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German Pages X, 422 [414] Year 2020
Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen
Matthias Waltz
Identifikation, Begehren, Gewalt Kulturwissenschaftliche Studien zu den konstitutiven Elementen von sozialen Bindungen. Herausgegeben von Juliane Rytz
Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen Reihe herausgegeben von Jörn Ahrens, Universität Gießen, Gießen, Deutschland Jochen Bonz, Katholische Hochschule NRW, Münster, Deutschland Ulrike Vedder, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Annette Vowinckel, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam, Deutschland
Kultur gilt – neben Kategorien wie Gesellschaft, Politik, Ökonomie – als eine grundlegende Ressource sozialer Semantiken, Praktiken und Lebenswelten. Die Kulturanalyse ist herausgefordert, kulturelle Figurationen als ebenso flüchtige wie hegemoniale, dynamische wie heterogene, globale wie lokale und heterotope Phänomene zu untersuchen. Kulturelle Figurationen sind Produkt menschlichen Zusammenlebens und bilden zugleich die sinnstiftende Folie, vor der Vergesellschaftung und Institutionenbildung stattfinden. In Gestalt von Artefakten, Praktiken und Fiktionen sind sie uneinheitlich, widersprüchlich im Wortsinn und können doch selbst zum sozialen Akteur werden. Die Reihe „Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen“ untersucht kulturelle Phänomene in den Bedingungen ihrer Produktion und Genese aus einer interdisziplinären Perspektive und folgt dabei der Verflechtung von Sinnzusammenhängen und Praxisformen. Kulturelle Figurationen werden nicht isoliert betrachtet, sondern in ihren gesellschaftlichen Situierungen, ihren produktionsästhetischen und politischen Implikationen analysiert. Die Reihe publiziert Monographien, Sammelbände, Überblickswerke sowie Übersetzungen internationaler Studien.
Weitere Bände in der Reihe: http://www.springer.com/series/11198
Matthias Waltz
Identifikation, Begehren, Gewalt Kulturwissenschaftliche Studien zu den konstitutiven Elementen von sozialen Bindungen. Herausgegeben von Juliane Rytz
Autor Matthias Waltz Wiesbaden, Deutschland
Hrsg. Juliane Rytz Mülheim an der Ruhr, Deutschland
ISSN 2567-4242 ISSN 2625-0896 (electronic) Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen ISBN 978-3-658-10413-9 ISBN 978-3-658-10414-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort der Herausgeberin
Die Arbeit an diesem Buch hat eine sehr lange Geschichte. Sie reicht zurück bis in die späten Neunzigerjahre. Als junge und begeisterte Studentin der Kulturwissenschaften begegnete ich Matthias Waltz damals als einen der wichtigen Repräsentanten des Studiengangs. In der just etablierten Veranstaltung Einführung in die Kulturwissenschaften waren letztere in die Bereiche Kulturgeschichte, Ethnologie, Cultural Studies und Popkulturtheorie gegliedert, was sich aus den Forschungsschwerpunkten der Professorinnen und Professoren ergab. Matthias Waltz vertrat die Popkulturtheorie, was sicherlich mit seinem damaligen Tutor Jochen Bonz und dessen Interessenschwerpunkten zusammenhing und dann auch zu einem Forschungsgegenstand von Waltz in dieser Zeit wurde.1 Rasch geriet ich in den Sog des Denkens und der Ideen von Matthias Waltz, betrafen diese doch die ganz grundlegende Frage nach den Bedingungen des Seins im Hier und Jetzt – und damit auch danach, wie und warum ich die war, die ich damals war, und wie die Welt um mich herum zu lesen sei. In dieser Zeit war bei uns Studierenden (wir waren damals noch Studentinnen und Studenten) das Gefühl vorherrschend, in eine Zeit der Stagnation und Langeweile hineingewachsen zu sein, die Postwendezeit war irgendwie ohne Vision, die Spannung durch die Gegensätze des Kalten Kriegs war verschwunden und hatte sich aufgelöst in eine nun global gültige Marktwirtschaft, und sogar die SPD machte mit. Auch Nirwana und die Indie-Grunge-Welle hatten keine neue Jugendbewegung ausgelöst und unsere Generation – man ordnet sie unter dem Buchstaben X
1Vgl.
Kap. Zwei Topografien des Begehrens: Pop/Techno mit Lacan; vgl. auch den 2002 erschienenen Band Popkulturtheorie von Jochen Bonz. V
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Vorwort der Herausgeberin
zwischen Babyboomern und Y ein – befand sich in einer Art Niemandsland. Und insofern wurde „Nirwana“ eben doch zum Signifikanten einer Ära … Zugleich war aber an der Uni Bremen noch zu spüren, dass es vormals mehr Revolte, mehr Reibungsfläche, einfach „mehr Bedeutung“ gegeben hatte. Der revolutionäre Geist war nicht nur in Graffiti und Geschichten um die Gründung der „roten Kaderschmiede“ aufbewahrt, sondern wurde uns auch von unseren „Profs“ zugetragen, die noch zur ersten Generation von Lehrenden der 1971 gegründeten Institution gehörten. Das erste Semester war dann bestimmt von einem alle mitreißenden (im Übrigen aber bundesweiten) Streik gegen die damals politisch diskutierte Einführung der Studiengebühren und die miserablen Zustände an Universitäten. Auch wenn es sich um eine bundesweite Bewegung in diesen Herbstmonaten handelte, wurde für mich und viele andere eine Anknüpfung an etwas, was schon längst Geschichte war, flüchtig möglich, und Bremen, die Uni und ihre Akteure, hatte somit seit diesem Wintersemester 1997/1998 den Nimbus einer Verheißung. Die Lehren von Matthias Waltz sind für mich darin einsortiert und damit verknüpft. Um zu verstehen, warum sich Bedeutung und mit ihr Bedeutsamkeit entzogen, muss man sehen, woraus sie gemacht gewesen waren. Und damit beschäftigte sich Waltz mit uns angehenden Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern, indem er, vor allem ausgehend vom „frühen“ Lacan und von den Theorien des Tauschs von Mauss und Lévi-Strauss, erläuterte, wie in der „Alten Welt“ „Subjekte“ hergestellt wurden. Er zeigte uns auch, was von diesen Mechanismen und dem Material, die für die Herstellung grundlegend waren, in der Gegenwart fehlt und infolgedessen in andere Funktionsträger und -weisen umorganisiert wurde. Seinen Denkpfaden folgend, begann ich zu verstehen, dass, da mit diesem Prozess funktionierende Systeme umgebaut worden waren, jene eigenartigen Effekte in der Gegenwart entstanden, die mich und uns umstellten: Effekte der Leere, Beliebigkeit, Verlorenheit … Die Hochmoderne/ Postmoderne lässt keine durchgängig angenehme Lebenswelt entstehen, vielmehr ist sie von vielen Irritationen und sogar Wahrnehmungen von Selbstverlust geprägt; der Dritte Raum (Bhabha) ist nicht unbedingt ein angenehmer Ort. Es war faszinierend, Waltz’ Ausflügen in die Gegenwartskultur zu folgen und letztere durch die von ihm angebotene „Brille“ wahrzunehmen – und analytisch durchzudenken. Die dafür notwendige wissenschaftliche Ausrüstung, die auf Lacan basierende Theoriebildung, war anspruchsvoll, aber Waltz’ Fragen waren dafür umso klarer, schärfer, evident, die Art und Weise, wie er Gedanken zu diesen Themen ent-
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wickelte, war von einer eigenwilligen und überzeugenden Logik.2 Vor allem aber waren die (Forschungs-)Fragen in ihrer Relevanz so fundamental, dass sie mich und viele seiner Wegbegleiterinnen und -begleiter seitdem nicht mehr losgelassen haben. Ich habe die Brille niemals wieder abgesetzt und frage mich bis heute, warum die von ihm aufgeworfenen, doch so wichtigen Fragen in dieser Weise nur selten gestellt werden. Es sind grundlegende Fragen, wie: Warum „flottieren die Signifikanten“ eigentlich, wie ist es zu der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) gekommen, und wie (über-)lebt man in einer narzisstisch strukturierten Welt? Welche Auswirkungen hat die Ablehnung früherer identitätsstiftender Kategorien (Gender, Rasse, Stand, politische Systeme, Religion usw.) auf gegenwärtige, worauf fußt diese Zurückweisung und, vor allem, womit und wie identifizieren wir uns jetzt? Tragen uns diese neuartigen Identifikationen und führen sie zu andersartigen Subjekten oder zerstören sie Subjekte? Als Literaturwissenschaftlerin blickte ich mithilfe von Matthias Waltz durch Romane der Neunzigerjahre auf eine Kultur der Gegenwart, die immer noch bestimmt war von gewissermaßen ent-subjektivierten Subjekten, die durch Überschreitung der Körpergrenzen Kompensation suchen.3 Ganz persönliche Suchbewegungen verbanden sich eng mit theoretischem Handwerk und spezifischen Forschungsfragen, angeregt, begleitet von einem, den all diejenigen, die sich mit seinem Denken auseinandergesetzt haben, für einen der wichtigen Kulturtheoretiker der Gegenwart halten. Aufgrund dieser Überzeugung habe ich bereits in den Nullerjahren damit begonnen, seine Schriften zusammenzutragen und für dieses Buch zusammenzustellen. Dies war ein längerer Prozess und keine leichte Aufgabe, da sein Werk bislang schlecht zugänglich war, bestehend aus an verschiedensten Orten publizierten Artikeln, teilweise unveröffentlichten Vorträgen sowie seinem Hauptwerk Die Ordnung der Namen (1993). Nun endlich in einen Zusammenhang gestellt, ergeben sie jedoch ein lebendiges und konzises Bild seines Denkens und münden geradewegs in eine genuine Kulturtheorie. Die Leere und die Unbestimmtheit lassen sich für mich und viele meiner Generation nie gänzlich abschütteln. Aber dank Waltz verstehe ich auch persönlich die Koordinaten besser, die mich als Subjekt bestimmen. Das Werk ist vor allem eine Grundlage für weitere Explorationen unserer Gegenwartskultur. 2Dieser
Rahmen bzw. für Waltz sehr bezeichnende Ansatz war auch leitend für das 2015 mit ihm geführte Interview, s. Kap. Diffuses Nichtwissen in die Form artikulierter Fragen bringen ... 3Vgl. hierzu meine Dissertation mit dem Titel „Die Sprache ist eine Haut“. Subjektivierung entlang versehrter Körpergrenzen in der Gegenwartsliteratur. https://elib.suub. uni-bremen.de/edocs/00103943-1.pdf. Zugegriffen: 18. März 2020.
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Heute stehen wir global vor weit größeren gesellschaftlichen Herausforderungen als in den späten Neunzigerjahren – also rückblickend betrachtet: in der Zeit vor der Zäsur 9/11. Um diesen angemessen zu begegnen, spielen die Kulturwissenschaften eine wichtige, in der allgemeinen Wahrnehmung oft noch unterschätzte Rolle. Denn es ist die ihnen zukommende Aufgabe, zu erschließen, wie die heutige Welt und die in ihr generierten Subjekte verfasst sind, „woraus wir gemacht sind“ (Hettche). Dazu leisten die hier versammelten Schriften von Matthias Waltz einen wichtigen Beitrag. Juliane Rytz
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Einleitung: Subjekte der Kultur – Zum Kulturforschungsansatz von Matthias Waltz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Jochen Bonz Die Fundamente des Sozialen in der Alten Welt: Der symbolische Tausch und das Prinzip der Medialität Die Alte Welt: Die Spiele um die Namen (1993). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Der Traum von der archaischen Spontaneität und das Gesetz der Vergeltung. Wie die epischen Helden hassen und töten (1985). . . . . . . . . . 47 Die Sprache der Gewalt – Die Gewalt der Sprache (1988). . . . . . . . . . . . . 67 Ilias und Chanson de Geste: Das System der Rache (1993). . . . . . . . . . . . 77 Tauschsysteme als subjektivierende Ordnungen: Mauss, Lévi-Strauss, Lacan (2006). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Das bürgerliche System des Medialen und seine postmoderne Auflösung (1993). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Bedingungen der Subjektkonstitution mit Lacan: Moderne und Postmoderne Ethik der Welt – Ethik des Realen (2001). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Die Trivialisierung des zweiten Todes – Das Unsagbare in der Postmoderne (2006). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
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Das Reale in der zeitgenössischen Kultur (2007). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Das Subjekt in der Verantwortung [2004] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Autorität: Gestalten des Gesetzes in kulturellen Formationen [2008]. . . . 257 Zwei Topografien des Begehrens: Pop/Techno mit Lacan (2001). . . . . . . . 279 Über die Kultur des School-shooting als symptomatisches Phänomen aktueller Schülerkultur (anlässlich des Amoklaufs von Winnenden) [2009]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Die archaische Begründung der Geschlechterdifferenz und ihre Auflösung: Rekonstruktion einer Geschichte des Begehrens Der Frauentausch [1993]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Das Objekt des Begehrens im Betrug (Boccaccio, Crébillon fils) (2001). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Ist die Emanzipation der Frau eine Revolution oder eine Katastrophe? (2000). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Eine Konstante in der Geschichte der Geschlechterdifferenz: Decamerone, Rouge et Noir, Being John Malkovich (2005). . . . . . . . . . . . 335 Was das Geschlechterverhältnis einmal war und heute ist. Die Jugend von heute (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Houellebecqs Les particules élémentaires – Wie man sich in einer narzisstischen Welt einrichtet (2001). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Literaturwissenschaft als Identifikationssystem Die Bühne der Repräsentation: Moderne und Postmoderne (2003) . . . . . 377 Das Begehren in der Wissenschaft. Die Verwandlung der historischen Literaturgeschichte in die systematische Literaturwissenschaft [2002/2005]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Diffuses Nichtwissen in die Form artikulierter Fragen bringen … Interview mit Matthias Waltz [2015]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Editorische Notiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Verzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Einleitung: Subjekte der Kultur – Zum Kulturforschungsansatz von Matthias Waltz Jochen Bonz
Für das vorliegende Buch hat Juliane Rytz Texte des Bremer Kulturwissenschaftlers Matthias Waltz kompiliert und geordnet, die bislang nur schwer zugänglich waren, da sie verstreut publiziert sind – in der Form von Zeitschriftenartikeln und Beiträgen in Sammelbänden. Die Texte sind überwiegend seit den späten Achtzigerjahren, schwerpunktmäßig in den Nullerjahren entstanden und sie lassen sich als Fortschreibungen und Ergänzungen des 1993 veröffentlichten Hauptwerks von Matthias Waltz begreifen, Ordnung der Namen. Die Ergänzung besteht darin, dass sich Waltz auf die zeitgenössische Kultur der Gegenwart bezieht und dabei von Hochmoderne spricht, anstatt die üblichen Bezeichnungen Postmoderne oder Spätmoderne zu verwenden. Er eröffnet dabei eine genuin kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Gegenwartskultur; und zwar eine Perspektive, die radikal ist. An die Stelle der Wirklichkeitswahrnehmungsweisen von Rousseau, Proust und Sartre, die Matthias Waltz in Ordnung der Namen herausgearbeitet hat, treten nun andere Gewährsleute, wie Michel Houellebecq, Rainald Goetz und Joachim Lottmann. Zur Literatur kommen der Film (Being John Malkovich) und außerdem die noch einmal in ganz anderer Weise expressiven Kulturformen, die uns heute aufschrecken – wie etwa Amokläufe. Um die hier versammelten Überlegungen verstehen zu können, muss man Ordnung der Namen nicht bereits kennen. Man kann die dort entwickelten
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_2
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Überlegungen vielmehr in den Variationen kennenlernen, die sie in den jüngeren Arbeiten erfahren. Da die einzelnen Beiträge außerdem jeweils einen starken Fokus besitzen, in dem sich eine abstrakte kulturwissenschaftliche Fragestellung sehr eng mit einem konkreten Untersuchungsgegenstand verbindet, haben die einzelnen Texte den Charakter in sich geschlossener Studien; sie sind somit gut für sich lesbar. Der zusätzliche Erkenntnisgewinn, der aus der hier getroffenen Anordnung der Texte erwächst, ist allerdings nicht zu unterschätzen. Emergiert auf diese Weise doch ein Kontext, in dem sich Waltz’ Denken in seiner Spannweite, in seinem Zentrum, in seinen Bewegungen und eben auch in seinen verschiedenen Facetten zeigt. Dass die Fertigstellung eines Sammelbandes viele Jahre dauert, ist nicht ungewöhnlich und trifft auch in diesem Fall zu. Erwähnenswert ist der Sachverhalt dennoch, weil er sich mit anderen Tatsachen verbindet; wie beispielsweise der angesprochenen Verstreutheit der Publikationen. Als Ursache hierfür sehe ich den Umstand, dass der Forschungsansatz von Matthias Waltz in einem schwierigen Verhältnis zur Sichtbarkeit steht: Er wird nicht stark wahrgenommen, weil er tatsächlich auch schwer wahrnehmbar ist. Was ich damit meine, wird im Weiteren noch deutlich werden und hat mit dem ‚Ort‘ zu tun, von dem aus Matthias Waltz seine Perspektive auf die Gesellschaft entwickelt. In welchen Bezügen, im Verhältnis zu was könnte dieser Ort eigenwillig sein? Zur wissenschaftlichen Diskussion? Zur gesellschaftlichen Realität? Tatsächlich zu dem, was für diese beiden wesentlich ist: zur Ebene der Identifikationen, in denen sich Menschen mit kollektiv gültigen Kategorien des Wahrnehmens verbinden – wie dem Diskurs eines akademischen Faches, der symbolischen Ordnung eines gesellschaftlichen Feldes, der Position einer Gruppe in einem Beziehungsnetz mit anderen Gruppen. Auch wenn Matthias Waltz, als Romanist, die klassischen Werke bürgerlicher Literatur und zeitgenössische Romane als Gegenstände seiner Kulturforschung wählt, verfolgt er doch nicht eine literaturwissenschaftliche Fragestellung. Zumindest insofern nicht, als sein Erkenntnisinteresse nicht darauf gerichtet ist, die Literatur zu erhellen. Das passiert zwar durchaus, aber es geschieht wie nebenbei. Anders als dies etwa seiner engen Kollegin Helga Gallas in ihren Kleist-Analysen gelingt,1 erläutert Waltz nicht Werke. Er nimmt vielmehr Werke als Zeugen spezifischer kultureller Situationen, die in der Literatur zum Ausdruck kommen und aus ihr herausgelesen, ihr entnommen werden können.
1Vgl. Gallas (1981): Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘; dies. (2005): Kleist: Gesetz, Begehren, Sexualität.
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Insofern fasst Matthias Waltz in Ordnung der Namen Rousseau, Proust und Sartre als Autoethnografen der Moderne auf. Er versteht sie als die Subjekte einer Kultur, denen es gelingt, für ihr Erleben dieser Kultur einen Ausdruck zu finden. Im Wesentlichen artikulieren sie dabei „ein Wissen über die Welt als Feld der betrügerischen Benennung“.2 Die Möglichkeit, die Wirklichkeit entsprechend wahrzunehmen, ist an einen Ort gebunden, der nicht innerhalb dieses ‚Feldes‘ liegt und den Waltz als den „Ort der Ablehnung der Namen“3 bezeichnet. Wie ich im Weiteren deutlich machen möchte, ist sein eigener Ort hiermit zwar nicht identisch, aber doch ähnlich. Man könnte sagen, er ist ihm verwandt. Insofern braucht es nicht zu verwundern, dass Matthias Waltz Proust, Sartre und Rousseau als seine Lehrer bezeichnet.4 Ein weiterer Lehrer ist zweifellos Jacques Lacan, zu dessen Seminare Matthias Waltz an der Universität Bremen über Jahrzehnte Lesekreise anbot, an denen neben Helga Gallas über die Jahre Bremer Intellektuelle wie Hans-Dieter Gondek, Elfriede Löchel, Brigitte Scherer, Mika Elo, Stefan Knoche, Gisela Febel und Dirk Quadflieg teilgenommen haben. Von Lacan übernimmt er Konzepte, die es ihm ermöglichen, das Kulturelle wesentlich auf der Ebene zu betrachten, auf der das Individuum als Subjekt einer Welt entsteht, also als Subjekt einer Weise, die Wirklichkeit zu erleben, die es sich mit anderen Menschen teilen kann. Zentral ist für Waltz dabei Lacans Verständnis vom Subjekt als beziehungsgebunden. Eine eindrückliche Form nimmt dieses Verständnis in Lacans Begriff des „großen Anderen“ an: der psychischen Repräsentanz, die – als Sediment der Beziehungserfahrungen des Subjekts – im Subjekt den Raum absteckt, der von ihm als wahrnehmbar erlebt wird. Oder, näher an Lacans Begrifflichkeiten formuliert: Der große Andere steht für das Begehren des Subjekts. Damit sind auch die Erwartungen gemeint, die das Subjekt auf sich selbst gerichtet spürt und die es auf andere richtet; die Art und Weise, in der es seine Mitmenschen erlebt und sich gegenüber diesen verhält. Darüber hinaus übernimmt Waltz von Lacan die Modi, mit denen dieser die Beziehungsformen konzeptualisiert, welche die Wirklichkeitswahrnehmung des Subjekts prägen: das Reale, das Symbolische und das Imaginäre. Inwiefern sie
2Waltz
(1993): Ordnung der Namen, 17.
3Ebd. 4„Die
drei Autoren sind hier nicht nur Gegenstände, sondern auch Lehrer. Von ihnen stammt ein guter Teil der Begriffe, mit denen ich hier arbeite.“ Ebd., 331.
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Beziehungsformen beinhalten und die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausrichten, ist an dieser Stelle noch nicht zu beantworten. Wichtiger scheint mir zunächst zu sein, darauf hinzuweisen, dass sie zwar schon bei Lacan als überindividuelle Konfigurationen gedacht werden, jedoch immer in Bezug auf das Individuum; also den Analysanden, den zu heilen der Psychoanalytiker Lacan anstrebt. Waltz nimmt die Konzeption weg vom Individuum und setzt damit um, was bei Lacan zwar angelegt, aber nicht ausgeführt ist: die Konfigurationen des Weltverhältnisses auch als kulturelle Konfigurationen zu betrachten, die Menschen prägen und die in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichem Maße ausgeprägt und bestimmend sein können. Im Folgenden möchte ich den Ansatz von Matthias Waltz auf zwei Diskurse beziehen, denen er sich zurechnen lässt. Mir geht es dabei um den Anfang einer wissenschaftshistorischen Einordnung ebenso wie um das Aufzeigen von Anknüpfungspunkten für kommende Forschungen mit seinem oder auch über seinen Forschungsansatz. Bei beiden Kontextualisierungsversuchen handelt es sich um von mir unterbreitete Vorschläge – und nicht um Anknüpfungspunkte, die Matthias Waltz selbst suchen würde. Waltz’ Forschungsansatz in Bezug auf die Cultural Anthropology, und besonders die Psychological Anthropology Der methodische Forschungsansatz, aus Kultur – im Sinne eines weiten Kunstverständnisses – Aussagen über die Kultur im ethnologischen Sinne ableiten zu können, ist darin begründet, Kultur im ethnologischen Sinne erforschen zu wollen und dabei an Grenzen zu stoßen. Sei es, dass die untersuchte Kultur dabei ist, zu verschwinden; sei es, allgemeiner, dass sich Kulturen eben gar nicht so einfach untersuchen lassen. In ihrer lesenswerten Einführung in die US-amerikanische Folkloristik führt Regina Bendix diese Methodik auf Franz Boas zurück, dessen Ethnografie der Kwakiutl darauf basiert, deren Mythen zu sammeln und auszulegen. Boas begründete die ethnologische Forschung in den USA, die Cultural Anthropology. Seine Schülerinnen und Schüler, zu denen Ruth Benedict, Alfred Kroeber, Robert Lowie, Paul Radin und Edward Sapir gehören, griffen seinen Ansatz auf, in der expressiven Kultur die „Widerspiegelung sozialer Verhältnisse“5 zu erkennen. Das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der ethnologischen Forschung verbreitete Interesse an der Psychoanalyse ließ sie diesen Ansatz ausdehnen auf
5Bendix
(1995): Amerikanische Folkloristik, 65.
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den Bereich des gesellschaftlich Tabuisierten, das Unbewusste.6 Dies wird etwa in einem Vortrag sehr deutlich, den Georges Devereux Ende der Fünfzigerjahre zu Ehren Géza Róheims hält, eines Pioniers der psychoanalytisch orientierten Kulturforschung. Devereux erläutert dort die Ansicht, „art provides a safety valve for the expression of that which is tabooed“.7 Neben dem Sicherheitsgurt dient ihm hier auch der Kühlschrank als Bild für die psychosoziale Funktion kultureller Ausdrucksformen: „[F]olklore, art and the like provide ‚cold storage‘ for those of […] man’s impulses which he cannot quite handle by means of subjective defenses“.8 In den Folklore Studies wurde dieser Forschungsansatz über Jahrzehnte einflussreich von dem renommierten Folkloristen Alan Dundes vertreten. Er betont das expressiver Kultur innewohnende Vermögen, die in einer gesellschaftlichen Situation vorliegenden Ängste projektiv zum Ausdruck zu bringen – und sie auf diese Weise auch zu bannen.9 In grundsätzlicher Weise steht der Kulturforschungsansatz von Matthias Waltz in dieser kulturanthropologischen Wissenschaftstradition. Ohne dass Waltz dies anzeigte – und möglicherweise auch, ohne dass er dies wüsste. Denn die Einordnung stützt sich weder auf schriftliche noch auf mündliche Hinweise von ihm selbst, sondern fällt in der vergleichenden wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive auf. Und deutlich hat sie ihre Grenzen, auf die ich im Weiteren zu sprechen komme und deren auffälligste der Umstand ist, dass es sich hier um einen US-amerikanischen Diskurs handelt und damit um etwas, womit Waltz konkret und praktisch nicht im Kontakt war. Die prinzipielle Möglichkeit, diese Einordnung vornehmen zu können, zeigt jedoch an, dass der Kulturforschungsansatz von Matthias Waltz nicht keinen Ort in der wissenschaftlichen Diskussion hat. Er gehört vielmehr zu einem Diskurs, der das 20. Jahrhundert durchzieht. Wie marginal oder sichtbar dieser auch immer gewesen sein mag. Es geht mir hier um das Prinzip des Vorhandenseins eines solchen Diskurses.
6Ein-
und Überblicke über den Diskurs der Psychological Anthropology bieten La Barre (1980 [1958]): Influence of Freud on Anthropology; Spindler (Hrsg.) (1978): The Making of Psychological Anthropology; sowie das u. a. von Johannes Reichmayr (2003) herausgegebene biografische Lexikon Psychoanalyse und Ethnologie. 7Devereux (1961): Art and Mythology, 370. 8Ebd., 379. 9Vgl. Dundes (1976): Projection in Folklore.
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Vor dem Hintergrund dieser generellen Einordnung lassen sich nun mit den Differenzen zur Cultural Anthropology nähere Kennzeichen seines Kulturforschungsansatzes benennen. 1. Es ist nicht eine Ethnie, die bei Waltz den Bezugspunkt des Forschens bildet. Es geht ihm also nicht darum, die Kultur einer Ethnie zu beschrieben. Im Unterschied zu den klassischen ethnologischen Studien, in deren Kulturanalysen die ethnischen Grenzen des Phänomens immer deutlich sind, bleibt der Gegenstand, über den Waltz in der Interpretation konkreter und in sich abgeschlossener Quellen Aussagen macht, in einer grundsätzlichen Weise unabgeschlossen. So werden Einblicke in kulturelle Verhältnisse ermöglicht, deren Grenzen unthematisiert bleiben. Anders als etwa Alan Dundes, der sich in einer prominenten Studie mit dem hohen Stellenwert beschäftigt, der seines Erachtens Fäkalien für die deutsche Psyche zukommt, auch anders als in L. Bryce Boyers eindrücklicher Interpretation der Mythen der Apachen, sind für die Forschungsperspektive von Matthias Waltz weder Ethnizität noch Nationalität relevante Einheiten.10 Sicher, es geht ihm um die europäisch geprägte Kultur, was man so westliche Kultur nennt, aber eben in einer unabgeschlossenen Weise. Sie ist bei ihm gewissermaßen der Wald, der vor lauter Bäumen nicht sichtbar ist. 2. Mit dieser ersten Differenz ist eine zweite Differenz eng verbunden, die darin besteht, das Kulturelle prinzipiell historisch zu denken. Zwar wird es als eine mit spezifischen Merkmalen versehene Ordnung begriffen; eine Ordnung allerdings, die dem historischen Wandel unterworfen ist. So thematisiert Ordnung der Namen mit der Macht, die dem Familiennamen zukommt, einen nun anachronistisch erscheinenden Rest vormoderner, feudaler Kultur in seiner gerade noch andauernden, aber im Schwinden begriffenen Wirkmächtigkeit. In der Dimension der Geschichte finden nun tatsächlich Grenzziehungen statt. Unterschieden werden dabei zunächst zwei kulturgeschichtliche Phasen: die antike und mittelalterliche Vormoderne, einerseits, und andererseits die Kultur der Moderne. In den im vorliegenden Band versammelten jüngeren Arbeiten kommt dann mit der Gegenwart eine weitere Phase hinzu. Anstelle der hierfür üblichen Bezeichnungen Post- oder Spätmoderne zieht Waltz deshalb die Bezeichnung Hochmoderne vor, da sich aus seiner Sicht jetzt die der Moderne innewohnende Tendenz, die Identifikation
10Vgl.
Dundes (1987 [1984]): Sie mich auch!; Boyer (1982 [1979]): Kindheit und Mythos.
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der Menschen mit den Namen aufzulösen, vollends realisiert. Von dieser Kultur handeln die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes. 3. Ein dritter Unterschied besteht schließlich hinsichtlich der Konzeptualisierung des Unbewussten. Im Diskurs der Psychological Anthropology wird das Unbewusste freudianisch als derjenige Bereich der Psyche verstanden, in den das tabuisierte Triebhafte verdrängt ist. „Unbewußt muß all das werden, was die Stabilität der Kultur bedroht“,11 schreibt Mario Erdheim in diesem Sinne in seinen Überlegungen zur „gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit“. „Das gesellschaftlich Unbewußte ist also jener Teil des Unbewußten eines Individuums, den es gemeinsam mit der Mehrzahl der Mitglieder seiner sozialen Klasse hat […]. Das gesellschaftlich Unbewußte ist […] wie ein Behälter, der all das aufnehmen muß, was eine Gesellschaft gegen ihren Willen verändern könnte.“12 Die Waltz’sche Kulturanalyse bezieht sich ebenfalls auf das Unbewusste. Von seinem Vorhandensein auszugehen, bildet eine wesentliche Grundannahme seines Forschungsansatzes. Das Unbewusste stellt die Ebene dar, auf der die Kulturanalyse angesiedelt ist, weil das Kulturelle selbst als auf dieser Ebene angesiedelt und wirksam erachtet wird. Jedoch, im Unterschied zum Freud’schen Verständnis und in Nähe zu Claude Lévi-Strauss13 und – noch weitreichender – zu Lacan, ist bei Waltz der Akzent dabei hin zu einer dem Unbewussten innewohnenden Produktivität verschoben; zu dem, was sein Vorhandensein sowohl dem Individuum wie auch der Gesellschaft ermöglicht: die Ebene der Identifikationen darzustellen, mit deren Mitteln der Mensch erst zum Subjekt der Kultur seiner Zeit wird.14 Ich werde dies im Weiteren näher zu erläutern versuchen, aber vielleicht ist es an dieser Stelle bereits hilfreich zu sagen, dass, was Pierre Bourdieu als Habitus fasst, ebenfalls auf dieser Ebene angesiedelt ist, und entsprechend seine Ausführungen zur Produktivität des Habitus auch als Beispiele für die Effekte gelesen werden können, die eine Identifikation im Waltz’schen Sinne im Subjekt zeitigen.
11Erdheim
(1988): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, 221.
12Ebd. 13Vgl.
Lévi-Strauss (1971 [1949]): Die Wirksamkeit der Symbole. auch Devereux (1982 [1957]): Die Psychoanalyse als Instrument der ethnologischen Forschung.
14Vgl.
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Das für Waltz paradigmatische Modell eines solchen Identifikationsmechanismus ist der symbolische Gabentausch. Es handelt sich dabei um eine für die Ethnologie zentrale Thematik, die sowohl in kanonischen kulturanthropologischen Studien, wie Malinowskis Argonauten des westlichen Pazifik, und in herausragenden kulturtheoretischen Arbeiten, wie Marcel Mauss’ Essai sur le don und den hieran anknüpfenden Überlegungen von Claude Lévi-Strauss, als auch in Studien aus jüngerer Zeit behandelt wird.15 Den genannten Unterschied im Verständnis des Unbewussten möchte ich gerade am Beispiel des symbolischen Gabentausches verdeutlichen. Zum Vergleich mit Waltz’ Ansatz ziehe ich hierfür The Psychocultural Significance of the Alaska Athabascan Potlatch Ceremony16 heran, eine exemplarische Studie der Psychological Anthropology, durchgeführt von einem Team um den Psychoanalytiker L. Bryce Boyer. Die traditionelle Gesellschaftsordnung der Athabasken wird hier wie folgt beschrieben: Die sozialen Einheiten, in denen die Gesellschaft organisiert ist, bilden matrilineare Clans, die einer von zwei Obergruppen angehören. Diese Zweiteilung bildet das Organisationsprinzip der Kultur, was mit dem ethnologischen Fachwort als Moiety bezeichnet wird. Die Kultur realisiert sich als ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Gruppen, das sich etwa in exogamen Heiratsregeln zeigt, die die Ehe mit einem Angehörigen der anderen Moiety vorschreiben. Die Gruppe von Forschenden um Boyer untersuchte eine Erscheinungsform des Gabentausches, den Potlatsch, in dem ein Angehöriger einer Moiety mit Unterstützung seiner Clan-Mitglieder die Angehörigen eines Clans der anderen Moiety mit Geschenken überhäuft. Es handelt sich hierbei aufgrund der immensen Höhe der Werte sowie der vordergründigen Einseitigkeit um eine spektakuläre und extreme Form des Gebens, die auch Mauss an der Kultur der Indianer der Nordwestküste fasziniert hat. In ihrem Verständnis des Phänomens folgen Boyer et al. Mauss’ Überlegung, dass der Potlatsch im Kontext einer Kultur wechselseitiger Beziehungen zu verstehen ist, die mittels Gaben, die Empfänger zu Schuldnern machen und auf diese Weise zu Gegengaben verpflichten, immer wieder erneuert und auf diese Weise aufrechterhalten werden.
15Siehe
etwa Lederman (2009 [1986]): What Gifts Engender; Munn (1992 [1986]): The Fame of Gawa; Schieffelin (1990): The Give and Take of Everyday Life; Schieffelin (2008 [1976]): The Sorrow of the Lonely. 16Hippler, Boyer, Boyer (1975): The Psychocultural Significance of the Alaska Athabascan Potlatch Ceremony.
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Das Interesse der Forschungsgruppe gilt darüber hinaus und spezieller jedoch der Funktion, die dem Potlatsch „at an unconscious or emotional level“17 zukomme: „A primary reason for the existence and continuation of the potlatch ceremony is the opportunity it provides for people to express emotional needs and defend themselves against anxieties in a group-supported manner“.18 Dieses Verständnis von der Zeremonie gründet sich auf das Vorliegen einer Verbindung, die zwischen dem Potlatsch und dem Tod eines Clan-Mitgliedes besteht: „Since members of the matriline are prohibited by taboo from touching the dead body of a matrilineal kinsman, they call upon people from the moiety opposite that of the deceased to prepare the cadaver for burial. This service is recompensed by the gift distribution during the potlatch ceremony.“19 Da die Clans matrilinear, also entlang der mütterlichen Erblinie organisiert sind, geht die Forschergruppe davon aus, dass jedes tote Clan-Mitglied prinzipiell für ‚die Mutter‘ stehe. Das ist deshalb für ihre Interpretation interessant, da sie die Kultur der Athabasken als auffallend von destruktiven Gefühlen wie Hass bestimmt erleben. Diese Gefühle sind ihres Erachtens zwar jeweils auf alle Mitglieder des eigenen Clans gerichtet, aber eben ganz besonders auf die Mutter, und sie bestehen in dem Wunsch, diese möge tot sein. Als ursächlich hierfür erachten Boyer und seine Kolleginnen und Kollegen die spezifischen Lebensbedingungen („the Athabascans of Alaska lived in one of the harshest environments on earth which are humanly habitable“) und Erziehungsformen der Athabasken, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen kann.20 Für die Interpretation der Forschungsgruppe ist wichtig, dass angesichts des wirklichen Todes einer Person die destruktiven Wünsche als in Erfüllung gegangen erlebt werden, was Schuldgefühle auslöse. Ausgelöst wird davon außerdem auch die Angst, nun der Rache der verstorbenen Person ausgesetzt zu sein. Gebändigt wird die Angst dadurch, dass man seine verstorbenen C lan-Mitglieder nicht selbst bestattet, sondern diese Aufgabe von Vertretern der anderen Moiety übernommen wird. Die in der Potlatsch-Zeremonie an die andere Moiety dargebrachten Gaben lassen sich vor diesem Hintergrund als G egen-Gaben für die Gabe verstehen, die in der Übernahme der Bestattung liegt. In den Gaben habe sich die verstorbene ‚Mutter‘ außerdem in etwas Gutes verwandelt,
17Ebd.,
207.
18Ebd. 19Ebd. 20Vgl.
ebd., 209, 217.
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wodurch die Aggression gewissermaßen rituell aufgelöst wurde. Die füreinander empfundenen destruktiven Wünsche sind in der Situation für die Clan-Mitglieder ein Stück weit und in spezifischer Form artikuliert; in Gestalt der toten ‚Mutter‘ liegen sie vergleichsweise offen zutage. Der Potlatsch bietet dem Einzelnen zugleich auch die Gelegenheit, die mit den destruktiven Gefühlen gegenüber den Clan-Mitgliedern verbundenen Schuldgefühle zu sühnen, weil sich die Person, die den Potlatsch ausrichtet, bei ihren Clan-Mitgliedern verschuldet, um die Gaben an die andere Moiety überhaupt aufbringen zu können; insofern können sich auch alle die mit dem Geben erreichte Sühne teilen. Im Unterschied hierzu richtet sich Waltz’ Interesse am symbolischen Gabentausch darauf, dass dieser der Motor einer Weltartikulation ist, eines ganzen Kosmos. Ist die Welt der Athabasken, um bei dem Beispiel zu bleiben, doch durch die soziale Zweiteilung gekennzeichnet, eine fundamentale Differenz, von der sich in Anlehnung an Lévi-Strauss annehmen lässt, dass sie sich auch auf die Klassifikation der Natur erstreckt und mit Jagd- und Nahrungstabus aufgeladen ist etc. In diesen reproduziert sich die Zweiteilung und sorgt permanent für wechselseitige Abhängigkeiten und die Notwendigkeit, sich aufeinander zu beziehen. Als seine Welt entsteht diese Kosmologie im Subjekt, indem dieses in die Ordnung des Tauschs und der mit diesem einhergehenden wechselseitigen Verpflichtungsbeziehungen eingetreten ist: indem es die Position seiner Moiety bzw. seines Clans eingenommen hat; indem es im selben Zuge dessen Weltverhältnis, das heißt: dessen Gaben- und Schuld-Verhältnis in der Beziehung zur antagonistischen Moiety, zu seinem eigenen Sein gemacht hat. Der Gabentausch konstituiert hier das Subjekt, insofern er mit der Position des Clans ein Identifikationsobjekt bereithält, auf dem das Subjekt als Subjekt entsteht. Und der Gabentausch konstituiert das Subjekt darüber hinaus außerdem auch, indem er diese Position der Gruppe als die Einheit definiert, auf der symbolische Gaben respektive Schulden verrechnet werden. Das bringt für das Subjekt dieser Position einen Identifikationsmechanismus mit sich, in dem es sich bewegt, sobald es die Position eingenommen hat. Ist es damit doch als Subjekt über den Stand der Gaben/Schulden definiert, das heißt, es bewertet sich selbst und seine Handlungen entsprechend und sieht sich von den Anderen in derselben Weise gesehen und bewertet. Dieser Identifikationsmechanismus bindet das Subjekt an die Position. – All dies liegt jenseits des Bewusstseins des Subjekts. Es ist unbewusst in dem Sinne, dass es der Art und Weise zugrunde liegt, in der das Subjekt die Wirklichkeit wahrnimmt und in der es handelt. Die beiden hier skizzierten Verständnisweisen vom Unbewussten unterscheiden sich, schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus. Es wäre zu wünschen,
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das vorliegende Buch könne dazu beitragen, ein Nachdenken darüber zu befördern, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Die Frage nach dem Ort des Subjekts in der zeitgenössischen Kultur Wenn das ethnologische Kulturverständnis heute in einem systematischen, wissenschaftlichen Sinne auf den Begriff gebracht wird, so wird Kultur dabei als ein Bedeutungszusammenhang verstanden, in dem Auffassungen und Handlungen, Werte und Ereignisse verstehbar sind, einen Sinn besitzen, dessen Verständnis sich Menschen teilen. Es handelt sich bei diesem Kulturverständnis um ein Erbe kulturwissenschaftlicher Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; ein Erbe, zu dessen Tradition die Semiotik ebenso wie das systemische Denken zählen, Strukturalismus, Poststrukturalismus, auch einzelne, die Diskussion und Forschung für Dekaden prägende Wissenschaftler wie Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault, Pierre Bourdieu oder Clifford Geertz. Auch der Ansatz von Matthias Waltz lässt sich diesem Paradigma zuordnen. Genauer betrachtet stellt er eine Spielart des Poststrukturalismus dar; wobei Waltz insofern kein typischer Poststrukturalist ist, als es insbesondere das konstruktivistische Moment des Strukturalismus ist, das er übernimmt: Kultur als ein dem Individuum vorausgehendes Medium zu erachten, in dem es zu einem gesellschaftlichen Subjekt wird. Die ‚Struktur‘ stellt hierfür ein Modell dar; und zwar nicht irgendeines, sondern das. Was etwa deutlich wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es sich etwa bei Foucaults Diskursbegriff um eine Anwendung dieses Denkens handelt – versteht Foucault unter Diskurs doch eine kategoriale Matrix, welche die Phänomene der Wirklichkeit artikuliert und zueinander in Beziehung setzt, also: eine Struktur, eine symbolische Ordnung. Waltz betont die subjektkonstitutive Qualität der symbolischen Ordnung, wenn er schreibt: „Diese Ordnungen sind gleichzeitig Ordnungen der Wirklichkeit und unbewusste Ordnungen des Wissens. Das heißt, die für das traditionelle Denken fundamentale Gegenüberstellung von innen und außen, von Subjekt und Wirklichkeit ist prinzipiell aufgehoben.“ (s. Abschn. Tauschsysteme als subjektivierende Ordnungen) Das Gros der poststrukturalistisch geprägten Kultur- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler versteht die Subjektivierung durch die symbolische Ordnung als eine Anpassung des Menschen an einen gegebenen kulturellen Kontext; also als etwas Erzwungenes und auch als eine Zwangsläufigkeit, zu der es keine Alternative gibt. Damit verfügen sie über ein stechendes Argument, individuellen Verhaltensweisen mit Desinteresse begegnen zu können, weil ihrem Verständnis nach an menschlichem Verhalten nur wirkmächtig werden kann, was sich im Rahmen der Konventionen der vorherrschenden symbolischen
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Ordnung abspielt; Judith Butler hat hierfür den Begriff der Intelligibilität eingesetzt. Entsprechend beschränken sich auf dieser Grundlage konzipierte sozialwissenschaftliche Studien darauf, die kategoriale Ordnung selbst aus den Texten der Realität herauszuarbeiten, eben Diskursanalyse zu betreiben. Im Unterschied dazu gilt Waltz’ Interesse nicht der symbolischen Ordnung an sich. Ihn interessiert das Weltverhältnis des Menschen; und als die paradigmatische Grundform des Weltverhältnisses fasst er die Beziehung auf, in der das Subjekt zur symbolischen Ordnung steht. Die Form von symbolischer Ordnung, die Waltz interessiert, geht deshalb auch nicht in der Funktion auf, lediglich eine Ordnung des Wissens abzugeben. Sein Interesse gilt vielmehr einer Form der Wissensordnung, die in sich auch Subjektpositionen bereithält, auf denen Menschen zum Subjekt dieser Ordnung werden. Man könnte sagen: In einer begründeten, nicht nur aufgezwungenen Weise werden sie so zu Trägern der symbolischen Ordnung. Hieraus resultiert Waltz’ Faszination für den symbolischen Gabentausch; handelt es sich dabei doch um eine Ordnung, die dem Menschen wirklich Fundamentales anbietet – eben eine Position, einen Platz. Die Gültigkeit, ja Festigkeit der daraus für das Subjekt entstehenden Welt hat ihre Ursache gerade darin, Positionen anzubieten, die Subjekte hervorbringen, indem sie sie gegenüber dem Platz verpflichten. Die Bezeichnung des Platzes ist der Name, und eine der grundlegenden wie auch weitreichenden Erkenntnisse, die Waltz’ Kulturforschung bereithält, ist, die Wirkmächtigkeit dieser kulturellen Konfiguration noch im Bürgertum aufzuzeigen; also in der modernen Gesellschaft, in deren Selbstbeschreibung sie nicht – oder besser: in der sie bloß an den Rändern – vorkommt, in den Subkulturen der Kunst. Im Feudalismus oder in den von der klassischen Ethnologie erforschten Stammesgesellschaften dagegen bilden sie die offizielle Lesart, welche die Gesellschaft von sich hat und anbietet. Bei Proust, Sartre und Rousseau begegnet Waltz die Wirkmächtigkeit der Ordnung in der speziellen Form ihres Abgelehntwerdens. So schreibt er über den von ihm in Ordnung der Namen verfolgten Ansatz, „uns interessieren hier die schlechten Beziehungen zwischen dem Subjekt und seinem Platz“.21 Zur Bezeichnung der schlechten Beziehung spricht Waltz von Neurose, von seinen Autoren als Neurotikern, und er umreißt damit eine Idee von der Kultur der Moderne als einer symbolischen Ordnung, die ihre Subjekte zwar an sich bindet, aber ihnen nicht selbstverständlich auch einen Platz anbietet, der eingenommen werden könnte. Die Bindung in der Form der Ablehnung ist vor diesem
21Waltz
(1993): Ordnung der Namen, 31.
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Hintergrund eine recht naheliegende Form der Subjektkonstitution. Besonders, wenn man bedenkt, dass sich die Ablehnung nicht in der Negation bestehender Werte, konventioneller Verhaltensweisen und herkömmlicher Weisen, die Wirklichkeit wahrzunehmen, erschöpft. Aus ihr entstehen identifizierende Gegenwelten, wie Waltz etwa an Diedrich Diederichsens Darstellung der Hippies und anderer Subkulturen des Pop in Sexbeat ausführt. Aber in der Gegenwartskultur hat das Subjekt seinen Ort nicht mehr in solchen Gegenwelten. Es ist eine Abwesenheit des Identifiziertseins in der Dimension symbolischer Ordnung, die für Matthias Waltz das Wesen der hochmodernen Kultur unserer Zeit ausmacht. An die Stelle des konflikthaften neurotischen Weltzugangs ist damit etwas getreten, das sich als eine grundlegende Unverbundenheit bezeichnen lässt. Diese Unverbundenheit betrifft zunächst das Verhältnis des Menschen zur symbolischen Ordnung als Dimension des Kulturellen. Konkret zeigt sie sich in unserer Unverbundenheit mit anderen Menschen und in der Unsicherheit, mit der wir unser Verhältnis zu diesen und zur Welt erleben. Eine Unsicherheit, die schließlich unser Selbst mit einschließt und eigentlich betrifft. In der Sozialpsychologie schlägt sich diese Unsicherheit in Begriffsbildungen wie „Identitätsarbeit“ und „Identitätskonstruktion“ nieder.22 Die Auswirkungen, die die Unverbundenheit mit dem Symbolischen im Subjekt zeitigen, werden nachvollziehbar auf den Begriff „Depression“ gebracht.23 In der strukturalen psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans wird die Unverbundenheit als Ursache der Psychose verstanden.24 In seinen Überlegungen zum Ort des Subjekts in der Gegenwartskultur orientiert sich Matthias Waltz an Lacan. Aber es ist nicht diese, zur Pathologisierung einladende Diagnose, die er aufgreift. Er folgt stattdessen der von Lacan selbst vorgenommenen Verschiebung im Bereich der Dimensionen, mit denen die Wirklichkeit erlebt wird. Denn im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften beschränkt sich Lacan nicht darauf, die Existenz von ausschließlich einer solchen Dimension anzunehmen, dem Symbolischen. Für ihn gibt es ein Ineinanderwirken dreier Dimensionen, des Symbolischen, des Imaginären und des Realen. Als Medien der Wirklichkeitsartikulation besitzen sie je eigene Qualitäten und Eigengesetzmäßigkeiten, die in jeweils spezifischer
22Vgl.
Keupp et al. (2006 [1999]): Identitätskonstruktionen; Keupp, Höfer (Hrsg.) (2009 [1997]): Identitätsarbeit heute. 23Vgl. Ehrenberg (2004 [1998]): Das erschöpfte Selbst; vgl. auch Rytz (2009): „Die Sprache ist eine Haut“. 24Vgl. Lacan (1997): Das Seminar Buch III: Die Psychosen [1955–1956].
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Weise in sich organisierte Welten in der Wahrnehmung des Subjekts hervorrufen – und auch je spezifische Arten, Subjekt sein zu können, mit sich bringen. Ist es in den frühen Arbeiten Lacans, etwa in den Überlegungen zum Spiegelstadium, die Dimension des Imaginären, die er als besonders wirkmächtig erachtet, so ist es am Ende seines Schaffens das Reale. Während Lacan diese Dimensionen am Individuum beschreibt, dehnt Matthias Waltz ihre Wirkmächtigkeit ins Kulturelle aus. Für ihn kann eine Kultur deshalb sowohl von der Wirkmächtigkeit bestimmt sein, die das Symbolische als Medium der Wirklichkeitsartikulation zu besitzen vermag, wie auch von der Abwesenheit dieser Wirkmächtigkeit. Bindet das Symbolische nicht länger, gerät neben seiner zentralen Funktion – als Bedeutungszusammenhang eine Welt zu artikulieren, die sich Menschen teilen – auch die spezifische Qualität dieser Art von Welt in eine Krise, nämlich als kulturelles Gesetz, als Konvention, eine grundlegende Triangulierungsmöglichkeit anzubieten, an der alles und jedes gemessen werden und sich ausrichten kann.25 An ihre Stelle treten für Waltz die Identifikationsmechanismen des Imaginären, die sich im Bereich der Subjektkonstitution auf eine Weise auswirken, die heute in der sozialwissenschaftlichen Diskussion mit Konzepten wie „Narzissmus“ und „Othering“ bezeichnet wird.26 Die Flüchtigkeit einer Welt, die man sich mit anderen Menschen teilt, hat heute in der sozialwissenschaftlichen Diskussion besonders in der Akteur-Netzwerk-Theorie einen Ausdruck gefunden. Konsequent beschreibt Bruno Latour das Soziale als etwas, das nicht einfach gegeben ist, sondern sich immer wieder neu in ‚Assoziationen‘ finden und bilden muss. „Sobald man aufhört, Gruppen zu bilden […], gibt es keine Gruppen mehr.“27 Was Latour ausblendet, ist die Konsequenz, die hieraus für das Subjekt folgt, die Form der Subjektivität. Es scheint unberührt: „Wenn ein Tänzer aufhört zu tanzen, ist der Tanz beendet.“28 Im Gegensatz hierzu ließe sich die Perspektive von Waltz treffender formulieren als: Wenn sich die Konventionen des Tanzens wandeln, wandelt sich auch der Tänzer; und wenn sich die Konventionen des Tanzens auflösen, vermag der Tänzer kein Tänzer mehr zu sein. Was nicht heißt, dass das
25Zur
einer Lacan’schen Auffassung von der symbolischen Ordnung als kultureller Dimension des Gesetzmäßigen und den Konsequenzen vgl. Legendre (1998 [1989]): Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. 26Vgl. Lasch (1979): The Culture of Narcissism; Fabian (2014): Time and the Other; Said (2012 [1978]): Orientalismus. 27Latour (2007 [2005]): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 63. 28Ebd., 67.
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Subjekt, das einmal ein Tänzer war, sich nicht weiterhin bewegt und spürt, sich verausgabt und wunderbar anzuschauen ist. – Wobei das Sichspüren und -verausgaben in die Dimension des Realen, das Wunderbar-anzusehen-Sein in die Dimension des Imaginären fällt. Eine vom Realen bestimmte Welt ist eine Welt der Unselbstverständlichkeiten, der Unverbindlichkeiten und der Flüchtigkeit. Aber das Reale ist nach Waltz auch „der einzige Ort […], von dem aus die Wirklichkeit in einer Weise gesehen wird, die nicht von einem anderen Standpunkt aus sofort als eine ganz besondere, beschränkte Wirklichkeit wahrgenommen wird“. (s. Abschn. Das Reale in der zeitgenössischen Kultur). Als Nicht-Ort ist es der Ort der Wahrheit. In großer Nähe zu diesem Nicht-Ort liegt der Platz, von dem aus die Waltz’sche Kulturanalyse auf die gesellschaftliche Realität schaut. Anmerkung zu Waltz’ Weise, mit Lacan umzugehen Während Lacan in der psychoanalytischen wie auch in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Rezeption in der Regel entweder vergöttert oder verteufelt wird, kontextualisiert Waltz die einschneidenden Veränderungen, die dessen Konzeptionen zwischen den 1930er und 1970er Jahren erfahren. Wie das Kulturelle begreift Waltz auch die Denkbewegung Lacans, die in dessen Seminaren dokumentiert ist, mit einer geschichtlichen Logik. Dabei interessiert sich Waltz für die Brüche, die Lacans Denken im Laufe der Jahrzehnte durchläuft. Es handelt sich dabei um die oben angesprochenen Verschiebungen. Sie besitzen die Qualität von Paradigmenwechseln, was bei Lacan aber nicht expliziert wird, sondern unter der Hand abläuft; gerade so, als bildeten die Verschiebungen eine sich ständig voranschreitende Vertiefung eines Wissens. Das sieht Waltz anders, wie besonders sein hier veröffentlichter Text über die Lacan’sche Ethik deutlich macht. Wie es in Matthias Waltz’ Beschäftigung mit Literatur nicht vorrangig darum geht, diese als literarische Werke zu erhellen, sondern das in ihnen ausgedrückte Weltverhältnis aufzunehmen und als eine Aussage über die Kultur der jeweiligen Zeit zu verstehen, geht es ihm auch in der Historisierung der Überlegungen Lacans nicht um Wissenschaftsgeschichte oder um die Geschichte der Psychoanalyse. Vielmehr findet er verschiedene Logiken der Subjektkonstitution, die ihn als solche interessieren und die er sich nimmt, um aus ihnen Werkzeuge der Kulturforschung zu entwickeln. Es sind Werkzeuge für eine Kulturanalyse, die vom Ort eines relativen Nicht-Identifiziertseins im Symbolischen auf Identifikationen und Identifikationsmechanismen schaut und die versucht, für deren Erscheinungsformen adäquate Begriffe, ja überhaupt eine Sprache zu finden.
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Die Fundamente des Sozialen in der Alten Welt: der symbolische Tausch und das Prinzip der Medialität
Die Alte Welt: Die Spiele um die Namen (1993)
Der Tausch und die Natur als Schatz der Namen Wie kommt es, dass ein Mensch die ihm von außen aufgezwungene Gestalt als sein Selbst betrachtet, dass er bereit ist, sich so zu sehen, wie die anderen ihn sehen? Ein Durchgang durch das Werk Sartres erlaubt es, diese Frage genauer zu artikulieren, aber sie führt in ein Dilemma: Es gibt eine – und nur eine – Welt, in der das Subjekt seine Gestalt bejahen kann und die nicht unter dem Zeichen der Illusion steht, das ist die (abgelehnte) Welt der durch Rechte und Pflichten miteinander verbundenen Plätze. Das Denken des 17. und 18. Jahrhunderts hat aber die Legitimität dieser Welt in irreversibler Weise aufgelöst und niemand, der heute an dem, was er ist und was er will, zu zweifeln begonnen hat, kann in den Rechten und Pflichten, die mit sozialen Positionen verbunden sind, die Grundlage einer Selbstgewissheit finden. Aus diesem Dilemma könnten wir den Schluss ziehen, den Fehler in der Frage selbst zu sehen und sie aufzugeben.1 Ich möchte hier die entgegengesetzte Hypothese verfolgen. Wenn das System der Plätze funktioniert, obwohl es sich nicht legitimieren kann, dann kann der Fehler auch in den Bedingungen liegen, die man an die Verfahren der Legitimation stellt. Anders gesagt: Es kann eine Ebene der Legitimation geben, die hinter den Argumenten liegt, die die Moderne zulässt
1Das ist die Empfehlung, die Rorty mit expliziter Bezugnahme auf Sartre und die Nausée macht. Rorty (1988): Freud und die moralische Reflexion, 70.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_2
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und anerkennt. Diese andere Ebene der Begründung wollen wir im Folgenden in den Verfahren suchen, mit denen die Alte Welt die Menschen an ihre Positionen bindet. Auf die Frage, mit welchen Mitteln die vorbürgerlichen Gesellschaften ihre Strukturen legitimieren, gibt es eine Antwort, die seit der Romantik über Max Weber bis zu Jürgen Habermas im Wesentlichen die gleiche geblieben ist. Es ist die Unterwerfung unter die Tradition, die gefühlsmäßige Hingabe und vor allem die Religion, die die Menschen innerlich erfasst und bindet. Diese Mittel hat aber die moderne Vernunft in einer Weise aufgelöst, gegen die es keine Einwände gibt; auf diese Auflösung stützt sie ihre Überzeugung, dass die Alte Welt nur zu einem behinderten und eingeschränkten Vernunftgebrauch fähig sei. Mit dem Begriff des (symbolischen) Tauschs haben Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss2 eine zweite, ganz anders strukturierte Antwort entwickelt, die den rationalen Kern der Legitimationsverfahren der Alten Welt zu verstehen erlaubt. Unser Postulat, dass Identifikationen und Weltstrukturen begründet werden können, impliziert, dass Legitimationsverfahren gleichzeitig Prinzipien der Identifikation und des Weltaufbaus sind. In diesem doppelten Sinn soll im Folgenden der Tausch in den Stammesgesellschaften als System der Weltbegründung dargestellt werden.3 Es ist ein extrem stilisiertes Bild der medialen Struktur der Stammesgesellschaften, das ich hier skizzieren werde; und es hat seine Berechtigung nur in dem Zusammenhang, in dem es steht. Wenn man den Prozess der Entstehung der Moderne beschreiben will, dann kommt man nicht ohne die Setzung eines Anfangs aus, ohne eine „Theorie der Alten Welt“. Dieser Anfang ist notwendig ungesichert, eine theoretische Fiktion; er ist bestimmt von dem, was man jeweils für die Wesensmerkmale der Moderne hält; aber er bestimmt umgekehrt auch die Gesamtanlage der Theorie. Der Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias
2Mauss
(1968): Essai sur le don; Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté; außerdem ist in diesem Zusammenhang wichtig: Lévi-Strauss (1962): La pensée sauvage. 3Ich lese also die beiden Werke als Antwort auf eine Frage, die in ihnen – obwohl sie den Interessen der beiden Autoren nicht ganz fern liegt – nicht gestellt wird. Für unsere Fragestellung ist es nicht ergiebig, auf Georg Simmel (der in dem Exkurs über Treue und Dankbarkeit das Geben als eine der stärksten soziologischen Funktionen beschrieben hat) oder auf die neuere amerikanische Diskussion einzugehen, die an Simmel und Mauss anschließt (zusammengefasst in Dahme [1981]: Soziologie als exakte Wissenschaft, 179–194).
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setzt an den Anfang die „spontane Affektivität“,4 der Anfang von Habermas ist die Kooperation bedürftiger Individuen, in der die Verständigung als Mittel der Handlungskoordination durch die Religion zugleich blockiert und ersetzt ist. Die folgende an Mauss und Lévi-Strauss angelehnte Skizze muss man als eine solche theoretische Fiktion sehen. Es kommt mir darauf an zu zeigen, dass man auf der Grundlage des Tauschs eine soziale Ordnung denken kann, die sich als mediale Ordnung, nach ganz anderen Prinzipien als die, an die uns das Denken der Aufklärung gewöhnt hat, rational legitimieren kann; und dass damit zugleich etwas beschrieben ist, was in den Begriffen der Aufklärung überhaupt keinen Sinn hat, eine legitime Welt, das heißt eine Welt, in der die Subjekte ihre Namen mit guten Gründen bejahen können. Der Tausch als Vergesellschaftungsform Zwei Männer, die sich nicht kennen, sitzen sich in einem billigen Lokal in einer französischen Kleinstadt gegenüber, mit der leichten Spannung, die Nähe ohne Beziehung immer erzeugt; jeder hat vor sich ein ähnliches Essen, eine Karaffe mit dem gleichen billigen Rotwein. Der eine schenkt dem Gegenüber ein. Dieser revanchiert sich, indem er das Glas des anderen füllt. Was ist geschehen? Anscheinend nichts; beide haben denselben Wein in ihren Gläsern. Aber die unbestimmte Spannung ist durch eine Beziehung ersetzt; dem Austausch der Getränke folgt der Austausch der Worte. An dieser kleinen Szene demonstriert Lévi-Strauss in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft die Grundprinzipien des Tauschs: Die Gabe ist zwar freiwillig und scheint nichts zu fordern; in Wirklichkeit beruht sie auf der Grundlage der Gegenseitigkeit; man gibt, weil man weiß, es wird wieder gegeben. Aber der Sinn des Gebens ist nicht, etwas zu bekommen, was man nicht hat, der Sinn liegt in der Beziehung, die durch die Gabe hergestellt ist. Die Banalität der Szene verweist auf die Universalität des Prinzips. Mit dem Geschenk von Glasperlen versuchten die Missionare, zu Menschen, mit denen sie nichts verband und die sie leicht hätten töten können, eine friedliche 4Der
Prozess der Modernisierung ist dann die Disziplinierung dieser Affektivität durch die zunehmende Verflechtung der Einheiten der gesellschaftlichen Organisation. Dieser Anfang gibt der Theorie den einfachen Aufbau und die Handlichkeit, die sie so erfolgreich gemacht haben; er produziert gleichzeitig ihre massiven Schwächen. Eine Kritik an diesem Anfang findet man in meinem Aufsatz Der Traum von der archaischen Spontaneität und das Gesetz der Vergeltung; eine allgemeine, mit einem umfangreichen Material ausgearbeitete Auseinandersetzung geben die Bände von Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (1988: Bd. 1 Nacktheit und Scham; 1990: Bd. 2 Intimität; 1992: Bd. 3 Obszönität und Gewalt).
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Beziehung herzustellen. Was wir schlicht „Beziehungen“ nennen, den „Filz“, der die Rückseite jeder modernen Bürokratie ist, das uralte System der Klientel, in der ein Mächtiger Schwächere über Gaben an sich bindet und sich so ihre Unterstützung sichert, das in der römischen Geschichte so wichtig ist wie heute in mafiosen Gesellschaften, die feierliche Übergabe eines Landes an den Vasallen, der treue Dienste verspricht – die Grundlage des Feudalsystems also –, der Opfertod Christi, der die sündigen Menschen von ihrer Schuld loskauft: Alles beruht auf dem Prinzip des Tauschs. Es ist die Allgegenwart des Tauschs, seine Banalität, die es so schwer macht, über ihn zu reden. Aber etwas kann man in der obigen willkürlichen Aufzählung schon erkennen: In der Alten Welt sind die ehrwürdigsten Institutionen auf dem Prinzip des Tauschs aufgebaut. Die Moderne begründet ihre offiziellen Institutionen auf dem Prinzip des Vertrags und einer allgemeinen Gesetzlichkeit und bekämpft den Tausch; er lebt fort als deren unvermeidliche schlechte Rückseite; legitim ist er nur in dem abgetrennten Bereich der persönlichen Beziehungen: Weder eine Freundschaft noch eine dauerhafte Liebe können wir uns ohne die Bindungen denken, die der Tausch stiftet. Im Folgenden wollen wir – mit Mauss und Lévi-Strauss – die vergleichsweise einfachen Tauschsysteme darstellen, durch die Stammesgesellschaften organisiert sind. Unser Interesse ist dabei gegenüber dem der genannten Autoren verschoben; wir fragen, mit welchen Mitteln Tauschsysteme die Menschen an ihre Gestalten binden und wie sie die Gewalt dieser Zuordnungen legitimieren. Damit verbinden wir in gewisser Weise das Interesse der beiden Autoren. Mauss sieht in dem Tausch den „Felsen“, den letzten Grund, auf dem alle menschliche Gesellschaft aufgebaut ist;5 ihn fasziniert das Problem, woher eine Moral, die von der modernen Moral der Vernunft und der Pflichten6 essenziell verschieden ist, ihre Bindungskraft bezieht. Eine befriedigende Auffassung des Phänomens misslingt ihm, weil er versucht, den Tausch von den Individuen und ihren Motiven her zu denken, statt umgekehrt vom Tausch her die Entstehung von Subjekten und Motiven zu verstehen. Das genau ist auch der Vorwurf, den Lévi-Strauss Mauss macht.7 Aber Lévi-Strauss sieht in den Ordnungen des Tauschs die Projektion der universalen Gesetze, die die unbewusste Aktivität des Geistes leiten, auf die Ebene des bewussten und sozialisierten Denkens;8 damit hat er weder das
5Vgl.
Mauss (1968): Essai sur le don, 148. ebd., 272. 7Vgl. Lévi-Strauss (1968): Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, XXXVIII. 8Vgl. Lévi-Strauss (1959): Anthropologie structurale, 67. 6Vgl.
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Interesse noch die begrifflichen Voraussetzungen, die nötig sind, um die ethische und identifizierende Dimension der Ordnungen des Tauschs zu erfassen.9 Am klarsten erscheint das Prinzip der Vergesellschaftung durch den Tausch an dem Beispiel der Allianz zweier Phratrien, wie sie in nordamerikanischen oder australischen Stämmen vorkommen.10 Ein System von Regeln und Verboten sorgt dafür, dass fast alle wesentlichen Güter nur durch Tausch zu bekommen sind. Wenn die Gruppe A bestimmte Pflanzen anbauen und Tiere jagen darf, dann darf nur die Gruppe B sie verzehren und umgekehrt. Bei jeder wesentlichen religiösen Funktion sind die Gruppen aufeinander angewiesen, dieses Prinzip setzt sich fort bis zur Organisation der Spiele. Meist sind die Tauschstrukturen komplexer, die Güter gehen nicht hin und her, sondern zirkulieren in einem Ringtausch: B gibt an C weiter, was er von A erhalten hat, und so geht es weiter, bis sich der Kreis schließt. Aber immer sind alle wesentlichen Lebensbereiche so organisiert, dass jeder in ein dauerndes, vielfältiges Spiel von Geben und Nehmen verstrickt ist. Neben dieser fundamentalen Dimension, wo die Austauschbeziehungen durch Verbote und Gebote gesichert sind, gibt es eine Form des Tauschs, die im Bereich nicht des zum Leben Notwendigen, sondern des Überschusses und der Feste liegt; hier kann man Tauschbeziehungen eingehen oder auch nicht; die Sanktionen sind hier nicht negativ, an Tabus geknüpfte Drohungen, sondern positiv: Prestige, Ehre, Macht werden mit dem Tausch verbunden. Am berühmtesten sind, dank Malinowski, die Potlatsch-Feste der Indianer an der Nordwestküste Amerikas und die Feste der Trobriander auf den pazifischen Inseln. Die spektakulärste Institution, der Höhepunkt eines umfassenden Systems von Leistungen und Gegenleistungen, ist der kula. Die Häuptlinge eines Stammes machen weite Schiffsreisen, um einen anderen Stamm zu besuchen, wo sie große Vermögen, vor allem Muschelketten und Armbänder, als Gastgeschenke erhalten. Die Besucher kehren mit den Schätzen heim, die bei feierlichen Gelegenheiten zur Schau gestellt werden. Beim nächsten kula sind die Beschenkten die Gastgeber und
9Vgl.
Lévi-Strauss (1968): Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, XL. Besonders deutlich wird das an den Stellen, wo er vom Frauentausch in der Moderne spricht (vgl. Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 135). Hier verwandelt sich der Tausch in eine reine Kombinatorik. Das bedeutet nicht, dass Lévi-Strauss für diese Dimension, die er nicht thematisiert, nicht sensibel wäre; im Gegenteil, an vielen Stellen ist sie sehr eindringlich dargestellt. 10Vgl. Mauss (1968): Essai sur le don, 151; vgl. auch Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 299–300.
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Schenkenden für einen anderen besuchenden Stamm. So wandern die Schätze im Kreis durch die Inseln. Bei dem kula geht es nicht nur um das Festigen, sondern um das Eingehen von Beziehungen. Die eigentlich großen Geschenke müssen angenommen werden, und sie begründen notwendig eine Beziehung;11 aber es gibt einen intensiven Wettbewerb um den angesehensten und reichsten Tauschpartner; es gibt ein System von Vorgeschenken, die den Partner in die definitive Beziehung hereinlocken sollen und bei denen der andere frei ist, abzulehnen oder anzunehmen. „Unsere Feste [die Potlatsch-Feste] sind die Bewegungen der Nadel, dienen dazu, die Teile des Strohdachs zu verknüpfen, um nur ein einziges Dach, ein einziges Wort daraus zu machen.“12 Der Tausch ist ein Mittel, Gruppen miteinander zu verbinden. Zum Teil tut er das, indem er wechselseitige Abhängigkeiten schafft, sodass jede Gruppe die Bedürfnisse der anderen befriedigt. Der Tausch ist aber auch ein Instrument, Rivalität zu erzeugen und ihr Regeln zu geben, eine Form des Kampfes. Auf diese Form bezieht sich das obige Zitat; gerade als Rivalität, die bis zur Zerstörung der sozialen Existenz des Gegners gehen kann, ist der Tausch ein Mittel der Bindung. Riesige Reichtümer werden nicht nur verschenkt, sondern zerstört, Nahrungsmittel verbrannt, Kupferplatten ins Meer geworfen. Es gilt, den vorhergehenden Potlatsch an Reichtum und bedenkenloser Verschwendung zu überbieten, den Rivalen „platt“ zu drücken;13 davon hängt das Ansehen des Häuptlings, seiner Sippe, eventuell des ganzen Stammes ab. Dieser „Krieg des Eigentums“14 benützt die Schuld, die das Geschenk so lange bei dem Empfänger schafft, bis es zurückgegeben worden ist. Das Ziel des Kampfes ist es, den Gegner in die Situation zu bringen, dass er sich nicht „revanchieren“ kann, was extreme Demütigung bedeutet. Es gehört zur Struktur des Tausches, dass jede Gabe eine gefährliche Seite hat, was sich am prägnantesten in der etymologischen Nähe der Wörter „Gift“ und „Gabe“ ausdrückt.15 Die Potlatsch haben, wie fast alle der bei Mauss besprochenen Institutionen des Tauschs, einen fundamental egalitären Charakter; das heißt, die Positionen
11Wenn
auch das eigentliche Hauptgeschenk im Kreise wandert, so ist es begleitet von einem Hin und Her zusätzlicher reziproker Geschenke und Leistungen. 12Aus einem Interview mit Ureinwohnern aus Neu-Kaledonien, zitiert nach Mauss (1968): Essai sur le don, S. 174 f. (Übersetzung M. W.). 13Vgl. Mauss (1968): Essai sur le don, 202. 14Ebd., 200. 15Ebd., 252.
