versucht, die Trennung zu überwinden, und bin wie Goethes Zauberlehrling der einmal begonnenen Dynamik der Trennungen ausgeliefert. In der interkulturellen Erfahrung wurde die ›ursprüngliche‹ Trennung wiederholt und die Suche nach der einenden Wahrheit zur immer drängenderen Notwendigkeit gemacht. Die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Ungeschiedenheit ist groß, auch wenn damit das Ich scheitern muss. Die Rückkehr würde doch eine Erlösung aus dem tragischen Verhängnis darstellen. Diese Gedanken führen mich zu einem weiteren Modell in meinem Vorwissen, dem Erlösungsdenken.
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4.3.3 Das Paradies und Freuds Urhorde Wenn die Seefahrerin an ihrer Planke in den emotionalen Wogen treibt, fragt sie nach der Ursache dieser tragischen Erfahrung. Die Zuschauerin kann ihr mit dem moralischen Denken in den Kategorien von Schuld und Strafe zur Hilfe eilen. Das Scheitern könnte die Strafe für ein schuldhaftes Verhalten sein. Das Pendant zur Schuld ist die Erlösung. Im christlichen Denken hat der Mensch durch sein ungehorsames Verhalten die Einheit mit Gott zerstört und Schuld ins göttliche Paradies gebracht. Bion macht darauf aufmerksam, dass das ungehorsame Verhalten Ausdruck der menschlichen Neugierde und des Wissensdurstes ist. Er sieht auch eine Parallele zum Babel-Mythos, in dem sich die Menschen durch zu große Neugierde schuldig machen. In diesem Fall werden sie durch die Zerstörung der sprachlichen Einheit bestraft (vgl. Bléandonu 2008, 245). Fortan müssen die Menschen danach streben, in den ursprünglichen, paradiesischen Zustand zurückzukehren. Doch dies kann ihnen aus eigener Kraft nicht gelingen. Die göttliche Kraft bringt ihnen durch Christus die Erlösung, wenn sie sich ihr (wieder) unterwerfen. Das Leiden an der Verstoßung aus dem Paradies ist auf eine Schuld zurückzuführen. Aber es kann auch eine Erlösung von diesem Leiden geben. Dieses Modell kann der gescheiterten Seefahrerin als Planke dienen und ihr Hoffnung und Kraft zum Durchalten geben. Das Scheitern als tragisches Ereignis führt dann zu einer moralischen Läuterung. Das Scheitern bietet die Möglichkeit zur Einsicht in die (Ur-)Schuld und damit auch die Chance auf Neuanfang und Erlösung. Dieses Modell des Scheiterns ist vom christlichen Modell des Paradieses getragen und wirkt bis in die Modellierung von Interkulturalität hinein. Das Leiden an einer Fremdheitserfahrung kann als Zusammenbruch des Paradieses oder als Verstoßung aus der paradiesischen Einheit modelliert werden. Da dies mit einem Leidensgefühl verbunden ist, ergibt sich daraus der Drang nach Erlösung und Rückkehr in den paradiesischen Zustand. Wenn der Interkulturalismus die Hoffnung auf ein ›interkulturelles Paradies‹ wecken kann, verschafft er sich eine ›erlösende‹ Position und bringt vorübergehende Entlastung. Das Modell vom verlorenen Paradies mit Schuld und Erlösung beschreibt ein untrennbares Verhältnis von Ursache und Wirkung. Während das ursprüngliche, paradiesische Verhältnis einfach war, hat das neue Verhältnis einen Ursprung. Das neue Verhältnis ist die Auswirkung des menschlichen Verhaltens. Das Verhalten ist die Ursache der Tren-
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nung. Der Erlöser kann die Auswirkung wieder umkehren. Die Ursünde bewirkt die Trennung der Menschen von Gott und verbindet sie gleichzeitig als eine Gemeinschaft von Schuldigen. Die Schuld wird kollektiviert und ohne individuelles Zutun von Generation zu Generation weitergegeben. Der einzelne Mensch muss nach individueller Erlösung streben. Das Modell funktioniert wie eine Art perpetuum mobile. Berger beschreibt seine Leistung: »Während die individuelle Schuld zumindest prinzipiell abgetragen werden kann, ist es die Leistung des Christentums, mit der Erfindung der größten zugleich die unabtragbarste Schuld und damit den längsten Zwang und damit wiederum das dauerhafteste kollektive Gedächtnis erzeugt zu haben.« (Berger 2003, 49)
Damit wird eine Verbindung von Schuld und Kollektiv hergestellt. Das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv muss in diesem Modell ambivalent sein. Auch Freud setzt in seiner Kulturtheorie eine kollektive Schuld, den Vatermord, als den Anfang von Kultur (Berger 2003, 48; Kittler 2001, 200). »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre. (Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die Handhabung einer neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben.) Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalischen Wilden selbstverständlich. Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzen sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.« (Freud 2007, 196)
Kittler bemerkt, dass sich auch noch eine Spur des technischen Denkens in Freuds Mythos eingeschlichen hat (»die Handhabung einer neuen Waffe«), die als »Kulturfortschritt« ja logischerweise gar nicht vor dem kulturstiftenden Mord bestehen dürfte (Kittler 2001, 203). Lassen wir diesen Widerspruch, der wieder zur Bedeutung von technischen Modellen
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für das Denken führen würde, einstweilen bestehen und beschränken wir uns auf die Wirkungen des Mythos vom Vatermord. Freud verbindet, wie Kittler analysiert, ein darwinistisches Bild einer wilden Urhorde, den tragischen Mythos von Ödipus und den christlichen Mythos vom Abendmahl zu einem kulturbegründenden Mythos vom Vatermord (ebd., 202). Und er verlagert das Wissen über diesen Mythos in das Unbewusste. »Wir alle wüßten – was wohl das theoretisch Spannendste an Freuds Mythos bleibt –, was unsere Urahnen einst verbrochen haben, sprächen es aber nie und nimmer aus. Nur das Unbewußte der Eltern würde dem Unbewußten der Kinder unwillkürlich verraten und das heißt mitteilen, auf welcher Unkultur oder Mordtat die Kultur als solche beruht. Nicht bloß die Kultur, sondern auch alle Kulturwissenschaft wäre eine gigantische Verschwörungstheorie.« (Ebd., 202)
Dieser Mythos hat weitreichende Konsequenzen. Er findet unter anderem über das Modell des Unbewussten Eingang in das Eisbergmodell von Kultur, das Kultur in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Bereich aufteilt. Es ist die abgekühlte, erstarrte Form dieses Mythos. Dem unsichtbaren Bereich wird durch den Mythos kollektiv verbindende und bestimmende Macht zugesprochen. Er ist tabu und kann deshalb auch nie vollständig berührt werden. Freuds Vorgehen ist aber nicht rein spekulativ, es folgt auch einer Methode, um einem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden. Das »theoretische Rezept«, das dabei zur Anwendung kommt, beschreibt de Certeau am Beispiel von Freud und Durkheim: »Bei ihrer Konstruktion einer Theorie der Praktiken orten sie diese Praktiken zunächst in einem ›primitiven‹ und abgeschlossenen Raum, der im Verhältnis zu unseren aufgeklärten Gesellschaften ethnologisch ist, und dann entdecken sie dort hinten, an diesem dunklen Ort, die theoretische Grundformel ihrer Analyse.« (de Certeau 1988, 135)
Der Gedanke, das Vertraute vom Fremden, vom Primitiven her erkennen zu können, ist laut Kittlers Kulturgeschichte eine »Lesefrucht« Freuds, die dieser dem Werk von Sir James George Frazer entnahm (Kittler 2001, 191-194): Frazer hat einerseits ein Werk über Totemismus und Exogamie verfasst (und habe damit das Stichwort für Totem und Tabu gegeben) und sei andererseits mit seinem Werk The Golden Bough Vordenker für einen
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Paradigmenwechsel in der Philosophie gewesen. Statt wie die Philosophie seit Sokrates von einer bekannten (als gegeben angenommenen) Ursache aus deduktiv nach unbekannten Wirkungen zu suchen, habe Frazer begonnen, im Wege der Abduktion von bekannten Wirkungen auf unbekannte, zu erforschende Ursachen zu schließen. Frazer und Freud konnten nun diese Ursachen erhellen, indem sie außereuropäische, primitive Völker mit der kulturellen Urhorde gleichsetzen (ebd., 191-194). Freud hat in seinem späteren Werk Das Unbehagen in der Kultur (Freud 2010) ausgeführt, wie der ursprüngliche Aggressionstrieb im Rahmen der Kultur introjiziert wird und durch die Spaltung in ein Ich und Über-Ich zu einem Schuldbewusstsein führt. »Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt.« (ebd., 75) Dieses Schuldgefühl lebt als »Unbehagen« in der Kultur fort und wirft die Frage auf, ob in einer Analogie von der Psyche des Individuums auch auf Gesellschaften geschlossen werden kann (vgl. Roudinesco/Plon 2004, 1073). Auch wenn Freud selbst hier Vorsicht walten lassen wollte, lässt die historische Erfahrung des Nationalsozialismus, deren Aggressionslust er 1931 schon vorausahnte, den Gedanken einer »neurotisch gewordenen« Kultur plausibel erscheinen (Freud 2010, 98f.). Ethnologie und Psychoanalyse sind – so mein Verständnis – miteinander am Weg über die christlichen Mythen im Namen der Erkenntnis eine Verbindung eingegangen. Foucault hat in Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit die »lange Linie einer europäischen Kultur des Zwangs zum Selbstverdacht und des Gestehen-Müssens« (Kammler et al. 2008, 85) nachgezeichnet. Sie findet sich im christlichen Schuldbekenntnis ebenso wie im psychoanalytischen Aufdecken des Unbewussten. Ich sehe hier eine Parallele zur interkulturellen Bildung, die ein Modell der Determination durch unsichtbare ›kulturelle Ursachen‹ mit dem Zwang zur Aufdeckung mit Hilfe der Ethnologie verbindet. Der Interkulturalismus profitiert wie die Psychoanalyse von der »permanenten Behandlungsnot« (Kammler et al. 2008, 85, Herv. SA), die er selbst konstruiert. Doch selbst wenn es Kritik an dieser Konstruktion gibt, wie zum Beispiel in Foucaults Analysen, bedeutet das nicht, dass sie damit auch ihre Wirkung verliert. All dieses religiöse und wissenschaftliche Vorwissen wird, so Freud, unbewusst weitergegeben, vielleicht sogar, um es mit Bions Modell auszudrücken, mit der Muttermilch aufgesogen und fließt in mein
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modellhaftes Denken ein. Selbst wenn ich mithilfe der kulturwissenschaftlichen Analyse denke, dass auch Freuds mächtiges Schiff nur auf dem Meer aus herumschwimmenden Scheitern gebaut worden sein mag – wer gibt mir den Mut, von diesem »komfortablen Schiff« aus Vorwissen allein »ins Wasser zu springen und noch einmal von vorn anzufangen«? (Blumenberg 1997, 83) Kann es sein, dass alle Rede von Erfahrung und Schiffbruch, Schauspieler und Zuschauer, von der Festigkeit des Vorwissens und der Schmerzhaftigkeit des Scheiterns, vom absolut Fremden und Neuen hinfällig wird, wenn ich nur den Mut aufbringe, ins Wasser zu springen? Kein Schiff muss dann scheitern, keines mehr gebaut werden, nichts mehr modelliert und verstanden werden. Es gibt keine Schuld und keine Erlösung. Ich muss springen und aus eigener Kraft anfangen zu schwimmen.
4.3.4 Die griechische Tragödie Es genügt, in der Kulturgeschichte hinter Freud und hinter das Christentum zurückzugehen, um festzustellen, dass all das bisher unter dem Stichwort Tragödie gesagte, wenig zu tun hat mit dem griechischen Verständnis der Tragödie. Im Standardwerk von Schadewaldt wird dieses umfassend beschrieben (Schadewaldt 1991): Das antike Referenzwerk zur Abgrenzung der Tragödie als Form ist die Poetik von Aristoteles. Dem Zuschauer gilt in der Tragödie besondere Aufmerksamkeit. Dieser soll – wie Aristoteles ausführt – durch »éleos« und »phóbos« zur »kátharsis« gelangen (ebd., 11, Herv. i.O.). Eleos und phóbos werden üblicherweise mit Mitleid und Furcht übersetzt. Doch die philologischen Auslegungen seien hier keineswegs eindeutig. Schadewaldt kommt nach ausführlicher Diskussion zu dem Schluss, dass Aristoteles von »Elementaraffekten« spricht, »die durch das tragische Spiel erregt werden, von Entsetzen und gewaltiger Rührung« (ebd., 17, Herv. SA). Bei der kátharsis handelt es sich um eine Art medizinische Ausscheidung dieser Affekte, auf die die Tragödie hinführe (ebd., 20). Die Handlung der Tragödie speist sich aus dem Mythos. Dabei gehe es um die »Eudaimonie oder »Kakodaimonie des Lebens«, also um »ein schicksalhaftes Hineinwirken von Mächten in das Leben zum Guten oder Schlimmen hin« (ebd., 23). Der Mensch ist also dem göttlichen Wirken zunächst ausgeliefert. Der Träger des Geschehens muss ein »wackerer, tüchtiger Mensch« und in der Lage sein, das tragische Geschehen zu erleiden (ebd., 28f.). Aristoteles behandelt auch weitere Elemente der Tragödie: Der Träger einer tragischen Handlung dürfe weder vollkommen,
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noch ganz böse sein, sondern müsse zwischen den Extremen stehen. Am ehesten wirke die Tragödie, wenn ein solcher Mensch aus dem Glück ins Unglück kommt. Doch selbst ein Happy End ist nicht ausgeschlossen (ebd., 24f.). Spielt die Handlung zwischen Freunden (philos), die einander Leid zufügen, hat dies am ehesten tragische Wirkung (ebd., 27). Oft liegt hier eine Art Blindheit vor, sei es aus Unwissenheit oder aus Leidenschaft, die zum Unheil führt. Der Träger des tragischen Schicksals muss ein Mensch sein, mit dem man sich identifizieren kann. Die Ähnlichkeit bezieht sich auf die allgemeine Bedingung »des menschlichen Ausgesetztseins« (ebd., 30). Er kommt nicht durch seine Schlechtigkeit ins Unglück. Entgegen aller christlichen Deutungen trifft ihn keine Schuld, sondern es handelt sich um »hamartía«, eine »beträchtliche Verfehlung«. Das Tragische besteht darin, dass der Betroffene »unschuldig schuldig« wird. In »diesem Ineinander liegt das Tragische« (ebd., 30f.). Das Geschehen ist zwischen Sinnvollem und Sinnlosem angesiedelt. Die Sinnhaftigkeit des Schicksalhaften leuchtet vielleicht aus dem Geschehen durch (ebd., 31f.). Da die Tragödie ursprünglich ein Kultspiel des Dionysoskults war, sei ihr eine didaktische Wirkung abzusprechen. Ihre spezifische Leistung (ergon) besteht darin, etwas Großes, menschlich Allgemeingültiges so darzustellen, dass die Zuschauer in ihrer Alltäglichkeit erschüttert werden (ebd., 32ff.). Die griechische Tragödie als Modell zeigt, wie ein Denken ohne Schuld und Erlösung möglich ist. Das Scheitern kann auch als tragisches »unschuldig schuldig Werden« durch menschliche Größe und Verantwortung ertragen werden. Dem dramatischen Spiel wurde in der griechischen Epoche die Möglichkeit zugesprochen, eine (lustvolle) Ausscheidung menschlicher Elementareffekte zu bewirken, die anderenfalls eventuell zu einem dauerhaften »Unbehagen« führen würden.
4.3.5 Die Geburt der Tragödie (Friedrich Nietzsche) Die historisch-philologische Betrachtung der griechischen Tragödie bereitete mich vor auf eine noch weiter führende Abkehr von den Modellen des christlich-moralischen Denkens und führte mich zu Friedrich Nietzsches 1872 erstmals veröffentlichtem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Nietzsche 1999). Nietzsche ist getrieben vom Wissensdurst nach Erkennen der tiefsten Seinsgründe und sieht in der Tragödie eine Alternative zur Unterwerfung unter den Wahrheitsanspruch und die Strafe des christlichen Gottes. Dazu holt er aus zur Darstellung der
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Wirkungsweise der Tragödie. Nach Nietzsches Deutung besteht die spezifische Wirkung der griechischen Tragödie in der Verbindung des »Apollinischen« und des »Dionysischen«. Apollo ist Nietzsche zufolge der Gott der bildnerischen Kunst und Dionysos der Gott der Musik. Er erklärt: »Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender Gegensatz wie zwischen Apollinischem und Dionysischem zu bemerken ist.« (Ebd., 26, Herv. i.O.)
Die Tragödie, die aus dem Kult des Dionysos hervorgegangen ist, hebt den Zuschauer zunächst in einen Rauschzustand, in dem er, singend und tanzend, eine transzendente Erfahrung des »Ur-Einen« machen kann. Diese Erfahrung beschreibt Nietzsche als ein Fest: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit dem verlorenen Sohne, dem Menschen.« (Ebd., 29) Die Erfahrung beinhaltet aber auch das »Grausen« (ebd., 28), wenn im Rausch sich alle Erkenntnisformen auflösen. Das ist die doppelte Natur des Dionysischen. An diesem Punkt der größten Ausdehnung, des »Zerbrechens« des Individuums, greift aber die apollinische Kraft ein, die als Vertreterin des »principium individuationis« (ebd., 28) für die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das »Maass« (ebd., 40) sorgt. Sie erlöst den Menschen durch ein Bild, einen »Schein«, in dem er sich selbst erkennen kann und seinem Erleben dadurch wieder eine Gestalt geben kann (ebd., 28). In der Tragödie erlebt der Künstler die »Kunstzustände der Natur« als »zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d.h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnisartigen Traumgebilde offenbart.« (Ebd., 30f., Herv. i.O.)
In diesem Zusammenhang verweist Nietzsche auf Schopenhauer und seine Verwendung der Schiff bruchmetapher (der Verweis findet sich auch bei Blumenberg, vgl. Blumenberg 1997, 70):
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»Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten, was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen sagt. […] ›Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis‹.« (Nietzsche 1999, 28)
Eine erste Zwischenbilanz zeigt: Die griechische Tragödie verbindet und versöhnt die Strebungen des Menschen nach der Erfahrung der Überschreitung und der Begrenzung. Sie gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, sich selbst und sein Dasein zu erfahren, indem er sich als Rausch- und Traumkünstler erfährt. Als künstlerischer Mensch erhält er Zugang zu jenem Wissen, das ihm vom christlichen Gott verweigert wird. Das Schicksal der tragischen Helden Ödipus und Prometheus besteht nach Nietzsche darin, dass das »Beste und Höchste« nur durch einen »Frevel« (ebd., 69) zu erreichen ist. Nietzsche grenzt damit die »active[n] Sünde« gegenüber dem von ihm sogenannten »semitischen Sündenfallmythus« ab (ebd., 69). Nietzsches Verwendung der Begriffe »arisch/semitisch« ist aus heutiger Sicht problematisch, muss aber im Zusammenhang mit seiner immer größer werdenden Kritik am Christentum verstanden werden. Der »semitische« Mythos ist auch der Ursprung des christlichen Mythos (vgl. Ries 1999, 82). Der tragische Held hingegen, der das ihm zugewiesene menschliche Maß überschreitet, leidet, erkennt und erträgt den »Widerspruch im Herzen der Welt« (Nietzsche 1999, 70). Dies ist das Gegenkonzept zur christlichen Heilslehre, in der das Leiden die Strafe für den Sündenfall darstellt. »Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d.h. er frevelt und leidet.« (Ebd., 70) Das bedeutet in meiner Übersetzung, dass nur der künstlerische Mensch, der den »Urwiderspruch« des Lebens tragisch erleidet, so die Bedingungen seines Daseins erkennen und ertragen kann. Das Leiden ist für Nietzsche keine Strafe Gottes, sondern ein Zeichen der selbstverantwortlichen Aktivität. Die Kunst gibt dem Menschen die Möglichkeit, aus sich selbst heraus zur Erlösung zu gelangen. »Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr
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werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft Seiende und Ur-Eine, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht.« (Ebd., 38)
Der Untergrund des Leidens im »wahrhaft Seienden« wiederum könne nur durch das Dionysische aufgedeckt werden. Im Rausch des Dionysischen sind Grausen und Lust des Ich-Verlusts und des Verlusts der Ordnung verbunden. Die »ganze Welt der Qual« (ebd., 39), also das Leiden an diesem Widerspruch bzw. an der Widersprüchlichkeit des Seins, die auch die Tragödie durch den Widerstreit des Dionysischen und Apollinischen widerspiegelt, ist nötig, damit »der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt […] und, dann ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres sitze« (ebd., 39f.). Doch dieser »künstlerische Mensch« wird zum Bedauern Nietzsches abgelöst durch den »theoretischen Menschen«, den Sokrates ins Leben gerufen hat (ebd., 98, Herv. i.O.). Sokrates’ Aussage: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«, legte den Grundstein für eine neue Kultur, die den »Instinct« (ebd., 90) dem Wissen unterordnet. Damit wende sich Sokrates gegen die Kunst und Ethik seiner Zeit (ebd., 88-91). »Man vergegenwärtige sich nur einmal die Consequenzen der sokratischen Sätze: ›Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche‹: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein«, kritisiert Nietzsche weiter (ebd., 94). Der Glaube, dass das Wissen die tiefsten Seinsgründe zu erkennen mag, bricht mit der Kunst der Tragödie und führt zum bis heute ungebrochenen »Optimismus der Wissenschaft« (ebd., 111). Kant und Schopenhauer sei es bereits gelungen, die Grenzen dieser »sokratischen Cultur« aufzuzeigen (ebd., 118). An diesen Grenzen der Wissenschaft, an denen »sie in Kunst umschlagen muss« (ebd., 99), setze noch immer die »tragische Erkenntnis« (ebd., 101) ein. Nietzsche setzt seine Hoffnung auf die Wiedergeburt der Tragödie. Nietzsche macht in den nachträglich verfassten Vorbemerkungen »Versuch einer Selbstkritik« (Nietzsche 1999, 11-22) zu seinem Jugendwerk Die Geburt der Tragödie deutlich, dass er sich darin vor allem gegen eine moralische, christliche Deutung der Tragödie und des Daseins wenden
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wollte. Er beruft sich dabei darauf, dass die Tragödie aus dem Dionysoskult heraus »geboren« wurde. Dionysos ist ein Gott der Künste und wie er es später zuspitzen wird: »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt gerechtfertigt« (ebd,, 47). Es ging ihm um das Problem der Wissenschaft und deren Verhältnis zum Dasein. Dieses Problem könne nur auf dem Boden der Kunst erkannt werden (ebd., 11-22). Wissenschaft und Kunst gehören zum »Reich der Kulturprodukte« (Simmel). Auch Nietzsche ist der »Tragödie der Kultur« auf der Spur. Er will sich mit seinen Fragen nach dem »innersten Grunde der Welt« und dem »wahrhaft Seienden« und seinem eigenen Verhältnis dazu nicht an der Tür des Paradieses abweisen und in eine Welt der Sünde stoßen lassen. Durch die Erfahrung der dionysischen und apollinischen Wirkungen der Tragödie gelangt er zu neuen Gewissheiten. Nietzsche schrieb das Werk kurz nach einer lebensbedrohlichen Erfahrung. Er war gerade dem Tod durch die Ruhr entgangen, mit der er sich als Lazarettkrankenpfleger im deutsch-französischen Krieg angesteckt hatte (Kittler 2001, 155). Dem Buch liegt, wie er selbst sagt, eine »tief persönliche Frage« (Nietzsche 1999, 11) zugrunde, mit der er aber auch mitten im Weltgeschehen stand. Er schreibt im Vorwort über sein Werk und sich: »[…] bis er [der junge Nietzsche, SA] endlich in jenem Monat tiefster Spannung, als man in Versailles über den Frieden berieth, auch mit sich zum Frieden kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ letztgültig bei sich feststellte.« (Ebd., 11f., Herv. SA)
Der junge Nietzsche spricht als sein eigener Zuschauer, wenn er sagt, er »stellte« eine Geburt, ein elementares Ereignis, »bei sich fest«. Die geistige Geburt fand statt, als er endlich aus tiefster Spannung heraus mit sich zum Frieden kam. Die emotionalen Erfahrungen von Todesnähe und Geburt durchziehen das Werk. Die Geburt vollzieht sich an ihm, in einem medialen Akt. Doch auch existenzielle Erfahrungen mit dem Geiste der Musik sind hinein verwoben. Nietzsche bedauert, dass er in diesem Werk noch nicht seine »eigene Sprache« (ebd., 19) gefunden hatte. »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!« (ebd., 15) Auf die Schwierigkeit, Erkenntnisse die im Wege der ästhetischen Anschauung gewonnen wurden, in die Ausdrucksformen der Sprache zu übertragen,
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hat auch Bollnow, wie bereits an früherer Stelle erwähnt, hingewiesen (Bollnow 1981, 80f.). Insbesondere von Richard Wagners Musik war Nietzsche tief bewegt, wie nebenbei bemerkt wohl auch im erotischen Sinn von dessen Frau Cosima (Kittler 2001, 156). All dies wird friedlich, als es in seiner Schrift Gestalt annehmen kann. In der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik kann Nietzsche seine Erfahrungen modellieren, abstrahieren und dabei befrieden. Im Lichte des modellhaften Denkens zeigt sich, dass es nicht nur am jugendlichen Elan oder an mangelnder theoretischer Reife des Autors liegen kann, dass diese Schrift dionysisch ansteckend wirkt, sondern auch an der Nähe des gedanklichen Modells zu tief greifenden Emotionen. Und das ist ganz in Nietzsches Sinne, hofft er doch auf eine »Wiedergeburt der Tragödie« und der tragischen, also ästhetischen Kultur. Nietzsches Geburt der Tragödie gibt die Programmatik seiner »Kulturpolitik« vor, die darin besteht, »am Umschaffen der Überzeugungen zu arbeiten« (Nietzsche zit.n. Kittler 2001, 161, Herv. i.O.). Er arbeitet in dieser Schrift auch eine Art des Denkens aus, die imstande sein soll, die Leserin zu infizieren. Dies ist ihm in meinem Fall und, wenn man Kittlers Kulturgeschichte glaubt, in Bezug auf die gesamte Kulturwissenschaft gelungen. Insbesondere Freud sei von Nietzsche beeinflusst gewesen, setzte jedoch seinen Schwerpunkt im Gegensatz zu Nietzsche nicht auf das Dionysische, sondern bekanntlich auf die apollinische, bildliche Wirkung des Traums (Kittler 2001, 169-172). Aus heutiger Sicht ist die Kombination einer megaloman anmutenden Kulturpolitik und der Hoffnungen auf die Wiederbelebung der Tragödie, die Nietzsche gerade in den deutschen Geist setzt, für die Leserin sehr unbehaglich. Dennoch zeigt seine Kultur- und Wissenschaftskritik völlig neue Möglichkeiten des Denkens über Kultur – frei von Erlösungsdenken und Dialektik – auf. Die Leseerfahrung des Nietzsche-Textes bestand vor allem im Erlebnis der ansteckenden Wirkung des Dionysischen. Das gedankliche Miterleben von Einheit und Trennung, wie Nietzsche sie in seinem Modell der Tragödie beschreibt, hatte auf mich die kathartisch reinigende Wirkung, die der Tragödie zugesprochen wird. Das Durchleben und »Ausscheiden« der Erfahrung führte dazu, die Widersprüchlichkeit des Seienden gedanklich ertragen zu können. Nietzsches Ansicht, dass die Wissenschaft bei der Erforschung der »tiefsten Seinsgründe« an ihre Grenzen stoßen und in Kunst umschlagen muss, leuchtete unmittelbar durch die Erfahrung, in Form kreativer Einsichten ein. Das Leiden am Wissensdurst
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wurde erträglich. Dies führte mich zur weiteren Beschäftigung mit dem Verhältnis von Erkenntnis, Kultur und Kreativität.