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des Gebenden und des Schuldners sind gleich verteilt; es gilt als Grenzfall des Systems, wenn ein Partner definitiv in die Rolle des Schuldners gedrängt wird. In ständischen Gesellschaften werden asymmetrische Beziehungen institutionalisiert. Der Patron einer römischen Klientel, der Feudalherr sind so reich, dass sie immer mehr geben, als der Klient oder der Vasall je zurückgeben können. Die Beziehung ist die der auf Dauer gestellten Schuld. Um den Zusammenhang zu verstehen, in dem der Tausch in den Stammesgesellschaften steht, kann man an die Missionare denken, mit der Todesangst im Herzen und den Glasperlen in den Händen. Lévi-Strauss beschreibt eine ähnliche Szene: zwei Stämme, die aufeinander zugehen; in der einen Hand die Pelze als Geschenke, in der anderen Hand die Messer für den Fall, dass die anderen sich nicht auf das Geben und Nehmen einlassen. Der Tausch ist Ökonomie, er reguliert die Zirkulation der Güter; er vertritt aber auch die Stelle, die bei uns die Staatsgewalt als Polizei einnimmt: Er befriedet, er ist die Alternative für die nackte Gewalt. Oft befriedet er allerdings, indem er den Kampf in sich aufnimmt und ihm eine Tausch-Gestalt gibt. Auge um Auge, Zahn um Zahn, die Blutrache, die Fehde des Mittelalters, die Ehrenhändel und Duelle des Barock – hier wird überall mit Kränkungen gerechnet wie mit Gaben: Sie müssen um den Preis des Ehrverlusts erwidert werden. Auch hier muss man, wie wir sehen werden, den Kampf als eine Form der Verbindung verstehen. Man hat lange Zeit das, was wir hier beschreiben, als eine Vorform des Handels vor der Entdeckung des Geldes aufgefasst. Nun ist aber in den Stammesgesellschaften die Arbeitsteilung so wenig entwickelt, dass ein Tausch, rein ökonomisch gesehen, nur in sehr begrenzten Bereichen notwendig wäre. Die Tauschsysteme entstehen durch die Einführung von künstlichen Tabus; wer die Güter beschafft, darf sie nicht genießen, und umgekehrt. Der Tausch ist nicht als ein Mittel der Sphäre der Bedürfnisbefriedigung untergeordnet, sondern im Gegenteil: Der ganze Bereich der Bedürfnisbefriedigung wird den massivsten Einschränkungen unterworfen, damit er als Material für Tauschbeziehungen dienen kann. Die Sprache der Natur Bisher haben wir den Tausch beschrieben, als sei er ein in sich geschlossenes System, in dem jedes Element sich nur aus der Beziehung zum anderen erklärt, sodass es tatsächlich genügt, Buchstaben zur Beschreibung der Plätze zu verwenden. In Wirklichkeit haben die Gruppen aber Namen, sie heißen der Clan der Taube mit den bronzefarbenen Flügeln, der Clan des Teebaums, der stinkenden Schildkröte, Sonne usw. – Bezeichnungen, die offensichtlich Beziehungen zu
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einem Bereich jenseits des Tauschs herstellen. Wir würden Tausch selbst nicht richtig verstehen, wenn wir diese Beziehungen beiseiteließen. In der klassischen Ethnologie hat man die Stämme, auf die sich der Essay über den Tausch und die Elementaren Strukturen beziehen, als totemistisch bezeichnet; im Totemismus glaubte man, den ersten Zustand der Menschheit fassen zu können. Les formes élémentaires de la vie religieuse von Durkheim16 beginnen mit einer ausführlichen Darstellung, die ich hier kurz zusammenfasse. Ein Stamm ist in der Regel gegliedert in Phratrien, die wiederum in Clans zerfallen. Clans sind exogam; jeder hat ein oder mehrere Totems, Totems sind vorwiegend Tierund Pflanzengattungen und Naturphänomene. Die Totems gelten als die Ahnen, von denen die Clans abstammen. Sie sind „heilig“, auf ihnen liegen Verbote der Berührung oder des Verzehrs. Bei Mauss sind wir der Form begegnet, dass ein Clan jagt bzw. anbaut, was nur der jeweils andere verzehren darf. Der Clan hat eine besonders enge Beziehung zu der Totemgattung, zum Beispiel hat er oft die Aufgabe, durch rituelle Handlungen, die nur er vornehmen kann, die Fortpflanzung einer Gattung zu ermöglichen. Das Totem ist im Alltag des Clans überall sichtbar; durch Masken, durch oft außerordentlich reichen Schmuck, durch Körperbemalung und durch Tätowierung wird es zu einem Teil des Körpers. Zugleich greift das Totem auf die ganze Welt aus; mit einem Totemtier sind andere Tiergattungen, Pflanzengattungen, Windrichtungen, Himmel (im Gegensatz zur Erde) usw. verbunden; sodass man über die Totems eines Stammes zu der Erfassung der ganzen Welt gelangt. Über die Mythologie, in der Totemvorfahren als Begründer des Stammes und seiner Einteilungen und damit als Schöpfer der Menschheit erscheinen, ist das kosmologische System vollständig. Im 19. Jahrhundert war man sehr fasziniert von der Tatsache, dass die Eingeborenen die Grenze zwischen Mensch und Tier oder Pflanze (in einem im Übrigen schwer zu bestimmenden Sinn)17 überspringen, sich selbst irgendwie für Tiere, die Tiere irgendwie für menschenähnlich halten; Lucien Lévi-Bruhl hat dafür die Begriffe der prälogischen Mentalität und der Partizipation geprägt. Für die neue Ethnologie ist der Begriff des Totemismus in Einzelelemente ohne notwendige Einheit zerfallen. Lévi-Strauss versteht das Wesentliche dessen, was man früher Totemismus nannte, als ein Klassifikationsverfahren; das Wilde Denken analysiert dieses Verfahren, zeigt, dass es nicht nur rational, sondern oft auch
16Durkheim 17Vgl.
(1960 [1912]): Les formes élémentaires de la vie religieuse. Lévi-Strauss (1962): La pensée sauvage, 196.
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sehr raffiniert aufgebaut ist, dass es anders funktioniert als unsere Verfahren, aber durchaus gut funktioniert. Uns interessiert an dieser Klassifikation nicht die Fähigkeit, die Natur beschreibend zu erfassen, sondern ihre Eigenschaft, die Klassifikateure mit zu klassifizieren, und zwar in einer ganz anders eingreifenden Art als etwa das moderne zoologische Ordnungssystem, in dem die ganze Gattung Mensch als eine Gattung der Säugetiere erscheint. Früher hat man immer das Verhältnis jeweils eines Clans zu einer Tierart isoliert für sich genommen und hat die Ähnlichkeit der Terme für das Wichtige gehalten. Lévi-Strauss zeigt nun, dass es viel ergiebiger ist, wenn man das Verhältnis Mensch–Tierarten als Beziehung zweier Reihen auffasst: Gattung 1
Gattung 2
Gattung 3 ···
Gruppe 1
Gruppe 2
Gruppe 3 ···
Oder in einer stärkeren Formulierung: Gruppe A : Gruppe B = Gattung Bär : Gattung Adler18 An das Totem Adler schließen sich dann auf mehr oder weniger durchsichtige Weise Weltbereiche an, zum Beispiel Himmel, andere Vögel, Gestirne; der Weg kann aber auch über Blitz, Feuer, Kohle bis zur Erde gehen. Der Bär kann sich mit dem Luchs verbinden, wegen der schwarzen Pfoten, und beide mit den Kriegern, weil diese sich das Gesicht schwärzen. Eine Tierart ist also nicht einfach die reale Art, sie funktioniert als ein Bündel von Bedeutungselementen, daher hat sie ihre klassifikatorische Kraft. Hinsichtlich der Natur handelt es sich um eine echte Klassifikation, nach Unterscheidungsmerkmalen, deren Auswahl uns gelegentlich überrascht, die aber tatsächlich bestehen. Auf den Menschen bezogen, wirkt diese Klassifikation aber ganz anders, sie erfasst keine bestehenden Unterschiede, sondern sie produziert Unterschiede, wo keine waren. Der Tausch verlangt Unterschiede, verlangt, dass der eine hat, was der andere begehrt. Manchmal sieht es so aus, als könnten im Tausch reine Signifikanten zirkulieren, willkürlich entstandene Spielmarken für Begehren und Schuld, wie die Muschelketten des kula oder ein großer Teil der Weihnachtsgeschenke in unserer Kultur. Aber die eine Gesellschaft tragenden Tauschsysteme verwenden nicht solche Marken als Medium; sie stützen sich auf
18Ebd.,
152 und 224.
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die Bedürfnisse, auf Arbeit und Genuss. Dann entsteht aber das Problem der Herstellung und der Legitimation der notwendigen Unterscheidungen. In dem Kapitel Totem et caste der Pensée sauvage vergleicht Lévi-Strauss Stammes- und Kastengesellschaften unter dem Gesichtspunkt, wo sie jeweils die grundlegenden, die Gesellschaft und Weltorganisation tragenden Unterscheidungen hernehmen. Die Kasten beruhen auf der Arbeitsteilung, sie sind Berufsgruppen; hier kann der Tausch sich auf real bestehende Unterschiede stützen. Aber die Arbeitsteilung ist selbst Produkt der Kultur; die Stammesgesellschaften, die fast ausschließlich vom Jagen und Sammeln leben, kennen sie nur in Ansätzen; in Wirklichkeit haben sie fast nichts zu tauschen. Hier springt die totemistische Klassifikation ein; sie benützt die realen Unterschiede der natürlichen Gattungen, um damit künstliche gesellschaftliche Unterschiede herzustellen, um den Mangel zu produzieren, der in der Wirklichkeit fehlt. Ein Totem besagt, dass ein Clan mit einem Weltausschnitt „verwandt“ ist; er ist also einerseits dafür zuständig – real oder mindestens in ritueller Form –, dass dieser sich reproduziert, gedeiht, zur Verfügung steht, dass die Pflanzen wachsen und der Regen fällt; andererseits darf er nichts aus diesem Bereich verzehren. Damit hat sich der Clan einen künstlichen Mangel und eine künstliche Macht geschaffen; das gilt entsprechend für alle anderen Clans auch. Auf der Ebene der Bedürfnisse ist dadurch eigentlich nichts geschehen; aber der Tausch, das Für-andere, ist eingerichtet worden. Die Moderne neigt dazu, das Naturverhältnis der Wilden in der Gefühlsdimension zu denken, die für ihr eigenes charakteristisch ist, entweder als Angst und Schrecken oder als Nähe und Vertrautheit. Nach Lévi-Strauss ist die Natur für die Wilden zuerst einmal eine Sprache – die Sprache, die sie sprechen, aber vor allem die Sprache, die ihnen sagt, was sie sind. Was die Wilden zuerst in der Natur finden, sind ihre Namen. Diese sind gleichzeitig eine privilegierte Beziehung zu einem Naturbereich und eine Position im Tausch. Dadurch wird die Tauschgestalt zu einer Naturgestalt, und die Natur wird in das Tauschsystem einbezogen. Sie wird zu etwas, das geben oder verweigern kann, und nicht nur in der Dimension der Bedürfnisse, sondern in der der Namen. Lévi-Strauss betont, dass das im wilden Denken gesammelte Wissen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit steht. Die Verwendung der Natur zur Benennung geht weit über diese Dimension, die an den Tausch gekoppelt ist, hinaus. Die komplexen Ketten von Ähnlichkeiten und Oppositionen, mit denen die Wilden die ganze Natur überdecken, beziehen immer die Menschen mit ein, den Körper, die Gesundheit, die seelischen Eigenschaften. Von daher wendet sich alles, was der Wilde in der Natur entdeckt und benennt, zurück in eine Aussage
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über ihn selbst und seine Beziehung zu den anderen.19 So umlagert die großen natürlichen Namen, die der Tausch der Bedürfnisobjekte herstellt, eine Fülle von kleinen Namen, die in den verschiedensten Formen Beziehungen herstellen. Einen Mythos der Osage-Indianer kann man als Bild nehmen für die Entstehung der natürlichen Namen. „In der Epoche des Ganitha, des ‚Chaos‘, kamen die Ahnen von den Sternen herab in den drei Großgruppen der 3 × 7 Feuerplätze von Himmels-, Land- und Wasserleuten. Bis dahin hatten sie eine schattenhafte Existenz geführt, und so suchten sie nach ihrer Herabkunft zunächst ein Stück Kosmos, ‚um daraus ihre Körper zu machen‘, wie es in den Gensepen, den Wigies, erzählt wird. Um diesen Wunsch zu erfüllen, boten sich die einzelnen Erscheinungen und Gestalten irdischen Lebens zur Hilfe an: ‚Ich bin doch recht geeignet, falls die Kleinen (Sakralwort für ‚Menschen‘) aus mir ihre Körper machen wollen; sie werden dann leben, bis sie die Zeichen hohen Alters auf ihrer Haut erblicken‘. Und so drängten sich denn die Waschoigathe, ‚die Gegenstände, aus denen die Kleinen ihre Körper machen‘, in unabsehbaren Scharen herbei, um den Ahnen zu menschlicher Dichte zu verhelfen: Schnappschildkröte, Kolbenschilfrohr, Süßwassermuschel, Rot-Zeder, Wasser, Riedgras, Hirsch, Eiche, Gras, Rechte Flußseite, Linke Flußseite, Flußbett, Rotfisch, Schwarzfisch, Otter, Männlicher Biber, Bogen, Pfeile, Spinne, Spreizotter, Büffelschlange, Schwarze Schlange, Klapperschlange, Kürbisrassel, Schmetterling; lange, fast atemberaubende Reihen.“20 Am Anfang steht die schattenhafte Tauschgestalt, die reine Segmentierung; die Natur kommt dazu, um den Wunsch nach einem substanziellen Körper zu erfüllen. Körper ist hier nicht der natürliche Leib, sondern der tätowierte Körper, das, was man für die anderen und für sich dauerhaft ist, der Name. Wir wundern uns über Menschen, die sich für Verwandte von Bären halten. Aber wenn wir darauf achten, mit welchen Unterscheidungen wir unsere Gestalt für andere definieren – mit den Marken der Autos, die wir fahren, dem Typ von Nahrung, den wir zu uns nehmen, den wissenschaftlichen Theorien, die wir für richtig halten –, so müssen wir zugeben, dass die Willkür hier und dort gleich groß ist. Das eigentliche Problem besteht darin, wie man überhaupt dazu kommt, ein Selbst auf Gegenständlichkeiten zu begründen, die Wahl der Gegenstände ist dieser Entscheidung gegenüber zweitrangig. Man sieht die Verwandtschaft
19Foucault hat in einem Kapitel von Les mots et les choses gezeigt, dass dieses Naturverhältnis noch in der Renaissance das beherrschende ist. Die indische und die chinesische Naturmedizin sind bekanntlich nach diesem Prinzip aufgebaut. 20Müller (1978): Die Nonhongschinga und die strukturalistische Ethnologie.
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zwischen Bär und Mensch gewöhnlich als ein schwer verständliches Naturverhältnis. Damit verkennt man, dass es dabei nicht in erster Linie um das Verhältnis zur Natur in ihrer Gegenständlichkeit geht – die Eingeborenen verhalten sich genauso umsichtig zu realen Bären, wie wenn sie mit diesen nicht verwandt wären –, es geht um die Natur als ein Repertoire von Zeichen und damit um das Verhältnis zu den anderen Menschen; die Wilden brauchen die Verwandtschaft mit den Bären, damit sie etwas haben, was die anderen nicht haben, damit ihnen etwas fehlt, was die anderen haben. Auf dieser Ebene ist gegen die Lösung wenig zu sagen. Klar ist allerdings, dass dieser Gebrauch der Natur unser wissenschaftliches Verhältnis ausschließt; man kann die Natur nicht gleichzeitig als Medium der Selbstbenennung und als Forschungsgegenstand verwenden. Aber wenn man die Ebene des Medialen ins Auge fasst und wenn man die Rationalität eines medialen Systems nach dessen systematischer Strukturierung, innerer Konsistenz und Durchsichtigkeit für die „Benutzer“ bemisst, sind die Systeme der Stammesgesellschaften den unsrigen unstreitig an Rationalität weit überlegen.21 Die Herstellung der Namen, der Motive, der Zeit Wir haben bisher den Tausch als ein Verfahren beschrieben, das erlaubt, zwischen Individuen oder Gruppen Beziehungen herzustellen. Das ist eine bequeme, aber ungenügende Beschreibung. Der Tausch schafft nicht Beziehungen zwischen Einheiten, die ohne ihn bestünden; er produziert mit den Beziehungen die Tauschobjekte und die Tauschenden. Auf der Oberfläche haben die Stammessegmente ihre Identität in der Verwandtschaft zu einem bestimmten Naturbereich; aber in Wirklichkeit hat diese Verwandtschaft ihren Sinn nur dadurch, dass sie das Segment zu anderen in ein Tauschverhältnis setzt. Ähnlich gilt das für alle sozialen Einheiten. Sicher sind es die „Blutsbande“, die eine Abstammungslinie verbinden; aber es ist der Tausch, der die Abstammungslinie zu einer Position macht, der Rechte und Pflichten zugeordnet sind, und der ihr damit ihre Bedeutung gibt. Der Tausch braucht Einheiten, auf die die Besitzstände verrechnet werden; das kann der einzelne Mensch sein, die Abstammungslinie oder
21Welche
der beiden Verwendungen der Natur die vernünftigere ist, ist nicht entscheidbar. Ganz sicher weiß man in modernen Gesellschaften im Durchschnitt weit weniger als in Stammesgesellschaften darüber, weshalb man tut, was man tut; der Abstand zwischen Rationalisierung und Motiven ist größer. Andererseits zwingt die Unübersichtlichkeit der medialen Welt die Subjekte zu komplexeren Bahnen; sie produziert mehr Wissen, auch über Medialität. So wissen wir mehr über die ‚Wilden‘ als sie über uns; wir schicken die Ethnologen zu ihnen, nicht sie ihre zu uns.
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ein Stammessegment. Diese Einheiten, die Positionen im Tausch, sind der Kern der Namen des Subjekts. Je nach der Art der Beziehung zu seinem Gegenüber tritt das Subjekt im Namen von „sich selbst“, der Familie oder des Stammessegments auf. Das Wort „Tausch“ verwenden wir also in zwei verschiedenen Bedeutungen. Einmal ist Tausch das System, das Objekte und Tauschende und, wie wir sehen werden, Motive, Ziele und eine Zeit generiert. Andererseits bezeichnet das Wort konkrete Ereignisse, die in dem konstituierten System ablaufen; auf dieser Ebene sind die Tauschakte Handlungen von Personen, die von diesen Akten unabhängig existieren und sie aus bestimmten Motiven vollziehen. Die Tauschobjekte sind oft Gegenstände, die durch Verbote dem Bedürfnis entzogen sind: Was man tauschen will, darf man nicht konsumieren. Daraus darf man aber nicht schließen, dass der Tausch ein Umweg zum Genuss ist, dass es Bedürfnisobjekte sind, die getauscht werden. Die Frucht, die man gibt, bezieht sich auf kein Bedürfnis, sondern auf eine Schuld und ein Recht. Gewiss kann sie sich beim Empfänger zurückverwandeln in das Ding, das man genießt; aber für die Beziehung, die durch sie hergestellt wird, ist das belanglos. Zwar taugt zum Tauschobjekt nur, woran ein Mangel herrscht; und die Bedürfnissphäre ist der verlässlichste Produzent von Mangel. Aber nur in dieser formalen und allgemeinen Eigenschaft bezieht sich das Tauschsystem auf den Bereich der Bedürfnisse als Ganzen; für jeden einzelnen Tauschakt ist die Beziehung zum Bedürfnis im Regelfall gleichgültig.22 Damit stellt sich die Frage, was eigentlich getauscht wird. Mauss stellt diese Frage in einer etwas anderen Form, nämlich was in der Gabe den Zwang zur Gegengabe bewirkt, worin ihre bindende Kraft liegt.23 Für seine Antwort verwendet Mauss einen Begriff aus der Maori-Kultur: In einem Geschenk wohnt ein hau, eine Seele, die zu dem Gebenden zurückkehren will. Wenn die Gabe weitergegeben wird, so geht das hau auf den Gegenstand über, der für den ersten nach
22Die
Abstraktion, die der Tausch an den Objekten vollzieht, ist der einzige Punkt, in dem zwischen dem Warentausch und dem Gabentausch Analogien bestehen. Als Prinzipien der Vergesellschaftung wie der Organisation des Ökonomischen schließen sich die beiden Formen des Tausches aus – das hat Mauss schon klar ausgesprochen; historisch löst die eine die andere ab. In der am Warenverhältnis ansetzenden Kulturkritik der 1970er Jahre (etwa in den Büchern von Dieter Duhm) hat man die beiden Prinzipien – in der Regel ohne Kenntnis der Arbeit von Marcel Mauss – in einer begrifflosen Weise zusammengezogen. 23Lévi-Strauss hat diese Fragestellung mit Recht kritisiert; es gibt keinen Ort, von dem aus man den Tausch erklären könnte. Aber in der Frage, die Mauss stellt, ist die andere, sinnvolle nach dem, was getauscht wird, mit enthalten.
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einer Frist zurückgegeben wird. Das hau besitzt Macht über den, der die Gabe erhalten hat, und kann ihm, falls er sie nicht erwidert, Schaden zufügen.24 Mauss weist darauf hin, dass Gegenstände des persönlichen Gebrauchs oft als Gaben gegeben werden, und er stellt das in die Nähe zu magischen Praktiken, in denen der Besitz solcher Dinge Macht über die Person gibt; für ihn sind Gaben Teil der Person.25 Wenn Mauss sagt, etwas geben heißt einen Teil von sich geben,26 so hat er sicher Recht. Er sagt aber gleichzeitig – ohne die Konsequenzen zu bedenken –, dass „die Persönlichkeiten in gewisser Weise dauernde Dinge des Clans sind“;27 der Besitz gibt den Namen;28 die Person ist, was sie gibt und schuldet. Aber schon mit seiner Bemerkung, dass das hau von einem Gegenstand auf den anderen überwechseln kann, macht der Maori-Informant deutlich, dass es nicht um physische Nähe geht (wie sie abgeschnittene Fingernägel, Kämme oder Ähnliches besitzen). Was Mauss sieht und vergeblich zu erfassen versucht, ist die Tatsache, dass die Tauschobjekte Teile der Personen sind, weil die Dinge sich nur durch ihre Zuordnung zu Personen als Dinge konstituieren und ebenso die Tauschenden nur über die Bindung an Dinge als Personen. Der Tausch ist ein geschlossenes System von Zeichen; er produziert Namen, und was getauscht wird, sind Teile von Namen. Nur sind diese Zeichen nicht leer wie die der Sprache; sie sind verankert im Verhältnis zur Natur, in Hunger und Arbeit. Wenn man eine Tauschkette, wie die des kula, von einem Subjekt aus betrachtet, das an einer bestimmten Position steht, so findet sich dessen Sein ständig im Wachsen oder im Abnehmen. Diesem zirkulären Wandel des Seins entspricht ein Wandel der Zukunftsperspektiven, die dem Subjekt gegeben sind. In dem Moment, wo es ein Geschenk vor kurzem erhalten hat, genießt es den Besitz, das Begehren des anderen und die Macht des Gebenkönnens: Die Besitzer holen ihre Schätze heraus, betasten sie, beschauen sie stundenlang, fühlen sich heiter und stark.29 Mit der Zeit allerdings wächst die Schuld; der Blick des anderen, der in der Gabe versteckt ist, wird fordernd; der Besitzer wird zu jemandem, der im Geben träge ist. Das Schenken selbst ist ein Moment
24Vgl.
Mauss (1968): Essai sur le don, 158, 159. ähnlicher Weise bezeichnet Algirdas J. Greimas die Güter, die im Tausch zirkulieren, als das Sein der Subjekte. Greimas, Courtés (1979): Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Stichwort „Communication“. 26Vgl. Mauss (1968): Essai sur le don, 159. 27Ebd., 226. 28Ebd., 226, 227. 29Vgl. ebd., 181. 25In
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zwischen den Zeiten, ein Fest; der Schenkende genießt die Macht des Gebens; der Beschenkte fühlt noch nicht die Schuld in der Gabe. Zu den Feiern gehören die Festmahle, in denen kostbare Speisen, die selbst zum Zyklus der Gaben und nicht zum Alltagskonsum gehören, verzehrt werden.30 Solche Dinge sind an sich reine Zeichen und sollen nicht konsumiert werden. Wenn man sie doch verspeist, so hat das immer etwas von einer rauschhaften Durchbrechung von Verboten, die den Alltag beherrschen. Nach dem Fest schaut das in seinem Sein leer gewordene Subjekt mit Begehren auf den Besitz des nächsten in der Kette; das Begehren wird zu einer Forderung, die sich als berechtigt weiß. Damit ist der Kreis geschlossen. Die Produktion von Zukunft und Vergangenheit ist gleichzeitig eine von Motiven. Der Wunsch nach den Namen, die die Dinge geben, die Bemühung, Schulden einzulösen, die Lust, in den großen Spielen mitzuspielen, liegen in einer anderen Dimension als alle Bedürfnisse. Es wäre auch absurd, sie als „kulturell interpretierte“ Bedürfnisse zu verstehen; sie gehören einer Ordnung an, die gegen die Bedürfnisse errichtet ist, sind Produkte des Spiels, durch das der Tausch die Menschen verbindet, und haben ihren Sinn nur in ihm. Diese Motive sind gebotene Leidenschaften; der Wunsch nach dem großen Namen ist ebenso geboten wie die Anerkennung der Schuld.31 Neben dieser durch Begehren und Schuld perspektivierten Zeit schafft der Tausch ein entperspektiviertes Gedächtnis. Jedes Tauschsystem muss etwas von der Art eines Archivs in sich haben; in ihm sind die Tauschakte, der Stand der Schulden und der Rechte, die abgelaufenen Fristen festgehalten und auf die jeweils relevanten Positionen verrechnet.32 Dieses Archiv ist um den aktuellen Zustand des Systems zentriert; es legt hinter ihn die Vergangenheit, aus der sich die Zukunft bestimmt. Um diese durch das System gegebene normative Zeit
30Vgl.
Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, S. 65 ff. Tausch produziert seine Motive nicht im Leeren; man kann nicht umhin, Motive zu postulieren, die in die Spiele des Tauschs hereinführen, Motive vor dem Tausch, also vor der Welt. Ein großer Teil der Arbeit des späten Lacan zielt daraufhin ab, die Struktur der „vorweltlichen“ Motive zu rekonstruieren. Wir können uns hier mit der Abgrenzung begnügen, die die Spielmetapher nahelegt: Die Motive, die einen Spieler zu einem Zug veranlassen, sind mit der Struktur des Spiels gegeben; die Motive, die den Spieler in das Spiel hineingeführt haben, sind im Innern des Spiels vergessen, wenn sie auch das Spiel als Ganzes tragen. 32Vgl. Lévi-Strauss (1962): La pensée sauvage, S. 318 ff. 31Der
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lagern sich die Geschichten dessen, was tatsächlich geschieht, als Abweichungen, die den Namen ihre Individualität geben. In den Gegenständen und Positionen, die der Tausch herstellt, ist ein Blick angelegt, den sie notwendig provozieren: der Blick der anderen, die die Objekte begehren oder eine Schuld einfordern, der Blick, der in den Dingen ihre Ersetzbarkeit, den Wert sieht; der Blick des archivierenden Gedächtnisses, der die Positionen und den Stand ihrer wechselseitigen Verhältnisse festhält. Mit den verschiedenen Beziehungen, die das System schafft, ist jeweils ein Modus der einordnenden und bedeutungsschaffenden Wahrnehmung gekoppelt, der so verlässlich hergestellt wird, dass die Bedeutungen als Eigenschaften der Dinge selbst erscheinen. Es sind nicht konkrete Menschen, die über diesen Blick verfügen, obwohl er in ihnen begegnet; es ist der vom System provozierte Blick. Dieser Blick, der der Welt ihre Festigkeit gibt, hat seine Geltung nicht einfach daher, dass er immer schon da war. Zwar ist es richtig, dass in der Alten Welt das Bestehende als Bestehendes immer für sich Legitimität beanspruchen kann; aber nicht, weil das Alte in sich ehrwürdig wäre, sondern weil das Bestehende auf das Archiv verweist, in dem es als ein Produkt von Tauschakten dargestellt ist. Nicht jede Bedeutung eines Gegenstandes, jede Forderung an einen Menschen ist begründungsbedürftig, aber im Prinzip ist jede begründbar. Jeder trägt diesen Blick und jeder sieht sich von ihm aus in seiner wahren Gestalt gesehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Subjekte einfach mit ihren Namen zusammenfielen. Die Namen sind in der Initiation geschenkt, das Subjekt soll sie bejahen, das bedeutet, es kann sie auch ablehnen, sich ihren Forderungen entziehen. Der für die ganze Alte Welt fundamentale Begriff der Ehre – den Mauss mit gutem Grund auch für die Tauschsysteme der Stammesgesellschaften verwendet – bezeichnet diese Dimension. Die Ehre ist einerseits das, was das Subjekt bei den anderen gilt, andererseits ist sie eine Forderung an das Subjekt selbst: die Forderung, den Namen über alles andere zu stellen. Die Spaltung, die das Subjekt seiner eigenen Gestalt gegenüberstellt, ist der Effekt von bestimmten Positionen im System. Die Beziehung zu seinem Gegenüber identifiziert das Subjekt mit dem, was der andere in ihm sieht. Auffällig ist das, wenn dieser Namen dem Subjekt eigentlich gleichgültig ist – so zwingt die Begegnung mit dem Antisemiten den assimilierten Juden, sich wieder als Juden zu fühlen; das Subjekt, das seinen Namen bejaht hat, ist normalerweise dieser Name, es schaut nicht auf ihn, sondern durch ihn auf die anderen und die Welt. Wenn aber ein Geist einen Häuptling daran erinnert, dass es höchste Zeit sei, wieder einen
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Potlasch zu geben,33 oder wenn ein Kwakiutl-Informant berichtet, ein Häuptling, der keine Feste gebe, werde Quelsem, „verfaultes Gesicht“, genannt, dann ist das nicht ein Vorwurf, in dem das Subjekt als der Vertreter eines bestimmten Namens angesprochen ist, die Mahnung eines Gläubigers etwa; der Vorwurf richtet sich an das Subjekt im Verhältnis zu seinen Namen; es wird aufgefordert, sich seinen Namen zu unterwerfen, die Verpflichtungen, die in diesen liegen, zu erfüllen. Der Zugang zum Tausch Die Institution, in der die Stammesgesellschaften den Zugang zu den Positionen im Tauschsystem fassen, ist die Initiation. Wir können uns in diesem Bereich nicht auf Untersuchungen stützen, die unserem Interesse nahestehen.34 Da es mir hier auch wesentlich um die Konstruktion von Begriffen geht, also darum, zu zeigen, wie man ein in sich konsistentes und legitimes mediales System denken kann, will ich auf der Grundlage dessen, was allgemein als wesentliche Züge der Initiation in Stammesgesellschaften anerkannt ist, ihre Funktion im System rekonstruieren. Allen Initiationsritualen sind folgende Züge gemeinsam: Es sind Inszenierungen von Tod und Wiedergeburt. Die Wiedergeburt ist gleichzeitig die Schaffung eines nicht-natürlichen Körpers durch schmerzhafte Markierungen. Die Initianten werden Erfahrungen von Entbehrung und Schmerz ausgesetzt, die teilweise als Proben verstanden werden. Der initiatorische „Tod“ ist immer gleichzeitig eine Trennung von der Mutter. Bei Rousseau werden wir sehen, dass die Mutter eine zur Welt der Erwachsenen alternative mediale Welt aufbaut. In dieser bedeuten nur einzelne Handlungen, aber das Sein des Kindes als Ganzes ist nie – wie es in der Sartre’schen Szene der Beschämung geschieht – infrage gestellt; es ist durch den mütterlichen Blick garantiert, ohne dass das Kind dafür etwas zu geben hätte; die Gestalt ist nicht etwas, das verglichen wird und worum man sich zu sorgen hat. Genauer gesagt: Das Kind hat noch nicht seinen eigentlichen Namen; es gibt nicht die Spaltung, in der das Subjekt dem gegenübersteht, was es zu sein hat. In der Beziehung zu Gleichaltrigen lebt der Jugendliche zwar in verschiedenartigen Spielen, in denen es Rivalität, Vergleich, mediale Gestalten gibt. Aber dahinter steht die Mutter, die den Blick hat, der, wie der des Dritten, Welt und Person trägt; nur
33Vgl.
Mauss (1968): Essai sur le don, 208, auch 204. sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen zum Eigennamen in LéviStrauss (1992): La pensée sauvage, besonders 226 ff.
34Interessant
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dass sie noch nicht unterscheidet und vergleicht. Man darf nicht übersehen, dass auch diese „Mutter“ Produkt des medialen Systems ist. Das „mütterliche“ System unterscheidet sich von dem Tauschsystem dadurch, dass hier die absolute Differenz – diejenige, die Sartre immer sucht und auflöst – im Innern der Welt tatsächlich und in einer nicht auflösbaren Weise besteht: die Differenz zwischen den Erwachsenen, denen die Welt gehört, und den Jugendlichen, die von ihr ausgeschlossen sind. Daher ist die Initiation auch der Zugang zur Religion. Für die Jugendlichen stehen die Erwachsenen noch an der Stelle, die im System des Tauschs nur noch Übermenschliche besetzen können.35 Dieses System und die Figuren, die es hervorbringt, müssen sterben, damit der Eintritt in die Welt der Erwachsenen möglich wird. Von dem Standpunkt aus, den wir gewählt haben – Sartres Ablehnung der Namen und seine Suche nach ihnen –, liegt das Motiv der Neugeburt so nahe, dass nur wenig dazu zu sagen bleibt. Das ganze Werk Sartres kreist um die fehlende zweite Geburt und die Suche nach einem Ersatz für diese. Die Wörter oder die Fliegen beschreiben die Leere – und die eigenartige Freiheit –, die entsteht, wenn die mütterlichen Götter sich auflösen und nichts da ist, was an ihre Stelle tritt. Die Initiation ist der „andere Ausgang“, den wir in Sartres Urszene eingezeichnet haben, die Gabe der Gestalt nicht durch einen Menschen, sondern durch den Dritten. Die Körpermarkierungen (Beschneidung, ausgeschlagene Zähne, Tätowierungen etc.) ordnen den Initianten einem Stammessegment und damit einer Position im Tausch zu. Zugleich symbolisieren sie den Preis, der für diese Position zu zahlen ist. In der gleichen Weise wie der Tausch die Frucht dem Genuss entzieht und sie zum Zeichen einer Schuld macht, wird in der Initiation der eigene Körper verwandelt. Vorher war er unmittelbar gegenwärtig, nichts als die Weise, in der das Subjekt in der Wirklichkeit ist; jetzt ist er, was der Dritte, die anderen und das Subjekt selbst mit dem Blick, der in den Zeichen festgelegt ist, in ihm sehen. Jedes mediale System muss in der Zuordnung der Menschen zu Positionen gewaltsam verfahren. In den Alten Gesellschaften, in denen den Subjekten ein für alle Mal gesagt wird, was sie zu sein haben, ist die Zuordnung die absolute Gewalt. Spätere Gesellschaften dehnen diesen Moment aus und mildern damit seinen Eingriff; in den Stammesgesellschaften ist nicht alles,
35Auch
bei Proust werden wir den Gegensatz dieser beiden Welten wiederfinden. Da Proust – wie Sartre, aber viel radikaler – zur Einsicht kommt, dass es eine Welt nicht gibt, ist für ihn die Welt des Kindes, die durch die Erwachsenen-Götter getragen ist, die einzige wirkliche Welt.
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aber doch sehr viel von dem Prozess der Zuordnung im Moment der Initiation zusammengefasst. Wir haben die Tendenz, nur solche Gewalt als notwendig und legitimierbar zu betrachten, die aus dem Naturverhältnis kommt: Wir verstehen, dass ein Kollektiv von Büffeljägern seine Männer hart machen muss. Gewalt aus dem Sozialen selbst, denken wir, kann nur aus Ungleichheit kommen und ist nicht gerechtfertigt. Es gibt aber eine notwendige und legitime Gewalt, die aus der Medialität kommt. Einmal verbinden sich die Anforderungen an die Leidensfähigkeit, die von den natürlichen Lebensverhältnissen ausgehen, mit den Anforderungen des medialen Systems; es sind nicht die Büffel oder der Hunger, die die initiatorischen Schmerzproben verlangen, es ist die Verpflichtung, die auf jedem erwachsenen Mann liegt. Aber auch in Stämmen, die einen relativ milden Umgang mit der Natur haben, bleibt der strukturelle Kern der medialen Gewalt voll erhalten: der Imperativ, das Bedürfnis in den Dienst der medialen Beziehung zu stellen und einen bestimmten Namen als das eigene Selbst anzuerkennen. Die Initiation ist ein Verhältnis der Gewalt zwischen den Vertretern des Systems und den Initianten. Aber durch diese hindurch – und nicht etwa trotz ihrer – ist sie ein dialogisches Verhältnis. Die Initiation ist nicht einfach ein Ereignis, das mit einem bestimmten Alter verbunden ist. Das Nichts-Sein des Jugendlichen in der wirklichen Welt ist ein Mangel. Die Gabe der Position füllt diesen Mangel aus, gibt den begehrten Namen. Die verstümmelnden Markierungen am Körper sind der Preis, der für die Gabe gezahlt wird und durch die sie als Gabe anerkannt wird. Auf das Begehren nach dem Namen antwortet ein „Das bist du“, das der Initiant bestätigt, indem er die Gabe annimmt. Er hätte sie auch ablehnen können – Initiationen können auch misslingen und von der normalen Übernahme der Position weg auf Außenseiterbahnen führen. Wer aber sagt „Das bin ich“, akzeptiert das Geschenk, das ihn zu dem macht, was er ist; und mit dieser Bejahung anerkennt er zugleich das gesamte System. An der Ermöglichung des Dialogs zwischen dem Subjekt, das seinen Namen gegenübersteht, und den Menschen, die von der Position des Dritten aus reden, hängt die Rationalität eines medialen Systems. Wenn man immer wieder sagt, dass die Moderne gegenüber der Alten Welt eine bestimmte Form des Vernunftgebrauchs verloren hat, so hat das seinen Grund darin, dass die Moderne diesem Dialog keinen Raum schafft. Das Medium ist dem Menschen das Nächste, und man kann nicht nicht von Medialität sprechen: Im Alltag gibt es diesen Dialog wie eh und je. Aber die ausgearbeiteten Diskurse über die Natur des Normativen und über Sozialisation sind gegenwärtig durchweg antimediale Diskurse, in denen für einen solchen Dialog kein Platz ist. Und zumindest in ihrer Schauseite, dort, wo sie sich legitimieren wollen, folgen die Institutionen den Diskursen. Die einzigen Bereiche, wo das Subjekt über den Zugang zum Medium sprechen kann
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und gehört wird, sind die therapeutischen Diskurse und die Kunst. Die Rationalität des Weltzugangs ist heute eine marginale Rationalität. Die Initiation produziert eine Zeitdimension, die hinter der zyklischen Zeit des Tauschs und quer zu ihr liegt. Die Kindheit ist fast zeitlos, sie kennt nur die kleinen Zeiten der alltäglichen Rhythmen und der medialen Spiele. Das Begehren nach den Namen, auf das die Initiation antwortet, ist von einer anderen Art als die Wünsche im Tausch; es ist ein Begehren nach den Spielen, nicht eines, das in ihrem Inneren entsteht. Das bedeutet nicht, dass das, was in der Initiation geschehen ist, erledigt wäre; die Begegnung des Subjekts mit dem, was das System von ihm will, wiederholt sich immer, wenn es um die Ehre und den Verlust oder den Erhalt des Namens geht. Die Zeit der Initiation ist die der Wiederholung einer Begegnung, in der sich die zyklische Zeit begründet. Der Häuptling mit dem „verfaulten Gesicht“ hat gleichzeitig seinen Namen verloren und die zyklische Zeit des Potlatsch verlassen. Zur Rationalität und Geschichte des Tauschs Wir lesen Mauss und Lévi-Strauss mit den Fragen, die sich von Sartres Texten her stellen: Wie heften sich die Bedeutungen an die Dinge und geben ihnen die Abwesenheit, die Weltdingen eigen ist und die der Ekel aufhebt? Wie kann man sich seiner zukünftigen Wünsche gewiss sein? Was gibt dem Begehren ein Recht, das das Gegenüber anerkennen oder bestreiten kann? Wie kann die Bindung an die Namen bejaht werden? Wenn der Blick, der der Welt ihre Festigkeit gibt, der eines allmächtigen Anderen ist, was kann dieser Andere sein, wenn nicht das Produkt einer Illusion? Man kann den Tausch als einen Mechanismus beschreiben, der diese Fragen löst, der eine legitime Ordnung der Namen herstellt. Allerdings ist auch in der massiven Stilisierung dieser Skizze die Rationalität des medialen Systems nicht ohne Lücken. Die wesentliche liegt im System selbst. Zwar ist der Tausch ein absolut legitimierendes Prinzip. Aber ein Tauschsystem ist nichts ohne ein konkretes Medium, und die Wahl des Mediums enthält immer Willkür und Ungerechtigkeit. In dem Kollektiv der Büffeljäger wird der Schwache und Langsame nicht unbedingt weniger zu essen haben, aber er wird weniger wert sein. Das Medium verwandelt Verhältnisse zu Dingen in Eigenschaften der Namen; für das Kollektiv hat diese Verwandlung einen Sinn; gegenüber dem einzelnen Subjekt kann sie nie legitimiert werden. Diese Art der Ungerechtigkeit scheint uns so selbstverständlich, dass wir sie kaum als solche wahrnehmen; die auffälligere Ungerechtigkeit liegt in der Ungleichheit der Namen, denen die Subjekte zugeordnet werden. In den weitgehend egalitären Stammesgesellschaften liegt hier die schwerwiegendste Willkür in der Scheidung von Mann und Frau und
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in der Verwendung der Frau als Tauschmaterial. In den späteren, ständisch geordneten Gesellschaften wird das Ausmaß der Ungerechtigkeit drastisch zunehmen. Wir haben das Verfahren kennengelernt, mit dem der Tausch seine legitimierende Kraft auf die Willkür der medialen Zuordnungen ausdehnt. Der Platz ist Gabe; wer die Gabe annimmt, hat damit das System als Ganzes anerkannt. Die Regeln der medialen Spiele infrage stellen hieße die eigenen Namen infrage stellen – es gibt für diese Spiele kein Außen, von dem aus man über die Regeln reden könnte. Es hieße, während man spielt, die Regel verändern zu wollen, natürlich zu seinem Vorteil; es wäre ein Versuch zu betrügen. Diese selbstreferenzielle Struktur liegt hinter vielen Argumentationen, mit denen in der Alten Welt Kritikern der bestehenden Ordnung geantwortet ist. Sie gibt Legitimitätsdiskussionen (etwa zwischen Ketzern und Vertretern der Orthodoxie) eine spezifische Färbung; sie verbietet es grundsätzlich, wie wir es gewohnt sind, in einer Argumentation Genesis und Geltung zu unterscheiden; die Motive der Argumentierenden gehören grundsätzlich zur Argumentation. Keine Kritik kann dem Vorwurf der Interessiertheit entgehen, aber sie kann ihn umkehren; der Ketzer kann ihn gegen die Orthodoxen wenden. Das Argument wirkt also durchaus in der Weise, dass es die bestehende Welt wirklich legitimiert: Die Ketzer wie die Orthodoxen haben die berechtigte Überzeugung, in einer legitimen Welt zu leben. Aber diese Legitimität legitimiert nicht inhaltlich; sie gibt nur der Argumentation eine bestimmte Form. Diese Form ist in der Logik des Tauschsystems vorgezeichnet. Man kann zwei wesentliche Richtungen unterscheiden. Die Tauschsysteme – und vor allem die komplexen – sind erstens voller innerer Widersprüche; mit ihrer Hilfe kann das Betrugsargument gegen die Vertreter des Bestehenden gewendet werden. Zweitens sind Tauschsysteme generative Systeme, die auf verschiedenen Abstraktionsebenen erfasst werden können und von denen, die in ihnen leben, auch tatsächlich erfasst werden. Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Ein in ein Lager verbrachter Stamm australischer Ureinwohner baut dort die alte Organisation nach Hälften wieder auf. In den veränderten Lebensumständen kann das nur eine ganz andere Organisation sein; die Struktur wird nicht in ihrer konkreten Ausprägung bewahrt, sondern auf einer bestimmten Abstraktionsstufe. Die ganze Argumentation der Elementaren Strukturen beruht auf diesem generativen Prinzip. Es ist nicht nur der Forscher, der die konkreten Organisationen aus der Grundform des Frauentauschs ableitet; die Kollektive können, wenn sie durch Umstände genötigt werden, sich auf der Basis von abstrakteren Formulierungen ihrer Bauprinzipien neu aufbauen; sie können sogar eventuell zwischen den grundlegenden Alternativen des reziproken oder des
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Kettentauschs wählen.36 Da die abstrakteren Formulierungen des Systems immer die unter dem Gesichtspunkt der inneren Konsistenz reineren sind, lassen sich aus ihr leicht Argumente gegen die notwendig mit Kompromissen behaftete reale Inkarnation des Systems – die für sich wiederum das Argument der Existenz ins Feld führen kann – ableiten. Die Legitimationsregeln der Alten Welt sind uns sehr fern. Wenn man sich dem Verständnis nähern will, dann muss man sich klarmachen, dass über den Tausch vergesellschaftete Kollektive grundsätzlich andere Verfahren verwenden als über Interessen vergesellschaftete. Man darf nicht versuchen, die einen als mangelhafte oder unbewusste Realisierung der anderen zu verstehen; man muss einen Ort finden, von dem aus beide Verfahren wahrnehmbar sind. Aus zwei Gründen haben wir die Stammesgesellschaften als Beispiele eines medialen Systems gewählt: einmal wegen ihrer relativen Einfachheit; zweitens, weil die Wissenschaft, die sich mit den Stammesgesellschaften beschäftigt, die Ethnologie, schon durch die Fremdheit ihres Gegenstands dazu geführt wird, systematische Zusammenhänge herauszuarbeiten; wohingegen ständische Tauschgesellschaften Gegenstand der Geschichtsschreibung sind; Geschichtsschreibung geht aber von dem Prinzip aus, dass der Wissenschaftler Einzelnes als Einzelnes verstehen kann, ohne dass er genötigt ist, den Umweg über den systematischen Zusammenhang zu machen. Und wo die Geschichtsschreibung versucht, Totalitäten zu beschreiben, wie etwa in der marxistischen Tradition, dann legt sie immer hinter ihren Gegenstand eine moderne Theorie des Sozialen. Der Nachteil dieser Auswahl liegt darin, dass die Stammesgesellschaften ein sehr spezifisches Bild eines Tauschsystems geben, in dem wir wenig von dem wiedererkennen, was wir aus den uns näher liegenden Bereichen, dem mittelalterlichen und absolutistischen Europa kennen. Daher will ich im Folgenden zwei Figuren des Tauschs in ständischen Gesellschaften kurz darstellen, die Figur der Rache und die der großen Tat. Damit verbindet sich eine Diskussion der inneren Beziehung zwischen Tausch und Erzählung. Auf einige wesentliche und leicht sichtbare Unterschiede möchte ich hier schon hinweisen. 1. Stammesgesellschaften verankern die Positionen des Tauschs in einer für den heutigen Betrachter sehr künstlich anmutenden Weise in Klassifizierungen der Natur, die auf das Kollektiv zurückbezogen werden. Die Agrargesellschaften
36In
der Terminologie von Lévi-Strauss ist das die Alternative von eingeschränktem und verallgemeinertem Tausch.
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verwenden zu diesem Zweck den Landbesitz. Die durch Besitzansprüche abgegrenzte Karte eines Landes ist, sehr grob gesprochen, das Material, aus dem die Namen gebildet sind. 2. Die Stammesgesellschaften sind weitgehend egalitär, die Tauschbeziehung entsprechend symmetrisch (mit der einen großen Ausnahme der Geschlechterbeziehung). Die ständischen Gesellschaften produzieren vorwiegend asymmetrische Tauschbeziehungen. Der Feudalherr gibt ein Geschenk, das nicht erwidert werden, sondern eine dauernde Schuld – eben die „Treue“ des Vasallen – erzeugen soll. Das Verhältnis von Bauer und Adligen ist durch eine noch tiefergehende Asymmetrie geprägt. In der Feudalbeziehung liegt diese in dem Umfang der Leistungen; zwischen den Ständen besteht ein Unterschied in der Qualität: Bäurische Abgaben können ihrem Wesen nach mit Leistungen im Krieg nicht verglichen werden, sie sind grundsätzlich von geringerem Wert. Bauern und Adlige spielen zwar im selben Spiel; ihnen stehen aber, wie im Schach, nicht dieselben Züge zur Verfügung. 3. Im alten Europa steht neben der „Welt“, die auf dem Tausch beruht, der christliche Glaube, der „nicht von dieser Welt“ ist. „Nicht von dieser Welt“ ist der Glaube dadurch, dass er mit einer unendlichen Schuld und einer unendlichen Gabe arbeitet; er entwertet jede unmittelbare mediale Beziehung und sucht, zwischen den Menschen Beziehungen zu schaffen, die über das Verhältnis des Einzelnen zu Gott vermittelt sind. Der Glaube wendet sich gegen die Welt der Plätze und bezieht sich eben dadurch auf diese – das erste christliche Gebet sagt: vergib uns unsere Schuld –, und umgekehrt räumt die „Welt“ dem Glauben, der ihre Prinzipien aufhebt, in ihrem Inneren einen Platz ein. Dieses System, das seine eigene Negation in sich aufgenommen hat, ist von den Stammesgesellschaften in qualitativer Weise unterschieden. 4. Schon im Hochmittelalter gewinnen die modernen Formen der Vergesellschaftung über Ware und Staatlichkeit, die die alte Medialität auflösen, an Bedeutung. So entsteht eine neue Zone von Konflikten und Kompromissen. Aber jenseits aller Differenzen gibt es einen Zug, der der ganzen Alten Welt gemeinsam ist. Das mediale System ist verankert im Kreislauf der biologischen Bedürfnisse mit der Natur. Es bestimmt die Positionen, zwischen denen getauscht wird, ökonomisch als Besitz von Mitteln der Bedürfnisbefriedigung, und es ordnet diesen Positionen Familien mit geregelter Nachfolge zu. Es verwendet also die Ökonomie als das fundamentale Medium der Namen. Diese Verwendung haben wir das „Platzmedium“ genannt.
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Daraus leiten sich weitere Gemeinsamkeiten ab. • Ökonomische und politische Beziehungen sind von derselben Art und sind immer zugleich auch moralische Beziehungen. • Jeder Mensch – jedenfalls solange er in der „Welt“ lebt – hat einen einzigen Namen, den er mit dem Eintritt in das erwachsene Leben übernimmt. Alle Namen, die er im Lauf seines Lebens erwerben oder verlieren kann, beruhen auf dieser Grundlage. • Es ist keine Alternative zu dem in der Kopplung von Tausch und Ökonomie gegebenen Prinzip des Sozialen denkbar; damit hat die gesellschaftliche Ordnung den Charakter von etwas ganz und gar Natürlichem.37 Die historische These, die ich im Folgenden entwickeln will, besagt, dass das Prinzip der Medialität, mit dem die Menschheit bisher gearbeitet hat, das Platzmedium, seit dem 18. Jahrhundert infrage gestellt und in der entwickelten Moderne (in der „Postmoderne“) aufgegeben wird. Daher ist es berechtigt, wenn wir hier die ganzen komplexen Systeme der Alten Welt unter diesem einen extrem abstrakten Gesichtspunkt zusammenfassen. Daher können wir auch Sartres Suche nach einer legitimen Welt und die Systeme der Stammesgesellschaften unmittelbar in einer Logik von Frage und Antwort aufeinander beziehen. Es ist die Erfahrung des „Ekels“ (als einer für unsere Zeit repräsentativen), die das Problem der medialen Organisation der Welt auf seiner abstraktesten Ebene als ein konkretes Problem stellt. Die Gabe und die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft sind zwar berühmte Werke, aber ihre grundlegende These, dass der Tausch die erste Vergesellschaftungsform der Menschheit darstellt, ist in den Gesellschaftswissenschaften kaum diskutiert worden; so ist sie zum Beispiel in den Kapiteln von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, die sich genau mit diesem Problem beschäftigen, nicht einmal erwähnt. Vor Mauss hat schon Georg Simmel in dem Exkurs über Treue und Dankbarkeit das Geben als eine der stärksten soziologischen Funktionen beschrieben, ohne die überhaupt keine Gesellschaft zustande kommen würde.38 Im Zusammenhang einer Beschäftigung mit dem Werk von Simmel ist in den 1960er Jahren von George C. Homans, Alvin W.
37In
der marxistischen Tradition wird diese Natürlichkeit erst bei Althusser infrage gestellt. Simmel (1992 [1908]): Exkurs über Treue und Dankbarkeit, 592.
38Vgl.
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Gouldner, Peter M. Blau und anderen der Begriff des Tauschs und auch der Aufsatz von Mauss intensiv diskutiert worden.39 Dabei ging es vor allem um den Einbau des Begriffs in den aktuellen theoretischen Zusammenhang. Die Einsicht, dass der Tausch „die Basis ist, auf der das gesamte soziale und ethische Leben der primitiven Zivilisationen wahrscheinlich beruht“,40 führt nicht zu der Konsequenz, dass dann auch das Verständnis des Modernisierungsprozesses neu überdacht werden muss. Durchgehend wird der Tausch als ein Mittel angesehen, Beziehungen zwischen Personen zu schaffen, die als diesen Beziehungen vorgängig angesehen werden, und nicht als ein System, das mit den Beziehungen auch die Sich-Beziehenden, also die Personen und die Weltgegenstände, als Selbst- und Beziehungsobjekte produziert. In diese Perspektive hat Lacan seine Aufnahme von Lévi-Strauss gestellt; für uns ist sie durch die Verknüpfung der Analyse des Tauschs mit der bei Sartre impliziten Frage nach den Bedingungen einer stabilen und legitimen Welt gegeben. Nur in diesem Zusammenhang wird das erst jetzt, in der „Postmoderne“, sichtbare Phänomen verständlich, dass die Auflösung des letzten Kerns der alten Institutionen des Tauschs nicht nur in die Strukturen der Gesellschaft eingreift, sondern in das, was wir Wirklichkeit nennen, in den Aufbau der Welt.
Literatur Dahme, Heinz-Jürgen. 1981. Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmels Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie. 2 Bd. Stuttgart. Duerr, Hans Peter. 1988. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 1: Nacktheit und Scham. Frankfurt a. M. Ders. 1990. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2: Intimität. Frankfurt a. M. Ders. 1992. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 3: Obszönität und Gewalt. Frankfurt a. M. Durkheim, Émile. 1960. Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris (Erstveröffentlichung 1912). Gouldner, Alvin W. 1960. The norm of reciprocity. A preliminary statement. American Sociological Review 25 (2): 161–178. Greimas, Algirdas J., und Joseph Courtés. 1979. Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage. Paris.
39Zusammengefasst
ist diese Diskussion in Dahme (1981): Soziologie als exakte Wissenschaft, 179–194. 40So Alvin W. Gouldner (im Anschluss an Richard Thurnwald) in Gouldner (1960): The Norm of Reciprocity, 161.
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Lévi-Strauss, Claude. 1959. Anthropologie structural. Paris. Ders. 1962. La pensée sauvage. Paris. Ders. 1967. Les structures élémentaires de la parenté. Paris. Ders. 1968. Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss. In Sociologie et Anthropologie, Hrsg. Marcel Mauss, IX–Lll. Paris. Mauss, Marcel. 1968. Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In Sociologie et Anthropologie, Hrsg. ders., 143–279. Paris. Müller, Werner. 1978. Die Nonhongschinga und die strukturalistische Ethnologie. In Sehnsucht nach dem Ursprung. Zu Mircea Eliade, Hrsg. Hans Peter Duerr. Frankfurt a. M. Rorty, Richard. 1988. Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays. Stuttgart. Simmel, Georg. 1908. Exkurs über Treue und Dankbarkeit. In Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Hrsg. ders., 581–598. Leipzig.
Der Traum von der archaischen Spontaneität und das Gesetz der Vergeltung. Wie die epischen Helden hassen und töten (1985)
Dank des großen Werks von Norbert Elias haben wir ein sehr deutliches und gut dokumentiertes Bild von der Entwicklung der Affekte im Prozess der Zivilisation.1 Am Anfang steht ein spontanes Ausleben der Affekte, das nur von äußeren, realen Zwängen in gewisse Bahnen geleitet wird, aber noch nicht von inneren Zwängen des schlechten Gewissens, der Peinlichkeit, des Abscheus zurückgehalten oder gar verdrängt ist. Gerade im Bereich der Gewalt bringt Elias eine Fülle von Beispielen aus der mittelalterlichen Epik und Geschichtsschreibung, die zeigen, wie ungehemmt diese Menschen sich der Lust am Kämpfen, am Töten, am Zerstören hingegeben haben: „Das Leben in der mittelalterlichen Gesellschaft drängte in die entgegensetzte Richtung. Raub, Kampf, Jagd auf Menschen und Tiere, das alles gehörte hier unmittelbar zu den Lebensnotwendigkeiten, die dem Aufbau der Gesellschaft ent-
1Elias
(1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Das Werk, schon vor dem Krieg geschrieben, aber erst in den 70er Jahren berühmt und einflussreich geworden, beschreibt den Prozess, in dem der europäische Mensch seine Körperlichkeit immer schärfer kontrolliert und sorgfältiger abschirmt, also die Verstärkung des Ekels gegenüber dem Exkrementellen, der Scham gegenüber dem Nackten, der Kontrolle von aggressiven und erotischen Regungen. Diese Entwicklung beschreibt Elias auf der Grundlage eines reichen, bisher unbeachteten Materials, und er versucht sie auch zu erklären. Die folgenden Zitate Bd. 1, 266–268.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_3
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M. Waltz sprechend offen zutage lagen. Und es gehörte demgemäß auch für die Mächtigen und Starken zu den Freuden des Lebens. […] Nur dann Lust am Leben, am Essen, Trinken, Schlafen haben, wenn man das Kriegsgetümmel vor Augen hat: die Toten mit den aufgerissenen Flanken und die todbringenden Lanzen, die wiehernden Pferde, die ihren Herrn verloren haben, die Schreie: ‚Vorwärts‘ und die Hilfeschreie der Unterlegenen, das gibt im literarischen Niederschlag noch einen Eindruck von der ursprünglichen Wildheit des Gefühls. […] ‚Er verbringt sein Leben damit‘, heißt es da zum Beispiel von einem Ritter, ‚zu plündern, Kirchen zu zerstören, Pilger anzufallen, Witwen und Waisen zu unterdrücken. Er gefällt sich besonders darin, die Unschuldigen zu verstümmeln. In einem einzigem Kloster, dem der schwarzen Mönche von Sarlat, findet man 150 Männer und Frauen, denen er die Hände abgeschlagen oder die Augen ausgedrückt hat. Und seine Frau ist ebenso grausam. Sie hilft ihm bei seinen Exekutionen. Ihr macht es selbst Vergnügen, die armen Frauen zu martern. Sie ließ ihnen die Brüste abhauen oder die Nägel abreißen, so daß sie unfähig waren zu arbeiten.‘ Als Ausnahmeerscheinung als ‚krankhafte‘ Entartung, mögen solche Affektentladungen auch noch in späteren Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung auftreten. Aber hier gab es keine strafende, gesellschaftliche Gewalt. Die einzige Bedrohung, die einzige Gefahr, die Angst machen konnte, war die, im Kampf von einem Stärkeren überwältigt zu werden. Abgesehen von einer kleinen Elite, gehörte, wie Luchaire, der Historiker der französischen Gesellschaft des 13. Jahrhunderts feststellt, Rauben, Plündern, Morden durchaus zum Standard der Kriegergesellschaft dieser Zeit, und es spricht kaum etwas dafür, daß sich das in anderen Ländern oder in den folgenden Jahrhunderten anders damit verhielt. Die Grausamkeitsentladung schloß nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude. Bis zu einem gewissen Grad drängte sogar der gesellschaftliche Aufbau in diese Richtung und machte es notwendig, ließ es als zweckmäßig erscheinen, sich so zu verhalten.“
Jeder Kenner mittelalterlicher Literatur wird dieses Bild bestätigen, man könnte seine Belege fast beliebig vervielfachen. So klar der Sachverhalt ist, so problematisch ist seine Interpretation. Ich möchte hier zeigen, dass die heute geläufige Interpretation durch das Begriffspaar Spontaneität bzw. moralische Unterdrückung dieser Spontaneität eine projektive Sicht unserer Kultur ist. Weil die Lust an der Tötung eines Menschen uns verboten ist, sehen wir in ihr den Ausdruck einer Spontaneität, die unter der Fassade von Geboten und Verboten verborgen ist. In den Zeugnissen der archaischen Kulturen liegt aber offen auf
Der Traum von der archaischen Spontaneität und das Gesetz ···
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der Hand,2 dass die Lust an der Gewalt nicht nicht verboten ist, sondern dass sie geboten ist; sie ist der Bestandteil einer Gesetzlichkeit. Eine Reihe von Vorurteilen bringt uns dazu, diese Gesetzlichkeit als Spontaneität wahrzunehmen: bezüglich des Mittelalters das hartnäckige Vorurteil, die Moral des mittelalterlichen Alltagslebens sei eine christliche gewesen, obwohl wir wissen, dass eh und je das Leben im Geiste Jesu dem Leben nach den Gesetzen der Welt entgegengesetzt war.3 Wichtiger ist aber wohl, dass unsere Moral – das „Unser“ im weitesten Sinne genommen –, die des Gewaltverbots und der Unterwerfung, sich im Kampf gegen diese alte Gesetzlichkeit durchgesetzt hat; genau mit den Vorwürfen des Egoismus und der Amoral, die bei einer Argumentation wie der von Elias mit Weglassen der Wertung übernommen ist. In der archaischen Gesetzlichkeit dagegen gehen Affekt und Gesetz eine Innigkeit der Verbindung ein, für die wir keinen Begriff haben. Ich möchte die Struktur der Gesetzlichkeit der archaischen Gewaltlust nicht an einem mittelalterlichen epischen Text darstellen, sondern an der Ilias. Das hat praktische Gründe. Es geht ja darum, nicht nur zu zeigen: diese Menschen lieben Gewalt, sondern auch: welche Gewalt müssen sie lieben? Das Verfahren von Elias, Handlungs- bzw. Erzählungsfragmente ohne Beziehung auf ihren Zusammenhang zu verwenden, muss genau dieses Resultat produzieren: die unreflektierte Einfügung in den eigenen Zusammenhang. Die mittelalterliche Epik ist wenig bekannt, und es wäre langwierig, die nötigen Zusammenhänge darzustellen. Außerdem sind die ältesten erhaltenen Texte der mittelalterlichen Epik (der älteste ist das Rolandslied, das um 1100 seine schriftlich überlieferte Form gefunden hat) zeitgenössisch mit der Entstehung der raffinierten Kultur der höfischen Liebe, mit der Entwicklung einer originellen Philosophie und Theologie; sie beschreiben nicht die archaische Welt, sondern deren Untergang, die moderne Moral ist schon gegenwärtig; hinter der Lust an der Gewalt liegt nicht nur, wie auch in der Ilias, das Bewusstsein des Grauens, sondern schon das schlechte Gewissen oder die moralische Legitimation. Ich zitiere eine der berühmtesten Stellen der Ilias, den Wortwechsel zwischen Achill und dem zu Tode verletzten Hektor:
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offen, dass wir es – aufgrund der ererbten Vertrautheit mit archaischen Kulturen, die wir immer noch besitzen – auch wissen, wenn wir es als Theoretiker vergessen. 3Damit ist nicht geleugnet, dass christliche und weltliche Moral sich gegenseitig beeinflussen, aber auszugehen ist jedenfalls von der Differenz. Die wechselseitige Durchdringung von christlichen Traditionen und Alltagsleben ist ein langer Prozess, der noch nicht abgeschlossen war, als die aufklärerische Dechristianisierung schon einsetzte.
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M. Waltz „Aber nicht gänzlich zerschnitt das wuchtige Erz ihm die Kehle Also, daß er noch einmal mit Worten ihm entgegnen konnte, Doch er sank in den Staub; da frohlockte der edle Achilleus: Hektor, wohl hast du gehofft, nach Patroklos’ Tod und Entwaffnung Sicher zu sein und mich, den Entfernten, zu wenig beachtet. Narr du! War ich doch selbst als weit überlegener Rächer Ferne von ihm bei den räumigen Schiffen dahinten geblieben, Ich, der die Glieder dir löste! Nun sollen dich Vögel und Hunde Schimpflich zerfleischen, doch ihn die Achaier in Ehre bestatten. Kaum noch atmend entgegnete ihm der strahlende Hektor: Flehend beschwör ich beim Leben dich hier, bei Knien und Eltern, Laß die achaiischen Hunde mich nicht bei den Schiffen zerreißen, Sondern nimm dir Erz und Gold in genügender Menge, Gaben, welche mein Vater dir gibt und die würdige Mutter. Meinen Leib aber gib zurück, auf daß in der Heimat Trojas Männer und Frauen den Toten in Ehren verbrennen. Finster blickend entgegnete ihm der schnelle Achilleus: Hund, beschwöre mich nicht bei meinen Knien und Eltern. Möchten doch Zorn und Wut mich treiben, in Stücke dich reißend, Roh dein Fleisch zu verschlingen dafür, daß du Böses mir tatest. Niemand soll dir von deinem Kopf die Hunde verscheuchen, Wenn sie auch zehnmal so viel und zwanzigmal Schätze zur Sühnung Brächten und stellten hierher und anderes noch mir versprächen, Nicht, wenn dich selber mit Gold auch aufzuwägen geböte Priamos, Dardanos’ Sohn, auch dann soll die würdige Mutter Nicht auf die Bahre dich betten, den leiblichen Sohn zu beklagen, Sondern es werden dich ganz die Hunde und Vögel zerreißen. Schon im Sterben erwiderte ihm der strahlende Hektor: Ach, ich kenne dich wohl und seh’ es deutlich, du warest Nicht zu erweichen; du trägst ein eisernes Herz doch im Busen. Siehe nur zu, daß nicht für mich die Rache der Götter Eines Tages dich treffe, wenn Paris und Phoibos Apollon Dich, wie tapfer du bist, vernichten am Skaiischen Tore. Also sprach er, und gleich umfing ihn des Todes Verhängnis. Rasch entflog die Seele den Gliedern, hinunter zum Hades, Klagend über ihr Los, von Kraft und Jugend geschieden. Selbst dem Toten entgegnete noch der edle Achilleus: Stirb! Mein eigenes Los empfang’ ich dann, wenn es einmal Zeus zu vollenden beschließt und die andern unsterblichen Götter.“4
4Zitiert
nach der Voß’schen Übersetzung der Ilias (vgl. Schwartz. Hrsg. 1960), 22. Gesang, Vers 328–366.
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Darauf durchsticht Achill Hektors Ferse zwischen Sehne und Knöchel, zieht Lederriemen durch die Wunden, bindet die Leiche an seinen Wagen und schleift sie vor den Augen der Eltern und Hektors Frau um die Mauern der Stadt. Der moderne gehemmte und moralische Leser – wenn es ihm überhaupt möglich ist, wahrzunehmen, was hier geschildert wird – sieht mit Grauen und Bewunderung, wie skrupellos hier die Rachlust sich auslebt. Für ihn ist die Lust an der Rache ein reiner Affekt, als solcher gerade kenntlich daran, dass er moralischen Regeln widerspricht. Aber ist das in der Ilias wirklich so? Hektor hat Patroklos erschlagen und hat ihn der von Achill entliehenen Waffen beraubt: eine doppelte Kränkung, Beraubung, Entehrung; Entehrung von Patroklos, Beraubung und Entehrung auch Achills, dessen Herrn und Freundes. Für diesen doppelten Raub der Ehre muss Hektor bezahlen. Es ist die lex talionis, die hier herrscht, das Gesetz der Vergeltung. Achill will sicher seinen Freund rächen und sich für den Verlust des Freundes rächen; er will es, aber er muss es auch. Das Gesetz von Raub und Vergeltung bestimmt die gesamte Struktur der Ilias; in ihr sind drei solche Geschichten ineinander verschachtelt. Der Raub Helenas durch den Trojaner Paris wird gerächt durch die Zerstörung Trojas; Agamemnon raubt Achill dessen Beute, die schöne Briseïs – dafür bezahlt er mit dem Rückzug Achills vom Kampf –, die dank der Hilfe von Achills göttlicher Mutter, Thetis, das griechische Heer an den Rand der Vernichtung führt; Hektor tötet Achills Freund Patroklos, dafür zahlt er mit dem Tod und der Schändung seines Leichnams. Dass dieses Gesetz ein Gesetz, das heißt auch ein Zwang ist, wird in der Ilias immer wieder ausgesprochen; das gilt genauso für die altfranzösische Epik. Wenn die Lust an Kampf, Rache, Zerstörung gefeiert wird, so wird auch mindestens ebenso eindringlich ihr Schrecken geschildert; das Glück eines friedlichen Lebens erscheint oft als der eigentliche Sinn des Lebens und der Krieg als ein furchtbares Verhängnis. Mehrmals erliegen die Griechen fast der Versuchung, Vergeltung sein zu lassen und zurückzusegeln in die Heimat. Selbst die großen Helden müssen oft mit verletzenden Reden zum Kampf angetrieben werden. Man kann sich fragen: Hasst Agamemnon die Troer, weil ein Troer seine Schwägerin geraubt hat, und unterwirft er sein Volk seinem Hass? Oder ist er – der Völkerkönig – gezwungen, einen Hass auszuleben, den er vielleicht gar nicht fühlt? Authentische Leidenschaft oder Unterwerfung unter einen Rollenzwang? Die Frage ist nicht ganz anachronistisch; die Epik kennt viele ‚schlechte‘, bequeme Fürsten. Anachronistisch ist die uns so selbstverständliche Trennung von Affekt und moralischem Zwang. Ein ‚guter‘ König ist derjenige, der das Gesetz der Ehre und der Vergeltung empfindet und höher einschätzt als ein friedliches Leben, ein Mensch, dessen Affekte dem Gesetz unterworfen sind.
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Die archaische Verehrung der Gewalt hat Hegel in seiner Analyse der Beziehung von Herr und Knecht besser verstanden als Elias;5 sie hat nichts zu tun mit einem spontanen Ausleben von Affekten, sondern mit einer Persönlichkeitsstruktur, in deren Zentrum die Bereitschaft zum Todesrisiko liegt. Man muss sich daran erinnern, dass die zentralen feudalen Standesschranken, im Prinzip die zwischen Adligen und Unfreien, sich in der historischen Entwicklung an der Möglichkeit zu kämpfen herausgebildet haben. Wer sich eine Waffe und ein Pferd leisten konnte, blieb frei, war nur einer Gerichtsbarkeit von Gleichrangigen unterworfen, aus der er sich im Prinzip immer zurückziehen konnte auf das Recht, um sein Recht zu kämpfen. Wer sich die Waffen nicht leisten konnte, verlor nun auch das Recht, sie zu tragen, und wurde einer entehrenden, auf körperlichen Strafen beruhenden, herrschaftlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Das Recht, um sein Recht zu kämpfen, und die Bereitschaft, das Leben einzusetzen, ist der Kern der archaischen Persönlichkeit, das, was den Adligen vom Unfreien unterscheidet. Das alleine wäre eine einigermaßen romantische Stilisierung. Es ist zwar wahr, dass in der Ilias der Tod der Helden – ein Tod, zu dem sich der Held entschieden hat – ein zentrales Thema ist, und das gilt auch für sehr viele altfranzösische Epen; aber noch fundamentaler ist das Thema von Raub und Vergeltung. Kampf um Land, Reichtum, Frauen – es gibt kein Epos, in dem es nicht darum ginge. Es geht um Eigentumsfragen. Das erscheint banal. Es ist etwas weniger banal, wenn man sich erinnert, dass Eigentum etwas ist in bestimmten Zusammenhängen: eine Perle am Hals einer Herzogin oder einer Kokotte, im Safe eines Bankiers, im Diadem eines romanischen Heiligen, im Potlatsch eines Maori-Häuptlings – jedes Mal dasselbe Eigentum, aber jedes Mal ist die Perle etwas ganz Anderes. Wir sehen den Kampf um Eigentum in den Epen selbstverständlich als Kampf um Macht oder allenfalls um Prestige. Das ist er auch. Aber was Macht und Prestige ist, ist bestimmt im Inneren einer Gesetzlichkeit, der der Vergeltung. Was den epischen Helden ausmacht, den sogenannten spontanen, kampflustigen, der tatsächlich immer im Zentrum der Epen steht, einen Roland, Achill, Wilhelm von Orange, ist die Rückhaltlosigkeit der Identifikation mit dem Eigentum in dieser Dimension der Vergeltung. Zehn Jahre seines Lebens zu opfern und einen gigantischen Krieg anzuzetteln, um
5In
der Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel den Kampf um Anerkennung als notwendige Phase der Entstehung des Selbstbewusstseins. In diesem Kampf entstehen zwei Subjekte (die dialektisch aufeinander bezogen sind): der Herr, dem die Anerkennung wichtiger ist als das Leben, und der Knecht, der das Leben der Freiheit vorgezogen hat.
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dem Bruder die davongelaufene Frau zurückzuholen, würde uns heute eher als ein sonderbares, kaum als ein besonders spontanes Verhalten erscheinen. Zumal die spontanen emotionalen Beziehungen zwischen den Brüdern, zwischen dem Bruder und der Schwägerin für dieses Verhalten offenbar gar keine Rolle spielen. Wir würden hier eher das Gegenteil von Spontaneität sehen, nämlich die Unterwerfung unter soziale Zwänge. Das wäre in der anderen Richtung ebenso anachronistisch. Wir würden dabei die intensive emotionale Bejahung dieser Zwänge übersehen, die die epischen Helden auszeichnen. Es sind wieder die Begriffe, die hier verwirrend wirken. Wir alle kennen und verstehen zum Beispiel den Arzt, der heftig und persönlich gekränkt ist, wenn die Ärzteschaft angegriffen wird. Er verhält sich im Prinzip nicht anders als Agamemnon gegenüber Paris. Nur gibt es bei uns kaum Regeln, die solche Identifikationen festlegen. Sie erscheinen als zufällige Charaktereigenschaften. Die archaischen Gesellschaften präzisieren sehr genau, in welchem Umfang sich eine Person mit ihrer Position, ihrem Eigentum, mit der Familie zu identifizieren hat. Die epischen Helden sind Idealfiguren gerade dadurch, dass sie sich fast vollständig mit ihrem Eigentum und speziell in der Dimension der Vergeltung identifizieren. Die epischen Helden sind die, die sich am tiefsten kränken lassen, die nie vergeben, nie verzeihen. Aber genau darin sind sie nicht Abbilder des ‚natürlichen‘, ‚spontanen‘ Menschen, wie er damals lebte, sondern sie sind Vorbilder, Ideale, inkarnieren eine Norm. Die spätere, wenn man will: höhere Norm verlangt gerade die totale Nicht-Identifikation mit dem Eigentum (oder versucht jedenfalls, die Identifikation einzuschränken). Jesus und der heilige Franziskus sind ohne Eigentum, sie können nicht gekränkt werden, sie brauchen nicht einmal zu verzeihen. Das Fazit: Das uns so geläufige Begriffspaar „Spontaneität/reiner Affekt“ gegen „gesellschaftliche Zwänge/verinnerlichte Moral“ verstellt den Zugang zu einem Verständnis der Geschichte menschlicher Lebensweisen. Es gibt keinen Affekt ohne Gesetz; was wir als Spontaneität wahrnehmen können, verweist nur auf eine tiefere Verknüpfung von Trieb und Gesetz, als wir sie wahrhaben wollen. Oder anders ausgedrückt: Was wir als Unterdrückung der Spontaneität und der Affekte sehen möchten, ist in Wirklichkeit die Unterdrückung eines Gesetzes durch ein anderes. Dieser Prozess ist im europäischen Mittelalter im 12. Jahrhundert schon sehr klar fassbar; er ist das große Thema der französischen Heldendichtung. Diesen Prozess möchte ich im nächsten Abschnitt darstellen.
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M. Waltz „Die einfachste surrealistische Haltung besteht darin, mit Revolvern in der Faust auf die Straße zu gehen und solange man kann aufs Geratewohl auf die Masse zu schießen.“ André Breton, Zweites surrealistisches Manifest (1930)
Im Prinzip ist das hier Gesagte banal. Wir brauchen nicht die Ilias und das Rolandslied zu bemühen, um die archaische Welt kennenzulernen. Wir genießen die archaische Mentalität in den Western oder in den Filmen, die den Ehrenkodex von Mafiosi oder Gangstern zelebrieren. Wir begegnen ihr mit einer Mischung von ethnologischem Verständnis und elementarer Ablehnung, wenn Türken mit Einsperrung und Messer die Ehre ihrer Töchter schützen. Wir verurteilen und hassen sie, wenn sie uns in der Ideologie und im Verhalten der Konservativen entgegentritt. Im Grunde sind uns die Strukturen der archaischen Bejahung von persönlicher Gewalt bestens bekannt: die Identifikation der Person mit ihrem Eigentum, wer dieses angreift, greift ihre Ehre an,6 das Recht, die Pflicht, diese Ehre mit der Waffe zu verteidigen, das Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn. Gewalt taucht aber in unserem Denken noch in einem ganz anderen Zusammenhang auf. Wahrscheinlich kann man im französischen Surrealismus der 1920er Jahre diese Denkweise zum ersten Mal finden. Einerseits hassen die Surrealisten den Krieg, den Nationalismus, die Kirche, alle Institutionen, die Gewalt kollektiv organisieren, aber auch die archaischen Gewaltstrukturen schätzen sie wenig. Auf der anderen Seite erklären sie, in die Menge zu schießen, sei der wahre surrealistische Akt. Das bedeutet nicht, dass sie einen solchen Akt empfohlen oder je etwas Derartiges praktiziert hätten. Es heißt: Wenn man hinter der Kruste der konventionellen Verbote und Idealisierungen den freien, lebenden, schöpferischen Menschen sucht, dann begegnet man auch und vor allem dieser irrationalen Lust an der Gewalt; die Freiheit bejahen heißt auch, diese Lust zu bejahen. Die libertäre Reich’sche Version der Psychoanalyse hat uns gelehrt, Sexualität in diesem Schema zu denken; und wenn wir seit einiger Zeit bemerken, dass die Unfähigkeit, Aggressionen auszudrücken, uns vielleicht noch mehr einschränkt, als sexuelle Hemmungen es tun, dann denken wir nach demselben Muster: Aggressivität als eine menschliche Grundpotenz, die wir wiederfinden müssen, wenn wir freie, vollständige Menschen sein wollen; wenn wir sie nur von einsozialisierten Blockierungen lösen, ihr statt der verqueren, verkrüppelten Erscheinungen, in denen wir ihr meist begegnen, einen frei fließenden Ausdruck ermöglichen, dann wird sie eine positive lebensbejahende Kraft werden, die uns auch offenere und erfülltere Beziehungen erlaubt. 6In
der mittelalterlichen Feudalterminologie hieß honor gleichzeitig „Ehre“ und das „als Lehen verliehene Land“.
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Man kann diese Utopie ernst nehmen, diskutieren, ob es realistisch ist zu glauben, die Lust an der Aggressivität sei möglich ohne Opfer, ohne Vergeltung, ohne Schuld. Ich will dies nicht tun, sondern diese Art zu denken als ein Symptom nehmen für eine gewisse Form, wie wir unsere Aggressivität erleben. Es ist, wie gesagt, eine ziemlich neue Form, die erst im 20. Jahrhundert entsteht. Früher hat man persönliche Gewalt entweder als notwendigen, wenn auch verhängnisvollen Bestandteil des menschlichen Lebens akzeptiert oder man hat sie in sich und in der Außenwelt bekämpft. Das tun wir auch heute noch; aber darüber hinaus gibt es ein neues Problem: Die eigene Aggressivität ist heute für viele ein Geheimnis geworden; sie können sie weder akzeptieren noch bekämpfen, weil sie sie nicht in sich lokalisieren können; nicht, dass sie sie nicht fühlten, aber sie ist ohne Dauer und Festigkeit, von dürftigem Anlass provoziert und oft ohne Verbindung zu dem eigenen Verständnis von sich selbst oder der Welt. Was kann ein Literaturhistoriker zu dem Prozess sagen, wie persönlicher Gewalt erst die Legitimation und dann der Boden entzogen worden ist? Die mittelalterliche Heldendichtung ist nicht ein Produkt der Blüte der archaischen Mentalität, sondern ein Ausdruck ihrer Gefährdung.7 Daher lässt sich an ihr sehr klar ablesen, wo diese Struktur unlösbare Probleme produziert und welche neuen Lösungen an ihre Stelle treten. Man kann auch ansatzweise erkennen, welche sozialen und politischen Entwicklungen das alte System aus den Angeln heben. Nehmen wir die Geschichte des Raoul de Cambrai. Ein Fürst stirbt zu früh. An seine schwangere Witwe kann das Lehen nicht übergehen; es erhält der Vertraute des Königs, Gibouin. Sobald Raoul, der Sohn des verstorbenen Fürsten von Cambrai, volljährig ist, geht er, zusammen mit seinem treuesten Freund und Vasallen, Bernier, an den Hof des Königs und verlangt, in das väterliche Erbe wieder eingesetzt zu werden. Der König erklärt ihm, er könne es dem Gibouin, den er damit belehnt habe, nicht wegnehmen. „König“, entgegnet Raoul, „ich würde von allen getadelt, wenn ich länger die Schande ertrüge, dass ein Fremder mein Land besetzt hält.“ Man einigt sich darauf, dass Raoul das nächste freiwerdende Lehen erhalten soll. Als nach einem Jahr der Graf Herbert stirbt, muss ihm der König dessen Lehen zusprechen, gegen seinen Willen, weil der Graf
7Das
heißt natürlich ganz und gar nicht, dass die archaische Mentalität am Ende der Epoche, die wir hier betrachten, also des 12. Jahrhunderts, beseitigt wäre. Einerseits gilt hier die von Elias formulierte Regel, dass Zivilisationsphänomene meistens zuerst die oberen Schichten erfassen, andererseits besteht die ganze weitere Geschichte aus Kompromissen zwischen dem Alten und dem Neuen.
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vier tapfere Söhne hat. Er übergibt Raoul also das Lehen, tut aber nichts, um ihm dessen Besitz tatsächlich zu garantieren. Das ist der Anfang eines Krieges zwischen Raoul und den vier Söhnen des Grafen Herbert. Raoul fällt in deren Land ein, verwüstet und tötet; er verbrennt ein Nonnenkloster mitsamt den Nonnen, deren eine die Mutter seines treuen Freundes Bernier ist. Im Streit, der daraus entsteht, schlägt er seinen Freund, der nun sein erbitterter Feind wird und zu den Söhnen des Grafen Herbert übergeht. Im Verlauf einer großen Schlacht erschlägt Bernier Raoul. Doch auch nach dessen Tod zieht sich der Zwist über Siege und Niederlagen, Morde, Versöhnungen, Zweikämpfe, Heiraten, erneute Morde über Generationen hinweg. Die Handlung hat einen für die Chanson de Geste typischen Aufbau: Auslöser ist eine Beraubung, an der niemand schuld war, dann eine Kette von Vergeltungen, von vergeblichen Versöhnungsversuchen unterbrochen. Das Problematischwerden der archaischen Welt zeigt sich in der Darstellung Raouls. Die Epik kennt im Prinzip nur zwei Typen von Helden: den starken, unbekümmert kampflustigen und den mäßigen, überlegten; dieses Paar realisiert den in der epischen Welt angelegten Grundkonflikt zwischen dem Gesetz der Vergeltung und dem Interesse an einem friedlichen und glücklichen Leben. In der Übersteigerung dieser beiden Haltungen zeichnen sich zwei Gefahren ab, die zum Beispiel in der Ilias nur anklingen: Die übertriebene Friedensliebe führt zum Vergessen des Gesetzes, zur Feigheit;8 das rücksichtslose Bestehen auf dem eigenen Recht nach Vergeltung verletzt die Lebensinteressen des Kollektivs, isoliert den Helden und macht ihn zu einem Verbrecher. Das Originelle an unserem Gedicht liegt darin, dass Raoul einerseits mit der ganzen Bewunderung für seine Kraft, Energie und seine grenzenlose Hingabe an das Gesetz der Vergeltung dargestellt wird, wie es für das epische Gedicht üblich ist; auf der anderen Seite aber wird gezeigt, dass diese Hingabe ihn dazu bringt, zuerst die vernünftigsten Versöhnungsangebote auszuschlagen, dann brutal zu morden und zu brandschatzen, die Ordnung des Heiligen zu verletzen und schließlich die Pflicht als Lehnsherr gegenüber seinem treuesten Freund zu vergessen. Sodass schließlich im Zuhörer das Bild entsteht: Der Held des archaischen Gesetzes ist ein großartiges Monster. Eine etwas später verfasste Chanson de Geste, Garin le Lorrain, gibt in einer anderen Variante eine ähnliche Kritik. Wieder ein endloser Zwist zweier Sippen. Diesmal ist die Problematik nicht auf die Charaktere projiziert; sie ist da situiert,
8Das
ist im Rolandslied der Grund für den Verrat Ganelons.
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wo sie wirklich liegt, in strukturellen sozialen Entwicklungen. Die Fürstentümer sind größer geworden; halb Frankreich ist in die Kriege verwickelt. Früher wurden die Kriege in Schlachten oder gar in Einzelkämpfen entschieden, wo sich die heldischen Tugenden bewähren konnten. Jetzt geht es darum, lange Feldzüge zu organisieren; die Beschaffung des Geldes spielt eine große Rolle; die Feinde sind in ihren Burgen und befestigten Städten unerreichbar; man trifft sie nur, indem man möglichst viele Dörfer verbrennt und Bauern erschlägt. Oder aber, im anderen Extrem, sucht sich die Rache den kurzen Weg des Mordes aus dem Hinterhalt. Die archaische Gewaltsamkeit und Gesetzestreue produziert hier eine schicksalhafte Grausigkeit, die auch schwer auf den Helden selbst lastet; um den Schrecken zu sühnen, den er mitverursacht hat, nimmt das Haupt der Lothringer Sippe das Kreuz und zieht als Pilger ins Heilige Land, sein Bruder sucht auf eine befremdliche Weise den Tod. Hier spiegelt sich die schnelle politische Entwicklung im 11. und 12. Jahrhundert. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts bestand Frankreich noch aus unzähligen, praktisch autonomen Schlossherrschaften, Ende des 12. Jahrhunderts gab es wenige, gut organisierte Fürstentümer, gab es Städte und Handel. Es ist klar, dass damit die alten Kriegertugenden als Fürstentugenden von zweitrangiger Bedeutung wurden.9 Aber eine Umwertung, weg von physischer Stärke, Geschicklichkeit und Mut im Kampf, hin zu Klugheit, Organisationsgeschick und Durchhaltevermögen, hätte das alte System wohl verkraftet. Die eigentlich kritischen Punkte liegen woanders: Zentral für das alte System war die Tatsache, dass – in unserer Sprache – Privates und Öffentliches ungeschieden sind. Ein Angriff auf das Land, die Beleidigung eines Mitglieds der fürstlichen Familie, der Raub einer Braut, alles ist Verletzung des fürstlichen Eigentums und zugleich der Ehre seiner Person, Verletzung damit auch der Ehre des Kollektivs. Der Garin drückt das mit dem stereotyp wiederkehrenden Satz aus: „Wer seine Nase abschneidet, entstellt sein Gesicht.“ Die Kollektive der archaischen Welt sind solche der gemeinsamen Ehre, das heißt des gemeinsamen Feindes; sie beruhen auf dem aristokratischen Freiheitsrecht der Selbstverteidigung der Ehre, sind grundsätzlich freiwillig und (unter bestimmten Bedingungen) kündbar. Als freiwilliger ist der Zusammenhalt der Gruppe auch immer prekär, er ist immer ein großes Thema der epischen Dichtung. Im Garin haben nur noch
9Das ist der Kontext, in dem das Rittertum entsteht, ein halb professionalisierter Kriegerstand aus dem Kleinadel.
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die fürstlichen Sippen den Charakter eines solchen Kollektivs; die Bewohner der Länder, deren Fürsten die Lothringer und die Bordelesen sind, erscheinen in den Gedichten wenig; sie müssen geschickt – in einer manipulativen Weise geschickt – behandelt werden; gelegentlich wird das Interesse der Kaufleute an Ruhe und Ordnung erwähnt. An den Ehrenhändeln ihrer Fürsten haben sie keinen Teil außer als widerwillige Opfer. Dem entspricht die Tendenz der Fürsten, ihre Zwiste in einem Bereich außerhalb ihrer öffentlichen Position auszutragen, nicht mehr durch Kriege, sondern durch Morde oder durch ritualisierte Zweikämpfe. Die Trennungslinie, die hier entsteht, ist sicher nicht die uns geläufige zwischen einem öffentlichen und einem privaten Bereich, aber das Leben spaltet sich doch in einen inneren Kreis, der im Wesentlichen aus den Angehörigen der fürstlichen Sippen besteht und in dem die archaischen Ehrverpflichtungen gelten, und in einen äußeren Bereich, dem Verhältnis der Fürsten zu ihren Untertanen, manchmal auch zu ihren Heeren, wo diese Gesetze nicht gelten. Hier können die Fürsten nicht damit rechnen, dass ihre eigenen „Gefühle“ – das heißt, was sie als ihr Recht und ihre Verpflichtung empfinden – von den anderen verstanden und in entsprechender Form geteilt werden, sodass man die anderen motivieren kann, indem man an diese Gefühle appelliert. Das ist ein erster Punkt, an dem deutlich wird, in welcher Weise „Unterdrückung der Affekte“ sich durchsetzt: Was wir an dem archaischen Verhalten mit Recht als spontan empfinden, ist ja die Tatsache, dass man dem ersten Impuls folgt, eine Abwesenheit von Selbstdistanz und zugleich von Distanz zu den anderen. Spontaneität in diesem Sinn hat gar nichts mit dem Fehlen von Festlegung und Gesetz (und natürlich auch Unterdrückung) zu tun, sondern mit dem Vertrauen – dem berechtigten Vertrauen –, dass die anderen denselben Gesetzen sich unterworfen haben wie man selbst. Man sieht, dass die Spontaneität des unmittelbaren Ausdrucks von Feindschaft wie von Freundschaft (Spontaneität im Sinn der Abwesenheit einer reflexiven Selbstkontrolle) schon rein äußerlich, auf einer soziologischen Ebene, an das Bestehen von Gesetzen gebunden ist. Wir neigen dazu, unsere Aggressionshemmungen zu psychologisieren oder auf sehr komplizierten Wegen zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Beziehung zu setzen: Wir sollten solche elementaren Sachverhalte nicht übersehen. Unsere epischen Helden müssen also lernen, dass ihnen in ihrem Land ihre eigenen Leute als kulturell Fremde gegenüberstehen. Sie müssen Distanz
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gewinnen zu dem Gesetz und den Gefühlen, die sie in sich tragen, weil sie sich auf fremde Regeln und fremde Gefühle einstellen müssen, wenn sie überzeugen wollen.10 Raoul de Cambrai und Garin der Lothringer sind konservative Gedichte, sind echte Chansons de Geste: Sie verstehen und bewundern die archaische Mentalität und verwenden sie als strukturierendes Prinzip ihrer Gedichte; die Schwierigkeiten, die sich für diese Mentalität aus den schnellen und tiefgreifenden sozialen Entwicklungen des 11. und 12. Jahrhunderts ergeben, haben sie in sich aufgenommen und verschieden verarbeitet: der Raoul durch die Verbindung von Bewunderung und Verurteilung, der Garin, indem er die archaische Mentalität11 einem abgegrenzten Bereich vorbehält, der als Ganzer auf ein fremdes Außen stößt. Die Haupttendenzen der Entwicklung der Mentalität gehen in eine andere Richtung: Neue Typen von Moral entstehen, neue Beziehungen, neues Verhalten, die sich gegen das alte Gesetz stellen und über diesem aufbauen. Zum ersten Mal im Mittelalter verbinden sich christliche Gedanken und die real verhaltensbestimmenden aristokratischen Normen zu einer neuen christlich-ritterlichen Berufsethik, die in den Kreuzzügen ihre Energie und ihre Brutalität zeigt. Zugleich propagiert die Liebeskultur in Gedichten und Romanen ganz neue raffinierte Lebensregeln. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass diese neuen Ideologien dieselben Probleme zu lösen versuchen, die die konservativen Gedichte auch sehen und in ihrer Weise bearbeiten.
10Ich
möchte auf die Ursachen der Auflösung der kulturellen Einheit nicht weiter eingehen. Wahrscheinlich ist, dass die erwähnte Vergrößerung der politisch autonomen Einheiten die klassenübergreifende Integration in Kollektiven erschwert, die Entstehung selbstbewusster Klassen dagegen fördert. Sicher ist es auch kein Zufall, dass gerade die Kaufleute besonders herausgehoben werden als eine Gruppe, die sich über fürstliche Ehrenhändel beklagt. 11Die Formel von der archaischen Mentalität weist hin auf eine Geschichtsauffassung, nach der es möglich und notwendig ist, in der Entwicklung aller Kulturen bei aller Verschiedenheit doch strukturell einheitliche Phasen und Entwicklungsschritte herauszuarbeiten. Das Hegel’sche System ist die erste große Ausarbeitung dieser Auffassung; diese bestimmt auch das historische Denken der modernen Soziologie; den umfassendsten Versuch einer Neufassung gibt die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas. In unserem Zusammenhang wichtig ist die Entdeckung (die auf Hegel zurückgeht, aber von der neueren Forschung im Wesentlichen bestätigt wird), dass den einzelnen Phasen der Entwicklung auch Formen des Dichtens zugeordnet werden können, der archaischen Welt eben die Form des Epos.
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Die Strukturen der höfischen Liebeskultur sind zu komplex, als dass man sie in Kürze darstellen könnte. Ich möchte noch auf eine Chanson de Geste eingehen, die den christlichen Einfluss auf die archaische Mentalität repräsentiert. Dabei darf man das Wort „Einfluss“ nicht missverstehen; die Initiative ging sicher von der Aristokratie aus, die christliche und durch die Kirche vermittelte antike Gedanken zur Lösung ihrer Probleme brauchte. Der Girard de Roussillon gehört der sogenannten Empörergeste an: Die auslösende Beraubung geht vom Kaiser selbst aus, der den mächtigen südfranzösischen Herzog Girard ungerecht behandelt. Über die ursprüngliche Geschichte von Vergeltung, Wiedervergeltung, vergeblicher Versöhnung (bereichert durch die Eigenart in der Personenkonstellation, dass die Frau Girards und des Kaisers Schwester einander eng verbunden sind) lagert sich in der uns erhaltenen Version eine christliche Interpretation, die die Prinzipien umstürzt. Am Anfang ist Girard ein Held vom selben Schlag wie Raoul, maßlos in Stolz und Rachsucht. Er weist vernünftige Versöhnungsangebote ab; wie Raoul lässt er sich nicht darauf ein, die Situation mit seinen Vasallen zu diskutieren – auf diesen für die archaische Welt so lebensnotwendigen Handel, wo in jedem Fall aufs Neue austariert wird, wie weit die Vasallen die Kränkung des Herrn als ihre eigene Ehrverletzung empfinden und wo die freiwillige und prekäre Solidarität ihre Grenzen hat. Aus Stolz entzieht sich Girard diesem Handel; die Konsequenz ist denn auch die, dass seine Vasallen und das ganze Land von ihm abfallen. Mit seiner Frau zusammen flieht er, versteckt sich im Wald und führt ein elendes Leben als Köhler. Dank der treuen Liebe und der frommen Ermahnungen seiner Frau tut er Buße und bereut sein Verhalten. Die Diplomatie seiner Frau und der mit ihr befreundeten kaiserlichen Schwester bringt es so weit, dass er auf seinen Thron zurückkehren kann. Ein kurzer Krieg mit dem Kaiser, nicht mehr in der Perspektive der Vergeltung, sondern mit vernünftig begrenzten Zielen geführt, bringt die Versöhnung und den endgültigen Frieden. Diese erbauliche Lesebuchgeschichte von Strafe und Läuterung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier das Verbot der persönlichen Gewalt schon voll eingerichtet ist, und zwar in der Form einer Umstrukturierung der Beziehung, die der Fürst zu seinem Eigentum, zu seiner Position hat. Der Kern der archaischen Welt, die das Epos darstellt, ist die wechselseitige Identifikation der aristokratischen Person mit dem Eigentum: Wenn er als Person gekränkt wird, kann der Fürst den ganzen Besitz, alle Ressourcen seiner Position für die Vergeltung der Kränkung, für sein persönliches Interesse einsetzen; umgekehrt ist er verpflichtet, jede Verletzung des Eigentums wie eine persönliche Kränkung zu empfinden und entsprechend zu reagieren. Der Verfasser des Girard sieht nur noch die eine Seite: das Recht, das sich Girard herausnimmt, ein ganzes Land seinem persön-
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lichen Geltungsdrang unterzuordnen; die Verpflichtung zur Rache sieht er nicht mehr. Die ganze Struktur der epischen Welt ist für ihn auf einen Punkt, auf eine Charaktereigenschaft zusammengeschrumpft: persönlichen Hochmut. Das ist deshalb möglich, weil er das alte Verhalten von einer neuen Struktur aus wahrnimmt. Was er seinem Helden vorwirft, ist, dass „dieser nicht weiß, wie er sein Herz beugen und wie er einem anderen dienen kann als sich selbst“. Dieser Satz nimmt einen Satz aus den Ordensregeln der Templer auf, in denen Bernard de Clairvaux, der große Kreuzzugsprediger, sich an die wendet, „denen es nicht genügt, ihrem eigenen Willen zu folgen“. Was heißen diese Sätze, bezogen auf das archaische System? Sie sagen: Du sollst nicht die Rechte verteidigen, nicht der Verpflichtung dich unterwerfen, die aus deinem Eigentum entspringen. Das wäre gleichzeitig zu hochmütig und zu bescheiden; du sollst dich dem unterwerfen, was ein Größerer will. „Die Rache ist mein“, spricht der Herr. „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen.“ Solche Wahrheiten lernt Girard in seinem Köhlerleben. Die Feudalgesellschaft ist hier nicht mehr eine Gesellschaft von freien Eigentümern, die durch Beziehungen der Wechselseitigkeit, die Gabe von Ländern, Frauen und Diensten, die Vergeltung von Beleidigungen, aneinander gebunden sind; Gott erscheint nicht mehr als derjenige, der die Einhaltung der heiligen Regeln überwacht; er ist derjenige, der alles besitzt, der Vertreter benennt, die in seinem Namen zu regieren haben.12 Man hat die Grundhaltung des höfischen Ritters recht treffend mit dem Satz charakterisiert: Haben, als hätte man nicht. Diese Einstellung ist tatsächlich all den neuen Ideologien gemeinsam: Die Identifikation von Person und Eigentum soll gelöst werden – und damit zugleich die unmittelbaren Beziehungen der Wechselseitigkeit, die die Gleichrangigen miteinander verbindet.
12Hier entsteht eine neue Konzeption gesellschaftlicher Ordnung. Das kann man klarmachen an den Formen der Konfliktregulierung. Eine typische Form der Konfliktlösung in archaischen Gesellschaften ist das Justizduell: Die beiden Gegner treffen sich in einem geregelten Zweikampf; Recht hat, wer siegt. Das weist nicht auf eine mystische Verbindung von Recht und Macht; es zeigt einfach, dass es keine übermächtige Instanz über den Partnern gibt, die Recht spricht und durchsetzt und die den Kampf verhindern und ersetzen könnte. Recht erscheint als eine Regulierung des Kampfes, der Schaden begrenzen soll (etwa vergleichbar dem modernen Völkerrecht). Die Kirche hat immer an der spätantiken Staatsauffassung festgehalten, die das Recht auf Gewalt einem Einzigen vorbehält und Gerechtigkeit als Ausfluss einer übergeordneten Instanz ansieht, die jedem das Seine zuteilt. Ab dem 11. Jahrhundert gelingt es ihr sehr allmählich, in Bündnissen mit unterschiedlichen Gruppierungen ihre Vorstellungen durchzusetzen.
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Girard, der geläuterte Girard, hat eine einzige unmittelbare, ganz privilegierte Beziehung, die zu dem Herrn, zu Gott. Die Beziehung zu allen anderen ist durch diese Beziehung vermittelt. Ich möchte das an einem Beispiel illustrieren. Vor dem letzten kurzen Krieg gegen den Kaiser mustert Girard sein Heer. Beim Anblick der Männer, der Fahnen, der Waffen und der Pferde überfällt ihn sein alter Stolz und er ergeht sich in anmaßenden Reden. Ein Vasall Girards, in einem Anfall von Wahnsinn, gepackt von der Angst, die endlosen Kriege könnten neu aufflammen, tötet Girards kleinen Sohn. Girard erkennt in der Untat die Strafe Gottes; er sagt dem verzweifelt sich anklagenden Mörder, er solle ihm aus den Augen gehen, und fährt in der Musterung fort, ohne sich seinen Schmerz anmerken zu lassen, da er den Kampfeswillen des Heeres nicht schwächen will. Die Dimension des Hasses und der Rache ist hier verschwunden; ebenso die Gemeinsamkeit der Gefühle und Ziele, die früher den Fürsten mit seinem Heer verband. Alles ist aufgesogen in die religiöse Unterwerfungsbeziehung unter den göttlichen Auftrag. Man kann das Gefühl haben, wir wären in den Bereich religiöser Fantasien abgeglitten. Ganz und gar fassbar ist aber, was am Anfang und am Ende der religiösen Unterwerfungserfahrung steht: am Anfang eine Art der Kriegführung, in der sich der Vergeltungswille, das Recht und das Machtgefühl eines Fürsten durchsetzen wollen; am Ende eine überlegte Strategie, die der planvollen Erweiterung der eigenen Macht und der Erhaltung des Friedens dient und in der die Dimension des Rechts auf und der Pflicht zur Vergeltung, die Dimension der persönlichen Gewalt also, aus der Realität herausgenommen ist. Aus der Realität herausgenommen – das ist das Bild, das der Girard de Roussillon hinterlässt. In Wirklichkeit handelt es sich aber nicht um ein Herausnehmen, sondern um eine Verschiebung im Umgang mit Gewalt. Der archaische Fürst tötet auf dem Grund von Verpflichtungen, von Rechten, von Macht, die ihm sein reales Eigentum verleihen; die Kreuzritterheere morden in Vertretung einer höheren Instanz. Hemmung oder Enthemmung – darüber kann man sich streiten. Normalerweise ist der Vertreter der höheren Macht sicher gehemmter als der Eigentümer; er kann aber auch in einer Weise enthemmt sein, wie es der archaische Mensch nicht kennt, der nie ganz die Grenzen seiner Macht und die Vergeltung vergessen kann, die seine Gewalt produziert. Sinnvoller, als die Gewalt nach einer Skala von mehr oder weniger Hemmungen einzuordnen, ist es, sich klarzumachen, dass Gewalt zwischen Menschen immer in Strukturen eingebunden ist; Strukturen, in die die Kampfmittel eingehen, die Machtverhältnisse, das Gesetz der Vergeltung; vor allem auch, in denen die Subjekte ganz verschiedene Positionen einnehmen können.
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Das heißt auch, dass Gewalt immer Beziehungen schafft, sehr verschiedene Arten von Beziehungen. Der archaische Kampf ist immer auch eine Rechtsbeziehung, in eine Vergeltungsstruktur eingebunden, wo sich die Kämpfer als gleichwertige Rechtspersonen einander gegenüberstehen. In dem Zitat aus der Ilias kann man das nachprüfen: Sprechen geht über in Kämpfen und Kämpfen in Sprechen. Der Kämpfer in Vertretung einer höheren Sache hat seine Rechtsposition delegiert; der Feind ist nicht eigentlich sein Feind. Daraus kann der vornehme ritterliche Zweikampf entstehen, wo jeder in dem anderen den in höherem Auftrag Handelnden respektiert;13 oder der Blutrausch der Kreuzritter gegen die, die die höhere Macht aus der Geltung aller Gesetze herausgenommen und zu Unmenschen erklärt hat. „‚Man soll mich in Ruhe lassen und mir nicht auf die Füße treten, sonst schlage ich zurück.‘ Das ganze Problem ist zu wissen, wo die Amerikaner ihre Füße haben.“ Aus dem Nouvel Observateur über die Einstellung der Reagan-Wähler
Kann diese Skizze der epischen Welt und des Beginns ihrer Unterdrückung im 12. Jahrhundert etwas beitragen zur Beantwortung der Frage, die wir eingangs gestellt hatten: Wie kommt es, dass die eigene Aggressivität vielen heute zu einem Rätsel geworden ist? Wie entsteht dieser diffuse, schwammige Charakter, der macht, dass es weder gelingt, die Aggressivität in sich zu bejahen und zu akzeptieren, noch sie zu verurteilen? Ohne es näher ausführen zu können, glaube ich, dass die Fortsetzung der Geschichte, deren Ursprung ich skizziert habe, nach folgenden Linien verläuft: Der Staat wird immer stärker, das Gewaltmonopol setzt sich immer mehr durch; ‚höhere‘ Typen der Moral, die dem Einzelnen verbieten wollen, sich mit seinem Eigentum zu identifizieren, werden immer einflussreicher. Wichtig aber ist, dass das archaische Gesetz, Identifikation mit dem Eigentum, Recht auf Selbstverteidigung und Vergeltung, zwar immer mehr eingeschränkt, aber nie beseitigt wird. Das heißt auch, dass die ‚höheren‘ Moralformen immer dialektisch gebunden sind an die archaischen Lebensstrukturen; sie stützen sich auf diese in dem Maß, wie sie sie bekämpfen. Die vorbürgerliche Zeit hat trotz des absolutistischen Staates eine offizielle Institution, in der sich die archaische Mentalität realisiert, bewahrt: das Duell. Das Bürgertum hat das Duell eliminiert,
13Man
darf nicht vergessen, dass wir uns hier nur auf der Ebene der Darstellung von Normen und Idealen bewegen. Wie weit die Geltung dieser Normen tatsächlich reicht, muss ganz offenbleiben.
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körperlicher Kampf ist auf den Sport oder auf die Unterschichten abgeschoben, ist kein bedeutungsvolles Mittel der Auseinandersetzung mehr. Aber das bedeutet erst einmal nur die Verwendung anderer Waffen: Wirtschaftlicher Kampf und ähnliche Formen ersetzen den körperlichen. Dallas14 ist im Wesentlichen noch strukturiert wie eine Chanson de Geste; Identifikation mit dem Eigentum, die Verpflichtungen und die Rechte, das Gesetz der Vergeltung – alles ist da.15 Nun ist für die Personen von Dallas der Umgang mit Aggressionen und Gewalt ganz ohne Unsicherheit und Geheimnis. Sie hätten nicht das mindeste Verständnis für die surrealistische Befreiungstat, mit einem Revolver in jeder Hand in eine anonyme Masse zu schießen. Es muss einen Bruch in der Entwicklung geben, eine Grenze zwischen Dallas, noch jenseits, und den Surrealisten, schon diesseits angesiedelt. Die Logik der bisherigen Überlegung weist darauf hin, in welchem Bereich dieser Bruch zu suchen ist: in der Identifikation mit dem Eigentum. Der archaische Umgang mit Gewalt setzt voraus, dass wir an Eigentum einerseits in dem Sinn gebunden sind, dass eine Verletzung des Eigentums für uns und alle offenkundig eine persönliche Kränkung ist, dass wir andererseits über es in dem Sinn verfügen, dass wir es zur persönlichen Vergeltung einsetzen können. Es ist oft festgestellt worden, dass die moderne Kapitalkonzentration in einer Entwicklung, die um die Jahrhundertwende einen qualitativen Sprung macht, die bürgerliche Klasse selbst enteignet.16 Grob gesprochen werden aus Eigentümern Angestellte. Früher waren die Menschen beides: Eigentümer und Vertreter der übergeordneten Gewalt, und man musste sich entscheiden, auf welche Seite man sich stellen wollte. Jetzt sind die meisten von uns nur noch Vertreter; die hohe Schule des modernen Lebens ist die der Rollendistanz; tritt uns jemand auf die Füße, wissen wir nicht mehr, wer es war: der Vertreter oder die Person; wir wissen nicht einmal: waren das meine Füße oder die der Rolle, die ich vertrete. Die Vertreter in der alten Welt hatten entschieden, Vertreter zu sein, indem sie verzichteten, die Eigentümer zu sein, die sie aber real waren. Die moderne ‚Eigentumslosigkeit‘ nimmt die Möglichkeit zu einer solchen Entscheidung. Wer nicht mehr weiß, wo seine Füße sind, kann in den Rollen, die er vertritt, die realen Konturen seiner Person nicht mehr finden. Was seinen Umgang mit Aggressivität auszeichnet, ist nicht Hemmung, sondern 14Die
von 1978 bis 1991 produzierte US-amerikanische Fernsehserie. gibt natürlich auch Personen, die gerade diese Strukturen als Ganze infrage stellen, so die – bezeichnenderweise langweilige – Pam. 16In diesem Zusammenhang ist Eigentum nur wichtig, soweit es mit gesellschaftlicher Macht verbunden ist, also nicht eine Form des Eigentums, das man nur zum Konsum einsetzen kann. 15Es
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Unsicherheit. Er weiß nie, ob er es ist, der beleidigt, ob er es ist, der beleidigt worden ist.17 Diese Überlegungen kann man lesen als eine nostalgische Evokation einer Zeit, in der die Leute noch Boden unter den Füßen hatten. Das sind sie auch zum Teil. Ihr Nutzen könnte aber auf einer anderen Ebene liegen: Ein berühmter Psychoanalytiker hat von den Beziehungen zwischen Mann und Frau gesagt, es gebe heute nicht die richtige Lösung, jeder müsste sich in eigener Regie etwas zusammenbasteln. Das gilt wahrscheinlich auch für den Umgang mit der eigenen Aggressivität. Einem Bastler kann man keine allgemeinen Ratschläge geben. Aber nützlich ist es, wenn er sich sein Material gründlich anschaut. Das Material ist nicht eine Naturkraft Aggressivität, sondern die Strukturen des archaischen Systems. Um einem möglichen Missverständnis zu begegnen: Damit ist nicht gesagt, dass es nicht ein biologisches Aggressionspotenzial gäbe. Die Geschichte unserer Zivilisation zeigt uns aber diese Naturkraft nie in einer reinen Form, sondern immer eingebunden in das Gesetz; sie tritt umso ‚spontaner‘ auf, je klarer diese Einbindung ist. Wenn man überhaupt von größerer und geringerer Nähe zur biologischen Aggressivität sprechen kann, so sind es eher wir Modernen in unserer Unsicherheit, die ihr – manchmal – nahekommen, nicht die gewaltlustigen und gesetzestreuen Helden der archaischen Zeit. Wollte man der hier skizzierten These eine anthropologische Wendung geben, so müsste sie etwa folgende Form haben: Der Aggressionsausdruck jeder tierischen Gattung ist, wie die Verhaltensforschung zeigt, durch Instinkte in einer gattungstypischen Form festgelegt. Die gattungstypische – wenn man so will: ‚natürliche‘ – Festlegung des Aggressionsausdrucks der Gattung Mensch ist bestimmt durch das Gesetz der Wechselseitigkeit, das heißt der Vergeltung.
Literatur Elias, Norbert. 1976. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1939). Schwartz, Eduard. Hrsg. 1960. Homer. Ilias, übers. Johann Heinrich Voß, bearb. Hans Rupé. Berlin.
17Rousseau,
in mancher Hinsicht ein Prophet der modernen Zeit, sagt: „Wo es kein Eigentum gibt, gibt es keine Beleidigung.“
Die Sprache der Gewalt – Die Gewalt der Sprache (1988)
Das Duell ist als Anachronismus entstanden; nichts ist unserem wirklichen Leben ferner, aber als Folklore beherrscht es noch unsere Fantasie. Was ist das Faszinierende daran, nach verabredeten Regeln, vor aller Augen zu töten und sich töten zu lassen? Die ersten drei Nummern von Émile. Zeitschrift für die Erziehungskultur heißen Herzblut, Duell und Dreieck.1 Die Zusammenstellung ist nicht bedeutungslos, kein Duell, wo es nur zwei gäbe, bei dem nicht der Dritte gegenwärtig wäre: die Troer auf den Mauern, als Achill Hektor um die Stadt verfolgt, die Sekundanten im klassischen Duell; wenn die zwei Männer mit locker herunterhängenden Armen auf der leeren Straße aufeinander zugehen, so verbergen die geschlossenen Läden des Westerndekors immer die gespannten Blicke. In diesem Dreieck, in dem jede Beziehung durch die andere bestimmt ist, wird das Blut, das gleich fließen wird, zu einem sprechenden. Blut, es verkündet den Sieg des Rechts oder schreit nach Rache, ist Zeichen einer letzten Versöhnung; jedenfalls: es spricht eindeutig und klar. Aber nicht, dass das Blut spricht, die unendliche Vielfalt der Bedeutungen,2 interessiert uns an dem Duell; gerade das Gegenteil: Wie kommt es zur Fest-
1Vgl.
Émile. Zeitschrift für die Erziehungskultur 1:1, 1:2, 1:3 (1988). der ersten Nummer von Émile. Zeitschrift für die Erziehungskultur (1988) ist gerade Jean-Paul Roux’ Buch Le sang. Mythes, symboles, réalités (Roux [1988]) besprochen, das diese Vielfalt evoziert.
2In
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_4
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legung der Bedeutung? Wer ist der Adressat der Sprache? In welchem Zusammenhang und womit wird gesprochen? Das Recht des Stärkeren Die Geliebte ist beleidigt worden; man hat ihr vorgeworfen – was übrigens wahr ist –, sie unterhalte ein Liebesverhältnis: der klassische Grund für ein Duell. Die Heldin versucht in einem langen Brief, den Geliebten von seinem Vorhaben abzubringen: „Wollen Sie etwa einwenden, ein Zweikampf bezeuge, daß man Herz habe, und schon das sei hinreichend, die Schande und aller andern Laster Vorwurf auszulöschen? So frage ich, welche Ehre kann wohl eine solche Entscheidung bestimmen, und welche Vernunft kann sie rechtfertigen? Wenn das gilt, dann braucht also ein Schelm sich nur zu schlagen, so hört er auf, ein Schelm zu sein; eines Lügners Geschwätz wird Wahrheit, sobald es mit dem Degen behauptet wird; und wenn man Sie des Mordes beschuldigte, brauchten Sie nur hinzugehen und noch einen zweiten verüben, um zu beweisen, dass jener nicht wahr wäre! Solchergestalt kann Tugend, Laster, Ehre, Schande, Wahrheit, Lügen, alles durch eines Gefechts Ausgang sein Dasein erlangen. Ein Fechtboden ist der Sitz aller Gerechtigkeit. Es gibt kein andres Recht als Gewalt, keine andre Genugtuung als Mord. Die ganze Wiedergutmachung, die man Beleidigten schuldig ist, besteht darin, dass man sie umbringt; und jede Beleidigung wird ebensogut mit dem Blute des Beleidigers wie mit des Beleidigten Blute gebüßt. Sagen Sie einmal, würden die Wölfe, wenn sie denken könnten, andre Grundsätze haben?“3
Es gibt kein Recht des Stärkeren; wenn der Schwächere stärker wird, so würde das Recht auf seine Seite wandern; die Macht kann Gehorsam erzwingen, nie eine Verpflichtung begründen. So argumentiert Jean-Jacques Rousseau am Anfang des Gesellschaftsvertrags;4 und wir können uns nur darüber wundern, dass je anders gedacht worden ist. In der Institution des Duells liegt aber die Idee, dass Recht und Stärke gekoppelt sind. Man kennt den Brauch des Gerichtsduells; der Sieg im Zweikampf zwischen dem Ankläger und dem Angeklagten entscheidet, wer Recht, wer Unrecht hatte. Das erste altfranzösische Epos, das Rolandslied, ist aufgebaut wie ein großes Gerichtsduell: Die Christen haben Recht, die Heiden Unrecht; jeder einzelne Zweikampf beweist diesen Satz oder widerlegt ihn, bis ihn der Sieg der Christen endgültig entscheidet. Auch der Showdown des klassischen Western enthält noch die Idee, dass Recht und Macht
3Rousseau 4Rousseau
(1988 [1761]): Die Neue Heloise, Teil I, Brief 57, 154/5. (1981 [1762]): Der Gesellschaftsvertrag, Buch I, Kap. 3.
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verbunden sind: Recht ist nur Recht, wenn einer für es eintritt, der auch besser schießt. Sich nach Regeln, sich vor den Augen der anderen zu töten, ist ein Privileg. Als nach dem Zerfall der karolingischen Ordnung die feudalen Strukturen des Frühmittelalters entstanden, war es dieses Privileg, das in den gleitenden Übergang zwischen Arm und Reich den scharfen Schnitt der ständischen Unterscheidung legte: Wer sich ein Pferd und eine Bewaffnung aus Eisen leisten konnte, blieb frei, war nur einer Gerichtsbarkeit von Gleichrangigen unterworfen, aus der er sich im Prinzip immer zurückziehen konnte auf das Recht, um sein Recht zu kämpfen. Wer sich die Waffen nicht leisten konnte, verlor nun auch das Recht, sie zu tragen, und wurde einer entehrenden, auf körperlichen Strafen beruhenden, herrschaftlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Für uns hat die Justitia das Schwert in der Hand und die Binde vor den Augen; wir sind es gewöhnt, das Recht zu denken als verbunden mit der Macht, einer im Prinzip interesse- und leidenschaftsfreien Macht. Die feudale Rechtsauffassung – in die uns zum Beispiel die mittelalterliche Epik einführt – kennt die Rechtsmacht nicht: Recht und Macht sind geschieden. Das heißt nicht, dass das Recht völlig machtlos ist; die Macht ist viel geringer, aber vor allem ist sie von anderer Art. Sie wohnt nicht in den Gerichten und deren Exekutivorganen: Ein Fürst, der für sein Recht kämpft, wird bei seinen Pairs, bei den Untertanen und dem König mehr Unterstützung finden als der, der es bricht oder maßlos überzieht. Aber er darf und muss selbst kämpfen, wenn die Umstände es erfordern. Was an dieser Zeit an unsere Rechtsinstitution erinnert, sind in Wirklichkeit Vermittlungsinstanzen, die Gesichtspunkte der Macht und des Rechts gleichermaßen berücksichtigen. Die französische Geschichte bis zu Richelieu ist auch der Kampf gegen das Fehderecht, der Kampf um die Durchsetzung einer durch die Staatsmacht abgesicherten Rechtsordnung, für die es das große Vorbild des Römischen Reiches gab. Von da aus gesehen erscheint das Fehderecht nur als Mangel, Resultat des Fehlens einer rechtssichernden Staatsmacht. Das klassische Duell des 16. bis 18. Jahrhunderts ist ein Produkt dieses Kampfes: Der Staat hat die Rechtsmacht an sich gezogen; aber über zwei Jahrhunderte hat die Aristokratie das Privileg verteidigt, in Angelegenheiten, die den Kernbereich ihrer Person und ihres Lebens betreffen, keine Gerichtsbarkeit anzuerkennen, für das eigene Recht selbst zu kämpfen. Das zähe Festhalten an diesem Rest, an einem völlig anachronistischen und schließlich auch mit keinem materiellen Interesse verknüpften Privileg, weist darauf hin, dass die feudale Rechtsordnung nicht nur Produkt eines Mangels war, dass mit ihrem Untergang etwas verloren ging, was man nicht verloren geben wollte: eine bestimmte Freiheit. Der Preis des staat-
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lich garantierten Rechts ist eine radikale Unterwerfung, die man früher nur dem Unfreien zugemutet hatte. In Glaubensdingen hat der Bürger sich von den Talaren unabhängig gemacht; aber nur, um sich in Rechtsdingen den Talaren und den Menschen in ihnen zu unterwerfen. Rousseau hat diese Unterwerfung mit dem größten Pathos beschrieben und hat ihr die einzig konsequente Legitimation gegeben. Die Republik des Gesellschaftsvertrags verlangt die totale Unterwerfung, aber unter das Gesetz, das jeder sich selbst gegeben hat und in dem er das Innerste seines Gewissens wiederfindet. Das ist eine typisch Rousseau’sche Fantasie. In Wirklichkeit hat es ein solches Gesetz nie gegeben; der Bereich, den das Duellrecht geregelt hatte, ist ein Bereich der Regellosigkeit und Unsicherheit geworden. Schenken und Kränken Das Duell ist das Relikt eines Systems des Rechts; das Subjekt will unmittelbar zum Recht sein wie der Protestant zu Gott; es soll keine Institution dazwischentreten. Aber das ist nicht alles. Wenn wir Gesetzesrecht und Fehderecht einander gegenüberstellen, ist das wirklich dasselbe Recht, geht es nur um die Ausstattung des Rechts mit der Macht? „Die Primitiven kennen nur zwei Mittel, fremde Gruppen zu klassifizieren: sie sind entweder ‚gut‘ oder ‚schlecht‘. Doch die naive Übersetzung der Eingeborenen-Termini darf uns nicht täuschen. Eine ‚gute‘ Gruppe ist diejenige, für die man sich seiner kostbarsten Güter entäußert; während die ‚schlechte‘ Gruppe diejenige ist, von der man Leid und Tod erwartet und der man bei der ersten Gelegenheit Leid und Tod androht. Mit der einen schlägt man sich, mit der anderen tauscht man, […] nichts erhellt dies besser als die Beschreibung ihrer alten Märkte: man begab sich bewaffnet dorthin, und die Erzeugnisse wurden auf Speerspitzen angeboten; manchmal hielt man in der einen Hand einen Ballen Häute und in der anderen ein Brotmesser [...].“5
Schenken oder töten, ein Drittes gibt es nicht. Mauss und Lévi-Strauss haben gezeigt, dass die Gabe – Gabe von kostbaren Gütern, von Leistungen, von Frauen – die erste Form der menschlichen Vergesellschaftung ist. Man muss das Fehderecht, das Duell in diesem Zusammenhang sehen. Bei Mauss und Lévi-Strauss werden allerdings gewöhnlich Gewalt und Austausch der Gaben als Gegensätze einander gegenübergestellt, man schenkt oder tötet. Dabei liegt das Schenken auf der Seite der Kultur, der Sprache; vor allem: Es ist immer eine Dreiecks-
5Lévi-Strauss
(1981 [1949]): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 118.
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beziehung. Nur oberflächlich erscheint der Austausch von Geschenken als Beziehung von zwei Personen; in Wirklichkeit ist es ein öffentlicher Akt und verlangt die wenigstens implizite Anwesenheit Dritter, die den Wert der Dinge festlegen, die das Gesetz der Wechselseitigkeit garantieren. Die Gewalt dagegen erscheint als plumpe Natur, Handeln ohne Regeln, ohne Bedeutung, das nicht herausweist über die zwei beteiligten Parteien. Duelle sind aber ganz und gar nicht Gewalt dieser Art. Offensichtlich gehorchen sie denselben Prinzipien wie die Gabe: • dem Prinzip der Wechselseitigkeit: Auge um Auge, Zahn um Zahn; was ist Rache anderes als Wechselseitigkeit? • Wie der Tausch der Gaben folgt das Duell einem Gesetz, dem man sich nicht entziehen darf. • Wie der Tausch ist das Duell notwendig in ein Dreieck von Beziehungen eingebunden. Keine Kränkung ohne den Blick der Anderen, die die Kränkung registrieren; die Vergeltung als Vergeltung anerkennen. Wenn es auch um reale Gegenstände, reale Handlungen geht, so sind diese immer und in erster Linie Zeichen, die gedeutet werden. Die Kränkung ist eine Gabe mit umgekehrten Vorzeichen, und wie sie, vielleicht noch stärker, bindet sie die beiden Beteiligten. Lévi-Strauss sagt mit Recht, dass ursprünglich die Gabe nicht Liebe erzeugt, die Gabe ist Liebe; ebenso ist die Kränkung Hass. Oder, nimmt man die Kränkung von ihrer aktiven Seite her, von dem aus, der beleidigt, so ist sie die Lust, diese Bindung des ohnmächtigen Hasses zu erzeugen. Unser Recht ist sicher kein Recht der Rache; das Duell ist tatsächlich das Relikt eines ganz anderen Rechts. Sichtbarkeit Nehmen wir eine immer wiederkehrende Westernszene, die Begegnung des guten und des bösen Helden an der Theke des Saloons: das Spiel der Provokationen von der einen Seite, die mäßigende Antwort der anderen, das Vortasten bis an die Grenze, die gespannte Aufmerksamkeit der Männer an den Tischen. Die Szene kann viele Auflösungen haben, aber immer sind an ihrem Ende die Helden in einer fundamentalen Dimension ganz und gar sichtbar geworden: Sie kennen sich, und der Zuschauer kennt sie. Wie wird eine Person sichtbar für andere? Nach der modernen Denkweise, indem sie ausdrückt, was sie ist. Wir nehmen an, eine Person hat so etwas wie einen Wesenskern in sich; es kommt darauf an, ihn zu zeigen. In dem System, zu dem das Duell gehört, liegt das Wesen außen. Die Sichtbarkeit entsteht dadurch,
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dass das Subjekt sich an etwas außerhalb seiner bindet, es als Kern seiner Person annimmt. Das Duell ist das Band zwischen dem Subjekt und diesem Äußeren; jedenfalls die Garantie und Demonstration des Bandes: Es bezeichnet und grenzt ab, was in der Welt der Person wichtiger ist als ihr Leben. Duell ist Ehrenhandel. Aber Ehre ist nichts Immaterielles. Im Mittelalter hieß honor gleichzeitig Ehre und Lehen. Diese Homonymie traf durchaus die Realität: Ein Angriff auf das Lehen war eine Verletzung der Ehre. Die Ehre ist ein Weltausschnitt, an den sich die Person bindet, von dem sie sagt: Das bin ich; wer das angreift, greift mich an. Gleichzeitig ist die Ehre das Bild der eigenen Person bei den anderen. Die Bereitschaft zum Duell impliziert: Ich bin für mich – in Wirklichkeit –, was die anderen über mich denken. Auch das ist bezeichnenderweise ein Punkt, an dem Rousseaus Kritik ansetzt: Wie kann ich mich so abhängig machen, mich mit dem identifizieren, als was die anderen mich sehen? Das Duell ist wie ein Knoten; in der Beziehung zum Tod treffen und verflechten sich die Beziehung zu dem Gegner, die durch das Prinzip der Wechselseitigkeit bestimmt ist, und eine Beziehung zu sich selbst, zur Welt, zu den anderen, in der ein Äußeres zum Innersten wird. Es ist allerdings ein Irrtum zu glauben, dass der Tod der Kern dieses Systems ist, dass er es ist, der dem Leben Bedeutung, der Person Sichtbarkeit verleiht. In dem zitierten Brief bemerkt Rousseau, das Duell sage über den Menschen, der sich ihm aussetzt, nichts, als dass er ein guter Haudegen sei. Man kann auch an den berühmtesten Duellroman der deutschen Literatur, an Effi Briest denken: Durch die Entdeckung des Päckchens vergilbter Briefe und der Liebesaffäre seiner Frau wird der bedauernswerte Ministerialrat in das schreckliche Reich der Rache versetzt und hat gar nichts davon – die Unsicherheit über das, was er ist und was er will, wird nicht aufgehoben, sie wird im Unglück umso bedrückender. Das Außen bleibt außen, Abhängigkeit von einem gesellschaftlichen Urteil, an dessen Berechtigung er nicht glaubt, die Begegnung mit dem Tod bindet ihn nicht an das, was er tut; sie zeigt noch klarer, wie fremd ihm seine eigenen Handlungen sind. Wir nehmen das Duell als Element eines Systems, das Bedeutung produziert und sagt, was eine Person ist. Vielleicht auch deswegen, weil wir von Rousseau ausgegangen sind, der eine solche Perspektive nahelegt. Rousseau hat nicht nur das alte System bekämpft; er war auch der Entdecker des neuen, das Foucault das System des Geständnisses genannt hat, eine neue Konstellation, um zu sagen, was man ist: nicht mehr die gute und die böse Gabe, Freund und Feind, der Kampf und das Urteil der anderen; sondern das Subjekt, das unaufhörlich von sich redet für die anderen als Zuhörer, von denen eine Antwort kommen soll. Man weiß, was heute aus der Gattung der Autobiografie geworden ist, die Rousseau erfunden
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hat: Der Unterschied zwischen dem Leben und der Fiktion ist verschwunden, es bleibt ein Spiel von aufeinander verweisenden Bedeutungen, von denen keine mehr als die andere das Wesen der Person ausdrückt. Zwei Jahrhunderte hat man geglaubt, dass das Geständnis so etwas wie einen Kern der Person zum Vorschein bringen kann; jetzt glaubt man es nicht mehr; es ist ein Spiel, das sich im Kreise dreht, ohne etwas zu erfassen. Das ist vielleicht das heute Interessanteste am Duell: dass wir mit ihm die Frage nach der Macht und Ohnmacht der Bedeutung über die Subjekte stellen können. Körpertechnik „Sogleich waren wir ineinander verschlungen und nun rangen wir eine volle halbe Stunde miteinander, stumm und erbittert, mit abwechselndem Glücke. Er war behend, wie eine Katze, wandte hundert Mittel an, um mich zu Falle zu bringen, stellte mir das Bein, drückte mich mit dem Daum hinter den Ohren, schlug mir an die Schläfe und biss mich in die Hand und ich wäre zehnmal unterlegen, wenn mich nicht eine stille Wut beseelt hätte, dass ich aushielt. Mit tödlicher Ruhe klammerte ich mich an ihn, schlug ihm gelegentlich die Faust ins Gesicht, Tränen in den Augen, und empfand dabei ein wildes Weh, welches ich sicher bin, niemals tiefer zu empfinden, ich mag noch so alt werden und das Schlimmste erleben. Endlich glitten wir aus auf den glatten Nadeln, welche den Boden bedeckten, er fiel unter mich und schlug das Hinterhaupt dermaßen wider eine Fichtenwurzel, dass er für einen Augenblick gelähmt wurde und seine Hände sich öffneten. Sogleich sprang ich unwillkürlich auf, er tat das gleiche, ohne uns anzusehen, ergriff jeder sein Gewehr und verließ den unheimlichen Ort. Ich fühlte mich an allen Gliedern erschöpft, erniedrigt und meinen Leib entweiht durch dieses feindliche Ringen mit einem ehemaligen Freunde. Die künstliche Verlängerung des menschlichen Armes durch eiserne Waffen ist gewiss die Hauptursache der unaustilgbaren Streitsucht; denn wenn die Männer sich von Hand zu Hand angreifen müssten, so würden sie ohne Zweifel die wilde Bestialität, nicht maskiert durch den kalten Stahl, eher innewerden und das öftere Zusammentreffen scheuen.“ Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Erste Fassung (1854), 1. Band, 8. Kapitel.
„[O]hne uns anzusehen, ergriff jeder sein Gewehr und verließ den unheimlichen Ort.“ Der Ort der Sichtbarkeit par excellence ist zu einem unheimlichen Ort geworden, den man verlässt, ohne sich anzusehen. Ein Zweikampf, aber ein Antiduell. Der Grüne Heinrich – um ihn geht es hier – hasst seinen Jugendfreund aus vollem Herzen, aber es ist kein Hass nach dem Gesetz, kein Teil des Selbst, sondern ein böses und fremdes Gefühl in ihm. Kein Kampf nach Regeln, ein dumpfes, wütendes Schlagen; die zwei sind allein, niemand, der zusieht,
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anerkennt, urteilt. Aber über diese Dinge, die wir schon kennen, hinaus weist der Text auf ein weiteres Element, das in den Knoten des Duells mit eingebunden ist. Gewalt gibt es für Keller in zwei Formen, als wilde Bestialität, das Äußerste der Erniedrigung, oder maskiert durch den kalten Stahl, der das Verletzen vom Körper trennt und damit leicht macht. Im Duell ist die körperliche Gewalt weder das eine noch das andere. Man kann die Rituale des bürgerlichen Duells als Maske der Gewalt ansehen; der Stein, den Hektor auf Achill schleudert, das Schwert des Ritters sind sicher keine Masken. Die europäischen Zweikämpfe benutzen alle Waffen; aber in Asien gibt es Formen, wo nur Körper gegen Körper steht. Es ist nicht der Waffengebrauch, der das Duell kennzeichnet, sondern eine Kampftechnik, die immer im Wesentlichen – auch noch der Revolverkampf des Western – eine Körpertechnik ist. Solche Techniken sind immer auch eine Zurichtung des Körpers, wie ein sportliches Training. Aber es ist ein Training in der Perspektive des Tötens und Sterbens; es ist der aggressive und mit dem Tod konfrontierte Körper, der in der Technik Form erhält. Diese Form ist zugleich Bindung, in dem Training entsteht ein Körper für die anderen, beurteilt, eingeschätzt, verglichen; er ist ein Teil des Außen, das zum Inneren wird, ein Teil dessen, was das Subjekt bezeichnet, wenn es Ich sagt. Das System, dessen Rest das Duell ist, verwandelt alles in Sprache; aber das Besondere an ihm ist, was es dabei als Zeichen verwendet: Körper, Besitz, Frauen; die Gegenwart des Todes garantiert, dass die Menschen tatsächlich Zeichen sind und sein wollen. Eine der emanzipatorischen Leistungen der Aufklärung war die Befreiung von dem Zugriff dieses Systems, das dem Menschen ein Äußeres als sein Innerstes aufzwingt. Die Bewegung sollte umgekehrt werden; das Innere sollte zum Äußeren werden, der Mensch sollte sein, was er ist. Nun sieht es aus, als gäbe es nichts im Inneren, oder besser gesagt, es gibt zu viel: Jede Handlung hat hundert Motive; es gibt nur eine Kette von Bedeutungen. Nie verbindet sich die Bedeutung mit etwas im Subjekt, sodass man sagen könnte: Das ist es nun wirklich. Das alte System interessiert uns nicht, weil es so viel sagt, sondern weil es diejenige Verbindung von Körper, Welt und Bedeutung schafft, an der der Effekt hängt, den wir Wirklichkeit nennen.
Literatur Émile. Zeitschrift für die Erziehungskultur 1:1 (1988): Dreieck; 1:2 (1988): Herzblut; 1:3 (1988): Duell. Keller, Gottfried. 1978. Der grüne Heinrich. Erste Fassung, Bd. 1. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1854).
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Lévi-Strauss, Claude. 1981. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1949). Rousseau, Jean-Jacques. 1981. Der Gesellschaftsvertrag. Leipzig (Erstveröffentlichung 1762). Ders. 1988. Die Neue Heloise. München (Erstveröffentlichung 1761). Roux, Jean-Paul. 1988. Le sang. Mythes, symboles, réalités. Paris.
Ilias und Chanson de Geste: Das System der Rache (1993)
Die literarischen Werke, die wir lesen, als wären sie für uns geschrieben, die Denker, mit denen wir uns noch auseinandersetzen: „unsere Kultur“ also beginnt weitgehend in dem Moment, wo in der Welt der Plätze Systeme entstehen, die diese infrage stellen und überlagern, in der Antike die griechische Philosophie, im 11. und 12. Jahrhundert das Eindringen des christlichen Denkens in die Gestaltung des Alltagslebens und die höfische Liebe.1 In einem einzigen Bereich ist ein Stück der einfachen Tauschsysteme in unserer Kultur aufbewahrt, in der homerischen und in der mittelalterlichen Epik. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass man die in den Epen dargestellten Gesellschaften als Tauschsysteme beschreiben kann; ich beschränke mich dabei auf die zentrale Figur der Rache. Wenn ich hier die griechische und die altfranzösische Epik als zusammengehörig betrachte, so folge ich einer langen Tradition. Seit der Romantik und Hegel sieht man die archaische Epik, die im Übergang von der oralen zur schriftlichen Literatur steht, als etwas Einheitliches; und bis heute hat sich eine
1Seit
der Romantik war das Bürgertum fasziniert von einer Welt, in der die gesellschaftlichen Regeln auch moralische Verbindlichkeit haben, wo die Menschen ganz das sind, als was sie erscheinen. Bis in die moderne Altphilologie hat diese Faszination zu sehr sorgfältigen Beschreibungen des „homerischen Menschen“ und seiner Welt geführt, auf die ich mir hier stütze. Am nächsten an unseren Interessen liegt das Buch von Herman Fränkels, vgl. Fränkel (1962): Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Wichtig ist für uns auch das ziemlich neue ethnologische Interesse an dem Komplex der Ehre. Vgl. hierzu Gautheron. Hrsg. (1991): L’honneur.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_5
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Epenforschung, die die noch vor einiger Zeit lebendige jugoslawische Dichtung, die mittelalterlichen Heldenlieder und die homerischen Gesänge in Zusammenhang bringt, als fruchtbar erwiesen. Die Epik ist Kampfdichtung; sie handelt von Spielen, deren Einsatz das Leben ist – jedenfalls gilt das für die Mehrzahl der Lieder, und auf diesen Teil beschränke ich mich hier. Die Figur, die diese Spiele beherrscht, ist die Folge von Herausforderung, oder Beleidigung, und Rache. Unsere Frage ist, in welcher Beziehung die Rache zum Tausch steht. Die Ilias2 verschränkt drei Kämpfe: 1) Die Achäer kämpfen gegen die Troer um Helena und um die Rache für den Bruch des Gastrechts. Dieser Kampf endet mit der Eroberung Trojas (auf die die Ilias nur verweist). 2) Achill streitet sich mit Agamemnon um Briseïs (die ihm widerrechtlich weggenommene Kriegsbeute) und will sich für die Kränkung rächen. Der Streit endet mit der Rückgabe des Mädchens und der Versöhnung zwischen Agamemnon und Achill. 3) Achill rächt an den Troern und besonders an Hektor den Tod seines Freundes Patroklos. Der Kampf endet mit dem Tod Hektors. Drei Geschichten von Beleidigung, Rache oder Wiedergutmachung. Die erste Geschichte liefert den Rahmen, in dem die in dem Gedicht dargestellten Geschehnisse Episoden darstellen. Die zweite und die dritte könnten unabhängige Erzählungen sein; die Verknüpfung ist erst einmal äußerlich. Eine Nebenepisode der zweiten Handlung (Achill kommt den von den Troern bedrängten Griechen so weit entgegen, dass er ihnen den Freund in seinen Waffen zu Hilfe schickt) wird zum Ausgangspunkt der dritten Geschichte. Es besteht aber doch auch ein innerer Bezug, eine Verschränkung der zwei Handlungen: Es ist der Tod des Patroklos, der dem Zorn des Achill gegen Agamemnon ein Ende setzt. So wird ein hierarchisches Verhältnis der beiden Kränkungen sichtbar: gegenüber der zweiten ist die erste von geringem Gewicht und verschwindet. Ein solch einfaches Grundmuster von Beleidigung, Rache (oder gelegentlich Wiedergutmachung) finden wir in sehr vielen Chansons de Geste wieder. Am einfachsten und eindrucksvollsten im Garin le Lorrain, einer Chanson de Geste aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Das Lied beschreibt nichts anderes als die Fehde zwischen den beiden mächtigen fürstlichen Sippen der Bordelesen und der Lothringer, eine Fehde, der der schwache König von Frankreich machtlos zusieht. Auch hier finden wir eine hierarchische Gliederung: In der ersten Phase folgt auf
2Die Ilias ist nach der von Eduard Schwartz herausgegebenen und von Hans Rupé überarbeiteten Voß’schen Übersetzung (vgl. Schwartz. Hrsg. [1960]) zitiert.
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eine Beleidigung vonseiten der Bordelesen ein maßvoll geführter Rachefeldzug der Lothringer, vergleichbar dem Streit zwischen Achill und Agamemnon, der sich auch in streng kontrollierten Formen abspielt. Der Krieg endet wie der Streit zwischen den beiden griechischen Helden mit Vertrag und Wiedergutmachung. Aber die Bordelesen hatten dem Frieden nur aus Not und halbherzig zugestimmt. Nach einigen Jahren bietet sich ihnen eine Gelegenheit zur Rache: Sie erschlagen den geliebten und bewunderten Bruder des lothringischen Herzogs heimtückisch auf der Jagd. Der darauffolgende Rachekampf wird mit einer Grausamkeit und rücksichtslosen Erbitterung geführt, die mit der Rache Achills an Hektor vergleichbar ist, und führt zur Zerstörung von halb Frankreich. Offensichtlich ist die Rache eine Grundfigur der epischen Welt. Sie ist ein mediales System wie die Gabe, arbeitet mit einem kodifizierten medialen Material, erzeugt Motive. Das Verhältnis von Schädigung, die eine Schuld begründet, und Wiedergutmachung gehört offenbar in den Bereich des Tauschs. Eine Beleidigung ist aber mehr als eine Schädigung, sie öffnet einen Zyklus der Gewalt; und bisher hatten wir den Tausch als Alternative zur Gewalt angesehen. Im modernen Denken spiegelt sich das System der Rache in zwei typischen Missverständnissen, die zuerst benannt werden müssen. 1. Man versteht die Rache als Gefühl oder Leidenschaft, als einen Affekt. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Rache eine Pflicht ist; wer diese Pflicht verletzt, entehrt nicht nur sich, sondern auch die Gruppe, der er zugehört. In einer für uns merkwürdigen Weise ist sie auch ein Affekt: Wer den Impuls zur Rache nicht in seinem Herzen spürt, ist ein niederer Mensch. Sie ist – in ähnlicher Weise wie die Schuld – ein ethisch gebotener Affekt. 2. Die Rache wird als die Vorform eines Rechts vom modernen Typ gesehen, das sich aus allgemeinen Prinzipien ableitet. Aber wie der Tausch ist die Rache eine Beziehung zwischen zwei Parteien. Wenn der Beleidigte die Rache einem anderen überlässt, ist er genauso entehrt, wie wenn sie gar nicht vollzogen wäre. Das Verhältnis der Rache zum Tausch der Gaben ist zwiespältig. In mancher Hinsicht herrschen ähnliche Regeln:
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• In der Ilias wird Liebe in derselben Weise mit dem Austausch von Geschenken gleichgestellt wie der Hass mit dem Austausch von Kränkungen.3 • Eine Kränkung zu rächen und eine Gabe zu erwidern, sind Gebote des gleichen fundamentalen Rangs. • Die Rache rechnet wie der Tausch: Auge um Auge, Zahn um Zahn; statt gleichwertiger Güter zirkulieren gleichwertige Schädigungen. • Die Beleidigung bindet wie der Tausch; vielleicht noch stärker. Wie in der Gabe, so liegt in der Kränkung die Tendenz, einen Zyklus ohne Ende zu eröffnen. • Wie der Tausch impliziert der Rachezyklus notwendig die Gegenwart eines Dritten. Die Beleidigung will gesehen werden, wie die Vergeltung gesehen werden muss. Die Rache ist erst vollständig, wenn der Dritte befriedigt ist. Andererseits ist die Rache das Gegenteil des Tauschs. Der Raub der Helena ist ein Bruch des Gastrechts. Als Hektor vor dem letzten Kampf eine Abmachung treffen will – der Sieger soll die Leiche des Besiegten zurückgeben –, antwortet Achill: „So wie Löwen und Menschen kein Schwur der Treue verbindet, / […] / So auch kann es nicht sein, daß wir uns lieben, und nimmer / Bindet uns beide der Schwur“.4 Beleidigung und Rache sind Bruch des Rechts und Aufkündigung jeder Verbindlichkeit. Aber der Bruch, die Aufkündigung sind selbst noch Teil einer Wechselseitigkeit. Oben hatten wir gesehen, dass Mauss und Lévi-Strauss die Gewalt als absoluten Gegensatz des Tausches ansahen, etwas außerhalb jeder Ordnung, eine Art Rückfall in die Natur. Für die Rache gilt das nicht; sie ist zwar Gewalt, aber Gewalt innerhalb von Regeln und Wechselseitigkeit. Wir haben den Tausch als etwas Vorgegebenes und nicht Hintergehbares betrachtet. Muss man die Rache in derselben Weise sehen, sodass erst Tausch und Rache zusammen – nicht, wie Mauss und Lévi-Strauss glauben, Tausch alleine – die Regeln bilden, die den Menschen zum Menschen machen? Oder ist die Rache eine abgeleitete Figur? Der Racheimperativ Es ist nicht so, dass in der Ilias oder in den Chansons de Geste die Helden alle und immer vor Rachedurst brennen. Die Ilias macht im Gegenteil sehr deut-
3Vgl.
Fränkel (1962): Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, 91. Hrsg. (1960): Ilias, 22, 262–66.
4Schwartz.
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lich, wie sehr die Achäer sich wünschen, dem Rachezwang entrinnen zu können: Einmal laufen sie auf eine ganz anders gemeinte Aufforderung Agamemnons zu den Schiffen, um sie für die Heimkehr zu rüsten; das andere Mal suchen sie eine Lösung über den Zweikampf zwischen Paris und Menelaos. Beides Mal braucht es das Eingreifen der Götter, um einen Krieg in Gang zu halten, den die Menschen je eher, umso lieber beenden möchten. Die Rache ist ein ethischer Imperativ. Das zeigt sich in solchen Momenten; das gilt aber auch, wenn sie mit ganzem Herzen begehrt wird. Woher kommt dieser Imperativ? Manchmal aus der Verletzung einer Tauschregel, wie im Fall des Raubs der Helena oder der Kränkung des Achill durch den Heereskönig. Aber keineswegs immer und nicht wesentlich. Hektor hat Patroklos im Kampf getötet. Keine Regel ist verletzt; trotzdem ist Achills Rache genau so richtig, genau so gefordert. Es kann schon die Beleidigung selbst, nicht erst die Rache einem Imperativ entsprechen. Nehmen wir ein Beispiel aus einer Chanson de Geste, dem Raoul de Cambrai. Der junge Raoul ist durch den frühen Tod des Vaters das Opfer eines der für das Feudalsystem typischen Rechtswidersprüche geworden. Einerseits hat er einen Anspruch auf Nachfolge; andererseits können nur wehrfähige Männer belehnt werden. So findet er sich, als er erwachsen ist, trotz seiner fürstlichen Herkunft ohne Land. Es wäre eine unerträgliche Schande für ihn – die ihm von seinem Onkel auch mit heftigen Worten vorgehalten wird –, wenn er diesen Zustand ertrüge. So beginnt er einen großen Krieg gegen eine Sippe, die ihm nie in Feindschaft begegnet war und zu der sogar sein treuester und liebster Vasall gehört; damit beginnt der Rachezyklus, den das Gedicht erzählt. Die Verpflichtung, sich um jeden Preis ein Lehen zu verschaffen, kommt nicht aus einem Tauschzyklus. Aus diesem ließen sich nur ungewisse Rechte ableiten und bestimmt nicht gegen die angegriffene Sippe. Die Verpflichtung kommt aus der eigenen Sippe, es ist der Onkel, der sie ausspricht: Es geht einfach darum, dass Raoul, der erstgeborene Sohn, den Rang der Familie erhält. Seinen Rang wahren – dieser einfache Satz bezeichnet das Prinzip, das das ganze Spiel der Rache bestimmt. Wenn Raoul dann die Söhne des Herbert angreift, so mit dem immer wiederkehrenden Satz: „Ihr werdet kein Stück Land haben, wo ihr euer Haupt niederlegen könnt“. Was heißt: Was euch widerfährt, wird nicht ein Unglück sein, sondern eine Schande, weil ihr euer Land nicht habt behaupten können. In diesem Bereich – nur in ihm – gibt es tatsächlich ein Recht des Stärkeren; wer die Macht hat, hat auch das Recht, wer die Macht verliert, verliert auch das Recht. Der Tausch setzt die Anerkennung der Bindung des Subjekts an sein Eigentum voraus; die Beleidigung, die mit Gewalt nimmt, statt zu tauschen, verweigert diese Anerkennung, löst das Subjekt vom Platz. Worum
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immer es geht, um Frauen, Brüder, Väter, Freunde, Land, der eigentliche Gegenstand der Rache ist immer der: die Wiederlegung der Behauptung, man könne seinen Platz nicht festhalten. So gesehen, erscheint die Rache als Last und Verpflichtung; sie ist aber auch, wie Achill vom Zorne sagt, süßer als Honig,5 mit Stolz und Gier verbunden. Die Rache trifft die Beziehung des Subjekts zum Platz. Wir wissen, was diese Beziehung in sich enthält. Auf der einen Seite ist der Platz eine Gabe, die das Subjekt verpflichtet, eben dazu, den Rang des Platzes zu erhalten. Diese Verpflichtung wird vertreten von der Familie, von den Brüdern, von den Söhnen. Andererseits ist der Platz auch Name, der Schutz gegen die fundamentale Beschämung, das Begehrenswerte im Subjekt, die Rechte, der Stolz. In dieser Dimension ist die Beleidigung eine Kränkung des Stolzes, die Rache seine Wiederherstellung. Vor allem die französischen Epen arbeiten sehr stark mit dem Gegensatz dieser beiden Dimensionen. Raoul treibt die Wahrung seines Ranges, soweit er kann, es geht um Größe. Der gekränkte Vasall Bernier rächt sich, soweit er muss. Er achtet peinlich darauf, im Rahmen dessen zu bleiben, wozu die Rache zwingend verpflichtet. Auch im Garin le Lorrain sind die Rollen nach diesem Schema verteilt: Rache aus Verpflichtung gegen Rache aus Stolz.6 In Umrissen beginnen wir die Beziehung zu entdecken, die zwischen der Welt des Tausches und dieser Welt besteht, über die Homer die Überschrift des Grolls gesetzt hat. Um diese Beziehung formulieren zu können, müssen wir ein Problem der Organisation des Tauschs wieder aufgreifen. Wir hatten im Tausch zwei Achsen unterschieden, in denen Zyklen ganz verschiedener Natur ablaufen. Eine horizontale Achse, wo zwischen Plätzen Güter getauscht werden, die oft mit dem Bereich der Bedürfnisse verknüpft sind. Auf dieser Achse sind die Plätze stabil, sie sind die Orte, von denen aus getauscht wird. Dann die vertikale Achse, wo der Platz vom Vater an den Sohn gegeben wird, den die Initiation als Erwachsenen
5Vgl.
ebd., 18, 109. Kabylen unterscheiden, wie Bourdieu darstellt, zwei Dimensionen der Ehre, nif und haram. Der nif bezeichnet das Spiel der Herausforderungen, in das nur die Männer einbezogen sind, das haram die Beleidigungen, die die Sphäre des Hauses und der Frauen betreffen – und die unbedingt und um jeden Preis gerächt werden müssten (Bourdieu 1976 [1972]: Entwurf einer Theorie der Praxis, 11–47). Eine solche Unterscheidung findet man in allen Ehrsystemen; ihr Prinzip könnte die Unterscheidung der beiden mit den Namen gegebenen Dimensionen von Stolz und Schuld sein. Vgl. Pitt-Rivers (1991): La maladie de l’honneur.