4.3.6 Übergangsobjekt und Übergangsraum (Donald W. Winnicot) In Vom Spiel zur Kreativität (Winnicot 2010) schlägt Donald W. Winnicot die Brücke von der frühkindlichen kreativen Entwicklung bis zum kulturellen Erleben. Er entwickelt einen Ansatz, der sich unerwartet als psychologisch fundierte Kulturtheorie entpuppt. Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker beschäftigte sich vor allem mit der frühkindlichen Entwicklung. Wie Wilfred Bion folgt auch er der Schule Melanie Kleins. Seine Aussagen zur Kultur gehen von einem Grundgedanken aus, der auch an Simmels Grundproblem »Ich und Welt« anschließen kann. Winnicot geht basierend auf Freud davon aus, dass es eine lebenslange Aufgabe des Menschen ist, die innere, subjektive Realität und die äußere, objektive Realität miteinander in Beziehung zu setzen (ebd., 23). Und ähnlich wie Simmel siedelt er genau in diesem Spannungsfeld die Idee der Kultur an. Für Winnicot gibt es in diesem Spannungsfeld aber einen eigenen »intermediären Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen. Es ist ein Bereich, der kaum in Frage gestellt wird, weil wir uns zumeist damit begnügen, ihn als eine Sphäre zu betrachten, in der das Individuum ausruhen darf von der lebenslänglichen Aufgabe, innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten.« (Ebd., 11)
Dieser Bereich geht auf frühkindliche Erfahrungen zurück und wird von Winnicot auch als der Bereich der »Übergangsobjekte und Übergangsphänomene« bezeichnet. Seine diesbezügliche Theorie, die »von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse« führt (vgl. Winnicot 1983; Winnicot 2006; Winnicot 2010), legt Winnicot folgendermaßen dar: Er geht von der Beobachtung aus, dass Kleinkinder (im breit gesteckten zeitlichen Rahmen zwischen dem vierten und zwölften Lebensmonat) ein in ihrer Nähe befindliches Objekt – einen Zipfel einer Decke oder einer Windel, ein Spielzeug – ergreifen und es zusammen mit den eigenen Fingern in den Mund stecken (Winnicot 2010, 13). Dieses »Übergangsobjekt« unter-
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scheidet Winnicot vom »inneren Objekt« nach Melanie Klein (ebd., 19). Es ist ein reales Objekt, das »nicht die Brust (oder die Mutter) ist« und gleichzeitig »die Brust (oder die Mutter) bedeutet« (ebd., 15, Herv. i.O.). Die Übergangsphänomene sind die »Wurzeln der Symbolbildung« in einem Prozess der »Entwicklung des Kindes vom rein Subjektiven zur Objektivität« (ebd., 15). Der erfolgreiche Verlauf dieses Prozesses hängt davon ab, ob die Mutter im Kind durch entsprechendes Eingehen auf seine Bedürfnisse zunächst die Illusion der Omnipotenz ausreichend gestärkt hat. Das Kind entwickelt die »Illusion«, dass die Brust Teil des Kindes ist und unter seiner magischen Kontrolle steht (ebd., 20f.). Die Übergangsphänomene sind ein frühes Stadium »des Gebrauchs der Illusion, ohne den ein menschliches Wesen keinen Sinn in der Beziehung zu einem Objekt finden kann, das von anderen als Objekt wahrgenommen wird, das außerhalb des Kindes steht« (ebd., 22). Das Kind wird, in Anlehnung an Nietzsches Worte formuliert, zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt. Es muss die Erfahrung machen, dass es etwas erschaffen kann. In der weiteren Entwicklung gelingt es der »genügend guten Mutter«, dem Kind schrittweise Versagungen zuzumuten und es zu desillusionieren (ebd., 20f.). Das Kind lernt, Frustrationen zu ertragen und darauf zu reagieren. In dieser Phase kann das Übergangsobjekt einen intermediären Erfahrungsbereich anbieten, in dem die Frage und die Entscheidung suspendiert werden, ob dieses Objekt der inneren oder äußeren Realität angehört. In diesem Erfahrungsraum kann das Kind die Fähigkeit entwickeln, »Unterschied und Ähnlichkeit zu akzeptieren« (ebd., 15). Es handelt sich um einen Raum der Paradoxien, deren Widersprüchlichkeit ertragen werden muss. Ein gutes Übergangsobjekt muss vom Kind geschaffen werden, aber es muss vorgefunden werden, damit es geschaffen werden kann (Winnicot 2006, 236). Es ist auch der Übergangsraum, der paradoxerweise das Kind gleichzeitig mit der Mutter verbindet und von ihr trennt (Winnicot 2010, 124-127). Diese spezifische Qualität ermöglicht einen Übergang von der Einheit mit der Mutter zu der Beziehung zur Mutter als Objekt außerhalb des Selbst des Kindes (ebd., 25). »Dieser intermediäre Erfahrungsbereich, der nicht im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur inneren oder äußeren Realität in Frage gestellt wird, begründet den größten Teil der Erfahrungen des Kindes und bleibt das Leben lang für außerge-
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wöhnliche Erfahrungen im Bereich der Kunst, der Religion, der Imagination und der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit erhalten.« (Ebd., 25)
Nietzsches Erfahrung des Zusammenwirkens des Dionysischen und des apollinischen principium individuationis deute ich als eine Erfahrung in diesem intermediären Erfahrungsbereich. Als Zuschauerin erfahre ich die omnipotente Verbindung im Dionysischen, um dann im Bild des Heldenschicksals ein Übergangsobjekt vorzufinden und gleichzeitig für mich zu erschaffen, das mir die Individuation erlaubt. Von den Übergangsphänomenen führt, so Winnicot, die Entwicklung weiter zum Spiel und zum kulturellen Erleben (ebd.,63). Auch das Spiel findet in einem Zwischenbereich statt, es ist weder Halluzination noch Realität. Es findet zunächst auch im Übergangsraum, dem »potentiellen Raum« zwischen Mutter und Kind (ebd., 65), statt und es ist die Grundlage für die kreative Entfaltung des Kindes. Die Erfahrungen mit Übergangsphänomenen sind ausschlaggebend für die Kreativität und damit für das Verhältnis eines Menschen zur Realität, so Winnicot weiter. Eine kreative Wahrnehmung der Welt macht das Leben lebenswert. Kann das Kind seine Kreativität nicht entwickeln, besteht das Leben in reiner Anpassung an die Realität (ebd., 78). Kulturelle Erfahrungen sind in mehrfacher Hinsicht in einem Übergangsraum angesiedelt: im »Wechselspiel von Ursprünglichkeit und Übernahme der Tradition« (ebd., 215) und »in einem schöpferischen Spannungsbereich zwischen Individuum und Umwelt« (ebd., 116). Diesen Spannungsbereich nennt Winnicot »potential space« (ebd., 116). So wie durch das Übergangsobjekt Mutter und Kind gleichzeitig getrennt und verbunden werden, sind Individuum und Umwelt durch den kulturellen Raum gleichzeitig getrennt und verbunden. »Wenn Spiel [,das im potentiellen Raum stattfindet, SA] weder zur Innen- noch zur Außenwelt gehört, wohin gehört es dann?«, fragt Winnicot (ebd., 112). Das Spiel sei weder eine Sache der inneren psychischen Realität, noch eine Sache der äußeren Realität. Es ist eine »Trennung, die eigentlich keine Trennung, sondern eine Form der Einheit ist« (ebd., 113). Doch dieser »Spannungsraum« ist kein leerer Raum, sondern er wird durch kreative Handlungen gefüllt (ebd., 125). Die Entwicklung dieses Raums, das betont Winnicot, ist unabhängig von Veranlagungen im Erbgut oder Festlegungen durch bestimmte Triebe. Der potenzielle Raum ist rein von der Erfahrung abhängig und diese kann sehr unterschiedlich
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ausfallen (ebd., 126). Grundlegend dabei ist, ob das Kind die Erfahrung machen kann, zu vertrauen. »Erst das Vertrauen auf die Verläßlichkeit der Mutter und damit die anderer Menschen und Objekte ermöglicht die Abtrennung des ›Nicht-Ich‹ vom Ich. Trennung wird jedoch gleichzeitig dadurch vermieden, daß der potentielle Raum mit kreativem Spiel, mit Symbolen und dem, was allmählich das kulturelle Erleben ausmacht, erfüllt wird.« (Ebd., 127)
Wenn das Vertrauen da ist, kann der Raum zu einem »unbegrenzten Raum der Trennung« werden, der kreativ erfüllt werden kann (ebd., 126). Nach Winnicot kann die Trennung aber als Bedrohung erlebt werden. »Wahrscheinlich gibt es zwischen Menschen niemals eine Trennung, eine Trennung kann stets nur drohen. Nach dem ersten Trennungserlebnis droht sie mehr oder minder stark.« (Ebd., 125) Winnicot nennt diesen Raum, den »Ort, an dem wir leben« (ebd., 121). Es ist der Raum, an dem wir uns befinden, wenn wir Musik hören, ein Bild betrachten, Tennis spielen, genießen (ebd., 123). Dieser Raum kann durch schlechte Erfahrungen sehr eingeschränkt sein. Es ist aber davon auszugehen, dass die kreative Fähigkeit eines Menschen nie völlig zerstört werden kann (ebd., 81). Die Voraussetzung dafür ist aber, dass man die Paradoxie und Widersprüchlichkeit der Idee eines potenziellen Raumes, der weder innen noch außen, weder subjektiv noch objektiv ist, hinnehmen kann. Winnicot fordert dazu auf, »dieses Paradox anzuerkennen und hinzunehmen und es nicht lösen zu wollen. Nur eine Zuflucht zu abgespaltenen intellektuellen Funktionen könnte es lösen; der Preis wäre jedoch, daß das Paradox dabei seinen Wert einbüßt.« (Ebd., 8) Winnicots Modell des Übergangsraums bietet damit einen Ausweg zu Simmels dualistischem Modell, in dem der Mensch an seiner Kreativität leiden muss. Und auch Nietzsches Erfahrung des Urwiderspruchs in der Tragödie ist eine Erfahrung von Verbindung und Trennung zugleich. Nietzsche und Winnicot treffen einander in der Auffassung, dass man diese Erfahrung nicht durch rein rationales Denken reduzieren sollte. Ich werde daher weiter erkunden, welche Modelle auf den Wegen der Kreativität kennengelernt werden können.
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4.3.7 Wege der Kreativität (Heinrich Popitz) Beim Soziologen Heinrich Popitz finde ich eine andere Betrachtungsweise des kreativen Verhaltens, das nach Winnicot in der kindlichen Erfahrung von Übergangsphänomenen beginnt. Popitz versteht Kreativität als »Begabung zur Allozentrik« (Popitz 2000, S. 98), also der menschlichen Fähigkeit »das Seiende außerhalb seiner selbst als ein Anderssein, als eigenartiges So-Sein zu erfassen« (ebd., 99, Herv. i.O.). Kraft unserer Vorstellung können wir eine allozentrische, also nicht egozentrische, Weltsicht einnehmen, die »uns über uns selbst hinaus in eine andere Realität, die wir als andere erkennen und anerkennen können« bringen kann (ebd., 99). Wir können in der Vorstellung über Erlebtes hinausgehen und uns vorstellen, was nicht, noch nicht oder woanders existiert. Wir leben immer mit einem »Überschuss an Vorgestelltem, einer Überschußrealität« (ebd., 83). Dadurch können wir eine Differenz zwischen Wirklichem und Möglichem wahrnehmen. Wir können in Alternativen denken und diese auch gedanklich erschaffen (ebd., 83). Dies gibt uns zwar ein großes kreatives Potenzial, aber andererseits sind wir auch nicht frei, die Vorstellungen abzuschalten. Man kann zwar sinnliche Eindrücke relativ leicht ausschließen, nicht aber die Produktivität der Vorstellungskraft. Die Kontrolle von Vorstellungen durch Tabus aber auch durch Vorstellungsangebote dient der Unterdrückung oder Bändigung der Vorstellungen im Interesse sozialer Normen. Früher wurde die Vorstellung durch Märchen und Mythen »beschäftigt« und dadurch gesteuert, heute übernimmt das die von den Medien erzeugte Kommunikations- und Bilderflut (ebd., 89-91). Die Fantasie, als spezielle Ausprägung der Vorstellungskraft, ist, so Popitz weiter, fähig zur »Vergegenwärtigung des Verborgenen, [als] Eindringen in Verborgenes.« (ebd., 92, Herv. i.O.) Die für das Mensch-Sein wesentlichen Vorgänge – der Tod, die Zeugung, das Denken, die Gefühle – und das Wesentliche in der Natur sind unsichtbar (ebd., 92f.). »Verborgenheit ist eine Herausforderung des menschlichen Bewußtseins, auf die wir mit einer spezifischen Bewußtseinsqualität antworten: der Phantasie.« (Ebd., 93) Welche Wege schlägt nun die Fantasie ein, um in das Verborgene, das Ungedachte und Undenkbare vorzudringen? Popitz benennt drei Wege der Kreativität: Die »erkundende Phantasie« dringt in noch unbekannte Wirklichkeiten ein, auf der »Suche nach Wissen« (Popitz 2000, 93, Herv. i.O.). Die »gestaltende Phantasie« dringt in noch Ungestaltetes ein und sucht nach »Gehalten und Weisen des Bewir-
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kens« (ebd., 93f., Herv. i.O.). Die »sinnstiftende Phantasie« dringt in den Bereich ein, der sinnlich nicht wahrnehmbar ist, auf der »Suche nach Sinn« (ebd., 94, Herv. i.O.). Im Gestalten bildet der Mensch Artefakte, seien sie materiell, kognitiv oder sozial, in die Welt hinein. In diesen (bzw. diesem) Gestalten zeigt sich seine »Objektivierungskraft« (ebd., 96, Herv. i.O.). Das Erkunden verändert nicht die Welt an sich, aber das Bild der Realität, das wir in uns tragen. Es ist Ausdruck der »Subjektivierungskraft« des Menschen (ebd., 96, Herv. i.O.). Die Sinnstiftung ermöglicht, einen Bezug zu etwas Nicht-Menschlichem herzustellen, das außerhalb der subjektiven und weltlichen Sphäre liegt. In der sinnstiftenden Fantasie erweist sich die »Transzendierungskraft« des Menschen (ebd., 97, Herv. i.O.). Es gibt, so Popitz, keine entstehungsgeschichtliche oder logische Priorität einer dieser Kräfte, aber sie beeinflussen einander (ebd., 96f., Herv. i.O.). Popitz verwendet das Modell Eindringen ins Verborgene, und deutet damit meines Erachtens an, dass das Verborgene offenbar nur nach Einsatz von nicht unbeachtlichen Kräften seinen Widerstand aufgibt. Für Nietzsche wäre dieser Einsatz der kreativen Kräfte Ausdruck des Optimismus. Statt den Urwiderspruch des Lebens tragisch zu erleiden, will der optimistische Mensch in ihn eindringen und ihn überwinden. Die Produktivität seiner Vorstellungskraft wird nicht mit der Unterstützung dionysischer und apollinischer Kräfte geleistet, von der Ausdehnung zur Fassung in bildhafter Gestalt geführt. Sie drängt vielmehr unaufhörlich in ein unbenennbares Innen und Außen, um es mit Vorstellungen zu füllen. Zu den kreativen Wegen zählt Popitz auch die spielerische Fantasie. Hier sieht er eine andere Dynamik (ebd., 52-57). Die spielerische Fantasie unterscheidet sich von den anderen Wegen dadurch, dass sie nichts Bleibendes hervorbringt. Die Als-ob-Welt des Spiels kann aber inspirierend auf die anderen Wege wirken und sich mit ihnen verbinden. Der Frage »Was tun wir, wenn wir spielen?« widmet sich Popitz ausführlich und arbeitet konstitutive Elemente, Formen und Funktionen heraus. Eine besondere Bedeutung bekommt das Spiel dadurch, dass es die Form ist, in der das Erkunden, Gestalten und Sinnstiften des Kindes in den ersten Lebensjahren beobachtbar ist. Popitz unterscheidet mehrere Formen des Spiels wie folgt (ebd., 52-57, Herv .i.O.): In den »Funktionsspielen« kommt die Lust am Können zum Ausdruck. Man kann dieses Können spielerisch erproben. Der Reiz der »Phantasiespiele« liegt in der Möglichkeit, eine Realität ganz nach den eigenen Vorstellungen erschaffen zu können,
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sich sozusagen sein eigenes Reich schaffen zu können. Die Rollenspiele sind eine Unterform der Fantasiespiele. Das Kind kann darin fremde Rollen einnehmen und sich darin einfühlen. Popitz verweist hier auf George Herbert Meads These, dass das Kind dabei auch lernt, sich selbst von außen zu sehen. Dies sei ausschlaggebend für die Entwicklung eines Selbstbewusstseins (ebd., 56).2 Im »Regelspiel« werden die Freude am Gewinnen und die Unlust des Verlierens erfahrbar. Es gibt einfache Regelspiele wie Verstecken aber auch Spiele mit ausgefeilten Regeln, zum Beispiel Karten- oder Brettspiele (Popitz 2000, 54, Herv. i.O.). In weiterer Folge arbeitet Popitz das Wesen des Spiels aus (ebd., 53-61): Allen Spielen gemeinsam sind die Spiellust und die Freiwilligkeit. Fraglich ist nach Popitz, ob das Spiel deshalb auch immer absolut zweckfrei ist. Man bedenke, dass zum Beispiel rituelle Schauspiele auch zum Zweck der Beeinflussung transzendenter Mächte dienten. Es gibt eine »spezifische Spiellust, die alle Spiele durchzieht. […] Damit sind vielerlei Spielstimmungen gemeint: gelassene Heiterkeit, rauschhaftes Hingerissensein, ruhiges Versinken, Vergnügen am Austricksen des Gegners. Weiter: wer spielt, spielt freiwillig.« (Ebd., 57f.) Die Verbindung mit einem Zweck schließt das Spiel nicht aus, aber es muss einen Kern geben, in dem das Spiel seinen Zweck rein in sich selbst erfüllt. Man könne feststellen, dass »nur der spielt, für den das Spielen auch eine Erfüllung in sich selbst ist. […] Spielen ist eine Überschußhandlung« (ebd., 58, Herv. i.O.). Das Spiel findet nach Popitz in einer »Außerhalb-Stimmung«, in einem »Als-Ob« statt. (ebd., 59) (Winnicot spricht davon, dass das Spiel weder zur Innen- noch zur Außenwelt gehört.) Es fordert ungeteilte Aufmerksamkeit. Man spielt nicht »nebenbei«. Wenn man spielerische Elemente in eine reale Tätigkeit einbringt, zum Beispiel in der Arbeit oder bei alltäglichen Pflichten, schlägt Popitz den Begriff »spielerisches Verhalten« (ebd., 61) vor, den er vom Spiel deutlich abgegrenzt wissen will. Im Hinblick auf die Bedeutung des Spiels für die kindliche Entwicklung zeigt Popitz die formale Struktur des Spiels auf (ebd., 61-67): Die Wiederholung ist das Element des Spiels, das es dem Kind ermöglicht, Regelmäßigkeiten zu erkunden und so Vertrauen in die Welt als Grundlage 2 | Wie der Soziologe Erving Goffman gezeigt hat, kann das Rollenspiel zur Grundlage genommen werden, um das gesamte soziale Leben zu studieren (Goffman 2011).
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für Erfahrungen aufzubauen. Die Spannung des Spiels ergibt sich aber aus der Möglichkeit zur Modifikation (ebd., 64). Zum Wesen des Spiels gehört auch die Ungewissheit, die sich aus seiner Dialogstruktur ergibt. »Man kann nie ganz sicher sein, wie das ›Etwas‹, mit dem man spielt, zurückspielt.« (Ebd., 65) Inhaltlich geht es im Bezug zum anderen, mit dem man spielt – sei es ein Ball oder ein Kind –, um ein Verhältnis des Mehr-Seins (Gewinnen, Können) oder des Anders-Seins (Verwandlung). Darin wird die Überschreitung einer Grenze erfahren. Im Spiel erfährt man, was es bedeutet, eigene Grenzen zu transzendieren, aber auch »sich spielend vom Eigensinn des Andersseins führen zu lassen« (ebd., 75). Im Spiel setzt man einen »Akt der Befreiung« von der vorgefundenen Realität und lässt sich gleichzeitig auf eine neue, selbst gewählte Bindung ein. »Beides zusammen, Befreiung und die Innovation einer neuen Bindung, verwirklicht das, was wir Autonomie nennen, Selbstnormierung« (ebd., 80).
4.3.7.1 Kreativität weiter gedacht In Popitz Ausführungen bestätigt sich Winnicots Einschätzung der Bedeutung des Spiels für die Entwicklung des Kindes und für die kulturelle Entwicklung des Menschen. Das Spiel ist der kreative Umgang mit dem Bezug zwischen innerer und äußerer Realität. Es setzt vorübergehend die Grenze zwischen diesen Sphären außer Kraft. Es bietet den kreativen Kräften aber einen begrenzten Raum, in dem sie sich entfalten können. Im Spiel findet Befreiung und Bindung gleichzeitig statt. Es schafft einen potenziellen Raum im Sinne Winnicots. Autonomie bedeutet dort nicht Isolation vom anderen oder Kontrolle über den anderen. Sie besteht in der Fähigkeit, sich selbst kreativ zur Welt in Beziehung setzen zu können. Alle anderen Formen des kreativen Handelns, die Popitz beschreibt, überschreiten die Grenzen, die die äußere Realität dem Menschen auferlegt, in anderer Weise. Das Spezifische des Erkundens, Gestaltens und Sinnstiftens ist der Versuch des Eindringens in die Andersartigkeit des Unbekannten, des Ungedachten und Undenkbaren. Es ist bemerkenswert, dass Popitz das kreative Denken als Antwort auf die Herausforderung des Verborgenen bezeichnet. Das Verborgene ist das Unsichtbare, das auch unsprechbar ist und sprechbar gemacht werden soll. Ich möchte die Idee der Antwort nun aber auf das Verborgene beziehen. Das Verborgene ist nicht nur unsichtbar, sondern auch stumm. Es geht um die Phänomene des Lebens, die uns eine Antwort versagen, wenn wir nach dem Wesen ihrer Existenz fragen. Devereux spricht von einem »Proto-
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typ« des »Traumas der Stummheit«. Es ist die Situation, in der das Kind die Abwesenheit und das Ausbleiben der Antwort der Mutter erlebt (Devereux 1998, 55). Es kann in dieser Situation die Fähigkeit entwickeln, sich selbst eine Antwort zu geben. Popitz deutet das kreative Handeln als Antworten auf die Stummheit des Verborgenen. Laut Winnicot ist dafür aber ein Übergangsobjekt notwendig, das sich als Gegenüber in einem Spiel anbietet. Das Spiel ist immer dialogisch. Im Spiel muss jemand oder etwas gefunden werden, der/das zurückspielt. Das Kind gibt dieser Reaktion die Bedeutung einer Antwort, auch wenn es sich nur um das Rollen eines Balles handelt. Die zentrale Bedeutung des Spiels besteht darin, dass es die dialogische Verfasstheit des Kindes auffängt oder wieder herstellt, auch wenn die wesentliche Bezugsperson des kleinkindlichen Dialogs nicht anwesend ist, um zu antworten. Die kreativen Schöpfungen in Wissenschaft, Technik oder Religion bringen bildhafte Vorstellungen oder auch sichtbare Artefakte hervor. Das Trauma der Stummheit heilt aber nur, wenn es gelingt, eine Antwort zu hören. Anderenfalls verhallen die Rufe der kreativen Vorstellungen in der Leere. Vielleicht ist dieses Modell gemeint, wenn Nietzsche sagt, dass die Tragödie »aus dem Geiste der Musik«, die man nur hören kann, geboren wird. Möglicherweise liegt die heilsame Wirkung, die Sennett dem Narrativen zuschreibt, im Gehörtwerden.3 Wir können Sehen und Hören als Modelle des Bezugs zur Welt verstehen. Sehen ist als Akt in eine Richtung möglich. Ein Subjekt sieht ein Objekt. Das Hören setzt einen Akt des Aussprechens und ein Empfangen voraus. Sprecherin und Hörerin müssen als Subjekte beteiligt sein. Das Gehörte ist flüchtig und kann niemandem anhand eines Objekts gezeigt werden (Gronemeyer 2008, 42f.). Aber das Empfangen kann die eigene Existenz als Subjekt bestätigen. Die subjektivierende Leistung des Kindes im Spiel besteht darin, eine Bewegung in der Welt als Antwort zu empfangen. Die kulturelle Leistung besteht darin, nicht nur von der Mutter zu empfangen, die für das reine Überleben notwendig ist, sondern sich auch anderen zuzuwenden. Auch wenn der Ball oder die Windel nicht akustisch hörbar sind, kann sich das Kind durch deren Existenz angesprochen fühlen. Der weitere Dialog zwischen dem Kind und der Welt entspricht 3 | Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Perspektiven einer Psychoanalyse der Musikrezeption, die Ruth Mätzler unter Bezugnahme auf Wilfred Bion entwirft (Mätzler 2002).