6Die
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anerkannt hat; dann die Heirat, die so etwas ist wie eine Diagonale, wo zwischen den Plätzen getauscht wird, was den Platz erst vollständig macht. Wenn ein Gesellschaftszustand, der diesem Schema entspricht, so oft mit Bildern wie denen von einem goldenen Zeitalter oder einer paradiesischen Natur verbunden worden ist, so offenbar deswegen, weil der Zugang zu den Plätzen und ihr Besitz sicheren Regeln – den Regeln der Stammesgliederung, der Initiation und des Frauentauschs – unterworfen sind, frei von Rivalität und Kampf. Natürlich greift der Tausch am Platz, an den Namen ein; darin liegt ja seine Kraft. Aber auch dieses Eingreifen haben wir in den zirkulären Bewegungen des Schwindens und Wachsens, des Alternierens von Schuld und Begehren verfestigt gesehen. Die Griechen haben die Welt des Epos mit Recht als die eiserne bezeichnet; es geht in tausend Varianten um eine Sache, immer um dieselbe, um den gewaltsamen Kampf um Plätze. Der Platzkampf des Potlatsch war immer an die Regeln und die Mittel des Tausches gefesselt, nur durch Mehr-Schenken konnte man mächtiger werden. Jetzt ist der Kampf Krieg. Wenn Mauss und Lévi-Strauss Tausch als Regel und regellose Gewalt in einer Weise gegenüberstellen, die der Welt des Epos völlig fremd ist, so vielleicht einfach deshalb, weil eine solche Gegenüberstellung der Realität der Welt entspricht, die sie beschreiben, weil dort die geregelte Gewalt des Kampfs um Plätze eine geringe Bedeutung hatte. Für die Kriegslust und Kriegsverherrlichung der epischen Welt hat man üblicherweise eine funktionalistische Erklärung: Gesellschaften, in denen die Selbstbehauptung im Krieg eine große Rolle spielt – eine viel größere als in den Stammesgesellschaften –, produzieren kriegerische Werte, eine entsprechende Persönlichkeit, eventuell, je nach dem Stand und den Kosten der Kriegstechnik, eine militärische Elite, wie sie für das Epos typisch ist. Kampflust, Rachgier werden zu Tugenden, auf die die Eliten verpflichtet werden. Dieses Bild trifft aber nur einen kleinen Teil dessen, was das Epos wirklich sagt. Man versteht von daher, dass die Helden zu Leistungen verpflichtet sind. Eine solche Verpflichtung besteht tatsächlich. Dass Hektor sich so leichtsinnig in den tödlichen Zweikampf mit Achill einlässt, hat seinen Grund in der Furcht vor den Vorwürfen, die ihn als Heerführer treffen würden: dass er durch seine Weigerung, sich rechtzeitig in die Stadt zurückzuziehen, für die großen Verluste der Troer verantwortlich ist. Aber die typische die Beziehung organisierende Struktur ist eine andere. Zwei Beispiele: Hektor fordert die Achäer zu einem Zweikampf heraus. Keiner wagt es, sich zu stellen, sodass Menelaos, um dem Schimpf zu entgehen, einen Kampf auf sich nimmt, der für ihn, gegen den „viel
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stärkeren Mann“, den Tod bedeutet hätte.7 Oder das Beispiel des Diomedes, einer der stärksten Kämpfer der Griechen, der in einer ausweglosen Situation sich scheut, sich vor Hektor zurückzuziehen, weil er den Triumph des Feindes fürchtet. Das sind Übertreibungen, die dann auch im Sinne der Vernunft korrigiert werden; Menelaos wird vom Kampf abgehalten, an seine Stelle tritt der stärkere Ajas. Aber das hier sichtbare Prinzip beherrscht durchgehend das im Kleinen wie im Großen immer wiederkehrende Spiel von kränkender Herausforderung und Antwort: der Feind, der Herausforderer, ist der Richter über den Rang des Herausgeforderten. Auch wenn kein Recht im Sinn von Gabe und Schuld auf seiner Seite steht, sogar, wenn er gegen das Recht handelt, ist er es, der den Blick des Dritten trägt.8 Das ist der Typ von Beziehung, der hier entsteht. Sie macht den Beleidiger zu der Person, die von allen Personen dem Beleidigten am nächsten steht. Es handelt sich nicht um eine psychologische Eigenart, sondern um ein ethisches Gesetz, das über den vielfältigen Interessen der kämpfenden Parteien am Sieg steht. Der epische Kampf verbindet intensiver, als er trennt. Das Kollektiv sieht den Beleidigten mit den Augen des Beleidigers; es erkennt den Triumph an. Es ist ein Gesetz von historisch beschränkter, aber doch großer Reichweite. Beschränkt: Im höfischen Roman oder in der im Zusammenhang mit den Kreuzzügen entwickelten Ritterethik ist dieses Gesetz schon außer Kraft gesetzt oder doch sehr eingeschränkt; andererseits beherrscht es das aristokratische Alltagsleben, solange es eine Aristokratie gibt – was zum Beispiel in der Institution des Duells sichtbar wird, die bis in die bürgerliche Zeit ihre Kraft bewahrt hat. Vorher hatten wir gesagt, der Racheimperativ ist ein Imperativ, der vom Platz ausgeht: „Du musst deinen Rang wahren!“ Jetzt können wir ihn genauer formulieren: Du musst jeden, der auf sich nimmt, dich herauszufordern, zum Richter über deinen Rang anerkennen, dich auf einen Kampf einlassen, der beweist, wem der Platz rechtmäßig zusteht.9 Hier verschränken sich, auf eine ganz eigenartige Weise, Gesichtspunkte der Macht und solche der Legitimation. Wenn Raoul und die Söhne Herberts kämpfen, so geht es darum, wer das Lehen besitzen wird, aber auch darum, wer es verdient. Es geht im selben Zug um den Besitz und um die Anerkennung, dass
7Vgl.
Schwartz. Hrsg. (1960): Ilias, 7, 92 ff. gibt also nebeneinander zwei Rechte verschiedener Natur, die natürlich auch miteinander in Konflikt kommen können. 9Dieses Gebot wäre zerstörerisch, wenn es nicht durch konkrete Regeln wieder eingeschränkt wäre. 8Es
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der Besitz rechtmäßig ist. Anders ausgedrückt: In jedem Vergeltungszyklus wird die Identifikation mit dem Platz radikal infrage gestellt und, je nach dem Ausgang, bestätigt oder nicht. Was in den Stammesgesellschaften gesichert war, der Besitz des Platzes, wird zum Einsatz eines Spieles, in dem es um die Macht geht, aber auch um das Recht. Um diese merkwürdige Verschränkung von Macht und Recht, von Kampf und Identifikation zu verstehen, müssen wir zurückgreifen auf das, was wir über die Vergabe der Plätze im alten System schon wissen. Die Plätze sind vergeben gemäß der Abstammung. Wir hatten dabei das Moment der Gabe betont, durch die die Identifikation an der grundlegenden Legitimität des Tauschs teilhat; Identifikation ist Anerkennung einer Gabe, damit einer Schuld. Dieser Typ des Platzerwerbs über Abstammung ist auch in der epischen Welt der normale. Aber auch in diesem Zusammenhang enthält die Initiation immer ein Element von Probe, von Anerkennung einer individuellen Leistung; der Einzelne muss beweisen, dass er des Platzes würdig ist. Man weiß, dass die Anerkennung auch verweigert, der Initiant auf Außenseiterrollen gelenkt werden kann. Im Tauschschema ist das Moment der Anerkennung Teil der Initiation und auf sie beschränkt; es gibt keinen institutionellen Ort mehr, an dem die Frage erneut gestellt wird, ob das Subjekt – jedenfalls solange es sich den Imperativen nicht entzieht – geeignet und berechtigt ist, den Platz zu vertreten. In der epischen Welt wird die Dimension der Anerkennung in das Leben der Erwachsenen herein geöffnet. Die Beleidigung bzw. Herausforderung stellt die Anerkennung infrage. Der Herausgeforderte muss beweisen, dass er den Platz verdient. Der Platzimperativ verpflichtet ihn dazu, dem nicht auszuweichen.10 Zwei Dinge legen also nahe, dass man den epischen Kampf mit der Initiation zusammenbringt: Der Herausforderer steht an dem Ort, wo in der Initiation die das Kollektiv vertretenden Erwachsenen stehen. Im Moment des Kampfes ist der Besitz des Platzes suspendiert: Wenn er siegt, nimmt der Herausfordernde dem Besiegten nicht nur den Platz weg, sondern er kann ihm auch das Recht auf den Platz absprechen, wie die initiierenden Erwachsenen in der Initiation; unterliegt er, so gibt er dem anderen den Platz, gibt ihn – vermehrt um den Ruhm des Sieges – zurück. „Du wirst sterben und mir wirst du edlen Ruhm geben“, lautet eine der Standardformeln, die die Zweikämpfe einleiten. Der Herausforderer vertritt
10Wir sind hier in dem Bereich der Todes- und Gewalt-„Mystik“, die sich für uns vorwiegend mit faschistischen Ideologien verbindet, die aber auch für Leute wie Bataille wichtig ist.
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immer das Kollektiv, auch das des Herausgeforderten; er hat, auch wenn er eine Tauschregel gebrochen hat, auf der Ebene des Platzimperativs immer Recht. Das zweite Moment kennen wir aus Hegels Dialektik von Herr und Knecht.11 In der Initiation wird das Subjekt neu geboren als gebunden an den Platz. Die Begegnung mit dem Todesrisiko bewährt und erneuert diese Bindung. Das Subjekt beweist, dass ihm sein Platz lieber ist als sein Leben. Daher ist in einem Sinn der Kampf auch immer erfolgreich. Auch wenn das Subjekt tot ist, ist jedenfalls erwiesen, dass es seinen Platz zu Recht besessen hatte. Hier liegt einer der Gründe, warum die Götter bei Homer sich von den Menschen durch das leichtere Leben unterscheiden. Der Flussgott Skamander sucht, um den Troern zu helfen, Achill zu ertränken. Als er seinerseits von Hephäst mit Flammen geplagt wird, kann er sich leicht zurückziehen und die Troer ihrem Schicksal überlassen.12 Einem Gott ist das erlaubt, ein Mensch würde seine Ehre verlieren. Die Stammesgesellschaften sind vorwiegend egalitär, die Plätze etwa gleichwertig. In der ständischen Welt der Epik sind die Plätze extrem ungleich; dem entsprechend sind die guten Plätze knapp. Wenn das Kollektiv sich auf die Seite des Angreifers stellt, die Wiederholung der Initiation verlangt, dann weil dieser Kampf eine Form der Legitimation der privilegierten Stellung ist. In der Ilias ist das immer wieder gesagt: Es ist die Position, der Platz am Tisch des Königs Agamemnon, die mit dem Kampf bezahlt wird. Die Edlen müssen kämpfen, um Edle bleiben zu können. Was uns allerdings befremdet, ist die Tatsache, dass diese Legitimation sich nicht in erster Linie auf Leistung stützt, sondern auf ein anderes „Sein“, auf einen anderen und anspruchsvolleren Initiationsweg. Das Recht, die großen Spiele der Herausforderung und Vergeltung zu spielen, ist auch ein Privileg. Recht auf Rache hat, wer die Macht dazu hat; daher spiegeln sich in diesem Recht der ganze soziale Aufbau der archaischen ständischen Gesellschaft und deren Probleme wider. Am deutlichsten ist das in der mittelalterlichen Geschichte. Nach dem Zerfall der karolingischen Ordnung haben sich die zentralen feudalen Standesschranken an der Möglichkeit zu kämpfen herausgebildet. Wer sich eine Waffe und ein Pferd leisten konnte, blieb frei, war nur einer Gerichtsbarkeit von Gleichrangigen unterworfen, aus der er sich im Prinzip immer zurückziehen konnte auf das Recht, um sein Recht zu kämpfen. Wer sich die Waffen nicht leisten konnte, verlor nun auch das Recht,
11Allerdings
macht Hegel aus der medialen Beziehung der Herausforderung, in der es um die Bindung an die Namen geht und die die Gegenwart des Dritten voraussetzt, ein Verhältnis des „Alles oder nichts“. 12Vgl. Schwartz. Hrsg. (1960): Ilias, 21, 357–360.
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sie zu tragen, und wurde einer entehrenden, auf körperlicher Strafe beruhenden, herrschaftlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Recht auf Rache ist ein ständisches Privileg geworden. Die in der feudalen Welt immer wieder ausgesprochene Überzeugung, dass der Unterschied der Stände ein Unterschied im Sein der Menschen ist, beruht sicher wesentlich auf dieser Grundlage: Den Bauern ist ein Weg der Initiation versagt. Man weiß, wie hartnäckig der Adel die ökonomisch und machtpolitisch belanglose Institution des Duells gegen den Versuch des absolutistischen Staates verteidigt hat, sich das Monopol der Gewalt anzueignen: Das Recht, um sein Recht zu kämpfen, ist die wesentliche Bestimmung der adligen Freiheit; das staatliche Gewaltmonopol hebt die Trennung der Stände auf, indem es sie alle gleichermaßen dieses Rechts beraubt. Es bedeutet eine Enteignung. Innerhalb des Adels besteht grundsätzlich das Recht zur Rache, aber der wirkliche Umfang dieses Rechts ist in komplexer Weise kodifiziert. Die Beleidigung des mykenischen Herrscherhauses verpflichtet alle griechischen Völker zur Rache. Wenn im Frankreich des 12. Jahrhunderts die epischen Strukturen sich auflösen, dann ist der Umfang des Racherechts nach der Darstellung der Gedichte selbst eine der wesentlichen Angriffspunkte; es wird nicht mehr hingenommen, dass auf eine Kränkung des Fürsten das ganze Land in einen jahrelangen Krieg zieht. Es ist eine solche Entwicklung, die den Adel zwingt, Kämpfe der Ehre und Kämpfe der Macht zu unterscheiden, und die schließlich zur Institution des Duells führt. In der Ilias ist der Umfang des Racherechts in einer anderen Weise, die ganz im Inneren des epischen Denkens bleibt, ein das ganze Gedicht organisierender Gesichtspunkt. Wie im Potlatsch geht es in der Ilias um den „Namen“, den Ruhm, die Größe. Hier wie dort geht es um Frauen und Schätze, hier um Gabe und Schuld, dort um Beraubung und Rache. Groß ist beides Mal, wer die größeren Spiele spielen kann. Das Wort „können“ hat einen Doppelsinn: Es heißt einmal, die Möglichkeit zu haben, im Sinn der institutionellen Gegebenheiten des Systems; und es heißt, das Spiel in der richtigen Weise zu spielen. Nun hat das Spiel der Rache zwei Imperative, die in Konflikt miteinander stehen. Es befiehlt den Sieg, und es befiehlt die Konfrontation mit dem Tod als das Zeugnis der vollständigen Identifikation mit dem Platz. Auf keinen der Imperative kann man verzichten, aber der letzte ist der fundamentale. Daher liebt die Epik den, der stirbt, mehr als den, der überlebt – er hat mehr bewiesen als der Sieger; aber in irgendeiner Weise muss der, der stirbt, doch der Sieger gewesen sein.13 Die Ilias
13Die
beliebteste Lösung ist die des Rolandslieds: Der Held unterliegt nach langen, als einzelne genommen siegreichen Kämpfen einer Übermacht.
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hat dieses Problem dadurch gelöst, dass Achill dank seiner göttlichen Herkunft als einziger der Helden mit einem vollständigen Wissen um sein Schicksal und mit der Möglichkeit der Entscheidung ausgestattet ist; er hat die Wahl zwischen einem langen, glücklichen und ruhmlosen Leben oder dem höchsten Ruhm und dem frühen Tod, und er weiß, dass sein Sieg auch seinen Tod bedeutet. Um den Gegensatz zwischen den beiden Bedeutungen der Größe organisiert die Ilias ihre Handlung. Agamemnon ist der König und gebietet dem größeren Volke,14 aber er spielt sein großes Spiel in mittelmäßiger Weise. Achill ist derjenige, der die Forderungen des Systems ganz und gar erfüllt.15 Wenn die Ilias den Ruhm des Helden als dem des Königs überlegen darstellt, so legt sie den Vergleich auf die Ebene des Racherechts. Der König kann den Frauenraub mit dem großen Krieg beantworten. Als Achill Briseïs geraubt wird, denkt er in seinem Zorn einen Moment daran, Agamemnon zu erschlagen; diese schlechte Lösung wird ihm von den Göttern verboten. So bleibt ihm nur der Rückzug vom Kampf, durch den er die Griechen fühlen lassen kann, wie nötig sie ihn brauchen. Der Tod des Patroklos eröffnet einen neuen Rachezyklus und schafft eine ganz veränderte Konstellation. Der Zwist zwischen den beiden griechischen Fürsten wird beigelegt. Aber es geht jetzt und bis zum Ende des Gedichts nicht mehr um den Raub der Helena, sondern um den Tod des Patroklos; die Griechen kämpfen für Achill;16 auf Patroklos bezieht sich alles Weitere: der Sieg über Hektor, die feierliche Bestattung des Freundes, die großen Wettspiele, die Achill zu seiner Ehre gibt. Der besondere Initiationsweg, den Achill dank seiner Stärke, der Hilfe der Götter und des Vorauswissens über sein Schicksal geht, macht ihn im Rang dem König gleich; dieser Rang drückt sich darin aus, dass er wie dieser alle Griechen an seiner Rache beteiligen kann. Die Begegnung außerhalb des Mediums Wenn sich ein Achäer und ein Troer im Kampf als alte Gastfreunde wiedererkennen und ihre Waffen tauschen, wenn ein siegreicher Krieger sich an dem Gedanken des Schmerzes freut, den die Eltern des eben Getöteten empfinden werden, wenn die Fürsten sich nach der Schlacht an der Tafel des Agamemnon
14Vgl.
Schwartz. Hrsg. (1960): Ilias, 1, 281. geht es nicht um den Gegensatz von Rolle und persönlichen Fähigkeiten in einem modernen Sinn. Agamemnon ist ein unsicherer Spieler, weil er von den Göttern immer wieder betrogen und zu schlechten Zügen verleitet wird; Achill kann sich auf das verlassen, was die Götter ihm sagen. 16Vgl. Schwartz. Hrsg. (1960): Ilias, 17, 105, 120. 15Dabei
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versammeln, immer sind die Personen füreinander zugleich Spielmarken in dem großen Spiel und Spieler mit den Gegenständen – Frauen, Schätzen, Gastmählern –, in denen sie ihre Namen finden. Das bedeutet kein blindes Gefangensein; es gibt viele Orte im System, von denen aus man große Teile von diesem überblicken kann: Achills Vorwissen ist ein solcher Punkt oder der Blick der Götter – die selbst ihre Spiele immer wieder verlassen können –, und vor allem der Blick des Dichters, der immer wieder seine Gestalten verlässt und von oben auf das Elend der Menschen schaut. Aber wo sich Menschen begegnen, so begegnen sie sich im Spiel und als dessen Figuren; das Medium und seine Regeln bestimmen, was sie für einander bedeuten. Es gibt eine einzige Ausnahme, die Begegnung von Achill und Priamos, dem alten König der Troer und Vater Hektors, im letzten Gesang. Achill hatte Hektors Leiche immer wieder um das Grab des toten Patroklos geschleift, er wollte ihm die Bestattung verweigern und ihn den Hunden zum Fraß vorwerfen. Aber auch Hektor ist von den Göttern geliebt; die Götterbotin Iris wird entsandt, um Achill zur Annahme des Lösegeldes und zur Rückgabe der Leiche zu bewegen; Hermes geleitet Priamos nachts in das Lager der Feinde. Priamos umschlingt die Knie des Mannes, der seinen Sohn getötet hat. Die Gefahr, dass die Begegnung in Wut und Mord umschlägt, ist immer gegenwärtig; aber Achill empfängt den alten Mann freundlich, lädt ihn zum Mahl ein; sie speisen zusammen; nach einem kurzen Schlummer führt Hermes den König mit Hektors Leiche nach Troja zurück. Die deutsche Klassik hat diesen Gesang (der meist für eine spätere Umdichtung gehalten wird) besonders geliebt und hat in ihm ihre Vorstellung der Humanität wiedergefunden. Mit einem gewissen Recht: Nicht nur wählt der Dichter hier von den Möglichkeiten, die das System bietet, die mildere, die Auslösung der Leiche durch Gaben, vor allem ist die Begegnung in einer Weise geschildert, die aus dem System überhaupt herausführt. „Aber sobald die Begier nach Trank und Speise befriedigt, Sah mit Erstaunen der Dardaner Priamos erst, wie Achilleus Groß und gewaltig doch war und den Himmlischen glich an Erscheinung. Auch den Dardaner Priamos sah mit Erstaunen Achilleus, Weil er so gütig sein Antlitz fand und reden ihn hörte. Als sich nun jeder von Herzen gelabt an des Anderen Anblick, Sprach als erster Priamos nun, der göttliche Alte.“17
17Ebd.,
24, 628–633.
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Der Blick, in dem der Fürst und der Held sich gegenseitig staunend betrachten, ist nicht durch ihre wechselseitige Bedeutung im Spiel festgelegt; für einen Moment sind beide herausgetreten aus den Bestimmungen, die sie sonst gefangen halten und die ihre Blicke leiten; es ist, als würden sich zwei Menschen jenseits der furchtbaren Gewalt des Mediums begegnen. Mit Rousseau werden wir sehen, dass ein wesentlicher Moment der frühbürgerlichen Humanität die Privilegierung dieses Momentes ist, „wenn die Schranken des Unterschieds einstürzen – wenn von uns abspringen all die verhaßten Hülsen des Standes – Menschen nur Menschen sind“.18 Auch die griechische Entwicklung wird sehr bald nach der Abfassung der homerischen Gedichte das einfache archaische System einstürzen lassen; daher ist es vielleicht nicht unberechtigt, wenn die Leser der Goethezeit hier ein Zeichen ihrer eigenen Befreiung von der alten Medialität erkennen. Rache als Vergesellschaftung Wir sehen Vergesellschaftung auf der Ebene der Interessen – der Konkurrenz oder der Kooperation – oder auf der Ebene der Gefühle und der „Menschlichkeit“. In beiden Dimensionen wirkt die Rache destruktiv; daher verstehen wir Vergeltung, Fehde, Kampf als etwas, was trennt und zerstört, der Gesellschaftlichkeit zuwiderläuft. Wenn wir von den alten Tauschsystemen aus auf das System der Rache schauen, sehen wir das Gegenteil. Es ist unter dem Gesichtspunkt des Systemaufbaus kein fundamentaler Unterschied, ob die Trobriander für den Wettstreit der Gaben von Insel zu Insel fahren oder ob die Griechen sich mit ihren Schiffen versammeln, um zu rauben und zu töten. Der Sinn eines Tauschsystems besteht darin, Differenzen und über die Differenzen Beziehungen und Motive zu schaffen, die Menschen an ihre Positionen in einem gemeinsamen Spiel zu binden. All das tut das System der Rache; dass das Leben der Spieler als Einsatz im Spiel verwendet wird, stört nicht, da es im System nur auf den Erhalt der Positionen ankommt. Das Frankreich der Chanson de Geste besteht aus einer Gruppe großer Sippen, die verbunden sind durch Fehdeketten und durch aus diesen sich ergebende Allianzen. Aber auch die Troer sind, wie wir wissen, eigentlich Griechen: Sie sprechen die gleiche Sprache, haben die gleichen Götter, sie haben die gleiche Geschichte, die gleichen Gastfreundschaften – es handelt sich um einen inneren Feind. Zwischen den verfehdeten Fürsten Frankreichs und den trojanischen bzw. achäischen Helden schafft der Kampf eine Beziehung, die in gewisser Weise enger ist als die, die jeden mit seinen Landsleuten verbindet. Der Feind, und
18Schiller
(2001 [1784]): Kabale und Liebe, 1. Akt. 3. Szene.
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nur der Feind, hat das Recht, gegenüber dem Subjekt den Ort des Initianten, des platzzuweisenden Dritten einzunehmen. Nur er kann den anderen dazu zwingen, mit ihm den – ja auch gemeinsamen – Gang der wiederholten Initiation zu gehen. Der Kampf ist ein Ereignis, das das System aus seiner Logik heraus produziert. Die auslösende Beleidigung – der Raub der Helena, die Wegnahme der Briseïs – stellt die Ordnung der Plätze zur Disposition: Städte werden zerstört, mächtige Familien gehen unter. Diese Störung ist im Sinne der Figur der Rache „erwünscht“: In der Neuordnung, die der Kampf bewirkt, stellt sich die Legitimität des Systems wieder her; der Krieg hat die Positionen aufs Spiel gesetzt, sie sind von ererbten zu erworbenen geworden; zugleich hat sich die Ehre der Helden, die Bindung an die Plätze bestätigt. Die Figur der Rache inszeniert die periodische Neugeburt des Kollektivs als eine Öffnung der medialen Gewalt in ihrer Funktion, die Positionen zu legitimieren.19 Zugleich dient der Kampf der Erzeugung der Menschen. In der epischen Welt ist diese Erzeugung nicht auf den Moment des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen festgelegt; sie ist in die erwachsene Welt als Initiationsweg eingebaut. Das System der Rache ist ein solcher Weg; es schafft den Menschen, der die Bindung an den Platz, das heißt die Ehre zum ersten Gegenstand seines Lebens macht, der also immer im Bereich der Initiation lebt. Wenn der initiatorische Kampf die Grundform der Vergesellschaftung ist, heißt das nicht, dass nicht getauscht würde. Der Tausch ist allgegenwärtig in der epischen Welt, aber fast alle Tauschbeziehungen sind organisiert durch den Kampf, der im Zentrum steht. Das durch den König vertretene Kollektiv steht mit dem Helden in einer Beziehung des Tauschs; militärische Leistungen werden belohnt mit Teilen der Beute, mit einem Ehrenplatz am Tisch des Königs, mit dem Ruhm, der in der Ilias so wichtig ist. Auf der Ebene der gewöhnlichen, der namenlosen Kriegerschaft erscheint der Kampf als Beziehung wechselseitiger Hilfe. Auch was in der Ilias vom Leben in der Familie sichtbar wird, ist bestimmt durch die Verschränkung von Tausch und Kampf. Wenn zum Beispiel Andromache Hektors Tod vorwegnehmend beklagt, dann sieht sie in ihm nicht den Gegenstand ihrer Gefühle, sondern den Beschützer ihres kleinen Sohnes. Wie das System der totemistischen Verbote oder die Einteilung in Kasten ist der Krieg ein großer Produzent von Mangel und Differenzen. Wo etwas fehlt, was andere haben, entsteht ein Feld für Gaben; insofern ist der Krieg ein großer Schöpfer von
19Man
kann hier an die zahlreichen Riten erinnern, die in den Stammesgesellschaften die periodische Neugeburt der Welt zum Thema haben. Vgl. Duerr (1984): Sedna oder Die Liebe zum Leben.
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Tausch. Wir haben gesagt, der Kampf ist Vergesellschaftung. Wir sehen jetzt, er vergesellschaftet in doppelter Weise: Er verbindet die Feinde, er verbindet auch die Achäer, die sonst zerstreut auf ihren Inseln und in ihren Städtchen hausen würden.20
Literatur Bloch, Marc. 1982. Die Feudalgesellschaft. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1939/1940). Bourdieu, Pierre. 1976. Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1972). Duerr, Hans Peter. 1984. Sedna oder Die Liebe zum Leben. Frankfurt a. M. Fränkel, Hermann. 1962. Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. München. Gautheron, Marie. Hrsg. 1991. L’honneur. Image de soi ou don de soi, un idéal équivoke. Paris. Luhmann, Niklas. 1988. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. Pitt-Rivers, Julian. 1991. La maladie de l’honneur. In L’honneur. Image de soi ou don de soi, un idéal équivoke, Hrsg. Marie Gautheron, 20–37. Paris. Schiller, Friedrich. 2001. Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel. Stuttgart (Erstveröffentlichung 1784). Schwartz, Eduard. Hrsg. 1960. Homer. Ilias, übers. Johann Heinrich Voß, bearb. Hans Rupé. Darmstadt.
20In
Marc Blochs großem Buch über die Feudalgesellschaft (Bloch 1982 [1939/1940]), das immer noch die Grundlinien der modernen Auffassung bestimmt, wird das Feudalverhältnis mit Kategorien des Tauschs erklärt: Es ist eine bestimmte Form der politischen Vergesellschaftung, die entsteht, wenn die (im wesentlichen ökonomischen) Rahmenbedingungen für eine staatliche Ordnung nicht mehr vorhanden sind; sie greift hinter deren Prinzipien auf die Bindungskraft der Verpflichtung durch die Gabe zurück – nach Bloch ein archaisches Verfahren, das aber immer zur Verfügung steht und aus dem sich, wenn es notwendig ist, neue Institutionen entwickeln lassen. Das Prinzip der Fehde kann Bloch nicht in einer analogen Weise verstehen. In der neuen Mittelalterforschung wird aber die Fehde als vergesellschaftendes Prinzip gesehen; in dieser Perspektive beschreibt auch Pierre Bourdieu (Entwurf einer Theorie der Praxis) die Rache in der kabylischen Gesellschaft. Zu dem allgemeinen Prinzip, Konflikt als Mittel der Erhaltung sozialer Einheiten und nicht im Gegensatz zu dieser zu sehen, und zur Bindungskraft von Konflikten vgl. Luhmann (1988): Soziale Systeme, 532 f.
Tauschsysteme als subjektivierende Ordnungen: Mauss, Lévi-Strauss, Lacan (2006)
In seiner Einführung zu dem Band der Werke von Marcel Mauss, der auch den Essai sur le don enthält,1 beschreibt Lévi-Strauss Mauss als einen Moses, der sein Volk zu dem gelobten Land führt, dem es aber nicht vergönnt ist, es selbst zu betreten.2 Das gelobte Land ist natürlich die Einsicht in den symbolischen Ursprung des Sozialen. Betreten konnte Mauss es nicht, weil er sich noch bemühte, eine soziologische Theorie des Symbolischen zu erarbeiten, während es darauf ankam, einen symbolischen Ursprung der Gesellschaft zu suchen.3 In dem sicher bedeutendsten Werk, das in direkter Aufnahme des Essai sur le don verfasst worden ist, in Les structures élémentaires de la parenté,4 sind dann auch die Grundgedanken des Essai in das neue kulturtheoretische Paradigma übersetzt worden, auf das Lévi-Strauss mit der Formulierung vom symbolischen Ursprung der Gesellschaft verweist.
1Der
Begriff der Gabe bezeichnet bei Mauss die drei Verpflichtungen: zu geben, anzunehmen, zu erwidern. Gleichzeitig bezeichnet er nur einen Moment der Gesamtstruktur, den Akt des Gebens. Daher verwendet man für die Gesamtstruktur auch den Terminus „symbolischer Tausch“. Um den Text nicht zu sehr zu belasten, benütze ich im Folgenden immer nur das Wort „Tausch“, wenn ich vom symbolischen Tausch spreche, außer wenn der Kontext dazu zwingt, den symbolischen Tausch explizit vom Tauschhandel oder Warentausch abzusetzen. 2Lévi-Strauss (1968): Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, XXXVIII. 3Vgl. ebd., XXII. 4Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_6
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Lacans Denken kann man beschreiben als den Versuch, auf der Basis der Freud’schen Psychoanalyse die Seite des Subjekts, oder genauer, der Subjektivierung, innerhalb des Paradigmas einer symbolischen Kulturtheorie5 auszuarbeiten. Innerhalb dieses Paradigmas war das eine notwendige Aufgabe, die ja bekanntlich auch in anderen Kontexten angegangen worden ist, so von Foucault im Zusammenhang einer Theorie der Macht und von Bourdieu mit dem Begriff des Habitus. Vor allem am Anfang von Lacans Arbeit hat der symbolische Tausch eine große Bedeutung. Das Konzept des Symbolischen des frühen Lacan steht der Mauss’schen Auffassung der Gabe in wesentlichen Punkten sehr nahe. Die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft sind für Lacan ein fundamentaler Text. Der zentrale Begriff der symbolischen Ordnung ist in enger Anlehnung an dieses Werk entwickelt. Damit ist angedeutet, mit welchen Fragen ich mich im Folgenden beschäftigen möchte: Was bedeutet es für die im Essai entwickelten Gedanken, wenn sie in das Paradigma einer symbolischen Kulturtheorie übersetzt werden? Welche Folgen hat es, wenn man der bei Mauss angelegten, aber nicht ausgeführten Dimension der Subjektivierung durch den Tausch das Gewicht gibt, das sie in dem neuen Paradigma haben muss? Um die Richtung anzudeuten, in die die Antworten gehen: Erstens wird die systematische Einheit der durch den symbolischen Tausch produzierten Kollektive ausgearbeitet werden – statt vom Tausch in den archaischen Gesellschaften zu sprechen, wie Mauss es in dem vollen Titel des Essai sur le don tut, werden wir die archaischen Gesellschaften als durch den Tausch konstituierte Gesellschaften, als Tauschsysteme betrachten. Und zweitens wird sich mit Lacan ein neuer, von der Gegenwart und von der Problematik der Subjektivierung her perspektivierter Blick auf die Geschichte des Tauschs skizzieren lassen. Wir müssen die Grundgedanken des wesentlich von Lévi-Strauss initiierten kulturtheoretischen Paradigmas in Erinnerung rufen, in das die Gedanken von Mauss jetzt eingebaut werden. 1) Kultur ist verstanden als ein Komplex von Sinnsystemen bzw. symbolischen Ordnungen, der durch das unbewusste Denken des Menschen strukturiert ist, der also gleichzeitig ein Wissen darstellt. 2) Diese Wissensformationen sind zu verstehen als in sich organisierte Differenzsysteme, wobei als Modell die von Nikolai Troubetzkoy und Roman Jakobson ausgearbeitete strukturale Phonologie dient. 3) Diese Systeme haben einen
5Dieses
Paradigma ist von Andreas Reckwitz ausführlich dargestellt worden. Vgl. Reckwitz (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Auf diese Darstellung beziehe ich mich im Folgenden.
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konstituierenden oder generativen Charakter. Sie stehen im selben Verhältnis zu Einzelhandlungen wie Sprachstruktur zu Sprechakten (wie langue zu parole). 4) Diese Ordnungen sind gleichzeitig Ordnungen der Wirklichkeit und unbewusste Ordnungen des Wissens. Das heißt, die für das traditionelle Denken fundamentale Gegenüberstellung von innen und außen, von Subjekt und Wirklichkeit ist prinzipiell aufgehoben.6 In diesem theoretischen Kontext wird der Tausch der Frauen zu dem Moment der Emergenz der Kultur überhaupt. Das theoretische Ideal von Lévi-Strauss ist die Phonologie. Es geht darum, zuerst ein gegebenes Feld als eine Struktur von Oppositionen und Korrelationen zu begreifen und dann den Algorithmus zu finden, der es erlaubt, alle in der Struktur gegebenen Möglichkeiten, die realisierten und die nicht realisierten, zu berechnen.7 Das Verwandtschaftssystem ist eine solche Struktur, der Frauentausch, anders gesagt, das „Verwandtschaftsatom“ (die Struktur aus den vier Elementen: der Bruder, der seine Schwester einem anderen Mann zur Frau gibt, und das Kind aus dieser Verbindung)8 ist der gesuchte Algorithmus. Und es ist nicht irgendein Algorithmus, sondern derjenige Algorithmus, der es erlaubt, die Kultur überhaupt, die Kultur im Moment ihrer Emergenz aus der Natur, zu generieren. Man sieht, warum der Tausch für L évi-Strauss’ symbolische Kulturtheorie so interessant ist: Das Prinzip des Frauentauschs gibt ein Material, an dem die Theorie sich beweisen kann, und umgekehrt gibt diese Anwendung dem Prinzip eine neue und umfassende Bedeutung. Gleichzeitig – das hat man schon oft gesagt – ist der Umgang von Lévi-Strauss mit dem Essai reduktionistisch. Das gilt auf den verschiedenen Textebenen in verschiedenem Ausmaß. In den ausführenden Partien findet man einen sehr reichen Umgang mit der Dimension der Gabe – man erinnert sich an das schöne Beispiel der beiden Männer, die sich aus ihren Karaffen den gleichen Wein gegenseitig einschenken –, aber dort, wo die Theorie systematisch wird, wird der Tausch auf eine Form von Kommunikation reduziert.9 Wichtige Aspekte 6Es
bleibt allerdings der Gegensatz zwischen dem unbewussten Wissen, das den Individuen selbst nicht zugänglich ist, und dem bewussten Wissen, in dem die Individuen selbst die Gründe für ihr Handeln finden. Das damit gestellte Problem wird Gegenstand der Überlegungen von Bourdieu sein. 7Vgl. Lévi-Strauss (1959): Anthropologie structurale, 29, 335. 8Vgl. ebd. Das Kind gehört zur Struktur, weil die Tauschzyklen sich nur über mehrere Generationen hinweg abschließen. Vgl. auch ebd., 68. 9Vgl. Lévi-Strauss (1968): Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, XLVII. Die Eigenschaft des Tauschs, Beziehungen herzustellen, wird mit der Eigenschaft der Sprache gleichgesetzt, in Korrelationen zu denken. Hier wird der Stil des Lévi-Strauss’schen
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des Essai, so zum Beispiel der Aspekt der Bindung, sind verschwunden. LéviStrauss gibt dem Tausch eine ungeheuer große Bedeutung – er wird zu dem Prinzip, das die menschliche Kultur überhaupt entstehen lässt – und gleichzeitig vereinfacht er ihn auf eine seiner Dimensionen. Wenn man fragt, wie Lacan den Gedanken des Tauschs für eine psychoanalytische Theorie der Subjektivierung verwendet, kommt man auf ein komplexeres Terrain. Explizit ist das Problem der Subjektivierung weder bei Lévi-Strauss noch bei Mauss angesprochen. Aber natürlich taucht es bei beiden Autoren auf. Mit diesen Punkten müssen wir uns zuerst beschäftigen. Als theoretische Referenz verweist Lévi-Strauss immer auf die Phonologie. Diese Nähe bezieht sich für ihn nicht nur auf die Methode, sondern auf das Objekt; das gemeinsame Objekt der Phonologie und seiner Ethnologie ist die Kommunikation. Der Frauentausch ist eine Kommunikation, die die Menschen untereinander verbindet und ohne die sie sich nicht über ihre biologische Organisation erheben könnten.10 Man sieht sofort das Problem, das sich hier stellt. Sind diese Menschen, „die sich nicht über ihre biologische Organisation erheben können“, schon zu Tauschakten fähig? Das Kommunikationsmodell verlangt, dass die Akteure des Tauschs vor dem Tausch schon existieren. Das Postulat muss noch ausgedehnt werden. Da ja nie Individuen, sondern Familien oder Clans Subjekte des Tauschs sind, wird Lévi-Strauss dazu geführt, die Verwandtschaftsbeziehungen als natürliche den Allianzbeziehungen als durch Regeln hergestellte gegenüberzustellen. Das Kommunikationsmodell bedeutet eine wesentliche Einschränkung für die von Lévi-Strauss immer wiederholte These, dass die Verwandtschafts- und Heiratsregeln nicht durch den Zustand der Gesellschaft notwendig gemacht werden, dass sie der Zustand der Gesellschaft selbst sind,11 dass der Frauentausch der Moment der Emergenz der Regel und der Kultur ist. Für Lévi-Strauss ist die Existenz von tauschfähigen Subjekten und Kollektiven der Emergenz vorgängig.12 Uns interessiert hier nicht die spekulative Frage der Entstehung der Kultur, sondern die Form, in der das Verhältnis von
Reduktionismus sehr deutlich. Vgl. Caillé (1996): Ni holisme ni individualisme méthodologiques, 217. 10Vgl. Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 564–565. 11Vgl. ebd., 562. 12Die in diesem Satz ausgedrückte These ist nur ein Effekt der Entscheidung, Tausch als einen Modus der Kommunikation aufzufassen. Wahrscheinlich ist es ein für Lévi-Strauss selbst nicht unbedingt erwünschter Effekt.
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Sprache und Subjekt gedacht ist. Die fundamentale Einsicht des gesamten Poststrukturalismus, von Foucault, Barthes, Kristeva und der gesamten Texttheorie, besonders natürlich von Lacan, betont die fundamentale Abhängigkeit des Subjekts von der Sprache, die Tatsache, dass es mit der Sprache nicht nur kommuniziert, sondern als kommunizierendes Subjekt selbst durch symbolische Strukturen konstituiert ist. Wenn wir an der aktuellen Bedeutung von Mauss interessiert sind, dann müssen wir ihn im Kontext dieser Konzeption lesen. Das theoretische Konstrukt der Emergenz der Kultur im Tausch muss die Emergenz der Tauschpartner miteinbeziehen. Der Tausch muss, so gesehen, nicht nur Beziehungen zwischen den Partnern, sondern diese selbst produzieren. Nicht nur die Allianzbeziehungen, auch die Verwandtschaftsbeziehungen, die Unterscheidung und Beziehung der Generationen, werden durch die Emergenz des Tauschs mitkonstituiert. Man muss den Tausch als eine subjektivierende Struktur sehen, in der Weise, wie für Foucault die Macht eine subjektivierende Struktur ist. In diesem Zusammenhang ist interessant, wie weit die Zuordnung von Persönlichkeitstypen zu Rollen im Tausch oder zu den Tauschsystemen überhaupt bei Lévi-Strauss oder Mauss wichtig sind. In einem noch vor den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft erschienenen Aufsatz aus der Anthropologie structurale13 stellt Lévi-Strauss dar, dass in dem oben schon erwähnten Verwandtschaftsatom von Bruder, Schwester/Mutter, Ehemann/Vater, Sohn strukturell festgelegte Beziehungen bestehen, dass etwa, wenn die Beziehung des Onkels zum Neffen distanziert und streng ist und auf Rechten bestanden wird, die Beziehung zum Vater freundschaftlich und ungezwungen ist, und umgekehrt. Interessant ist hier die Art, wie die Beziehungen typisiert werden. Einmal sind es solche, die in der Verbindlichkeit einer gewichtigen Tauschbeziehung stehen, wohingegen die anderen unbelastet sind. Offenbar produziert der Tausch Beziehungs- und Charaktertypen. Wenn man den Essai in dieser Perspektive liest, dann sieht man sofort, dass die Beschreibung eines bestimmten Typs von Persönlichkeit, in der Sprache von Bourdieu eines bestimmten Habitus, ein zentrales Thema darstellt. Die enthusiastische Wertschätzung, die Mauss der Welt des Tauschs entgegenbringt, richtet sich hauptsächlich auf den Menschentyp, den diese Welt hervorbringt und den er der Ernsthaftigkeit und dem Geiz gegenüberstellt, die er als
13L’analyse
structurale en linguistique et en anthropologie (in: Lévi-Strauss 1959: Anthropologie structurale, 37–61).
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für seine Zeitgenossen charakteristisch ansieht.14 Hierher gehören erst einmal von Mauss geschätzte Tugenden wie Seelengröße, Freigebigkeit, Autonomie.15 Aber die Beschreibung des zu den Tauschordnungen gehörenden Habitus ist viel systematischer angelegt und erschöpft sich nicht in einzelnen Eigenschaften. Wenn man die Kerngedanken des Essai zusammenfasst, dann werden gewöhnlich die drei Verpflichtungen benannt: zu geben, zu nehmen, zu erwidern. Wenn Mauss aber nachweisen will, dass das germanische Recht auf dem Tauschprinzip beruht oder dass das römische Recht noch Spuren einer solchen Herkunft zeigt, dann spricht er nicht von Geben und Nehmen, sondern von dem Fehlen der Trennung von Sachenrecht und Personenrecht, also von der innigen Verbindung der Menschen mit den Sachen. Hier handelt es sich um eine Subjektstruktur, um einen spezifischen Habitus, der sich dadurch von dem des modernen Menschen in seiner Grundstruktur unterscheidet, dass das Subjekt in seiner Identifikation mit Dingen zum Subjekt wird. Die moderne Trennung von Subjekt und Objektwelt existiert nicht. Bei diesem Thema bekommt der Essai lyrische Akzente: C’est qu’on se donne on donnant, et, si on se donne, c’est qu’on se „doit“ aux autres.16 „On mêle les âmes dans les choses; on mêle les choses dans les âmes“.17 In diesen Zusammenhang gehört der Begriff der Ehre, der in dem Essai eine so große Rolle spielt. Auf einer Ebene hat der Begriff die Funktion, den ethnologischen Dünkel zu bekämpfen, zu zeigen, dass die sogenannten Primitiven derselben Ethik folgen wie wir, so in folgenden Sätzen: „Même dans les tribus réellement primitives […], le point d’honneur est aussi chatouilleux que dans les nôtres“. Oder: „Les hommes ont su engager leur honneur et leur nom bien avant de savoir signer“.18 Die Ehre gehört in unser eigenes ethisches Vokabular. Damit zeigt sich zugleich auch, dass die Vermischung der Seelen mit den Dingen etwas ist, was uns so fern nicht liegt, weil eine solche Vermischung zum Kern jeder Auffassung der Ehre gehört.19 Jedes Ehrsystem basiert auf einem Code, der 14Vgl.
Mauss (1968): Essai sur le don, 277. ebd., 177. 16Ebd., 227. 17Ebd., 173. 18Ebd., 203, 204. 19In dem Essai wechselt Mauss zwischen zwei Haltungen. Manchmal sieht er die „Vermischung der Seelen mit den Dingen“ als etwas Überhistorisches und Vorbildliches, was keine Erklärung nötig hat; manchmal sieht er diese Vermischung aber auch als etwas Exotisches, das man umwegig erklären muss. Vielleicht braucht man Lacans Begriff der Identifikation, um zu verstehen, dass, wie Lacan sagt, die Aussagen „Ich bin ein Ara“ und „Ich bin Herr Müller“ vom selben Typ sind. 15Vgl.
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festlegt, welche sozial sichtbaren, also äußeren Dinge, Eigentum, Handlungen, Haltungen, so fest mit der Person verbunden sind, dass, wenn sie berührt werden, das Innerste der Person berührt wird.20 Ein Ehrsystem ist ein Identifikationscode. Dabei ist die Identifikation mit Dingen immer verbunden mit der Identifikation mit Kollektiven, die ihrerseits immer durch ein gemeinsames Eigentum definiert sind.21 Mauss ist offenbar der Auffassung, dass jedes Tauschsystem auch ein System der Ehre ist, und natürlich sind Ehrsysteme subjektivierende Systeme. In der Diskussion über das hau versucht Mauss die enge Verbindung der Menschen mit Dingen dazu benützen, den Imperativ des Zurückgebens zu erklären. Man muss der Kritik von Lévi-Strauss zustimmen, wenn er sagt, dass dieser Imperativ keine Erklärung braucht. Der Austausch als Ganzer ist das gegebene Phänomen, und nicht die diskreten Operationen.22 Worin Mauss aber Recht hat, und was bei Lévi-Strauss verschwindet, ist die Tatsache, dass zum Tausch die Bindung der Subjekte an ein codiertes Material, hier an eine Form des Eigentums, gehört, wenn man dem Begriff „Eigentum“ die Bedeutung gibt, die er in Tauschsystemen hat und die sich von dem modernen Begriff völlig unterscheidet. Der Algorithmus, der die Emergenz eines Tauschsystems begründet, kann nicht nur, wie es bei Lévi-Strauss aussieht, aus dem Prinzip der Reziprozität und dem Denken in Oppositionen und Korrelationen bestehen, er muss die Subjekte innerlich an eine Ordnung von Dingen und an ihre Situierung in ihr binden. Der Essai sagt auch, an welchen Typ von Eigentum die Ehre im besonderen Maße bindet. Mauss unterscheidet das Eigentum, das in der Familie vererbt wird, von dem, das in die horizontalen Tauschzyklen, wie zum Beispiel den kula, eingeht. Jenes sind die wertvollsten Dinge, die sorgfältigst aufbewahrt und in feierlicher Form übergeben werden. Sie verwandeln den, der sie erhält, ihre Gabe bedeutet etwas wie eine Initiation.23 Mauss weist mehrfach darauf hin, dass das
20Auch
wenn es die verschiedensten Codes gibt, so hat es doch einen guten Sinn, allgemein von einer Ethik der Ehre zu reden. Das sieht man besonders deutlich im Vergleich mit modernen Ethiken vom Rousseau’schen oder Kant’schen Typ, die auf Innerlichkeit und Vernunft basieren und genau nicht gegen einzelne Codes, sondern gegen die sozial festgelegte Verbindung von Innerem und Äußerem zu Felde ziehen. 21Die eigentlichen Subjekte des Tauschs sind, wie Mauss mit einem juristischen Ausdruck sagt (150), „moralische Personen“, Clans, Stämme, Familien. Immer wieder deutet sich die Auffassung an, dass jedes Eigentum Kollektiveigentum ist. 22Vgl. Lévi-Strauss (1968): Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, XXXVIII. 23Vgl. Mauss (1968): Essai sur le don, 218.
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am höchsten geschätzte Eigentum der Name und das totemistische Wappen ist.24 Offensichtlich ist es dieses Eigentum, mit dem die Ehre eines Individuums am innigsten verbunden ist. In seinem Buch über die Gabe betont Maurice Godelier unter Bezug auf Annette Weiner sehr stark die Bedeutung des Familieneigentums. In einem von ihm als typisch angesehenen Beispiel sind die wertvollen Dinge der verschiedenen Clans den Vorfahren von der Sonne bzw. dem Mond geschenkt worden. Daher steht jeder Clanangehörige der Sonne gegenüber in einer unauslöschbaren Schuld, ebenso wie er in der Schuld seiner Vorfahren steht, die diese Dinge an ihn weitergegeben haben. Was dann in den horizontalen Austausch eingeht, sind nicht diese Dinge selbst, sondern die wohltätigen Wirkungen, die diese Dinge haben.25 In dem Manuel d’ethnographie26 beschreibt Mauss die Beziehung von Vater zu Sohn als eine Beziehung der Gabe: Der Vater schuldet den Kindern, was er von seinem Vater erhalten hat. Die Bindungen, denen die Familie als Tauschposition, das heißt die Familie als Erblinie, ihren Zusammenhalt verdankt, sind offenbar Beziehungen des Tauschs.27 Der Sohn ist an das Eigentum der Familie gebunden, weil er es als Gabe vom Vater erhalten hat und es nun seinerseits seinen Kindern schuldet. Alain Caillé weist darauf hin, dass man eine Person im Sinn des Tauschs als das Erfasstwerden eines vorsozialen Individuums in einem Bündel von Rechten und Pflichten verstehen muss.28 Das Individuum wird zur Person durch die Gabe des Familieneigentums vom Vater (oder mütterlichen Onkel) an das Kind.29
24Vgl.
ebd., 206–207, 215. Godelier (1996): L’énigme de don, 167. Godelier verbindet den Tausch in der horizontalen Ebene mit dem Begriff des Symbolischen, die vertikale Linie mit dem Begriff des Imaginären. Dabei haben „imaginär“ und „symbolisch“ eine andere Bedeutung als die hier verwendete durch Lacan gebräuchlich gewordene. Aufgrund dieser Begriffsbestimmung ist es ihm nicht möglich, auch die vertikale Linie als eine Tauschbeziehung zu sehen. 26Mauss (1947): Manuel d’ethnographie, 130. 27Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Beziehungen in den Familien Tauschbeziehungen sind. Die erwähnten Analysen von Lévi-Strauss über die Beziehungen in dem Verwandtschaftsatom machen die Verhältnisse deutlich. Die Tauschbeziehungen produzieren das Gerüst, das den Zusammenhalt der Familie als eine Position im Tausch garantiert. Um dieses Gerüst herum – und immer durch dieses überformt – gibt es eine Fülle von affektiven Beziehungen. 28Vgl. Caillé (1991): Nature du don archaïque, 70. 29Das sind sehr vereinfachte Aussagen, in der zum Beispiel die Unterschiede von Patrilinearität und Matrilinearität nicht berücksichtigt werden. 25Vgl.
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Wenn man die Entstehung von Tauschsystemen als den Moment des Übergangs von der Natur zur Kultur ansieht, dann kann man den Bereich der Dinge nicht als etwas einfach Gegebenes hinnehmen, man muss die Dinge als im Tausch entstanden verstehen. Dass Gegenstände als Objekte des Tauschs einen ganz besonderen Charakter haben, betont Mauss immer wieder. Lévi-Strauss beschreibt an einigen Stellen auch anknüpfend an aktuelle Erlebnisweisen den Unterschied zwischen Bedürfnisobjekten und Tauschobjekten.30 Es ist für ihn klar, dass der Tausch die Dinge verwandelt. An einigen Stellen führt er zu der Auffassung hin, dass für den Menschen, im Unterschied zu den Tieren, die Dinge ihrem Wesen nach Beziehungsobjekte sind.31 Ihr Beziehungswert geht ihrem Bedürfniswert voraus. Dieser Gesichtspunkt wird für Lacan sehr wichtig werden. So wird alles, was das kleine Kind von der Mutter erhält, als Zeichen der Liebe gedeutet, und diese Eigenschaft überlagert und verfremdet die Dimension der Bedürfnisbefriedigung. Es liegt nahe, die für die menschliche Welt charakteristische „Verdinglichung der Dinge“, ihre Lösung aus dem Bereich der Beweglichkeit der Bedürfnisse und aus dem Bereich der Instinkte anstatt, wie es häufig geschieht, auf die Dimension des Werkzeughaften auf die des Tauschs zu beziehen. Danach werden Dinge als Werte im Tausch konstituiert; was aus dem Bereich der Bedürfnisse oder der Instrumentalität kommt, heftet sich als Eigenschaften an die durch den Tausch dinghaft gewordenen Dinge. Nun gehören aber zu einem Tauschsystem ganz bestimmte Bestimmungen von Dingwerten. Ein Tauschsystem macht Wertaussagen, die als wahr gelten. Und es ordnet bestimmten Menschen bestimmte Dinge als ihr Eigentum zu. Jedes Tauschsystem etabliert eine für es spezifische Eigentumsordnung. Es macht die Menschen gleich, indem sie alle Eigentümer sind und Rechte haben. Und es macht sie notwendig ungleich, da jeder etwas anderes besitzt als alle anderen. Diese Ungleichheit kann sehr massiv sein.32 Dabei ist immer vorausgesetzt, dass der Code in sich
30Vgl.
évi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 67–68. L ebd., 100, 109. 32Damit entstehen Legitimationsprobleme, die in einer ganz bestimmten Weise gestellt werden. Über den Stil, in dem Tauschsysteme mit Legitimationsproblemen umgehen, vgl. Waltz (1993): Ordnung der Namen, 112 ff. Ein von Godelier wiedergegebenes Gespräch kann die Dimension andeuten, in der die Problematik behandelt wird. Der Ethnologe fragt einen Ritualmeister der Baruya, warum die Kavalié (ein von den Baruya unterworfener Stamm) kein kwaimatnié besitzen würden. Dieser entgegnet in einem heftigen und abschätzigen Ton: „Aber das sind Leute, die aus den Exkrementen der Casoar entstanden sind, Leute aus dem Wald, denen die Sonne nichts gegeben hat“ (Godelier 1996: L’énigme de don, 169). 31Vgl.
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einheitlich ist. Die Werte in den verschiedenen Gegenstandsbereichen müssen „konvertierbar“ sein, sodass eine in sich konsistente Ordnung der Werte entsteht. Die Frage ist nun: Was ist das Prinzip dieser Vereinheitlichung? Ist der Code der Tauschwerte ein arbiträrer Code, wie wir es von den natürlichen Sprachen her kennen? Oder hat der Code eine Verankerung in der außersprachlichen Wirklichkeit? Es wird immer wieder betont, dass Tauschobjekte sehr oft Objekte sind, die keine Beziehung zu Lebensbedürfnissen haben. Der Zusammenhang, in dem diese Argumente angeführt werden, ist regelmäßig der Nachweis, dass der symbolische Tausch etwas grundsätzlich anderes ist als der Tauschhandel. Dieser These kann man natürlich nur zustimmen. Aber da ja, wie Mauss immer wieder betont, der Tausch ein „système des prestations totales“33 ist, allen Beziehungen der Menschen untereinander und der Menschen zu den Dingen ihre Form gibt, können auch die Dinge, mit denen die Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen, nur Tauschobjekte sein.34 In Tauschsystemen ist die Ökonomie dem Tausch untergeordnet. Dem Wort „Unterordnung“ kann man zwei verschiedene Bedeutungen geben. Man kann davon ausgehen, dass es zwei getrennte Bereiche gibt, einen Bereich der Bedürfnisse, des Nützlichen,35 und einen Bereich der Beziehungen. Das ist sehr schematisiert die Position von Georges Bataille. Von ihr aus privilegiert man im Tausch die Positionen, wo er ganz und gar aller Nützlichkeit widerspricht, also die spektakulären Verausgabungen im Potlatsch. Man kann dem Begriff der Unterordnung aber eine ganz andere Bedeutung geben. In diesem Sinn verwendet der Tausch den Bereich der Bedürfnisse als Material zur Erzeugung der Signifikanten, als die die Tauschobjekte fungieren; ebenso wie das Lautsystem einer Sprache die physikalischen, von der menschlichen Stimme produzierbaren Töne als Material für die Bildung der bedeutungsartikulierenden Phoneme verwendet. Dieses zweite Verständnis trifft offenbar die Verhältnisse in den von Mauss beschriebenen Tauschsystemen. Die Bataille’sche
33Mauss
(1968): Essai sur le don, 264. man Tauschobjekte auch genießen kann, schafft eine ganz besondere Dimension des Genusses. Lévi-Strauss, der dieser Dimension gegenüber sehr aufmerksam ist, stellt diesen Genuss gemäß der Logik der Struktur in die Nähe des Inzests. Vgl. Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 67, 68, 523. 35In Wirklichkeit fällt der Bereich der Bedürfnisse, wenn es einen solchen Bereich überhaupt als Bereich gibt, mit dem des Nützlichen nicht zusammen. Man kennt die Fabel von der Grille und der Ameise. Die Grille tut im Sommer, wozu sie Lust hat, sie folgt ihren Bedürfnissen. Die Ameise tut das Nützliche; sie unterdrückt ihre Bedürfnisse und sammelt Reserven für den Winter an. Aber wenn es auf den Gegensatz zum Tausch ankommt, kann man provisorisch beide Bereiche zusammennehmen. 34Dass
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Position hat eine große Bedeutung als eine Position des modernen Denkens. Was die archaischen Systeme angeht, beschreibt sie nur einen Ausnahmefall; und dabei macht sie einen Gegensatz auf, den es dort nicht gibt. Tauschsysteme verwenden die Ökonomie als das Material, in dem die Signifikanten des Tauschs artikuliert werden – dieser Zug gehört zu dem die archaischen Tauschsysteme konstituierenden Algorithmus. Eine schon erwähnte, von Godelier hervorgehobene Unterscheidung ist hier noch wesentlich. Godelier weist darauf hin, dass die Güter, die in der horizontalen Linie, und die, die in der vertikalen Linie zirkulieren, von verschiedener Qualität sind. In der vertikalen Linie werden die Dinge weitergegeben, die „wohltätige Wirkungen“ haben; was dann in den horizontalen Austausch eingeht, sind nicht diese Dinge selbst, sondern die Wirkungen, die diese Dinge haben.36 In einer modernen Sprache würde man die Unterscheidung von Produktionsmitteln und Gebrauchsgegenständen einführen. Wenn man davon ausgeht, dass in Tauschsystemen der ganze Kosmos in Begriffen des Tauschs gesehen wird, dann handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Dingen, die in sich die Macht haben, Tauschobjekte zu produzieren, und solchen, die genossen oder verbraucht werden. Die ersten Objekte sind die eigentlich interessanten; sie geben dem Eigentümer Gewicht in der Ordnung des Tauschs; sie sind der Kern der Identifikationen in Tauschsystemen; ihre Gabe bedeutet, wie Mauss sagt, etwas wie eine Initiation.37 Unzweifelhaft ist der Tausch ein symbolisches System, Gegenstände des Tauschs sind nicht Dinge in sich, sondern sie bedeuten in einem System von Oppositionen und Korrelationen. Nun steht in dem ganzen aktuellen Denken, das Kultur als ein symbolisches System versteht, immer in verschiedener Weise die Sprache als Modell im Hintergrund. Man versucht immer, den Tausch als etwas von der Art der Sprache zu verstehen, und immer taucht das Problem auf, dass Sprachen artikulieren, aber in sich nicht binden; nun ist es aber gerade ein Wesensmerkmal des Tauschs, dass er die Subjekte an die Signifikanten und dadurch aneinander bindet. Lévi-Strauss, für den Tausch Kommunikation ist, versucht das Problem durch eine spezifische Auffassung der sprachlichen Kommunikation zu lösen. Er weist mit Ernst Cassirer darauf hin, dass die Sprache nicht nur eine Sammlung von Etiketten ist, die sich an die Dinge heften, sondern dass sie eine vermittelnde Rolle in der Formierung der Objekte spielt.
36Vgl. 37Vgl.
Godelier (1996): L’énigme de don, 167. Mauss (1968): Essai sur le don, 218.
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Damit ist die Sprache nicht nur Zeichen, sondern auch Wert.38 Indem man einem anderen einen Wert vermittelt, einen Sinn enthüllt, bindet man den anderen. Man gibt etwas von sich und gewinnt Macht über den anderen.39 Diese Argumentation, die im Übrigen im Werk von Lévi-Strauss einen geringen Stellenwert hat, ist offensichtlich zirkulär. Der Tausch ist eine Sprache, aber jede Sprache ist eigentlich ein Tausch, und daher hat sie ihre Kraft, zu binden. Im Ganzen seines Werks orientiert Lévi-Strauss sich aber an der Phonologie, wo es um das reine Prinzip der Artikulation eines Materials in Oppositionen und Korrelationen geht.40 Für den frühen Lacan sind die Gaben Symbole, und Symbol heißt Pakt. Daher sind die Gaben Signifikanten des Pakts, den sie als Signifikat konstituieren.41 Auch diese Interpretation wird dem Tausch offensichtlich nicht gerecht. In dem Zusammenhang, auf den sich Lacan bezieht, ist das Symbol Zeichen einer Verbindung, die schon besteht. Die eigentliche Macht des Tauschs besteht aber darin, Verbindungen zu schaffen. Angesichts dieser Schwierigkeiten würde ich dafür plädieren, den Tausch nicht als Unterkategorie der Sprache, sondern als ein symbolisches System eigener Art anzusehen, als ein symbolisches System mit der besonderen Eigenschaft, zu binden. Das ist nun genau die Problematik, um die es bei Lacans Beschäftigung mit der Gabe geht. Wenn Lacan vom Symbolischen und von der symbolischen Ordnung spricht, dann bezieht er sich ständig auf Lévi-Strauss, die Ordnung der Allianzen, und auch sonst ist in vielen wesentlichen Punkten die Nähe des Symbolischen zur Gabe deutlich. Aber Alain Caillé weist mit Recht darauf hin, dass bei genauerem Hinschauen die Beziehung alles andere als klar ist. Ich glaube, dass Lacan nicht einfach einige Gedanken des Essai übernommen hat, sondern dass das Prinzip des symbolischen Tauschs, speziell der Aspekt der Bindung, sich mit einem zentralen Problem von Lacans Denken in einer komplexen Weise verknüpft.
38Vgl.
évi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 566. L ebd., 569. 40Wie wenig Lévi-Strauss an der Dimension der Bindung im Tausch interessiert ist, sieht man an seiner Vorstellung, dass auch in den gegenwärtigen Verhältnissen die Ehe noch nach dem Schema des Frauentauschs zu verstehen ist (Lévi-Strauss 1967: Les structures élémentaires de la parenté, 73, 135, 151, 547; ders. 1977: L’identité, 104), wo von einer Bindung zwischen zwei tauschenden Familien jedenfalls nicht mehr zu reden ist. 41Vgl. Lacan (1966): Écrits, 272. Hier bezieht sich Lacan auf eine antike Bedeutung des Wortes „Symbol“. Ein Gast reichte seinem Gastgeber zum Abschied eine zerbrochene Tontafel oder einen Tonring. Sie dienten als Erkennungszeichen bei einem möglichen Gegenbesuch eines Mitglieds aus dem Gastgeberhaushalt bei dem ehemaligen Gast. 39Vgl.
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Diese Verknüpfung möchte ich im Folgenden darstellen. Dafür ist es nötig, einige wesentliche Linien in Erinnerung zu rufen. Dabei ist es gerade für den Umgang mit dem symbolischen Tausch wichtig zu berücksichtigen, dass Lacans Denken zwar eine Tendenz zum System hat, aber ein System ist, das sich ständig umstrukturiert.42 Man kann das Theoriegebäude des frühen Lacan – ebenso wie das von Lévi-Strauss – als einen systematischen, überhistorischen Konstruktivismus beschreiben. Aber wo Lévi-Strauss nur den einen Begriff der Kommunikation hat, unterscheidet Lacan zwei Modi – man kann auch sagen: zwei Medien – der Weltartikulation und der Intersubjektivität, das Medium des Bildhaften und das des Sprachlichen bzw. Digitalen: das Imaginäre und das Symbolische.43 Am Anfang von Lacans Werk steht die Theorie des Spiegelstadiums, die Beschäftigung mit dem Imaginären und der Psychose. Das Imaginäre ist eine Sphäre der Täuschung und der zerstörerischen Aggressivität. Es ist auch die Sphäre, in der das Ich entsteht. Das Subjekt identifiziert sich mit dem Bild der Vollkommenheit, das es im Spiegelbild oder im Bild eines anderen Menschen zu erkennen glaubt. Diese Täuschung wird bezahlt mit der Drohung, die die Rückseite des Bildes der Vollkommenheit, das Bild des zerstückelten Körpers, über die Existenz des Subjekts legt, bezahlt auch mit einer fundamentalen Selbstentfremdung. Die Beziehung zu den anderen ist gekennzeichnet durch den Wechsel zwischen absoluter Bewunderung und absolutem Hass: Das Subjekt bewundert in dem anderen, was es sein möchte, und hasst im nächsten Zug in derselben Person denjenigen, der besitzt, was es bewundert. In den ersten Seminaren wird das Symbolische regelrecht zelebriert als die Befreiung aus den Fesseln des Imaginären. Hier entsteht ein Anderer,44 der wirklich ein Anderer ist. Der andere der imaginären Beziehung wird vom Subjekt immer als vorgefertigtes Bild entworfen und hat diesem Bild zu entsprechen. Der symbolische Andere wird angesprochen als ein Subjekt, dessen Antwort offen ist. Lacans Lieblingssatz in diesem Zusammenhang, „Du bist meine Frau!“, bezeichnet nicht – wie zum Beispiel „Du bist mein Ein und Alles!“ – eine Spiegelbeziehung, in die das Gegenüber unvermeidlich in der einen oder anderen Weise einsteigt; in ihm wird eine Erklärung abgegeben, die von dem Gegenüber
42Zu
den Transformationen des Begriffs des Symbolischen im Werk von Lacan vgl. Abschn. Ethik der Welt – Ethik des Realen. 43Auf die Dimension des Realen kann ich hier nicht eingehen. 44Lacan unterscheidet durch Großschreibung den symbolischen Anderen von dem anderen der imaginären Beziehung.
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die Entscheidung verlangt, ob es eine Identifikation übernehmen will oder nicht. Das heißt aber auch, dass sie ihm die Entscheidung freigibt. Genau das meint: jemanden als Subjekt ansprechen, das ist es, was Lacan „die volle Rede“ nennt. Wenn man den Tausch und das Symbolische als Beziehungsformen ansieht, dann fällt sofort die Nähe ins Auge. Zuerst einmal die Tatsache, dass es Beziehungsformen sind, die von den Autoren hoch geschätzt und schlechten Alternativen entgegengestellt werden. Aber der zentrale Punkt ist die Verknüpfung von Bindung und Freiheit. Es sind Beziehungen zwischen Personen, die sich jeweils zu ihrer Bindung und zu der Identifikation durch die Bindung entschließen. Die volle Rede bindet zwar, aber es liegt in der Entscheidung des Empfangenden, ob und in welchem Geist er diese Bindung anerkennt. Diese paradox anmutende Verbindung hebt auch Mauss am Tausch hervor,45 sie ist eine der Eigenschaften, die seine Begeisterung für den Tausch motivieren. In der gleichen Weise ist eine symbolische Beziehung gleichzeitig eine gebundene und freie. Die Psychologie kennt viele Arten von Bindungen: etwa durch Gewalt und Strafangst motivierte oder durch Liebe und Angst vor dem Liebesverlust. Das sind unfreie Bindungen, und wenn man in solchen Zusammenhängen von Freiheit und Bindung redet, dann versteht man Freiheit konsequenterweise als Freiheit gegenüber Bindungen. Lacans Symbolischem und dem Tausch ist gemeinsam, dass sie Freiheit in der Bindung kennen. Und wie die Gabe nicht nur den bindet, der sie empfängt, sondern auch den, der sie gibt, so binden auch Lacans performative Sätze, wenn sie angenommen werden, den Adressaten und den, der sie ausspricht. Das ist der Inhalt der Lacan’schen Formel, dass in der menschlichen Kommunikation der Sender vom Empfänger seine Botschaft in der umgekehrten Form zurückerhält. Wenn sich das Symbolische und der Tausch so nahe sind, dann würde man erwarten, dass Lacan diese Nähe auch explizit formuliert. Das tut er aber nicht.
45Zum
Beispiel Mauss (1968): Essai sur le don, 177. Es liegt eine Paradoxie in dieser gebundenen Freiheit. Man kann sich dem Tausch entziehen, aber um den Preis des „verfaulten Gesichts“ – das ist der Name für den Häuptling, der kein Potlatsch gibt (Mauss 1968: Essai sur le don, 206). Eine Paradoxie dieses Typs ist auch bei Lacan charakteristisch für die Identifikation im Symbolischen. Das Bild, das er wählt, ist die Alternative: „Geld oder Leben!“ Entscheidet man sich für das Geld, verliert man das Leben. Wählt man das Leben, so hat man ein Leben ohne Geld (Lacan 1973: Le séminaire livre XI [1964], 193). Übertragen auf den Tausch heißt das: Entscheidet man sich für den Genuss des Lebens („das Geld“), der durch die Anstrengungen des Potlatsch gestört würde, so verliert man die soziale Existenz („das Leben“). Entscheidet man sich für den Tausch, so verliert man den Genuss des Lebens.