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der Struktur des Spiels: »modifizierte Wiederholung im ungewissen Dialog« (Popitz 2000, 67). Wenn das Kind einen potenziellen Raum geschaffen hat, in dem Dialog und Spiel möglich sind, kann es sich von der Mutter und vom Übergangsobjekt trennen und sich neuen kreativen Modifikationen des Spiels von Verbindung und Trennung zuwenden. Die menschliche Verfasstheit als dialogisches Wesen anhand des Spiels zu beschreiben, macht eine Sinnstiftung ohne transzendentale Kategorien denkbar. Möglicherweise liegt hier auch ein Modell vor, das Kultur als eine Weise des Seins in der Welt beschreibt. Es ist eine Beschreibung, die ohne Kultur als Gegenstand und ohne die Kategorie des Unsichtbaren auskommt. »Spielend bringen wir nichts Bleibendes hervor, weder ein Werk noch ein neues Wissen. Der ›Ertrag‹ des Spiels erschöpft sich in der Erfahrung eines im Tun erfüllten Sinns. Wir setzten nichts Neues in die Welt und bekommen nichts Neues über die Welt heraus. Der Spielende hinterlässt kein Ergebnis, kein Produkt seines Tuns. Im Spiel ist der Mensch auf unproduktive Weise kreativ.« (Ebd., 81)
Der spielende Mensch erschafft einen Raum, in dem er in dauernder kreativer Veränderung und in dauerndem Dialog existieren kann. Winnicot spricht davon, dass die Paradoxie eines Raumes, der weder subjektiv noch objektiv ist, einen besonderen Wert besitzt. Im potenziellen Raum gelten die ordnenden Prinzipien (subjektiv/objektiv, innen/außen, rational/irrational) nicht, aber es herrscht dort auch nicht das Chaos. Die Qualität dieses Raums lässt sich anhand eines weiteren Modells erkunden, das die menschliche und kulturelle Entwicklung anhand frühkindlicher Beziehungserfahrungen beschreiben will.
4.3.8 Katastrophische Veränderung (Wilfred Bion) Ich komme noch einmal zu Wilfred Bion zurück, dessen Denken in Modellen ich hier anzuwenden versuche. Bion hat das Denken als Ausdruck emotionaler Erfahrungen beschrieben hat. Die emotionalen Erfahrungen wiederum sind nur in Zusammenhang mit einer Beziehung zu verstehen. Die Qualität der Beziehung beeinflusst die Möglichkeiten des Denkens. Bion geht von drei Beziehungsqualitäten aus: L (Liebe), H (Hass) und K (Kennenlernen). K ist die Beziehung, die Lernen durch Erfahrung ermöglicht. Ob K eine Beziehung ist, die Wachstum bzw. Reifung erlaubt,
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hängt von frühkindlichen Erfahrungen ab. Diese Erfahrungen beschreibt Bion anhand des »Urmodells« »Container/Contained« (Wiedemann 2007, 207ff.): Bion benützt zur Bezeichnung von Container das Zeichen für weiblich (♀) und für Contained das Zeichen für männlich (♂), ohne auf deren Bedeutungen weiter einzugehen (vgl. auch Bion 1992b, 147). Bion gibt an, dass sein Modell eine Abstraktion von Melanie Kleins Theorie von Projektion und Introjektion darstellt. Nach Klein projiziert das Kind schlechte Gefühle in die gute Mutterbrust, wo sie so verändert werden, dass sie für das Kind erträglich sind und wieder reintrojiziert werden können. Die Idee von einem »Behälter« (Container) und einem »Gehalt« (Contained) sind Elemente, die Bion aus Kleins Theorie abstrahiert, um sie als Modell zu verwenden (Bion 1992b, 146). Die Beziehungsqualität zwischen Container und Contained ist ausschlaggebend dafür, ob Wachstum möglich ist. Die früheste Realisierung dieser Beziehung ist jene zwischen Mutter und Kleinkind. Die Beziehung ist wachstumsfördernd, wenn sie »kommensal« ist. Bion verdeutlicht das: »Mit kommensal meine ich, daß ♂ und ♀ für ihr Wohlergehen und für die Vermeidung von Leid wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Im Modellfall zieht die Mutter Nutzen aus der Erfahrung und gelangt zu seelischem Wachstum; das Kind gewinnt dabei gleichfalls und wächst.« (Bion 1992b, 147) In diesem Prozess verändern sich beide – Kind und Mutter. Die Beziehungsqualität hat Bion später noch weiter ausdifferenziert: »Als ›kommensal‹ bezeichne ich eine Beziehung, in der zwei Objekte ein drittes miteinander teilen, und zwar zum Vorteil aller drei. Unter ›symbiotisch‹ verstehe ich eine Beziehung, in der zwei Objekte zu beiderseitigem Vorteil voneinander abhängig sind. Als ›parasitär‹ bezeichne ich eine Beziehung, in der ein Objekt von einem anderen abhängt und ein drittes produziert wird, das alle drei zerstört.« (Bion 2009, 110)
Eine positive Voraussetzung für eine kommensale Beziehung ist zum Beispiel die Fähigkeit der Mutter zur »rêverie«. Angst, Hass und Neid verhindern sie (Bion 1992b, 154). Die ♀/♂ Aktivität wird vom Kind introjiziert und bildet das Fundament für den Denkapparat des Kindes. Als Denker ist es dann der Container von Gedanken. Das Denken ist eine Container/Contained-Beziehung. Auch hier ist Wachstum ebenso möglich wie Zerstörung. Wenn der Auf bau einer internen C/Cd-Beziehung nicht erfolgt, wird das Kind von Erfahrungen, die durch kein Contain-
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ment transformiert und »verdaubar« gemacht wurden, »verfolgt« (ebd., 53). Die K-Beziehung kann aber auch grundlegend zerstört werden. Es ist dann zwar eine Container/Contained-Beziehung vorhanden, sie wird aber durch (ödipalen) Neid sozusagen in ihr Gegenteil verkehrt. Bion nennt das »–K Beziehung« (ebd., 154-157): Wenn das Kind zum Beispiel große Angst empfindet und ebenso Neid auf die (von Angst) ungestörte Brust, dann projiziert es Angst und Neid in die Brust. Es entsteht eine –K Beziehung, in der die Brust als neidisch erlebt wird. Die Brust gibt daher nicht die erträglichen Gefühle zurück, sondern sie behält sich (sie wird ja als neidisch erlebt) alle guten Elemente der Angst und gibt nur den wertlosen Rest zurück. Selbst eine extreme Angst wie die Todesangst enthält einen positiven Kern, weil der Todesangst ja ein Lebenswille vorangehen muss (ebd., 154f.). Neid kann die Entwicklung von ♀/♂ zerstören und damit auch die Möglichkeit zu lernen. Jede neue Entwicklung wird dann wie ein neu auftauchender Rivale zerstört. Die gleiche Dynamik kann man auch in Gruppen erleben (zu Bions Erfahrungen mit Gruppen vgl. Bion 2001). Gruppen in –K können neue Ideen oder neue Menschen nicht aufnehmen (Bion 1992b, 158). Ich fasse zusammen: Das Verhältnis eines Menschen zur Welt und zu sich selbst wird nach Bion durch eine internalisierte Beziehungserfahrung bestimmt. Es gibt Beziehungen und Denkdispositionen, die Lernen fördern und andere, die es hemmen oder zerstören. Denken kann dazu dienen, Wahrheit zu finden oder zu vermeiden. Doch woran ist Wahrheit erkennbar? Bion spricht von einer Tiefendimension, die sinnlich nicht wahrnehmbar ist, erläutern Krejci und Wiedemann Bions Ansatz. Bion nennt sie »No-thing« oder »O«, wie »origin« (Krejci 1997a, 227f.). Alle Formen der Erkenntnis sind, so Bion, »Transformationen von O im Bereich der Erkenntnis K« (Wiedemann 2007, 258). Transformationen sind zum Beispiel die früher schon erwähnten Alpha-Elemente, oder Gedanken, Träume und Abstraktionen, die der »Denkapparat« hervorbringt. »O« kann nicht erkannt werden, man kann nur »O werden«. Es gibt also ein »O« das »wirklich« passiert und Manifestationen, die dieser Wirklichkeit mehr oder weniger entsprechen. »O Werden« ist in der Psychoanalyse möglich, wenn Analytiker/-in und Analysand/-in eine wachstumsfördernde, symbiotische C/Cd-Beziehung haben (ebd., 208) und so den Widerstand gegen die Wirklichkeit aufgeben können. Der Widerstand ist die »Vermeidung der Wahrheit aus Angst vor dem Erleben eines gemein-
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samen O, was gefürchtete Veränderungen zur Folge hätte – ›katastrophische Veränderung‹« (ebd., 262). Für Bollnow wäre »O« das, was in der reinen Anschauung erkannt wird. Die Anschauung haben wir immer schon übersprungen. Die katstrophische Veränderung wäre in Bollnows Worten eine große Erfahrung (siehe Kapitel 3.3.2). Ich würde es als Erfahrung des Scheiterns bezeichnen. Bion wird als Mystiker der Psychoanalyse bezeichnet, weil er die Erfahrung des Kontakts mit »O« mit Begriffen in Verbindung bringt, die von Mystikern verwendet werden, zum Beispiel »eins sein«. Bion besteht aber darauf, dass er dabei seine Position als Wissenschaftler nicht aufgibt (Wiedemann 2007, 295-299). Ich sehe hier auch eine Parallele zur Intention, die Nietzsche verfolgt, wenn er von der Erkenntnisfähigkeit des »künstlerischen Menschen« spricht. Der Kontakt mit »O« kann nie willentlich erreicht werden. Der Analytiker muss vielmehr »Erinnerung, Wunsch und Verstehen« aufgeben und in einem »Glaubensakt« empfänglich für »O« werden. Dieser »Glaubensakt« ist für Bion aber in der Psychoanalyse eine notwendige wissenschaftliche Position, wenn sie sich adäquat mit dem Leben beschäftigen will (Wiedemann 2007, 302; Bion 2009, 55). Er beschreibt die Voraussetzungen dafür folgendermaßen: »Der praktizierende Analytiker muss abgehärtet sein gegen mentale Einbrüche und sich mit dem Gefühl anfreunden, dass er ständig zusammenbricht, denn das ist der Preis, den wir für Wachstum zahlen müssen« (aus Bion, Brazilian Lectures, 1990 zit.n. Wiedemann 2007, 304).
4.3.8.1 Bion weiter gedacht Bions Modell geht davon aus, dass die menschliche Existenz die Struktur von immer wieder erlebten und internalisierten Beziehungserfahrungen hat. Jeder Mensch ist darauf angewiesen, dass ein anderer Mensch ihm eine Container/Contained-Beziehung ermöglicht, durch die emotionale Erfahrungen in Gedanken transformiert werden können. Auch für Bion ist der Mensch radikal dialogisch verfasst. »Gehalt« muss in den »Behälter« gegeben, dort empfangen und dann wieder zurückgegeben werden. Den Raum, der durch die Container/Contained-Beziehung eröffnet wird, kann man auch als Übergangsraum bezeichnen. Die C/Cd-Beziehung ist ebenso »modifizierte Wiederholung im ungewissen Dialog« wie das Spiel. Alle Manifestationen des Wahrnehmens und Denkens entstehen für Bion aus Beziehung. In das Verborgene und Unsichtbare kann man nach Bion nicht gedanklich eindringen, aber man kann unter bestimm-
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ten Voraussetzungen damit in Beziehung treten. Man kann »O« werden, also das nicht Wahrnehmbare werden. Das führt aber zu Veränderungen in der gesamten Strukturiertheit des Wahrnehmens und Denkens. Bion bezeichnet »O« auch als Wahrheit oder Realität. Er sieht es als Zeichen persönlicher Reifung und Gesundheit, diese Wahrheit in Gedanken transformieren zu können. Es gibt eine Kraft, die danach strebt, »O« in »K« zu transformieren. Diese Wahrheit ist keine objektive und keine absolute Wahrheit. Die sinnliche Wahrnehmung bleibt immer durch eine Kluft von ihr getrennt. Die Kluft kann auch durch kreatives, transzendierendes Denken nicht überwunden werden. Was Bion als »Glaubensakt« bezeichnet, ist ein Sprung über die Kluft, der nur möglich ist, wenn es eine vertrauenswürdige, haltende Beziehung gibt (zum Beispiel zwischen Analytiker/-in und Analysand/-in und diese vom Analysanden/von der Analysandin internalisiert werden konnte). Die Angst vor der schmerzhaften, »katastrophischen Veränderung« ist die »Angst, dass die Wahrheit den Container vernichten könnte, oder umgekehrt der Container die Wahrheit.« (Wiedemann 2007, 264) Es ist die Angst vor dem Scheitern der Beziehung von Container/ Contained und damit vor dem Scheitern der internalisierten Beziehungsstruktur. Bions Modell beschreibt eine radikale Bezogenheit des Menschen zu seinen Mitmenschen. Jedes noch so abstrakte Gedankengebäude ist durchwoben von Emotionen, die Beziehung bedeuten. Die »Urerfahrung« von Beziehung ist (eine unbeschreibbare) Wahrheit. Was mit Kultur oder überindividuellen Standards gemeint ist, sind nach Bions Modell Transformationen der Wahrheit von emotionalen Erfahrungen, die den Fluss der Erfahrungen stabilisieren. Bions Modell dreht den Eisberg der Kultur um, stellt ihn auf die Spitze (»O«) und durchzieht ihn mit ›warmen‹ Emotionsadern, die ihn jederzeit zum Schmelzen bringen können. Jede neue Begegnung besteht aus emotionalen Erfahrungen und kann den Eisberg in Bewegung versetzen. Wenn eine Wahrheit droht, den Eisberg-Container zu vernichten, muss das Fließen dieser Wahrheit vermieden werden oder der Fluss muss in stabile, erkaltete Bahnen gelenkt werden. Mithilfe von Bions Modell kann ich die Erfahrung von Fremdheit als Beziehungserfahrung denken. Wenn ich menschliche Existenz als Struktur von internalisierten Beziehungserfahrungen denke, dann existiere ich in radikaler Bezogenheit oder radikaler Relativität. Man kann »relativieren« mit »in Beziehung Treten« übersetzen (Gronemeyer 2008, 29).
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Relativität unterscheidet sich vom Relativismus, von dem im Zusammenhang mit dem Interkulturalismus die Rede war. Der (Kultur- oder Ethno-) Relativismus ist das Gegenteil des Absolutismus oder des Zentrismus und beschreibt ein Weltbild. Der Interkulturalismus wendet sich gegen den Zentrismus und eröffnet damit all die erkenntnisphilosophischen und handlungspraktischen Probleme, die sich aus dem Verlust eines unverrückbaren Bezugspunktes ergeben. Relativismus geht von einem abgegrenzten Subjekt aus. Im Zentrismus kann die subjektive Weltsicht ein ganzes Universum zusammenhalten. Im Relativismus zerfällt dieses Universum in unzählbare subjektive Einzelteile. Die Relativität des Subjekts hingegen bedeutet, dass dieses Subjekt immer aus Beziehungen besteht. Referre (lat.) bedeutet sich beziehen auf. Relativität ist Abhängigkeit im Sinne von aufeinander bezogen Sein. Ein Kind, das auf die Welt kommt, ist fremd und absolut abhängig von Beziehungen. Im Laufe des Lebens entwickelt es eine relativ stabile Bezogenheit zu sich und zur Welt. Das Modell des Spiels beschreibt die dialogische Qualität dieser Bezogenheit. Durch »modifizierte Wiederholung im ungewissen Dialog« führen wir die Urbeziehungserfahrung im Leben fort und verändern sie. Relativität ist Subjektivität und Abhängigkeit, Trennung und Verbindung. Neue Kontakte, zum Beispiel mit bisher unbekannten Menschen, sind neue Beziehungsmöglichkeiten, Möglichkeit zur Modifikation. Auf bauend auf Bions Modell lässt sich die These formulieren, dass es von der Qualität der Urbeziehung (C/Cd) abhängt, welche Art der Beziehung zwischen den Unbekannten entsteht, zum Beispiel eine förderliche oder zerstörerische Beziehung. In jedem Fall gibt es irgendeine Art der Bezogenheit. Der Gedanke der Bezogenheit ist eine Abstraktion der jeweils einzigartigen Beziehungserfahrung verschiedener Menschen. Ich behaupte, dass diese Abstraktion, weil sie auf ein binokulares Denken in Modellen zurückgeht, noch eine Nähe zur Lebendigkeit und ›Wärme‹ der emotionalen Erfahrungen enthält. Relativität bezeichne ich deshalb als vergleichsweise ›lebendige‹ Abstraktion im Unterschied zu Kultur, die ich als ›erstarrte‹ Abstraktion empfinde. Der Begriff Relativität, der aus dem Container/Contained-Modell abstrahiert wurde, kann emotionale Erfahrungen repräsentieren, die durch den Begriff Kultur nicht repräsentiert werden können. Das sind Gefühle der Angst, in Beziehung nicht wahrgenommen zu werden, nicht gehört zu werden, keine Antwort zu bekommen. Oder umgekehrt: die Angst, in Beziehung vereinnahmt und
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vernichtet zu werden. Anhand des Modells kann auch beschrieben werden, wie Veränderung vor sich geht. Durch das Ertragen dieser Gefühle in einem haltenden Container ist ein Wachstum möglich. Wer die Angst, dass Beziehung scheitert, ertragen kann, wird auch eine größere Fähigkeit entwickeln, sich auf neue, unbekannte Beziehungen einzulassen.
4.4 D er K ampf gegen das S cheitern 4.4.1 Im Wechselspiel Radikale Bezogenheit kann, wie gesagt, förderlich oder zerstörerisch sein, gelingen oder scheitern. In jedem Fall impliziert sie, dass das Ergebnis nicht von einem/einer der Beteiligten alleine abhängen kann. Der Kampf gegen das Scheitern ist deshalb nicht beendet. Er hat sich verwandelt und konkretisiert. Am Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem Scheitern stand das ›Gegenüber‹ im Mittelpunkt der Betrachtung. Woran scheitere ich? Die Frage impliziert, dass es einen Grund, eine Ursache geben muss. Liegt es an äußeren Phänomenen? Liegt es an unsichtbaren kulturellen Ursachen? Oder scheitere ich an meiner inneren Verfasstheit? Aus der Beschäftigung mit den Denkmodellen des Scheiterns schließe ich, dass die Grundannahme darin bestand, dass ein Gegenüber, eine Trennung, existiert. Die Trennung kann zwischen innen und außen verlaufen (Subjekt und Objekt, Ich und Welt), zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kultur oder eine Trennung in mir darstellen, zum Beispiel zwischen Emotion und Vernunft (innere Schauspielerin und Zuschauerin). Es schien so, als ob sich eine Seite durchsetzen müsste. Das ›Gegenüber‹ als abstrakte Vorstellung war immer in den Aussagen über das Scheitern enthalten. Als Sprechende war ich einerseits in Beziehung zum ›Gegenüber‹, gleichzeitig versuchte ich, mich von dieser Beziehung zu distanzieren. Ich suchte in der Beziehung nach einer Einheit und musste gleichzeitig auf die Trennung achten, um mich nicht aufzulösen. Nun habe ich Schritt für Schritt einen Bezugsrahmen geschaffen, in dem die Situation des Scheiterns anders denkbar geworden ist. Nicht ich scheitere, sondern das Modell eines getrennten oder trennbaren Ichs ist gescheitert, zusammengebrochen. Innerhalb des Bezugsrahmens des modellhaften Denkens hat eine Transformation stattgefunden. Es ist möglich geworden, ein Beziehungs-Ich, ein C/Cd-Ich zu denken. Das ist ein prozessuales Ich. Es ist relational, also
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bezogen auf den anderen, und befindet sich in einem unabschließbaren Prozess K. Beziehung lässt sich nicht abstrakt beschreiben, aber sie ist etwas, das konkret stattfindet und sie hinterlässt Spuren. Störungen, zum Beispiel Konflikte oder Erfahrungen des Scheiterns, sind solche Spuren, die auf die Existenz von Beziehung schließen lassen. Von Beziehungen kann man mit erfahrungsgesättigter Gewissheit sprechen (vgl. Bollnow). Bezogenheit scheitert, wenn sie in einer konkreten Beziehung zur gegenseitigen Zerstörung führt oder wenn der Dialog völlig abgebrochen wird. Die Relativität, die ich hier als anthropologischen Bezugsrahmen vorschlage, umfasst auch Beziehungen, die man nicht freiwillig wählt und solche, die man nicht oder nur begrenzt (mit-)gestalten kann. In einer Erweiterung der Fragestellung wäre es sinnvoll, auch die Beziehung mit nicht menschlichen Wesen einzuschließen (vgl. Latour 2001). Die Frage nach dem Scheitern, die im Zusammenhang mit der Interkulturalität relevant ist, stellt sich nun anders: Wie stehen wir in Beziehung zu einander? Auf welche Weise können wir vermeiden, dass unsere Beziehung scheitert? Da der Begriff Beziehung nun eine so zentrale Bedeutung angenommen hat, ist an dieser Stelle auch ein wesentlicher Einwand zu berücksichtigen. Eine berechtigte Frage lautet: Von welcher Art von Beziehungen ist hier die Rede? Geht es ›nur‹ um persönliche Beziehungen? Welche Bedeutung haben dann ökonomische, rechtliche oder zum Beispiel politische ›Beziehungen‹? Wie sind die Wirkungszusammenhänge zwischen den verschiedenen Arten von Beziehung? Der Begriff Beziehung ist mit vielen Bedeutungen und normativen Vorstellungen aufgeladen. Insbesondere geht es nicht darum, ein ideales Bild von Beziehung zu entwerfen. Es ist aber bemerkenswert, dass es eine Sehnsucht nach idealer Beziehung gibt, die auch im Interkulturalismus zum Ausdruck kommt. Hier ist eine begriffliche Abgrenzung angebracht. Ökonomie, Recht und Politik sind Ordnungen, die menschliche Relativität strukturieren und stabilisieren. Aussagen über diese Ordnungen unterscheiden sich von Aussagen über das in Beziehung sein. In dem von mir angenommenen Modell ist es nicht möglich, Beziehung(en) zu haben. Man kann nur in Beziehung sein. Das nenne ich Relativität oder Bezogenheit. In-Beziehung-Sein wird transformiert in konkrete Beziehungen. Diese sind Manifestationen von Bezogenheit. Die Manifestationen können in eine Ordnung gebracht werden, also zum Beispiel den Kategorien der Paarbildung, Freundschaft, Ökonomie, des Rechts oder der Politik etc. zugeordnet werden. In-Beziehung-Sein
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ist sozusagen die vertikale Achse, die alle Manifestationen durchzieht. Es gibt keine Hierarchie des In-Beziehung-Seins. Die Frage der Hierarchie, der Ordnung und Struktur hingegen betrachtet die Manifestationen sozusagen horizontal dahingehend, wie sie sich zueinander verhalten. Es ist nicht möglich, über die Gesamtheit dieser Beziehungsordnungen Aussagen zu machen. Es ist aber möglich, die Probleme, die entstehen, wenn man Kultur als unsichtbare Macht, als determinierende Ordnung, als Objekt denkt, hinter sich zu lassen. Es ist möglich, von einem Beziehungs-Ich ausgehend, einen kulturellen Blickwinkel einzunehmen. Dieser Blickwinkel auf menschliche Verfasstheit und ihre Manifestationen betrachtet diese unter der Qualität der Bezogenheit. Der Begriff cultura wurde im Lateinischen ursprünglich immer in Bezug auf einen anderen verwendet, zum Beispiel die cultura animi. Die Kultur des Geistes oder auch die Agrikultur zeigen eine Bezugnahme des Menschen zum Geistigen und zur Natur an. Eagleton nennt die Bezugnahme zwischen Kultur und Natur »Wechselspiel« und beschreibt sie anhand eines Gedichtes von Francisco von Ferdinand, der darüber berichtet, wie er sich nach einem Schiff bruch schwimmend in Sicherheit bringt. »Das Schwimmen ist eine vortreffliche Metapher für dieses Wechselspiel: Der Schwimmende erzeugt durch seine Arbeit die Strömung, die ihn trägt; er teilt die Wellen, damit sie, zurückkehrend, ihn emportragen. Ferdinand ›schlägt die Wellen‹, um ›auf ihrem Rücken zu reiten‹. Er ›beschreitet das Wasser‹, ›schleudert‹ es von sich, ›bietet die Brust‹ und ›rudert‹ auf einem Ozean, der keineswegs nur formbare Masse ist, sondern sich ›streitbar‹, feindlich und widerspenstig der Formung durch den Menschen widersetzt. Just dieser Widerstand erlaubt es dem Menschen, auf das Wasser einzuwirken.« (Eagleton 2009, S. 10)
Das In-Beziehung-Sein hat die Qualitäten des Schwimmens. Der/die Schwimmer/in ist das Ich als Tätigkeit, das einen Widerstand braucht (Simmel), ebenso wie Kultur als Tätigkeit dieses Wechselspiel mit Natur braucht. Der Übergangsraum ist Ausgangspunkt für einen Prozess der Subjekt-Objekt-Trennung. Die Qualität des Wechselspiels als schöpferische Tätigkeit bleibt aber ein Leben lang erhalten. Ich schlage vor, die Betrachtung dieser Qualität von Verbindung und Trennung als kulturellen Blickwinkel zu bezeichnen. Der Blickwinkel der Trennung von Subjekt und Objekt allein kann dem Leben als Phänomen nicht gerecht werden.
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Kultur als Objekt gedacht, wäre ein geistiges Übergangsobjekt, ein Scheit, das eine ersatzweise Bindung ermöglicht, aber irgendwann vollständig aufgegeben werden muss, wenn eine weitere Entwicklung möglich sein soll. In anderen Worten: Es ist möglich, ein Schiff zu bauen, um über das Wasser zu fahren. Es ist aber auch möglich, selbst zu schwimmen. Durch das Bauen von Schiffen lernt man nicht schwimmen. Die interkulturelle Erfahrung ist unter dem kulturellen Blickwinkel betrachtet eine Situation, in der die Tatsache des Daseins in Bezogenheit ins Bewusstsein eindringt. Sie dringt nicht von außen ein, sondern die »Wahrheit« des In-Beziehung-Seins drängt nach einer Transformation in K. Die gedanklichen Transformationen, die Beziehungen, in die man eingebunden ist, geraten in Bewegung und neue Beziehungsangebote liegen vor. Die Herausforderung besteht darin, die emotionale Erfahrung der Bezogenheit als Art und Weise des In-der-Welt-Seins zu denken und nicht zu vermeiden. Ich werde nun zwei Texte unter dem Blickwinkel lesen, wie es dem Autor/der Autorin gelingt, die Erfahrung der radikalen Bezogenheit zu denken.
4.4.2 Der Eindringling (Jean-Luc Nancy) Ein sehr eindrückliches Beispiel für eine radikale Erfahrung von Bezogenheit beschreibt der Philosoph Jean-Luc Nancy in dem Essay Der Eindringling. Das fremde Herz (Nancy 2000). Nancy erlebt die Transplantation eines fremden Herzens und reflektiert diese Erfahrung. Die Abhängigkeit der Lebensfähigkeit von der Verbindung mit dem eigenen Herzen ist jedem Menschen, der ein modernes Bildungssystem durchlaufen hat, bekannt. Doch Nancy erlebt am eigenen Leibe wie diese Verbindung als Realität in sein Bewusstsein eindringt. »Mon cœur devenait mon étranger: justement étranger parce qu’il était dedans. L’étrangeté ne devait venir du dehors que pour avoir d’abord surgi du dedans. Quel vide ouvert soudain dans la poitrine ou dans l’âme – c’est la même chose – losqu’on m’a dit: ›il faudra une transplantation‹ […] Ici, l’esprit se heurte à un objet nul: rien à savoir, rien à comprendre, rien à sentir. L’intrusion d’un corps étranger à la pensée.« (Ebd., 14) »Mein Herz wurde nun zu meinem Fremden. Fremd wurde es gerade deshalb, weil es sich innen befand. Von außen konnte der Fremde nur in dem Maße kommen,
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indem er zunächst innen aufgetaucht war. Welch’ Leere tat sich plötzlich in meiner Brust und in meiner Seele auf (sind doch beide das Gleiche), als man mir sagte: ›Eine Verpflanzung wird nötig sein‹ […] Der Geist stößt sich hier an einem nichtigen Gegenstand. Es gibt an dieser Stelle nichts, was man wissen, verstehen, wahrnehmen könnte. Eindringen eines dem Denken fremden Körpers.« (Ebd., 15)
Sein Herz ist ein »dem Denken fremder Körper«, der eindringt. Ein »nichts«. Es gibt keine Möglichkeit, diese Erfahrung in Denken zu transformieren. »L’étrangeté«, die Fremdheit, kommt von innen und eine Leere öffnet sich. »Un cœur qui ne bat qu’à moitié n’est qu’à moitié mon cœur. Je n’étais déjà plus moi. Je viens déjà d’ailleur, ou bien je ne viens plus. Une étrangeté se révèle ›au cœur‹ du plus familier – mais familier es trop peu dire: au cœur de ce qui jamais ne se signalait come ›cœur‹. Jusqu’ici, il était étranger à force de n’être même pas sensible, même pas présent. Désormais, il defaille, et cette étrangeté me rapporte à moi-même.« (Ebd., 16) »Ein Herz, das nur zur Hälfte schlägt, ist nur zur Hälfte ein Herz. Ich war nicht mehr in mir selber. Ich komme bereits von außerhalb, von einem anderen Ort, oder ich komme überhaupt nicht. Das Fremdartige offenbart sich ›im Herzen‹ des Vertrautesten – doch von Vertrautheit zu reden reicht nicht aus: Fremdartiges offenbart sich im Herzen dessen, was sich nie als ›Herz‹ zu erkennen gegeben hat. Bislang war das Herz fremd, weil es nicht einmal wahr- und aufgenommen werden konnte, weil es nicht einmal gegenwärtig war. Von jetzt an läßt es nach, wird es schwächer. Diese Fremdheit bringt mich zu mir, macht mein Verhältnis zu mir selber aus.« (Ebd., 17)
Die Transplantation ist das Angebot, eine neue Verbindung einzugehen. Der Kranke muss selbst die Operation wollen, aber auch viele andere müssen einverstanden sein: der Organspender, die Ärzte, die Angehörigen. Verbindung und Trennung gehen Hand in Hand. Der Kranke verlässt sich selbst, weil sein Herz ihn verlassen wird. Sein Herz kann ihn nur verlassen, weil ein fremdes Herz anbietet, sich mit ihm zu verbinden. Die Fremdheit und die Vertrautheit finden aber am selben Ort statt. Die Fremdheit zeigt sich im Innersten des Seins. Sie zeigt eine Verbindung zum eigenen Herzen, das bisher »nicht einmal gegenwärtig war«. »Diese Fremdheit«, die ihn zu sich bringt und sein Verhältnis zu sich selbst
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ausmacht, besteht in der unauflöslichen Bezogenheit und Umkehrbarkeit zwischen dem Herzen und dem Ich, zwischen Vertrautheit und Fremdheit, Bindung und Trennung. Nancy schildert, wie sich die Vorstellung des »eigenen Lebens« immer weiter auflöst. Innen und außen, Leben und Tod, dringen immer mehr gegenseitig ineinander ein. Auf die Transplantation folgen weitere Behandlungen, die verhindern sollen, dass das Immunsystem das fremde Organ abstößt. Doch auch diese Medikamente sind neue Eindringlinge. Es scheint sich »une loi générale de l’intrusion: il n y’en a pas une seule, et dès qu’il y en a, elle se multiplie, elle s’identifie dans ses différences internes renouvellées.« (Ebd., 34) »ein allgemeines Gesetz des Eindringens zu erkennen zu geben: es gibt kein einmaliges Eindringen, sobald es ein Eindringen gibt, vervielfältigt es sich bereits, bestimmt es sich in immer neuen immanenten Unterscheidungen.« (Ebd., 35)
Durch die »Öffnung« strömt immer mehr Fremdartiges nach und führt den Kranken an den Punkt, an dem »das wiederholte Eindringen einen Zusammenhang bildet, eine fortbestehende Ordnung des Eindringens« (ebd., 43f.). Die Einnahme von Medikamenten, die Therapien, Symptome und Befunde ergeben »das allgemeine Gefühl, nicht mehr von einem Netz unterscheidbar zu sein« (ebd., 43f.). Über das Modell des »Eindringlings« und des »Netzes« gelingt dem Autor eine Transformation seiner Erfahrungen. Unter dem Bezugsrahmen des Modells »Eindringling« wird sogar das Denken des Ich als bedingtes Verhältnis möglich. »De même ne suis-je rien de ce que j’ai à être (mari, père, grand-père, ami) sans l’être sous cette condition très générale de l’intrus, des divers intrus qui peuvent à chaque instant prendre ma place dans le rapport ou dans la représentation d’autrui.« (Ebd., 44,46) »Ich bin nichts von dem, was ich sein soll (Ehemann, Vater, Großvater, Freund), ich bin es nur unter der recht allgemeinen Bedingung des Eindringlings, unter der Bedingung verschiedener Eindringlinge, die in meinem Verhältnis zum anderen oder in der Vorstellung des anderen meinen Platz in jedem Augenblick einnehmen können.« (Ebd., 45,47)
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Nancy lässt sich auf diesen neuen Bezugsrahmen ein, in dem die Bedingungen der Eindringlinge gelten. Er leidet, aber er sucht nicht nach absoluten Anhaltspunkten und transzendenten Kategorien. Er weiß, dass er vom Eindringling keine Antwort auf seine Fragen erwarten kann und tritt dennoch in Beziehung zu diesem stummen Genossen. Er und sein neues Herz haben eine symbiotische Beziehung. Nancys Bestreben gilt immer dem Denken seiner Erfahrung. Es gelingt ihm schließlich, sich selbst Container für sein denkendes Ich zu sein, auch wenn dieses Gedanken denkt, die alle bisherigen Gedankengebäude zerstören. Schließlich beschreibt er eine Erfahrung, die ich als ein Beispiel für »O-Werden« im Sinne Bions deute. »D’un même mouvement, le ›je‹ le plus absolument propre s’éloigne à une distance infinite (où passé t-il? en quel point fuyant d’où proférer encore que ceci serait mon corps?) et s’enfonce dans une intimité plus profonde que toute intériorité (la niche inexpugnable, d’où je dis ›je‹, mais que je sais aussi béante qu’une poitrine ouverte sur un vide ou que le glissement dans l’inconscience morphinique de la douleur et de la peur mêlées dans l’abandon).« (Ebd., 46) »Das ›Ich‹, das am gewißesten mein eigenes ›Ich‹ ist, folgt einer einzigen Bewegung, wenn es sich unendlich weit entfernt (wohin geht es, an welchem fliehenden Punkt hält es sich auf, der es ihm noch erlaubt, von meinem Körper zu sprechen?) und in eine Vertrautheit eindringt, die tiefer liegt als alle Innerlichkeit (in die uneinnehmbare Nische, von der aus ich ›ich‹ sage und von der ich weiß, daß sie über einer Leere klafft, wie eine offene Brust oder wie das Abgleiten in die Bewußtlosigkeit, die das Morphium verursacht, Bewußtlosigkeit des Schmerzes und der Angst, die in der Preisgabe nicht mehr auseinandergehalten werden können).« (Ebd., 47 Herv. i.O.)
Er spricht schließlich von der »Wahrheit des Subjekts«, die »in seiner unendlichen Aussetzung« besteht und schließt: »Der Eindringling ist kein anderer als ich selber – als der Mensch selbst.« In der Anschauung sieht er sich selbst als Menschen. Nancys Wahrheit ist eine Gewissheit seines Lebens, die erfahren wurde. Der »Eindringling« ist ein Modell, in dessen Adern Emotionen fließen. Es ist ein Modell, das In-Beziehung-Sein repräsentiert und sich auch mir dadurch als Container anbietet. Nancy ist nicht gescheitert, weder als Mensch noch als Philosoph der Kultur.
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Ich habe den Text im Laufe der Zeit mehrmals gelesen und mich immer davon angesprochen gefühlt. Die Radikalität der Erfahrung der Auflösung des Ichs fand ich beängstigend und gleichzeitig anziehend. Darin ist die interkulturelle Erfahrung als Erfahrung der Entfremdung ins Extrem geführt. Im Rückblick wird klar, dass ich den Eindringling nur als Eindringling von außen denken konnte. Die Lektüre des Textes als Erfahrung brachte mich an die Grenzen meiner Denkmöglichkeiten. Entsprechend ambivalent waren die Gefühle, fasziniert aber distanziert. Die nun hier niedergeschriebene Interpretation unter dem Blickwinkel der Relativität hat mich zum ersten Mal den Schmerz der beschriebenen Erfahrung ertragen lassen. Erst jetzt erschien für mich hinter der philosophischen Sprache der Mensch. Auch in der Sprache zeigt sich die Bezogenheit. Sprache kann zur Distanzierung und Trennung eingesetzt werden, sie kann aber auch verbinden. Soweit ich Emotionen, die der Text auslöst, nicht ertragen und transformieren kann, kann ich mich auch mit dem Text nicht verbinden. Und umgekehrt: Soweit der Autor/die Autorin die Emotionen, die mit der Erfahrung verbunden sind, nicht ertragen und transformieren kann, wird er/sie sie nicht in den Text einbinden können. Sie liegen dann im Herzen des Textes, ohne sich zu erkennen zu geben. Sowohl das Schreiben als auch das Lesen können aber eine Beziehung des Kennenlernens (K) sein.
4.4.3 Der Fremde Blick (Herta Müller) Im Text von Herta Müller geht es um eine zerstörerische Beziehung. Die Autorin wurde zu Zeiten der Diktatur in ihrem Heimatland Rumänien vom staatlichen Geheimdienst verfolgt und von seinen Spitzeln beobachtet. In dem Text Der Fremde Blick (Müller 2009) beschreibt sie, wie die Verfolger in ihre Privatsphäre und damit auch in ihr Denken eindringen. Ihr gelingt die Ausreise nach Deutschland. In Deutschland wird ihren Texten »der Fremde Blick« zugeschrieben. Sie blicke mit den Augen einer Ausländerin auf Begebenheiten in Deutschland, sagt man ihr. Doch sie besteht darauf, dass sie den »Fremden Blick« bereits in Rumänien, in der ihr vertrauten Umgebung, hatte und beschreibt, wie er entstand (ebd., 5). Müller erzählt Begebenheiten aus ihrem Alltag in Rumänien, Begegnungen mit Bekannten, Friseurbesuche, Wege durch die Stadt mit dem Fahrrad und Zeiten in ihrer Wohnung. In die Realität dieses Alltags dringen unsichtbar die Verfolger ein. Obwohl sie nie sichtbar werden, hinterlassen
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sie Spuren ihrer Anwesenheit – als sie in ihre Wohnung kommt, ist ein Stuhl plötzlich an einer anderen Stelle, die Friseurin weiß Dinge, die sie aus eigener Anschauung nicht wissen kann. Doch es gibt keine eindeutigen Beweise, es könnte auch ein Zufall oder Irrtum sein. Es wäre erträglicher, an einen Zufall zu glauben als an das Eindringen der Verfolger in ihre Wohnung. Es gibt keine unhinterfragte Alltäglichkeit mehr. Immer muss sie sich fragen: Bist du sicher, dass es so war? Das Misstrauen der eigenen Wahrnehmung und anderen gegenüber wird zum ständigen Begleiter. Indem der Geheimdienst in den ihr vertrautesten Bereich eindringt, in ihre Wohnung und ihre alltäglichen Beziehungen, entfremden sich ihr auch die vertrautesten Dinge. Wie Nancy stellt auch Müller fest, dass die Fremdheit gerade im Vertrauten entsteht. »So bleibt das Fahrrad nicht lange ein Fahrrad, das Haarebleichen kann kein Haarebleichen bleiben, das Parfüm kein Parfüm, die Türklinke keine Türklinke, der Kühlschrank kein Kühlschrank. Die Einheit der Dinge mit sich selbst hat ein Verfallsdatum. Alles rundum schien sich nicht mehr sicher zu sein, ob es das, oder dies oder etwas ganz anderes war. Über kurz oder lang gab es nur noch nichtige Dinge mit wichtigen Schatten.« (Ebd., 10)
Je mehr sie versucht, sich ihre Umgebung »vertraut [zu] halten«, indem sie die Wohnung kontrolliert, umso fremder wird sie ihr. Die Dinge verlieren ihre Selbstverständlichkeit, sie müssen immer beobachtet und auf ihre Schatten hin überprüft werden. Jedes Ding kann die Verfolger repräsentieren. Die Verfolger müssen beobachtet werden. Auch sich selbst muss man immer beobachten und kontrollieren, wenn man weiß, dass man beobachtet wird. Man ist zur dauernden Selbstwahrnehmung gezwungen und kann sich nicht mehr zeitweise selbst vergessen. Verfolger und Verfolgte sind in einem geschlossenen System der gegenseitigen Beobachtung aneinandergebunden. Am klarsten manifestiert sich diese Wechselseitigkeit in der Situation des Verhörs. Müller beschreibt die Mechanismen des Verhörs. Für die Verhörte ist es notwendig, sich auf die Abhängigkeit einzulassen. Jeder Widerstand würde gegen sie verwendet werden. Sie muss versuchen, aus einer Äquidistanz sich selbst und den Ankläger wahrzunehmen, jedoch »ohne sich gleichgültig zu werden« bzw. sich selbst zu verlieren (ebd., 10-20).
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»Man hat nur in der Gegenseitigkeit des magnetischen Geschaus eine Chance. Man hat aber nur einen Kopf. Wie viele verschiedene Halb- und Viertelpersonen wird man bei jedem Verhör, und welche vergehen oder bleiben im Schädel, wenn es vorbei ist, und das nächste so gut wie sicher bevorsteht?« (Ebd., 20)
Das Ich wird bis ins Extrem von sich selbst entfernt, geteilt, gedehnt bis zum größtmöglichen Grad. Müller spricht davon, dass sie sich manchmal gewünscht hat, vor dieser inneren Spannung in den Irrsinn zu fliehen in der Hoffnung, dort eine selbstverständliche Einheit wiederzufinden. Doch als sie eines Tages ein Irrenhaus besucht, erkennt sie das als Illusion. Sie bemüht sich fortan mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften darum, »den Verstand zu behalten« (ebd., 30-33). Der »Fremde Blick« bleibt. Er kann nicht anders, als in die anderen einzudringen, sie anzugreifen, um sich verteidigen zu können. In Deutschland irritiert er damit die »Intakten« und ist mitverantwortlich für ihre Feindschaft ihm gegenüber. Auch die »Intakten«, das sind in diesem Fall die Deutschen, die die Erfahrung der Verfolgung nicht gemacht haben, verteidigen sich. Sie spüren, dass in diesem Blick so viel »Zerbrochenes« liegt, und das macht ihnen Angst. Die Realität dieser Zerbrechlichkeit und der Fremdheit, die da ist und bleiben wird, dringt in ihre geordnete Welt ein. Doch sie vermeiden es, diese Realität zu denken. Sie definieren die Ursache des »Fremden Blicks«: es liege an der Fremdheit des Landes. »Fremdes Auge reizt sich am fremden Land.«, sagen sie. Sie hoffen, dass die Fremdheit nur vorübergehend ist und es nicht notwendig ist, sie in ihrer Radikalität zu denken (ebd., 21ff.). »Den Fremden Blick als Folge einer fremden Umgebung zu sehen, ist deshalb so absurd, weil das Gegenteil wahr ist: Er kommt aus den vertrauten Dingen, deren Selbstverständlichkeit einem genommen wird. Niemand will Selbstverständlichkeit hergeben, jeder ist auf Dinge angewiesen, die einem gefügig bleiben und ihre Natur nicht verlassen. Dinge, mit denen man hantieren kann, ohne sich darin zu spiegeln. Wo die Spiegelung beginnt, finden nur noch abstürzende Vorgänge statt, man blickt aus jeder kleinen Geste in die Tiefe. Das Einverständnis mit den Dingen ist kostbar, weil es uns schont. Man nennt es Selbstverständlichkeit. Sie ist nur so lange da, wie man nicht weiß, daß man sie hat. Ich glaube, Selbstverständlichkeit ist das Unanstrengendste, das wir haben. Sie hält uns in gebührendem Abstand zu uns selbst. Es ist die perfekte Schonung, wenn man für sich selber nicht vorhanden ist. Und es ist das Schwerste am Fliehen der Selbstverständlichkeit, daß
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sie Menschen nicht im Einzelnen, Aufzählbaren verwahrlost zurückläßt, sondern Vieles auf einmal nicht mehr mit sich in eins zu bringen ist.« (Ebd., 29f.)
Die Hiesigen verweigern die Bezugnahme auf die Realität der Menschen mit dem »Fremden Blick«. Der »Fremde Blick« weiß, was passiert, wenn man das Fremde einmal eindringen lässt. Das Eindringen hört nicht mehr auf und droht, das Denken zu sprengen. Dieses Eindringen ist nach meiner Lesart das Wesen des In-Beziehung-Seins, des Container/Contained Seins. Es ist immer da, doch es gibt auch die Schonung durch die Selbstverständlichkeit. Die Selbstverständlichkeit besteht aus Transformationen dieser Realität, die sich zu einer verlässlichen Ordnung gefügt haben. Die Ordnung schont uns vor der Arbeit an der Realität. Es gibt verschiedene Qualitäten des Eindringens. Das Eindringen der Verfolger in die Verfolgten im diktatorischen System führt zu einer parasitären Beziehung. Die Verfolger entziehen den Verfolgten ihre Realität, um damit ihr System zu erhalten. Sie sind wie Parasiten auf die Lebenskräfte der Verfolgten angewiesen. Sie zerstören ihre Wirte, aber sie dürfen sie nicht vollständig zerstören, um ihre eigene Lebensgrundlage zu erhalten. Die parasitäre Beziehung führt langfristig zur Zerstörung aller Beteiligten und die Verfolgten müssen dagegen kämpfen. Den »Fremden Blick« zu kennen bedeutet, um die Transformation der Erfahrung von radikaler Bezogenheit zu ringen. Es ist nicht das Unbekannte, zu dem es noch keine Beziehung gibt, das zum »Fremden Blick« führt. Es ist die Erfahrung, dass es eine Beziehung zu den selbstverständlichsten Dingen gibt und dass eine Veränderung in dieser Beziehung mich mit verändert. Sie zeigt, wie angewiesen ich auf diese Beziehungen bin. Die Erfahrung der Verfolgung zeigt, wie fragil oder wenig stabil sie sind. Auch die interkulturelle Erfahrung ist ein Eindringen in die Selbstverständlichkeit der Weltbeziehungen. Müller unterscheidet zwischen dem »fremden Auge«, das in sich eine selbstverständliche Einheit bildet und das »fremde Land« aus der Distanz betrachten kann, und dem »Fremden Blick«. Der »Fremde Blick« ist, so lese ich Herta Müller, in einem Auge, das gebrochen wurde, dessen Blick sich vom Auge selbst gelöst hat. Den »Fremden Blick« hat man nicht, er ist in einem. Er ist in jemandem, der sich von sich selbst distanziert hat. Man kann sich nur trennen, wenn es eine Verbindung gibt. Leben mit dem »Fremden Blick« heißt, sich selbst fremd und vertraut zu sein. Die Selbstverständlichkeit der Weltverbundenheit »ist nur so lange da, wie man nicht weiß, daß man sie hat« (ebd.,
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30). Sobald ich die Erfahrung von Verbundenheit mache, mache ich auch die Erfahrung der Trennbarkeit und umgekehrt. Ich stürze in »die Tiefe« der radikalen Relativität. Für Müller ist der »Fremde Blick« das Modell, um die Erfahrung der Spiegelung denkbar zu machen. Wenn die Erfahrung nicht ins Denken integrierbar wird, bleibt der »Fremde Blick« ein verfolgendes Objekt. Für kurze Zeit glaubt sie, dass der Irrsinn eine Möglichkeit sei, diese Verfolgung zu beenden. Doch sie erkennt, dass das der Sieg der Verfolger wäre. Müller bietet mit ihrem Text auch den »Intakten« ein Modell an, in dem sie die Zerbrechlichkeit und Abhängigkeit ihres eigenen Weltbezugs denkbar und ertragbar machen können. Die Frau mit dem »Fremden Blick« und die »Intakten« sind in Beziehung. Sie können diese Bezogenheit vermeiden oder leugnen. Das Eindringen in die Vertrautheit/ Fremdheit des anderen ist dann ein Problem, wenn es dazu dient, Illusionen über die eigene Vertrautheit/Fremdheit am Leben zu erhalten. Die »Gegenseitigkeit des magnetischen Geschaus« ist immer existent. Es kann dabei um einen Kampf auf Leben und Tod gehen oder um gemeinsames Wachstum und Lebendigkeit. Herta Müller hat Beziehung mit zerstörerischer Qualität erfahren. Sie hat aber dennoch in sich, vielleicht im Wege des Schreibens, eine Container/Contained-Beziehung geschaffen, die ihr die Transformation dieser Erfahrung und weiteres Wachstum in Beziehung ermöglicht. »Wo die Spiegelung beginnt, finden nur noch abstürzende Vorgänge statt, man blickt aus jeder kleinen Geste in die Tiefe.« (Ebd., 30) Müller erfährt, dass sie sich in den Dingen, die sie umgeben, selbst widerspiegelt. Der Sessel in ihrer Wohnung, der während ihrer Abwesenheit verrückt wurde, spiegelt ihr, dass auch ihr Denken dabei verrückt (verschoben) wird. Die Dinge verlassen ihre »Natur« als Dinge und treten mit ihr in eine Beziehung der Spiegelung. Sie befindet sich plötzlich in einem Spiegelkabinett und sieht in die unendlichen Tiefen der Spiegelungen, die »nicht mehr mit sich in eins zu bringen« sind. Interessanterweise verwendet auch Bion im Zusammenhang mit »O« das Bild der Spiegelung. »Ein See bei ruhigem, klarem Wetter reflektiert Bäume an der Uferböschung gegenüber dem Beobachter. Das Bild, das von den Bäumen geboten wird, wird in der Reflexion transformiert: […] Nehmen wir an, der Beobachter könnte nur die Spiegelung sehen; er wäre in der Lage, die Natur von O aus dem abzuleiten, was er gesehen hat.« (Bion 1997, 73f.)