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Auf die Frage, woher die bindende Kraft des vollen Redens kommt, erhält man keine Antwort. Wenn man vom Tausch her denkt, dann ist klar, dass „Du bist meine Frau!“ ein Satz ist, der bindende Kraft aus der vorgängigen Bindung der Subjekte an das Tauschsystem gewinnt.46 Solche Überlegungen tauchen bei Lacan nicht auf.47 Es genügt ihm, auf den ja sehr fühlbaren Unterschied zwischen solchen bindenden Sätzen und dem üblichen, dem leeren Reden hinzuweisen. Lacans Beschäftigung mit der Psychose leitet eine gegenüber den ersten zwei Seminaren weitergehende Ausarbeitung des Symbolischen ein. Das Symbolische wird jetzt nicht mehr vorwiegend von dem alltäglichen Imaginären aus als ein Medium der Intersubjektivität gesehen, als dasjenige, das ein „volles“, das heißt ein bindendes Sprechen ermöglicht, sondern als der Ausgang aus dem Wahnsinn, als das Prinzip, das für das Subjekt die Welt als Welt herstellt. Lacan betrachtet jetzt also das Symbolische genau wie Lévi-Strauss den Frauentausch als das Prinzip der Weltkonstitution; hier geht es um die Innenseite der kulturellen Wirklichkeit, dort um die Außenseite; dabei ist, entsprechend der Logik des hier herrschenden theoretischen Paradigmas, für Lacan „das Individuelle und das Kollektive exakt dasselbe“.48 Der „große Andere“ ist jetzt nicht mehr das Gegenüber der bindenden Begegnung, sondern die Sprache oder die symbolische Ordnung als Welt konstituierende. Durch die Einführung der Dimension der Weltkonstitution wird das Feld der Intersubjektivität völlig verwandelt. Die Aufmerksamkeit richtet sich jetzt auf die Beziehung zwischen dem Subjekt und der Instanz, die jeweils die artikulierende Funktion der Sprache, das symbolische Gesetz, trägt. Diese Figur des „großen Anderen“ ist zuerst die Mutter, im Durchgang durch den Ödipuskomplex tritt der Vater an ihre Stelle. Die Wahrheit des sozialen Bandes liegt jetzt primär nicht mehr in einem innerweltlichen intersubjektiven Verhältnis, sondern in dem Verhältnis des Subjekts zur Sprache als konstituierender Macht. Damit verbindet sich eine Theorie der Identifikation. Das Kind, das auf die Liebe der Mutter angewiesen ist, identifiziert sich mit dem, was es für das Objekt des Begehrens
46Auch
der zweite von Lacans Lieblingssätzen in diesem Zusammenhang – „Du bist der, der mir folgen wird!“ – verweist auf ein archaisches Meister-Schüler-Verhältnis, das man sicher im Kontext einer spezifischen Struktur des symbolischen Tauschs verstehen muss. 47Eine wenig überzeugende Ableitung der Bindungskraft des Symbolischen als Pakt haben wir oben kennengelernt. 48Lacan (1978): Le séminaire livre II [1954–1955], 43.
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der Mutter hält; dieses imaginäre49 Objekt nennt Lacan Phallus. Dann entdeckt das Kind, dass das, was die Mutter tatsächlich begehrt, das ist, was in der wirklichen Welt begehrenswert ist und was der Vater besitzt: der symbolische Phallus, der in der Ordnung des Habens, der Positionen und des Eigentums in der Sphäre des symbolischen Tauschs liegt. Die Leistung des Ödipuskomplexes besteht darin, dass der Vater die Zweierbeziehung zwischen der Mutter und dem Sohn auflöst, dem Kind die Fantasie raubt, das Objekt des Begehrens der Mutter zu sein – das ist in Lacans Begrifflichkeit die Kastration –, und ihm dafür etwas schenkt: das Versprechen, so zu werden wie er, das Versprechen auf einen Platz in der symbolischen Ordnung. Damit ist nun aber nicht etwa der Vater der große Andere, der die Werte, die Objekte des Begehrens festlegt, der Vater verweist auf den großen Anderen, dem er selbst unterworfen ist; diesen Anderen des Anderen nennt Lacan Name des Vaters, er ist der Signifikant des Gesetzes. In unserem Kontext wichtig ist der Übergang von einem Sein zu einem Haben. Sein heißt hier: ganz und gar das sein, was man sein möchte (das Objekt des Begehrens der Mutter). Der Durchgang durch den Ödipus, der Schritt, in dem die Person als soziales Wesen der Möglichkeit nach entsteht, zwingt das Subjekt, dieses Sein – das immer ein täuschendes, ein illusionäres Sein ist – aufzugeben; dafür bekommt es etwas Begrenztes, aber Wirkliches: das Versprechen auf ein Haben, eine Position in einer Eigentumsordnung, die man sich nach Lacan als die Ordnung der Allianzen vorzustellen hat. Person werden und Eigentümer in einer Tauschordnung werden ist für Lacan ein und dasselbe. Die Frage ist nun aber, von welchem Typ diese Ordnung ist, von welchem Gesetz sie hergestellt wird. Die Tauschordnungen, die Mauss beschreibt, schaffen eine Struktur und binden die Subjekte gleichzeitig an diese Struktur. Lévi-Strauss hat das Tauschgesetz auf ein reines Strukturgesetz reduziert. Wenn Lacan das Symbolische als eine Ordnung und nicht als eine Beziehungsform versteht, dann folgt er Lévi-Strauss. Das Symbolische ist dann nichts anderes als das Digitale der (in Lacans Denken wichtigen) Rechenmaschinen, die reine Opposition von markiert und unmarkiert. In dem Anhang zu dem Aufsatz La lettre volée50 bemüht sich Lacan um den Nachweis, dass aus der Aneinanderreihung von beliebigen Abfolgen von Plus und Minus eine Ordnung entstehen kann. Aus der Kontingenz entsteht von selbst Ordnung – es ist die Idee, die man später
49Imaginär
hat hier natürlich den Lacan’schen Sinn, es ist aber auch wichtig, dass dieser Phallus einen Scheincharakter hat, nur in der Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind existiert. 50Vgl. Lacan (1966): Écrits, 41–61.
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auf die Formel order from noise gebracht hat und die auch eine der Grundideen der Luhmann’schen Systemtheorie ist. Wenn man aber das Gesetz des Tauschs von seiner Bindungskraft, seiner ethischen Dimension entleert, dann hat man zwei Probleme. Man muss zunächst erklären, woher das Gesetz als äußeres, im Sozialen wirkendes Gesetz seine Macht schöpft. Das ist eine Frage, die Lacan nicht interessiert. Aber ein für ihn zentrales Problem besteht darin, wie das Subjekt an seine Position in dem symbolischen System gebunden wird. Das symbolische Gesetz ist ja für Lacan wie für Lévi-Strauss das generative Prinzip der sozialen Ordnung und die unbewusste Grammatik, die das Subjekt in sich trägt. Das ödipale Zur-Person-Werden funktioniert dadurch, dass das Subjekt sich an einen Punkt dieser Ordnung bindet – im Kern ist das der Eigenname – und dass es das Gesetz dieser Ordnung in sich aufnimmt. Es muss sich binden. An dieser Stelle wird für Lacan zum Problem, dass er die Kraft, zu binden, aus dem Gesetz herausgenommen hat. Auffällig wird dieses Problem bei der Beschäftigung mit der Psychose. Der Psychotiker ist für Lacan ein Mensch, in dem es ununterbrochen spricht, weil er in der Sprache nicht situiert ist. Die Sprache als reines System von Differenzen redet ohne Ende, aber sie sagt nichts. Sie schafft keine Werte, keine Objekte des Begehrens, und sie sagt dem Subjekt nicht, wer es ist, und sie bindet es nicht an eine Position. Das Psychosen-Seminar kreist um die Frage, was dem Psychotiker fehlt, anders gesagt, welche Internalisierungen der Mensch braucht, um normal zu sein. Die Interpretation des Materials – es handelt sich um die Memoiren des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber, denen Sigmund Freud eine große Arbeit gewidmet hat – kann nur eine Leerstelle ausarbeiten. Für Lacan ist die Schlüsselfigur der Vater, er füllt diese Leerstelle aus. Im Ödipus muss der Vater das Subjekt in das Gesetz einführen. Das kann er nur, wenn er wieder dem Gesetz unterworfen ist und auf es verweist. Den Signifikanten des Gesetzes situiert Lacan wieder in der väterlichen Dimension und nennt ihn den Namen des Vaters. Diese Lösung funktioniert, soweit Lacan die Beziehung zwischen Vater und Sohn als durch die Gabe des Familieneigentums hergestellte versteht, wie wir es oben für den Tausch dargestellt haben. Tatsächlich kann man die Darstellung des Ödipus in den Seminaren IV und V51 an vielen Stellen in dieser Weise lesen. In der Beschreibung der Endphase des Ödipus, der Verwandlung des Kindes52
51Vgl.
Lacan (1994): Le séminaire livre IV [1956–1957]; Lacan (1998): Le séminaire livre V [1957–1958]. 52Es entspricht auch der Logik der Tauschsysteme, dass hier immer von männlichen Kindern die Rede ist.
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in einen Anwärter auf den legitimen Besitz des symbolischen Phallus, das heißt auf eine Position in der symbolischen Ordnung, ist der Begriff der Gabe in den beiden Seminaren dauernd präsent.53 In der Logik des Mauss’schen Denkens wird das Subjekt durch eine Gabe, die es nie erwidern kann, also durch eine Schuld, in die Ordnung des Tauschs eingeführt. Bei Lacan wird der mit dem Konzept der Kastration verbundene Begriff der dette symbolique54, der symbolischen Schuld, als ein theoretischer Grundbegriff behandelt. Aber eigentlich verlangt diese Konstruktion, dass das Gesetz der symbolischen Ordnung als ein Tauschgesetz im Mauss’schen, im bindenden Sinn verstanden würde. Das tut Lacan nie explizit. Wenige Jahre später wird Lacan dieses einfache Verständnis des Namens des Vaters als Signifikanten des symbolischen Gesetzes und damit das dem Tausch nahestehende Konzept des Symbolischen aufgeben, ganz deutlich ab dem Seminar VII über die Ethik der Psychoanalyse.55 Dieser Überblick zeigt uns den Verlauf eines Scheiterns. Am Anfang steht die Begeisterung für eine Beziehungsform, die in dem Subjekt selbst und in dem begegnenden Partner Bindung und Freiheit vereinigt. Hier ist man sehr nahe an der Beziehung, die Mauss als eine Beziehung der Gabe mit einem etwas anders gelagerten, aber ebenso intensiven Enthusiasmus beschreibt. Der Versuch, auf dieser Grundlage den Ödipus und damit die Konstitution der Welt im Subjekt zu beschreiben, gelingt nicht mehr. Lacan wird auf einen anderen Weg verwiesen. Ein Grund liegt auf der Hand. Es war möglich und überzeugend, das volle, das verbindliche Sprechen als ein Ideal der Intersubjektivität zu beschreiben. Es ist aber unmöglich, heute das Gesetz des Tauschs als Grundgesetz der sozialen Welt darzustellen. Das Überraschende ist nicht das Scheitern, das Überraschende ist der anachronistisch wirkende Versuch. Wenn Lévi-Strauss den Frauentausch als heute noch geltendes Prinzip darstellt, so sind das Bemerkungen im Werk eines
53Die
beiden Seminare, die den Ödipus mit einer Vielzahl von Verweisen auf die Gabe diskutieren, sind Lacan (1994): Le séminaire livre IV [1956–1957] (La relation d’objet; die besonders einschlägigen Stellen sind S. 59, 61, 82–84, 101, 102, 123, 398–389) und Lacan (1998): Le séminaire livre V [1959–1960] (Les formations de l’inconscient; besonders S. 179, 205, 273, 284, 489). 54Die dette symbolique ist ein komplexer Begriff: er bezeichnet 1) eine Art „Urschuld“, die mit dem offenbar als Gabe verstandenen Zugang in die symbolische Ordnung entstanden ist, 2) die Schuld, die mit der konkreten Gabe einer Position verbunden ist, 3) die Verpflichtung zur Wiedergutmachung, die aus einer Übertretung des Gesetzes herrührt. Die wichtigen Stellen sind: Lacan (1966): Écrits, 37, 278, 433, 556; Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], 368, 369. 55Vgl. Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960].
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Wissenschaftlers, dessen eigentlicher Gegenstand die archaischen Gesellschaften sind. Eine psychoanalytische Theorie muss sich in der Gegenwart bewähren; ihre Anschauungen von der Gegenwart gehören zum Kern der Theorie. Wie kommt es, dass eine Theorie, die behauptet, dass man die symbolische Ordnung der Gegenwart in Kategorien des Tauschs beschreiben muss, einen solchen Erfolg hat? Und das in einem Kontext der wissenschaftlichen und kulturellen Avantgarde. In dem Seminar VIII56 widmet Lacan einige Sitzungen der Interpretation der Trilogie der Coûfontaines von Paul Claudel. Diese Interpretation ist gleichzeitig eine implizite Verabschiedung seiner alten Idee des Symbolischen und eine Situierung der Gegenwart in einer Geschichte des symbolischen Tauschs. Die Dramen beschreiben die Geschichte einer adligen und fromm-katholischen Familie in der Zeit der Verfolgung von Adel und Kirche während der Revolution und später in der Restauration. Lacan stellt die Protagonistin Sygne de Coûfontaine dem Ödipus auf Kolonos und der sophokleischen Antigone gegenüber, über die er in dem vorhergehenden Seminar geredet hatte. Die antike Tragödie situiert ihre Helden mit ihrer Geburt in einen Schicksalszusammenhang, der durch den von den Verwandtschaftsstrukturen vorgegebenen Austausch vorgeschrieben ist; damit „macht sie aus dem Eintritt in die Welt den Eintritt in das unerbittliche Spiel der Schuld“.57 Die Tragödie der Sygne de Coûfontaine liegt nun gerade darin, dass auch noch dieses „unerbittliche Spiel“, aus dem die Tragödie der Antike entstanden war, ihr genommen ist. Die Verwandtschaftsstrukturen, die solche Spiele erzeugen, verbinden „in einem einzigen Bündel“ die verwandtschaftlichen Bindungen mit einem Pakt mit der Erde.58 Die zum Tausch gehörende Bindung des Subjekts an das Eigentum erscheint hier im Pathos des Verlusts. Dieser Verlust ist nun für Lacan keineswegs auf das Ende des Ancien Régime zu datieren, er beschreibt die Situation, in der wir stehen, die Menschen unserer Zeit. Das Thema, unter dem diese Interpretation steht, ist: „Der Ödipusmythos heute“. Die feudale Struktur ist die poetische Transkription heutiger Verhältnisse. Wir sind gerade dabei, eine symbolische Ordnung zu verlassen, die als ein Tausch strukturiert ist. Anders gesagt: Die symbolische Ordnung der
56Vgl.
Lacan (2001): Le séminaire livre VIII [1960–1961], 315 ff. 358. 58Ebd., 323. 57Ebd.,
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Moderne war eine Tauschordnung. Kann man einer solchen Aussage einen Sinn abgewinnen? Mit dieser Frage möchte ich jetzt zum Essai zurückkehren. Der Begriff der Gabe ist hier in zwei Richtungen entwickelt. Einerseits bezeichnet er den „Felsen“, eine anthropologische Universalie, in diesem Kontext wird er wesentlich durch die drei Verpflichtungen beschrieben. Andererseits bezeichnet er die gemeinsame Grundstruktur von sozialen Ordnungen, die über lange Zeit in großen Bereichen der Menschheit bestimmend waren und dann durch Verhältnisse abgelöst wurden, die durch Warentausch, individuelle Kontrakte, die Trennung von Personen- und Sachenrecht gekennzeichnet sind.59 Hier ist der Tausch die Form der sozialen Beziehung, die die ganze Ordnung trägt und der in einer in sich konsistenten Weise organisiert ist.60 Dinge, die getauscht werden, haben immer einen Eigentumswert.61 Tauschsysteme sind Eigentumssysteme, wobei mit Eigentum ein Bündel von Ansprüchen/Rechten und Schulden/Verpflichtungen bezeichnet ist. Sie verbinden Personen nach festen Regeln untereinander, indem sie nach ebenso festen Regeln die Personen mit ihrem Eigentum verbinden, sodass Mauss sagen kann, dass die Personen ebenso von ihrem Eigentum besessen werden, wie sie es besitzen.62 Ein Effekt der Tauschsysteme besteht darin, dass die ganze Wirklichkeit immer jemandem gehört, oder anders ausgedrückt, dass jeder an eine Stelle in der Welt gehört. Dabei darf man nicht vergessen, dass Eigentum ein Signifikant ist. Die Eigentumsordnung ist eine symbolische Ordnung. Die Ökonomie ist in dieser Ordnung präsent, aber in der Form, dass sie das Material liefert, das die Symbolisierung trägt. Das Eigentum zirkuliert sowohl horizontal, wie Mauss es für kula und Potlatsch beschreibt, wie auch vertikal, in einer Sippe von Generation zu Generation. Das vorsoziale Individuum wird zur Person im System des Tauschs,
59Vgl.
Mauss (1968): Essai sur le don, 148, 151, 228, 264. Vgl. auch Caillé (1991): Nature du don archaïque, 69. 60Vgl. Caillé (1991): Nature du don archaïque, 76. 61Caillé betont den kosmischen Charakter des archaischen Tauschs. Nicht nur die Beziehungen der Menschen untereinander, auch die zwischen Tieren, Pflanzen, Gestirnen, Orten und Menschen sind in der Form der Gabe gefasst (Caillé 1991: Nature du don archaïque). Hinzufügen ist, dass damit der Kosmos sich als Eigentum gliedert. Wobei man genauso gut sagen kann, dass alles, was die Menschen besitzen, eigentlich, wie Godelier es formuliert, Eigentum der Götter ist (vgl. Godelier 1996: L’énigme de don, 45). 62Vgl. Mauss 1968: Essai sur le don, 206.
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indem es mit der Gabe des Eigentums die Schuld gegenüber der folgenden Generation auf sich nimmt und in das horizontale Netz der Rechte und Verpflichtungen einsteigt. Das Familieneigentum ist im Wesentlichen Eigentum von der besonderen Art, dass es selbst Eigentum herstellt, im Gegensatz zu Tauschdingen, die konsumiert werden. Der Tausch ist nicht nur eine Form der Verbindung, sondern eine Form der Subjektivierung,63 und zwar eine Form der Subjektivierung, die das Subjekt als freies anspricht, ihm die Möglichkeit der Ablehnung lässt, in der es sein soziales Selbst als etwas ihm zutiefst Eigenes empfindet. Der Tausch ist die Form der Bindung nicht nur der Menschen untereinander, sondern der Menschen an ihr „Selbst“, an sich als verantwortliche Person in der sozialen Welt. Der Tausch ist immer Tausch zwischen Kollektiven, die eine Eigentumsposition gemeinsam haben. Das bedeutet, dass er nicht nur Verbindungen schafft, sondern gleichzeitig die Einzelnen an Kollektive bindet. Das basale Kollektiv ist die Abstammungslinie. Die Verpflichtung des Einzelnen der Sippe gegenüber ist eigentlich die Verpflichtung gegenüber dem gemeinsamen Eigentum. Die Art, wie Lacan den Tausch verwendet, führt auf die Problematik der Geschichte des Tauschs. Geschichte des Tauschs kann mehreres bedeuten: zum einen die Geschichte der Auflösung der archaischen Ordnungen. Bei Mauss ist das einerseits die Geschichte der Auflösung der Einheit von Person und Sache, andererseits der Übergang vom Tausch als Gabe zum Warentausch. Aldo Haesler hat diese Geschichte ausführlich dargestellt.64 Geschichte kann auch heißen: Geschichte der Bewahrung von Elementen der alten Ordnung oder Geschichte als Wiederkehr einer im Kern überhistorischen Beziehungsform. Für Mauss liegt in dem Prinzip der Gabe so etwas wie ein ewiger ethischer Imperativ; die aktuelle Bedeutung der Darstellung der alten Ordnungen liegt in der Wiederbelebung dieses Imperativs. Simmel beschreibt das Prinzip der Gabe als eine fundamentale menschliche Beziehung, die hauptsächlich im Bereich des Privaten wirksam ist; er beschreibt sie ähnlich wie Mauss in einer ethischen Perspektive als etwas Bedrohtes und in hohem Maße Erhaltenswertes.65 Wenn Lacan seinen Begriff des Symbolischen mit dem Lévi-Strauss’schen System der Allianzen, mit Gabe und Schuld, die man abbezahlen muss, in Verbindung bringt, dann ist das eine
63Die
Bedeutung der vertikalen Linie des Tauschs und der Subjektivierung durch die Gabe hat auch Caillé betont; Caillé (1991): Nature du don archaïque, 74. 64Vgl. Haesler (1983): Tausch und gesellschaftliche Entwicklung. 65Vgl. Simmel (1992 [1908]): Exkurs über Treue und Dankbarkeit; vgl. auch Papilloud (2002): Le don de relation.
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Geschichte von einem anderen Typ, die ein sehr viel weitgehenderes Postulat impliziert; sie setzt voraus, dass das alte System des Tauschs als System heute noch lebendig ist. Dieses Postulat möchte ich im Folgenden diskutieren. In seiner Interpretation der Trilogie von Claudel geht Lacan davon aus, dass der Autor feudale Strukturen verwendet, weil in ihnen eine aktuelle Problematik klarer als mit gegenwärtigem Material sichtbar gemacht werden kann. Feudale Verhältnisse werden dabei von Lacan mit alten Tauschverhältnissen gleichgesetzt. Damit ist die Frage gestellt, ob man ein Feudalsystem als ein Tauschsystem verstehen kann. Wenn man diese Frage bejahen kann, dann sind auch Tauschordnungen sehr viel näher an die Gegenwart herangerückt. Gleichzeitig wird deutlich, in welchem Maße Tauschsysteme umbaufähig sind, ohne ihren Grundcharakter zu verändern. Diese Frage kann nur sehr pauschal diskutiert werden; ich werde mich dabei auf ein klassisches Werk stützen, das für eine Gesamtschau immer noch wichtig ist, auf Die Feudalgesellschaft von Marc Bloch.66 Das Grundschema, in dem Bloch den Feudalismus versteht, ist folgendes: Ausgangspunkt ist der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung und das Überhandnehmen von Gewaltverhältnissen mit dem Ende des Römischen Reichs, verstärkt nach der Auflösung des karolingischen Reichs. Dadurch ist jeder auf den Schutz von solidarischen Kollektiven angewiesen. Da das erste Kollektiv, das sich anbietet, die Sippe, oft nicht ausreicht, muss nach einer Ergänzung gesucht werden.67 Das Vasallitätsverhältnis ist die Lösung dieses Problems. Dieses Verhältnis löst gleichzeitig das Problem der Delegation politischer und militärischer Macht unter Bedingungen sehr geringer überregionaler Verflechtung. So entsteht eine Vielzahl von durch feudale Abhängigkeiten verbundenen Pyramiden.68 Dass die Lehenshuldigung ein Verhältnis der Gabe ist, ergibt sich mit aller Klarheit aus der Darstellung von Bloch. Allerdings ist es ein sehr spezifisches Verhältnis, das in den von Mauss geschilderten Tauschsystemen nicht vorkommt. In der Huldigung gibt der Mann sich dem Herrn zu eigen.69 Auf diese Gabe antworten Gegengaben: rituelle Geschenke, ohne die das Vasallitätsverhältnis gar nicht in Kraft tritt,70 der Schutz des Herrn, das Recht auf regelmäßige Gaben, eventuell ein Lehen. Es handelt sich
66Vgl.
Bloch (1982 [1939/1940]): Die Feudalgesellschaft. ebd., 273. 68Ihre Anzahl und Größe hängen von dem Ausmaß der Zentralisierung durch die Fürstentümer bzw. das jeweilige formale Oberhaupt ab. 69Vgl. Bloch (1982 [1939/1940]): Die Feudalgesellschaft, 181. 70Vgl. ebd., 201. 67Vgl.
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um ein Verhältnis der wechselseitigen Verpflichtung,71 es ist ein persönliches, kein Vertragsverhältnis. Genau wie in den archaischen Tauschsystemen ist das Eigentum kein individuelles Eigentum im modernen Sinn, es ist ein Bündel von Rechten und Pflichten.72 Wie dort ist der basale ethische Imperativ die Identifikation mit dem Familieneigentum als einer Position in der feudalen Ordnung und den sich aus ihm ergebenden Rechten und Pflichten. Dass das Feudalsystem wie die alten Tauschsysteme auf einer Ethik der Ehre beruht, braucht nicht betont zu werden. Die Unterschiede hinsichtlich dessen, was als Eigentum produzierendes Eigentum, als zu vererbendes Familieneigentum gilt, ergeben sich teilweise aus den verschiedenen Produktionsverhältnissen und betreffen nicht das System als solches. Eigentum – dabei geht es im Wesentlichen um Eigentum an Produktionsmitteln – hat bei einer Gesellschaft von Jägern und Sammlern eine andere Bedeutung als in einer agrarischen Gesellschaft. In der Feudalgesellschaft ist Eigentum vorwiegend Territorialeigentum. Ein weiterer Unterschied betrifft die Einheitlichkeit und die Stabilität. Darauf werde ich zurückkommen. Der systematisch wichtigste Unterschied betrifft die Rolle der Gewalt. Auch der Potlatsch stellt durch Tauschbeziehungen verbundene, hierarchisch gegliederte Kollektive gegeneinander. Aber dort ist dieses Gegeneinander eines des agonalen Tauschs, hier ist es eines des Kampfes. Man hat immer wieder auf die Nähe von Rache und symbolischem Tausch hingewiesen und Vendettasysteme als Varianten von Tauschsystemen angesehen. Dafür spricht das Prinzip der Wechselseitigkeit. Dem Geben und Wiedergeben entspricht die Wechselseitigkeit von Verletzung und Vergeltung. Kränkungen sind in ihrem Wert genauso sorgfältig codiert wie Gaben; ebenso genau codiert ist die jeweils richtige Form der Antwort. Was in unserem Kontext besonders wichtig ist: Vendettasysteme produzieren wie die Potlatschsysteme Kollektive, die die eigentlichen Subjekte bzw. Adressaten der Kränkungen wie der Gaben sind, von denen die basale die Sippe ist. Diese Kollektive sind durch eine ebenfalls codierte Ordnung von Verpflichtungen verbunden. Die wichtigste beruht auf der Gabe des Familieneigentums, der Position im sozialen System, in der Erblinie von der älteren Generation an die jüngere; aber alle leiten sich ab aus der Verpflichtung gegenüber dem Familieneigentum,
71Vgl.
ebd., 277. der Entwicklung des juristischen Denkens kann man ablesen, wie der feudale durch den modernen individualistischen Eigentumsbegriff abgelöst wird, ein Prozess, der sich im 18. Jahrhundert beschleunigt und im Wesentlichen den modernen Zustand erreicht (vgl. Schwab (1975): Eigentum).
72An
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der ererbten Position. In einer noch radikaleren Form als Tauschsysteme sind Vendettasysteme Systeme der Ehre; sie verlangen die absolute Identifikation mit der Position und den mit dieser verbundenen Verpflichtungen. Die Rache ist ein Imperativ von demselben Typ wie der, ein Potlatsch zu erwidern. Das feudale Fehdesystem ist offensichtlich ein System dieser Art.73 Hinsichtlich einer Reihe fundamentaler Züge kann man es als eine Variante der alten Tauschsysteme ansehen. Bloch beschreibt die Feudalordnungen als Systeme, die unausgesetzt gegen ihre Auflösung kämpfen. Sie haben die „fortgeschritteneren“ staatlichen Organisationen des Römischen Reichs und die entsprechende Rechtsordnung abgelöst, die vor allem durch die Kirche immer präsent gehalten wurden. Und vor allem stehen sie in einer Ökonomie, in der der Warentausch eine sich schnell entwickelnde Rolle spielt. Wenn man die grundlegenden ökonomischen Strukturen im Auge hat, wird man eine Interpretation des mittelalterlichen Feudalsystems als ein Tauschsystem für abwegig halten.74 Dass eine solche Sicht zu einfach ist, zeigt schon die ausführliche Interpretation des Brahmanismus als ein Tauschsystem im Essai.75 In einer Gesamtökonomie, die durch Städte, Markt und Geldwirtschaft bestimmt ist, bleibt der Brahmane der Ökonomie und der Moral archaischer Vorfahren treu.76 Dieses Beispiel weist darauf hin, dass symbolische Strukturen, die die Beziehungen der Menschen zu anderen und zu den Dingen festlegen und die die Subjekte als Personen in ihrer Welt konstituieren, eine Erhaltungstendenz haben und in Systemen, die ganz anders strukturiert sind, eine wesentliche Rolle spielen können. Das ist der Punkt, warum wir uns hier für das Feudalsystem interessieren. In den Chansons de Geste des 12. Jahrhunderts wird ausführlich dargestellt, wie Fürsten, die in einer Fehde mit einer anderen aristokratischen Sippe verwickelt sind, Verträge mit Städten zur Finanzierung
73Bloch
hat keinen Blick für die strukturierende Rolle der codierten Gewalt im Feudalsystem; die Begriffe, mit denen er Gewalt beschreibt, sind „Chaos“ oder „animalische Entfaltung physischer Kraft“ (Bloch 1982 [1939/1940]: Die Feudalgesellschaft, 488, 493). Damit folgt er einer Sicht auf die Gewalt, die seit der Aufklärung unser Denken beherrscht. Die neuere Mittelalterforschung sieht durchaus, dass das Fehdesystem eine spezifische Form der Ordnung darstellt. 74Unter diesen Aspekten stellt Caillé (1991: Nature du don archaïque, 69) in Übernahme der Positionen von Gregory (1982: Gifts and Commodities, 41, 100) Feudalgesellschaften als Klassengesellschaften, die über Geld vermittelten Handel betreiben, den in Clanen organisierten Tauschsystemen entgegen, die nur marginal den Tauschhandel kennen. 75Mauss (1968): Essai sur le don, 240–250. 76Vgl. ebd., 248.
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ihrer Kriege abschließen. Die Beziehungen zu den Personen, die für das Subjekt wichtig sind, zu den Gleichrangigen und den Vasallen, die Motive, die Form der Bindungen, die innere Strukturierung der Person – das ganze Sinnsystem, das das Leben der Fürsten und ihrer Vasallen organisiert, ist durch die feudalen Strukturen bestimmt. Gleichzeitig ist dieses System durchaus fähig, gegenüber einem Außen Beziehungen ganz anderer Art einzugehen. Natürlich wirkt dieses Außen ganz entscheidend auf das innere System, und zwar vorwiegend im Sinn einer Bedrohung. Im Feudalismus ist die Anstrengung, den Kern der alten Ordnung in den neuen Verhältnissen festzuhalten, sehr deutlich. Bloch beschreibt, wie in Reaktion auf die Tendenz der Verwandlung der Lehensbeziehung in eine Handelsbeziehung eine neue Form persönlicher Treuebeziehung erfunden wird, das homagium ligium.77 Eine sicher um ganz zentrale Elemente reduzierte, eine „Spielform“ des Feudalsystems ist das System der Turniere, und dann die Institution des Duells. Hier wird in einer einigermaßen absurden Form ein wesentliches Prinzip des alten Systems festgehalten, die Identifikation mit dem Rang und der eigenen Ehre, und die Verpflichtung, jede Kränkung mit dem Einsatz des Lebens zu beantworten. Die archaischen Tauschsysteme sind, wie Mauss betont, ein fait social total, sie erfassen alle Bereiche des Lebens. Wenn man sich für die Geschichte der Tauschsysteme interessiert, dann wird diese Geschichte verschieden ausfallen, je nachdem, welche Aspekte man privilegiert.78 In der Regel ist dieser Aspekt die Tauschbeziehung selbst als Beziehung zwischen vorgegebenen Partnern. Wir haben hier die Fähigkeit des symbolischen Tauschs hervorgehoben, eine symbolische Ordnung zu produzieren, das heißt eine Ordnung, in der eine ganz bestimmte sinnhafte Artikulation des Wirklichen auf eine entsprechende Struktur im Subjekt trifft; und das auch in Verhältnissen, die durch Warentausch und Staatlichkeit bestimmt sind. Folgendes scheinen mir die Züge der alten Tauschsysteme
77Vgl.
ebd., 262. Charakteristika man als für die von Mauss beschriebenen Tauschsysteme konstitutiv ansehen will, ist eine Entscheidung, von der dann abhängt, welche Form eine Geschichte des Tauschs haben wird. Caillé (1996: Ni holisme ni individualisme méthodologiques, 214 f.) weist darauf hin, dass der Tausch eine solche Vielfalt von Aspekten in sich enthält, dass der Versuch einer Geschichte des Tauschs sich ins Grenzenlose verlieren würde. Seine Lösung scheint mir in der Entwicklung von Universalien zu bestehen, die hinter dem Tausch liegen. Lacans Lösung dieses Problems (das er sich in dieser Form natürlich nie gestellt hat) liegt darin, dass die in seinem Umgang mit dem Denken des Tauschs implizierte Geschichte von einer aktuellen Problematik her perspektiviert ist.
78Welche
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zu sein, die diese Fähigkeit besitzen: Es gibt einen im gesamten Kollektiv anerkannten Code von Werten. Diese Werte besitzen bei aller Verschiedenheit und oft Willkür im Einzelnen eine unhintergehbare Verankerung; diese Verankerung ist die Ökonomie im Sinn der Produktion der zur Lebenserhaltung und zur Behauptung im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf notwendigen Güter. Die Tauschsysteme produzieren Kollektive als Tauschpartner, die wiederum durch Tauschbeziehungen verbunden sind. Das grundlegende Kollektiv dieser Art ist die genealogische Familie; in ihr entsteht die für die Familie konstitutive Bindung durch die Gabe des Familieneigentums mit den es begründenden Rechten und Pflichten von dessen Vertreter an denjenigen, der es in der nächsten Generation vertreten wird, in unserer Kultur die Gabe des Eigentums vom Vater an den Sohn. In dieser Gabe identifiziert sich der Sohn mit seinem Eigentum, in der Identifikation wird er zu einer Person, zu jemandem, der an der sozialen Welt teilhat. Grundsätzlich sind die Tauschobjekte Teile der Person, modern ausgedrückt, sie sind Medien der Identifikation. Nur das ist eine Gabe, womit man in einer gewissen Weise identifiziert ist, je stärker die Identifikation, um so bindender die Gabe. Die Bindungen, die der Tausch produziert, sind freie Bindungen, Bindungen, die man bejahen, zu denen man stehen kann. Das gilt auch für die Bindung der Subjekte an sich selbst als Person. Die Tauschsysteme produzieren Sinn, einen bestimmten Typ von sinnvollen und intensiven Beziehungen, Begehren,79 eine Ethik, einen bestimmten Typ von Menschen. Wenn der frühe Lacan die in Begriffen des Symbolischen gefasste subjektivierende Ordnung beschreibt, dann hat er nicht die manifesten Ordnungen des Sozialen im Auge, sondern eine weitgehend unbewusste Grammatik des Sozialen, die auch die Grammatik des Unbewussten in den Subjekten ist. Nur von einer solchen Fokussierung aus kann man verstehen, dass Lacan die symbolische Ordnung seiner Zeit in Kategorien des Tauschs zu verstehen versucht. An einem kurz skizzierten Beispiel möchte ich die Plausibilität einer derartigen Sicht deutlich machen. In einem Roman wie den Buddenbrooks wird eine Welt kapitalistischer Kaufleute beschrieben. Schaut man auf die Ebene der Identifikationen, der Motive, der bindenden Kollektive, dann sieht
79Das
ist ein Aspekt, der gewöhnlich wenig betont wird, obwohl man bei genauer Lektüre bei Mauss viele Hinweise findet. Aber natürlich haben Tauschsysteme auch häufig eine Nähe zu Wettspielen, und Wettspiele haben die Funktion, Begehren zu erzeugen. Malinowski macht das sehr klar, wenn er am Ende der Argonauten des Pazifik beschreibt, wie die Trobriander nach der Zerstörung des kula in Langeweile und Alkoholismus verfallen.
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man als bindende Kollektive genealogische Familien, die durch ein Familienvermögen zusammengehalten werden. Das Vermögen ist ein Signifikant, es bestimmt, was jemand im Netz des Sozialen darstellt. Dieses Netz existiert, es ist, was man die „gute Gesellschaft“ nennt. Natürlich ist die Arbeitswelt dieser Kaufleute durch Lohn- und Warenverhältnisse, durch juristische Regelungen bestimmt, aber die Personen, die sie als sich „gleich“80 ansehen, zu denen sie die Beziehungen haben, durch die sie innerlich bestimmt werden, sind die Personen, die zu Familien desselben Typs gehören, die dieselben Verpflichtungen, dieselben Motive in sich tragen. Die Allianzen und die – informell aber klar geregelten – Verhältnisse agonalen Wettstreits zwischen diesen Familien funktionieren nach den Prinzipien eines Tauschsystems.81 Erfolge und Misserfolge in dem Bereich der Geschäfte haben an diesem Ort ihr Gewicht für das Erleben der Subjekte. Auf der Ebene der Subjektivierung funktioniert das Vermögen als eine Gabe, die verpflichtet. Allerdings wird diese Identifikation, mit der das Subjekt zur sozialen Person wird, nicht mehr, wie in den alten Tauschsystemen und noch im Feudalismus, in den großen Institutionen und Ideologien der Gesellschaft aufgenommen und bestätigt; wesentliche Teile des Denkens der Aufklärung haben sich gerade gegen das Verständnis der sozialen Position als eines identifizierenden Signifikanten entwickelt.82 Es ist eines der großen Themen des Romans, was die Subjekte in der Abfolge der Generationen mit diesen Verpflichtungen machen. In den Buddenbrooks ist die Kunst diejenige Institution, deren Faszination die Identifikation mit dem Familienvermögen auflöst, und damit dann auch die Familien im alten Sinn selbst. Und schließlich: Wie in den archaischen Tauschsystemen, wie im Feudalismus ist dieses als Signifikant funktionierende Familienvermögen in der realen Ökonomie der Gesellschaft verankert. Im 19. und noch weit ins 20. Jahrhundert hinein sind die jetzt inhaltlich so total veränderten Mittel der ökonomischen Produktion in einem relevanten Maß Familienbesitz. Das Vermögen funktioniert als Signifikant nicht nur in einer beschränkten guten Gesellschaft, zum Beispiel eben in Lübeck. Die Gesamtheit des gesellschaftlichen produktiven Reichtums bildet ein großes, aber dank der kapitalistischen Konzentration auch wieder überschaubares und jedenfalls begrenztes Repertoire
80Was
ich hier mit „gleich“ meine, wird gut durch eine Bemerkung in einem anderweitig nicht relevanten Film illustriert. Dort wird ein Mädchen (Audrey Hepburn) als „suburban nobody“ bezeichnet, was heißt, dass es keine Frau ist, die man heiraten kann. 81Material hierfür findet man in der speziell in Frankreich entwickelten Soziologie der großen Familien und des Lebensraums, den diese sich schaffen. 82Vgl. Waltz (1993): Ordnung der Namen, 267–275.
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von Signifikanten. Wie für jedes Tauschsystem gilt deswegen auch hier, dass jeder Signifikant, jedes Vermögen – und die mit diesem Vermögen identifizierten Subjekte – mit jedem anderen Vermögen innerhalb des Systems in Beziehung steht. In unserer auf Sinn und Subjektivierung fokussierenden Perspektive besteht die basale Struktur eines Tauschsystems darin, dass das Produktivvermögen einer Gesellschaft sich auf genealogische Familien verteilt, dass das Vermögen in der Form einer verpflichtenden Gabe von einer Generation an die nächste weitergegeben wird und dass die Beziehung zwischen diesen Familien als eine Ordnung von Tauschbeziehungen geregelt ist. In dieser Perspektive macht es Sinn zu sagen, dass auch in der kapitalistischen Gesellschaft des 19. und noch des 20. Jahrhunderts die Lebensverhältnisse von Eliten als Tauschverhältnisse strukturiert sind und so erfahren werden. Dazu gehört – da Tauschsysteme ja immer ethische Systeme sind – eine entsprechende basale bürgerliche Ethik. Erst wenn die Rolle der genealogischen Familie als Teilhaber an dem gesellschaftlichen Produktivvermögen ganz aufgelöst ist, was im Lauf des 20. Jahrhunderts geschieht, ist auch die Möglichkeit, eine Gesellschaft als Tauschsystem zu strukturieren, verschwunden. Man kann konstituierende symbolische Ordnungen von ihrer Außenseite aus betrachten wie Foucault oder Bourdieu. Lacan schaut sie von ihrer Innenseite aus an, in ihrer subjektivierenden Funktion; dabei sind die Prinzipien des Tauschs immer sehr nahe. Wenn diese Prinzipien die sehr konkrete Funktion haben, das Ziel der Analyse zu formulieren, dann genügt es nicht, Vorschläge und Ermahnungen abzugeben, wie es Mauss im politischen Bereich tut; die Psychoanalysen müssen funktionieren; die Formen der Intersubjektivität, die Auffassung des Ödipuskomplexes müssen mit der gelebten Wirklichkeit der Patienten zusammenpassen. Die Denkbewegungen Lacans sind in den Seminaren bestens dokumentiert. Wir sehen die Intensität seiner Bemühung, das Geheimnis der Strukturierung der zeitgenössischen Subjektivität und die Möglichkeit eines Lebens zu entdecken, das dem Subjekt eine Verbindung zu dem gibt, was ihn im Tiefsten motiviert. Dabei wird deutlich, wie nahe an den Grundgedanken des Tauschs sich der frühe Lacan bewegt und wie stark diese emotional besetzt sind, dass sie sich aber gleichzeitig an entscheidenden Punkten für ihn als unbrauchbar erweisen und dass er sie später weitgehend aufgibt. Ein Satz des französischen Lyrikers René Char fasst die Position von Lacan sehr gut zusammen: „Unserer
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Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen“.83 In der Welt des Tauschs trägt jede Erbschaft als Gabe ein Testament in sich. Lacans Denken spiegelt eine Gegenwart, in der man noch in diesen Kategorien denkt, wo diese Kategorien aber nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen. Ich habe hier versucht, Lacans Denken im Kontext einer Geschichte des Tauschs, also in einem soziologischen Kontext, ernst zu nehmen84 und plausibel zu machen, dass man sich zu seiner auf die Subjektseite beschränkten Geschichte eine Außenseite vorstellen kann. Bei allem Problematischen eines solchen Versuchs scheinen mir einige Dinge bedenkenswert: einmal die Möglichkeit, Tauschsysteme als subjektivierende Systeme zu verstehen; dann die Anregung, die ein solches Verständnis dazu liefert, die Geschichte der Tauschsysteme zu überdenken. Faszinierend scheint mir auch das Thema der freien Bindung, das uns von Anfang an begleitet hat. Der frühe Lacan hat an diesem Thema ein leidenschaftliches Interesse. Dabei fällt auf, dass er die freie Bindung nicht denken kann, ohne Prinzipien des Tauschs zu benützen. Später wird er dieses Thema aufgeben. Er wird zu der Auffassung überwechseln, die heute fast Konsens ist, dass Freiheit nur gegenüber Bindungen möglich ist. Es sieht so aus, als wären die Möglichkeit einer freien Bindung, an das, was man im Sozialen tut und ist, einer Bindung, die man als eigene Entscheidung anerkennen kann, und das Prinzip der Gabe unlösbar verbunden.
Literatur Arendt, Hannah. 1996. Ich will verstehen. Selbstauskünfte über Leben und Werk, Hrsg. Ursula Ludz. München. Bloch, Marc. 1982. Die Feudalgesellschaft. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1939/1940) Caillé, Alain. 1991. Nature du don archaïque. La revue des Mauss 12: 51–78. Ders. 1996. Ni holisme ni individualisme méthodologiques. Marcel Mauss et le paradigme du don. Revue européenne des sciences sociales 34: 181–224. Godelier, Maurice. 1996. L’énigme de don. Paris. Gregory, Christopher A. 1982. Gifts and Commodities. London. Haesler, Aldo J. 1983. Tausch und gesellschaftliche Entwicklung. Zur Prüfung eines liberalen Topos, Dissertation, St. Gallen. Lacan, Jacques. 1966. Écrits. Paris.
83Zitiert
nach Arendt (1996): Ich will verstehen, 123. Waltz (1993): Ordnung der Namen habe ich versucht, die Entstehung der Moderne als eine Auflösung der alten Tauschordnungen zu beschreiben.
84In
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Ders. 1973. Le séminaire livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse [1964], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Ders. 1978. Le séminaire livre II: Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse [1954–1955], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Ders. 1986. Le séminaire livre VII: L’éthique de la psychanalyse [1959–1960], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Ders. 1994. Le séminaire livre IV: La relation d’objet [1956–1957], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Ders. 1998. Le séminaire livre V: Les formations de l’inconscient [1957–1958], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Ders. 2001. Le séminaire livre VIII: Le transfert [1960–1961], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Lévi-Strauss, Claude. 1959. Anthropologie structurale. Paris. Ders. 1967. Les structures élémentaires de la parenté. Paris. Ders. 1968. Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss. In Sociologie et Anthropologie, Hrsg. Marcel Mauss, IX–Lll. Paris. Ders. Hrsg. 1977. L’identité. Paris. Mauss, Marcel. 1947. Manuel d’ethnographie. Paris. Ders. 1968. Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In Sociologie et Anthropologie, Hrsg. Marcel Mauss, 143–279. Paris. Papilloud, Christian. 2002. Le don de relation. Georg Simmel – Marcel Mauss. Paris. Reckwitz, Andreas. 2000. Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist. Schwab, Dieter. 1975. Eigentum. In Geschichtliche Grundbegriffe, Hrsg. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 2, 65–115. Stuttgart. Simmel, Georg. 1992. Exkurs über Treue und Dankbarkeit. In Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Hrsg. Georg Simmel, Bd. 2, 581–598. Leipzig (Erstveröffentlichung 1908). Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M.
Das bürgerliche System des Medialen und seine postmoderne Auflösung (1993)
Der leere Name des Bürgers Wir können die Welt als ein Spiel beschreiben, das seine Einheit darin hatte, dass es den Hunger, die Arbeit, die physische Gewalt und den Tod, den Genuss, die Sexualität und die Fortpflanzung, das bebaubare Land, die Häuser und Schlösser, den gesamten Kreislauf mit der Natur also, als Einsatz verwendet hatte. Die Trennung der Geschlechter ebenso wie die der Stände war durch die Spielregeln bestimmt: Die Männer waren die Tauschenden, die Frauen die Objekte des Tauschs; den Adligen waren die großen Spiele vorbehalten, deren Einsätze die Plätze und die Ehre waren, und sie hatten ihren eigenen Initiationsweg. Den Prozess der Modernisierung verstehen wir als Zerstörung dieses Spiels durch die Einführung der systemischen Mechanismen der Vergesellschaftung, Geld und Macht. Was ist aber nun das Produkt der Modernisierung? Wie kann man die bürgerliche Welt als ein mediales Feld beschreiben? Wir haben zwei Figuren in diesem Feld dargestellt, den neurotischen Schriftsteller und den Aufklärer; beide entziehen sich in verschiedener Weise den medialen Spielen. Aber die Ablehnung stützt sich auf das, was sie ablehnt, und setzt seine Existenz voraus. Im Folgenden will ich zeigen, dass der Prozess der Modernisierung im 18. und 19. Jahrhundert nicht so durchgreifend war, wie es den Anschein hat; das Bürgertum bewahrt aus der Alten Welt nicht nur Bruchstücke, sondern fundamentale Strukturen, auf denen so etwas wie ein mediales System sich aufbaut. Damit wird eine genauere Beschreibung der medialen Dimension des Modernisierungsprozesses möglich
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_7
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werden, und wir werden sehen, dass das, was man Postmoderne nennt, als der Abschluss dieses Prozesses zu verstehen ist.1 In der bürgerlichen Gesellschaft sind die sozialen Positionen nicht mehr die Grundlage der medialen Struktur; die Identifikation mit den Plätzen hat ihre Legitimität verloren; es ist eine Gesellschaft von ungebundenen Individuen. Das ist die aufgeklärte Selbstauffassung des Bürgertums. In Sartres Werk ist aber der bourgeois die Figur, die der Gesellschaft ihr (schlechtes) Gerüst gibt; und dieser Bürger ist in ganz anderer Weise gezeichnet. Die Gesellschaft ist immer noch ein Verband von Familien; das Eigentum ist medial definiert als ein Bündel von Rechten und Pflichten; die Väter sehen wie die der Alten Welt in ihren Söhnen die Nachfolger, denen sie aufzwingen, was sie zu sein haben. Es gibt für Sartre nur diese Alternative: entweder gar keinen Namen zu haben oder diesen Namen aus der Welt der Plätze. Auch Marcel Proust legt hinter die Salons die Welt von Combray, die eine Welt von Familien ist. Der realistische Roman von Balzac bis zu den Buddenbrooks bestätigt dieses Bild: Als gute Gesellschaft ist das Bürgertum ein Verband von Familien, der Familienname ist noch der fundamentale Name, durch den jeder zuerst definiert ist.2 Gewiss ist die Mobilität größer geworden, aber die „Neureichen“ können erst verspottet und dann integriert werden; das Prinzip ist bedroht, aber nicht aufgehoben.3 Der Bürger erbt nicht
1In
diesem Text wird die These angeführt, dass die Phänomene, die unter dem diffusen Etikett „Postmoderne“ beschrieben werden, nur im Feld einer Theorie des Medialen verstanden werden können; der Begriff wird also im Folgenden inhaltlich bestimmt. Ich behalte das Wort „Postmoderne“ bei (obwohl ein Ausdruck wie „abgeschlossene Moderne“ treffender wäre), weil er sich nun einmal durchgesetzt hat und weil in ihm die Tatsache erfasst ist, dass der Abschluss der Moderne einen tiefgehenden Bruch bedeutet. (Oft bezeichnet „Postmoderne“ auch nicht mehr als eine Mode, zum Beispiel die der Theoriefeindlichkeit und Beliebigkeit des Denkens; das ist hier nicht gemeint.) Das Wort „bürgerlich“ benutze ich als Epochenbezeichnung, nämlich für die Periode, die im 18. Jahrhundert beginnt und von der heute klar wird, dass wir sie schon eine Weile verlassen haben.
2„Gute
Gesellschaft“ hat eine Doppelbedeutung. Der Ausdruck bezeichnet, was ich hier meine, den Verband der durch das Vermögen festgelegten Familiennamen; aber auch die bürgerlichen Salons, die die Tradition des aristokratischen 18. Jahrhunderts fortsetzen. Hier ist der Familienname nur Zulassungsbedingung; um den Namen, der zählt, wird in einer erbitterten und untergründigen Weise ununterbrochen gekämpft. Im Folgenden verwende ich den Ausdruck „gute Gesellschaft“ für den Familienverband, sonst spreche ich von Salons. 3Bourdieu beschreibt die verborgene Vererbung der Positionen noch in der zeitgenössischen Gesellschaft. Vgl. Passeron und Bourdieu (1964): Les héritiers, les étudiants et la culture.
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einen genau umschriebenen Platz wie der Adlige in der Feudalwelt. Aber er erbt die Mittel, die ihm erlauben, sich eine eigene Position zu schaffen – Geld, Bildung, Beziehungen –, und mit dieser Gabe die Verpflichtung, das auch zu tun. Wie ein Adliger muss auch er – wenn auch in einer individuellen Karriere – den Rang der Familie wahren; und dieser Rang hat seinen Bezugspunkt in einer Gruppe von Familien aus einer Stadt oder einer Schicht, aus Bereichen, die zusammengenommen das hierarchisch geordnete Ganze der bürgerlichen Gesellschaft bilden. Die Grundlage des Namens ist das Familienvermögen. Es ist im Bereich der ökonomischen Konkurrenz, dass man den Namen vergrößern oder ihn, in der Deklassierung, verlieren kann. Wenn man im Frankreich des 19. Jahrhunderts allen Wirtschaftseinheiten einerseits nach einer ökonomischen Kennziffer einen Rang zuwiese und andererseits, in einem Bild der guten Gesellschaft, wie es etwa die Romane Balzacs beschreiben, alle Personen nach ihrem Rang ordnete, so würden sich die beiden Bilder im Großen und Ganzen decken. Die Fabriken, Eisenbahnlinien, Mietskasernen, Anwaltspraxen, Präfekturen und Professorenstellen sind das Material der Namen, wie im frühen Mittelalter der Landbesitz. Es ist immer noch die alte, gewaltige und fundamentale Medialität des Kreislaufs mit der Natur, die das System der Benennung trägt. Es ist diese Medialität, dank derer die Gesellschaft, die der aufgeklärte Bürger nur als eine Menge von Individuen und einen Hort der Vorurteile sieht, noch etwas von der Macht des verschwundenen Gottes bewahrt hat. Die Aufklärung hatte geglaubt, den Menschen von der Macht der vorgegebenen Medialität zu befreien; sie hatte auch dem alten Medium die Legitimität genommen; aber so lange das ökonomische System als ein Verband von Familien organisiert ist, bleibt die alte Struktur in ihrer Grundlage erhalten. Das Wort „Spiele“ verleitet dazu, Medialität als Organisation von Beziehungen zwischen Personen zu verstehen. Aber das ist nur die eine Seite. Das Medium ist ein Gedächtnis, und dieses Gedächtnis ist nur sekundär das von Personen: Es ist im Medium selbst, im Material der Ökonomie, dass die Positionen und ihre Veränderungen gespeichert werden. Die Menschen geben dem medialen Gedächtnis seinen Sinn, und sie umranken es mit Geschichten. Aber ihr Gedächtnis ist menschlich, es kann vergessen und sich täuschen; das mediale Material vergisst nie und täuscht sich nie.4 Aus ihm erhalten die medialen Spiele ihren alles Persönliche transzendierenden Charakter. Aus ihm
4Zu
dem „objektiven Gedächtnis“ vgl. Luhmann (1988): Soziale Systeme, 102.
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entsteht der Wirklichkeitseffekt, der macht, dass die medialen Spiele eben gerade nicht „Spiele“, sondern absoluter Ernst sind. Dieses mediale Gedächtnis ist in der bürgerlichen Welt noch erhalten. Wenn die gute Gesellschaft, trotz der schon sehr großen Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, noch das Register der Familien sein konnte, dann, weil sie sich auf dieses selbsttätige Gedächtnis der ökonomischen Positionen stützen konnte. Aus der soziologischen Perspektive erscheint der Konkurrenzkampf als durch ökonomische Motive bestimmt. Es ist der ökonomische Mechanismus, der die Regeln festlegt und den Interessen ihre Form gibt, und die Träger dieser Interessen erscheinen mit Recht als Charaktermasken. Fragt man aber danach, was die Eigentümer an diesen Kampf fesselte, nach den medialen Motiven, so geht es um den Erhalt der Familie und des Betriebs als Lebensräume, an die er gebunden ist und für die er sich verantwortlich fühlt, aber damit zugleich und vor allem um die Familie als Vermögen und Nachkommenschaft. Die Familie ist noch, was sie in der Alten Welt war, weder eine Erblinie noch eine Position im ökonomischen System, sondern die Verbindung der beiden Dinge, die Einzeichnung eines Namens im Medium der Ökonomie. Von dieser Art sind die großen bürgerlichen Namen, Creusot oder Krupp, und die kleinen Namen sind aus demselben Material gemacht. Gewöhnlich sieht man den Bürger als jemanden, der seinem Privatinteresse folgt. So hatte sich Stendhal etwa über die Fabrikanten lustig gemacht, die dafür, dass sie Geld verdienten, auch noch Orden haben wollten. Aber hinter dem Interesse ist eine Pflicht verborgen, die aus dem Interesse in keiner Weise abgeleitet werden kann – dieser Gedanke ist bekanntlich der Ausgangspunkt von Max Webers Herleitung des Geistes des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik. Der Bürger hat seinen Namen als Gabe empfangen, er sieht ihn als etwas, das seine Person transzendiert, durch ihn ist er bestimmt und ihm ist er verpflichtet. Aber wenn man ihn fragt, warum und zu was er verpflichtet ist, so kann er es nicht sagen. Namen haben ihren Gehalt im Verhältnis zu anderen Namen, in Beziehungen des Tauschs und der medial geregelten Rivalität. Selbstverständlich besteht auch der bürgerliche Alltag aus einer Vielfalt medialer Beziehungen; aber diese sind alle von Interessenbeziehungen überlagert und pervertiert oder von dem Prinzip der Sachlichkeit zugedeckt. Der Ort, wo der Bürger nicht unter der harten Maske der Sachlichkeit, sondern als er selbst, als der Name, auftritt, die gute Gesellschaft, ist kein Ort des Austauschs; ihr ideales Modell ist der so oft karikierte englische Klub, wo man hingeht, Zeitung liest und wieder geht. Was hier geschieht, ist das Einzige, was geschehen kann, die wechselseitige Bestätigung der Namen. Im Übrigen ist die gute Gesellschaft ein Ort, wo man
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Beziehungen pflegt und Geschäfte anknüpft, also Teil des Geschäfts selbst.5 Was von dem alten System noch übrig bleibt, genügt, um den Bürger an seinen Namen zu binden, aber nicht, um dieser Bindung eine rationale Grundlage zu geben. Wenn man vom Standpunkt der Literatur oder des aufgeklärten Denkens fragt, warum der Bürger an seinem Namen so sehr hängt, so findet man nur ungenügende Motive: Er ist abhängig von den Vorurteilen, die den Wert einer Person statt von ihren Fähigkeiten und Leistungen von ihrem Besitz abhängig machen, und er ist ein Konformist, der die Meinung der anderen fürchtet. Er denkt niedrig und ist zu schnell zufrieden; in einer Welt, in der man das Recht hat, zu sein, was man sein will, begnügt er sich mit dem Wenigen, was ihm gegeben worden ist. Und da die immer gleiche Sorge um den einen Namen ihn bei allem denken lässt, was es kostet, darf er sich kein größeres Begehren gestatten, weder nach Liebe noch nach Ehre. Wenn man das bürgerliche System der Namen verstehen will, muss man die beiden Dinge zusammen sehen. Einerseits ist es noch das alte System, das die Familien (im alten Sinn der Erbfolge) an den Kreislauf mit der Natur bindet. Die bürgerlichen Namen sind immer noch das Individuum transzendierende Namen, die ihm mit seiner Geburt geschenkt werden, die ihn an einen Platz und mit dem Platz an eine übergreifende mediale Ordnung binden, die ihn überlebt und die er weiterzugeben hat. Andererseits sind es leere Namen; wenn das Subjekt fragt, was es bindet, findet es nur Vorurteile. Sie geben keine Gestalt, die man bejahen könnte, die für andere in einer begründeten Weise begehrenswert wäre, und sie haben wenig in sich, was sie begehrenswert macht. Wer auf die Wahrheit seines Namens Wert legt, der muss sich von diesem befreien; aber was man findet, bleibt immer von dem bestimmt, wovon man sich befreit hat.
5Wir
haben es hier mit den medialen Institutionen des Bürgertums zu tun, die ein Regelsystem und ein Wissen von sich selbst ausgearbeitet haben. In diesem Zusammenhang ist die rationale Gestalt des Bürgers die wesentliche, also diejenige, die der Darstellung von Max Weber entspricht. Wo der realistische Roman, Balzac, Flaubert oder Zola, das Wirtschaftsleben unter medialen Kategorien darstellt, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Mediale Spiele entstehen überall, wo Menschen miteinander zu tun haben, sozusagen naturwüchsig. Die Auflösung der alten Institutionen mit ihrer starken normierenden Macht hat diese generative Potenz freigesetzt, und die Bedingungen der Konkurrenz wählen aus dem so entstandenen Repertoire die in ihr erfolgreichen aus. So entsteht eine chaotische Medialität, die die Schriftsteller mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination beschreiben und in der meistens die schlechteren Spiele über die besseren siegen.
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Das Verbot zu spielen Man kann aus diesem leeren, aber wirksamen Namen des Bürgers ein Schema des bürgerlichen Systems des Medialen entwickeln. In seinen Widersprüchen sind drei Ansprüche enthalten. Die drei großen medialen Figuren des Bürgertums – der Nationalist oder Faschist, der Aufklärer und der Kunstliebhaber – entwickeln je einen dieser Ansprüche. Das zwiespältige Verhältnis zu dem Namen – die reale Bindung, die der Erwachsene aber nie mit guten Gründen bejahen kann – legt über die bürgerliche Welt einen gestaltlosen und harten Moralismus, der nach Formen sucht und nur schlechte Formen findet. Einerseits wirkt die Verpflichtung dem gegebenen Namen gegenüber als innerer Zwang, als die Berufspflicht „sich selber“ gegenüber, von der Max Weber spricht. Andererseits ist mit dem Namen auch notwendig die Vorstellung eines medialen Systems gegeben, in dem der Name Name ist; unvermeidlich erscheint hinter der über Geld und Macht organisierten Realität das Bild eines ethisch fundierten Kollektivs. In den romantischen und konservativen Ideologien des frühen 19. Jahrhunderts treten an diese Stelle die noch lebendigen Traditionen der Alten Welt, in denen das mediale Gesetz noch enthalten ist, wenn es auch seine rationalen Grundlagen verloren hat. Mit der faschistischen Verwendung des Begriffs der Nation, deren Wurzeln auf das ausgehende 19. Jahrhundert zurückgehen, und mit dem Begriff der Rasse werden diese Traditionen bedeutungslos; die Person und Welt konstituierende Gewalt des Gesetzes, das sich begründet und das bejaht werden kann, wird übernommen von einer Figur des „Alles oder nichts“. Die konstituierende Macht des Medialen wird zur gesetzlosen Allmacht eines Kollektivs, das durch willkürliche Merkmale bestimmt ist und sein Recht nur aus dem Faktum seiner Existenz zieht. Der Einzelne ist nichts gegenüber dem Ganzen, aber gegenüber dem Fremden ist er alles durch die reine Tatsache der Zugehörigkeit, die diesem fehlt; der Arier ist Arier durch den Juden. Der Faschist denkt in medialen Kategorien und ahmt viele Züge der Alten Welt nach. An die Stelle des aus dem Allgemeininteresse sich ableitenden Gesetzes des Aufklärers setzt er die Ethik der Beziehungen, Kameradschaft und Gefolgschaftstreue; indem er die Ökonomie politisiert und militarisiert, legt er über die durch die Sachzwänge der Konkurrenz gelähmten Spiele des Bürgers die schreckliche Dynamik der Spiele von Gewalt und Tod. Die Selbstsicherheit, die der Faschist – jedenfalls solange er sich einem mächtigen Kollektiv zugehörig fühlt – gegenüber der aufgeklärten Vernunft hat, ist nicht unbegründet. Er erfasst eine Dimension der Wirklichkeit, die dem Aufklärer verborgen bleibt, die mediale Konstitution der Person und der Welt. Allerdings erfasst er sie in einer perversen Form, und sobald das Kollektiv seine Macht verloren hat, verliert er die Sicherheit seiner Identifikation, und nicht nur
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das. Die Identifikationen der Alten Welt, die in dem Prinzip des Tauschs verankert waren, hatten gegen die Auflösung der sie tragenden Institutionen einen zähen Widerstand geleistet, und es gibt ein leicht zugängliches Gedächtnis, in dem sie aufbewahrt werden. Die faschistische Welt des „Alles oder nichts“ löst sich als Welt wie durch einen Zauber auf; wie die Welten Sartres oder Proust ist sie, wenn sie ihre Macht verloren hat, kaum mehr erinnerbar, und die Personen haben vergessen, was sie in ihr gewesen sind.6 Der Aufklärer teilt mit dem Bürger die Erkenntnis, dass die Sphäre der Erhaltungsbedingungen der Kern des Wirklichen ist, an den man sich zu halten hat, und dass ein erwachsener Mann sich von der Herrschaft der medialen Motive frei machen muss. Aber an die Stelle der unbegründbaren Bindung an den Familiennamen setzt er die Rationalität der Bedürfnisse und der aus ihnen begründeten Interessen; in der Hingabe an die Dritte Sache findet er ein großes Spiel, das ihn mit anderen in Beziehung setzt, und einen legitimierbaren Namen. Damit ist das fundamentale Medium, das die Menschen miteinander verbindet, für ihn wie für den Bürger, wenn auch in einer ganz anderen Weise, immer noch die Sphäre des Ökonomischen. Der Aufklärer ist im bürgerlichen System des Medialen der Einzige, der in einer für jedermann einsichtigen Weise seine Handlungen begründen kann. Die dritte große Figur des Systems, der Künstler und der Liebhaber der Künste, verachtet den Bürger nicht, weil dieser nicht begründen kann, was er tut, sondern weil er, ohne es zu wissen, wie ein Toter lebt und nichts hat, was er begehrt. Die Herren in der Alten Welt konnten das, was sie besaßen, ihre Burgen, Vasallen und Bauern, ihr Leben als Einsatz für die Spiele der Rache, der Ehre, der Liebe verwenden. Die großen Leidenschaften, die Konflikte, in denen die Größe eines Menschen sich zeigen kann, die Triumphe und Niederlagen waren Produkte der mit großen Einsätzen ausgestatteten Spiele. Den neuen Herren ist die Verfügung über das, was sie besitzen, weggenommen; ihren Besitz können sie nicht mehr als Einsatz in medialen Spielen verwenden;7 er ist an die sachlichen Regeln
6Über
die Unfähigkeit der Nazis, sich zu erinnern und Schuld anzuerkennen, ist viel geschrieben worden. Man kann das aber nicht als ein psychologisches Problem behandeln. Die faschistische Welt ist auch ein Gedächtnis; der Nazi hat nicht seine Taten vergessen, sondern den Ort verlassen, wo sie gespeichert waren. Es bleibt ihm höchstens das Gefühl, dass „alles ganz anders war“, ein Gefühl, das ihm alle Vorwürfe als „daneben“ erscheinen lässt. 7Diese Enteignung ist die Rückseite der (bekannteren) Befreiung des bürgerlichen Eigentums aus den feudalen Fesseln. Der Prozess dieser Enteignung – und der Widerstand gegen ihn – hat schon im Hochmittelalter eingesetzt und begleitet die ganze europäische Geschichte.
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der Konkurrenz gebunden. Wer in der bürgerlichen Welt nach medialen Regeln spielt, hat immer schon verloren. Der Bürger ist ein Asket, nicht weil er viel und konzentriert arbeiten muss, sondern weil er mit seinem Namen nicht spielen darf. Weil er nichts begehren kann, begehrt er, was ihm versagt ist, das Begehren selbst, die großen Spiele, die Leidenschaften. Das ist der Bereich der bürgerlichen Liebe zur Kunst. In der Alten Welt waren die Paläste und die Gemälde Bestandteil der Namen selbst gewesen; die Theaterstücke und Romane waren stilisierte Abbildungen der Spiele, in denen man lebte. Das Bürgertum hat auch eine Kunst dieser Art, zum Beispiel das Boulevardtheater. Um an ihr Gefallen zu finden, muss man sich aber mit den schlechten Spielen zufriedengeben, auf die die Wirklichkeit beschränkt ist. Der Bürger, der gute und schlechte, große und niedrige Spiele unterscheiden kann, sucht in der Kunst, was Madame Bovary in dem ihr ganz und gar unzugänglichen Pariser Leben sucht, die Spiele, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Er träumt, er wäre ein anderer; aber diesen Traum versucht er nicht zu verwirklichen; er sucht in ihm die Wahrheit dessen, was er ist. Eine kleine Erzählung von Merimée, La Vénus d’Ille, macht sehr schön deutlich, was bürgerliche Kunstliebe bedeutet. Es ist eine fantastische Novelle, eine Gattung, für die die Spielregel gilt, dass der Leser sich bereitfindet, Undenkbares für möglich zu halten. Es geht um eine Hochzeit, bei der der Bräutigam sich zugleich einer wirklichen und einer fantastischen Frau vermählt. Die erste ist eine anmutige Bürgerstochter, an der aber nur das Geld interessiert. Durch eine Kette von Umständen erhält die Braut nicht den richtigen, die Tradition der Familie symbolisierenden Ring, sondern nur einen kleinen Reif, den eine Grisette dem Bräutigam nach einem gemeinsam verlebten Karneval geschenkt hatte. Den echten Ring hat der Bräutigam der zweiten Frau, einer wunderschönen, aber böse blickenden Venusstatue, die sein Vater vor kurzem unter einem Olivenbaum ausgegraben hatte, an den Finger gesteckt. In der Hochzeitsnacht legt sich die Venus in das Brautbett und erstickt den ihr angetrauten Mann in ihrer Umarmung. So jedenfalls muss man aus dem Bericht der menschlichen Frau schließen. Der Erzähler ist ein Denkmalspfleger aus Paris, der auf der Suche nach alten Kunstschätzen in die Provinz gekommen ist, ein Mann, der sich für Frauen nicht interessiert und dessen Leidenschaft den Statuen gilt. Man begegnet hier zwei typischen Auswegen, mit denen sich das Bürgertum die Möglichkeit des Begehrens bewahrt. Der leichte ist die Frivolität: Man kann das Spiel des Begehrens spielen, solange nur der Name nicht involviert ist, auf den es ankommt, der des Vertreters des Familienvermögens. Wenn er diesen Namen repräsentiert, sieht der junge Baske in einer Frau nur das Geld; er hätte in ihr auch die Mutter seiner Kinder oder die Geliebte seiner Seele sehen können. Die fantastische Hochzeit mit der Venus bezeichnet, was im Wirklichen unmöglich
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ist: die Begegnung der Geschlechter als ein Spiel, in dem der ganze Name eingesetzt wird. Diese Begegnung muss mit dem Leben bezahlt werden, weil sie mit den Grenzen der bürgerlichen Welt unvereinbar ist. Der Erzähler repräsentiert die hohe Form des Begehrens: Er liebt die Kunst und die Antike, das heißt die Bereiche, wo es Leidenschaft und Begehren gibt, aber als ein Schauspiel auf einer Szene, die man nie betreten kann. Er verachtet die niederen Formen, die die Wirklichkeit anbietet; der Autor hat ihn mit den Insignien der Impotenz ausgestattet: Da er nur die unmöglichen Spiele liebt, spielt er überhaupt nicht. Man kann die Novelle als Darstellung der Konstellation lesen, in der sich die bürgerliche Liebe zur Kunst und zur Alten Welt entwickelt: hier das Subjekt, das für sich keinen Namen hat; dort die Szene, auf der die großen Spiele ablaufen, in denen es alle Rollen zugleich spielen kann. In dieser Konstellation, auf dieser Bühne baut das bürgerliche Subjekt seine Museen, sammelt die Kunst der Welt, versenkt sich in die Kulturen, die es zerstört, rekonstruiert die Geschichten der alten Völker; es schafft ein unüberschaubares Wissen, in dem es selbst nirgends und überall ist, dem es als das ganz andere gegenübersteht. Auch in der Alten Welt brauchte man Geschichten, um zu lernen, wer man ist und was man begehrt. Es ist nicht der Anblick eines schönen Mädchens allein, das die Liebe entdecken lässt; vorher muss der junge Mann die galanten Romane gelesen haben und in den Spielen, die diese beschreiben, sein wahres Begehren wiedererkannt haben. Aber die Alte Welt ist – auch außerhalb der Literatur – voller Geschichten, in denen das Begehren Gestalt finden kann. Der bürgerliche Alltag hat nur noch schlechte Geschichten; was es hier zu erzählen gibt, erweckt nicht Faszination, sondern Widerwillen. Nur in dem, was auf dieser Bühne sich abspielt, in der Literatur, in den Erzählungen von der Alten Welt kann das Subjekt die Figuren suchen, die sein Begehren erfassen. Aber diese Bühne ist nicht wie früher Teil der Wirklichkeit, sie ist – im Fortgang des 19. Jahrhunderts immer eindeutiger – eine „andere Szene“. Nur auf ihr kann man finden, was zu sein sich lohnt. Aber man kann sie nie betreten; mit dem Wissen, das man hier findet, ist mitgegeben, dass man nie spielen, nie wirklich begehren darf.8 In der Kunst lebt der Widerstand gegen das Verbot, zu begehren, das auf dem Bürgertum liegt. Aber da das wahre Begehren immer das unmögliche ist, ist der Künstler in dem System die asketischste Figur. Ob er als Realist zeigt, dass das Begehren die Welt beherrscht, ohne dass diese es weiß, oder ob er in immer
8Wie man sieht, stellt diese Darstellung das vertraute Phänomen der Autonomie der bürgerlichen Kunst in einen neuen Zusammenhang.