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Bei Bion sind die Spiegelungen im See Transformationen von »O«. Müller muss erfahren, dass ihr Blick nur Spiegelungen in einem See wahrnehmen kann. Sie erkennt, dass das, was sie sieht, – Bäume, die sie bisher als natürliche Bäume gesehen und gedacht hat, – nur Transformationen von Bäumen sind. Sie hat die Illusion einer selbstverständlich gegebenen Welt verlassen und lebt nun in einer Welt der Transformationen. Sie hat kein Festland unter den Füßen, sondern Wasser. Sie hat Angst, in diesem See zu ertrinken. Der »Fremde Blick« ist ihr Modell für diese beängstigende Erfahrung. Das Modell dient dazu, die Erfahrung denken zu können und erträglich zu machen. Das Modell ist wie ein gedankliches Boot. Es ist kein sicheres Festland, aber es trägt auf dem See. Jeder See ist von einem Festland umgeben, auch wenn meine Wahrnehmung so begrenzt ist, dass ich es nicht direkt begreifen kann. Lernen durch Erfahrung bedeutet, von diesem Boot ins Wasser zu springen, wenn es im Sturm und den Wellen zu scheitern droht. Es ist die Erfahrung, schwimmen zu können und sich aus den Scheitern ein neues Schiff zu bauen. Immer und immer wieder.
5. Von den Modellen zum Modellieren 5.1 E rfahrung mit dem modellhaf ten D enken der interkulturellen E rfahrung Der Kreis hat sich geschlossen und ich bin zur Metapher des Schiff bruchs zurückgekehrt. Ich blicke nun als Zuschauerin auf mein Denken im letzten Abschnitt zurück und orientiere mich an den Leitfragen: Wie kann Denken verändert werden? Wie kann Kultur verändert werden? In diesem Kapitel beschreibe ich meine konkrete Denkerfahrung, in der ich in den Stürmen auf hoher See gebeutelt wurde. Ich wurde immer wieder angesteckt von den Gedanken, die ich in Büchern fand. Andere Gedanken entstanden in Gesprächen und Begegnungen. Ich ließ mich von ihren Wellen tragen, erlebte die Höhen und Tiefen dieser Fahrt, spürte die Angst, sie könnten mich an unvorhergesehene Klippen werfen und zu Scheitern werden lassen. Die Zuschauerin übernahm die Arbeit des Beschreibens. Sie war sozusagen die Berichterstatterin, die von ihrem Ausguck aus über die Gedanken anderer so berichtete, als seien sie eindeutige Seekarten. Gleichzeitig versuchte sie, die eigene Position zu bestimmen und das Logbuch der Fahrt zu schreiben. Doch je mehr sie berichtete, desto mehr spürte sie, dass diese Karten eigentlich noch nass waren von den Erfahrungen der früheren Seefahrer und das Papier sich unter ihren Augen zu wellen begann. Sie ließen sich auch nicht trocken halten, mitten in der spritzenden Gischt der Fahrt. Die Karten lösten sich immer mehr auf in der Nässe, die Gedanken und Erfahrungen anderer und die eigene Fahrt verschwammen ineinander. Das Ziel der Reise war nicht mehr auszumachen. Die Zuschauerin war immer weniger Zuschauerin und konnte doch ihren Posten nicht verlassen, da sich die Seefahrerin auf sie verließ. Doch irgendwann konnten sie sich beide nicht mehr halten, ihr Schiff löste sich auf im Rausch(en) der Wellen. Die Angst ergriff sie. In den Wellen schwamm ein Scheit – ein neuer Gedanke (Bion), ein apollinisches Bild (Nietzsche),
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ein Übergangsobjekt (Winnicot), ein kreativer Entwurf (Popitz). Das denkende Ich – Seefahrerin und Zuschauerin – konnte dieses Scheit erfassen. Das Scheit konnte das Ich wieder binden, bündeln. Das Scheit war Überlebensgrund, daher als ein Teil gleich tragend und wertvoll wie ein ganzes Schiff. Das Denken fand Ruhe im Bild des Schiffes, das sich aus dem Scheit wieder aufbauen ließ – mitten im Meer treibend, aus den Scheitern anderer Schiff brüche. Und ich machte mich an die Arbeit. Immer wieder baute ich ein Floß aus den Scheitern früherer Schiff brüche, das mich von einer Lektüre zur nächsten trug. Ich war erschöpft, denn noch immer war kein Hafen in Sicht. Warum muss es immer ein Scheitern geben? Warum setzte ich Hoffnungen ins Scheitern? Welches Scheitern? Wer scheitert?
5.1.1 Schiffbruch und Zuschauer Die interkulturelle Erfahrung hat mich in den Relativismus und in eine Welt der Spiegelungen gestoßen. Es gibt keinen absoluten, unveränderbaren Standpunkt mehr. Es gibt keine Einheit mehr, kein selbstverständliches Einverständnis mit mir und anderen. Ich lebe mit dem »Fremden Blick«. Das Thema des Scheiterns ist Ausdruck meines Versuchs der Bewältigung der Sinnfrage, die sich aus dem Relativismus ergibt. Die Beschäftigung mit verschiedenen Modellen dient dem Denkbarmachen dieser Erfahrung. Das erste Modell ist der Schiff bruch. Ich habe das Gefühl, dass etwas zerbrochen ist in mir, dass etwas auseinandergefallen ist. Ich bin aus der einen Welt herausgefallen. Der feste Boden unter mir ist weggebrochen. Ich ahne aber auch schon, dass der »feste Boden« nie sicheres Festland war, sondern dass ich immer schon »eingeschifft« war. Der Blick geht nun in zwei Richtungen: Wie geht es weiter? Wird es jemals wieder einen tragfähigen Boden geben? Und: Wo hat die Reise begonnen? Hat es jemals ein Festland gegeben? Oder in anderen Worten: Woher komme ich und wohin gehe ich? Diese Frage ist nicht neu, aber sie stellt sich mit größerer Dringlichkeit. Ich sehe im Schiff bruch auch die Möglichkeit zur Erkenntnis. Ich deute das Auseinanderbrechen als eine innere Rollenteilung in Zuschauerin und Schiff brüchige. Die Zuschauerin ist Optimistin, sie glaubt, ich werde mir irgendwann eine Antwort auf das Woher und Wohin geben können. Die Frage nach dem Wohin führt unvermeidbar zu einem Ende, das aber undenkbar ist, zum Tod. Wenn ich nicht auf religiöse oder transzendente Antworten setzen will, muss ich mich eher dem Ursprung zuwenden. Ich frage nach dem Anfang des
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Auseinanderbrechens. Wann und wie hat mein Schiff erstmals vom Festland abgelegt? Was ist der Urgrund, von dem es sich getrennt hat? Wenn es eine Abfahrt gegeben hat, muss auch eine Rückkehr an den Ursprung und eine Wiedervereinigung möglich sein.
5.1.2 Die Vertreibung aus dem Paradies Zwei naheliegende Modelle für den Ursprung bieten sich mir an: die Geburt und die Vertreibung aus dem Paradies des Schöpfergottes. Beide Modelle enthalten ambivalente Gefühle: den Schmerz der Trennung und die Freude der Eigenständigkeit. Das erkennende Subjekt trennt sich von der Welt. Mehr noch, es kann auch sich selbst zum Objekt der Erkenntnis machen. Ist es möglich, vor diese Trennung zurückzukehren? Der lebensgeschichtliche Weg kann nicht zurück vor die eigene Geburt führen. Es ist nur im transzendenten oder übertragenen Sinn eine weitere Geburt denkbar, sodass in einer unendlichen Kette von Geburten, Einheiten und Trennungen aufeinander folgen. Sowohl der religiöse als auch der rationale Weg wollen die Trennung überwinden. Die Erlösung durch die göttliche Erlösung oder die philosophische Wahrheit führt über die Trennung hinaus zu einer neuen, höherwertigen Einheit. Die dialektische Synthese zum Beispiel übernimmt dieselbe Funktion, die auch der religiösen Erlösung zukommt – die Erfahrung der Einheit zu ermöglichen. Doch auf jede dialektische Vereinigung kann die nächste Spaltung folgen. Jedes Schiff kann Schiff bruch erleiden. Das christliche wie das aufklärerische Modell stürzt in das Trauma der Trennung und bindet gleichzeitig unauflöslich an das Streben nach Überwindung der Trennung. Dies führt in unabschließbare Prozesse, die mich wieder an die Grenze meiner Denkmöglichkeiten bringen. Der denkende Mensch, eingespannt zwischen Geburt und Tod, zwischen dem Streben nach Einheit und nach Individuation – das ist die condition humaine. Die Kulturen sind Ausdrucksformen dieser Grundthemen des menschlichen Lebens. Es ist mittlerweile schon zu greifen, dass ich die interkulturelle Erfahrung unter dem Blickwinkel der Sinnstiftung als existenzielle Frage bearbeite. Wenn ich vom Scheitern spreche, beschäftige ich mich nicht damit, dass ein bestimmtes Projekt oder eine Kommunikation scheitert. Aber es fällt mir noch schwer, mir einzugestehen, dass es um die Angst geht, an den Grundfragen des Woher und Wohin, des Wer bin ich? zu scheitern. Es geht um Lebens- und Todesangst ebenso wie um Lebenswillen und Todessehnsucht. Im Modell der Seefahrt und des
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Schiff bruchs sind alle diese wiederstrebenden Gefühle enthalten, aber ich kann sie noch nicht so denken, dass sie erträglich und veränderbar sind. Ich leide, aber ich möchte mich von diesem Leiden befreien.
5.1.3 Unschuldig schuldig Da der religiöse Weg keine Option für mich darstellt, will ich mich von den versteckt christlich-religiösen Annahmen lösen. Ich wende mich, inspiriert durch Simmels Tragödie der Kultur, einem anderen Modell zu, das dasselbe Thema variiert, aber keine christliche Herkunft haben kann: die griechische Tragödie. Auch in der griechischen Tragödie geht es um Leben und Tod. Die Helden/Heldinnen stehen vor der Aufgabe, das schicksalhafte Eindringen von unerklärbaren Mächten in ihr Leben zu bewältigen. Sie sind einerseits diesen Mächten ausgeliefert, andererseits auch frei zu handeln und zu fehlen. Sie sind »unschuldig schuldig« geworden und müssen dieser Situation aus eigener Kraft einen Sinn abringen. Die Lösung besteht nicht darin, sich den Göttern zu unterwerfen, noch sich an die Stelle der Götter zu setzen. Der tragische Held/die tragische Heldin ist ein Mensch, der sich am Willen der Götter misst, um selbst den Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Es ist ein durchschnittlicher Mensch, der an der schicksalhaften Situation scheitern, aber auch gerade in ihr seine Größe erweisen kann. Solche Taten können ins Leid führen, aber im Leiden kann etwas Erhabenes liegen (Schadewaldt 1991, 245f.). Es kann sein, dass der Held/die Heldin gegen Gesetz und Moral verstößt, weil er/sie aus dem tiefsten Sein heraus handelt (ebd., 250f.). Immer geht es um das Verhältnis des Menschen zu einer göttlichen Ordnung (ebd., 409f.). Diese drückt sich im Verhältnis des Menschen zu anderen Menschen und zu den Mächten aus, die ihn aus seinem Inneren heraus bewegen. Der Mensch ist verflochten in Beziehungen – zu Göttern, Menschen und seinen eigenen Leidenschaften. Indem sich die Helden, den Spannungen und Widersprüchen dieser Beziehungen stellen, können sie zu tragischen Wahrheiten durchdringen. »Die Sphäre des Tragischen ist es, wo diese letzte Realität auf bricht, die von uns nicht mehr harmonisierend verstanden werden kann, sondern als tiefe Seinsantinomie.« (Ebd., 251) Davon gibt es keine Erlösung. Die Tragödie bezieht auch die Zuschauer in das Beziehungsgeflecht ein. Durch Mitleid und Furcht verbinden sich die Zuschauer mit den Heldengestalten und mit einem allgemein menschlichen Schicksal. Sie
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sollen schließlich diese Regungen in der Katharsis »ausscheiden«, also sich von den Gestalten wieder trennen können. Die Tragödie führt mir viele Formen von Konflikten und viele Arten des Leidens vor Augen. Als Zuschauerin erlebe ich die Kämpfe um Leben und Tod mit und kann dadurch mehr Mitleid und Furcht auch meinem eigenen Ringen entgegenbringen. Aber den Durchbruch zu einer letzten, tragischen Realität kann ich noch nicht vollziehen. Die Suche nach einer Befreiung vom Ringen mit dem Sinn des Scheiterns und Leidens geht weiter.
5.1.4 Rausch und Traum An diesem Punkt bietet Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Erleichterung an. Der dionysische Rausch, den Nietzsches Text nicht nur beschreibt, sondern auch verbreitet, entfaltet seine Wirkung. Nietzsche arbeitet das Thema des Spannungsverhältnisses zwischen dem menschlichen Streben nach Entgrenzung des Individuums und nach Vereinigung mit der Welt einerseits, und dem Streben nach Individuation andererseits, als das Grundmotiv der griechischen Tragödie aus. Er nennt diese beiden Kräfte dionysisch und apollinisch. In ihrem Verhältnis liegt der Urwiderspruch, die innere Widersprüchlichkeit des Lebens, die der künstlerische Mensch durch die Erfahrung der Tragödie erkennen und ertragen kann. In der Tragödie versöhnen sich die beiden Strebungen des Daseins. Die Tragödie erhebt den Menschen über die Engführung durch Moral und Vernunft hinaus zu einer ästhetischen, tragischen Erkenntnis des Daseins. Ein Grundelement dieses Modells ist die Ansteckungskraft. Die rauschhafte, ansteckende Kraft der dionysischen Elemente der Tragödie ermöglicht es dem Zuschauer, die Erfahrung der Auflösung seiner Ich-Gestalt zu machen. Die apollinischen Elemente führen ihn zur Wiedererlangung der individuellen Gestalt. Dies kann ich als Leserin des Nietzsche-Textes nachempfinden. Unter dem Einfluss der dionysischen Kräfte fließen in meinen Gedanken Ideen aus der Geburt der Tragödie mit der Schiff bruchmetapher, mit Simmels Kulturtheorie und Themen der interkulturellen Bildung ineinander. Von überall her tönt dieselbe Melodie, die mir neue Einsichten und gedankliche Variationen ermöglicht. Ich höre nicht mehr auf meine »innere Zensorin« (Wolfsberger 2010), die die Einhaltung einer wissenschaftlichen Form einfordert. Der Drang nach Auflösung jeder Form setzt sich durch. Doch gleichzeitig verliere ich auch die Orientierung. Der anfänglich genussvolle ›Gedankenrausch‹
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beginnt, mich zu überschwemmen. Selbst wenn es mir gelänge, die in diesem Weg gewonnenen Erkenntnisse in die Form eines Textes zurückzuführen, wäre das kein wissenschaftlicher Text. Wenn Nietzsches Ansatz stimmt, dann könnte eine tragische Erkenntnis nur in künstlerischer Form Gestalt annehmen. Damit könnte ich wenigstens eine Begründung für mein Abschweifen vorbringen. Mein Vorhaben, eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, wäre aber gescheitert. An diesem katastrophischen Tiefpunkt steht wieder das Bild des Schiff bruchs vor mir. Diesmal tritt ein Element in den Vordergrund, das ich bisher nicht beachtet habe: die Angst, überschwemmt zu werden, zu ertrinken. Die Fremdheitserfahrung lässt sich plötzlich als Geschichte des Ertrinkens erzählen: In einer Situation, in der ich fremd bin, überschwemmen mich unzählige neue Eindrücke. Ich kann sie nicht filtern. Ich muss sie ungefiltert aufnehmen. Mit dem Relativismus ergießt sich ein unaufhörlicher Schwall von Deutungsmöglichkeiten über mich. Ich schwimme in einem Meer von Ereignissen und Deutungen. Ich bekomme Angst, darin zu ertrinken. Von diesem Ausgangspunkt wäre interkulturelles Lernen völlig anders zu denken. Dank der apollinischen Kräfte taucht ein Bild, ein Modell vor mir auf, mit dem ich nach der Entgrenzung wieder zu einer denkerischen Gestalt zurückfinden kann. In der Form dieses Modells des Ertrinkens kann ich Nietzsches Rausch, die interkulturelle Erfahrung und mein Streben nach Erkenntnis wieder in ein kohärentes Ganzes bringen. Die Leseerfahrung mit der Geburt der Tragödie hat mich durch die Erfahrung von Rausch und Traum zu der tragischen Erkenntnis geführt, dass ein neuer Gedanke aus einem Grund entspringt, ohne dass ich seinen Ursprung jemals erkennen kann. Die Erfahrung der »Geburt« eines neuen Gedankens unterscheidet sich von der Erfahrung einer Neukombination bisheriger Gedanken und von den gedanklichen Prozessen der Deduktion und Induktion. Der Prozess der Geburt war mit Leiden verbunden, führte aber schließlich zu einer Befreiung. Nietzsches künstlerischer Mensch ist der kreative Mensch, der Neues gebären kann. Er ist zwar nicht der alleinige Schöpfer des Neuen. Wie seine Befruchtung durch die Götter der Künste stattfindet, bleibt immer verborgen. Dennoch wäre das eine Daseinsform, die mich zwar nicht vom Leiden am Urwiderspruch befreit, aber ihn kreativ verwandelt. Ich bin nicht mehr nur leidend, sondern mein Leiden dient einem kreativen Zweck. Ermutigt wende ich mich daher dem Phänomen der Kreativität zu.
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5.1.5 Der Urwiderspruch Ein Modell, das die Bedeutung der Kreativität beschreibt, legt Donald W. Winnicot vor. Winnicot geht ebenso wie Nietzsche davon aus, dass Menschen zueinander in einem Spannungsverhältnis von Einheit und Abgrenzung stehen. Nach Winnicot entspringt aus dieser Spannung bereits beim Kleinkind ein kreativer Impuls, der der Ausgangspunkt allen kulturellen Lebens ist. Während bei Nietzsche Einheit und Abgrenzung einander zeitlich ablösen, indem am Punkt höchster Spannung eines ins andere umschlägt, eröffnet Winnicot einen Übergangsraum, in dem Einheit und Trennung nicht unterschieden sind. Der Zustand der Einheit bei Nietzsche bedeutet, es gibt keine Ich-Grenze, kein innen und außen, nur das All-Eine. Die Trennung ist die Errichtung einer solchen Grenze und die Schaffung eines Innenraums. Im Übergangsraum zwischen Kind und Mutter bzw. später im Verhältnis zwischen Kind und einem die Mutter symbolisierenden Übergangsobjekt gibt es weder innen noch außen. Winnicot öffnet also den Spalt zwischen Rausch und Traum, zwischen allumfassender Einheit und Individuation, der von Nietzsche übersprungen wird. In dem Raum, der sich bei Winnicot auftut, sehe ich in meiner Fantasie Nietzsches Götter der Kreativität in ihrer unaufhebbaren Antinomie zusammenwirken. Der Übergangsraum bietet mir weitere Erleichterung in meinem Leiden. Ich bin davon entlastet, den Widerspruch auflösen zu müssen oder mich entscheiden zu müssen. Der Urwiderspruch selbst ist die kreative Kraft, die mich zu neuem Leiden und zu neuen Geburten treibt. Ich habe zwar keinen festen Boden, sondern einen offenen Spalt unter mir gefunden, aber ich habe Kräfte gewonnen, weil ich nicht mehr gegen den Urwiderspruch kämpfen muss. Ich kann beginnen, mit ihm zu leben und meine kreativen Kräfte erwachen.
5.1.6 Kreatives Eindringen Die Kreativität ist, wie Popitz sagt, Segen und Fluch zugleich. Sie ist unsere Antwort darauf, dass uns die wesentlichen Bedingungen unseres Lebens verborgen sind. Sie kann nicht abgestellt werden. Sie muss immer beschäftigt werden und beschäftigt uns. Ich stelle mir also einen unsichtbaren Übergangsraum vor und nun kann ich nicht ruhen, sondern versuche, in alles Unbekannte durch weitere Vorstellungen einzudringen. Jeder offene Spalt ist eine Aufforderung, ihn mit kreativen Entwürfen zu
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füllen. Die Entwürfe gefallen mir, sie begeistern mich. Sie scheinen die Erfüllung meines Strebens zu sein. Die interkulturelle Erfahrung wäre kreativ zu bewältigen. Doch je mehr Kreationen ich hervorbringe, desto deutlicher wird es, dass die Leere, die mich umgibt, nie gefüllt werden kann. Jede Vorstellung vom anderen ist ein kreativer Entwurf, mit dem ich den Spalt, der mich vom anderen trennt, überspringen will oder in den anderen eindringen will. Die Kreativität ist mir als Antwort auf mein Leiden und als Möglichkeit zur Bewältigung der Fremdheitserfahrung erschienen. Doch sie hat auch eine zweite Seite. Sie gibt sich zu erkennen als zwanghafte Produktion von Bildern und Entwürfen vom anderen, die die Trennung vom anderen aufrechterhalten. Wieder ist kein Ankommen möglich. Wieder scheint meine Arbeit zu scheitern. Doch es gibt noch eine Form der Kreativität. Es gibt eine Form, die frei ist von einem Zweck: das Spiel.
5.1.7 Das Spiel Wenn ich mich von den Zwängen des Zwecks und den Ängsten, die mich verfolgen, befreien will, müsste ich es wagen, nur zu spielen. Ich habe zwar angekündigt, dass dieser gesamte Abschnitt ein Spiel sein soll, bei genauerer Betrachtung muss ich aber zugeben, dass ich das Spiel zum Zweck der (Selbst-)Erkenntnis eingesetzt habe. Es ist nach Popitz nicht ausgeschlossen, das Spiel mit einem Zweck zu verbinden, aber es muss einen Kern geben, in dem das Spiel seinen Zweck rein in sich selbst erfüllt. Ich habe mir bereits, wenn auch mit einigen Zweifeln und unter einigem Argumentationsaufwand, erlaubt, mich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit spielerisch zu verhalten. Doch damit stehe ich vor der Frage, ob diese Arbeit den Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnis erfüllen soll, oder ob sie als Spiel ihren Zweck rein in sich selbst haben könnte. Wenn ich spielen will, dann muss es mir genügen, dass dieser Text seine Erfüllung in sich selbst findet. Wie schon beim Rausch verlasse ich die Grenzen, die meine innere Zensorin als Wächterin der Anerkennung meines Textes als wissenschaftliche Arbeit errichtet hat. Wieder riskiere ich das Scheitern. Ich entscheide mich, zu spielen. Das Spielen ist eine Befreiung und die Errichtung einer eigenen Ordnung, an die ich mich freiwillig binde. Ich muss nicht produktiv sein. Ich spiele mit den Texten, die ich schon gelesen habe. »Die formale Struktur des Spiels ist die modifizierte Wie-
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derholung im ungewissen Dialog.« (Popitz 2000, 67) Ich lese die Texte wieder und sie spielen zurück. Ich spiele mit Modellen, mit dem Übergangsraum, mit Bildern. Sie spielen mir Gefühle und Erinnerungen zurück. Ich bin nicht meine Zuschauerin, sondern meine Mitspielerin. Inspiriert durch die Theorien über frühkindliche Erfahrungen ebenso wie durch die tragischen Mythen spiele ich die Urerfahrung ›Vater – Mutter – Kind‹. Ich erlaube mir, den Neid, den Hass, das unstillbare Begehren und die Angst zu spielen. Im Spiel erfahre ich die Bezogenheit: Ich gehöre unvermeidbar zum anderen, aber ich bin anders und kann nie der andere werden, darf auch nie der andere werden. Es gibt eine Kluft zwischen uns. Die Leere ist zwischen uns. Und doch bin ich vollständig bezogen auf den anderen – getrennt und verbunden. Ich spiele meinen eigenen Urwiderspruch.
5.1.8 Der Sprung Im Spiel kann ich endlich Container meiner eigenen widersprüchlichen Gefühle sein. Je mehr Spielraum ich für meine unerträglichen Gefühle schaffen kann, desto mehr Raum entsteht auch in mir für diese Gefühle. Mein Vertrauen wächst, dass die Wahrheit meinen Container nicht zerstören wird. Und schließlich wage ich einen Sprung ins Meer des Unaussprechlichen, um dort (m)einer Wahrheit zu begegnen: Ich habe in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass ich auf den anderen (meine zentralen Bezugspersonen) bezogen und völlig abhängig bin. Es gab auch die Erfahrung, dass dort nur Stille war. Ich wurde nicht gehört und bekam keine Antwort. Ich konnte nur mein eigenes Rufen in der Stille hören. Das war unerträglich. Da niemand da war, wendete ich mich gegen mich. Ich löste mich auf in der Leere. Ich musste meine Gefühle vernichten. Diese Erfahrung deute ich so: Die Beziehung zu meiner Bezugsperson ist gescheitert. Diese innere Wahrheit vermied ich zu denken. Stattdessen wiederholte ich immer wieder meine Erfahrung. Ich rief in die Leere und versuchte, mir selbst eine sinnvolle Antwort zu geben, und dann zerstörte ich diese Antwort, weil ich erkannte, dass sie die Leere nicht füllen konnte. Ich vermied Beziehung, weil es unerträglich war, was der Wunsch nach Beziehung nach sich ziehen kann. Aber dieser Wunsch lässt sich nicht unterdrücken. Dadurch entsteht eine Spannung. Meine einzige Beziehung war die zum Scheitern, wenn ich sie wiederholte, überlebte ich. Mein Denken diente dazu, den Schmerz und die Angst zu vermeiden, die
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mit der Erfahrung verbunden sind, dass in Beziehung eine große Leere in mich eingedrungen ist. Die Wahrheit dieser Erfahrung ist, dass ich auf Beziehung zum anderen angewiesen bin und dass das ein unkontrollierbares Wagnis ist. Es ist eine schmerzliche Erkenntnis, dass ich selbst die Leere zwischen mir und anderen aufrechterhalte, weil sie mir erträglicher erscheint, als das Risiko, in Beziehung wieder enttäuscht zu werden und die Leere in mir zu spüren. Es ist eine schmerzliche Erkenntnis, dass ich das Scheitern aufrechterhalte, um nicht in einem Hafen, der ›Beziehung‹ heißt, zu landen.
5.1.9 Container/Contained Dies liest sich wie das Aufdecken einer verdrängten Erinnerung. Entscheidend dabei ist aber nicht, ob etwas Unbewusstes aufgedeckt wurde, sondern, dass eine Erfahrung als Geschichte modelliert wurde. Das ist eine neue Denkerfahrung. Niemand kann sagen, ob diese Geschichte wirklich so stattgefunden hat. Für das Lernen durch Erfahrung ist es auch nicht relevant. Lernen durch Erfahrung bedeutet hier, dass es möglich ist, aus Erfahrungen Modelle zu bilden, anhand derer weitergedacht werden kann. Man kann damit umgehen. Die Modelle in der Geschichte können richtig oder falsch sein. Wichtig ist vielmehr, dass in der Geschichte etwas kennengelernt (K) wurde: das Wagnis Beziehung und dass es Beziehung ohne Zwischenraum gibt. Ich lebe in Beziehung. Die Erkenntnis ist in Beziehung. Die Erkenntnis ist relativ. Ich bin nur in Beziehung. Ich bin immer in einem Verhältnis. Ich bin in vielen Verhältnissen. Ich bin viele Verhältnisse. Das sind Verhältnisse des Liebens, Hassens und Kennenlernens, des gegenseitigen Eindringens und Haltens, des Trennens und Verbindens. Es sind Verhältnisse von Vertrautheit und Fremdheit, Nähe und Ferne. Das Leben ist Beziehung in gleichzeitiger Verbundenheit und Trennung. Es gibt weder vollkommene Einheit noch vollkommene Autonomie. Die Bezogenheit ist radikal. Die radikale Relativität trägt immer das Risiko in sich. Es ist nicht das Risiko des Scheiterns, sondern das Risiko des Lebens. Die Fremdheitserfahrung hat mich in die Erfahrung der radikalen Relativität gestoßen. Sie hat die Illusion von Einheit und/oder Autonomie zerstört. Sie ist die Erfahrung der Veränderlichkeit in Beziehungen. Die Aufgabe bestand darin, diese Erfahrung so zu denken, dass ich damit umgehen kann.
5. Von den Modellen zum Modellieren
5.2 E in anderer B lick auf die P r a xisrefle xion Wenn ich nun am Ende meines Gedankenspiels auf die Praxisreflexion (siehe Kapitel 4.1.1) zurückschaue, dann stechen mir zwei besonders signifikante Modelle ins Auge. Der »Kitt« und das »Kartenhaus« einerseits, der »Vorhang« bzw. »Schleier« andererseits. »Der Kitt, der die Teile der Welt zusammenhält, war zerbröselt.«, steht dort. Der »Kitt« ist eine unsichtbare Verbindung. Ich stelle mir diese Verbindung als unsichtbaren »Stoff« vor. Diesen Stoff habe ich nicht wahrgenommen, solange er gehalten hat. Erst die Störung lässt darauf schließen, dass etwas verloren gegangen ist. Der Stoff hatte die Leere gefüllt, die zwischen den Teilen herrscht. Diesen »Stoff« habe ich später »Kultur« genannt und in ihn eine Struktur hineingedacht, die wiederum die Teile der Welt in eine Ordnung bringt und damit ein Ganzes herstellt. In diesem Modell denke ich das Ich als ein (Karten-)Haus. Kultur als Überindividuelles ist der verbindende Stoff, der die Teile des Hauses zum Haus und die Häuser zur Stadt macht. Daneben gibt es ein zweites Modell bzw. eine zweite Erfahrung. Es ist das Bild des Vorhangs oder des Schleiers, der sich hebt und den Blick auf eine neue Realität freigibt. Der Vorhang trennt zwei Realitäten. Der Vorhang ist ebenfalls ein Stoff, aber ein Stoff, der trennt und verbindet. Der Vorhang gibt keine Information weiter. Seine einzige Wirkung besteht darin, eine Beziehung zwischen zwei Seiten darzustellen. Er steht für die Veränderbarkeit. Er ermöglicht einen Wechsel zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Altem und Neuem, Innen und Außen. In diesem Modell ist Ich ein Vorhang. Das beunruhigende an der Vorhang-Erfahrung besteht darin, dass nicht nur einzelne Teile eines Weltbildes verschoben werden oder auseinanderbrechen, sondern dass sich mit einem Schlag das gesamte Weltbild verändern kann und das Ich mit ihm. An der neuen Öffnung begegnen einander eine neue Realität und ein neuer Blick. Die Öffnung verändert sowohl die Realität als auch den Blick. Das Ich als Vorhang ist das Verhältnis zwischen innerer und äußerer, überindividueller Realität. Der Vorhang ist eine Membran, die verbindet und trennt, wie die »Kontaktschranke« (siehe Bion, Kapitel 3.2.1) zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Der Vorhang kann sich selbst nicht sehen und markiert doch eine Grenze. Die Grenze ist beweglich, sie kann verscho-
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ben werden. In diesem Modell der beschriebenen interkulturellen Erfahrung hat das Ich keine Grenze, das Ich ist diese Grenze.1 Der Unterschied zwischen den beiden Modellen besteht darin, dass durch den Kitt eine Verbindung hergestellt werden muss, während die Verbundenheit am Vorhang unmittelbar ist. Der Kitt füllt einen Spalt, der als leerer Zwischenraum zwischen Einheiten gedacht ist. Im Modell des Vorhangs gibt es keine Kultur als Stoff, als verbindenden Stoff zwischen Menschen, der vorhanden ist und entdeckt oder verloren werden kann. Das Ich als Grenze ist ein dauerndes Verhältnis zwischen einer Sphäre des Individuellen und einer Sphäre des Überindividuellen. Das entspricht meinem Verständnis nach dem, was Eagleton meint, wenn er vom Subjekt als »Gelenkstelle« zwischen dem Partikularen und dem Universalen spricht. »Das Universale ist der Bruch oder Riß in meiner Identität, der sie von innen her für das Andere öffnet und verhindert, daß ich mich völlig mit meinem partikularen Kontext identifiziere. Das ist aber auch unsere Art, in einen Kontext hineinzugehören, nicht, ihn zu entbehren. Es gehört zur Situation des Menschen, mit keiner spezifischen Situation ›verfugt‹ zu sein. Und die gewaltsame Entladung, die aus diesem Kontakt des universalen mit einem partikularen Inhalt folgt, ist das, was wir menschliches Subjekt nennen. Die Menschen bewegen sich auf der Gelenkstelle zwischen dem Konkreten und dem Universalen, dem Körper und dem symbolischen Medium; freilich ist dies kein Ort, auf dem sich irgend jemand behaglich zu Hause fühlen könnte.« (Eagleton 2009, 136f.)
Was unter der Perspektive der Identität ein Bruch oder Riss ist, kann aus anderer Perspektive als verbindendes Gelenk wahrgenommen werden. Das Ich als Grenze ist nicht mehr als Subjekt oder Objekt zu verorten, man kann sich eher ein von vielen Eruptionslinien durchzogenes offenes Feld vorstellen. Ein solches Feld lässt sich von einem spezifischen »Scheitelpunkt« (Bion 1997, 122) aus wahrnehmen. Ich ziehe hier noch einmal Bion heran, der mit Scheitelpunkt (Vertex) wieder einen mathematischen Ausdruck wählt, um zu zeigen, dass Lebensphänomene multidimensional sind. Die Erkenntnis über solche Phänomene setzt ein binokulares
1 | Zu dieser Aussage gelangt auch Georges Devereux auf etwas anderen Wegen (Devereux 1998, 317).
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Sehen unter Verwendung zahlreicher Vertices voraus (Bléandonu 2008, 274). Bion spricht bezüglich des Vertex, so Krejci erläuternd, »von der ›geistigen Entsprechung‹ eines Sinnes, zum Beispiel dem inneren Auge, und er beschreibt die Möglichkeiten und Beschränkungen eines visuellen Scheitelpunktes in einem visuellen geistigen System. Ein Wechsel des Scheitelpunktes, zum Beispiel zum Verdauungs- oder zum Respirationssystem, eröffnet andere Möglichkeiten mit anderen Beschränkungen.« (Krejci 1997a, 223)
Das Modell des Wechselns zwischen dem Verdauungs- und Respirationssystems veranschaulicht, wie begrenzt die Beschreibung einer Person wäre, wenn man nur eines dieser »Systeme« betrachten würde. Das Modell Vertex dient also der Erweiterung der Möglichkeiten, lebendige Phänomene kennenzulernen. Hier lässt sich eine Brücke schlagen zu Bruno Latours radikalen Aussagen in Bezug auf die Performanz des Sozialen (vgl. Latour 2010). Latour wendet sich dagegen, dass die »Kontroversen darüber, aus welcher Art von Stoff die soziale Welt gemacht ist« (Latour 2010, 440) von Sozialwissenschaftlern entschieden werden kann. Ihr Vertex ist beschränkt, deshalb schlägt er einen anderen Blickwinkel vor. Er ist überzeugt, dass die Akteure/Akteurinnen selbst das Soziale laufend herstellen und dass »soziale Aggregate nicht Gegenstand einer ostensiven Definition sind, – wie Tassen und Katzen und Stühle, auf die wir mit dem Finger deuten können –, sondern nur einer performativen Definition. Sie werden auf die vielfältigen Arten geschaffen, in denen man von ihnen sagt, daß sie existieren.« (Latour 2010, 62, Herv. i.O.) Was Kultur ist, kann weder in der Sphäre des Individuellen/Partikularen noch in der Sphäre des Überindividuellen/Universellen entschieden werden. Was das Ich ist, kann ebenfalls weder in der einen noch in der anderen Sphäre entschieden werden. In der beidäugigen Betrachtung zeigen sich Bewegungen an einem Vorhang. Diese Bewegung nenne ich das kulturelle Ich. Die Ansätze der Identitätstheorien, die Identität als individuelles Ergebnis eines psychosozialen Prozesses beschreiben (siehe z.B. »Ich« und »ICH« sowie »generalisierter Anderer« bei Mead, vgl. Mead 1995) und die Kulturtheorien, die Kultur als überindividuelles Ergebnis psychosozialer Prozesse beschreiben, beschäftigen sich mit der Frage, wie Ich und Kultur/Soziales aufeinander einwirken. Sie gehen von der Annahme eines Innen- (Ich) und Außenbereiches (Kultur/Soziales) aus und machen Aussagen über das Innen und Außen. Der Vertex von Innen
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und Außen, von Ich als Identität oder vom sozialen Ich ermöglicht bestimmte Wahrnehmungen und hat bestimmte Beschränkungen. Er soll nicht ersetzt, sondern durch einen weiteren Vertex ergänzt werden. Das Modell des kulturellen Ich eröffnet einen neuen Vertex, unter dem die dauernde Herstellung einer Kontaktschranke zwischen dem Individuellen/Partikularen und dem Überindividuellen/Universellen wahrgenommen werden kann. In Anschluss an Winnicots Aussagen zum Übergangsraum ist das kulturelle Ich auch die Kontaktschranke zwischen der konkreten und der symbolischen Welt. Der Übergangsraum ist der »potential space«, in dem sowohl das Ich als Identität als auch das kulturelle Ich angelegt sind. In ihm kann man lernen, Schiffe zu bauen, und lernen, zu schwimmen. Auch Latour benennt zwei Modelle, die Gesellschaft beschreiben: die Gesellschaft als ein »zu restaurierendes Gebäude« oder als eine »fortzusetzende Bewegung. Wenn ein Tänzer aufhört zu tanzen, ist der Tanz beendet« (Latour 2010, 67). Die Kontaktschranke zwischen dem Individuellen und dem Überindividuellen ist performativ, eine fortzusetzende Bewegung. Zur Veranschaulichung der beiden Vertices lässt sich auch de Certeaus Unterscheidung zwischen »Orten« und »Räumen« heranziehen (de Certeau 1988, 217-220). »Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden. Hier gilt das Gesetz des ›Eigenen‹: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ›eigenen‹ und abgetrennten Bereich, den es definiert. Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er erhält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.« (Ebd.,218, Herv. i.O.)
Das kulturelle Ich, so übersetze ich de Certeau, ist ein räumliches Ich, eine Bewegung. Mit der Unterscheidung zwischen Raum und Ort sind auch verschiedene Handlungsmöglichkeiten verbunden, so de Certeau weiter. Orte lassen sich auf einer Karte eintragen und sichtbar machen. Für Bewegungen im Raum kann man narrative Handlungsanweisungen geben (z.B. Richtungsanweisungen) (ebd., 221). Die Beschreibung einer Wegstrecke nimmt auf örtliche Merkmale Bezug, aber sie legt den Schwerpunkt auf den Umgang mit diesen Gegebenheiten.
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Der Interkulturalismus hingegen will auf Kultur deuten wie auf »Tassen und Katzen und Stühle«. Er will die angeschlagene Kultur als Interkultur »restaurieren«. Er will Landkarten zeichnen und Kultur verorten. Zu diesem Zweck unterzieht er die Menschen einem gedanklichen chirurgischen Eingriff, um ihnen das Geheimnis des Stoffes der Kultur zu entnehmen. Das ist ist nicht hilfreich, wenn der Interkulturalismus den Anspruch erhebt, Beziehungen gestalten zu können. Dazu ist es notwendig, Beziehungen in ihrer performativen, lebendigen Dynamik zu beschreiben. Die Beziehungen zwischen vielen Ichs kulturell zu betrachten bedeutet aber, dass auch das Ich performativ definiert werden muss. Das eigene Ich performativ zu denken ist wie sich selbst tanzend als Tanzende in der Bewegung des Tanzes mit (einem) anderen zu erschaffen. Das Denken in Modellen ist ein Weg der Annäherung an dieses Denken. Modelle füllen die Kluft zwischen einzigartigen Erfahrungen und generalisierten theoretischen Aussagen. Sie machen die Verhältnisse als Geschichten erzählbar. Sie beschreiben Bewegungen im fühlenden Denkraum (Krejci/Bion). Sie sind veränderbar und man kann mit ihnen spielen. Modelle zeigen, wie man in einem fühlenden Denkraum mit Erfahrungen umgehen kann. Sie geben die Möglichkeit, sich weiter zu bewegen. Aus Angst vor der Stummheit und der Leere in mir konnte ich zunächst das Vorhang-Modell nicht ertragen. Ich habe mich dem KittModell angeschlossen, bei dem zwischen mir und anderen immer eine Leere klafft, zu der wir uns verhalten müssen. Ich musste die Leere in mir selbst kennenlernen, um mein Denken verändern zu können. Ich habe damit im Lernen durch Erfahrung etwas über mich selbst und mein Verhältnis zu Kulturmodellen kennengelernt. Aus der Perspektive der Selbstreflexion gesehen hat sich mein Denken verändert. Soweit habe ich mein Ziel erreicht. Ich gehe davon aus, dass in mir weitere Leerstellen warten, kennengelernt und gedacht zu werden. Aber es ist noch mehr passiert: Ich habe ein Modell geschaffen, das ein Behälter sein kann für mein kulturelles Ich. Nun kommt der Zeitpunkt, das Spiel des Scheiterns zu beenden. Turner verweist darauf, dass sich das Wort »performance« (Aufführung) vom altfranzösischen parfournier – par (gründlich) plus fournir (ausstatten) – ableitet. Aufführen habe den prozessualen Sinn von »zur Vollendung bringen« (Turner 2009, 143). Die Darstellung schreibt einer Erfahrung Bedeutung zu und bringt sie damit zu einem Ende (ebd., 25). Durch die
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Aufführung des Spiels wird die Erfahrung mit anderen geteilt und dadurch vervollständigt. Gründlich ausgestattet mit Modellen und Vertices, die ich dargestellt habe, kann ich den Prozess beenden. Die Frage Woran scheitert interkulturelle Bildung? diente dazu, der Versuchung des Abtötens des Kulturellen auf die Spur zu kommen und die Fragen offen und damit am Leben zu erhalten. Das Scheitern hatte – das habe ich erfahren – die Bedeutung, den Weg zum Spiel zu weisen. Das Spiel kann beendet werden, aber es ist eine Form, die nicht geschlossen werden kann. Sie ist offen für die Einbrüche der Zeit, des Unkontrollierbaren, des Fremden, des Unsagbaren und Undenkbaren. Huizinga zitiert Platon: »Der Mensch aber ist dazu gemacht, ein Spielzeug Gottes zu sein, und das ist wirklich das Beste an ihm. So muß er denn dieser Weise folgend und die schönsten Spiele spielend das Leben leben.« (Huizinga 2009, 230) Ich habe das Spiel in dieser Arbeit als ›Trick‹ eingeführt, um mich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf meiner Erkenntnismöglichkeiten zum Thema der Interkulturalität zu ziehen. Das Scheitern war die Referenz, die wie das 18. Kamel in der orientalischen Fabel hinzugefügt wurde und nun wieder herausfällt, nachdem das Problem gelöst und auf mehrere Vertices aufgeteilt werden konnte. Ich habe taktisch die Denkgelegenheiten aufgegriffen, die mir begegnet sind. Ich habe das Scheitern als Spiel ernst genommen. Wenn in diesem Prozess auch eine Heilung des Leidens am Scheitern stattgefunden hat, dann deshalb, weil im Spiel die Wunde immer offen gehalten und so ›gereinigt‹ werden konnte. Durch die Wiederholung und Modifikation des Scheiterns im Gedankenspiel mit kreativen Entwürfen und Modellen als Übergangsobjekten konnte ich einen Container für die Widersprüchlichkeit meiner Existenz erschaffen. Dadurch hat sich die Erfahrung des Scheiterns verändert in die Erfahrung einer Existenz als Verhältnis. Ein Vorhang hat sich gehoben und die Bühne geöffnet für eine tragische Erkenntnis des lebendigen und widersprüchlichen Seins als kulturelles Wesen. Der Raum für diese Erfahrung war immer gehalten von Menschen, die an meiner Erfahrung teilgehabt haben. Mit ihnen habe ich den Raum geteilt und mit der Leserin/dem Leser als vorgestellte Begleiter/-innen. Gleichzeitig war das Einzigartige und Unteilbare dieser Erfahrung immer im Raum präsent. Dieser Bericht ist eine Membran, die uns verbindet und gleichzeitig trennt, als Beteiligte am lebendigen Spiel des kulturellen Lernens.