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flüchtigen Bildern dessen eigentliche Form zu fassen sucht – er darf nie die vollständige Bewegung der Spiele nachleben, bleibt immer gefesselt an das Begehren nach dem Begehren, in dem es keine Bewegung gibt. Die postmoderne Pluralität der Spiele So provisorisch und im Einzelnen angreifbar diese Skizze auch sein mag, so macht sie doch die Grundform des bürgerlichen Systems des Medialen sichtbar. Einerseits ist die gute Gesellschaft wie die Alte Welt ein Verband von durch ökonomische Positionen definierten Erblinien; andererseits ist die Beziehung der Positionen untereinander durch systemische Mechanismen hergestellt. Daher kann sie nicht wie die Systeme der Alten Welt ihren Bestand legitimieren; es entstehen „zentrifugale“ Legitimationen – die kollektivistischen Ideologien, das Denken der Aufklärung, die Kunst –, die legitimierende Diskussionen ermöglichen, aber zugleich jeweils bestimmte Grundlagen des Systems angreifen, und die mehr oder weniger gut integriert werden können. Aufgelöst wird das System nicht durch innere Widersprüche, sondern durch die einer immanenten Logik folgende Entwicklung der systemischen Mechanismen. Die Kapitalkonzentration und eine Vielzahl sie begleitender Faktoren trennen den Zusammenhang von ökonomischen Einheiten und Erblinien.9 Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein Umbau des Verhältnisses von ökonomischer und medialer Struktur. Von der Ebene des Ökonomischen her ist die neue Form leicht zu beschreiben. Das systemnotwendige Interesse an der Erhaltung der ökonomischen Einheiten wurde in der bürgerlichen Welt dadurch hergestellt, dass der Erhalt des Familiennamens an den Erhalt des Betriebs geknüpft war; und auch von allen höheren Angestellten war eine Identifizierung mit dem Betriebsziel erwartet worden, das die des Eigentümers nachahmt. Weil sich in der bürgerlichen Welt das Wirtschaftssystem mit dem mächtigsten medialen Imperativ, der Bindung an die Namen, verknüpft hatte, trat es als ein mediales System auf, das die Erfüllung von Pflichten anmahnte. Die Lösung dieser Verknüpfung hat die Ökonomie entmoralisiert; der postmoderne Kapitalismus muss und kann ohne das massive Mittel der Identifikation auskommen. Niemand braucht sich mit dem Betriebsziel zu identifizieren; es hat sich als einfach erwiesen, Arrangements zu finden, in denen jeder offen seine eigenen Interessen verfolgen kann und dabei gerade dem Betriebsinteresse dient.
9Das
ist ein oft beschriebener, im Einzelnen komplexer Prozess, der sich über die erste Hälfte unseres Jahrhunderts hinzieht. Eine auf Frankreich bezogene Darstellung findet man bei Haupt (1989): Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, 232–244.
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Für die mediale Struktur bedeutet dieser Prozess zuerst den Verlust des einen Namens. Die Verbindung des medialen Systems mit dem ökonomischen Kreislauf hatte jeden Menschen durch die Gabe einer bestimmten Position an einen einzigen Namen gebunden. Die erste geschlechtliche Gestalt, die die Subjekte in der ödipalen Konstellation finden, öffnet sich auf diesen Namen und wird in ihm bestätigt und angefüllt; durch ihn ist das Subjekt auf das überpersönliche Register der Familienpositionen bezogen, in dem abgebildet ist, was er ist und sein soll, was er getan und was er versäumt hat. Das gilt für die Alte Welt, aber noch der typische Bürgersohn der 1950er Jahre lebt unter dem Blick, der von ihm verlangt, „es zu etwas zu bringen“. Es wäre ihm vielleicht schwergefallen zu sagen, woher dieser Imperativ kommt, und ihn zu begründen, aber er weiß genau, was er bedeutet, er erkennt ihn in den Augen der älteren Generation und der Altersgenossen, und nur die zählen wirklich für ihn, die diesen Imperativ in sich tragen. Der Name, an dem er, vielleicht ohne es zu wissen, am meisten hängt, ist immer noch der, der in dem ständig erneuerten Register der Familien geführt wird: Was ist aus X geworden, wen hat Y geheiratet? Das junge Mädchen braucht nicht durch ihre Kleider auszudrücken, ob sie als Punk oder als junge Dame behandelt werden will; die Einheitsuniform ihrer Schicht bedeutet jedem, in welchem Register er sich zu informieren hat, um zu wissen, wer sie ist. Der Generationenkonflikt der 1960er und 1970er Jahre ist auch die Revolte gegen Eltern, die ihre Kinder verpflichten wollten, obwohl sie nichts zu geben hatten, was sie hätte verpflichten können. Daher waren die Formen dieser Revolte immer noch durch den einen Namen bestimmt, gegen den sie sich wendeten.10 Heute hat eine solche Revolte keinen Grund mehr. Es wird kaum mehr der Versuch gemacht, das Register, für das es kein Medium mehr gibt, durch die Anstrengung von Personen noch aufrechtzuerhalten. An die Stelle des einen Mediums ist eine unübersichtliche Vielzahl von medialen Spielen, von Szenen getreten, die alle gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Die Auswahl der Markenartikel, mit denen man sich umgibt, oder ein geschicktes Karrieremanagement können ebenso als Medium dienen, in dem man einen Namen sucht, wie das Tennisspiel oder wie die Nahrung, die man zu sich nimmt, und die Beschäftigung mit ökologischen Problemen.
10In
den Kommunen, in der Hippiebewegung, in den Psychogruppen war die Revolte gegen einen bestimmten Namen die Revolte gegen die Namen überhaupt, der Versuch, eine Rousseau’sche Welt einzuführen, wo es nur Gefühle und Unmittelbarkeit gibt, wo kein Medium sich zwischen die Menschen schiebt. Auch die typischen politischen Gruppen dieser Zeit hatten den Aufbau, den wir aus Rousseaus Republik kennen und dem wir in Sartres groupe en fusion wiederbegegnen: Sie verlangen, als die einzige namengebende Instanz anerkannt zu werden, setzen gegen den einen falschen den einen wahren Namen. Vgl. hierzu Waltz (1993): Ordnung der Namen, 317 ff., „Die Gruppe als Urszene“.
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Sehr deutlich wird die Auflösung des Registers der Familienvermögen an der Einstellung gegenüber dem Geld. Dass ein Sportler in einem Wettspiel eine Million verdient, wäre in einer Welt, wo das Vermögen die Stellung in einer universalen Hierarchie der Namen festlegt, als Skandal empfunden worden. Heute gilt Sport als mit einem vergleichsweise großen Einsatz gespieltes Spiel; der einfache Aufbau und die Verwendung des Körpers als Medium erlaubten es jedem, es als ein Schauspiel zu genießen. Die Million wird nicht mehr in einem Register der Vermögen eingetragen, durch das die Mitglieder der Gesellschaft in ihrem Rang verglichen werden. Es hat nur Bedeutung innerhalb des medialen Spiels; das Postulat der Übereinstimmung von Besitz und einer gesellschaftlich relevanten Leistung existiert nicht einmal mehr als Norm. Der Zuschauer profitiert von dem hohen Gewinn, denn nur dieser macht das Spiel spannungsreich und zum Schauspiel.11 Der Bürger war zur Askese gegenüber den medialen Spielen gezwungen worden, weil ihn die Sorge um seinen mit der Position im ökonomischen System verbundenen Namen auf den Ort der Welterhaltung festgelegt hatte; die großen Diskurse der Aufklärung und der Kunst hatten diese Askese übernommen. Die Auflösung der Familiennamen hat ihr die Grundlage entzogen. Der massive Druck, der auf der bürgerlichen Welt liegt und der alle ihre Figuren zwingt, als Abwesende zu leben und ihre Anstrengung darauf zu richten, diese Abwesenheit immer wieder zu erneuern, löst sich auf. Es darf und es muss wieder gespielt werden. Das 18. Jahrhundert hatte geglaubt, das alte Gefängnis der Bindung an vorgegebene Namen gesprengt zu haben, aber es hatte ihm nur den sichtbaren Teil seiner Legitimität entzogen. Die Emanzipationsbewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die bürgerliche Welt als ein womöglich noch schlimmeres Gefängnis angesehen; und das mit guten Gründen, denn diese bindet das Subjekt innerlich an Namen, ohne diese Bindung legitimieren zu können. Erst nachdem das Register der Familienpositionen sich aufgelöst hat, sind die medialen Spiele wirklich freigegeben. Die alte Frankfurter Schule hat in ihrer Gegenwartsdiagnose der Zerstörung der bürgerlichen Familienstrukturen ein großes Gewicht gegeben; sie hat sie im Rahmen des Gegensatzes von Individuum/Kultur und kapitalistischer Gesellschaft als Aushöhlung der beiden Widerstandspotenziale verstanden, als Schwächung des Individuums und Kolonisierung der Kultur, als Beginn einer
11Vgl.
den Hinweis bei Russell A. Berman, dass in der Postmoderne „Reichtum und Armut zu gleichwertigen kulturellen Optionen erklärt werden“. Ders. (1987): Konsumgesellschaft, 69.
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allen Widerstand in sich integrierenden eindimensionalen Gesellschaft. Diese Weltuntergangsvision ist berechtigt, wenn man dem Begriff der Welt seinen postmodernen Sinn gibt: Der für die bürgerliche Welt fundamentale Gegensatz von Individuum/Kultur und Wirtschaftssystem löst sich tatsächlich auf. Aber diese Auflösung führt nicht zu einer eindimensionalen Gesellschaft, sondern zu dem neuen Gegensatz von systemischen Mechanismen und medialen Spielen. Die Wirtschaft ist für die medialen Spiele (in der Sprache der Systemtheorie) Umwelt. Zwar entscheidet das Wirtschaftssystem, welchen Spielen es seine Ressourcen als Material zur Verfügung stellt und welche es aushungert. Aber diese Macht ist nur eine äußere Macht.12 Das Wirtschaftssystem kann keine Spiele erfinden; es kann sie nur auswählen, fördern und in dieser Förderung lenken.13 Die beiden Bereiche sind wechselseitig aufeinander angewiesen; und wie sich dieses Verhältnis entwickeln wird, kann niemand voraussehen. Die Alte Welt hat ihre Größe darin, dass man mit den großen Einsätzen spielt, die aus dem Kreislauf mit der Natur kommen, mit Hunger und Not, mit dem eigenen Leben und dem der anderen. Die modernen Spiele sitzen dem ökonomischen Kreislauf nur auf und entnehmen ihm ein begrenztes Spielmaterial. Und da kein Name das Subjekt ganz bindet, haben alle Spiele etwas Unverbindliches; man kann sie auch verlassen. Wenn wir von heute auf die totemistischen Gesellschaften mit ihren merkwürdigen Unterscheidungen und auf das System der Rache schauen, so sehen wir die Künstlichkeit der alten Konstruktionen. Und vor dem Hintergrund der modernen Alternative erscheint das Prinzip der Alten Welt, die Verwendung des Ökonomischen als mediales Material, als eine Erfindung. Aber das eine große Medium mit seiner Verankerung in der Bedürftigkeit des Organismus hatte den Effekt produziert, dass das Medium als etwas
12Wenn
in der marxistischen Tradition gegen die bürgerliche Vorstellung der Selbstbenennung immer betont wird, dass die Ökonomie den Menschen in seinem Kern festlegt, das heißt benennt, dann ist das im Prinzip richtig – aber eben nur innerhalb des bürgerlichen Systems. Der einzige marxistische Denker, der diese Grenze überschritten, die Ökonomie als rein systemischen Mechanismus beschrieben und die strukturelle Autonomie des Medialen (in seiner Sprache: der Ideologie) erkannt hat, ist Althusser – eine Erkenntnis, die sich der Auseinandersetzung mit Lacan verdankt. 13Darin hat es sich als erfinderisch erwiesen; ein oberflächlicher Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, in welchem Ausmaß Spiele, Motive, Persönlichkeitstypen, die früher – weil sie dem der bürgerlichen Ökonomie immanenten Moralismus widersprechen – als „unmöglich“ gegolten hatten, heute in das ökonomische System integriert sind und in ihrem produktiven Potenzial ausgenützt werden. Ein bekanntes Beispiel ist die Entwicklung des Personal Computer und die Geschichte der Firma Apple.
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erscheint, gegenüber dem es keine Alternative gibt, den Wirklichkeitseffekt. Die Abkopplung von der Ökonomie und die Vielfalt der Medien und Register schwächen diesen Effekt ab. Die Verwandlung der Wirklichkeit in ein Feld der Spektakel und der Simulation ist einer der am meisten diskutierten Züge der Postmoderne. Das eindrücklichste Beispiel ist das der Kriegsberichtserstattung. Man hat – sicher mit Recht – gesagt, dass die während des Vietnamkriegs am Fernsehen gezeigten Szenen von Kampf und Zerstörung von den Zuschauern wie Spielfilme rezipiert wurden, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion sich verwischte. Im Golfkrieg haben die kriegführenden Parteien die Inszenierung dieses Spektakels in eigener Regie übernommen.14 Gewöhnlich werden diese Dinge der neuen Macht der audiovisuellen Medien zugerechnet, die vor die Augen der Zuhörer eine Welt von Bildern schieben, die die Wirklichkeit nicht mehr darstellt, sondern ersetzt. Das ist sicher zu einem Teil richtig. Aber auch bei ihren radikalsten Vertretern wie Jean Baudrillard steht im Hintergrund dieser Theorie der alte Begriff der Wirklichkeit: die Vorstellung, es hätte früher eine Wirklichkeit gegeben, die etwas anderes ist als ein System von Symbolen und die heute verloren ist.15 Seit Menschen miteinander kämpfen, bestand die Darstellung der Kämpfe aber immer schon aus Geschichten, das heißt aus Inszenierungen. Geschichten sind dann Darstellungen der Wirklichkeit – von Fiktionen unterschieden –, wenn die Zuhörer sich selbst in der von ihnen eröffneten Welt als benannte Personen situieren; die in jeder Erzählung mitgegebene Interpretation erscheint dann als Abbild eines vorgegebenen Wirklichen, wenn das System der Benennung die dargestellten Menschen und die Zuhörer zugleich benennt und die Bedeutung der Handlungen und Ereignisse für beide nach den gleichen Regeln festlegt. Die Toten eines Krieges fragen den Zuschauer nach dem Namen, der ihnen gemeinsam ist. Wenn der Zuschauer einen solchen Namen nicht besitzt, dann zerfällt das Ereignis in eine Faktizität, die gar nichts bedeutet, nicht einmal die Absurdität des Todes, und in eine Vielzahl von Fiktionen, die über dem Wirklichen schweben und es nie erfassen können. Darin hatte das Gespenstische in der Diskussion über den
14Man
hat die Kontrolle der Berichterstattung oft darauf zurückgeführt, dass „der Vietnamkrieg im Fernsehen verloren wurde“, was der obigen Analyse widerspricht. Sicher ist beides richtig. Für die ganze Postmoderne-Diskussion ist typisch, dass die statistische Relevanz der hervorgehobenen Phänomene überzogen wird, was im Übrigen ihre Bedeutung nicht unbedingt herabsetzt. 15Auf diesen Widerspruch weist Peter Bürger hin. Vgl. Bürger (1987): Der Alltag, die Allegorie und die Avantgarde, 211.
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Golfkrieg seine Ursache. Die Hauptanstrengung der Diskutanten ging darauf, die gemeinsame Ordnung der Bedeutungen zu finden, in denen er sich selbst und die Opfer des Kriegs situieren könnte. Die Verschiedenartigkeit der Angebote – und vor allem die Tatsache, dass diese sich auch nicht als Gegensätze aufeinander beziehen lassen – macht deutlich, dass niemand mit den Toten einen Namen gemeinsam hat, dass sie in der Dimension ökonomischer und strategischer Kalküle verschwinden. Den offiziellen Inszenierungen kann man nur andere Inszenierungen entgegensetzen, die ebenso wenig auf eine gemeinsame Wirklichkeit durchgreifen.16 Solange die Ökonomie benennt, sind alle Kriege Kriege der Namen; wenn sie nur noch ein systemischer Mechanismus ist, an den sich verschiedenartige Spiele anhängen, dann entstehen die Effekte, die Worte wie Simulation oder Spektakel bezeichnen. Die Tendenz zur Übertreibung, die für die Postmoderne-Diskussion bezeichnend ist, macht zwar die Phänomene sichtbar, verdeckt aber ihre Grenzen und ihre wirkliche Gestalt. Dass Welten symbolische, zu einem Teil willkürliche Konstruktionen sind, ist nichts Neues; und immer schon sind die willkürlichen Namen auch todbringende Namen gewesen. Neu ist nur, dass es kein gemeinsames Medium für die Namen mehr gibt. Wenn, wie im Golfkrieg, heterogene Spiele sich über einem systemischen Mechanismus treffen, so werden sie gewissermaßen von der Seite sichtbar und der Widerspruch zwischen ihrem willkürlichen Charakter und ihrer zerstörerischen Macht tritt voll zutage. Die Alte Welt hatte den Neugeborenen mit einem Namen empfangen. Dieser Name ist in der Gestalt, die in der ödipalen Konstellation erworben wird, schon angelegt und wird in der Initiation bestätigt und erweitert. Für den Bürger, der die Bindung an das Familienvermögen nicht akzeptiert, der sich seinen Namen selbst wählen will, bedeutet die Initiation die Ablehnung dieses ersten Namens. Er hat einen Namen, der in einem Register verzeichnet ist, und er hat die Gewissheit, unter einem Blick zu stehen, der sein Leben aufmerksam verfolgt – so wie die Turmgesellschaft die Entwicklung von Wilhelm Meister aus dem Verborgenen begleitet. Und weil er in der Ablehnung dieses Namens sich selbst findet, hat er
16Das
ist eine verkürzte Darstellung. Schon in Zolas Buch über den Ersten Weltkrieg und in allen späteren Antikriegsromanen wird beschrieben, dass die Soldaten nicht in den patriotischen Namen sterben, die die offizielle Rhetorik zelebriert. Aber der Autor und der Leser können die Toten benennen: als sinnlose Opfer. Sie wissen, dass kein Name das Opfer eines Lebens verlangen kann; und zugleich kennen sie den Kampf, der ein solches Opfer doch rechtfertigen würde, den für eine Welt, die es nicht mehr verlangt. Es ist der Verlust des Orts dieses Wissens, der heute die Interpretationen in Fiktionen verwandelt.
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zugleich das Bewusstsein, sein eigener Erzeuger zu sein. Die in dem abgelehnten Namen enthaltenen Ansprüche kann er bejahen; sie sagen ihm, was er zu suchen hat; da er sie gewählt hat, versteht er ihre Erfüllung als Selbstverwirklichung. Zugleich einen Namen zu besitzen und die Macht, ihn abzulehnen – das ist die Grundlage, auf der das bürgerliche Individuum seine Selbstgewissheit und das Gefühl seiner Autonomie aufbaut. Für das postmoderne Subjekt erweist sich der ödipale Name als leer; in seiner „Initiation“ lernt es, dass niemand es anschaut; es sind ihm weder Schuld noch Forderungen mitgegeben, nur der eine große Wunsch nach Welt und einem Namen. Die Postmoderne befreit von dem Druck der vorgegebenen Namen, aber sie baut in die Wirklichkeit eine neue Angst ein, die Angst, keinen Namen zu haben, von niemandem gesehen zu werden und nichts zu bedeuten.17 Bisher war die fundamentale Opposition, die das Feld der Namen strukturiert, die von falschen und wahren Namen; darum ging es in der Diskussion zwischen dem Imperativ der Ehre und dem christlichen Glauben; darum ging es in der Auseinandersetzung zwischen dem Bürger, dem Aufklärer und dem Künstler. In der Postmoderne ist die fundierende Opposition die von Namen und Namenlosigkeit; in dieser Opposition sind zuerst einmal alle Namen gut. Den Effekt, den Begriffe wie die „Agonie des Realen“ beschreiben, haben wir oben mit der Pluralität der Welten in Verbindung gebracht; von einer anderen Seite her ist er verbunden mit der Wandlung des Verhältnisses des Subjekts zu seinen Namen. In der bürgerlichen Epoche ist die Position des welt- und namenlosen Subjekts – die Position, von der aus dieses Buch geschrieben ist – marginal; typisch ist das Individuum, das über einen Namen verfügen kann. Jetzt ist die Namenlosigkeit ein Moment des normalen Initiationswegs. Für das namenlose Subjekt sind aber Welten nicht die selbstverständlich gegebene Form des Wirklichen; sie erscheinen, wie wir sie hier beschreiben: als Spiele. Reale Spiele und Fiktionen liegen sehr nahe zusammen. Das weltlose Subjekt sieht in den fremden Welten Spiele, die es faszinieren und in die es sich genauso hereinziehen lassen kann wie in Fiktionen. Wirklichkeit gibt es nur für Personen, die an eine Welt gebunden sind; sie entsteht in der Unterwerfung unter den Dritten. Der Eindruck, dass die Postmoderne eine Sphäre der Simulation und des Spielens ist, hat noch einen weiteren Grund. Viele der zeitgenössischen Szenen liegen in der Dimension des „Alles oder nichts“ und des narzisstischen Prestiges
17Unsere
neurotischen Autoren konnten in der Ablehnung der Namen leben, weil sie mit ihr das verwirklichten, was in dem System der schlechten Namen, auf das sie sich stützten, als Anspruch angelegt war. In der Postmoderne gibt es nichts, worauf man sich stützen kann.
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und operieren mit den Verfahren der Cliquenbildung und des Ausschlusses.18 Diese Mechanismen binden die Subjekte nicht über Schuld und anerkanntes Begehren, sie stellen sie nicht einem Namen gegenüber, den sie bejahen können. Auch wenn sie institutionalisiert sind und mit einem „harten“ medialen Material arbeiten, bleiben es doch „Spiele“ in dem Sinn, wie Sartre dieses Wort verwendet, Inszenierungen, die das Gefühl des Wirklichen nie ganz erzeugen können. Diese Dimension ist unter den Stichworten des Narzissmus19 oder der „Tyrannei der Intimität“20 ausgiebig diskutiert worden. Die positiven Gegenbegriffe sind dabei immer der bürgerlichen Welt entnommen; daher haben alle diese Schriften etwas von einer konservativen Kulturkritik, die den Verfall der Werte beklagt. Das mediale System als weltenerzeugendes hat aber in sich eine ethische Struktur; es kritisiert sich ununterbrochen selbst. Der Standpunkt der Kritik ist in der medialen Vernunft gegeben, man braucht ihn nicht in einer ihrer vergangenen Realisierungen zu suchen.21 Aber der Kern der postmodernen Erosion des Wirklichen, die Bedingung von allem bisher Genannten, ist das Ende der Herrschaft des einen Mediums in seiner Funktion als Register oder Gedächtnis. Das eine und unfehlbare Gedächtnis der Ökonomie schlägt durch die ganze Vielfalt der Spiele hindurch und erlaubt es, sie als einen idealistischen Überbau zu behandeln und sie auf den harten Kern von ökonomischer Macht zu reduzieren. Auf diesem festen Boden ruht der naive und mächtige Zugriff der bürgerlichen (inklusive der marxistischen) Geschichtsschreibung, für die die Geschichte der Alten Welt eine Geschichte der Macht und deren struktureller Bedingungen ist. Solange die Ökonomie benennt, ist sie auch in der medialen Dimension, wie der Marxismus sagt, die Basis, und alles andere ist Überbau. Das mediale System der Postmoderne produziert regionale Gedächtnisse, die selbst vergänglich sind. Das Register der Ökonomie bewahrt von jedem Menschen eine Spur, auch wenn diese Spur von keinem menschlichen Gedächt-
18Anm.
der Hrsg.: Die Rolle der Clique in der Gegenwart hat Waltz in späteren Texten ausgeführt. Vgl. hierzu vor allem Abschn. Über die Kultur des School-shooting als symptomatisches Phänomen aktueller Schülerkultur und Zwei Topografien des Begehrens: Pop/ Techno mit Lacan. 19Vgl. Ziehe (1984): Pubertät und Narzissmus; Lasch (1988 [1979]). Das Zeitalter des Narzissmus. 20Sennett (1983 [1974]): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. 21Die Diskussionen, die die genannten Schriften ausgelöst haben, zeigen, dass sie selbst Moment einer solchen Kritik sind. Die der Vergangenheit entnommenen Ideale verwandeln sich von selbst, wenn sie auf die Gegenwart bezogen werden.
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nis festgehalten ist. Heute sind diese Register selbst sterblich. Die Endlichkeit der Spiele, in die wir selbst verwickelt sind, vergessen wir notwendigerweise. Aber die der Spiele der anderen sehen wir. Wir können nicht umhin zu wissen, dass alle Spiele endlich sind. Die Wirklichkeit hat Grenzen bekommen, auch wenn man diese Grenzen nicht sehen kann. Eine Wirklichkeit mit Grenzen hat aber einen Schleier von Unwirklichkeit. All das bedeutet aber nicht, dass in der Postmoderne eine Tendenz angelegt ist, die die Wirklichkeit zunehmend in Spektakel verwandeln würde. Weltlosigkeit ist ein seltener, wenn auch wichtiger Moment des typischen postmodernen Lebenslaufs; das Alltägliche bleibt die Bindung an die Welt. Die narzisstischen Spiele sind eine Form unter anderen. Wer in Spiele verflochten ist, vergisst die Sterblichkeit des medialen Gedächtnisses. Allerdings wird die Wirklichkeit zu etwas, das auch fehlen kann; die Gegensätze von Welt und Nicht-Welt, von bindenden und narzisstischen Namen werden zu fundamentalen Oppositionen. Das Subjekt der Alten Welt war durch die Gabe des Namens an ganz bestimmte mediale Spiele gebunden, das postmoderne Subjekt ist an nichts gebunden, aber es ist – in einer unbestimmten, aber nicht weniger drängenden Weise – von den Spielen abhängig (und weiß es), weil es keinen Namen hat und sein erster Wunsch sein muss, einen Namen zu finden. Der Aufklärer gewinnt seine Souveränität gegenüber dem Medialen dadurch, dass er zwischen den beiden Positionen steht. Er hat einen Namen, den er ablehnt; er hat ihn in sich und sieht ihn als Grundlage der Welt, die ihn umgibt. Daher hat er die moderne Freiheit gegenüber den Namen, ohne ihren Preis zu zahlen: die Namenlosigkeit und die Abhängigkeit, die diese notwendig schafft; er kann sich als autonomes Individuum erleben. Diese Position erlaubt ihm, sich an dem Ort der Welterhaltung einzurichten und hier seine weltbeherrschende Vernunft auszuarbeiten, das Verhältnis zu den Dingen auf das Bedürfnis, das zu den Mitmenschen auf das Interessenverhältnis und das Gefühl zu reduzieren. Dieses Individuum löst die Postmoderne auf. Das heißt nicht, dass die Fähigkeit, Welten vom Standpunkt der Erhaltung und des Interesses aus zu sehen, verlorengegangen wäre. Im Gegenteil, sie hat sich verbreitet und hat nicht mehr den Charakter eines Klassenprivilegs. Aber die Subjekte des Erhaltungsinteresses sind nicht mehr die vernünftigen Individuen, sondern die medialen Spiele. Damit stellt sich ein neues Problem. Die mediale Ethik und die der Welterhaltung sind im Prinzip unvereinbar, wenn sie sich auch in einzelnen Zielen treffen können. Man kann es mit guten Gründen als Skandal empfinden, wenn in einem Spiel, in dem Einladungen und Feste das Medium bilden, für ein Essen ausgegeben wird, wovon an einem anderen Ort der Erde jemand ein Jahr leben könnte. Aber wenn man von dem, der die Einladung gibt, verlangt, daraus die
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Konsequenzen zu ziehen, dann heißt das nicht, dass er auf ein Vergnügen verzichtet, sondern dass er seinen Namen verschenkt; denn die Einladung ist ein Teil des medialen Spiels. Die Welterhaltung zum Inhalt des Lebens zu machen, verlangt das Opfer der Namen. Die Alte Welt hatte der medialen Ethik das Primat gegeben, das Bürgertum hatte diese insgesamt als primitiv, kindlich und vernunftlos verurteilt. Heute ist ersichtlich, dass das Leben-in-der-Welt der Welterhaltung vorausgeht, wenn es diese auch voraussetzt. Wie sich dieses widersprüchliche Nebeneinander organisieren wird, kann man nicht voraussagen; zumindest kann man es richtig beschreiben. Ebenso wie dem Denken der Aufklärung werden auch der Kunst die Fragen entzogen, auf die sie geantwortet hatte. Das postmoderne Subjekt ist nicht mehr das (benannte und seinen Namen ablehnende) Individuum, das die Frage verfolgt, was es eigentlich begehrt; es ist das leere Subjekt, das Spiele sucht. Die Gebilde, in die sich die bürgerliche Literatur versenkt, die gleichzeitig Träume und die Wahrheit des verbotenen Begehrens sind, sind jetzt nur noch – schwierige und mühsame – Träume; es ist niemand mehr da, dem sie die Wahrheit sagen. Wie in der Alten Welt sind es wieder die wirklichen Spiele, auf die es ankommt; man kann und muss wieder spielen, daher kann man auch wieder erzählen. Aber die Erzählungen der Alten Welt lagen in einer dem Leser und den Personen der Handlung gemeinsamen Welt, einem hierarchisch aufgebauten System von Spielen. Die gemeinsame Welt ist jetzt leer, eine Welt, die nicht bindet, eine Sammlung von Interessen und Spektakeln. Der Schriftsteller, der die bindende Welt seiner Gestalten darstellen will, findet ein ganz spezifisches, partikuläres System von Spielen. Indem er erzählt, muss er gleichzeitig die Struktur der medialen Spiele selbst entwickeln, in denen sich die Wirklichkeit der Personen artikuliert, in denen diese Wünsche, Ängste, Zukunft und Vergangenheit finden. In einer solchen Seitenansicht auf eine fremde Welt hat alles eine Bedeutung und das Ganze bedeutet nichts. Man sieht nur Zeichen, die auf Zeichen verweisen; und dahinter steht keine Wirklichkeit. Wie die Literatur die Erzählung von Erzählungen ist, die den Subjekten ihre wirkliche Zukunft und Vergangenheit geben, so ist die bildende Kunst Abbildung von Gegenständen, die die Subjekte füreinander vertreten, und schafft selbst solche Gegenstände. Ein Ensemble der Alten Kunst wie das Schloss von Versailles – die Parkanlagen, die sich auf das Land öffnen und ihm das Zentrum geben, die Statuen, Gemälde und Möbel – repräsentiert, was der König besitzt und die anderen begehren; zugleich stellt es in den Gegenständen die transzendente Ordnung dar, durch die der König und seine Untertanen ihre Namen haben; wenn er es für einen Moment vergäße, jedes Ding und
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jede Perspektive würde Ludwig sagen, in welcher Reihe er der Vierzehnte ist.22 Das historistische 19. Jahrhundert hatte diese Funktion vor allem der Architektur in einer problematischen Weise noch einmal nachgespielt. Der ganzen klassischen Moderne ist die Feindschaft gegen die Dimension der Repräsentation gemeinsam. Für die Architektur ist der Mensch nicht mehr ein Name, der sich auf andere Namen bezieht, sondern ein Punkt im Raum oder der Träger einer funktionalistisch gedachten, arepräsentativen Objektbeziehung; der Raum ist nicht mehr die Vergegenständlichung der Ordnung der Namen, sondern geometrischer oder Funktionsraum. Die Ablehnung der Vertretung der Namen durch die Dinge ist die Scheidelinie, die den für die Moderne fundamentalen Schnitt zwischen hoher und Trivialkunst markiert. Wenn man aber an dem Ort der Leere steht – der zum Beispiel für Warhol der Ort ist, an dem er sich zu Hause fühlt23 –, dann ist alles gut, was Namen gibt, „Comics, Picknicktische, Herrenhosen, Berühmtheiten […] – die ganzen tollen modernen Sachen, die die abstrakten Expressionisten mit aller Kraft ignorierten“.24 Die klassische Moderne (für die bei Warhol die abstrakten Expressionisten stehen) hatte in den Dingen noch die Wahrheit der Namen gesucht und die spontan entstandene kapitalistische Medialität „mit aller Kraft ignoriert“. Wenn es nicht mehr auf die Wahrheit, sondern auf die Spiele ankommt, kann man diese Anstrengung fallen lassen. Alles ist willkürliches mediales Spiel, das heißt Kunst. Man kann nicht sagen, „wo das Künstliche aufhört und das Wirkliche anfängt“.25 Ein Kaufhaus ist eine Art Museum, GeldMachen ist Kunst, Warhol ist ein Business-Künstler, spielt das Spiel des GeldMachens.26
22Diese
Kunst setzt in Szene, was in der Organisation der Ökonomie schon nicht mehr unmittelbar ablesbar ist. 23„Das beste ist, wenn man an nichts denkt […]. Sehen Sie, nichts ist aufregend, nichts ist sexy, nichts ist nicht peinlich. Das einzige, was ich jemals sein möchte, ist außerhalb einer Party, so daß ich hineingehen kann.“ McShine (1989): Andy Warhol Retrospektive, 456. Auf dieses Buch beziehen sich die folgenden Seitenangaben im Text. Im Buch findet man auch die genauen Quellenangaben. 24Ebd., 453. 25Ebd. 26Ebd., 453, 450. Wenn man den Modernisierungsprozess in medialen Kategorien fasst, müsste man auch die gängigen Anschauungen über die Entwicklung der Kunst entsprechend umarbeiten. Das ist hier nicht geschehen; ich habe die Literatur nur verwendet, soweit sie Zugang zu der medialen Organisation der Wirklichkeit gibt. Daher bleiben die Aussagen über die Kunst selbst notwendig auf der Ebene von Andeutungen.
Das bürgerliche System des Medialen und seine postmoderne …
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Postmoderne und Theorie des Medialen Das Denken der Aufklärung beginnt mit dem Gegensatz von schlechter (ungerechter, entfremdeter) und guter (gerechter, durchsichtiger) Welt. Wir haben die Differenz von Welt und Nicht-Welt an den Anfang gesetzt und die Frage, wie sich Träume in Wünsche verwandeln, was die Subjekte an eine Position in der Welt in der Weise bindet, dass es, wenn es „ich“ sagt, diese Position meint. Die Antwort haben wir in dem Begriff des Tauschs gefunden, wie ihn Mauss und Lévi-Strauss als das vergesellschaftende Prinzip der Alten Welt dargestellt haben. Tausch ist dabei nicht die Beziehung zwischen zwei Personen mittels eines Dings, sondern das Schema, in dem Subjekte als Tauschende zu Personen und Materielles als Gegenstand des Tauschs zu Dingen werden, in dem die Subjekte sich materialisieren und das Materielle sich personalisiert. Der Tausch ist das Gesetz, das den Dritten produziert, von dem aus das Subjekt sich als Mensch unter Menschen sieht und das die Gegenwart der Dinge hinter der Ordnung von gegenständlichen Symbolen verschwinden lässt, aus der eine Welt besteht. Das Tauschschema funktioniert nur, wenn es in einem Material seinen medialen Körper findet, wobei, bezogen auf das Schema, die Wahl des Materials willkürlich ist. Die Alte Welt hat den Kreislauf der biologischen Reproduktion als mediales Material verwendet, als Position im Tausch und überindividuelles Tauschsubjekt die Abstammungslinie festgelegt und die Geschlechterbeziehung über den Unterschied von Tauschenden und Werten definiert. Aus dem Untergang dieses Systems bewahrt das Bürgertum einen grundlegenden Zug, die Definition der ersten Namen über die Abstammungslinie, die ihrerseits durch die Position im ökonomischen Kreislauf bestimmt ist, und damit das Verhältnis von Vater und Sohn als ein Verhältnis von Gabe und Verpflichtung. Durch dieses Verhältnis, den Ödipus, beschreibt Sigmund Freud den Zugang des Kindes zur Welt. Bei Lacan wird klar, dass es der Name des Vaters ist, auf den es dabei ankommt; was entscheidet, ob ein Kind den Weg der Psychose oder der Normalität geht, ist die Beziehung zu diesem Namen und zu dem Gesetz, in dem er sich herstellt.27
27Dass
in der bürgerlichen Welt das Vater-Sohn-Verhältnis zum Zentrum des medialen Systems geworden ist, sieht man unter anderem auch an der umfangreichen Diskussion über die „vaterlose Gesellschaft“. Zur Diskussion in Frankreich vgl. Stork. Hrsg. (1974): Fragen nach dem Vater. In der neueren Forschung siehe auch Gruber und Ziemann (2009): Die Unsicherheit der Väter.
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Das Bürgertum bewahrt die Grundlage der Alten Welt als etwas, was man nicht bejahen kann und dem der Zugang zu der Vernunft der Erwachsenen versperrt wird. Damit entsteht jene einzigartige – gleichzeitig reale und illusionäre – Souveränität gegenüber dem Medialen, die Herrschaft über den Kreislauf der Bedürfnisse mit der Natur, die erlaubt, die Dinge in der Welt in der massiven Weise umzugestalten, die man kennt. Diese Umgestaltung ergreift schließlich die Grundstrukturen der Welt selbst, löst die fundamentale Identifikation mit dem Familiennamen, trennt die Bindung der Welt an das eine Medium, raubt den bürgerlichen Diskursen die Grundlage, die ihnen ihre verborgene Einheit gegeben hatte, und schafft die postmoderne Pluralität der Spiele. Damit ist dem Tauschschema sein alter Körper genommen; in seiner ordnungsgemäßen Form und vor allem auch in seinen „perversen“ Varianten, den Spielen des „Alles oder nichts“, kann es jetzt seine generative Potenz entfalten. Die Sexualität hat die Bindung an die Fortpflanzungsfunktion durch die Aufgabe, Vertreter der Positionen und Werte zu erzeugen, die ihr die alte Inkarnation des Tauschschemas auch noch in der bürgerlichen Epoche aufgezwungen hatte, abgestreift und dient als Material für die vielfältigsten medialen Spiele. Jugendliche, die keinen Zugriff auf die Ressourcen des ökonomischen Systems haben, finden die aus der Alten Welt bekannten, zugleich billigen und starken Spiele von Ehre, Rache und Tod wieder. Auch dort, wo die Ökonomie Einsatz fordert und Prämien abgibt, sind die Verhältnisse grundsätzlich nicht anders: Geld, Erfolg, die Arbeit selbst werden in mediale Spiele eingebaut, die teils naturwüchsig entstehen, teils als „Firmenkulturen“ entwickelt und gepflegt werden.28 Auch in der bürgerlichen Welt gab es nicht nur die Konkurrenz der Namen innerhalb eines Mediums, sondern die Konkurrenz der Spiele untereinander, etwa der Namen, die in der Wirtschaft, und derjenigen, die in der Kultur entstehen. Diese Konkurrenz ruhte auf der Grundlage der gemeinsamen, wenn auch widersprüchlichen Ansprüche; es ging um die Wahrheit der Namen, wobei jeder Name sich auf ein Wahrheitsmoment berufen konnte, das der andere ausschließen musste. Die Konkurrenz der Spiele hinsichtlich der Namen, die sie zu vergeben haben, liegt jetzt nicht mehr in der Dimension einer Wahrheit; die Spiele stehen unverbunden nebeneinander; was die Qualität eines Spiels ausmacht, ist zuerst die „Spielförmigkeit“ selbst, das heißt die Organisation einer Tätigkeit in der Struktur von Einsätzen, Proben und Prämien, dann der Umfang der Ressourcen, die zur Verfügung stehen. 28Anm. der Hrsg.: Waltz hat diesen Gedanken in den vergangenen Jahren in seinen Überlegungen zur Organisation in der Gegenwart weiterentwickelt. Vgl. hierzu Abschn. Diffuses Nichtwissen in die Form artikulierter Fragen bringen … Interview mit Matthias Waltz.
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Der Versuch, den Modernisierungsprozess mit medialen Kategorien zu beschreiben, hat zu einem Verständnis der Postmoderne als Abschluss dieses Prozesses geführt. Damit haben wir uns in einem Kreis bewegt, in einem gewissen Maß war dieses Ergebnis in dem Anfang schon mitgesetzt. Die Phänomene, die unter dem Ausdruck „Postmoderne“ beschrieben werden, bezeichnen einen Bruch, der im Kern die mediale Organisation der Wirklichkeit betrifft und also nur mit einer Theorie des Medialen erfasst werden kann – das ist die These, die ich hier entwickelt habe.29 Und umgekehrt enthält schon die Vorstellung, es solle eine Theorie des Medialen geben, eine historische Voraussetzung: Man muss das mediale Material als willkürlich ansehen, das heißt, man muss den Bereich des einen Mediums verlassen haben – ganz und gar verlassen, und nicht nur, wie die Aufklärung, verneint und in der Verneinung bewahrt.30 Was ich hier Postmoderne nenne, ist zunächst nichts anderes als der Ort, von dem aus die mit dem Begriff des Medialen gefasste Beschreibung des Modernisierungsprozesses entworfen ist. Die Tatsache, dass auf diesem Weg der Entwurf einer historischen Theorie des empirischen Phänomens „Postmoderne“ entsteht, zeigt allerdings darüber hinaus, dass die mediale Begrifflichkeit „greift“, dass die Setzung, mit der wir begonnen haben, ein guter, das heißt ein wirklichkeitserschließender Anfang war. Historische Theorien der Postmoderne gibt es nur auf der Grundlage des Denkens der Aufklärung;31 eine postmoderne Theorie der Postmoderne, die an Reichweite mit den klassischen Rekonstruktionen des Modernisierungsprozesses vergleichbar ist und die das in diesen entwickelte Wissen aufnimmt, gibt es nicht. Das hängt sicher zusammen mit einer Theoriefeindlichkeit, die die Postmoderne in Reaktion auf die aufklärerischen Formen der Theoriebildung entwickelt hat.
29Das
fundamentale Problem, dass eine Erscheinung wie die Postmoderne theorieabhängig ist, das heißt je nach dem von dem Betrachter gewählten Anfang erscheint, verschwindet oder verschiedene Gesichter zeigt, ist meines Wissens noch nie diskutiert worden, auch nicht von Luhmann, der doch solche Überlegungen in die Gesellschaftswissenschaften eingeführt hat. 30Die Abfolge dieser drei Etappen formuliert Lacan folgendermaßen: 1) Es gibt einen Gott. 2) Gott ist tot. Diese Formel bewahrt die Anwesenheit des negierten Gottes. 3) Lacans eigene Formel: Gott ist unbewusst. (Er existiert als Effekt des symbolischen Gesetzes, aber nichts in der Wirklichkeit stützt ihn.) Vgl. Lacan (1973): Le séminaire livre XI [1964], 58. 31So das Buch von Jameson (1991): Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism.
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Diese Frontbildung ist aber ganz provisorisch; natürlich kann es umfassende postmoderne Theorien geben; deren Aufbau folgt allerdings spezifischen und neuen Regeln. Sie müssen den Glauben an die Natürlichkeit oder die Einheit der Welt32 aufgeben, also die unmittelbare Verbindung zwischen Subjekt und Sinn, wie sie in den Begriffen des Bedürfnisses oder der Intentionalität gegeben sind, auflösen und nach den sinnproduzierenden Systemen suchen. Geschichte kann nicht als Folge von Ereignissen und Entwicklungen innerhalb der einen gemeinsamen Welt, sondern nur als Geschichte von Welten und weltbildenden Strukturen beschrieben werden. Und postmoderne Theorien dürfen nicht versuchen, ihre Selbstbezüglichkeit aufzulösen; sie wissen, dass sie die Setzung, mit der sie begonnen haben, nie einholen können. Diese Setzungen artikulieren die gesamte Wirklichkeit; daher sind es totale, aber keine universalen Theorien. Das heißt auch, dass es viele Theorien der Postmoderne geben muss. Was ich hier in Anknüpfung an Mauss, Lévi-Strauss und Lacan ausgearbeitet habe, ist situiert und begrenzt. Erst wenn es viele Theorien geben wird, kann im Widerstreit33 zwischen ihnen eine neue Ordnung des Wissens entstehen.34
Literatur Berman, Russell A. 1987. Konsumgesellschaft. Das Erbe der Avantgarde und die falsche Aufhebung der ästhetischen Autonomie. In Postmoderne. Alltag, Allegorie und Avantgarde, Hrsg. Christa Bürger und Peter Bürger, 56–71. Frankfurt a. M. Bürger, Peter. 1987. Der Alltag, die Allegorie und die Avantgarde. Bemerkungen mit Rücksicht auf Joseph Beuys. In Postmoderne. Alltag, Allegorie und Avantgarde, Hrsg. Peter Bürger und Christa Bürger, 196–212. Frankfurt a. M.
32Ich
habe hier immer gegen den Begriff der „Lebenswelt“ „Welten“ im Plural genommen und als signifikante Organisationen behandelt. Damit stellt sich natürlich das Problem, dass man auf einen übergreifenden Weltbegriff offensichtlich nicht verzichten kann, aber es stellt sich in einer neuen Weise. 33Diesen Begriff verwendet Lyotard, um das Verhältnis von Sprachfiguren zu beschreiben, zwischen denen es keine gemeinsame Wahrheit gibt. 34Foucaults Geschichtsschreibung, die ein solches Programm als erste ausgeführt und theoretisch begründet hat, ist der Vergangenheit, der durch die Dispositive der Disziplin und des Geständnisses charakterisierten Moderne, zugewendet. Die Aktualität erscheint nur als Ort, von dem aus Foucault spricht und den er sich so energisch zu bestimmen weigert.
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Gruber, Malte-Christian, und Sascha Ziemann. 2009. Die Unsicherheit der Väter. Zur Herausbildung paternaler Bindungen. Berlin. Haupt, Gerhard. 1989. Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789. Frankfurt a. M. Jameson, Fredric. 1991. Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham. Lacan, Jacques. 1973. Le séminaire livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse [1964], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Lasch, Christopher. 1988. Das Zeitalter des Narzissmus. München (Erstveröffentlichung 1979). Luhmann, Niklas. 1988. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. McShine, Kynaston. Hrsg. 1989. Andy Warhol Retrospektive. München. Passeron, Jean-Claude, und Pierre Bourdieu. 1964. Les héritiers, les étudiants et la culture. Paris. Sennett, Richard. 1983. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1974). Stork, Jochen. Hrsg. 1974. Fragen nach dem Vater. Französische Beiträge zu einer psychoanalytischen Anthropologie. Freiburg. Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M. Ziehe, Thomas. 1984. Pubertät und Narzissmus. Reinbek bei Hamburg.
Bedingungen der Subjektkonstitution mit Lacan: Moderne und Postmoderne
Ethik der Welt – Ethik des Realen (2001)
Lacans Umarbeitung von Freud entwickelt zugleich ein globales historisches Feld, das in großen Linien die Situierung des Subjekts in der Sprache und im Sozialen skizziert. Die Referenzpunkte dieser Geschichte sind die archaischen Gesellschaften, die antike Philosophie, der jüdische Monotheismus, die Erfindung der modernen Wissenschaft und die Psychoanalyse. Dieses Feld wird in zwei sehr unterschiedlichen Varianten ausgearbeitet, in dem Begriff der symbolischen Ordnung in den frühen Seminaren, als „Ethik des Realen“ im Seminar VII. Gewöhnlich versteht man den Übergang von Phase 1 zu Phase 2 als einen Lernprozess und sieht den frühen emphatischen Begriff der symbolischen Ordnung als durch das Spätere überholt an. Ich möchte im Folgenden die historische Dimension dieses Wechsels herausstellen und zeigen, dass in einer Ausarbeitung, die beiden Phasen ihr Recht lässt, eine bedeutsame psychoanalytische Interpretation des ethischen Felds der Gegenwart sichtbar wird. Vom Imaginären zum Symbolischen Man kann das Theoriegebäude von Lacan als einen systematischen, überhistorischen Konstruktivismus beschreiben,1 der sich auf zwei fundamentalen
1In
dieser Hinsicht ist Lacan nur mit Luhmann vergleichbar, der aber in den beiden unten genannten Punkten mit anderen Optionen arbeitet. Es gibt bei ihm nur einen Modus der Weltartikulation und der Intersubjektivität, die Kommunikation. Die Artikulation und Wirkungsmacht des Außersystemischen (des Realen in Lacans Sprache) wird nicht negiert, aber auch nicht beachtet.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_8
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Hypothesen begründet: Erstens unterscheidet Lacan zwei Modi der Weltartikulation und der Intersubjektivität, Bild und Sprache, das Imaginäre und das Symbolische. Zweitens ist das vorsprachliche und außerweltliche Reale als in sich artikuliert und wirkungsmächtig gedacht. In seinem Spätwerk hat Lacan die Verknüpfung dieser drei Seinsmodalitäten in einer topologischen Figur gefasst, dem Borromäischen Knoten. Dieser Knoten ist eigentlich eine Kette, die aus drei Gliedern besteht, eben dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären (wofür Lacan gern die Abkürzung RSI verwendet), die in der Weise verknotet sind, dass jeder Ring die beiden anderen zusammenhält. Was die drei Ringe verbindet, ist jeweils ein Mangel und eine Unterstellung. In keinem Ring können die Probleme, die er jeweils schafft, gelöst werden. Dieser Mangel führt zur Unterstellung, im nächsten Ring läge die fehlende Macht. Aber auch dort kann das Problem nicht gelöst werden; immerhin wird es verwandelt und verweist wiederum auf den nächsten Ring. Lacans eigene theoretische Entwicklung folgt diesem Schema. Am Anfang steht die Theorie des Spiegelstadiums, die Beschäftigung mit dem Imaginären und der Psychose. Das Imaginäre antwortet auf den Mangel im Realen, der – in den frühen Texten – mit der Frühgeburtlichkeit des Menschen und dem Verlust der tierischen Instinktsicherheit erklärt wird. Es antwortet mit der Produktion einer Beziehung, die nur aus Täuschung und zerstörerischer Aggressivität besteht. Das Subjekt identifiziert sich mit dem Bild der Vollkommenheit, das es im Spiegelbild oder im Bild eines anderen Menschen zu erkennen glaubt. Diese Täuschung wird bezahlt mit der Drohung, die die Rückseite des Bildes der Vollkommenheit, das Bild des zerstückelten Körpers, über die Existenz des Subjekts legt, bezahlt auch mit einer fundamentalen Selbstentfremdung: Das in dem Bild gefangene Subjekt kann die in ihm ablaufenden vitalen Prozesse nicht wiedererkennen. Die Beziehung zu den anderen ist gekennzeichnet durch den Wechsel zwischen absoluter Bewunderung und ebenso absolutem Hass: Das Subjekt bewundert in dem anderen, was es sein möchte, und hasst im nächsten Zug in derselben Person denjenigen, der besitzt, was es bewundert. In den ersten Seminaren wird das Symbolische regelrecht zelebriert als die Befreiung aus den Fesseln des Imaginären. Hier entsteht ein Anderer,2 der wirk-
2Lacan
unterscheidet durch Großschreibung den symbolischen Anderen von dem anderen der imaginären Beziehung.
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lich ein Anderer ist. Der andere der imaginären Beziehung antwortet immer von dem Bild aus, als welches das Subjekt ihn entworfen hat. Der symbolische Andere antwortet nicht von der symbolischen Identifikation aus; es ist das Subjekt, das antwortet, und es antwortet mit dem Mittel der symbolischen Identifikation. Lacans Lieblingssatz in diesem Zusammenhang, „Du bist meine Frau!“, bezeichnet nicht – wie zum Beispiel „Du bist mein Ein und Alles!“ – eine Spiegelbeziehung, in die das Gegenüber unvermeidlich in der einen oder anderen Weise einsteigt; in ihm wird eine Erklärung abgegeben, die von dem Gegenüber die Entscheidung verlangt, ob es eine Identifikation übernehmen will oder nicht. Das heißt aber auch, dass sie ihm die Entscheidung freigibt; genau das meint: jemanden als Subjekt ansprechen. Das Symbolische stellt das soziale Band in die Dimension der Wahrheit. Der Beweis, dass man sich in der Dimension der Wahrheit befindet, liegt für Lacan darin, dass jeder weiß, dass der Andere auch lügen kann. In diesem Begriff der Wahrheit geht es weniger um die referenzielle als um die performative Dimension. Wahre Aussagen sind solche, die das Subjekt an seine Rede binden. Darum sind wahres Sprechen und volles Sprechen für den Lacan der ersten Phase synonym; und der Gegensatz zum wahren Sprechen ist eben nicht das Lügen (in dem ja an dem Anspruch der Wahrheit festgehalten wird), sondern das leere Sprechen, zum Beispiel in der wechselseitigen Bestätigung der imaginären Selbstbilder. Wahrheit und Subjekt sind also hier sich wechselseitig bedingende Begriffe. Im wahren Sprechen spricht das eigentliche „Subjekt, das Subjekt hinter den Identifikationen, und eine der Formen dieses Sprechens ist gerade das Sichbinden an Identifikationen.3 Im Folgenden werde ich den Begriff „Wahrheit“ immer in diesem spezifischen Sinn verwenden. Die Wiederaufnahme des Falles Daniel Paul Schreber im Seminar über die Psychosen leitet eine gegenüber den ersten zwei Seminaren weitergehende Ausarbeitung des Symbolischen ein. Das Symbolische wird jetzt nicht mehr nur von dem alltäglichen Imaginären aus als ein Medium der Intersubjektivität gesehen, als das, was ein „volles“, das heißt ein bindendes Sprechen ermöglicht, sondern als der Ausgang aus dem Wahnsinn, als das Prinzip, das die Welt als Welt herstellt. Dieses Prinzip ist die Sprache als „Schatz der Signifikanten“, die Sprache nicht in ihrer benennenden oder ihrer kommunikativen, sondern in ihrer die Wirklichkeit als Welt artikulierenden Funktion. Durch die Einführung der Dimension der Weltkonstitution wird das Feld der Intersubjektivität völlig
3Gewöhnlich
werden in Bezug auf Lacan andere Formen betont: das Sichversprechen, das Vergessen, der Witz, also das Sprechen des Subjekts hinter den sozialen Identifikationen. Das ebenso wichtige Sprechen mit Identifikationen wird häufig übersehen.
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verwandelt. Die fundierende Beziehung ist die zwischen dem Subjekt und der Person bzw. Instanz, die jeweils die artikulierende Funktion der Sprache, das symbolische Gesetz, trägt. Diese Figur des „großen Anderen“ ist zuerst die Mutter, im Durchgang durch den Ödipuskomplex tritt der Name des Vaters an ihre Stelle. Die Wahrheit des sozialen Bandes liegt jetzt primär nicht mehr in einem innerweltlichen intersubjektiven Verhältnis, sondern in dem Verhältnis des Subjekts zur Sprache als konstituierender Macht. Die Theorie des Symbolischen, die Lacan in den Seminaren III und IV entwickelt, ist zentriert um eine Grundfigur: Das Kind, das auf die Liebe der Mutter angewiesen ist, entdeckt in der Mutter etwas jenseits der Liebe, ein Begehren; der Wunsch nach Liebe verbindet sich jetzt mit dem Wunsch, Objekt des Begehrens der Mutter zu sein. Dieses Begehren geht nicht auf ein Objekt oder ein Tun, sondern auf das Sein des Subjekts. Das che vuoi?,4 die Frage, was will der große Andere von mir, bestimmt von dem Moment dieser Entdeckung an die Existenz des Subjekts. Was immer es tut, kann man nur verstehen, wenn man es auch als Antwort auf diese Frage sieht. Dieser generative Basismechanismus öffnet sich im Prinzip auf einen unendlichen Rekurs. Begehren bestimmt sich immer durch die Beziehung auf das Begehren des Anderen. Wenn der Andere (zum Beispiel die Mutter) als begehrend gesehen ist, dann verweist dieses Begehren auf einen Anderen hinter diesem Anderen, und diese Bewegung würde sich fortsetzen. Tatsächlich konstruiert Lacan die Bewegung an ihrem Anfang in dieser Weise. Das Begehren der Mutter verweist auf einen zweiten Anderen, den Namen des Vaters. Aber hier bricht bei dem Lacan der „symbolischen Phase“ die Kette ab. Der Name des Vaters ist – im Anderen als Schatz der Signifikanten – der Signifikant des Gesetzes; er gibt eine Antwort, sagt dem Subjekt, was es ist und was es zu tun hat, das heißt: Er identifiziert es. Damit ist nun allerdings ein positives substanzielles Weltwissen vorausgesetzt, wobei – als Effekt des psychoanalytischen Kontextes – dieses Weltwissen im Wesentlichen auf den Bereich der Geschlechterbeziehung beschränkt bleibt. Inhaltlich ist dieses Wissen mit den Namen Marcel Mauss und Claude L évi-Strauss verbunden; es beruht auf der Grundannahme, dass es Konstanten menschlicher Vergesellschaftung gibt, die von den ältesten Stammesgesellschaften bis in die Moderne reichen. Formuliert wird diese Sichtweise in der Grundintuition von Mauss,5 dass Gabe und Schuld
4Mit
diesem Satz bezieht sich Lacan auf eine fantastische Erzählung des 18. Jahrhunderts, Le diable amoureux, von Jacques Cazotte. „Was willst du?“ ist der Satz, mit dem bei einer Geisterbeschwörung die Erscheinung des Teufels den erschreckten Protagonisten anspricht. 5Mauss (1968a): Essai sur le don, 143–279 (dt. Mauss [1968b]: Die Gabe).
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der Felsen sind, auf dem alle menschliche Vergesellschaftung beruht; diese Intuition ist in dem grundlegenden Werk von Lévi-Strauss Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft dahingehend konkretisiert, dass der Tausch der Frauen als der erste und fundierende Tausch bestimmt wird und dass die Inzestund Heiratsregeln in den Stammesgesellschaften aus der Kombinatorik des Frauentauschs erklärt werden. Das Soziale erscheint hier als ein Ensemble von Sippen, das heißt Familien im genealogischen Sinn, die von Männern vertreten werden, zwischen denen ein geregeltes Netz von Beziehungen der Gabe und der Schuld besteht. Die ganze Welt der Bedürfnisse ist in diesen Gabentausch einbezogen, aber die eigentlich fundierende Gabe ist die Frau. Es gibt also für den Lacan dieser Phase eine basale Ebene des Sozialen, die außerhalb der Geschichte liegt und in keiner Weise hinterfragbar ist. Die normgerechte Entwicklung führt das Subjekt dazu, in dieser Ordnung Platz zu nehmen; die Aufgabe des Psychoanalytikers besteht darin, diesen Prozess zu unterstützen, indem er den Subjekten, die sich in einem der unzähligen Irrwege verlaufen haben, dazu verhilft, das anzunehmen, was ihr Schicksal ist. Der Gegensatz zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen aus den ersten Seminaren wird jetzt auf die beiden Beziehungen des Subjekts zur Mutter bzw. zum Namen des Vaters als großem Anderen übertragen. Auf der Seite der Mutter liegt die Täuschung und das Verschwinden des Subjekts in seinen Täuschungen; auf der Seite des Vaters steht die wahre, die bindende Identifikation, das Subjekt spricht in der Dimension der Wahrheit, der Bejahung oder Ablehnung einer Bindung, es findet in dem Anderen jemanden, der versteht und antwortet. Im Bereich des Vaters liegt die Antwort auf die Frage „Was will der große Andere?“ nicht mehr in einem vorgetäuschten Sein (in der täuschenden Identifikation mit dem Phallus, den die Mutter begehrt), sondern in der Identifikation mit einem wirklichen Haben, mit der Gabe, die der Vater verspricht. Das ist der Weg der Kastration: Die Ausgangsposition ist die Begegnung mit dem che vuoi?. Der Junge, der sich als das Objekt des Begehrens der Mutter, als deren imaginärer Phallus fantasiert hatte, entdeckt, dass deren wirkliches Begehren sich auf den Vater richtet. Dieser, als selbst dem Gesetz unterworfen und Vertreter des Gesetzes, nimmt dem Jungen das imaginäre Phallussein und schenkt ihm dafür das Versprechen auf ein Haben, auf einen Anteil an dem, was Phallus im Symbolischen bedeutet, auf eine Position in der Ordnung des Tauschs, das heißt auf eine Zugehörigkeit. In der Identifikation mit dem in der symbolischen Ordnung festgelegten phallischen Signifikanten findet das Subjekt die Antwort auf das che vuoi?. Insofern ist die symbolische Identifikation der eigentliche weltbildende Mechanismus: Das Subjekt identifiziert sich mit dem Signifikanten, der
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es für den Anderen ist. Damit findet es ein Sein in einer Ordnung des „Habens“, das heißt des Eigentums. Die Ordnung der Verbote und die Ordnung des Eigentums sind ein und dasselbe. Was das symbolische Gesetz befiehlt, ist die Identifikation mit dem, was man hat. Was man hat, heißt immer: was einem gegeben ist und was man schuldet. Was das Subjekt an das Gesetz bindet, ist nicht zuerst ein Imperativ, sondern eine Schuld. Dadurch, dass es als Gabe das Sein erhalten hat, mit dem es gegenüber dem Begehren des Anderen bestehen kann, hat es eine Schuld übernommen, als Schuld anerkannt und ist in den Zyklus des Gebens und Schuldens eingetreten. Als ein Verhältnis von Gabe und Schuld liegt die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Anderen in der Dimension, wo man bejahen6 und ablehnen, verleugnen und bewahren kann, in der Dimension der Wahrheit. Als Sohn oder Tochter, das heißt in der Identifikation mit dem, was es von dem genealogischen Vater empfangen hat, ist das Subjekt Mensch. Als Sohn und Eigentümer respektiert er das Eigentum der anderen, in der Formulierung des Dekalogs, sein Haus, seine Frau, seinen Diener, seine Dienerin, seinen Ochsen, seinen Esel und alles, was ihm gehört. Das Band zum Namen des Vaters ist auch das Band zu den anderen als Söhnen. Vom Symbolischen zum Realen Es gehört zur Anlage der Theorie von Lacan, dass keine der drei Dimensionen in sich betrachtet werden kann. Was Lacan in der Phase der emphatischen Zelebrierung des Symbolischen darstellt, ist nicht dieses „in sich“, sondern die Unterstellung vom Wesen des Symbolischen, die von dem Mangel im Imaginären her als ein Versprechen von Rettung erscheint. Auf den Übergang vom Imaginären zum Symbolischen folgt als nächster Schritt von Lacans theoretischer Entwicklung die Entdeckung von dessen Unvollständigkeit. Eines der dauernden Themen von Lacan ist die fehlende Verankerung der Sprache in einem Realen, anders gesagt die Tatsache, dass Sprache in sich nichts bedeutet. Schaut man die Bedeutung eines Wortes im Lexikon nach, wird man auf andere Worte verwiesen, und so in einen Kreis ohne Ende. In den ersten zwei Seminaren ist das leere Sprechen im Imaginären das zentrale Beispiel,
6Allerdings
ist diese Bejahung eine problematische, wenn man so will, erzwungene Bejahung. Wie in jeder Initiation, oder in der Beziehung des Gläubigen zu Gott, ist eine freiwillige Bejahung verlangt, aber die Verneinung unter die Konsequenz der Nichtexistenz gestellt. Für eine zusammenfassende Darstellung der in diesen Zusammenhang gehörenden Begriffe der aliénation und der séparation vgl. den ausgezeichneten Artikel von Élie Doumit in Kaufmann (1993): L’apport freudien.
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im Seminar III die psychotische Sprache, die fundamental eine Sprache ist, die nur spricht und nichts sagt und die das Subjekt nicht bindet. Das Symbolische erscheint in dem Licht des Rettenden, weil es die Verankerung herstellt, den Stepppunkt, die Bindung des Subjekts an die Sprache. Es ist nun keineswegs unmittelbar einsichtig, wie es das leisten soll. Das Symbolische ist die Sprache, der Schatz der Signifikanten, und eben ohne Verankerung. Die erste Lösung ist das performative Sprechen („Du bist meine Frau!“, „Du bist der, der mir folgen wird!“). Das ist mehr ein Hinweis auf eine – gegenüber dem Imaginären ja auch wirklich neue – Dimension als eine Argumentation. Es bleibt völlig ungeklärt, woher die Bindungskraft des performativen Sprechens kommt. In dem Moment, wo sich die Dimension der Intersubjektivität mit der Dimension der Konstitutionsmacht der Sprache verbindet, also mit der Erfindung des großen Anderen, wird das Problem der Festlegung in eine neue Konstellation eingebunden, die für Lacans Denken zentral bleiben wird. Der Widerspruch zwischen Sprechen und Nichts-Sagen inkarniert sich in einem Gegenüber und verwandelt sich in eine Frage: „Was will er von mir?“ Diese Frage gibt sozusagen die Leerform einer Festlegung. Die Lösung verlangt nicht mehr oder weniger, als dass der Andere nun sagt, was das Subjekt für ihn ist und was er von ihm will. Damit dies möglich ist, müsste hinter dem Anderen ein zweiter Anderer stehen, ein Anderer, der von sich sagen kann wie der Gott des Monotheismus: „Ich bin, der ich bin“, der sich also ohne jeden Bezugsrahmen definieren kann. Dieser Andere ist, wie wir schon gesehen haben, der Name des Vaters. Nach dem Psychosen-Seminar wird dieses Konzept umgearbeitet. Der Andere der symbolischen Ordnung verliert die göttliche Autonomie, er sagt nun auch nichts mehr. Die Frage, wo das Subjekt seine Verankerung findet, die Gewissheit, die Nähe zu dem, was es bestimmt, ist wieder geöffnet. Sie ist im Symbolischen nicht lösbar und verweist auf das Reale.7 Ein Begriff, der das außersprachliche Wirkliche bezeichnet, ist in dem theoretischen Feld, in dem es um die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit geht, immer mitgesetzt. Besonders deutlich wird das in der Diskussion um das Geschlechterverhältnis. Sobald Geschlechterverhältnisse als kulturell hergestellt gedacht wurden, stellte sich die Frage nach dem Realen, das die Grundlage dieser Konstruktionen wäre. Die erste Antwort war bekanntlich die Unterscheidung von Gender und Sex. Dabei war Gender als die kulturell konstruierte Geschlechts-
7Vgl. Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], 81. An dieser Stelle wird der „Andere des Anderen“ (also der Garant der Wahrheit im Symbolischen) in einer Topologie situiert, die die Beziehung zum Realen instituiert.
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identität vorgestellt, Sex als die biologische Gegebenheit. Judith Butler hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass alles, was man über Sex sagt, eben gesagt ist, und damit eingebunden in das Netz der kulturellen Assoziationen. Sex ist ebenso konstruiert wie Gender.8 Aber wenn auch ersichtlich alles, wovon man redet, in der Sprache liegt, so heißt das doch nicht, dass es nicht ein Reales hinter der Sprache gibt, das auf der Ebene der sprachlich artikulierten Wirklichkeit Effekte hat. Im Feld der Diskurs- bzw. konstruktivistischen Theorien ist Lacan der Einzige, für den das Problem, wie man von dem sprechen kann, wovon man nicht sprechen kann, einen zentralen Stellenwert hat. Wie von den beiden anderen Dimensionen des RSI kann man vom Realen nur in Beziehung auf eine andere Dimension sprechen. Die Beziehung des Realen zum Symbolischen, die uns hier interessiert, ist begründet in einem Aspekt des Symbolischen, der von Anfang an in dem Begriff präsent ist. Einerseits ist das Symbolische das, was die Welt erschließt und die Menschen in einer bestimmten Weise füreinander bedeutungsvoll macht. Andererseits ist die Sprache „der Tod der Sache“; sie zerstört unwiederbringlich den in welcher Form auch immer anzunehmenden Weltbezug des vorsprachlichen Wesens, also den Bereich, der jetzt unter den Begriffen des Realen und der jouissance9 ausgearbeitet wird. In diesem Bereich liegt die neue Lösung. Der Name des Vaters verspricht eine Gewissheit auf der Ebene der symbolischen Identifikationen und des im Symbolischen anerkannten Begehrens. In der neuen Begrifflichkeit wird die Anerkennung des Begehrens im Symbolischen eher irrelevant. Das Symbolische ist nicht mehr der Ort, an dem das Subjekt die fundamentalen Figuren von Schuld und Begehren entdeckt, die es bestimmen. Es wird jetzt assoziiert mit konkreten sozialen Ordnungen, in denen es um das „Wohl“ geht, um Glück und Frieden, Ordnungen, die das, was das Subjekt eigentlich bestimmt, vergessen lassen. Wichtig wird jetzt die Unterscheidung zwischen den vielfältig sich verschiebenden Objekten des Begehrens und der Ursache des Begehrens, also dem, was in den Objekten „eigentlich“ begehrt wird; was eigentlich begehrt wird, ist
8Butler
(1991 [1990]): Das Unbehagen der Geschlechter, 23, 24. Genießen, ist ein Begriff, der beim späteren Lacan eine zentrale Bedeutung gewinnt. Er bezeichnet das verlorene, unmögliche Genießen der realen (vorsprachlichen) Mutter und dann auch das sexuelle Genießen, soweit es notwendig unbewusst bleibt. In der deutschen und auch in der angloamerikanischen Literatur ist es üblich geworden, diesen Begriff unübersetzt zu lassen, um den Abstand vom alltagssprachlichen Sinn des Worts „genießen“ zu markieren.
9Jouissance,
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der „Rest“ des Realen in der symbolischen Welt, das Objekt a, das auf das verlorene vorsprachliche Weltverhältnis, die jouissance, verweist. Die Suche nach dem, was das Begehren des Subjekts begründet, also auch nach dem Agens des therapeutischen Prozesses, führt jetzt in diesen Bereich.10 Das Reale trägt das Symbolische und ist aber zugleich dessen Aufhebung. Die Begegnung mit der Ursache des Begehrens führt in den Tod, nicht in jenen Tod, der durch Beerdigung und Grabstein in das Symbolische eingeschrieben ist, sondern in einen „zweiten Tod“, in ein Jenseits der symbolischen Wirklichkeit.11 Die tragische Heldin Antigone, die sich in den Bereich des zweiten Todes begibt, bezeugt den verdrängten Grund der symbolisch strukturierten Wirklichkeit. In der früheren Auffassung sollte die Analyse das Subjekt in das Symbolische und den Bereich der wahren Rede hineinführen; die analytische Ethik betraf zwar nicht das Verhalten, aber die Identifikation im Symbolischen; es war eine Ethik der Bindung und der Übernahme von Schuld, die mit einer Ethik des Lebens vermittelbar ist. In der Ethik der Analyse, die das Seminar VII entwickelt, soll der Analysand mit dem Stück des Realen konfrontiert werden, das seine symbolische Wirklichkeit trägt. Der Analytiker wird der tragischen Heldin gleichgesetzt. Mit dem Seminar VII ist eine Reihe von Bedeutungen des Symbolischen aufgegeben worden. Wir möchten diesen Schritt nicht einfach als einen Fortschritt auffassen, sondern fragen, in welchem historischen Raum man diesen Schritt situieren muss, welchen Raum er verlässt, in welchem er sich einrichtet; und dann auch: was in diesem Schritt verloren und gewonnen wird. Schon vom Seminar II an ist die symbolische Ordnung nach dem Modell der Rechenmaschine gedacht. In dem Anhang zu Das Seminar über E. A. Poes „Der
10Anders
ausgedrückt: Wenn es keine Konsistenz des Anderen auf der Ebene der sprachlichen Inhalte gibt, so kann man doch eine Konsistenz darin finden, dass der Andere ebenso wie das Subjekt an einen Rest der verlorenen jouissance gebunden bleibt. Die ganze Erfindungskraft des späteren Lacan zielt daraufhin ab zu zeigen, wie sich ein soziales Band dadurch konstruieren lässt, dass sich diese beiden Reste, die zwar durch das Symbolische hergestellt sind, aber außerhalb seiner liegen, miteinander in Beziehung setzen. Das ist der Ort, wo die Begriffe des Objekt a und des Phantasmas ausgearbeitet werden. 11Dieser Gedanke des zweifachen Todes, den Lacan an den Schriften von Sade, der Antigone und dem Ödipus auf Kolonos ausführt, durchzieht das ganze Ethik-Seminar und wird in Kant avec Sade noch einmal aufgenommen. Der zweite Tod bezeichnet die Entdeckung, dass das Subjekt außerhalb der Ordnung der Welt steht, und den fundamentalen Schmerz des Existierens, der auf diese Entdeckung folgt. Vgl. Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], 353; ders. (1975 [1966]): Kant mit Sade, 146 ff.; ders. (1966d): Kant avec Sade, 776 ff.
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entwendete Brief“12 finden sich lange Überlegungen, wie in Zufallswahlen eine Ordnung entstehen kann. Das Symbolische ist einerseits stumm. Andererseits ist das Symbolische aber mit der Vorstellung des Paktes, des wahren Sprechens, der Bindung des Subjekts an seine Rede, mit einer bestimmten Form von Identifikation verbunden. Allerdings muss man sagen, dass dieses Bindungsmoment immer mehr evoziert als argumentativ ausgeführt ist. Der Satz „Du bist meine Frau!“ beschwört die bindende Kraft der performativen Rede, sagt aber nichts davon, woraus der Pakt diese Kraft bezieht. Man versteht, dass Lacan später über dieses Pathos lächeln wird. Erst im Seminar IV, wo es um den Ödipus und die sexuellen Identifikationen geht, wird die bindende Kraft des Symbolischen durch den Bezug auf Marcel Mauss und die Einbeziehung der Dimension von Gabe und Schuld überzeugend dargestellt.13 Den Begriff des Namens des Vaters kann man – in Anlehnung an die Rede von Rom – in den durch Lévi-Strauss gegebenen Kontext der genealogischen Ordnung der archaischen Gesellschaften einreihen und die symbolische Dimension des Ödipus als die verpflichtende Weitergabe der ererbten Position verstehen. Schon in der zweiten Hälfte des Seminars interpretiert Lacan den Namen des Vaters allerdings vorwiegend als einen Signifikanten, der zum rechten Zeitpunkt am richtigen Platz auftauchen muss, um die normative Lösung des Ödipuskomplexes zu ermöglichen. In dem Ganzen von Lacans Werk bilden die Überlegungen zur bindenden Kraft des Symbolischen auf den ersten Blick einen Seitenweg; es ist nicht verwunderlich, dass sie an den Orten, wo Lacans Werk weitergeführt wird, wenig Aufmerksamkeit finden. Man muss aber auch sehen, dass ein Teil der Lacan’schen Theoriearchitektur, der in der allgemeinen kulturwissenschaftlichen Rezeption von Lacan eine große Rolle spielt, an diese Überlegungen geknüpft ist: die Begründung einer Ethik der Identifikation, die nicht auf der Ebene der innerweltlichen Beziehungen angelegt ist, sondern auf der Ebene der Weltkonstitution, das Verständnis des Menschwerdens als eines ethischen Aktes. Der Kern dieser Ethik ist der Imperativ der Kastration, der gleichzeitig die Ablehnung der imaginären Identifikationen mit Figuren der Allmacht und die symbolische Identifikation befiehlt. Die Bedeutung dieser Teile von Lacans Denken möchte ich mit einem Hinweis auf ein in einem anderen Bereich angesiedeltes Werk belegen.