6. Ein Modell für kulturelles Lernen durch Erfahrung 6.1 V on der K ultur zur kulturellen K ontak tschr anke In dieser Arbeit habe ich versucht, mein holistisches, dualistisches, individualistisches, christliches, an innen und außen orientiertes Denken zu sprengen und zu verändern. Das eigene kulturelle Ich performativ zu denken, war, um hier noch mal Devereux’ chirurgische Metapher heranzuziehen (siehe Kapitel 3.2), wie der Versuch einer Operation am eigenen Gehirn ohne Betäubung. Durch die Arbeit mit unterschiedlichen Modellen konnte ich die Erfahrung eines neuen Denkens machen. Die Konsequenzen dieses neuen Denkens auf die folgenden Leitfragen sind noch zu untersuchen: Wie passiert interkulturelles Lernen? Was kann und soll in interkultureller Bildung gelehrt und gelernt werden? Die nun folgenden Überlegungen stellen abstrakte Verallgemeinerungen des gedanklichen Experiments dar, das ich im letzten Abschnitt durchgeführt habe. Ich werde dabei wieder Modelle und Konzepte von Bion heranziehen. Bion betont, dass jede Aussage immer unter einem bestimmten Blickwinkel gemacht wird. Bions Konzept des Vertex habe ich bereits im vorangegangenen Kapitel herangezogen, um einen Vertex herauszuarbeiten, der das kulturelle Ich betrachtet. Unter diesem Vertex kann ein bestimmter Ausschnitt des Lebens betrachtet werden. Lebendige Phänomene können immer unter verschiedenen Vertices betrachtet werden, von denen keiner das Ganze erfassen kann. Im psychoanalytischen Vertex zum Beispiel betrachten wir Beziehungen unter dem Aspekt des Einschlusses und Ausschlusses. Etwas, das aus dem bewussten Denken ausgeschlossen war, soll integriert werden. Es geht um Fragen der Einheit und Trennung. »Was wird aus dem Diskurs der interkulturellen Bildung ausgeschlossen?«, war eine Frage, die von einem psychoanalytischen Blickwinkel bestimmt
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war. Sie impliziert, dass man etwas weiß bzw. wissen könnte, aber nicht wissen will bzw. am Wissen gehindert ist. Das zu Verstehende ist vorhanden, man ist aber davon getrennt. Diese Vorstellung hat mich motiviert zu suchen. In der Auseinandersetzung mit den Modellen habe ich aber eine andere Art und Weise zu wissen erfahren – Wissen als Beziehung. Das Ergebnis dieser Erfahrung besagt, dass die Betrachtung der Fremdheitserfahrung unter dem Aspekt der Differenz zwischen einem Innen und Außen des Ich und zwischen Einheit und Trennung nur eine mögliche Perspektive ist. Ich konnte den Versuch aufgegeben, Kultur als eine alles umfassende oder durchdringende, determinierende Einheit zu denken. Auch die psychoanalytische Perspektive kann keine allumfassende Erklärung des Lebens bieten. Es ist notwendig, verschiedene Vertices zur Verfügung zu haben und den Vertex wechseln zu können. Jeder dieser Blickwinkel ist relevant und jeder ist begrenzt. Der Interkulturalismus nimmt teilweise einen natur- oder sozialwissenschaftlichen Vertex ein, teilweise einen psychoanalytischen und einen religiösen Vertex. Von jedem dieser Blickwinkel aus können die interkulturelle Erfahrung betrachtet und die Fragen gestellt werden: Was sind die Phänomene, die wir Kultur nennen? Was ist das Phänomen der Fremdheit? Die Betrachtung unter dem psychoanalytischen und religiösen Vertex hat die Frage nach dem Sinn berührt. Diese Frage ist in interkulturellen Erfahrungen relevant, aber der Interkulturalismus überspringt sie, indem er die Sinnhaftigkeit der Interkulturalität einfach postuliert. Daran liegt es meiner Meinung nach auch, dass der Vertex des kulturellen Ich pseudoreligiös überlagert wird. Erst als ich die Sinnfrage bewältigt hatte, war es möglich, den Vertex des kulturellen Ich von den anderen zu unterscheiden. Neben den psychoanalytischen, den religiösen Vertex und viele andere Vertices habe ich den Vertex des kulturellen Ich gesetzt. Sein Spezifikum ist die binokulare Betrachtung des Individuellen und Überindividuellen. Unter ihm stellt sich die Frage, wie das Verhältnis zwischen Individuellem und Überindividuellem, Partikularem und Universellem und zwischen Konkretem und Symbolischem hergestellt wird. Seine Besonderheit besteht darin, das Verbinden und Trennen zu betrachten. Das kulturelle Ich bedeutet hier Ich-in-der-Welt. Die Verbindung und Trennung habe ich zuletzt unter dem Modell des Vorhangs beschrieben. Das Modell vom Vorhang führt wieder einmal zu einem Modell von Wilfred Bion zurück. Wir erinnern uns an die Alpha-Funktion (siehe Kapitel 3.3.1). Die Alpha-Funktion ist in Bions Mo-
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dell des Denkens jene Funktion, die eine Kontaktschranke bildet. Die Kontaktschranke ist eine durchlässige Membran, die bewusste Phänomene von unbewussten trennt. Die Alpha-Funktion wird im Laufe des Lebens aufgrund von Container/Contained-Erfahrungen entwickelt und wird laufend hergestellt. Um hierauf auf bauen zu können, ziehe ich nochmals Bions Definition von Funktion heran: »Ich gebe derjenigen geistigen Aktivität, die zu einer Anzahl vereint wirkender Faktoren gehört, den Namen ›Funktion‹. Einer geistigen Tätigkeit, die mit anderen geistigen Tätigkeiten vereint wirkt, um eine Funktion zu konstituieren, gebe ich den Namen ›Faktor‹.« (Bion 1992b, 48)
Bion betont, dass das Modell der Alpha-Funktion dazu dient, Aussagen über ein Phänomen machen zu können, auch wenn man (noch) keine sicheren Aussagen über die Faktoren und Zusammenhänge machen kann, die daran beteiligt sind. Ich übertrage das Gedankenmodell einer Kontaktschranke auf das Ich als Grenze, als ein Verhältnis von Individuellem und Überindividuellem. Dann ist das kulturelle Ich die durchlässige Membran, die Kontaktschranke, die das Individuelle und das Überindividuelle trennt bzw. eben in Kontakt bringt. Unter dem neuen Vertex könnten nicht nur Menschen, sondern auch Tassen, Katzen und Stühle, Texte und Feste als Kontaktschranken betrachtet werden. Da es in diesem Abschnitt um die Frage des Lernens geht, konzentriere ich mich aber auf die Menschen. Die geistige Aktivität, die diese Kulturkontaktschranke hervorbringt, ist eine Funktion aus verschiedenen Faktoren. Die Faktoren dieser Funktion stehen in einem Verhältnis zueinander und wirken vereint miteinander. Ich nenne die kulturbildende Funktion in Anlehnung an Bion KappaFunktion. Auch die Kappa-Funktion ist als Platzhalter zu verstehen für ungeklärte Zusammenhänge. Dieser Spielzug macht es möglich, einen offenen Behälter zu schaffen, um mit dem Phänomen in eine Beziehung des Kennenlernens treten zu können. Ein erstes Ergebnis der Einführung des Konzepts einer Kappa-Funktion besteht darin, zwei Funktionen unterscheiden zu können, nämlich die Alpha- und eben die Kappa-Funktion. Damit soll vermieden werden, dass Vorstellungen über das Verhältnis zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten direkt auf das Verhältnis zwischen Individuellem und Überindividuellem übertragen werden. Die Kappa-Funktion ist somit kei-
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ne Vervielfältigung der individuellen Alpha-Funktion. Insbesondere bietet sie eine Alternative dazu, Kultur als unsichtbaren, unbewussten Stoff, der sich in sichtbaren Formen ausdrückt, zu beschreiben. Die Konstruktion der sichtbaren Unsichtbarkeit führt, wie bereits diskutiert, zu unlösbaren Paradoxien. Schließlich kann durch den Fokus auf die Kulturkontaktschranke auch das trennende Denken in den Kategorien von Innen und Außen vermieden und in eine binokulare Sichtweise verwandelt werden. Gemeinsam ist beiden Funktionen, Alpha und Kappa, dass es sich um geistige Aktivitäten handelt, deren Auswirkungen an Menschen beobachtbar sind. Die Entwicklung beider Funktionen ist von den Erfahrungen, die ein Mensch in seiner Umwelt macht, abhängig. Aus ethnopsychoanalytischen Studien wissen wir, dass frühkindliche Beziehungserfahrungen sich nach Bezugsgruppen stark unterscheiden können (vgl. Parin et al. 1968, 137ff.). Parin beschreibt zum Beispiel ein »Gruppen-Ich« bei den Dogon in Westafrika, das sich von einer westeuropäischen Ich-Struktur wesentlich unterscheidet (Parin 1972). In Ethnografien lassen sich Beispiele für sehr unterschiedliche Vorstellungen davon finden, was eine Person oder ein Selbst ist (vgl. die Beispiele Java, Bali und Marokko bei Geertz 1987, 294-306). Dementsprechend kann auch davon ausgegangen werden, dass kulturelle Kontaktschranken unterschiedlicher Qualität erzeugt werden. Es sind unterschiedliche Arten und Weisen, Ich-in-der-Welt zu sein. Die Annahme einer Kontaktschranke bedeutet, dass Individuelles und Überindividuelles komplementär zueinander sind. Diese Sphären sind gegensätzlich, aber sie ergänzen einander. Was bedeutet das für mögliche Aussagen, die man vom Vertex des kulturellen Ich aus machen kann? Devereux erklärt: »Komplementarität bedeutet, daß man durch die Erzeugung eines Typs von Daten andere ausschließt.« (Devereux 1998, 350) Individuelle Erfahrungen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nie überindividuell werden können. Das Problem von überindividuellen Erfahrungen besteht darin, dass geteilte Erfahrungen die überindividuelle Qualität verlieren, sobald man individuelle Aussagen darüber macht. So wie das Unbewusste und das Bewusstsein zwei komplementäre Sphären sind, sind es auch das Individuelle und das Überindividuelle. Aussagen sind entweder bewusst oder unbewusst, sie können nicht beides sein. Eine Aussage kann aber sowohl bewusste wie unbewusste Elemente enthalten. Zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein gibt es Bewegungen, wenn Emotionen in Gedanken transformiert werden oder umgekehrt, wenn bewusste Gedanken in unbewusstes Wissen transformiert
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werden. Darauf bezieht sich der psychoanalytische Vertex. Laut Bion ist die Art der Denkbewegungen von Beziehungserfahrungen abhängig. Der Vertex des kulturellen Ich beschäftigt sich damit, wie die Kontaktschranke des Kulturellen geschaffen wird und welche Bewegungen dort stattfinden. Daran schließt sich die offene Frage an, ob es Bewegungen zwischen der individuellen und der überindividuellen Sphäre gibt und welcher Art diese sein könnten. Alle individuellen Aussagen über Bezugsgruppen sind, so folgere ich aus Bions psychoanalytischem Denkmodell, gedankliche Transformationen der frühkindlichen Beziehungserfahrungen. Die Gedanken darüber, was Ich und was überindividuell ist, entwickeln sich parallel. Der Gedanke ›Gruppe‹, ›Gemeinschaft‹, ›Gesellschaft‹, ›Ethnie‹ oder ›Nation‹ ist, von Bions psychoanalytischem Vertex aus gedacht, jeweils eine Abstraktion von Erfahrungen. Diese Erfahrungen werden in Bezugsgruppen gemacht. Sie können eben nur in Bezug zu anderen gemacht werden. Wenn ich hier von Bezugsgruppen spreche, unterscheide ich nicht zwischen direkten und indirekten, realen oder virtuellen Kontakten. Die Erfahrung der Abwesenheit der Mutter, die Erfahrung, ein Teil einer Gruppe zu sein oder auch nicht ein Teil einer Gruppe zu sein, sind unter dem Vertex des kulturellen Ich betrachtet geteilte Erfahrungen. Geteilt ist hier das Gegenteil von getrennt. Man kann auch eine Erfahrung der Trennung oder der Fremdheit teilen. Gruppen oder Kollektive sind in dieser Logik keine Träger von Kultur, sondern soziale Verhältnisse, in denen bestimmte Erfahrungen geteilt werden. Es ist für diese Betrachtung irrelevant, ob die Beteiligten die Erfahrung bewusst oder unbewusst wahrnehmen. Ich meine eine geteilte Erfahrungsgewissheit, die nicht durch die Kategorien von bewusst und unbewusst erfasst werden kann. Dem Individuum, wörtlich dem Ungeteilten, stelle ich nicht ein Überindividuum (die Summe von Individuen) sondern ein ›Dividuum‹, ein Teilbares – »Ungeschiednes« – gegenüber. Aus individueller Perspektive kann die geteilte Erfahrung eine Erfahrung der Einheit, des Ausschlusses oder der Komplementarität sein. Das Problem besteht aber darin, dass jeder individuelle Behälter nur einen Teil der geteilten Erfahrung aufnehmen kann. Die Annahme der Existenz eines Dividuums als Teilbares, bedeutet auch, dass man sich Fühlen, Denken und Handeln als geteilte Erfahrungen vorstellen kann. Man denke zum Beispiel an das Siegestor einer Mannschaft bei einer Weltmeisterschaft vor den Augen unzähliger Zuseher/-innen.
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Unter Bezugnahme auf die Gabentheorie von Marcel Mauss wird zum Beispiel das Phänomen beschrieben, dass man mit einer Gabe immer einen Teil von sich weitergibt (vgl. Mauss 1990, 35; Sorgo 2011a, 43). Das kann nun als Transzendieren des Identitäts-Ich gelesen werden oder eben als miteinander geteiltes Fühlen und Handeln im unteilbaren Erfahrungsraum. Die Kappa-Funktion dient dazu, geteilte Erfahrungen und unteilbare Erfahrungen zu unterscheiden. Sie ist keine individuelle Funktion, sondern immer eine mit anderen geteilte Funktion. Im Anschluss an Winnicot kann ich annehmen, dass die Kappa-Funktion im Übergangsraum entwickelt wird. Der kindliche Übergangsraum, so Winnicot, bleibt als potenzieller, kultureller Raum ein Leben lang erhalten, wenn die Grundfunktion einmal hergestellt wurde. Der Übergangsraum ist kein realer Raum, sondern ein Erfahrungsraum. Die Erfahrungen, die dort gemacht werden, sind gemeinsame Erfahrungen zum Beispiel von Bezugsperson und Kind. Die beiden teilen diese Erfahrung. Anders gedacht: Bezugsperson und Kind sind Teil dieser Erfahrung. Die Trennung macht aus einem Ganzen zwei getrennte, vollständige Einheiten. Die Teilung macht aus einem Ganzen zwei Halbe. Die Bezeichnung ½ als Bruch verweist auf das Verhältnis zum Ganzen. Ein Teil ist unterscheidbar vom Ganzen, bleibt aber immer ein Teil. Die Sprache ist eine solche Erfahrung, die nur geteilt existiert und dennoch einzigartig sein kann. Sprache enthält einerseits geteilte kommunikative Standards. Die spezifische Bedeutung, die eine Person einem Wort zuschreibt, hängt aber mit ihren einzigartigen Erfahrungen zusammen. Es ist wichtig, zu berücksichtigen, dass das Ich als Membran und die kulturelle Funktion Modelle im Sinne Bions sind und keine ausgearbeiteten Theorien. Im Rahmen dieser Arbeit geht es darum, ein brauchbares Modell für das Feld des interkulturellen Lernens zu entwickeln, das durch weitere Praxis und Forschung bearbeitbar ist. Zur Begründung einer Theorie müssten viele Wirkungszusammenhänge und Konsequenzen erkannt werden.1 Gegen diese Modelle kann zum Beispiel zu Recht 1 | Bisher sind auch Bezüge zu Theorien, die Anknüpfungspunkte bieten könnten, nicht näher untersucht: zum Beispiel Wittgensteins Sprachspiel (vgl. Bezzel 1996), Mauss’ Gabentheorie (Mauss 1990), Foucaults Denkfigur der Heterotopie (Foucault 1992), Elias’ Homo clausus (vgl. Elias 1995) oder Sennets Beschreibung von Zusammenarbeit (Sennett 2012). Interessant wäre es auch, weitere Theorien des Spiels (vgl. Sutton-Smith 1978, Caillois 1958) oder Philosophien
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eingewendet werden, dass die Annahme einer kulturellen Funktion eine anthropologische Sichtweise ist, die wiederum einen Determinismus beschreibt. Statt durch das Unbewusste oder die unsichtbaren kulturellen Werte sind die Menschen dann durch eine kulturelle Funktion bestimmt. Die Frage von Freiheit und Determination ist eine offene Frage nach der condition humaine. Der Nutzen dieser Betrachtung kann nur in der Möglichkeit zum Wechsel zwischen den Vertices bestehen und darin, dass diese und andere Fragen vom Vertex des kulturellen Ich aus anders gestellt werden können. Zur Veranschaulichung der Unterschiedlichkeit der Vertices kehre ich noch einmal zum psychoanalytischen Vertex zurück. Dieser fokussiert auf die individuellen, psychischen Wirkungen von Trennungserlebnissen. Damit kann ich eine Interpretation der Schwierigkeit, sich von der Vorstellung von Kultur als Stoff zu trennen, anstellen. Kultur als Stoff kann als ein Übergangsobjekt verstanden werden (siehe Kapitel 4.3.6). Wenn die Trennung vom Übergangsobjekt Kultur nicht ertragen werden kann, übernimmt Kultur als Stoff die Funktion eines gedanklichen Fetischs, an dem man festhält. Das Gleiche gilt für den Begriff der Interkulturalität. Nach Freud ist das Fetischobjekt ein Ersatz. (Er repräsentiert die Abwesenheit des Penis bei der Mutter und ist für den Jungen eine unbewusste Verleugnung dieser Wahrheit. Vgl. Kohl 2003, 101-107). Wenn die Vorstellung von Kultur als Stoff, als Objekt, als Ersatz für verleugnete Erfahrungen dient, wird eine damit verbundene Realität missrepräsentiert (d.h. zum Beispiel eine potenzielle Trennung als gefährlich erlebt). Ich erinnere damit hier nur an Bions These, dass jedes, auch das wissenschaftliche Denken von emotionellen Erfahrungen durchwoben ist. Unter dem psychoanalytischen Vertex ist diese Frage relevant. Sie ist natürlich auch auf das Modell der Kappa-Funktion anzuwenden. Allerdings hoffe ich, in dieser Arbeit transparent gemacht zu haben, aus welchen Erfahrungen heraus sich dieses Modell entwickelt hat. Dies zeigt dennoch, dass es notwendig ist, Aussagen über die Performanz des Denkens und die kulturelle Performanz zu trennen. In den kulturellen Raum werden wir hineingeboren. Wir dringen ein, wie zunächst Fremde, in ein undefinierbares Ganzes und werden ein nie trennbarer, aber einzigartiger Teil einer geteilten Erfahrung. Die »ungedes Spiels (zum Beispiel Pfaller 2002, Poltrum 2012) für eine Ausarbeitung des Ansatzes heranzuziehen.
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schiedne Gegebenheit« ist nicht »ursprünglich« (Simmel 1996, 81), wie Simmel sagt. Sie geht der Trennung von Ich und Welt nicht voraus und sie liegt auch nicht in der Zukunft, sondern sie ist und bleibt immer präsent. Im Interkulturalismus zieht die Annahme des Dualismus von Innen und Außen, von Einheit und Trennung die Forderungen nach Öffnung, Empathie und Akzeptanz nach sich. Unter dem Vertex des kulturellen Ich, wie er hier definiert wurde, muss es hingegen eine von allen Menschen geteilte Aufgabe sein, gemeinsame und individuelle Lebensbedingungen zu schaffen.
6.2 G ibt es ein interkulturelles L ernen ohne I nterkultur alismus ? Aus dem kulturellen Vertex leite ich nun einen Ansatz ab, der sich daran orientiert, das kulturelle Ich bzw. die Kappa Funktion kennenzulernen. In diesem Sinne bezeichne ich ihn als kulturelles Lernen. Da es in diesem Ansatz keine Kultur als Einheit gibt, kann es auch keine Interkulturalität und kein interkulturelles Lernen geben. Man lernt sich im kulturellen Erfahrungsraum kennen und macht Erfahrungen mit Begegnungen (auch mit befremdlichen). Bereits im ersten Kapitel wurde das Verhältnis von Kultur zu Interkulturalität diskutiert. Was interkulturelles Lernen bedeutet, hängt vom Verständnis von Kultur ab. Die im Eingangskapitel beschriebenen Ansätze gehen davon aus, dass Kultur ein »immaterieller Gegenstand« ist und Interkulturalität herstellbar und sinnvoll ist. Das habe ich als Interkulturalismus bezeichnet. Ich werde nun anhand eines Beispiels die Denkvoraussetzungen des Interkulturalismus und jene des kulturellen Lernens kontrastierend gegenüberstellen. Die Denkvoraussetzungen des Interkulturalismus existieren nicht in zusammengefasster Form, nur als ›unsichtbarer Lehrplan‹ hinter diversen Zielformulierungen. Interessanterweise habe ich viele der von mir herausgearbeiteten Grundannahmen des Interkulturalismus – Holismus, Dualismus, Individualismus, Differenz, Trennung, Heilung – auch in jenen Kapiteln des nationalen österreichischen Lehrplans für die Grundschulen wiedergefunden, die auf das soziale Lernen und den Umgang mit Differenzen Bezug nehmen. Daran lassen sich die unterschiedlichen Zugänge von differenzorientiertem, interkulturellem Lernen und kulturellem Lernen beispielhaft veranschaulichen. In Ermangelung eines ausformulierten Lehrplans
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interkultureller Bildung ziehe ich folgenden Auszug aus dem Lehrplan für die österreichischen Volksschulen heran. Die Hervorhebungen weisen auf Charakteristika des differenzorientierten Lernens hin. »2. Soziales Lernen […] Um soziales Lernen zu ermöglichen, muss die Lehrerin bzw. der Lehrer trachten, ein Klima des gegenseitigen Vertrauens und der mitmenschlichen Verantwortung zu schaffen. Klasse und Schule sollen von Lehrerinnen bzw. Lehrern sowie Schülerinnen bzw. Schülern gemeinsam als Hilfe-, Aussprache-, Arbeits-, Spiel- und Feiergemeinschaft gestaltet und erlebt werden. Der Weg führt dabei von der Entwicklung möglichst vieler positiver Ich-Du-Beziehungen über den Aufbau eines Wir-Bewusstseins zur gemeinsamen Verantwortung aller für alle. Dies gilt in der Klasse oder Lerngruppe beim Mitgestalten einer lebendigen Schulgemeinschaft und dient dem Verständnis für andere größere Sozialgebilde, wie Gemeinde, Bundesland und Österreich als Staat in Europa. Damit soll Verantwortungsbewusstsein für verschieden große Solidargemeinschaften bei den Kindern grundgelegt werden. Dies gelingt nur, wenn Vorurteile bewusst gemacht und Toleranz zu üben gelernt werden. Soziales Lernen erhält besonders große Bedeutung und Chance, wenn Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Kinder unterschiedlicher Schulstufen, Kinder mit unterschiedlicher Muttersprache, Kinder mit Behinderungen (Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf) sowie Kinder mit speziellen Bedürfnissen gemeinsam unterrichtet werden. […] 7. Individualisieren, Differenzieren und Fördern In der Grundschule unterscheiden sich die Schülerinnen und Schüler, insbesondere die Schulanfängerinnen und Schulanfänger hinsichtlich des Entwicklungsstandes des Sozialverhaltens, der Kommunikationsfähigkeit, der Selbstständigkeit, der Interessen, der Motivation, des Vorwissens, der Lernfähigkeit, der Arbeitshaltung u.a., wie kaum in einer anderen Schulart. Diese Unterschiede müssen erkannt, beachtet und zum Ausgangspunkt für individualisierende und differenzierende Lernangebote und Lernanforderungen gemacht werden. Eine verantwortungsvolle Berücksichtigung der Unterschiede schafft die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen aller Schülerinnen und Schüler und hilft mit, Über- bzw. Unterforderungen möglichst zu vermeiden. Ein das Lernen fördernder Unterricht soll in einer pädagogischen Atmosphäre von Ermutigung und Erfolgszuversicht, Geduld und Güte, Vertrauen und Verständnis, gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme erfolgen.
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Dies erfordert von der Lehrerin bzw. vom Lehrer, dass sie bzw. er sich um die bestmögliche Förderung jeder einzelnen Schülerin bzw. jedes einzelnen Schülers bemüht. Der Klassenraum soll sowohl als lernanregende Umwelt als auch als Raum für kindliches Zusammenleben gestaltet sein und eine flexible Sitzordnung ermöglichen. Jeder Unterrichtstag soll inhaltlich und zeitlich so ausgewogen gestaltet sein, dass Arbeit und Spiel, Anstrengung und Entspannung einander ergänzen und durchdringen. Maßnahmen der Individualisierung bzw. inneren Differenzierung sind im Sinne des Förderns und des Forderns zu verstehen und zu gestalten. Sie tragen dazu bei, dass die Grundschule auch die sehr wichtige Aufgabe der Begabungsförderung erfüllt. Im Rahmen der Differenzierung werden innerhalb der Jahrgangsklassen oder heterogenen Lerngruppen unterschiedliche, stets veränderbare Schülergruppierungen vorgenommen. Als mögliche Kriterien für Gruppierungen gelten: Interesse, Selbsteinschätzung, unterschiedliche Lernvoraussetzungen, Freundschaftsbeziehungen, Lerntempo usw. Differenzierungsmaßnahmen beziehen sich auf Schülergruppen und Individualisierungsmaßnahmen beziehen sich auf das einzelne Kind. Als mögliche Verfahren bieten sich u.a. an: - Unterschiede in der Aufgabenstellung (z.B. Anzahl der Aufgaben, Zeitaufwand, Schwierigkeitsgrad, Anzahl der Wiederholungen); - unterschiedliche Sozialformen; - unterschiedliche Medien und Hilfsmittel; - unterschiedliche Hilfestellung durch Lehrpersonen und Kinder. Die Realisierung der Individualisierung, der inneren Differenzierung und Förderung wird durch eine entsprechende Ausstattung der Schule bzw. der Klasse mit Arbeitsmitteln, technischen Medien, modernen Informations- und Kommunikationsmedien usw. unterstützt. Förderunterricht bietet die Möglichkeit, Lernprozesse durch gezielte Übungen, individualisierende Arbeitsweisen, intensivierte Lehrerhilfen und zeitlich längeres Verweilen an Stoffelementen zu unterstützen, einzelnen Schülerinnen bzw. Schülern den Anschluss an den Lernfortschritt der Klasse zu sichern sowie vorhandene Lücken zu schließen und einen kontinuierlichen Lernzuwachs zu ermöglichen. Die Lehrerin bzw. der Lehrer wird sich nicht nur im Förderunterricht bemühen, vor allem lernschwächeren Schülerinnen bzw. Schülern kontinuierliche Erfolgserlebnisse zu ermöglichen, die eine auf Selbstvertrauen begründete Leistungsbereitschaft entstehen lassen.
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Zur Unterstützung von Förderungsmaßnahmen sowie vor schwer wiegenden Entscheidungen soll die Schule beratende Einrichtungen in Anspruch nehmen. Wertvolle Hilfestellung wird dabei vor allem durch den schulpsychologischen Dienst erfolgen.« (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur 2010, Herv. SA)
In der folgenden Gegenüberstellung werden die beiden Zugänge verglichen und Möglichkeiten für einen Ansatz kulturellen Lernens im Sinne der Kappa Funktion entworfen. Sie erhebt keinen Anspruch darauf, die jeweiligen Denkvoraussetzungen vollständig herauszuarbeiten, sie dient lediglich der punktuellen Veranschaulichung. DIFFERENZORIENTIERTES LERNEN
›KULTURELLES‹ LERNEN
AUSGANGSPUNKT
Problem der Differenz
geteilte Erfahrungen
GEMEINSCHAFT
aus einzelnen Individuen stufenweise aufgebaut
Gemeinschaft und Ich komplementär
INHOMOGENITÄT
Trennung in wechselnde, homogenere Untergruppen
Homogenitätsgrade abgestimmt auf Aufgaben
WEG
differenzierte Förderung der Einzelnen
Entwicklung von Beziehungsfähigkeit
LERNBEDINGUNGEN
Verantwortung der Lehrperson
durch alle Beteiligten geschaffen
LEHRZIEL
Selbstvertrauen und Leistungsfähigkeit der Individuen
individuelle und gemeinsame Ziele entstehen in Wechselwirkung
Tabelle 1: Gegenüberstellung von differenzorientiertem Lernen und ›kulturellem‹ Lernen im Sinne der Kappa Funktion
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Interkulturelles Lernen leitet sich aus der Vorstellung von Kultur als ein Ganzes und von Differenzerfahrungen ab. Demgegenüber steht ein anderes Konzept des Lernens, das sich aus der Idee von geteilten und unteilbaren Erfahrungen ableitet. Letzteres habe ich als kulturelles Lernen im Sinne der Kappa-Funktion konstruiert. Es steht im Dienste des Kennenlernens dieser Kappa Funktion. Dieser Prozess besteht darin, geteilte Erfahrungen zuzulassen und ein Ich daraus heraus zu differenzieren. Sich zu differenzieren bedeutet nicht, sich trennen, sich lösen, sich emanzipieren. Es ist die Entwicklung eines Verhältnisses im Sinne einer Kontaktschranke, an der sich Beziehungsfähigkeit beobachten lässt. Beziehungsfähigkeit ist keine individuell lösbare Aufgabe. Das Ziel besteht darin, sich als Individuum zu einem einzigartigen Teil eines undefinierbaren Ganzen zu entwickeln. Dabei stellen sich sowohl Ich als auch das Ganze als Verhältnis her. Das kulturelle Lernen dient dazu, sich als Ich-in-der-Welt verhalten zu können. Das bedeutet nicht, dass dieses Verhältnis immer harmonisch ist. Es kann sich förderlich oder auch destruktiv gestalten. Aber in diesem Modell gibt es keinen »Clash« der Kulturen (Huntington 1997), ebenso wenig einen »Tanz der Kulturen« (Breidenbach/Zukrigl 2000). Beim kulturellen Lernen muss man keine kulturelle Gemeinschaft bauen, schützen oder sich davon lösen. Das kulturelle Lernen führt in keinen sicheren Hafen, in dem man irgendwann landen kann. Das kulturelle Lernen funktioniert nicht wie Tiefenbohrungen in Eisbergen oder das Schälen einer Zwiebel. Das kulturelle Lernen kann nicht gewollt und ausverhandelt werden. Das kulturelle Lernen kann nicht durch Ursache und Wirkung erklärt werden. Es folgt keiner vorgegebenen Struktur und Ordnung. Es hat keinen Zweck und hat doch Funktionen. Das kulturelle Lernen ist nicht darauf angewiesen, Unsichtbares sichtbar zu machen. Es ist nicht relevant, was am kulturellen Lernen bewusst oder unbewusst ist. Das kulturelle Lernen kennt kein Innen und Außen. Durch das kulturelle Lernen als Kennenlernen (K) wird man nie in den Besitz eines »Stücks Wissen« kommen. Aus dem kulturellen Lernen kann man nicht ausgeschlossen werden. Das kulturelle Lernen ist wie Tanzen oder Spielen. Fragil und kraftvoll. Beim Tanzen und Spielen kann man sich erfreuen, sich verbinden und etwas gestalten. Man kann gestört, beeinflusst und vereinnahmt werden. Es kann gelingen und scheitern, aber wenn die Tänzer/-innen und Spieler/-innen aufhören, sich zu bewegen, verschwinden auch der Tanz und das Spiel. Man kann über die Erfahrung des kulturellen Lernens als Tätigkeit berichten, aber nicht ›etwas über Kultur‹ lernen.
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6.3 W as k ann und soll in interkultureller B ildung gelehrt und gelernt werden ? Eines der Ziele meines Gedankenexperiments war es, die impliziten Normen des Interkulturalismus aufzudecken. Das kulturelle Lernen, wie ich es definiert habe, ist ohne Normen und Ordnung denkbar. Nur so können auch Lernziele definiert werden, die nicht normativ sind. Das kulturelle Lernen verstehe ich als einen Modus der menschlichen Existenz, als eine Art und Weise Ich-in-der-Welt zu sein. Der Vertex des kulturellen Lernens kann vom sozialwissenschaftlichen, psychologischen, religiösen, ökonomischen und politischen Vertex abgegrenzt werden. Damit wird die Existenz und Relevanz sozialer Normen und Ordnungen nicht bestritten. Ihre Entwicklung ist aber nicht unter dem Vertex des kulturellen Lernens, sondern zum Beispiel unter dem sozialwissenschaftlichen oder politischen Vertex zu betrachten. Die Vereinnahmung aller dieser Blickwinkel unter dem Terminus Kultur führt zu unlösbaren Problemen. Unter dem politischen, insbesondere dem nationalen staatspolitischen Vertex stellen sich zum Beispiel Fragen der Einheit und des Ausschlusses, der Norm und der Form der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Politische Fragen sind durch Willensentscheidungen zu beantworten. Ich gehe davon aus, dass kulturelles Lernen in jeder menschlichen Entwicklung stattfindet. In den geteilten Erfahrungen werden Normen und Ordnungen transportiert. Aber das kulturelle Lernen ist weder das Mittel zur Erzeugung dieser Normen noch ist eine neue Ordnung Ergebnis des Lernens. Die Vermischung des politischen Vertex mit jenem des kulturellen Lernens führt dazu, dass politische Fragen unentscheidbar werden und dass kulturelle Fragen ideologisch beantwortet werden. Das Problem des Rassismus und der Xenophobie ist zum Beispiel, wie Zygmunt Bauman in seinem beeindruckenden Essay Dialektik der Ordnung zeigt, keine Frage der Bildung und keine Frage der mangelnden rationalen Ordnung. Die Ordnung, auch die Bildungsordnung, kann mit jedem Inhalt gefüllt werden. Der Rationalismus, der den aufklärerischen Bildungsgedanken trägt, war nicht im Stande, den Holocaust zu verhindern (vgl. Bauman 2002, 31). Die gebildeten Schichten waren ebenso Träger des Dritten Reiches wie weniger Gebildete. Bauman zeigt auch, wie eine Ordnung durch eine andere ersetzt werden kann. Der Rassismus muss als politisches Problem behandelt werden. Jede/r ist dafür verantwortlich, sich dafür einzusetzen, dass die jeweilige Ordnung mit den In-
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halten gefüllt wird, die ein gutes Zusammenleben ermöglichen. Dafür müssen überzeugende Argumente gesammelt werden. Die Xenophobie ist ein verbreitetes psychisches Problem, das nach politischem Handeln verlangt. Beide Probleme können nicht durch Bildungsmaßnahmen beseitigt werden. Solche Ansprüche führen zu ideologischen, pseudoreligiösen oder therapeutischen Überlagerungen von Lernsettings. Interkulturelle Bildung, die den Anspruch zu heilen hat, lässt sich zum Mittel einer utopischen »therapeutischen Politik« (de Certeau 1988, 344) angesichts moderner Sinnkrisen missbrauchen. Unter dem Vertex des kulturellen Lernens ist zum Beispiel das Dritte Reich als geteilte und unteilbare Erfahrung zu verstehen. Die geteilte Erfahrung sorgt für Kontinuität der Inhalte, auch wenn die politische, soziale, moralische Ordnung zerbricht. Die kulturelle Performanz, der kulturelle Tanz, kann nicht aufhören. Die geteilte Erfahrung wurde performativ weiter entwickelt. Man kann zum Beispiel am Selbstverständnis der heute in Deutschland und Österreich lebenden Generationen erkennen, wie unterschiedlich das Ergebnis solcher Prozesse ausfallen kann. Es gibt keine Grenzen, die einen solchen Prozess umschließen. Ein solcher Prozess ist durch kulturelles Lernen nicht gezielt steuerbar oder vorhersagbar. Das kulturelle Lernen dient auch nicht der rückwirkenden Bewältigung. Kulturelle Performanz ist ein immer gegenwärtiges Werden (zum Werden vgl. auch Berger et al. 2003). Es handelt sich um geistige Aktivitäten, deren Spuren an Individuen beobachtbar sind. Ebenso wie der Holocaust sind heute Diskriminierung, Ausbeutung und Ausgrenzung im Zusammenhang mit Migration einerseits Ausdruck politischer Interessenslagen (politischer Vertex) mit Auswirkung auf die psychische Situation der Beteiligten (psychoanalytischer Vertex). Andererseits können sie unter dem kulturellen Vertex als geteilte und unteilbare Erfahrungen von Zugewanderten, Ansässigen und Zurückgebliebenen verstanden werden. Sie alle sind Be-teiligte der kulturellen Performanz, die die Verhältnisse des Zusammenlebens hervorbringt. Da die kulturelle Performanz (die Entwicklung der Kappa-Funktion) nicht steuerbar ist, kann das einzige Ziel einer kulturellen Bildung darin bestehen, das kulturelle Lernen von den Überlagerungen durch die anderen Betrachtungsweisen zu befreien. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung, den Vertex des kulturellen Ichs nicht absolut setzen zu wollen. Dies ist nur möglich, wenn verschiedene Vertices zur Verfügung stehen. Was Erika Krejci für die psychische Realität sagt, gilt auch für die kulturelle Performanz:
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»Die Fähigkeit, den Facettenreichtum der psychischen Realität zu erleben, die verschiedenen Ebenen der Verbundenheit zuzulassen, […] ohne eine dieser Beziehungsformen, die zugleich Realitätsebenen sind, ein für allemal zu verabsolutieren, würde als Charakterisierung zu Huizingas Homo ludens passen.« (Krejci 1992a, 18, Herv. i.O.)
Damit ist wieder der Bogen gespannt zum Spiel und zu den experimentellen Übergangsräumen, in denen spielerische Erfahrungen kultureller Performanz möglich sind.
6.4 L ernen durch E rfahrung in Ü bergangsr äumen Das Konzept des Übergangsraums hat Winnicot anhand der Beobachtung von Kleinkindern entwickelt. Ich möchte zunächst die Voraussetzungen für einen Lernraum im Sinne eines Übergangsraums herausarbeiten, um daraus Bedingungen für ein kulturelles Lernen abzuleiten. Für die Entwicklungsmöglichkeit eines Kleinkindes ist nach Winnicot eine haltende Umgebung wesentlich. Er spricht von der Mutter, die »ausreichend gut« ist. Sie beginnt mit einer vollständigen Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes und nimmt diese dann allmählich zurück, wenn das Kind auch Versagung ertragen kann (Winnicot 1983, 312). Ein sozialer Übergangsraum, in dem Entwicklung möglich sein soll, muss also durch anwesende Bezugspersonen ausreichend Halt und Sicherheit bieten. Er soll auch die Erfahrung ermöglichen, mit dem Versagen der Bezugspersonen fertig zu werden. Für Winnicot ist ebenso wie für Huizinga die wichtige kulturstiftende Erfahrung das Spiel. Auch die Erfahrung, die ich im Rahmen dieser Arbeit mit dem Spiel als Modell gemacht habe, legt es nahe, mir den Übergangsraum als Raum zum Spielen vorzustellen, in dem Erfahrungen kultureller Performanz möglich sind. Der soziale Raum, von dem wir sprechen, braucht auch einen örtlichen Raum und einen Zeitraum. Probleme treten auf, wenn das Lernen als Zweck nach Ergebnissen verlangt. Die strengen Ansprüche an die Zweckfreiheit des Spiels (Huizinga) grenzt Popitz ein: »Spiel als Tätigkeit, die Spaß macht und freiwillig gewählt wird; die oft nicht frei von materiellen Interessen und Motiven der Daseinssorge ist, aber auch als Erfüllung in sich selbst empfunden wird.« (Popitz 2000, 61) Es ist also wichtig, einen zweckfreien Kern des Lernens zu erhalten. Die Freiwilligkeit und die Freude sind dafür wich-
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tige Voraussetzungen. Das Spiel soll nicht das Instrument zum Zweck der Problemlösung und der Beseitigung des Leidensdrucks sein, aber es kann problemlösende und befreiende Wirkung haben. Therapeutische oder pädagogische Absichten der »haltenden« Personen wären ebenfalls im Widerspruch zur Zweckfreiheit des Spiels. In Lernsettings sind es die Lehrenden wahrscheinlich nicht gewohnt, eine zweckfreie Haltung einzunehmen. Eine künstlerische Haltung oder eine freie wissenschaftliche Neugierde kommen dieser Haltung wohl am nächsten. Das Spiel als Erfahrung kultureller Performanz ist eine Erfahrung des Kennenlernens (K). Hier besteht kein Unterschied zwischen den »haltenden« und den spielenden Personen, auch wenn jeweils unterschiedliche Erfahrungen des Kennenlernens zu erwarten sind. Alle sind am Spiel beteiligt. Die Form des freien Spiels ist die Form des frühkindlichen Spiels, die für die Entwicklung der Kappa Funktion am bedeutendsten ist. Winnicot nimmt an, dass »Kulturerfahrungen sich direkt aus dem Spiel ableiten, und zwar aus dem Spiel derjenigen, die noch nie von Spielregeln gehört haben.« (Winnicot 2010, 116) Es handelt sich, um Turners Termini zu verwenden, um das unorganisierte »pädiarchische« Spiel, das sich vom »pädagogischen« Spiel unterscheidet (Turner 2009, 60, Herv. SA). Die Bedingungen dieses Spiels sind daher von den spielerischen Methoden interkultureller Trainings abzugrenzen, die als Simulationen darauf abzielen, bestimmte Erfahrungen für pädagogische Zwecke hervorzurufen. Lernen durch Erfahrung in kultureller Performanz ist ein Prozess des Kennenlernens (K). Man kann dabei kein »Stück Wissen« besitzen. X ist dann dabei Y kennenzulernen und umgekehrt. Kulturelles Lernen ist ein Prozess in Beziehung. Das Lernen, das dabei möglich ist, ist ein »medialer Akt« (siehe Kapitel 4.2.1.2). Man ist daran beteiligt, nicht rein aktiv aber auch nicht rein passiv. Als Spieler/-in spielt man, aber etwas oder jemand spielt zurück. Die Selbstreflexion als Lernen in Beziehung zu sich selbst wird weiterhin zu spät kommen. Wo wir uns auf Spiegelungen einlassen, finden Abstürze statt. Das haben wir mit Herta Müller eindringlich erfahren. Im Spiel geht es darum, das Ich, das die Sehnsucht und Gewohnheit hat, sich zu spiegeln, anders zu beschäftigen. Im Spiel kann auch unsere Vorstellungskraft, die sonst ins Verborgende drängt, beschäftigt sein. Im Spiel kann man Erfahrungen mit Übergangsobjekten machen. Im Spiel tritt man aus sich heraus, aber gleichzeitig in sich hinein. Das Spiel ist die freiwillige Selbstverpflichtung zu Präsenz und zu Performanz. Spielen bedeutet, sich an der kulturellen Performanz zu
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beteiligen, die immer präsent ist. Huizinga zufolge geht die Präsenz des Spiels der Kultur voraus: »Wer den Blick auf die Funktion des Spiels richtet – nicht wie sie im Tierleben und im Leben des Kindes, sondern in der Kultur sich äußert –, der hat das Recht, den Spielbegriff dort anzupacken, wo die Biologie und die Psychologie mit ihm fertig sind. Er findet das Spiel in der Kultur als eine gegeben Größe vor, die vor der Kultur selbst da ist und sie von Anbeginn an bis hin zu der Phase, die er selbst erlebt, begleitet und durchzieht.« (Huizinga 2009, 12, Herv. SA)
Spielen als Erfahrung kann auch naturwissenschaftlich und psychologisch betrachtet und für politische Zwecke eingesetzt werden. Im Spiel kann aber auch die kulturelle Performanz erfahren werden. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich diese Erfahrung gemacht. Unter dem Vertex des kulturellen Ich ist es nicht angebracht, inhaltliche Ziele für das Lernen abzuleiten. Wertvolle Anregungen für eine Umsetzung finden sich aber bei Victor Turner, der sich mit dem Ritual, dem Theater, dem Spiel und sozialen Dramen auseinandergesetzt hat (vgl. Turner 2009; Turner 2005). Turner schildert die Erfahrungen, die er mit einer »performativen« Ethnologie gemacht hat (Turner 2009, 140160): Ausgehend von seiner Theorie der »Liminalität«, die die verändernde Wirkung von Übergangsriten in traditionellen Gesellschaften (z.B. zum Wechsel von einem sozialen Status in einen anderen) beschreibt, zieht er Schlussfolgerungen auf die Wirkungen von ähnlichen (»liminoiden«) sozialen Formen in Industriegesellschaften. »Liminale« Zustände sind Schwellenzustände. Menschen, die solche Zustände, zum Beispiel bei einem Übergangsritual, erleben, nennt Turner »Schwellenwesen«. »Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.« (Turner 2005, 95) In einer Phase der Liminalität »spielen« die Schwellenwesen kreativ mit den Symbolen und Klassifikationen, die sonst fixiert sind (Förster 2002). Das Theater könne auf freiwilliger Basis ähnliche (»liminoide«) verändernde Zustände hervorrufen wie die verpflichtenden Rituale (Turner 2009, 66). Turner ließ in einem Experiment Studierende der Ethnologie und der Theaterwissenschaften gemeinsam ethnografische Texte aufführen, die in Bühnenstücke umgeschrieben worden waren.
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Danach kehrten sie zur Reflexion über die Ethnografien zurück. Daraus ergaben sich erste Ergebnisse (Turner 2009, 140-160): Das Spiel müsse über das Nachahmen von Verhalten (mimesis) hinausgehen und müsse so angeleitet werden, dass die Spielenden ihre Rollen tatsächlich aus sich heraus erschaffen (poiesis). In diesem Fall seien verändernde Schwellenerfahrungen möglich. Das Theaterspiel fordere eine kontrollierte Selbstaufgabe. Die Abkehr von der reinen Objektivität durch eine dynamische Erforschung der Kultur sei angemessen, da die Ethnologie es mit dem lebendigen Menschen zu tun habe. Das Experiment Turners hat meines Erachtens eine Nähe zu pädagogischem und therapeutischem Spiel, weil es gezielt eine Veränderung der Sichtweise der Studierenden anstrebt. Es darf auch nicht übersehen werden, dass vorübergehende »liminale« Zustände nur ein »kurzes, subversives Aufflackern« (Turner 2009, 69, Herv. i.O.) sind und im Dienste der dauerhaften Erhaltung einer Ordnung stehen. Die Verbreitung von »liminoiden« Zuständen (genauer Turner 2009, 83-87) durch die Unterhaltungsindustrie, die Medien und die ›Märkte‹ in den postmodernen kapitalistischen Gesellschaften deute ich als Faktor, der langfristig gesehen die herrschende Ordnung erhält. Diese Aspekte sind vom politischen Vertex aus kritisch zu betrachten. Aufgrund der Ähnlichkeit der Begriffe möchte ich noch mal abgrenzen: Die Denkfigur des kulturellen Ich oder Ich als Membran ist nicht gleichbedeutend mit einem Ich im zeitlich vorübergehenden Zustand der Liminalität. Auch der Übergangsraum (Winnicot) ist kein Raum, in dem ein Übergang zwischen einer Ordnung und einer anderen erfolgt. Aber die Erfahrung im Spiel – so die begründete, abschließende Hypothese dieser Arbeit–, die manchmal auch die Erfahrung der Liminalität umfasst, ist eine adäquate Möglichkeit, um das Wechselspiel von Individuellem/Partikularem und Überindividuellem/Universalem, von Konkretem und Symbolischem kennenzulernen. Das Beispiel kann aber als Ausgangspunkt für weitere Experimente mit dem Theaterspiel als Methode des kulturellen (Kennen-)Lernens dienen, um Aufschluss über Potenziale und Grenzen dieses Ansatzes zu erbringen: Wie spielen die Spieler/-innen eventuelle pädagogische Absichten zurück? Welche Krisen treten in solchen Experimenten auf? Wie unterscheidet sich das Spiel mit und ohne Publikum? Welche institutionellen Rahmenbedingungen fördern oder zerstören die Möglichkeiten spielerischer Experimente? Darüber hinaus bieten sich auch andere Spiel-
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formen als Erfahrung kultureller Performanz im Dienste des Kennenlernens (K) für Experimente und Praxisforschung an: künstlerische Performances, dramatische Lesungen, Feste, philosophische Erkundung von Grenzen, Erfindung von Ritualen, musikalische Aufführungen, Breakdance Battles u.a. Der Einwand, mit diesem Ansatz würde die Vorstellung gefördert, dass es ›kulturelle Räume‹ gibt, die frei von politischen oder ökonomischen Ordnungen und ihren Machtwirkungen sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb betone ich nochmals, dass der Vertex des kulturellen Lernens nicht beansprucht, mehr zu sein als ein spezieller »Wahrnehmungssinn«, der versucht, einen bestimmten Ausschnitt der Multidimensionalität lebendiger Phänomene wahrzunehmen. So wie man jeweils einen anderen Ausschnitt wahrnimmt, je nachdem ob man einen anderen Menschen sieht oder hört. Es kann aber die Wahrnehmung verändern, wenn man sich zeitweilig die Augen zuhält, um genauer hinhören zu können. Erika Krejci hat betont, dass der Homo ludens, der Mensch, der mit diesen verschiedenen Vertices spielt und zwischen verschiedenen Realitätsebenen wechseln kann, am ehesten dazu in der Lage ist, auf Verabsolutierungen zu verzichten.
6.5 D er V orhang fällt Der Weg An den Grenzen der interkulturellen Bildung hat vom Scheitern zum Spiel und weiter zum kulturellen Lernen in Übergangsräumen geführt. Eine Wegbeschreibung liegt vor. Ich habe Fortbewegungsmittel kennengelernt, mit denen ich mich aus den Problemen des Interkulturalismus herausbewegen konnte. Michel de Certeau, ein schon oft erwähnter Wegbegleiter, spricht in Zusammenhang mit Durchquerungen des Raumes von Verkehrsmitteln: »Im heutigen Athen heißen die kommunalen Verkehrsmittel metaphorai. Um zur Arbeit zu fahren oder nach Hause zurückzukehren, nimmt man eine ›Metapher‹ – einen Bus oder einen Zug.« (de Certeau 1988, 215, Herv. i.O.) Ich habe Modelle als Verkehrsmittel genommen und sie als Mittel des binokularen Weiterdenkens in einem fühlenden Denkraum verwendet. Sie verkehren wie die metaphorai auf kleinen Strecken. Mit einem kommunalen Verkehrsmittel umrundet man nicht die ganze Welt. Wie bei einem lokalen Bus muss man nach einigen Stationen umsteigen und lernt dabei die Umgebung kennen.
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Der Horizont der Interkulturalität verleitet dazu, die Reichweite der eigenen Bewegungsmittel ausdehnen zu wollen. Modelle sind äußerst nützlich, um sich von einer Erfahrung zur nächsten zu bewegen. Gerade weil sie so nützlich sind, will man sie aber auch verwenden, um die Gesamtheit der Erfahrungen einzuholen, die gemeint sind, wenn von Kultur die Rede ist. Kultur als Eisberg, als Zwiebel, als Computer, als Fluss oder als Spiel – mit jedem dieser Modelle kann man von Erfahrungen im Kontext von Fremdheit berichten. Sie dienen zum Weiterdenken und -sprechen. In dem Moment aber, in dem das Subjekt der Erfahrung aus dem Bericht verschwindet, findet die zu Beginn mit den Landkarten beschriebene »totalisierende Planierung der Beobachtungen« (de Certeau 1988, 222) statt. Es ist der Wechsel vom Typus der Wegbeschreibung zum Typus der Karte, welche ›die Welt‹ zeigt, aber nicht mehr erzählt. Der Eisberg und alle anderen Modelle werden dann verwendet wie moderne Landkarten, mit deren Hilfe ein Ich die gesamte Welt überblicken will. Es ist möglich, den Begriff Kultur zu verwenden und als menschliches Subjekt in der Welt aufzutreten. Das Subjekt kann sagen, was es meint. ›Mit Kultur meine ich etwas, das ich erlebt habe, als ich mit anderen spielte oder bestimmte Konflikte hatte.‹ Das sind Sätze mit menschlichem Subjekt, die bestimmte Erfahrungen beschreiben. Das eine Modell schließt das andere Modell nicht aus. Kultur selbst kann nicht erfahren werden, aber die Multidimensionalität dessen, was wir meinen, wenn wir von Kultur sprechen, kann erfahren werden. Ich habe über lange Zeit mit Kultur die Erfahrung gemeint, dass ich in meinem Denken gefangen bin. Ein anderes Denken wurde möglich, als ich begann, diese Denkerfahrung in Modellen zu beschreiben. Durch den Umgang mit bereits bekannten Modellen konnte ich ihre Funktionen kennenlernen und begann, selbst zu modellieren. Das spielerische Verändern von Modellen hat mehrere Übergänge eröffnet, die sich nun für weitere Erfahrungen anbieten: • • • • • • • •
von den Landkarten zu den Wegbeschreibungen, von ›Was ist …?‹ zu ›Wie geht …?‹, von der Erkenntnis zum Kennenlernen, vom Stück Wissen zum Wissen als Beziehung, vom rationalen zum binokularen Denken, vom archimedischen Punkt zum fühlenden Denkraum, von der Trennung zur Beteiligung, vom verlorenen Paradies zum Übergangsraum,
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von der Strategie zur Taktik, vom Gegenstand zur Tätigkeit, vom Modell zum Modellieren, von der Ohnmacht zum Tun, von der Allmacht zur Bescheidenheit, vom Relativismus zur Relation, von Ich und Welt zu Ich-in-der-Welt, vom Scheitern zum Spielen.
Der Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit interkultureller Bildung waren Fremdheitserfahrungen. Am Ende des Versuchs einer nova descriptio, einer neuen Beschreibung interkultureller Bildung hat sich das Verhältnis zur Fremdheit verändert. Der Fremde ist »eine unauslöschlich ambivalente Entität, die quer über einer umkämpften Barrikade sitzt […], die eine Grenzlinie verwischt, die für die Konstruktion einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung oder einer bestimmten Lebenswelt grundlegend ist. […] Er steht zwischen Freund und Feind, Ordnung und Chaos, dem Innen und dem Außen. (Bauman 2005, 104, Herv. i.O.)
Es ist der Fremde, der sich an der Grenze aufhält. Er droht an der Ordnung zu scheitern. Die Ordnung droht an ihm zu scheitern. In der Fremdheitserfahrung und im Sich-selbst-Fremdwerden tritt die Angst zutage, in einen Abgrund gerissen zu werden. Aber an den Grenzen findet dauernde Bewegung statt. Es gilt, die Fortbewegungsmittel aufzuspüren, die man braucht, um mit der Bewegung mitzugehen.
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Dank
Mein ganz herzlicher Dank geht an Univ. Prof. Dr. Wilhelm Berger und Univ. Dozin. Dr in. Gabriele Sorgo für die Betreuung und Ermutigung bei der Durchführung des Dissertationsprojekts. Den förderlichen, institutionellen Rahmen dafür schuf Univ. Prof. Dr. Werner Lenz als Leiter des DoktorandInnen-Kollegs »Lebenslanges Lernen«. Christine Hardung verdanke ich den wegweisenden Denkanstoß, das Scheitern in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen. Mein besonderer Dank für Unterstützung bei der Publikation gilt Ralf Aydt, Jacob Guggenheimer, Milica Jankovic, Gabriella Könczei und Lil Reif. Sabine Aydt Wöllersdorf, im September 2014
Kultur & Konflikt Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratkovic (Hg.) Kulturelle Dimensionen von Konflikten Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnizität 2010, 198 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1367-4
Daniela Gronold, Bettina Gruber, Jacob Guggenheimer, Daniela Rippitsch (Hg.) Kausalität der Gewalt Kulturwissenschaftliche Konfliktforschung an den Grenzen von Ursache und Wirkung 2012, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1987-4
Jacob Guggenheimer, Utta Isop, Doris Leibetseder, Kirstin Mertlitsch (Hg.) »When we were gender...« – Geschlechter erinnern und vergessen Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer-Theorien und feministischen Politiken 2013, 360 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2397-0
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2014-11-27 16-41-33 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0185383509915906|(S.
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Kultur & Konflikt Utta Isop, Viktorija Ratkovic (Hg.) Differenzen leben Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion 2011, 266 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1528-9
Utta Isop, Viktorija Ratkovic, Werner Wintersteiner (Hg.) Spielregeln der Gewalt Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Geschlechterforschung 2009, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1175-5
Erol Yildiz, Marc Hill (Hg.) Nach der Migration Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft Dezember 2014, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2504-2
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