12In
Lacan (1975): Le séminaire livre I [1953–1954], 7–60. diesen Zusammenhang gehört auch der Begriff der symbolischen Schuld, der einerseits in die Reihe der Grundbegriffe gehört, andererseits nirgends wirklich ausgeführt wird.
13In
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Der französische Jurist und Psychoanalytiker Pierre Legendre hat in einem umfangreichen Werk14 die Funktion des Justizsystems gegenüber der Aufgabe der Bewahrung des fundamentalen sozialen Bandes untersucht. Seine Gedanken stehen der oben dargestellten Konzeption des Symbolischen, des Subjekts und der Identifikation sehr nahe. Ich möchte am Beispiel des ersten ins Deutsche übersetzten Buchs, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlungen über den Vater, zeigen, dass das Konzept der symbolischen Ordnung eine Problematik artikuliert, die in unserer Kultur wenig Raum hat, die aber fundamental bleibt. Im Zentrum steht ein Verbrechen: der Versuch des Soldaten Lortie, in einem sehr theatralisch inszenierten Akt den Ministerpräsidenten des Landes Québec zu töten. Der Mordversuch, der misslingt, aber zum Tod von drei Menschen führt, geschieht in einem Zustand psychotischer Verwirrung. Nach der Interpretation Legendres steht das designierte Opfer für den Vater des Täters, einen Vater, den Legendre mit dem Freud’schen Vater der Urhorde vergleicht: ein Vater, der seine Söhne schlägt und mit seinen Töchtern sexuell verkehrt. Im Prozess wird Lortie die von einer Überwachungskamera gemachte Videoaufnahme des Tathergangs vorgeführt; er „sieht“ seine Tat. In der Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit sucht Lortie den Schuldspruch. Es geht – so Legendre – in dem Mord um die Suche nach dem Vater, und zwar um den Vater in der Funktion, den Sohn aus der Verschlingung mit der Mutter und der imaginierten Allmacht zu lösen. Das Urteil erlaubt Lortie, „seinen Platz als Mensch in der Menschenherde […] wieder einzunehmen, […] gemeinsame Sache mit der Menschheit zu machen“.15 Das heißt auch: „heil aus dem Familienknäuel herauszufinden, um ein menschliches Subjekt zu werden“.16 Lacans Konzept der symbolischen Ordnung ist um die Opposition von Wahnsinn und Normalität entwickelt, anders gesagt: um die Frage, wie man sich der Verbindung mit der Mutter entziehen und ein Mensch nach der Ordnung des Gesetzes werden kann. Um dieselbe Opposition und dieselbe Frage ist auch das Denken von Legendre aufgebaut. Der Vater löst den Sohn aus der mütterlichen Allmacht und führt ihn in das Prinzip der Begrenzung ein. Das kann er nicht aus sich heraus, sondern nur, indem er „im Namen von …“ spricht. Das gründende Prinzip, auf das verwiesen wird, nennt Legendre einfach „die Referenz“. Die
14Legendre
(1989): Le crime du caporal Lortie. Hier wird nach der deutschen Ausgabe zitiert – Legendre 1998: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. 15Ebd., 102. 16Ebd., 106.
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Übernahme der Begrenzung ist auch der Akt, durch den das Subjekt zum Menschen gemacht wird. Die natürliche Geburt muss durch eine zweite Geburt aus dem Vater verdoppelt werden, die das Subjekt zum Teil der Menschenherde macht. Das Wort des Vaters gegenüber dem Sohn verweist auf eine „Gründungsrede“, die in dem gesamten institutionellen Gefüge einer Kultur und vor allem im Rechtssystem gesprochen wird. Die Inhalte dieser Gründungsrede sind gegeneinander austauschbar.17 Wichtig ist ihre Position: Sie antworten auf ein Begehren: ein Begehren nach Differenz, nach Befreiung aus den Fesseln von Wahnsinn, Allmachtsglauben und Unterscheidungslosigkeit. In dieser Position stehen sie für nichts anderes als das Prinzip der Gesellschaftlichkeit. Legendre ist kein Lacanianer. Aber man sieht, dass seine Grundbegriffe in der gleichen Weise konstruiert sind wie der Begriff der symbolischen Ordnung. Perspektiviert ist das System von dem leeren, vorsozialen Subjekt aus, das von der psychotischen Verstrickung mit der Mutter bedroht ist und das Aufnahme und Platz in der Welt sucht. Der Vater und die Institution des Rechts stehen in der Position des großen Anderen, des Namens des Vaters; sie geben dem Subjekt, was es sucht, die Beschränkung und mit dieser seine fundamentalen Identifikationen. Der Bereich, von dem Legendre handelt, ist das System der Strafjustiz, ein Bereich, wo die soziale Bedeutung des Gesetzes manifester wirkt als in der Psychoanalyse. Daher ist bei ihm viel leichter als bei Lacan selbst ablesbar, in welcher Dimension des Sozialen das Konzept überhaupt situiert ist, auf welche Fragen es antwortet und welche es ignoriert. Wenn man Legendre liest, denkt man natürlich sofort an die lange Tradition der Kritik am Justizsystem, die auf die Verquickung von Justiz und Macht verweist. Keine Justiz verwirklicht je den Anspruch, den sie stellt; jede dient der Macht, und es liegt nahe, das Denken von Legendre als eine Legitimierung von Machtverhältnissen und als eine Negierung des Politischen zu verstehen.18 Eine solche Kritik trifft den Punkt nicht, auf den es Legendre ankommt, nämlich die Aufforderung, die Gesellschaft von dem Gegensatz von Psychose und Normalität bzw. von der Möglichkeit der Abwesenheit jedes sozialen Bandes aus zu betrachten. In dieser Perspektive hat jede Gesellschaft – die faschistische, die Legendre als eine verrückte ansieht, ausgenommen – eine fundamentale Legitimi-
17Legendre
(1995): L’histoire du droit comme théâtre de vérité, zitiert nach Pornschlegel, Thüring (1998): Nachwort, 200. 18Vgl. die Rezension von Bianca Lanz zu Peter Goodrichs Oedipus Rex: Psychoanalysis, History, Law. Lanz (1996): Rezension.
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tät. Allerdings deutet diese Kritik doch auf eine Schwachstelle des Denkens von Legendre. Legendre weist selbst darauf hin, dass der Platz des Vaters, wie er ihn bestimmt, immer mehr verlassen wird. In derselben Richtung könnte man viele Hinweise19 darauf finden, dass das Justizsystem nicht mehr an den Platz des großen Anderen gestellt wird. Es ist zwar richtig, dass jede Form des als setzend anerkannten Redens die Funktion erfüllt, auf die es Legendre ankommt; es kann auch eine Vielfalt sich widersprechender Diskurse sein. Aber wenn der Raum autoritativen Redens überhaupt verlassen oder dieses nur noch in Anführungszeichen gesetzt erscheint, dann verweist das auf Transformationen in der sozialen Organisation der symbolischen Ordnung, die Legendre mit dem Hinweis auf „die chamäleonartige Anpassungsfähigkeit des okzidentalen Rechts“20 doch wohl etwas zu schnell erledigt. Hinter dieser historischen Problematik liegt eine zweite systematische: Was begründet für Legendre das soziale Band? Anders gesagt: Welcher Mechanismus bindet das Subjekt an die Gründungsrede, an die mythische Realisierung der Referenz? Legendres Antworten auf diese Frage sind: (1) Der Diskurs muss an bestimmten hervorgehobenen Orten vertreten werden, am Ort des Vaters, des Richters. (2) Seine Wirksamkeit beruht wesentlich auf einer theatralischen Inszenierung. Dieser Versuch, die Geltung des Symbolischen auf imaginären Mechanismen zu begründen, ist wenig überzeugend. In Legendres Arbeiten wird sehr deutlich, dass man etwas Fundamentales verliert, wenn man auf den Begriff der symbolischen Ordnung verzichtet: die Idee einer fundamentalen Wahrheit der Welt, das Wahrheitsmoment im Begriff der Kastration als Annahme der Endlichkeit, die Korrelation, die die Opposition von Imaginärem und Symbolischem mit der von Täuschung und Wahrheit verbindet, die Ethik der Identifikation, die Anerkennung des anderen als Mensch. Es ist aber auch klar, dass bei Legendre die Ordnung der Referenz die genealogische Ordnung ist. Es ist ein Denken, das die modernen Entwicklungen, die den Hintergrund von Lacans Wechsel zu einer Ethik des Realen bilden, nicht wahrnimmt. Wenn man glaubt, dass die von Legendre so eindrucksvoll vorgestellte Dimension der Wahrheit des Symbolischen noch aktuell ist, dann muss man versuchen, diese Dimension unabhängig von ihrer Realisierung in der genealogischen Ordnung zu denken.
19Im
Bereich der Literatur kann man Kafkas In der Strafkolonie oder den Fremden von Camus nennen. 20Ebd., 165.
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Das symbolische Gesetz und das Gesetz des Begehrens Der Positionswechsel, der die identifizierende Kraft von Gabe und Schuld und die Dimension der Wahrheit aus dem Symbolischen herausnimmt, steht im Kontext einer Reflexion über das Wesen der Moderne und einer Umorientierung der historischen Situierung des psychoanalytischen Diskurses. Die alte Auffassung hatte sich auf die Analysen archaischer Stammeskulturen gestützt und war – ohne ausgeführte Begründungen – von der historischen Invarianz grundlegender kultureller Strukturen ausgegangen.21 Ab dem Seminar VII entwickelt Lacan einen Begriff der Moderne, der durch eine Umwälzung in dem Verhältnis des Subjekts zur Sprache und durch die Auflösung des „kosmischen“ Weltzusammenhangs bestimmt ist. In diesem waren Welt und Wissen eins; die Welt ist in sich ein Wissen, das zu den Menschen spricht, das ihm sagt, was sein Platz ist und was er zu tun hat; das menschliche Wissen entsteht aus dem Entziffern der Sprache der Welt. In der Lacan’schen Perspektive ist der Kern der wissenschaftlichen Revolution die Auflösung des Bandes zwischen Welt, Wissen und Subjekt. So wird alles in der Welt gegebene Wissen prinzipiell infrage gestellt; als Quelle der Gewissheit bleibt einzig das Ich des Cogito. Das Symbolische wird in Anlehnung an die Mathematik als ein System von Buchstaben gefasst, die Verknüpfung des Symbolischen mit der Welt wird aufgelöst. Das durch die Wissenschaft erzeugte Wissen bindet nicht das Subjekt. Damit ist die für den Begriff der symbolischen Ordnung konstitutive Einheit von (im Schatz der Sprache gegebenem) Wissen und Wahrheit aufgegeben. Es verschwinden auch aus dem Begriff des Symbolischen die Dimensionen von Gabe und Schuld. Die Wissenschaft produziert ein Wissen ohne Wahrheit, das heißt ein Wissen, das dem Subjekt nichts sagt und es nicht bindet. Die Psychoanalyse ist in diesem durch die Wissenschaft eröffneten modernen Raum des Wissens die „Wissenschaft“, die das zum Gegenstand hat, was die Wissenschaft ausklammern muss, die Beziehung des Wissens zum Subjekt. Daher ist das Subjekt, mit dem es die Psychoanalyse zu tun hat, das cartesianische, das aus seinen Identifikationen und seiner Bindung an die Welt gelöste Subjekt. Hier wird so etwas wie ein abstraktes Schema einer Geschichte der Konstitution von Welt und Subjektivität entwickelt, das den Begriff der Identifikation zum Angelpunkt hat. In der Perspektive dieser Geschichte erscheint das
21Vgl.
Lacan (1966c): Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse, 276 f.; ders. (1973): Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, 117 f.
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Aufgeben des starken Begriffs der symbolischen Ordnung als ein Wechsel der eigenen historischen Situierung. Der frühe Lacan erscheint als ein Konservativer, der in der Gegenwart das wahrnimmt, was von der Vergangenheit noch weiterlebt. Später wandelt er sich zum „Modernisten“, der sich mit denjenigen Tendenzen der modernen Entwicklung verbindet, die mit dem Alten radikal brechen. Lacan selber diskutiert seine Positionswechsel nie. Er stellt das Neue dar, ohne den mindesten Versuch, es neben das Alte zu stellen, das er aufgibt; wenn das Alte noch sichtbar wird, dann immer nur aus der Perspektive des Neuen. Ich möchte diese Diskussion hier nachholen, also das Alte begründen und ausbauen und auch das Neue vom Alten aus sehen.22 Wenn man, Mauss und Lévi-Strauss folgend, dem Begriff der symbolischen Ordnung eine soziale und historische Bedeutung gibt, dann sind die Kernbegriffe Gabe und Schuld, Eigentum, Familie, Ehre. Das Eigentum ist nicht als Vermögen definiert, sondern als Knotenpunkt in einem System von Rechten und Pflichten. Daher wird in den vorbürgerlichen Gesellschaften das soziale Band immer und selbstverständlich in Begriffen des Eigentums und als ethische Bindung gedacht. Der eigentliche Träger des Eigentums ist die genealogische Familie. Durch die verpflichtende Gabe des Eigentums vom Vater an den Sohn tritt dieser in die symbolische Ordnung ein. Die Ehre ist nichts anderes als ein Identifikationsimperativ: Das Subjekt hat sich mit der Familienposition in der Gruppe der Pairs zu identifizieren und damit diese Identifikation sogar über sein Leben zu stellen Die symbolische Ordnung ist eine genealogische und eine soziale Ordnung. Die Bestimmung der sozialen Ordnung als eine Ordnung des Gebens und Schuldens löst sich seit dem 17. Jahrhundert auf. Was den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichert, sind für Descartes Konventionen, für Pascal ein Glaube, der nichts anderes als eine anerkannte Form des Wahns ist. Wenn es kein symbolisches Gesetz mehr gibt, kann es keinen großen Anderen als Vertreter des Gesetzes mehr geben. Bisher stand die Öffentlichkeit in der Position des großen Anderen; jetzt entsteht die erste Fassung des modernen Begriffs der Gesellschaft als einer kontingenten Menge von Menschen, die zu manipulieren man lernen sollte. Das Verschwinden der sozialen Dimension der symbolischen Ordnung bedeutet aber nicht, dass das genealogische Prinzip seine Macht verliert. Die Auseinandersetzung mit dem genealogischen Gesetz und der Identi-
22Zu
der folgenden Skizze einer Geschichte der genealogischen Ordnung vgl. ausführlicher Waltz (1993): Ordnung der Namen.
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fikation mit dem Familienerbe ist von Thomas Mann bis André Gide und Jean Paul Sartre ein zentrales Thema der Literatur dieses Jahrhunderts. Erst in der Postmoderne kann man sagen, dass das genealogische System in seiner realen Macht massiv geschwächt ist – mit den bekannten Folgeerscheinungen, die von dem Wertewandel und der Individualisierung bis zum Anwachsen präödipaler Symptomatiken im Therapiebereich reichen. Lacan sagt einmal, ein richtiger Katholik sei nicht analysierbar. Dasselbe könnte man von einem genealogisch identifizierten Menschen auch sagen. Man wird ihn nur analysieren können bis an die Grenze der Identifikationen, die sein Selbst und seine Welt tragen, und die er keinen Grund hat, infrage zu stellen. Die Wendung vom Symbolischen zum Realen antwortet auf die zeitgenössische Erfahrung, die Lacan mit seinen Analysanden und wohl auch mit sich gemacht haben mag, dass die symbolischen Identifikationen nicht (mehr) den Felsen bilden, an den die Analyse anstößt, wo sie findet, was sie begrenzt und trägt. Für den Lacan des Ethik-Seminars wird nun das symbolische Gesetz zu dem kleinen, dem Überichgesetz, dem das (gelegentlich auch durch Majuskeln hervorgehobene) große Gesetz des Begehrens gegenübergestellt wird. Das Überichgesetz wird, wie schon gesagt, aus dem Bereich des fundamental Bindenden, also der Wahrheit, herausgenommen.23 Es wird in den Bereich herübergezogen, in dem auch Descartes und Pascal das Soziale ansiedeln, in den Bereich des Konventionellen, der Nützlichkeit, des „Wohls“, des Glücks, der funktionierenden Ordnung und der Macht.24 Dieser ganze Bereich wird dem Lustprinzip und letztlich auch dem Imaginären zugeordnet. Das eigentliche Gesetz, dasjenige, mit dem das Subjekt sich konfrontieren muss, wenn es seine Wahrheit finden will, ist jetzt nicht mehr das Gesetz, das die Wirklichkeit zur Welt ordnet.25 Es betrifft nur noch die Sprache in ihrer Beziehung zum Realen, es verbietet den Inzest mit der Mutter, das heißt die jouissance im Realen, oder – in der ganz allgemeinen Sprache, die für unsere Zwecke hier ausreicht – das Weltverhältnis, das der Eintritt in die Sprache auflöst. Dieses Gesetz liegt in dem
23Vgl.
Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], passim, bes. 354–358, 369. ebd., 362 f. In diesem Zusammenhang verweist Lacan auch immer auf Aristoteles und die Ethik des Maßes und auf den Utilitarismus (Bentham). 25Tatsächlich ist die ganze Fragestellung von Welt und Wirklichkeit, die dem frühen Lacan so wichtig war, jetzt als Fragestellung aufgegeben. 24Vgl.
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Bereich, wo es um die Möglichkeitsbedingungen von Welt, aber nicht dort, wo es um die Ordnung einer Welt geht.26 Im Seminar VII wird dieses Gesetz nur vom Standpunkt der Psychoanalyse bzw. von der Suche nach der Wahrheit des Subjekts aus dargestellt. Das Begehren, zu dem die Tragödie und die Psychoanalyse hinführen, ist das Begehren nach dem, was das Begehren trägt, die jouissance im Realen bzw. das Phantasma, das diese jouissance gleichzeitig evoziert und verdeckt. Die einzige Art, wie das Subjekt diesem Gesetz begegnen kann, besteht darin, das kleine Gesetz, das des Überichs, zu brechen.27 Die wirkliche Welt, die von dem symbolischen Gesetz unausgesetzt spricht, spricht von diesem Gesetz überhaupt nicht mehr. Die symbolische Kastration, wie wir sie, im Glauben, Lacan zu folgen, gewöhnlich denken, verlangt nun nicht nur, dass das Subjekt den Bereich des Begrenzten überhaupt betritt, sondern dass es die Begrenzung zu seinem Wesen macht und bejaht. Das Erste ist auch möglich, wenn wir die Kastration als ein Ereignis denken, das sich zwischen dem neuen, entleerten Symbolischen und dem Imaginären abspielt. Die Bejahung ist nur denkbar, wenn die Kastration ein Ereignis ist, das sich in einem durch das symbolische Gesetz in dem alten starken Sinn von Gabe und Schuld geordneten Raum abspielt. Die Frage ist, ob das neue große Gesetz diese Aufgabe übernehmen kann. Ebenso wie in der ersten Phase ist Lacan daran interessiert, für sein neues Gesetz Garanten in der Geschichte des sozialen Bandes bzw. der Ethik zu finden. Er findet diese Garanten nun nicht mehr bei den Ethnologen mit ihrem archaischen Hintergrund, sondern bei einer Ethik, die für die Moderne vorbildlich geblieben ist, bei Kant.28 Die Brücke, die die auf den ersten Blick nicht unbedingt
26In
diesem Zusammenhang steht die oft wiederholte Aussage des späten Lacan, dass es das Phantasma ist, das die Wirklichkeit trägt. 27In einer Grundopposition entspricht dieses Denken dem von Bataille. Es gibt eine Gesellschaft, die um Arbeit und Nutzen organisiert ist; in ihr kann der Mensch das, was ihn bestimmt, nicht wiederfinden, er verliert seine Würde. Diese Gesellschaft beruht auf Verboten, die nur den dauerhaften Bestand der Ordnung begründen, aber den Menschen nicht innerlich an diese binden können. Seine wahre Beziehung zu dieser Welt entdeckt das Subjekt nur durch Exzess und Überschreitung. Wenn es die Gebote durchbricht, gelangt es in ein Außen, entdeckt es eine Souveränität, von der aus es seine Unabhängigkeit von der Ordnung der Welt erkennen und dann in diese zurückkehren kann. Vgl. Bataille (1978 [1956]): Die Souveränität. 28Vgl. Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], 87–102; ders. (1966d): Kant avec Sade; ders. (1975 [1966]): Kant mit Sade.
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naheliegende Verbindung zwischen dem Gesetz des Begehrens und dem Universalitätsprinzip des kategorischen Imperativs herstellt, ist der gemeinsame Gegner, die Gesamtheit der Motive des Glücks und der Lust, die Kant unter der Kategorie des Pathologischen zusammenfasst. Wenn wir den historischen Kontext hier wieder einführen, dann können wir die innere Verwandtschaft zwischen der Kant’schen und der zweiten Lacan’schen Ethik vom Symbolischen her bestimmen: Beide beruhen auf einer spezifischen, verkennenden Ablehnung der Ethik der symbolischen Identifikation als einer Ethik des Glücks und versuchen auf der Basis dieser Verkennung, eine Ethik außerhalb des symbolischen Gesetzes zu errichten. Der Verweis auf Kant ist nun aber doppeldeutig. Kant wird einerseits als Garant des eigenen Denkens eingesetzt; andererseits zeigt Lacan aber auch die innere Nähe von Kant und Sade auf. Die Zielrichtung dieser Texte ist schwer genau zu bestimmen. Klar ist aber, dass der kategorische Imperativ in die Nähe des perversen Gesetzes gelangt. Die Perversion ist aber der Bereich, wo im Spiel zwischen Imaginärem und Realem die Dimension der imaginären Allmacht bewahrt und die Kastration vermieden wird. Diese Nähe ist unmittelbar zu erkennen, wenn man sich die Frage stellt, wie das Gesetz dem Subjekt begegnet, anders gesagt, welche Position das Subjekt gegenüber dem Gesetz hat. Das Subjekt der symbolischen Ordnung begegnet dem Anderen des Gesetzes in dem Akt der Identifikation, als demjenigem, der die Gabe als Gabe instituiert hat, es begegnet ihm überall in der Welt, als dem Gesetz der Schuld und des auf Objekte in der Welt gerichteten Begehrens. Der kategorische Imperativ kommt von einem Außen der Welt, er gibt den Identifikationen in der Welt keine Form; er verlangt nur, alle Identifikationen aufzugeben und sich mit dem Gesetz zu identifizieren. Das bedeutet eine Identifikation mit dem Ganzen, mit einer Position imaginärer Allmacht. Natürlich ist das Subjekt als reale Person dem Gesetz auch unterworfen, und da das Subjekt auch ein empirischer Mensch ist, kann die Identifikation mit dem Gesetz nicht anders als extrem unvollkommen sein.29 Das ändert aber alles nichts daran, dass die zentrale subjektive Position die einer imaginären Allmacht ist. Ganz deutlich wird diese Nähe, wenn dem allgemeinen Gesetz eine reale politische Existenz zugeschrieben wird, in den zwei Linien, die beide von Rousseaus Contrat Social ausgehen: die Linie, die über die Terreur zu den stalinistischen Prozessen führt, und die zweite, die über den Nationalismus zum
29Vgl.
Bernet (1994): Subjekt und Gesetz in der Ethik von Kant und Lacan, 33.
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Faschismus führt. Das Kollektiv wird die imaginäre Allmachtsinstanz, die alle Begrenzungen und Widersprüche aufhebt, und gleichzeitig, wie Lacan und noch mehr Slavoj Žižek immer wieder betonen, das grausame und obszöne Überich, das die perversen Ausschreitungen ermutigt und genießt. Kant vermeidet diese Konsequenz durch die Trennung von Moralität und Legalität – was ihn für liberale Denker attraktiv macht. Grundsätzlich verbietet er die Imaginarisierung des Gesetzes und damit auch die perverse jouissance.30 Das Ethik-Seminar ist beherrscht von einem Gefühl der historischen Aktualität, und zwar Aktualität als Moment in einer Menschheitsgeschichte. Es kommt darauf an, den Imperativen dieser Situation, für die die Erfahrung der Psychoanalyse im höchsten Grad bedeutungsvoll ist, gerecht zu werden. Das aktuelle Ereignis ist kein anderes als der Tod Gottes. Mit dem Tod Gottes stellt sich die Frage, wie nun, wenn Gott tot ist, das Verbot der jouissance aufrechterhalten werden kann. Schon Pascal hatte darüber gestaunt, dass die Welt ohne Gott und ohne ausgewiesene Moral sehr gut funktionieren kann. In seiner skandalösen Bienenfabel, die die soziale Nützlichkeit des Luxus nachwies, hatte Mandeville im 18. Jahrhundert dieses Phänomen fröhlich affirmiert. Die Beliebtheit von Luhmanns Sozialtheorie kommt unter anderem daher, dass sie zeigt, dass eine Gesellschaft prinzipiell ohne Moral auskommen kann. Das Erstaunen von Lacan geht aber darauf, dass die Welt von einer Moral beherrscht wird, auch wenn die Gründe, die diese Moral legitimieren könnten, verschwunden sind. Er verweist immer wieder auf die Analyse des paradoxen Funktionierens des Überichs, das immer strenger wird, je mehr man ihm gehorcht, also auf die Analyse, die Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur entwickelt hat. Die Frage des Seminars ist dann also: Wie muss eine Ethik der Psychoanalyse aussehen, oder anders gesagt, welchen Weg muss ein Psychoanalytiker den Analysanten führen, wenn die Moral zwar mächtig, aber nicht moralisch ist? Die Arbeit des Seminars ist die einer Entlarvung: Das Ergebnis ist, dass die gängigen Bestimmungen des Moralischen, das Glück, das Gemeinwohl, die Nächstenliebe, im Kern imaginäre Konstruktionen sind. Sie stehen unter dem Zeichen der verdeckten Aggressivität und der Leere. Ihre Substanz erhält diese Dimension von dem, was sie verdeckt, von dem traumatischen Realen. Die Wahrheit, zu der die Analyse führen soll, liegt dann in der Bewegung zwischen der Sprache und dem Realen.
30Vgl.
Žižek (1999): Liebe deinen Nächsten?, 48 f.
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Was wir hier diskutieren wollen, ist die historische Situierung, und das unter der Voraussetzung, dass wir das Spätere als den Effekt eines Wechsels der Position und nicht als einen Fortschritt ansehen. Das Problem dabei ist natürlich, dass die Begriffe, die die historische Situierung beschreiben, selbst ein Produkt dieses Wechsels sind. Wenn wir an eine Relevanz des Früheren glauben, dann müssen wir die im Seminar VII entworfene Weltgeschichte auch in der früheren Sprache beschreiben und ein Feld eröffnen, in dem der Konservatismus des frühen und der Modernismus des späten Lacan gleichzeitig sichtbar sind. Zuerst der Gottesbegriff. In der Dimension der symbolischen Ordnung kommt Gott nur ein abgeleiteter Platz zu. Die Transzendenz, die zu dem Begriff des großen Anderen notwendig gehört, liegt beim Namen des Vaters. In der Logik der archaischen Ordnung, wie wir sie hier rekonstruieren, ist der Name des Vaters ein Effekt der Struktur. Wenn es eine auf dem Prinzip von Gabe und Schuld beruhende Eigentumsordnung mit der genealogischen Familie und der Bestimmung der Frau als Familieneigentum gibt, dann gibt es auch den Namen des Vaters als den notwendig unterstellten Anfang der genealogischen Kette. Der spätere Lacan konstruiert eine Geschichte der Entdeckung des reinen, das heißt des nichtssagenden, nicht bindenden Symbolischen, die mit der Erfindung des Monotheismus beginnt und über das Christentum zur Wissenschaft und dann zum psychoanalytischen Diskurs führt. Hier ist dann Gott der absolute, ordnende Signifikant, derjenige der „ich bin ich“ sagen kann, das heißt, der sprechen kann, ohne auf einen umgreifenden Rahmen von Bedeutungen zu verweisen. Dieser Gott ist nun tot. Von unserer Rekonstruktion des frühen Lacan aus kann man gegen dieses Bild zwei Einwände erheben: 1. Den historischen Einwand habe ich schon skizziert. Monotheismus und Christentum ersetzen die genealogische Ordnung nicht, sondern sitzen auf ihr auf. Sie postulieren sie als das, wogegen sie sich einerseits wenden, dem sie andererseits einen begrenzten legitimen Platz zuweisen. In der Moderne wird zwar das Eigentum im Prinzip zu einem Attribut der Person, das heißt, es wechselt aus dem Bereich von Gabe und Schuld in den Bereich des Imaginären, wird zu einem der zentralen Attribute des Selbstbildes des Eigentümers. Aber unterschwellig bleibt die symbolische Bedeutung des Eigentums
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noch lange erhalten; erst in der Postmoderne31 kann man diesen Wechsel als wirklich vollzogen ansehen. 2. Dieser Einwand würde die Lacan’sche Konstruktion ergänzen, aber im Wesentlichen bestätigen. Ich möchte aber der These, dass man dem Verzicht auf einen starken Begriff des Symbolischen nicht folgen muss und nicht folgen sollte, eine systematische und gleichzeitig aktuelle Bedeutung geben. Das heißt aber, es muss möglich sein, den Kern dieses Begriffs – die symbolische Identifikation in der Dimension der Gabe mit etwas „Eigenem“ – auch außerhalb einer funktionierenden genealogischen Eigentumsordnung zu denken. In der historischen Dimension geht es um die Frage, ob auch in der postmodernen Welt des „Werteverlusts“ und der Individualisierung Systeme der symbolischen Identifikation eine fundamentale Bedeutung behalten. Die zwei Ordnungen des Symbolischen Die Idee, dass Sprache nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern sie artikuliert, die Lacan von Saussure übernommen hat, lässt zwei Deutungen zu, die Lacan beide verwendet, aber ohne die Unterscheidung zu thematisieren. Auf der ersten Ebene ist die Wirklichkeit deswegen eine Welt, weil sie als Wirklichkeit selbst Sprache ist. Benannt oder unbenannt ist ein Stuhl eben ein Stuhl und nicht ein Konglomerat von verschiedenen Molekülen, das heißt ein semantisches Konstrukt und nicht etwas materiell Gegebenes. Darüber liegt eine zweite Ebene der Sprache, in der diese die in sich sprechenden, aber unendlich vieldeutigen und daher nichts sagenden Dinge ordnet; das ist der Bereich der religiösen und ideologischen Weltbilder. In Das Wilde Denken hat Lévi-Strauss gezeigt, dass in den sogenannten totemistischen Gesellschaften die Sprache der Welt eine geordnete
31Postmoderne
ist ein etwas diffuser Begriff. Er beschreibt einen kulturellen Wandel in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Fülle von Attributen: Pluralisierung von Diskursen, Verzicht auf Wahrheitskriterien, Beliebigkeit, Historismus, Simulation, Verlust der Tiefe. Am schlüssigsten ist wahrscheinlich die Bestimmung von Luhmann (1992: Beobachtungen der Moderne). Luhmann fasst, was man gewöhnlich Moderne nennt, als eine Übergangsepoche und beschreibt die Postmoderne als die vollendete Moderne. Diese Vollendung markiert sich vor allem dadurch, dass sich die Gleichrangigkeit der Funktionssysteme durchgesetzt hat und dass es unmöglich geworden ist, das wechselseitige Beobachten der Beobachter durch die Setzung eines privilegierten Ortes, der die richtige Beobachtung der Gesellschaft erlaubt, stillzustellen. In unserem Kontext bestimmt sich Postmoderne auch als abgeschlossene Moderne, als das definitive Ende der genealogischen Ordnung und der normativen Geltung der ödipalen symbolischen Identifikationen.
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Sprache ist. Die Welt selbst ist ein zirkuläres Klassifikationssystem. Um ein Beispiel zu geben: Die Opposition Himmel vs. Erde bestimmt die Opposition Adler vs. Bär; der Bär kann sich mit dem Luchs verbinden wegen der schwarzen Pfoten, und beide mit den Kriegern, weil diese sich das Gesicht schwärzen. Eine Tierart ist also nicht einfach diese reale Art, sie funktioniert als ein Bündel von Bedeutungselementen, da her hat sie ihre klassifikatorische Kraft. Dieses System erfasst auch die Menschen und begründet eine Ordnung des Sozialen.32 Diesem System entspricht ein spezifischer, doppelt gerichteter Eigentumsbegriff, der die Dimension von Gabe und Schuld impliziert: Personen oder Gruppen bestimmen sich als Eigentümer, aber gleichzeitig auch als Eigentum von Weltausschnitten. Eben das ist die symbolische Identifikation. Dank der Tatsache, dass die symbolische Ordnung die Subjekte an Positionen in der Welt bindet und damit obligatorische Perspektiven in die Welt einbaut, spricht diese Welt nicht nur, sondern sie sagt jedem etwas Bestimmtes. Der geordnete, „kosmische“ Charakter dieser Welt verdankt sich also nicht der Existenz eines herrschenden Signifikanten, eines Gottes, der sagen kann „ich bin ich“, sondern der Tatsache, dass die Ordnung der Welt in sich eine Eigentumsordnung, das heißt eine identifizierende Ordnung ist. Mit den Erlösungsreligionen und der griechischen Philosophie entstehen Sprachen zweiter Ordnung, Sprachen, die die Artikulation der Wirklichkeit als Eigentumsordnung ablehnen und über diese erste Ordnung eine zweite legen. Aber als negierte ist die symbolische Ordnung noch vorausgesetzt. In Die Ordnung der Dinge zeigt Foucault, dass die Renaissance noch an diese Sprache der Welt geglaubt hat. Erst im 17. Jahrhundert wird die Heiligkeit der Eigentumsordnung infrage gestellt, und es entwickelt sich die neue Sprachauffassung, die die Welt der Dinge als vorhandene Wirklichkeit nimmt und die Sprache als eine von der Welt getrennte Repräsentation auffasst. Das Denken der Aufklärung bekämpft den traditionellen verpflichtenden Eigentumsbegriff, und zwar in einer doppelten Strategie. Einerseits gilt ihm dessen noch bestehende Macht als in der Seele fixiertes Relikt einer überholten Vergangenheit; anderseits sieht sie in ihm einen theoretischen Irrtum und eine täuschende, Machtinteressen verdeckende Ideologie. Die Konzepte von Vergesellschaftung, die sie entwickelt, liegen alle auf der zweiten Ebene; sie gehen aus von einer artikulierten Welt und identi-
32Vgl.
Lévi-Strauss (1962)(1962 [1968]): La pensée sauvage, besonders 152, 224; ders. (1968 [1962]: Das wilde Denken, 137, 197 f.
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fizierten Individuen.33 Der frühe Lacan hatte den Ödipus als den Rest dessen gesehen, was in der modernen Welt von der archaischen Allianzordnung noch übrig bleibt.34 Später konstruiert Lacan das soziale Band in der Begrifflichkeit der vier Diskurse und speziell mit dem Begriff des Diskurses des Herrn; der Diskurs des Herrn ist aber als ein politischer und ideologischer Diskurs konzipiert.35 Der Situierungswechsel, mit dem wir uns hier beschäftigen, ist also gleichzeitig ein Wechsel von der ersten zur zweiten Ebene. Weltprobleme und Legitimationsprobleme In diesem Zusammenhang ist es notwendig, den Begriff der symbolischen Identifikation differenzierter zu fassen, als wir es bisher getan haben. In dem Psychosen-Seminar ist die symbolische Identifikation mit dem Begriff der Verwerfung des Namens des Vaters gekoppelt. Die Verwerfung verstellt den Zugang zu einer von allen geteilten Welt, in der die Subjekte sich situieren und sich diese Situierung zu eigen machen können. In den früheren Seminaren werden symbolische Identifikationen in dem performativen Sprechen („du bist meine Frau!“) hergestellt; sie sind mit den Begriffen des vollen und wahren Sprechens verbunden. Man kann die beiden Verwendungen in Beziehung setzen: Einerseits geht es um die Herstellung einer Welt, andererseits um Wahrheit, das heißt um die bewusste (was natürlich nicht heißt: die reflektierte) Übernahme einer im Unbewussten angelegten Identifikation. Vor dem Ereignis der Moderne galten Eigentumsidentifikationen als legitim; die genealogische Ordnung war als Welt eine wahre Welt (was unter anderem auch darin sichtbar wird, dass Wahrheitsfragen immer als Fragen einer vorgängigen Bindung behandelt werden). Das Prinzip von Gabe und Schuld bestimmt sowohl die den Weltzugang eröffnende genealogische Beziehung als auch die durch das Eigentum hergestellten Beziehungen innerhalb der Welt selbst. Seit der Aufklärung ist die genealogische Ordnung immer noch weltbildend. Aber da die Eigentumsbeziehungen aus der Dimension der Gabe herausgenommen sind und ihre ethische Bedeutung verloren haben, kann man die in der genealogischen Beziehung hergestellten Identifikationen nicht mehr bewusst
33Allerdings
gibt es von Rousseau bis Sartre und Lefort ein radikales Denken des Politischen, das das Politische als identifizierend und weltbildend versteht. 34Vgl. Lacan (1973): Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, 118; ders. (1966c): Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse, 277. 35Vgl. Lacan (1991) : Le séminaire livre XVII [1969–1970], 9 ff.
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übernehmen.36 Die weltbildenden Identifikationen haben keine innerweltliche Legitimität. Übernommene Bindungen gibt es nur noch in Kollektiven zweiter Ordnung, die sich gerade durch die Negation der Eigentumsordnung definieren, in den großen ideologischen Systemen des 19. und 20. Jahrhunderts. Was – um die bekannte Formel von Lyotard aufzunehmen – das Ende der großen Erzählungen produziert hat, ist (jedenfalls in den Zentren der modernen Entwicklung) nicht eine Fülle vieler kleiner (ideologischer) Erzählungen, sondern zuerst einmal eine neue Legitimierung der Eigentumsidentifikation außerhalb und gegen jede Rücksicht auf eine übergreifende gesellschaftliche Gerechtigkeit, also eine Rückkehr zur ersten Ordnung. Der Satz, dass man ist, was man hat, und dass man dafür aber bitte die Verantwortung übernehmen soll, ist der Kernsatz des neoliberalen Denkens. Aber das Prinzip dieses Denkens ist keineswegs auf das rechte Spektrum beschränkt. Es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang auf den wachsenden Einfluss von Bourdieus Theorien37 im Bereich auch gerade der linken kulturellen Diskussion zu verweisen, besonders auffällig im Bereich der Kunst, zum Beispiel in mit den aktuellen Entwicklungen so eng verbundenen Zeitschriften wie Texte zur Kunst. Der einfache Grundgedanke besagt, dass hinter dem, was Kunst inhaltlich ausdrückt, der Kampf um Positionen im kulturellen Feld liegt, und dass dieser Kampf die Wahl der Inhalte bestimmt. Das ist nun sicher kein neuer Gedanke. Früher hatte man aber diese Ebene als ein Phänomen angesehen, das die wahre Entwicklung der Kunst in unangenehmer Weise beeinträchtigt, ihr aber im Prinzip äußerlich ist, die „wahren Künstler“ nicht betrifft. Neu ist, wie Bourdieus Begriff des kulturellen Felds verwendet wird, dass man nämlich die ganze Dimension der Situierung in dem Positionsfeld, das die Kunst auch darstellt, zum Gegenstand der Kunst selbst macht, teilweise im Modus der Kritik, aber weitgehend auch in einer positiven Weise, indem man diese Situierungen in der Produktion aufnimmt und in ihnen und mit ihnen arbeitet. Die Identifikationen des Künstlers liegen jetzt nicht mehr nur auf der zweiten Ebene, sondern auf der der Positionen, und zwar in der Form einer bewussten Übernahme. Jeder, der die neueren Entwicklungen der Wissenschaft kennt, weiß, dass man solche Aussagen direkt auf dieses Feld übertragen kann. Der moderne Typ des Wissenschaftlers agiert bewusst und positiv mit seiner Situierung in der Wissenschaft als Machtfeld.
36Lacan
verwendet das Wort assumer. Bourdieu (1987 [1979]): Die feinen Unterschiede.
37Insbesondere
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Diese Entwicklung ist nicht überraschend. Die in der Moderne noch bestehende genealogische Ordnung hatte das Problem der Weltherstellung gelöst und die Probleme der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Authentizität offengelassen. Mit der Auflösung der symbolischen Ordnung stellt sich die Frage der Herstellung einer Welt gemeinsamer Bedeutung, die Frage der Bindung des Subjekts an diese Welt. Weltprobleme rangieren aber nun einmal vor Wahrheitsproblemen. Žižek interpretiert in Anknüpfung an die von Beck38 und Giddens39 ausgearbeiteten Begriffe der Individualisierung und der Reflexivität die Postmoderne als Auflösung der symbolischen Ordnung.40 Dabei setzt er die Auflösung der alten genealogischen Ordnung mit dem Niedergang der symbolischen Funktion selbst, der performativen Dimension symbolischen Vertrauens und Engagements gleich.41 Dann entsteht ein Bild der Gegenwart, das um den Begriff des realen Überichs zentriert ist. Die Freisetzung von den symbolischen Zwängen bedeutet nicht Befreiung und Lust, was freigesetzt wird, ist die „‚leidenschaftliche Bindung‘ an die Unterwerfung“,42 die perverse Identifikation mit dem grausamen und obszönen realen Überich. Das Problem liegt in dieser Gleichsetzung. Wenn man das Ethisch-Symbolische unabhängig von der alten genealogischen Ordnung als eine selbstständige Dimension verstehen kann, entsteht ein ganz anderes Bild der Gegenwart. Die postmoderne Situierung des Symbolischen und des Subjekts Lacans Wende zum „Modernismus“ und die damit verbundene Umarbeitung der Konzepte der symbolischen Ordnung und des Namens des Vaters sind zusammengefasst in einer von Lacans fundamentalen Notationen, A, dem durchgestrichenen großen Anderen, einer Notation, die zum Ausdruck bringt, dass es nichts gibt (keinen Anderen des Anderen), das die Wahrheit der Rede des Anderen garantiert. Wenn wir sagen, es gibt eine Wahrheit des Symbolischen, dann bedeutet das, dass wir diese Durchstreichung wenigstens zum Teil wieder aufheben.
38Beck
(1986): Risikogesellschaft. (1996 [1991]): Konsequenzen der Moderne. 40Vgl. Žižek (1999): Liebe deinen Nächsten?, 133–198. 41Ebd., 179. 42Ebd., 181. 39Giddens
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Ist das aber nicht ein höchst zweifelhafter Versuch, Lacan seine Sonderstellung und Radikalität zu nehmen, ihn zu trivialisieren? Wo immer im modernen Denken die Frage nach der Wahrheit als eine Frage an das Subjekt und seine Beziehung zur Welt gestellt wird, gibt es Konzepte der Wahrheit innerhalb der Welt (zum Beispiel die Geltungsansprüche von Habermas) oder bezogen auf das, was die Welt begründet (wie bei Heidegger). Dass die Wirklichkeit ihr Fundament im Phantasma43 hat und dass das Subjekt nur im Durchgang durch das Phantasma sich mit dem konfrontiert, was seine Wirklichkeit trägt, sind extreme Thesen, die oft einfach wiederholt werden, ohne dass ihre Radikalität überhaupt wahrgenommen wird. Gegen diese Abnutzung gewinnen sie ihr Radikalität zurück, wenn man sie zum Problem macht. Das Ergebnis wird nicht sein, ein Stück Lacan mit einem Stück Habermas zu einer eingängigeren Mischung zu verbinden, sondern die Frage nach der Wahrheit der Welt in einer Weise zu stellen, wie es nur in der Auseinandersetzung mit Lacan möglich ist. Was für einen Sinn soll es aber haben, diese Durchstreichung des großen Anderen „teilweise“ aufzuheben? Wie kann man das tun, ohne hinter die doppelte Einsicht, die hinter dieser Notation liegt, zurückzufallen, die Einsicht von dem Untergang der genealogischen Ordnung und von der fundamentalen Bedeutung dieses Ereignisses für das Verhältnis des Subjekts zur Welt? Wenn man Einsichten des frühen gegenüber dem späteren Lacan bewahren will, dann kann das nicht heißen, dass man zum frühen zurückkehrt, sondern dass man die relevanten Dimensionen im Prozess der Umarbeitung wieder aufnimmt. Die zentrale Frage ist: Muss man mit der genealogischen Ordnung das Prinzip der Gabe und die Verbindlichkeit des Symbolischen aufgeben? Man kann diese Frage nur verneinen, wenn man hinter der Legitimität der genealogischen Ordnung als einer faktisch universal anerkannten Institution ein legitimierendes Prinzip erkennen kann, das diese Institution trägt, aber nicht notwendig mit ihr verbunden ist. Dieses Prinzip, das wissen wir, ist die Gabe. Nun ist es nicht so einfach, wie es scheinen mag, das Prinzip der Gabe aus der Verknüpfung mit der genealogischen Ordnung zu lösen. Auch schon in den archaischen Gesellschaften ist die Dimension imaginärer Rivalität im symbolischen Tausch überdeutlich; man braucht nur an die großen Exempel von Marcel Mauss, den Potlatsch und
43„Phantasma“
hat in dem Lacan’schen System einen ganz speziellen Stellenwert, der es von dem Freud’schen Begriff der Fantasie unterscheidet. In der Schrittfolge, durch die Effekte des Realen gleichzeitig in das Symbolische eingeführt und verdeckt werden, bezeichnet das fundamentale Phantasma den Punkt des Übergangs, der der Analyse, wenn sie bis zu ihrem Ende getrieben ist, gerade noch zugänglich ist.
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den kula, zu denken. Auch die Schuld hat offenbar eine imaginäre Dimension; sie ist ein Mittel der Machtausübung, ein Mittel, imaginäre Differenzen herzustellen. Die Beziehung der Gabe entsteht nur, wenn jemand gibt, was ihm nicht gehört.44 Nur dann ist der Empfänger nicht in einen Handel um narzisstische Positionen verstrickt; nur dann zielt der Appell auf seine Entscheidung, nicht auf seine Verstrickung. Die genealogische Ordnung erfüllt diese Forderung; hier gehört niemandem, was er besitzt. Jedes Eigentum ist dem geschuldet, von dem es empfangen worden ist. Der einzige wirkliche Eigentümer ist die mythische Figur des Ahnen, der Name des Vaters (eine Position, die später der Gott der Erlösungsreligionen einnehmen kann).45 Die imaginäre Dimension der Gabe, die immer wirksam bleibt, wird von der symbolischen Dimension beherrscht, die in expliziten Normen, Sanktionsregeln und Institutionen sozial realisiert ist. Wenn nun das Eigentum gemäß der modernen Definition nicht mehr Position in einem Beziehungsnetz, sondern Eigentum eines Individuums ist, dann entsteht ein soziales System von der Art, wie es das Ethik-Seminar oder, soziologisch konkreter, Bourdieu beschreibt. Die eingängige Analyse Bourdieus beschreibt die Gesellschaft als zusammengesetzt aus Feldern, in denen jeweils bestimmte Kapitalsorten – verschiedene Arten ökonomischen, kulturellen, sozialen Kapitals – als Einsätze funktionieren, um die nach bestimmten Regeln, mit denen sich die Spieler mehr oder weniger gut identifizieren, gespielt wird; die Identifikation mit einem Regelsystem nennt Bourdieu Habitus. Hier handelt es sich um eine symbolische Welt, wenn man das Symbolische in der formalen Weise definiert, wie es Lacan ja auch schon sehr früh tut, und wenn man die ethische Dimension des Symbolischen beiseitelässt: Es gibt Regeln, einen großen Anderen, der auf die Einhaltung dieser Regeln achtet, auch symbolische („kastrierende“) Identifikationen in dem Sinn, dass sich das Subjekt mit einem „Haben“, einer Eigentumsposition identifizieren und darauf verzichten muss, das Objekt des Begehrens des großen Anderen zu sein. Die Beziehungen der Subjekte zu dem Ganzen dieser Welt und der Subjekte untereinander sind – durch symbolische Regulierungen „gezähmte“ – imaginäre Beziehungen. Das ist bei Bourdieu,
44Dieser
Satz erinnert an die berühmte Formel Lacans: „In der Liebe gibt man, was man nicht hat.“ Was in der Liebe gegeben wird, ist der Phallus, was in der Gabe gegeben wird, ist die Schuld. Trotzdem bleibt eine strukturelle Verwandtschaft zwischen den beiden Beziehungen. 45In der Außensicht verweist der Mythos auf den Setzungsakt, der eine kontingente Eigentumsverteilung legitimiert und der zu jedem genealogischen System gehört.
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natürlich, ohne dass das Problem thematisiert würde, selbstverständlich,46 und es entspricht der gängigen, kaum noch kritisch konnotierten Auffassung, dass unsere Welt fundamental narzisstisch strukturiert ist. Wie ist es aber unter modernen Bedingungen, das heißt, wenn aus der Bestimmung des Eigentums die Schuld herausgenommen ist, überhaupt noch möglich, „zu geben, was einem nicht gehört“? Wenn eine Gabe in imaginäre Strategien eingebunden ist, heißt das nicht, dass sie in diesen aufgeht. Auch wenn sie in einer Absicht gegeben ist, Absicht auf eine Erwiderung, ein Kalkül über die Nützlichkeit einer Beziehung oder einer Zugehörigkeit, so ist immer noch etwas anderes mitgegeben: eine nicht begrenzbare Zirkulation von Gütern, Bindungen (die nicht aufgehen in dem errechneten Nutzen), Ansprüchen, Vorwürfen, Streit und Versöhnung, Geschichten und – das ist der zentrale Punkt – Identifikationen, also neue Situierungen der Subjekte, von denen aus sich die Bedeutungen der Sache selbst nachträglich verschieben. Eine Gabe ist immer auch eine Gabe von Welt. Daher gibt man immer mehr, als einem gehört, auch wenn man es weder weiß noch will. Auch innerhalb des Bereichs der modernen imaginären Eigentumsdefinition ist das Ethisch-Symbolische nicht beseitigt. Was sich verändert hat, ist das Verhältnis des Imaginären und des Symbolischen. In der genealogischen Ordnung hat das Symbolische in dem doppelten Sinn die Herrschaft, dass es in den öffentlichen Reflexionsdiskursen der Gesellschaft seinen Platz hat und dass es über eine Sanktionsmacht verfügt. Die symbolischen Identifikationen sind in der Struktur angelegt und normativ geboten, die Personen werden auf die Wirksamkeit dieser Identifikationen hin befragt, und ihre Ablehnung hat schwerwiegende Folgen. Heute liegt es bei den Einzelnen, ob sie eine soziale Situation in imaginären oder in symbolischen Koordinaten interpretieren wollen. Das
46Es
ist interessant zu sehen, wie in Bourdieus Werk das Symbolische und das Imaginäre – jetzt im ethischen Sinn – verteilt sind. In einer für die meisten modernen „kritischen“ Theorien typischen Spaltung ist die dargestellte Welt als unter der Herrschaft des Imaginären stehend beschrieben, das Symbolische, die Dimension der verantwortlichen Entscheidung, ist dem Bereich zugeordnet, dem sich der Autor selbst zurechnet, der Wissenschaft (soweit sie nicht selbst wieder Gegenstand der Kritik ist). Die obige Argumentation zielt im Grunde auf nichts anderes ab als darauf, diese Spaltung aufzuheben. Der Kritiker gehört zur Welt, die er kritisiert; nicht nur in dem trivial gewordenen Sinn, dass er das Schlechte, das er in der Welt sieht, auch in sich hat, sondern auch in der Weise, dass das Gute, das er für sich (und seinesgleichen) reserviert, auch in der Welt zu finden ist.
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Symbolische herrscht nicht mehr über das Imaginäre, sondern steht neben ihm; es ist wählbar geworden.47 Nun bringt Žižek die Wählbarkeit, das Reflexivwerden des Symbolischen gerade als Argument für dessen Auflösung. Symbolische Identifikationen verlangen, so sein Argument, ein Minimum an nicht reflektierter Akzeptanz, einen „Glaubensvorschuss“.48 Dieses Argument trifft aber nur, wenn man dem Begriff „Reflexivität“ einen ganz bestimmten Sinn gibt. Es wäre absurd, den symbolischen Systemen der alten Hochkulturen, etwa der scholastischen Theologie, Reflexivität abzusprechen. Was Žižek eigentlich meint – das zeigt auch sein Beispiel –, ist nicht Reflexivität, sondern Konstruktion; diese Verwendung knüpft an die tatsächlich in der aktuellen Diskussion verbreitete Vorstellung an, man könne Identitäten konstruieren oder aushandeln.49 Symbolische Bindungen können aber nicht hergestellt werden, darin hat Žižek Recht, sie müssen gegeben sein; allerdings können sie „übernommen“, bejaht, zu eigen gemacht werden. Reflexivität kann aber auch heißen: unter Vorfindlichem wählen können bzw. müssen. Wie es der frühe Lacan immer wieder betont hat, ist das Symbolische, das Geflecht von Gabe und Schuld, immer schon da. Und es gehört zum Wesen des Symbolischen, dass es Alternativen, die Möglichkeit und Notwendigkeit der Wahl und damit auch Reflexivität gibt. Die traditionellen symbolischen Systeme lenken gewöhnlich die Wahl, indem sie die Alternativen als gut und schlecht markieren. Heute fällt diese Markierung häufig weg; es kommen von der Gesellschaft her weniger Anforderungen an das Individuum, die ihm sagen, welche der Alternativen es zu übernehmen hat. Die im Symbolischen immer schon angelegte Reflexivität bekommt einen anderen Stellenwert und mehr Gewicht. Damit lösen sich auch die Imperative des Symbolischen von den sozialen Zwängen. Es bleibt nur der Imperativ, der aus der Gabe kommt. Reflexivität heißt dann vor allem erst einmal, diesen leiser gewordenen Imperativ überhaupt zu hören, noch bevor es darum geht, ihn zu wählen oder abzulehnen. In diesem Sinn ist es kein innerer Widerspruch, wenn man sagt, dass das Symbolische reflexiv geworden ist.
47Das
gilt für die Ebene der bewussten Aneignung; im Unbewussten behält das Symbolische seine Macht. 48Žižek (1998a): Das Unbehagen im Subjekt, 180 f. Žižek verweist hier auf amerikanische Männergruppen, die sich bewusst für eine traditionelle bindungswillige und verantwortungsvolle Männlichkeit entscheiden. 49In der Diskussion über multiple Identitäten, Hybridität, Leben als Kunstwerk wird Reflexivität meist im Sinn von Konstruktion verwendet. Damit gerät man in den Bereich imaginärer Autonomiefantasien.
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Wie steht es nun aber mit der Wahrheit des Symbolischen, mit der Durchstreichung des großen Anderen? Jedes symbolische System ist gewaltsam, es nimmt dem Subjekt sein Sein und reduziert es auf etwas Objektiviertes und notwendig Fremdes, ein Haben; es verbietet und setzt Objekte, die zu begehren sind. Ein solches System muss sich legitimieren können. Die großen Konflikte der Moderne gehen um die Wahrheit der symbolischen Systeme. Das Prinzip der Gabe ermöglicht zwar Identifikationen, die angenommen oder abgelehnt werden können, und eröffnet so die Dimension des Wahren. Aber, anders als die genealogische Ordnung, sagt es nichts darüber, wie sich die Wahrheit eines konkreten Systems des Habens begründen lässt. Wir können zwar gegen den Lacan des Ethik-Seminars, der sagt, es gibt nur ein Gut, das Ding (die reale Mutter),50 den frühen Lacan verteidigen. Es gibt ein Gut innerhalb der Welt, das EthischSymbolische, die Gabe, und es gibt die Dimension der Wahrheit in der Welt. Aber die Kontingenz der Setzung des Systems – die die genealogische Ordnung verdecken konnte – bleibt immer offenbar. In diesem – allerdings eingeschränkten – Sinn bleibt der Andere durchgestrichen. Genau diese eingeschränkte Durchstreichung bestimmt offensichtlich den Status des Symbolischen in der Postmoderne. Das Neue und Skandalöse ist ja nicht die Pluralität der Systeme, sondern die Tatsache, dass die Wahrheitsfrage nicht mehr gestellt wird. Es wird als selbstverständlich hingenommen, dass symbolische Systeme auf kontingenten, nicht legitimierbaren Setzungen beruhen; sie werden als Welten hoch- oder geringgeschätzt und nicht als wahrheitsfähige Ordnungen befragt. Dieser Tatbestand ist es ja auch, der das traditionelle Politikverständnis ins Leere laufen lässt. Eine Welt als Welt sehen bedeutet aber, dass der, der so schaut, in seiner eigenen Welt nicht zu Hause ist. Das bedeutet: Wenn man die Situierung des Symbolischen in der Postmoderne verstehen will, muss man die Subjektpositionen beachten. Was sich verändert, ist weniger die innere Struktur der Wirklichkeit, sondern der Ort, von dem aus sie gesehen wird, die fundamentale Frage, auf die sie als Ganze, als Wirklichkeit, antwortet.51 Lacans Theorieumbau betrifft einerseits das Symbolische, andererseits die Auffassung des Subjekts. Der frühe Lacan hatte die imaginäre Strukturierung des Ego und die tragende Rolle der verdrängten symbolischen Identifikationen ausgearbeitet; das wahre Subjekt,
50Vgl.
Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], 85. Punkt ist in Luhmanns Interpretation der Postmoderne sehr klar herausgestellt. Vgl. Anm. 31.
51Dieser
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auf das der Analytiker zu hören hat, ist hier das Subjekt des vollen Sprechens.52 Später löst Lacan genau diesen Begriff auf. Das neue, das cartesische Subjekt ist ein Subjekt hinter allen Identifikationen,53 es erscheint genau dort, „wo wir das Subjekt von allen seinen Vermögen als ‚menschliche Person‘ ablösen“.54 Es situiert sich nicht mehr im Symbolischen, sondern im Realen.55 Dieser systematischen Umstrukturierung des Subjektbegriffs entspricht ein Wechsel in den Subjektpositionen, die als Ziel der Analyse angestrebt werden. Am Anfang ist das Ziel die Übernahme der symbolischen Identifikationen und die Integration des Imaginären in eine symbolische Geschichte; im Ethik-Seminar soll die Analyse dazu führen, dass das Subjekt seine Situierung außerhalb der Ordnung der Welt und seine absolute „Hilflosigkeit“ erfährt.56 Der späte Lacan gibt seiner Bestimmung des Subjekts eine Situierung in der Geschichte: Dieses Subjekt entsteht in der Moderne, es ist ein Effekt der Trennung von Wissen und Wahrheit. Wir haben hier diese extrem stilisierte Geschichte zu konkretisieren versucht und das definitive Ende der genealogischen Ordnung mit der Postmoderne verbunden. Wenn das Symbolische keine Macht mehr ist, sondern nur noch eine Wahl, dann kann das Subjekt im Symbolischen wohl noch eine Welt, aber nicht mehr seine Gewissheit finden. Der Punkt, hinter den nicht zurückgegangen werden kann, ist nicht mehr die genealogische Identifikation, sondern die Verlassenheit des weltlosen Subjekts. In diesem Sinn hat der späte Lacan Recht: Es gibt keine Wahrheit der Welt mehr, wenn man unter Wahrheit die Kraft meint, das Subjekt in einer solchen Weise an seine Identifikationen zu binden, dass es kein Jenseits dieser Identifikationen gibt, dass es also vor der absoluten Verlassenheit geschützt ist. Es ist auch diese Situierung des Subjekts, die zu verstehen erlaubt, warum es an der Frage nach einer inhaltlichen Legitimierung der Ordnung nicht mehr interessiert ist. Wenn man von einer Identifizierung aus schaut, sucht man nach der Wahrheit der Welt; aus der Position der Weltlosigkeit kommt es nicht auf die Legitimierbarkeit an, sondern auf die Welthaftigkeit. Das postmoderne Desinteresse an Wahrheit hat also wenig mit Beliebigkeit zu tun, sondern damit, dass die Postmoderne einen neuen Ort des Subjekts in der Wirklichkeit installiert und damit neue Kriterien für Relevanz und Irrelevanz schafft.
52Vgl.
Miller (1987): Les réponses du réel, 15. ebd., 21. 54Žižek (1998a): Das Unbehagen im Subjekt, 18. 55Vgl. Miller (1987): Les réponses du réel, 9. 56Vgl. Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], 351, 353. 53Vgl.
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In einem bestimmten Sinn behält also der späte Lacan Recht: Der große Andere bleibt durchgestrichen. Das Ethisch-Symbolische beherrscht nicht mehr die Wirklichkeit und bestimmt nicht mehr die unhintergehbaren Positionen des Subjekts. Aber eines ist von dem frühen Lacan zu bewahren: Es gibt nicht nur die imaginäre, täuschende Moral des Wohls, es gibt eine ethische Wahrheit in der Welt; und man wird auch sagen können, dass es ohne diese keine Welt gäbe. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst In Das Unbehagen in der Kultur diskutiert Freud dieses Gebot mit sichtlichem Widerwillen; im Seminar VII nimmt Lacan diese Diskussion auf, Žižek macht daraus ein ganzes Buch: Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Das Ergebnis ist, wie man sich denken kann, ernüchternd: Der Nächste ist entweder das imaginäre Spiegelbild, in dem man eigentlich sich selbst liebt. Oder er ist der reale andere, dessen unergründliche Bösartigkeit ich fürchte, der die jouissance zu besitzen scheint, deren Fehlen mir unmöglich macht, wirklich ein Mensch zu sein. Er ist also gerade der, der mich hindert, das zu sein, was ich unbedingt sein möchte, und von dem ich mir sehnlich wünsche, er würde nicht existieren. Bei Legendre geht es nicht um Nächstenliebe, sondern um eine weniger anspruchsvolle, aber gleichzeitig fundamentalere Frage: Was bewirkt, dass ich einen Menschen überhaupt als Menschen ansehe? Was macht einen Menschen zu einem „Menschen unter Menschen“, zu einem „Mitglied der Menschenherde“? Was ein Mensch ist, denken wir heute zuerst im Zusammenhang der Menschenrechte. Die Vorstellung von Menschenrechten ist an eine bestimmte Konstellation gebunden: ein Opfer, ein Täter, ein Zuschauer. Das Subjekt der Menschenrechte ist der Mensch, mit dem ich nichts zu tun habe, der mir nichts antun kann, den ich nicht zu beneiden brauche. Wenn die Menschenrechte wiederhergestellt sind, dann verlässt er die Konstellation, in der der Begriff eine Bedeutung hat; man ist kaum überrascht, ihn bald auf der Seite der Täter wiederzufinden. Legendre stellt die Frage: Was macht eigentlich, dass der normale Nebenmensch, der peinliche Nachbar, die geliebte Frau, die mich bösartig verlassen hat, der Fremde, der beansprucht, mit mir zu teilen, was ich habe – dass diese alle immer noch Menschen sind? Die Antwort ist: Ich sehe die anderen als Menschen, wenn ich mich von ihnen als Mensch gesehen fühle;57 was den Zugang zu diesem
57Der
frühe Lacan drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: „‚Je suis semblable à celui qu’en le reconnaissant comme homme, je fonde à me reconnaître pour tel‘“. (‚Ich bin für denjenigen Mitmensch, den ich, indem ich ihn als Menschen anerkenne, ermächtige, mich als einen solchen anzuerkennen‘ (Übersetzung M. W.). Lacan (1966b): L’aggressivité en psychanalyse, 118.
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Bereich eröffnet, ist die Identifikation in einer gemeinsamen symbolischen Ordnung. Das Problem nimmt deutlichere Konturen an, wenn man es in einen historischen Kontext stellt. Ich möchte eine paradigmatische Geschichte aus einem wenig bekannten Text von Rousseau heranziehen, der romanhaften Fortsetzung, die Rousseau dem Émile gegeben hat. Émile, Rousseaus ideales Alter Ego, ist auf einer Seereise in die Hände maurischer Piraten gefallen und wird zum Sklaven gemacht. Zwei seiner Mitgefangenen sind Malteser Ritter, die in der traditionellen Welt des Adels leben. Sie interpretieren die Sklavenarbeit in Kategorien der Ehre: Sie suchen sich für die Erniedrigung zu rächen und erschöpfen sich in aussichtslosen Fluchtversuchen. Émiles moderne Weisheit dagegen besteht darin, dass er das Verhältnis von Personen als ein Verhältnis von Sachen interpretiert. „Ob ein Herr mich umbringt oder ein Felsen mich erschlägt, ist in meinen Augen dasselbe Ereignis“.58 Die Malteser sehen in ihrem Feind den Blick des großen Anderen; sein Urteil, nicht nur sein Verhalten, ist für sie wichtig. Feinde bleiben Wesen derselben Art, Menschen. Für Émile ist der andere etwas wie ein Felsen. Im Folgenden wird er vernünftig und gewaltlos mit ihm umgehen. Aber man sieht, dass er ihn in dieser Logik auch wie irgendeinen Schadstoff behandeln könnte. Über diese fundamentale Entmenschlichung legt sich dann eine Menschlichkeit zweiter Ordnung, die humane Menschlichkeit, die wir kennen und die Freud und Lacan demaskieren. Wenn wir in die europäische Geschichte zurückschauen, so kann man sehr schnell eine Entwicklung skizzieren. In den ersten literarischen Zeugnissen, in der Epik Homers und des Mittelalters, finden wir die Welt der Malteser Ritter. Es ist eine Welt geteilten Eigentums mit unhintergehbaren Identifikationen, eine grausame Welt voll Mord und Totschlag. Aber Feinde sind Feinde, also Menschen derselben Art; sie haben immer das Gesicht des Anderen, auf dessen Anerkennung das Subjekt angewiesen ist. Mit der Entstehung eines Denkens zweiter Ordnung, der griechischen Philosophie und des Christentums,59 werden die anderen zu Barbaren und zu Ungläubigen, sie haben nicht mehr den Blick des Anderen in sich; aus Kampf wird sehr schnell Vernichtung. In der Moderne wird die Welt geteilten Eigentums wirklich aufgelöst; es entsteht eine Dimension, in der man die Menschen einerseits als Sachen behandeln kann, andererseits als diese realen Nächsten, die mich am Leben hindern und die beseitigt werden müssen. Diese
58Rousseau
(1969 [1781]): Émile et Sophie, ou les solitaires, 917 (Übersetzung M. W.). ihren Anfängen fällt die mittelalterliche Epik noch aus dem Bereich der christlichen Normativität heraus.
59In
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Dimension ist mit der Moderne gegeben; sie muss die Ausgangsposition einer realistischen modernen Ethik sein. Wir können hier nicht auf die Faschismusanalysen eingehen. Eine der unbestreitbaren Erkenntnisse der Faschismusanalyse, die das ganze Werk von Žižek durchzieht, ist jedenfalls, dass die Faschisten unsere unheimlichen Nächsten sind. Ethik des Symbolischen – Ethik des Realen Das Seminar VII sagt, dass es keine soziale Ethik gibt. Im Sozialen geht es im besten Fall um Glück, Gemeinwohl und Nächstenliebe. Das sind Bereiche, in denen letztlich das Symbolische dem Imaginären untergeordnet ist, Bereiche der Täuschung und Selbsttäuschung. Die wahre Ethik beginnt jenseits des Sozialen, in der Konfrontation mit dem Realen, das die Welt trägt. Den Zugang zu dieser Wahrheit gibt die Tragödie und heute die Psychoanalyse. Das führt zur Theorie der vier Diskurse. Die drei, die das Soziale beherrschen (Diskurs des Herrn, des Hysterikers, der Universität), liegen außerhalb der Dimension des Wahren. Ein Jenseits der Täuschung gibt es nur in dem Diskurs der Psychoanalyse. Dieser Diskurs liegt nicht neben, sondern zwischen den anderen und ermöglicht den Übergang von einem zum anderen. Das ethisch Wahre liegt in dem Zwischenraum zwischen den Bereichen des Wirklichen. Žižek versucht, in der Berufung auf Kant, aus dieser Ethik der Psychoanalyse eine Ethik des Realen zu entwickeln, die sich auf das soziale Leben beziehen lässt. Geboten ist, wie bei Lacan, der Konfrontation mit dem traumatischen Realen nicht auszuweichen. Der eigentliche, der intime Gegner ist der Faschist. Der Faschist ist ein Perverser, der der realen jouissance sehr nahekommt, ihr aber am Ende doch ausweicht. Indem er seine jouissance an das reale grausame und obszöne Überich abtritt, genießt er, indem er nur die Pflicht erfüllt, die dieses Überich ihm auflegt.60 Kant verbietet es, diese Position einzunehmen. Das Subjekt muss die volle Verantwortung dafür übernehmen, was es als seine Pflicht bezeichnet, also auch für seine reale jouissance. Gleichzeitig ist die Ethik des Realen eine Ethik des richtigen Abstands. Wenn wir „dem Gesetz zu nahe kommen, verwandelt sich seine sublime Majestät in obszöne abscheuliche Ungeheuerlichkeit“.61 Und Žižek interpretiert Lacans berühmten Satz „in seinem Begehren nicht nachgeben“ als den
60Diese
Figur wird in Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Interpretation der Person Eichmann entwickelt. 61Žižek (1998a): Das Unbehagen im Subjekt, 94.
Ethik der Welt – Ethik des Realen (2001)
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Imperativ, durch das Festhalten an dem Begehren den notwendigen Abstand zu der realen jouissance aufrechtzuerhalten.62 Žižek verwahrt sich immer dagegen, in die Nähe von Weisheitslehren gebracht zu werden. Aber mit Sicherheit handelt es sich hier um eine extrem anspruchsvolle Ethik; man kann bezweifeln, dass sie inhaltlich konkretisierbar ist. Wahrscheinlich ist das Wichtigste, was diese Ethik uns lehren kann, die Tatsache, dass die Moderne einen Raum des Ethischen außerhalb des Symbolischen herstellt, in dem Kant und Sade – bzw. Žižek und der Faschist – sich begegnen, und dass es anspruchsvolle und feine Linien sind, die sie trennen. Ein durchgehendes Thema von Žižek ist die Polemik gegen den Dekonstruktivismus. Der Dekonstruktivismus verkennt – das ist der zentrale Punkt –, was Ideologien abschließt und Kollektive zusammenhält, und was dieser Schließung ihre Macht gibt, eben die Verankerung im Realen, sodass die Dekonstruktion immer nur den Schein trifft und nie die Sache. Gemeinsam ist aber dem späten Lacan, Žižek und dem Dekonstruktivismus die Überzeugung, dass das, was die Menschen zu Kollektiven verbindet, notwendig Täuschung ist. Der einzig wirklich spannende Moment, der, in dem man das Wahre im Wirklichen berührt, ist immer nur der Moment des Übergangs,63 die Auflösung, das Neue, bevor es Gestalt gewonnen hat. Soziale Welten sind nur genau in dem Maß akzeptabel und ansatzweise legitim, wie sie die Willkürgewalt der Schließung, auf der sie beruhen, gegenwärtig halten und die Dimension der Öffnung bewahren können. Es gibt in der Politik keine Ziele, nur Bewegung. Diesem Konsens wollte ich eine wesentliche Erkenntnis des frühen Lacan entgegensetzen: Auf einer fundamentalen Ebene ist die Emergenz des sozialen Bandes und der menschlichen Welt ein und dasselbe. Es gibt eine fundamentale Ethik der Welt und der Identifikationen, das ist die Ethik von Gabe und Schuld. An dem späten Lacan kann man ablesen, dass diese Welt nicht mehr einfach die Wirklichkeit ist; sie ist umfasst von einem anderen Raum. Die Emergenz einer symbolischen Welt ist nicht mehr ein Sachverhalt, sondern eine Möglichkeit. Gerade darum, denke ich, ist es wichtig, diese Dimension wahrzunehmen. Auch der Lacan des Seminars VII und Žižek verwenden das Wort „Verantwortung“. Sie tun es nicht häufig, aber die Texte sind nur, was sie sind, weil sie in einer Verantwortung geschrieben sind. Als Akt eines Einzelnen
62Ebd.,
124. der politischen Wendung dieser Gedanken bei Žižek (1998b): Ein Plädoyer für die Intoleranz, passim, bes. 56, 88.
63Zu
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wäre ein „Ich übernehme die Verantwortung“ ein Akt von leerem Narzissmus. Verantwortung verweist auf ein bindendes symbolisches System, das Verantwortungen zurechnet, die das Subjekt ablehnen oder übernehmen kann. Auch in den Texten, die die Ethik des Symbolischen negieren, ist diese auf der performativen Ebene gegenwärtig und wirksam. Ein ähnliches Argument hat man auch schon oft bezogen auf den Dekonstruktivismus vorgebracht. Der Dekonstruktivismus, der jede Schließung zu öffnen versucht, ist sicher innerhalb der Geisteswissenschaften gegenwärtig die größte „Schule“ mit einem festen System von Positionen, Schreib- und Lektüreregeln, obligatorischem Wissen etc. Auch hier gilt natürlich die Regel Derridas, dass der Rahmen Teil des Bildes ist. Der Imperativ, symbolische Systeme aufzulösen, funktioniert nur, wenn er von einem festen, identifizierenden System „getragen“ ist. Diese anekdotischen Bemerkungen verweisen auf einen fundamentalen Zusammenhang: Die Imperative des Hintergehens und der Auflösung setzen tragende symbolische Welten voraus. Wenn man heute das Gefühl haben kann, dass die Psychoanalyse in ihrem wesentlichen Interesse bedroht ist, dann liegt das nicht an der Starre und übermäßigen Schließung der symbolischen Ordnungen, sondern im Gegenteil daran, dass die Ordnungen selbst zum Problem geworden sind.
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Ethik der Welt – Ethik des Realen (2001)
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Die Trivialisierung des zweiten Todes – Das Unsagbare in der Postmoderne (2006)
Die postmoderne Kultur „Es gibt nichts, was man nicht sagen kann.“ Auf diese Formel kann man die vielfältigen zeitdiagnostischen Aussagen zusammenbringen, die feststellen, dass es heute keine Tabus mehr gibt, dass man nicht mehr provozieren kann, dass alles erlaubt ist.1 Das bedeutet, dass die Älteren von uns sich auch noch an Zeiten erinnern, wo man noch nicht alles sagen konnte. Es gab Dinge, die auszusprechen die Grundlagen des Lebens erschüttert hätten, die Grundlagen des gemeinsamen Lebens, aber auch die Bindungen an eine normierende Instanz, über die die Einzelnen sich definierten. Offenbar beruht aber heute unsere Kultur nicht mehr auf normativen Grundlagen, die man durch Reden gefährden könnte. Die postmoderne Gesellschaft wehrt sich erst dann, wenn ihre materiellen bzw. ökonomischen Grundlagen angegriffen sind, also gegen terroristische Gewalt und gegen Kosten, von denen man annimmt, dass sie den wirtschaftlichen Bestand gefährden. Die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie macht deutlich, dass das Entsprechende auch für die Subjekte gilt. Bei den klassischen Neurosen konnte man mit Recht sagen, dass es in der Therapie um das Reden ging. Der frühe
1In
dieser Allgemeinheit ist das natürlich nicht richtig; wir begegnen immer wieder Situationen, wo vieles nicht gesagt werden darf. Aber offenbar gab es früher ein gesamtgesellschaftliches Einverständnis darüber, was man nicht sagen durfte. Das gibt es jetzt nicht mehr.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_9
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Lacan hat diese Dimension am klarsten formuliert. Die Analyse zielt hier darauf ab, dass das Subjekt den symbolischen Schuldzusammenhang, in dem es situiert ist, zu einer Geschichte ausformuliert und auf sich nimmt, seine Situierung bejaht. Bekanntlich sind die klassischen neurotischen Strukturen heute eher selten geworden, an die Stelle treten Borderline-Phänomene, narzisstische oder psychosomatische Störungen. Die entsprechenden psychoanalytischen Techniken kann man wohl am besten mit dem Oberbegriff des Containing zusammenfassen. Hier ist, was Lacan mit vollem Reden meint (ein Reden, das mit der das Subjekt begründenden Instanz des großen Anderen in Berührung ist), als Dimension noch überhaupt nicht vorhanden. Es geht darum, einen Beziehungsraum entstehen zu lassen und allmählich zu stabilisieren, in dem ein solches Reden und damit eine Analyse im klassischen Sinn möglich wird. Diese Transformation ist unter einer Vielzahl von Stichworten in verschiedenartigen Kontexten diskutiert worden: Postmoderne, Wertewandel, Individualisierung, Tyrannei der Intimität, Hybridität, Transkulturalität etc., und zwar vorwiegend getrennt entweder als Kulturphänomen oder als psychisches Phänomen. Ich möchte diese Diskussion in einem theoretischen Kontext wieder aufnehmen, in dem man auf der inneren Einheit – und nicht nur wechselseitigen Abhängigkeit – von innen und außen, von Subjektivität und kultureller Welt besteht. Damit meine ich einerseits die moderne Kulturtheorie, die auf der Grundlage des Strukturalismus und der Phänomenologie entwickelt worden ist, repräsentative Namen sind Pierre Bourdieu und Charles Taylor;2 andererseits die poststrukturalistische Theorie des Subjekts – hier werde ich mich auf Louis Althusser, Michel Foucault, Judith Butler und vor allem auf Jacques Lacan beziehen. Ich hoffe, dass dabei trotz der skizzenhaften Darstellung deutlich wird, dass es sich nicht um eine Transformation handelt, die man als den Wandel eines abgegrenzten Phänomens im Innern eines vorausgesetzten Gleichbleibenden beschreiben kann, sondern um eine Entwicklung, zu der es keinen Außenstandpunkt gibt, eine Veränderung, die die Verankerung des Menschen im Feld der Sprache betrifft. Ich möchte zuerst die bekannten Phänomene, um die es hier geht, nur auflisten und sie später im Licht der hier verwendeten Kulturtheorie beschreiben.
2Eine
vorzügliche Darstellung der Entwicklung und der systematischen Einheit dieses Theoriezusammenhangs findet man bei Reckwitz (2000): Die Transformation der Kulturtheorien.
Die Trivialisierung des zweiten Todes …
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Modern
Postmodern
1.Bindung an traditionelle Kollektivzusammenhänge
Individualisierung
2. Gewicht von Autoritäten, auch von abgelehnten
Verblassen der Autorität
3. Einheit der Widersprüchlichkeit der Überzeugungen und Lebensweisen, Popkultur als Kultur des Protests und der Subversion gegen eine hegemoniale Kultur
Pluralismus ohne Widersprüchlichkeit der Überzeugungen und Lebensstile, die postmoderne Ironie. Die Idee einer einzigen hegemonialen Kultur verschwindet; an die Stelle tritt eine Vielzahl von Szenen. Damit verschwindet auch die Idee einer subversiven Popkultur.
4. Gefühl der Natürlichkeit der eigenen Lebensform
Die eigene Lebensform wird als gewählt und hergestellt angesehen.
5. Die Hochkultur wird als Medium der Bewahrung von und der Auseinandersetzung mit der sozialen Normativität angesehen.
Hochkultur als Erlebniskultur; Dominanz von lokalen Kulturen
6. In allen kulturellen Bereichen gibt es einen Kanon von „gültigen“ Werken.
Die klassischen Kanons verlieren ihre Geltung. Das Prinzip der kanonischen Ordnung selbst wird infrage gestellt.
7. Verbindlichkeit der Interpretationen
Beliebigkeit der Interpretationen
8. „Tiefe“ als Wert in der Kunst
Verabschiedung der Dimension der „Tiefe“
9. Einheitliches Subjekt
Hybrides Subjekt
10. Die kulturelle Ordnung beruht auf der Existenz von Unsagbarem.
Alles kann gesagt werden.
Das Schema der Subjektivierung In die Problematik des Verhältnisses des Subjekts zur Kultur möchte ich mit einem sehr bekannten und viel diskutierten Text einführen, dem Aufsatz Ideologie und ideologische Staatsapparate3 des strukturalistischen Marxisten Louis Althusser. Dieser Text ist von Judith Butler in einem Kapitel ihres Buches Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung4 wieder aufgenommen und ausführlich besprochen worden. Der Aufsatz von Althusser präsentiert uns eine Inszenierung 3Althusser 4Butler
(1977 [1970]). (2001 [1997]).
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des Prozesses der Subjektivierung, der Verwandlung des vormenschlichen Wesens in ein menschliches Subjekt. Inszenierung ist eine treffende Formulierung von Butler; tatsächlich versucht der Text gar nicht eine Beschreibung dieses in der Wirklichkeit ja so ungeheuer komplexen Prozesses zu geben, er personifiziert die Entitäten, die in diesem Prozess wichtig sind, und lässt sie miteinander agieren. Dadurch wird einerseits die Struktur deutlich, andererseits das, worum es in diesem Prozess überhaupt geht. Nun also die Szene: Ein Passant wird auf der Straße von einem Polizisten angerufen: „He, Sie!“, und er dreht sich um. Er hat sich angesprochen gefühlt. Diese Szene wird verdoppelt von einer Szene aus dem Alten Testament. Gott ruft Moses, um ihm zu sagen, dass er, Gott, existiert und dass Moses ihm für seine Taten Rechenschaft ablegen muss. Und Moses antwortet: „Hier bin ich. Ich bin dein Diener und ich werde dir gehorchen.“ Das Subjekt nennt und definiert sich durch die Stimme, die von einer Instanz kommt, die ich hier mit Lacan den großen Anderen nennen werde. Indem es sich diesem Anruf unterwirft, wird das Individuum ein Subjekt, ein Mensch, der in der Welt handeln kann. Einige der wichtigsten Bücher von Foucault, vor allem Überwachen und Strafen und Geschichte der Sexualität I, kann man als eine Ausführung dieses Schemas lesen, eine Ausführung, die den Aspekt der Gewaltsamkeit dieser Unterwerfung betont. Er zeigt, wie diskursive Machtapparate, Gefängnisse, Kliniken, psychiatrische Anstalten, Schulen durch Disziplinierung Subjekte schaffen. Butlers Interesse am Prozess der Subjektivierung ist zentriert auf die Übernahme sexueller Normen und Verhaltensweisen. Aber anders als Althusser und Foucault betont sie die positiven Seiten der Subjektwerdung: Durch sie erst bekommt das Individuum die Möglichkeit, in der sozialen Welt aktiv zu werden. Für Butler wichtig ist dabei die Dimension der Anerkennung. Subjektwerden heißt Unterwerfung, heißt aber auch, von der Instanz der symbolischen Ordnung anerkannt zu werden. Die Anerkennung ist Bedingung einer menschlichen Existenz. Damit stellt sich für sie auch die Frage nach dem Verhältnis des Subjekts zu dem Gesetz, dem es unterworfen ist, eine Frage, die bei Foucault nie theoretisch thematisiert wird. Ein ambivalentes Verhältnis: Einerseits geht Butlers zentrales Interesse auf die Möglichkeiten, wie das Subjekt dem Gesetz der Zwangsheterosexualität, dem es unterworfen ist, Widerstand leisten kann, andererseits sieht sie aber auch, dass das Subjekt eben durch die Abhängigkeit von der Anerkennung, in der es sich als Subjekt konstituiert, gerade diesem Gesetz „leidenschaftlich verhaftet“ ist.5
5Das
leidenschaftliche Verhaftetsein hat bei Judith Butler noch andere Quellen als die genannten.
Die Trivialisierung des zweiten Todes …
193
Wir haben damit ein begriffliches Schema, wir wollen es im Folgenden das S-Schema nennen, in dem man das Verhältnis des Subjekts zur Kultur (zur Ideologie, zur symbolischen Ordnung etc.) denken kann, ein Schema, das Aktoren und einen Prozessverlauf beschreibt. Es gibt ein „Individuum“ vor der Sozialisation, dieses Individuum wird angerufen von einer Instanz – die Sprache, das Symbolische, die Kultur –, die eins ist mit der Ordnung der Welt und die auch die Macht hat, diese Ordnung durchzusetzen. Von dieser Instanz wird das Individuum benannt, an einen Platz in der Welt gestellt, und es wird dazu gebracht, sich diese Ordnung und ihre Normen zu eigen zu machen, sie zu internalisieren; damit ist es Subjekt in der Welt geworden. Dieses Schema operiert mit drei Termen: einem konstruierten Term, dem Individuum vor der Subjektivierung; dem in der Welt situierten und handelnden Subjekt; und dem retroaktiv produzierten Subjekt, das bei Lacan Subjekt des Aussagens oder des Unbewussten heißt, bei Althusser und Foucault nicht vorkommt, aber in Butlers Argumentation impliziert ist. Dieser dritte Term wird nötig, wenn man davon ausgeht, dass das Subjekt nicht in seinen Identifikationen aufgeht, sondern immer eine Distanz zu ihnen bewahrt – ein Grundpostulat von Lacans Denken, das in einer weniger radikalen Form schon von George H. Mead mit seiner Unterscheidung von me und I ausgearbeitet worden ist.6 Das Habituskonzept von Bourdieu ist auch eine Ausarbeitung dieses Schemas. In seinem Frühwerk Les héritiers will Bourdieu den rationalistischen Gerechtigkeitsanspruch des französischen Bildungssystems demaskieren. Er zeigt, dass die Selektion nicht, wie vorgegeben, an universalisierbaren Qualitäten ausgerichtet ist. Was tatsächlich zentral geprüft wird, sind Einstellungen und Fähigkeiten, die in der außerschulischen Sozialisation erlernt werden. Das eigentliche Ziel
6Die
Bezeichnungen für die Terme sind jeweils verschieden. Althusser, dem wir in diesem Text weitgehend folgen, verwendet für den konstruierten Term vor der Subjektivierung „Individuum“, das sozialisierte Wesen ist für ihn wie für Foucault und Butler das Subjekt. Bei Lacan hat das „Individuum“ keinen Namen. Man findet es allerdings doch, nämlich in der ersten Skizze des Graphen des Begehrens als Ausgangspunkt der Bewegung unten rechts an der Stelle, die später das retroaktiv erzeugte durchgestrichene Subjekt einnehmen wird. Bei Luhmann, wo sich trotz aller Unterschiede ein ähnliches Schema findet, entspricht Althussers Individuum das psychische System; was wir hier mit Althusser, Foucault und Butler Subjekt nennen, ist bei Luhmann die Person, die Summe der in einem System einem psychischen System von anderen und ihm selbst zugerechneten Erwartungen. Bei Lacan stehen an dieser Stelle die imaginären und die symbolischen Identifikationen. Das Lacan’sche Subjekt des Unbewussten hat bei den anderen genannten Autoren kein Korrelat, bei Butler muss man wohl die Aktorinstanz des Widerstands mit diesem Term gleichsetzen.
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einer Prüfung liegt darin, dass die Angehörigen einer Klasse die Ihrigen wiedererkennen. Was dann später Habitus heißen wird, ist ein Privileg – jedenfalls ein „guter“ Habitus, das heißt der der Oberklasse. Wie Althusser, wenn auch in anderem Zusammenhang und mit einer anderen Intention7, geht es Bourdieu um die Einführung eines Begriffs der Kultur als einer geschlossenen Ordnung. Eine Kultur produziert die Subjekte, von denen sie gesehen werden will. Daher kann man eine Kultur nur von innen beschreiben. Wenn man sie von außen beschreiben will, dann in der Haltung, die Foucault die ethnologische nennt oder Luhmann das Beobachten des Beobachters: man schaut, wie die Mitglieder der Kultur schauen. Womit Foucault und Butler beschäftigt sind, der Subjektivierungsprozess selbst, die ihm inhärente Gewaltdimension und die Möglichkeiten des Widerstandes, taucht bei Bourdieu überhaupt nicht auf. Was bei ihm besonders deutlich wird und was hier für uns wichtig ist, ist die Tatsache, dass Kultur und Subjekt sich wechselseitig voraussetzen. Die Menschen können nur Subjekte, also „richtige Menschen“, werden, wenn sie den Habitus der Kultur übernehmen, wie umgekehrt die Kultur darauf angewiesen ist, dass es ihr gelingt, den richtigen Habitus zu erzeugen. Bourdieu hält dieses Gelingen für selbstverständlich. Aber wo es Gelingen gibt, gibt es auch Misslingen. Diese Alternative wird für unsere Aufgabe, die Entstehung der postmodernen Kultur zu verstehen, wichtig werden. Die Hermeneutik operiert auch im Innern des S-Schemas. Der Begriff, der in der Position von Ideologie bzw. Diskurs/Dispositiv, Zwangsheterosexualität, Kultur etc. steht, ist die Tradition. Die Stelle des Habitus hat das Vorverständnis. Durch das Vorverständnis, das selbst ein Effekt der Tradition ist, sieht man die Tradition so, dass sie überhaupt lesbar wird. Ein großer Gegner der Gadamer’schen Hermeneutik ist bekanntlich der Historismus. Nun ist der Historismus eine frühe Form des Kulturalismus. Auch er geht davon aus, dass man historische Epochen nur von innen oder eben in einer Position des Beobachtens des Beobachters verstehen kann. Die Hermeneutik hält dagegen, dass kein Verständnis ohne Vorverständnis möglich ist; das heißt, man schaut immer von innen. Was notwendig zu der Position führt, dass es eigentlich nur eine Kultur gibt.8
7Hier
wie überhaupt in seinem Werk spielt die Intention der Demaskierung eine große Rolle. Wenn man von einem radikalen Kulturbegriff ausgeht, gibt es allerdings keine Außenposition, von der aus man demaskieren könnte. Wie Althusser die wahre Erkenntnis der marxistischen Wissenschaft zuweist, möchte Bourdieu dasselbe für die richtige, die von ihm vertretene Soziologie tun. 8Vgl. Kogge (2001): Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik.
Die Trivialisierung des zweiten Todes …
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Die Leerstelle in der Theorie: Subjektivierung in der Postmoderne Schauen wir nun von diesen verschiedenen Ausfüllungen des Schemas der Subjektivierung auf die Transformation von der Moderne zur Postmoderne, die wir verstehen wollen. Man sieht sofort, dass man die Moderne sehr leicht beschreiben kann, die rechte Seite dagegen, die der Postmoderne, erweist sich als unbeschreibbar. Zu 1: Eine in diesem Schema verstandene Kultur kann nichts anderes tun, als die Subjekte in vorgegebene soziale Zusammenhänge einbinden, was als für die Moderne bezeichnend gilt. Aber der Begriff der Individualisierung selbst erscheint vom S-Schema aus widersinnig. Ein menschliches Subjekt ist immer im Sinne einer wechselseitigen Konstitution auf eine kulturelle Welt bezogen. Andererseits ist der Begriff sicher nicht ohne Grund so erfolgreich. Offenbar verweist er auf eine andersartige kulturelle Konstitution des Subjekts. Zu 2: In dem fundamentalen Sinn, den man meint, wenn man von einer Krise der Autorität spricht, entsteht Autorität in der Beziehung zwischen den Instanzen, die das Ganze der kulturellen Ordnung vertreten, und den Subjekten, die von diesen Instanzen anerkannt werden wollen; diese Anerkennung ist ja die Bedingung dafür, volles Mitglied der kulturellen Ordnung zu werden.9 Der skizzierte Kulturbegriff impliziert die wesentliche Rolle von Autoritätsbeziehungen. Möglich ist dann die konservative Variante, man geht von der Selbstverständlichkeit der Bejahung von Autorität aus (Bourdieu und die Hermeneutik), oder die subversive, man ist im Modus der Ablehnung an die Autorität gebunden.10 Eine Auflösung der Autorität wäre nur als Auflösung jeder Ordnung zu verstehen. Zu 3: Kultur ist definiert durch die Einheit von äußerer Welt und Habitus. Sie produziert notwendig eine basale Einheit von Überzeugungen und Lebensweisen. Einheit heißt nicht, dass es keine Differenzen oder Widersprüche gibt, sondern dass es eine gemeinsame Basis gibt, auf der Widersprüche als Widersprüche wahrgenommen werden und zu Konflikten führen. Die Kultur der Moderne ist gespalten in eine Kultur der Bejahung und in eine Kultur der Ablehnung der Instanzen der Subjektivierung. Die Popkultur ist eine Variante der Ablehnungskultur. Die postmoderne plurale Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie Widersprüche verschiedenen Kulturen zurechnet und sie nebeneinander stehen
9Diese
Dimension wird von Butler immer betont. Bindung an die Autorität durch Ablehnung ist ein Hauptthema in Sennett (1985 [1980]): Autorität.
10Die
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lässt.11 Die Einheit der Widersprüche existiert nicht mehr. Dabei ist ein Subjekt im Regelfall in verschiedene Sprachspiele verwickelt. Eine solche plurale Kultur ist von dem S-Schema aus nicht zu verstehen. Zum Wesen des Habitus gehört, dass er inkorporiert ist, dass er der blinde Fleck des Subjekts ist, nicht wahrnehmbar und wirklichkeitsstrukturierend. Es scheint nicht vorstellbar, dass ein Mensch nicht nur einen Habitus, sondern mehrere hat. Der umfangreiche Diskurs über Hybridität, das Aushandeln von Identitäten etc., ist mit dem S-Schema nicht kompatibel. Zu 4: Der Habitus ist eine Weltsicht. Es versteht sich, dass die Weltsicht, mit der das Subjekt in die Welt eintritt, ihm als die natürliche erscheint. Wenn es für die Postmoderne typisch ist, dass niemand mehr sein Weltverhältnis als natürlich ansieht, dann stellt dies das S-Schema infrage. Zu 5: Diesen Punkt kann man nur von der hermeneutischen Ausführung des S-Schemas her verstehen. Die Hermeneutik bringt tatsächlich in das S-Schema eine bisher ungekannte Dimension herein. Bei Bourdieu wird die Form des Wirkens der subjektivierenden Instanz nicht thematisiert. Aus seinen Texten geht hervor, was auch schon die Wortwahl „Habitus“ sagt: dass Bourdieu sie in der Form der Gewohnheit denkt. Man gewöhnt sich an etwas, worüber man nicht nachdenkt, wozu keine Alternativen auftauchen. Insofern ist die subjektivierende Instanz bei Bourdieu gesichts- und sprachlos. Bei unseren anderen drei Autoren ist die Instanz als eine sprechende vorgestellt, sie befiehlt, übt einen äußeren und inneren Zwang aus, man kann ihr Geständnisse machen, sie lieben, Widerstand gegen sie leisten. Aber nur in der hermeneutischen Konzeption kann das Subjekt mit dieser Instanz sprechen; es kann die Texte der Tradition befragen, und diese antworten ihr. Es gibt einen Dialog zwischen der Instanz und dem Subjekt. Allerdings ist es ein eigenartiger, fundamental asymmetrischer Dialog. Die Texte werden von dem Vorverständnis aus befragt, das sie selbst in das Subjekt hineingelegt haben. In diesem Dialog wird die subjektivierende Instanz in ihren Inhalten den veränderten Verhältnissen angepasst. Zugleich dient dieser Prozess aber auch der Aneignung der symbolischen Ordnung durch die Subjekte. Und – das ist ein wesentlicher Unterschied zu allem Bisherigen – diese Aneignung ist zugleich auch eine Bejahung. Die Subjektivierung ist zwar auch hier ein Gewaltakt, dem Subjekt wird keine Wahl gelassen, aber hinterher scheint die Instanz mit dem Subjekt darüber zu sprechen, was mit ihm geschehen ist und wie es damit umgehen kann.
11Vgl.
Lyotard (1989 [1983]): Der Widerstreit.
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Von Gadamer wird die Funktion der Kultur (Kultur nicht in dem Sinn der Lebensform, wie wir den Begriff hier verwenden, sondern im Sinn der Kulturleistungen: Religion, Philosophie, Literatur, Recht etc.) sicher mit Recht in diesem Zusammenhang gesehen. Dass allerdings die Kultur aus diesem Zusammenhang herausgelöst wird und sich in eine Erlebniskultur verwandelt, muss von der Hermeneutik aus als undenkbar erscheinen. Zu 6: Wenn man Texten eine subjektivierende Macht zugesteht, wie die Hermeneutik es mit Recht tut, dann muss man zwei Umgangsweisen mit Texten unterscheiden: In dem Umgang, den man meistens im Auge hat, werden die Texte vom Vorverständnis und der Weltsicht des Lesenden aus gelesen und beurteilt. Davor gibt es aber eine prägende Form des Aufnehmens, bei der der Lesende mit dem Lesen die Normen, die einen Textzusammenhang strukturieren, in sich aufnimmt und damit zugleich eine Sicht der Welt und die entsprechenden Imperative, wie er sich selbst in dieser Welt zu situieren hat. Zu einem solchen Umgang mit Texten gehört notwendig eine kanonische Ordnung. Nur ein Kanon hat die Autorität, die das Sichprägenlassen legitimieren kann; nur er garantiert, dass das Sichprägenlassen in eine Gemeinsamkeit führt. Zu 7: Zum hermeneutischen Umgang mit Texten gehört das Postulat, dass es verbindliche Interpretationen gibt; dabei handelt es sich um ein Postulat, das man nie einlösen, aber auch nie aufgeben kann. Nur dieses Postulat begründet den Streit um die richtige Interpretation, der zum Wesen des Umgangs mit kanonischen Ordnungen gehört. Zu 8: Das Subjekt, das durch kanonische Ordnungen subjektiviert ist, findet in sich als Subjekt, in seinem Habitus und seinen „Vorurteilen“ die Grundlagen des Weltwissens seiner Kultur wieder. So wird es möglich, wie es die bürgerliche Auffassung der Kunst immer wiederholt, dass die großen Künstler in sich die Wahrheit über die Welt finden. Dadurch entsteht der Effekt der Tiefe. Zu 9: Nach der Begrifflichkeit des S-Schemas ist das Subjekt nur in Zusammenhang mit der subjektivierenden Instanz denkbar. Da man die Instanz des großen Anderen nur einheitlich denken kann, ist auch das Subjekt in sich einheitlich. Das gilt für das vormoderne und das moderne Subjekt. In der Diskussion über Hybridität wird die Problematik der Subjektivierung, die im S-Schema formuliert wird, in der Regel ausgeklammert. Zu 10: Unsagbar in einer Kultur ist immer die Beziehung zu der subjektivierenden Instanz, die das Subjekt an das bindet, wodurch es Teilhaber der Kultur ist. Wenn die Instanz in sich einheitlich ist, gibt es ein geteiltes Feld des Unsagbaren. In einer pluralen Kultur gibt es Unsagbares, aber immer nur lokal Unsagbares. Das Unsagbare der anderen Kultur kann man gefahrlos sehen und benennen.
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Die Subjektivierung durch die Gabe: Lacan und Mauss Das S-Schema ist seiner Anlage nach auf geschlossene, in sich einheitliche Kulturen abgestellt. Die eigene Kultur definiert alles, was man sehen kann, und man kann nur sehen, was man sehen kann. Es ist unmöglich, aus dem Habitus oder dem Vorverständnis der Hermeneutik herauszutreten; wenn es einen Widerstand gibt, kann es nur ein Widerstand von innen sein. Das ist ja auch die Auffassung von Butler oder Derrida. Nun ist aber die Postmoderne – darüber besteht Konsens – eine plurale Kultur. Wie kann man also eine solche Kultur mit dem S-Schema verstehen? Der gegenwärtige Diskussionsstand ist in sich postmodern; er arbeitet sich nicht an Widersprüchen ab, sondern ignoriert sie. Auf der einen Seite gibt es die in sich außerordentlich vielfältige Theorie von der sozialen bzw. kulturellen Konstitution des Subjekts, innerhalb derer wir uns hier bewegen. Hier geht man – wenn auch in der Form des Widerstands wie im Dekonstruktivismus mit Begriffen wie „Metaphysik“ oder „Phallologozentrismus“ – von der Einheit und Geschlossenheit der Kulturen aus. Auf der anderen Seite gibt es – vor allem im Kontext der Postcolonial Studies – einen offenen Begriff von Kultur mit Konzepten wie Hybridität oder verhandelbaren und konstruierbaren Identitäten. Hier ist dann allerdings meist ein sehr traditioneller Begriff des Subjekts als Autor seiner selbst impliziert, wenn auch natürlich nicht offen beansprucht.12 Gegenüber einem Theoriestil, der für jeden Gegenstand die jeweils am einfachsten passende Theorie auswählt, möchte ich auf dem klassischen Anspruch einer Konsistenz der theoretischen Konstruktion beharren; schon deswegen, weil schwierigere Theorien heuristisch ergiebiger sind. Unter dieser Voraussetzung stellt der Übergang von der Moderne zur Postmoderne ein doppeltes Problem. Zuerst einmal muss man wissen, was die Einheit der subjektivierenden Kultur eigentlich ausmacht. Erst dann ist es möglich, die zweite Frage zu beantworten: wie man den Übergang zu einer pluralen Kultur beschreiben kann. Ich will im Folgenden versuchen, diese Fragen auf der Grundlage des Begriffs der symbolischen Ordnung anzugehen, den der frühe Lacan entwickelt hat und der in der kulturwissenschaftlichen Diskussion immer noch präsent ist.13 Bei
12Es
gibt komplexe Begriffe der Hybridität, zum Beispiel bei Homi K. Bhabha, auf den diese Bemerkung nicht zutrifft. 13Hintergrund der folgenden Bemerkungen ist: Waltz (1993): Ordnung der Namen; vgl. auch Abschn. Ethik der Welt – Ethik des Realen.
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Butler ist der Akt der Subjektivierung der Effekt einer Instanz, die dem Subjekt Verhaltensweisen vorschreibt;14 bei Foucault ist die Subjektivierung Effekt von Machtdispositiven, Dispositiven der Disziplinierung oder des Geständniszwangs. Immer ist Subjektivierung als bipolare Konfrontation des Individuums mit einer Machtinstanz gedacht. Ein Grundgedanke des frühen Lacan besagt, dass die Subjektivierung sich durch die Situierung des Individuums in einem durch Regeln koordinierten sozialen Netz darstellt. Die Subjektivierung des Einzelnen ist gleichzeitig die Konstitution der anderen als wesentlich Gleiche unter dem Auge des Gesetzes. Im Gegensatz zu Foucault und Butler ist die Subjektivierung nicht in eine bipolare, sondern in eine trianguläre Struktur eingebunden. Das Individuum wird dadurch Subjekt, dass es diese Situierung als sein Wesen akzeptiert. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die psychoanalytische mit einer soziologischen Perspektive zu verbinden. Die Auffassung des Sozialen, die das Soziale als symbolisch verfasst versteht, findet Lacan bei Lévi-Strauss und durch ihn bei Marcel Mauss. Das die Kultur als Instanz der Subjektivierung konstituierende Prinzip – das bei Foucault die Macht ist – ist beim frühen Lacan der symbolische Tausch.15 Man kann dieses Konzept, wie alle Konzepte im Rahmen des S-Schemas, von der Seite des Subjekts oder von der der kulturellen Ordnung her anschauen. Lacan als Psychoanalytiker schaut vom Subjekt her und die Rezeption folgt ihm. Für unsere Fragestellung ist es nötig, das Schema von der Seite des Sozialen aus zu betrachten. Dann werden zwei Implikationen deutlich, die hervorzuheben sich lohnt: Es gibt eine spezifische Ebene der Strukturierung des Sozialen, der Beziehungen zwischen den Menschen, die sichtbar wird, wenn man das Soziale als Instanz der Subjektivierung betrachtet. Auf dieser Ebene, und nur auf ihr, gilt der für das ganze kulturwissenschaftliche Denken, das auf dem S-Schema basiert, fundamentale Satz, dass der Mensch das Prinzip der kulturellen Ordnung in seinem Innern findet. Es ist völlig offen, wie sich diese Ebene der Analyse des Sozialen zu den Betrachtungsebenen verhält, die wir aus der Soziologie kennen. Für Lacan ist sie eine verborgene Ebene, zu der die Psychoanalyse, wie er sie versteht, den Zugang eröffnen soll. Diese Verborgenheit hat auch eine ethische Dimension; sie ist Effekt des Vergessens von
14Der
Akt der Subjektivierung als Ganzer wird bei Butler nicht thematisiert, es werden immer nur einzelne Problematiken behandelt. 15Der hierfür relevante Text ist die berühmte Rede von Rom – Lacan (1966): Fonction et champ de la parole et du langage. Später wird Lacan diesen Begriff der symbolischen Ordnung aufgeben.
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dem, was die Wahrheit des menschlichen Lebens ausmacht.16 Diese Differenz zwischen dem Sozialen, wie es gewöhnlich wahrgenommen wird, und dem Sozialen, in dem der Mensch subjektiviert wird, wird von Lacan parallelisiert mit der Differenz zwischen dem („schlechten“) Imaginären und dem („guten“) Symbolischen. Lacan17 skizziert seine Version der Geschichte des S-Schemas. Archaisch herrscht zunächst das Symbolische, und im 17. Jahrhundert beginnt dann die Ära des Imaginären, des Ich (moi).18 An manchen Stellen klingt es so,19 als wäre in der Gegenwart eine zweite imaginäre Kultur entstanden, die zwar aus ethischen Gründen abzulehnen ist, die aber auf ihre Weise funktioniert, unter anderem mithilfe der ich-psychologisch orientierten Psychoanalyse. Aber es überwiegt doch die Auffassung, nach der das verborgene Symbolische den Kern jeder menschlichen Kultur ausmacht. In diesem Kontext versteht man auch die Privilegierung des Archaischen und der Ethnologie als der Wissenschaft, die den Zugang zu den archaischen Gesellschaften eröffnet. Ich möchte diese von Lacan nur sehr knapp angedeutete Skizze ausführen. Die Frage dabei ist: Kann mit Lacans Begriff der symbolischen Ordnung die Kultur der Moderne als eine Einheit und die Auflösung dieser Einheit in der Postmoderne verstanden werden? Dabei muss man in Erinnerung behalten, dass „Kultur“ hier einen ganz spezifischen Sinn hat: Kultur ist definiert als die Dimension des Sozialen, die in der Subjektivierung wirksam wird, die Dimension, durch die das Soziale in die Seele des Menschen eingreift. Diese Bedeutung werde ich im Folgenden durch Anführungszeichen markieren. Im Sinne von Mauss und Lévi-Strauss als Vergesellschaftungsmodus verstanden, wirkt der symbolische Tausch in zwei Richtungen. In der Horizontalen verbindet er Tauschpositionen, zum Beispiel Sippen oder Clans, durch ein Netz von Gaben und Gegengaben. In der Vertikalen ist die Position eine Gabe, die der Sohn vom Vater erhält, der sie seinerseits von seinem Vater bekommen hat, sodass er nicht nur ein Eigentum, sondern eine Schuld weitergibt. Diese Gabe in der Vertikalen ist eine Gabe von Rechten und Pflichten, die ihrerseits in der Horizontalen liegen. Es ist die Gabe einer Zugehörigkeit zu einem Tauschnetz und zugleich die Gabe einer Schuld. Der große Andere ist das Soziale in seiner subjektivierenden Funktion. Er inkarniert sowohl die Regeln des Tauschs wie
16Vgl.
ebd., 282. Erinnerung: wir sprechen hier immer vom frühen Lacan. 18Vgl. ebd., 283. 19Vgl. ebd., 282. 17Zur
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die Ordnung der Tausch-, das heißt der Eigentumspositionen. Gott ist in dieser Konzeption nicht der, der sagt „ich bin ich!“ und durch die performative Setzung eines ersten Signifikanten die Ordnung der Welt garantiert, er ist der gerechte Gott, der für die Regel steht und ihr selbst untergeordnet ist, eigentlich nur ein Effekt des Tauschprinzips. Bei allen archaischen Gesellschaften kann man sagen, dass das soziale Band auf dem symbolischen Tausch beruht. Hier ist die Identifikation, die das Subjekt fundiert, die Identifikation mit einem Eigentum, mit einer Position in den beiden Richtungen des Tauschsystems. Dabei darf man Tauschsysteme nicht als geschlossene symbolische Systeme ansehen, die das Subjekt völlig festlegen, sodass es keinen Raum für Freiheit und Unvorhersagbarkeit gäbe.20 Gabe und Schuld haben immer den Charakter von Appellen. Wer gibt, wendet sich immer an einen anderen, der nicht reagiert, sondern antwortet, und von dem man nie sicher weiß, wie er antwortet. Man hätte diese Sicherheit, wenn das Gegenüber mit seiner Identifikation im Tauschsystem einfach zusammenfiele. Aber genau das ist nicht der Fall. Die fundierende Identifikation, die mit der Position im Tauschsystem, ist immer eine Identifikation durch eine Gabe. Sie kann keine Unterwerfung erzwingen und will das auch nicht. Sie erwartet eine Antwort. In den Tauschsystemen ist das Subjekt ein inneres Außen, ein Ort der Unbestimmtheit. Niemand weiß, welche Haltung das Subjekt zu seinen Identifikationen hat. Und es ist offen, welchen Preis – welchen körperlichen Preis, Preis im Realen – das Subjekt für seine Identifikation zu zahlen gewillt ist. Diese Unbestimmtheit bliebe leer, wenn ihr nicht Wahlmöglichkeiten im Inneren des Systems entsprächen. Schon auf der horizontalen Ebene enthält jedes Tauschnetz eine Fülle von Verpflichtungsbeziehungen, die sich nicht eindeutig hierarchisieren lassen. Jede Wahl ist eine spezifische Identifikation, in der das Subjekt zeigt, was es ist. Dann gibt es die fundamentale Alternative zwischen den beiden Bindungstypen, den Bindungen zwischen den Tauschpartnern und der Bindung an die Familie. Diese Offenheit gewinnt ihr reales Gewicht daraus, dass die Tauschordnungen ihre Mitglieder mit Eigentum ausstatten. Eigentum bedeutet die Macht, die eigenen Optionen durchzusetzen.21 In Tauschsystemen sind die Bindungen, die die Subjekte festlegen, auch Grundlage für die Möglichkeit, das, was man ist, in der Wirklichkeit auszudrücken. Der Term „ausdrücken“ muss in unserem Kontext
20Ein
Begriff des Symbolischen als eines absolut geschlossenen Systems findet man oft bei Žižek. Hier kann dann nur das Reale eine Öffnung bringen. 21Das ist ein Begriff, der bei Tocqueville und bei Hannah Arendt wichtig ist.
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befremden. Wenn das Subjekt Effekt der subjektivierenden Internalisierung einer symbolischen Ordnung ist, was drückt sich dann aus, wenn das Subjekt „sich“ ausdrückt? Nun ist das Subjekt nicht nur der Effekt einer Internalisierung, sondern als Subjekt des Aussagens konstituiert es sich auch in Beziehung zu seinen Identifikationen. Gleichzeitig ist, wovon wir hier nicht gesprochen haben, die Identifikation ja immer auch ein Zugriff auf den Körper,22 besser gesagt: eine Art Auseinandersetzung zwischen den Anforderungen der Identifikation und dem „Willen“ des Körpers. Dadurch kann das Subjekt des Aussagens in seinem Aussagen „sprechen“; die Sprache, in der es spricht, ist sein Verhältnis zu seinen Identifikationen und zu seinem Körper. Das ist die Formulierung in der Begrifflichkeit des S-Schemas für das, was man alltagssprachlich Ausdruck nennt. Tauschsysteme lassen sich mit dem S-Schema problemlos beschreiben. Die wirkliche Ordnung der Welt lässt sich internalisieren, stimmt mit der Ordnung des Inneren überein. Dabei darf man nicht vergessen, dass wir uns hier auf der Ebene der „Kultur“ bewegen. „Kulturen“ sind Richtlinien für die Organisation von Identifikationen und Bedeutungen, das heißt von Begehren. „Kulturen“ sind immer Ordnungen als Ordnungen. Tauschsysteme sind einheitlich. Das bedeutet: Jeder ist in demselben Netz identifiziert, das heißt, alle Beteiligten sind „von derselben Art“, sie befolgen die gleichen Regeln und haben vergleichbare Opfer gebracht. Noch mehr: Jeder steht zu jedem in einer im Prinzip angebbaren Beziehung. Man kann das präzisieren. Wie George H. Mead das ausgehend vom Fußballspiel gezeigt hat, impliziert jede Identifikation in einem sozialen Netz, dass das Subjekt sich an den Ort der Regel stellt, von dort aus das ganze Netz überblickt und sich als Teil im Ganzen sieht. Er ist Subjekt an einer bestimmten Stelle im Innern des Netzes und steht gleichzeitig am Ort des großen Anderen, der das Ganze sieht. Jeder sieht sich als einen anderen, aber jeder sieht sich vom gleichen Ort aus. Entsprechendes gilt für die Bedeutungen der Dinge. Bedeutungen entstehen als Situierungen in einer Ordnung des Begehrens. Tauschsysteme sind immer auch Spiele in dem Sinn, dass sie Identifikationen und Begehren organisieren und ordnen. Tauschsysteme sind Spiele, indem sie einen großen Bereich der Wirklichkeit als Eigentum definieren und Regeln des Gewinnens und Verlierens definieren. In jedem Teilnehmer gibt es ein Begehren, das aus dem Spiel selbst kommt, das Begehren des großen Anderen. Jeder Spieler
22Diese
Dimension hat bekanntlich für Foucault eine zentrale Bedeutung.
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hat zwar sein individuelles Begehren, aber dieses richtet sich immer an dem Begehren des Anderen aus. Daher versteht im Prinzip jeder, was jedes Element des Spiels für jeden anderen bedeutet. Die Einheit einer „Kultur“ bedeutet nichts anderes, als dass es einen einzigen großen Anderen gibt, der Identifikationen und Begehren reguliert. Das Schema der Subjektivierung in der Moderne Die erste unserer Ausgangsfragen kann man jetzt genauer formulieren. Kann man die „Kultur“ der Moderne als ein einheitliches Tauschsystem beschreiben? Was die Tauschsysteme auflöst, sind Warentausch und Bürokratie. Der Warentausch löst den Gabe- und Verpflichtungscharakter des Tausches auf. Die Bürokratie bedeutet, wenn man Eigentum im obigen Sinn definiert, eine Enteignung. Eine Position in einer bürokratischen Institution bedeutet nicht, dass man eine bestimmte Macht mit entsprechenden Rechten besitzt, mit der man ausdrücken kann, was man in einem gegebenen Netz von Rechten und Pflichten sein will. Der Angestellte vertritt eine Macht, er hat Rechte nur als Vertreter; wenn er versucht, etwas Eigenes durchzusetzen, wird ihm die Macht entzogen. Genauer gesagt: In einer bürokratischen Organisation gibt es nichts Eigenes. Eine bürokratische Organisation ist tatsächlich eine geschlossene symbolische Struktur im Sinne von Slavoj Žižek, die einem Subjekt keinen Platz lässt. In der Epoche der Aufklärung sind diese Strukturen so weit entwickelt, dass sich die Gesellschaft nicht mehr in Tauschkategorien verstehen lässt. Die Identifikationen mit sozialen Positionen sind nicht mehr primär Identifikationen in einem Tauschsystem, sie verlieren ihre Legitimation und können nur noch als Vorurteile angesehen werden. Aber trotzdem lässt sich meiner Meinung nach die These vertreten, dass auf der Ebene der „Kultur“, auf der Ebene des S-Schemas die bürgerliche Kultur immer noch ein Tauschsystem darstellt. Was die Analyse von einzelnen „Kulturen“ angeht, verfügen wir gegenwärtig nur über wenige hochoriginelle Arbeiten – von Foucault und von Bourdieu –, die aber jeweils sehr spezifische Bereiche bearbeiten; es gibt keine systematische Diskussion. Man wird hier also nur einige Hypothesen erwarten dürfen. Für die Beschreibung von „Kulturen“ ist die Literatur sicher eine vorzügliche Quelle, ergiebiger als Geschichtsschreibung oder Soziologie. Die Romane der bürgerlichen Epoche, von Honoré de Balzac bis Thomas Mann, André Gide und Jean Paul Sartre, beschreiben die bürgerliche Gesellschaft als eine Gesellschaft, in der die Figur des Eigentümers noch die zentrale Identifikationsfigur war. Zwar war das Eigentum in bürokratische Strukturen und solche des Warentauschs eingebunden, aber hinter diesen Strukturen lag ein Netz von „Beziehungen“, die als Beziehungen des symbolischen Tauschs organisiert waren, in die das
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Subjekt noch wesentliche Dimensionen seines Eigentums einbringen und sich über dessen Verwendung „ausdrücken“ konnte. Dieses Netz lag außerhalb der legitimatorischen Diskurse des Bürgertums, aber es war substanziell genug, um eine Zugehörigkeit zu begründen, die sich vererben ließ. Die dauerhaften Subjektpositionen waren immer noch die Familien im genealogischen Sinn des Worts, also die vererbbaren Familienvermögen, wobei Vermögen gleichzeitig im modernen ökonomischen Sinn und im Sinn des Tauschs zu verstehen ist. Auch die Positionen in den großen bürokratischen Systemen, dem Staatsapparat und dem Militär, saßen auf familiären Positionen auf. Das bedeutet, dass in der vertikalen Dimension die Tauschstruktur noch funktionierte, es gab noch eine Zugehörigkeit als geschuldete Gabe zu vererben. Was der große Andere im ersten Akt der Subjektivierung verlangt, ist also immer noch die Identifikation mit einem Eigentum als Schuld. Diese Identifikation wird allerdings nicht mehr wie früher regelhaft übernommen und bejaht. Weite Bereiche der Kultur der bürgerlichen Epoche beruhen auf der Ablehnung einer solchen Identifikation. Aber auch die Ablehnung bedeutet ja, dass Eigentum und Schuld als fundierende Begriffe der „Kultur“ funktionieren. Das umfassendste Bild der bürgerlichen Kultur findet man wohl bei Kafka: Es gibt ein Gesetz, aber es sagt nicht, was es befiehlt. Man ist schuldig, aber weiß nicht wofür. Es gibt ein Gericht, aber ein Gericht, das Legitimität nicht einmal vorspielt. Wir arbeiten hier mit einem spezifischen Begriff von Kultur, der nicht auf der Ebene der Beschreibung von etwas wirklich Vorhandenem, sondern auf der Ebene der Konstitution von Wirklichkeit liegt. „Kultur“ in diesem Sinn ist ein fundamental Unsagbares. Sie ist der blinde Fleck23 in der Wirklichkeit, weil sie die Wirklichkeit erzeugt. Sie gibt den Dingen die Bedeutungen, durch die sie überhaupt als Dinge erscheinen, sie produziert im Subjekt die Differenzen, die es nicht wahrnehmen kann, weil sie seine Wahrnehmung der Welt und seiner selbst strukturieren. Es gibt sicher eine Geschichte der „Kultur“, aber weil die „Kultur“ unbewusst ist, kann man diese Geschichte nicht als die Geschichte einer spezifischen Wirklichkeitsebene beschreiben, wie etwa die Geschichte von Mentalitäten oder die Geschichte der Geschwindigkeit, man kann sie nur konstruieren, wie wir es hier in einer bestimmten Weise tun. Von einer solchen Konstruktion aus kann man viele Ereignisse in der kulturellen Entwicklung als Effekte dieser
23Die
Problematik des blinden Flecks und damit verbunden der Beobachtung erster und zweiter Ordnung ist bekanntlich ein zentrales Thema der Systemtheorie.
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Geschichte deuten. Teils in der Form von Symptomen, teils in der Form von Antworten. Auf der Ebene der von einer bestimmten „Kultur“ konstituierten „Wirklichkeit“ ist die unsichtbare Geschichte der „Kultur“ eine ständige Provokation. Sie löst Umstrukturierungen von Vergesellschaftungsformen und Institutionen aus, die sich selbst nur aus internen Logiken begründen können, die man aber immer auch als Antworten auf die Geschichte der „Kultur“ begreifen muss. Dabei begründet diese Interpretation auch andere Fokussierungen auf die Umstrukturierungen. So kann man die moderne Entwicklung des Geschlechterverhältnisses als Ergebnis eines Kampfes beschreiben und gleichzeitig auch als Effekt einer außerhalb aller Intentionen liegenden Entwicklung auf der Ebene der „Kultur“. Hier möchte ich an einem, wie mir scheint, wesentlichen Punkt vorführen, wie sich der Übergang von der Moderne zur Postmoderne in dem hier skizzierten Rahmen konstruieren lässt. Die postmoderne Pluralität der subjektivierenden Szenen und der zweite Tod Die Moderne kann man als eine „Kultur“ beschreiben. Sie beruht auf einem gemeinsamen Identifikationsschema, das sich dann allerdings in einer problematischen Weise auf die soziale Wirklichkeit hin öffnet. Aber wie kann man eine plurale Kultur mit dem S-Schema beschreiben? Der berühmte Satz von den vielen kleinen Erzählungen legt nahe, die postmoderne „Kultur“ einfach als eine Vielzahl von „Kulturen“ zu verstehen. Nun gehört aber zum Begriff der „Kultur“ als einer konstituierenden Sprache, dass jede „Kultur“ eine totale Wirklichkeit produziert. Jede „Kultur“ ist notwendig ethnozentrisch und betrachtet fremde Kulturen von ihrer Sprache aus als fremde. Daher gehört es zu den Selbstverständlichkeiten, die allen den hier angeführten Theoriekontexten gemeinsam ist, dass jeder Mensch nur einer Kultur angehört und dass diese Kultur in der primären Sozialisation erworben wird, dem frühen Lacan zufolge mit dem Ödipuskomplex. Nun ist es aber für die postmoderne Kultur charakteristisch, dass ein Subjekt mehreren Szenen zugehört.24 Das führt zu der Frage: Was bedeutet es für eine „Kultur“, als soziale Ordnung und als Subjektivierungsprozess, wenn
24Diese
Pluralität der Szenen darf man nicht, wie es häufig in den Diskursen zur Hybridität geschieht, mit der Tatsache verwechseln, dass ein Subjekt mehrere Zugehörigkeiten besitzt und viele Rollen spielt. Das gilt in verschiedenem Maße für alle Kulturen. Hier ist die Vielzahl in einer in der Regel hierarchischen, gelegentlich auch widersprüchlichen Einheit verbunden; damit sind sie Teil einer einzigen „Kultur“. In den postmodernen Szenen stehen verschiedene konstituierende Sprachen nebeneinander.
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nicht mehr die „Kultur“ das Subjekt umfasst, sondern das Subjekt die „Kultur“? Was bedeutet es, wenn das Subjekt die sich ausschließende Fremdheit zwischen zwei „Kulturen“ in sich selbst trägt? In welchem Sinn ist es dann überhaupt noch ein Subjekt? Die vormodernen symbolischen Ordnungen galten als unsterblich. Man wusste, dass Reiche untergehen, man glaubte, dass die Menschheit untergeht, aber der Rahmen für diese Untergänge war unerschütterlich. Mit dem modernen Begriff der Nationalkultur, in dem auch schon – bei Rousseau, bei Herder – mitgedacht ist, was wir als „Kultur“ bezeichnen, entsteht auch die Idee, dass diese „Kulturen“ sterblich sind. Dieses Bewusstsein gibt dem Nationalismus seine tiefe Macht und seine Position jenseits aller Gesetze – die Nation ist die sterbliche Grundlage jedes Gesetzes, die es auf jeden Fall zu erhalten gilt. Und auch die Schleife, die wir hier betont haben, ist sehr deutlich: Ich muss die Nation erhalten, weil sie die Welt ist, in der ich bin, was ich bin, in der ich überhaupt etwas bin. Die Nation ist aber immer noch eine einheitliche, eine das Subjekt von Anfang an völlig prägende „Kultur“. Heute ist dagegen jede Szene sterblich, und dieses Bewusstsein ist in ihr immer präsent. Jedes Subjekt hat den Außenstandpunkt zu der „Kultur“, in der es gerade befangen ist, immer schon in sich. Und der Außenstandpunkt ist immer ein Standpunkt der Endlichkeit. Sterblich ist jede Szene in einem doppelten Sinn: Sie kann aufhören zu existieren, aber auch das Subjekt kann aussteigen und existiert dann als Subjekt weiter. Es gehört also zur Struktur der postmodernen Kultur, dass das Subjekt immer damit konfrontiert ist – auch wenn es dieses Wissen von sich fernhält, aber auch das ist eine Arbeit –, dass sie das Bewusstsein ihres Endes in sich trägt. In der Sprache, die Lacan im Seminar über die Ethik der Psychoanalyse entwickelt hat, würde man sagen, dass der zweite Tod, der Tod nicht des Menschen innerhalb einer symbolischen Ordnung, sondern der Tod der Ordnung selbst, in der Postmoderne ein normaler, wenn auch natürlich immer verdrängter Bestandteil der Wirklichkeit ist. Die alten symbolischen Ordnungen, auch die der Moderne, waren, wenn man so will, „dicht“; sie waren undurchlässig für das Außen, für das Reale in der Sprache Lacans. Die postmodernen symbolischen Ordnungen sind dagegen durchlässig, daher entsteht zwischen ihnen ein Zwischenraum ohne symbolische Organisation. Wenn man fragt, wo das postmoderne Subjekt zu Hause ist, so bleibt als Antwort nur: in diesem Zwischenraum, im Realen. In jede der vielen symbolischen Ordnungen bringen die Subjekte das Außen herein, das Wissen vom zweiten Tod. Daher sind sie nur wirklich an diesem Ort bei sich, an dem man sich nicht aufhalten kann, der aber der einzige Ort ist, von dem aus die Wirklichkeit in einer Weise gesehen wird, die nicht von einem anderen Ort aus sofort
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als eine ganz besondere wahrgenommen wird.25 Damit haben wir den Ansatz einer Antwort, wie wir eine plurale „Kultur“ denken können, eine „Kultur“, in der es auch keine Einheit der Widersprüche gibt. Es ist dieser Zwischenraum, der in der Wirklichkeit fast unmerklich ist, aber die Grundstimmung des postmodernen Lebens bestimmt, die Gegenwart des zweiten Todes, der es erlaubt, von einer Szene in die andere zu wechseln, ohne nach deren Beziehung zu fragen. Jetzt ist es möglich, die eigenen Identifikationen zu vergessen und wiederzufinden, weil man sie immer als solche behandelt hatte, von denen man von Anfang an schon gelöst war, die man also, während man in ihnen lebt, immer schon betrauert hat. Was heißt das nun für das Unsagbare? In der vorbürgerlichen Welt war das Symbolische etwas wie ein Bund. Es gab verbotene Dinge; wenn man sie sagte oder ihnen gemäß handelte, so hieß das, den Bund aufzukündigen, und man machte sich die symbolische Ordnung zum Feind. In der Moderne sind die Verhältnisse nicht mehr so klar. Was man nicht sagen darf, ist immer das, was man auflösen muss, weil dahinter die eigentliche Wahrheit der Ordnung liegt. Das Unsagbare ist immer etwas, das gesagt werden könnte, also etwas potenziell Sagbares. In der Postmoderne kann alles, was gesagt werden kann, auch gesagt werden. Das Unsagbare ist nun wirklich das Unsagbare, das, was in jeder Rede verschwindet, aber in der Wirklichkeit immer gegenwärtig ist.
Literatur Althusser, Louis. 1977. Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, übers. Rolf Löper. Hamburg (Erstveröffentlichung 1970). Butler, Judith. 2001. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, übers. Reiner Ansén. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1997). Foucault, Michel. 1995. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1975). Ders. 1986. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1976). Kogge, Werner. 2001. Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik: Heidegger und Gadamer. Hildesheim. Lacan, Jacques. 1966. Fonction et champ de la parole et du langage. In Écrits, ders., 237– 322. Paris. Luhmann, Niklas. 1992. Beobachtungen der Moderne. Opladen.
25Luhmann
hat ja bekanntlich die Postmoderne, bei ihm die vollendete Moderne, gerade dadurch beschrieben, dass es in ihr keinen ausgezeichneten Ort der Beobachtung gibt. Vgl. Luhmann (1992): Beobachtungen der Moderne.
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Lyotard, Jean-François. 1989. Der Widerstreit, übers. Joseph Vogl. München (Erstveröffentlichung 1983). Reckwitz, Andreas. 2000. Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist. Sennett, Richard. 1985. Autorität. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1980). Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M.
Das Reale in der zeitgenössischen Kultur (2007)
In diesem Vortrag geht es um die Frage, wie man den Bruch, der mit vielen Etiketten, zum Beispiel mit dem der Postmoderne, bezeichnet wird und in dem die aktuelle Kultur entstanden ist, beschreiben kann. Wenn man sich die Diskussionen anschaut, worin dieser Bruch besteht, wie er zu bewerten ist, ob es ihn überhaupt gibt, so sieht man sofort, dass die Beantwortung dieser Fragen von den Beschreibungssprachen abhängt, mit denen die Autoren jeweils identifiziert sind. Hier möchte ich den Bruch an dem Verhältnis zur Sprache selbst festmachen, an der Entdeckung, dass Wirklichkeit und Subjekte symbolisch konstituiert sind. Das Ergebnis dieses Bruchs möchte ich nicht Postmoderne, sondern, wie es heute zunehmend üblich ist, Hochmoderne nennen.1 Auf der Grundlage dieser Entdeckung hat sich eine Kultur- und Gesellschaftstheorie entwickelt, die Gesellschaft auf der Ebene der symbolischen Konstitution von Subjekt und Welt beschreibt. Andreas Reckwitz hat diese Entwicklung, die sich in den Sozialwissenschaften im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts vollzogen hat, in einem schönen Buch2 unter dem Stichwort des cultural turn beschrieben. Demnach setzt sich ein neuer Kulturbegriff durch. Kultur erscheint nun als jener Komplex von Sinnsystemen bzw. symbolischen Ordnungen, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als eine bedeutungsvolle erschaffen und die ihr Handeln ermöglichen und
1Diese
Entscheidungen werden später begründet werden. (2000): Die Transformation der Kulturtheorien.
2Reckwitz
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_10
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einschränken. In diesem terminologisch bestimmten Sinn wird im Folgenden von Kultur gesprochen. Die modernen sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien beschreibt Reckwitz als ein theoretisches Feld, das durch gemeinsame Grundbegriffe gegeben ist: (1) Weder soziale Ordnungen noch die Wissensformationen, die den Subjekten erlauben, die Welt als bedeutungsvolle wahrzunehmen, können im Ausgang von den Subjekten konstruiert werden. Auszugehen ist von übersubjektiven Strukturen, an denen die einzelnen Subjekte partizipieren. (2) Diese Wissensformationen sind zu verstehen als in sich organisierte Differenzsysteme, wobei als Modell Saussures Beschreibung der Sprache als langue dient. (3) Diese Systeme haben einen konstituierenden oder generativen Charakter. Sie stehen im selben Verhältnis zu Einzelhandlungen wie Sprachstruktur zu Sprechakten. (4) Diese Ordnungen sind gleichzeitig Ordnungen der Wirklichkeit und unbewusste Ordnungen des Wissens. Das heißt, die für das traditionelle Denken fundamentale Gegenüberstellung von innen und außen, von Subjekt und Wirklichkeit ist prinzipiell aufgehoben. Subjekt und Welt bilden also etwas wie eine in sich geschlossene Schleife. Wenn wir der Terminologie von Bourdieu folgen: Ein Habitus stattet das Subjekt mit der Fähigkeit aus, die symbolische Artikulation der Welt adäquat zu entziffern, die passenden Verhaltensweisen, die richtigen Gefühle, Wünsche, Moralvorstellungen zu entwickeln, über die richtigen Dinge zu lachen etc. Umgekehrt braucht das soziale Feld genau diese Subjekte, damit die Bedeutungen auch lesbar sind, damit es als Lebenswelt funktionieren kann. Die Urväter dieses theoretischen Feldes sind Claude Lévi-Strauss und Edmund Husserl, von dem ersten kommt der Holismus, von dem zweiten hingegen das Interesse an der Wirklichkeitsinterpretation des realen Subjekts. Die von Reckwitz herangezogenen Autoren sind Alfred Schütz, Erving Goffman, Clifford Geertz, Ulrich Oevermann, Michel Foucault und insbesondere Pierre Bourdieu und Charles Taylor. In dem theoretischen Feld, das Reckwitz darstellt,3 interessiert man sich für das Ergebnis der gleichzeitigen und wechselseitigen Konstitution von Welt und Subjekt, man interessiert sich allerdings nicht für den Prozess der Konstitution. Man braucht sich nicht für den Prozess zu interessieren, weil man von der nicht thematisierten Annahme ausgeht, dass dieser im Ergebnis verschwunden ist. Neben dem soziologischen cultural turn, den Reckwitz beschreibt, gibt es auch noch ein anderes Feld, das von der Entdeckung der symbolischen
3Sein
Buch gibt – wie sollte es auch anders sein? – eine Vereinfachung des Feldes, das es behandelt. Aus pragmatischen Gründen übernehme ich hier diese Vereinfachung.
Das Reale in der zeitgenössischen Kultur (2007)
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Konstitution der Wirklichkeit bestimmt ist und das gewöhnlich mit dem Etikett des Poststrukturalismus bezeichnet wird. Für poststrukturalistische Autoren wie Foucault,4 Derrida, Lacan, Barthes ist aber gerade der Konstitutionsprozess wichtig. Sie gehen davon aus, dass die Trennung von Ergebnis und Prozess unmöglich ist, weil der Prozess im Ergebnis immer präsent bleibt. Damit verändert sich jedoch die Theoriearchitektur und es werden neue Begriffe nötig. Es gibt nun ein Subjekt vor der symbolischen Ordnung, eine Wirklichkeit vor dem Diskurs. Damit stellt sich die Frage des Verhältnisses von Subjekt und Diskursivität, die in dem soziologischen Feld nicht auftaucht. Die grundsätzliche Antwort hat Barthes in die Formel gebracht: „Die Sprache ist faschistisch“. Oder, neutraler ausgedrückt, das Verhältnis von Subjekt und Diskursivität ist ein Gewaltverhältnis. Und zwar ein in sich paradoxes Gewaltverhältnis. Das Subjekt ist ja durch diese Gewalt gerade ein menschliches, ein sprechendes Subjekt geworden. Sobald es zu sprechen anfängt, spricht es von seiner Unterwerfung aus und wiederholt sie. Die Diskursivität ist die absolute Macht, die man nicht einmal als eine solche vergegenständlichen kann. Es gibt verschiedene Strategien, mit diesem Paradox umzugehen. Ich möchte Lacans Strategie in den Kontext einer – extrem verkürzten – Benennung anderer wichtiger Strategien stellen. Man kann sich – so die in Bezug auf die avantgardistische Literatur entwickelte französische Texttheorie – überlegen, wie man in der Sprache gegen die Sprache spricht; man kann – so der Foucault der Macht –, aus einer Position der Beobachtung zweiter Ordnung, historisch begrenzte Dispositive subjektivierender Macht beschreiben; man kann, wie die Dekonstruktivisten, den Imperativ aufstellen, in der Dynamik der Konstitution von symbolischen Ordnungen immer die Partei des Prozesses der Konstitution gegen jegliches Feste zu ergreifen. Lacans fundamentale Frage bezieht sich darauf, wie angesichts der unendlichen Beweglichkeit der Sprache die Entstehung einer festen gemeinsamen Wirklichkeit überhaupt möglich ist. Eine solche Verfestigung kann sich der späte Lacan nur vorstellen als die Verknüpfung der zwei wirklichkeitsproduzierenden Medien5 mit dem außerdiskursiven Realen, als die Verknüpfung des RSI, also des Realen, Symbolischen und Imaginären, in dem Borromäischen Knoten. Sein zweites wesentliches Interesse ergibt sich aus der Position des Therapeuten. Er
4Dass
diese Dimension des Denkens von Foucault nicht auftaucht, gehört zu den Vereinfachungen der Arbeit von Reckwitz. 5Während es in den meisten Konstruktivismen nur ein konstituierendes Medium gibt, die Sprache, unterscheidet Lacan bekanntlich zwei Medien, das Analoge und das Digitale, das Imaginäre und das Symbolische.
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sieht den Prozess der Konstitution von Wirklichkeit und Subjekt auch wesentlich aus der Perspektive eines Subjekts, das, es sei denn um den Preis der Psychose, keine andere Wahl hat, als sich der Gewalt der konstituierenden Diskursivität zu unterwerfen. Sein zentrales Problem ist dabei, wie das Subjekt in dieser Unterwerfung, die ja eine totale ist, in der es als Subjekt überhaupt erst konstituiert wird, so etwas wie eine Freiheit ihr gegenüber bewahrt. Dies ist ein Problem, das sich auch als Frage formulieren lässt, nämlich, ob das Subjekt überhaupt einen Ort außerhalb dieser Unterwerfung besitzt, von dem aus es sich gegenüber dieser behaupten kann. Aus folgendem Grund ist es mir wichtig, Lacan in diesem Feld der Kulturtheorie zu situieren: Wenn man mit seinem Begriffsapparat die gegenwärtige Kultur beschreiben will, dann kann man etwa einen Lacan’schen Blick auf die Phänomene werfen und immer dort eingreifen, wo dieser Blick etwas neu sehen lässt. Man stellt an den Gegenstand die Lacan’schen Fragen. Das scheint mir übrigens auch die Arbeitsweise von Slavoj Žižek zu sein. Hier soll es um etwas anderes gehen, nämlich um Fragen, die in der äußeren, der sozialen Seite der Kultur entstehen; also um Fragen, die bei Lacan zwar vielfältig und in außerordentlich interessanter Weise angesprochen werden, die aber nicht in der Hauptrichtung seines Denkens liegen.6 Es sind allerdings auch keine Fragen, die in den Diskussionen des cultural turn der Sozialwissenschaften einen festen Status haben. Im Folgenden wird es genau darum gehen, zwischen den Sozialwissenschaften und Lacan eine neue Frage zu entwickeln, nämlich die, ob es so etwas wie eine symbolische Ordnung der hochmodernen Kultur gibt und welche Struktur sie hat. Die Entwicklung von Lacans Denken ist durch einen Bruch gekennzeichnet. Am Anfang stellt der Gegensatz zwischen einem abgewerteten Imaginären und einem gefeierten Symbolischen die strukturierende Opposition dar. Später, deutlich mit dem Ethik-Seminar, wird dieser Gegensatz an Bedeutung verlieren. Das Ziel der Analyse ist jetzt die Begegnung mit dem Realen als dem, was das Subjekt wirklich bestimmt. Damit tritt auch das Konzept der symbolischen Ordnung in den Hintergrund. In der innerlacanistischen Diskussion wird die Entwicklung Lacans als ein Prozess des Fortschreitens und Vertiefens angesehen, den man weiterführen muss; es gilt als selbstverständlich, dass das Frühe durch das
6Der
Lacanismus ist insofern eine wirkliche Schule, als man in ihm die Fragen klärt und weiterführt, die Lacan gestellt hat. In diesem Sinn hat Lacan seinen Schülern gesagt: „Ich bin Freudianer, ihr seid Lacanianer.“ Hier arbeiten wir also mit Lacan, aber nicht innerhalb des Lacanismus.
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Späte überholt ist. Ich aber möchte in diesem Bruch in der Theorie ein Abbild des kulturellen Bruchs ansehen, der unser Gegenstand ist. In dieser Perspektive ist der frühe Lacan ein Konservativer, der im Gegenwärtigen das noch bestehende Alte wahrnimmt, der späte ein Avantgardist, für den das Aktuelle wichtig ist. Der Umbau des Systems ist nicht nur das Resultat einer immanenten Arbeit an den Begriffen, sondern auch ein Wechsel des Gegenstands. Dieser Wechsel mag eine Reaktion auf eine Entwicklung in der Realität gewesen sein, die sich in den Problematiken der Analysanden spiegelt, oder vielleicht war die frühe Position eine nostalgische Haltung, die sich in der Selbstanalyse, die die Seminare ohne Zweifel für Lacan bedeutet haben, aufgelöst hat – jedenfalls ist in beiden Positionen etwas Wichtiges wahrgenommen worden. Und auf dem Weg ist etwas verloren gegangen, das zu bewahren sich lohnt. Ein Spezifikum der modernen Kulturtheorien besteht darin, dass sie Äußeres und Inneres verschränken: Das Äußere existiert nur als das Äußere eines Inneren, das Innere nur als das Innere eines Äußeren. Die Theorien arbeiten je nach ihren Fachkontexten entweder auf der einen Seite oder auf der anderen, die von Reckwitz behandelten Autoren in der sozialen Wirklichkeit, Lacan auf der Seite der Konstitution des Subjekts. Dabei muss die andere Seite immer mitgedacht werden. Der frühe Lacan operiert mit einem explizit benannten und für ihn wesentlichen Bezug auf eine Kulturtheorie, nämlich auf die in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft von Lévi-Strauss ausgearbeitete und auf den dahinter liegenden Begriff des symbolischen Tauschs von Marcel Mauss. Mit dieser Option ist die sehr weitgehende These mitgesetzt, dass die symbolischen Ordnungen aller bisherigen Kulturen, die Moderne eingeschlossen, als Tauschordnungen strukturiert waren, wie Lévi-Strauss sie dargestellt hat. Die Lacan’sche Theorie hat eine ethische Dimension, die besonders in der Bestimmung des Endes der Analyse sichtbar wird. Das ideale Ende, aus dem die Analyse ihre Legitimität erhält, besteht darin, dass das Subjekt sich an seinen Platz in der symbolischen Ordnung stellt und die mit diesem Platz verbundene Schuld auf sich nimmt. Im späteren Werk Lacans sind dieses Konzept der symbolischen Ordnung und der mit ihr verbundene Imperativ verschwunden. Es wird allmählich eine andere, komplexere Ordnung ausgearbeitet und ein anderer Imperativ aufgerichtet, der die Konfrontation mit dem traumatischen Realen befiehlt.7
7Diesen
Realen.
Umbau der Theorie habe ich ausführlich dargestellt in Ethik der Welt – Ethik des
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Was wir hier vor uns haben, ist nicht die theoretische Beschreibung des Bruchs, sondern der Vollzug dieses Bruchs auf der Ebene einer theoretisch artikulierten Praxis – eine Theorie, die für uns gleichzeitig ein Zeugnis ist: Hier wird ein einheitliches und in sich konsistentes Bild der gesamten bisherigen Kultur etwas anderem Neuen gegenübergestellt. Ich habe versucht, diesen Zusammenhang auszuarbeiten und auf dieser Basis eine kulturgeschichtliche Konstruktion zu entwerfen, die die Geschichte der Modernisierung in eine lacanistische Perspektive rückt.8 Im Folgenden möchte ich diese Konstruktion schematisch skizzieren und dann zeigen, wie man sie für eine Analyse der hochmodernen Kultur fruchtbar machen kann. Tauschsystem und Ödipus Ich möchte eine terminologische Bemerkung vorausschicken. Das Symbolische hat bei Lacan mindestens zwei Bedeutungen: (1) Das Symbolische ist ein Modus der Artikulation, ähnlich dem Digitalen der Rechenmaschinen, die für Lacan schon sehr früh wichtig waren, im Gegensatz zum Analogen des Imaginären. (2) Beim frühen Lacan gehört es außerdem zum Wesen des Symbolischen, dass es bindet. Volles Reden ist immer bindendes Reden. Später allerdings tritt dieser Gedanke in den Hintergrund.9 Das Konstitutionsprinzip der sozialen Ordnung ist für Lévi-Strauss der Imperativ des Frauentauschs. Dieses Prinzip beruht zuerst einmal auf einer Interpretation des Mauss’schen Begriffs des symbolischen Tauschs im umfassenden Kontext einer Theorie von der symbolischen Konstitution von Wirklichkeit und Subjekt. Der Begriff des Tauschs beschreibt genau diese Konstitution. Der Tausch verwandelt Natur- bzw. Bedürfnisobjekte wie zum Beispiel Nahrungsmittel in Werte innerhalb eines Systems von Differenzen, in Signifikanten. Indem das Subjekt sich in einem solchen System identifiziert, wird es selbst zu einem Signifikanten. Der Tausch der Objektsignifikanten schafft eine Beziehung der Subjektsignifikanten untereinander und wird damit, so Mauss, zu dem Fels, auf dem alles Soziale aufsitzt. Die geniale Idee, die Lévi-Strauss dem hinzufügt, besteht darin, dass das Inzestverbot als Tauschgebot verstanden wird: Die Töchter dürfen nicht „genossen“ werden, sondern müssen als die wesentlichen Tauschobjekte angesehen werden. Damit ist die Konstitution einer kompletten Sozial-
8Vgl.
Waltz (1993): Ordnung der Namen. kann auf den Begriff des bindenden Redens nicht verzichtet werden. Er lebt in dem Konzept der parole noch fort.
9Ganz
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ordnung beschrieben, die Verwandlung eines natürlichen Zusammenlebens in eine symbolisch strukturierte Sippe mit äußeren Grenzen, Generationenfolge, Verboten, Regelung der Beziehung zwischen den Sippen etc. Damit wird der Tausch, der bei Mauss trotz aller Hinweise auf seine universale Bedeutung doch nur an sehr speziellen sozialen Phänomenen wie kula oder Potlatsch exemplifiziert werden kann, zur Grundlage der sozialen Ordnung der Stammesgesellschaften. Als Vergesellschaftungsmodus verstanden wirkt der symbolische Tausch in zwei Richtungen. In der Horizontale verbindet er Tauschpositionen, zum Beispiel Sippen oder Clans, durch ein Netz von Gaben. Das können wechselseitige oder, häufiger, zirkulierende Gaben sein. Dabei ist die das System fundierende Gabe die Frau. In der Vertikalen, also in der Abfolge der Generationen, ist die Position selbst eine Gabe, die der Sohn vom Vater erhält, der sie seinerseits von seinem Vater bekommen hatte, sodass er nicht nur ein Eigentum, sondern eine Schuld weitergibt. Diese Gabe in der Vertikalen ist eine Gabe von Rechten und Pflichten in der Horizontalen. Es ist die Gabe einer Zugehörigkeit zu einem Tauschnetz und zugleich einer Schuld. In dieses Schema baut Lacan sein Konzept des Ödipus bzw. der Kastration ein. Es gibt zwei Aktoren, in denen sich die subjektivierende Macht der Sprache inkarniert: die Mutter und den Vater. Die Mutter ist als eine Figur willkürlicher Allmacht vorgestellt. Man kann Lacans Figur der allmächtigen Mutter mit Foucaults Inszenierung der Subjektivierung durch das panoptische Auge vergleichen. Dann fällt auf, dass bei Foucault das Subjekt fast nur Gegenstand einer Machtwirkung ist, während bei Lacan das Verhältnis in einer sehr raffinierten Weise als eine Wechselseitigkeit gestaltet ist. In seiner Abhängigkeit hat das Kind nur ein Ziel, Objekt der Liebe der Mutter zu werden; es merkt aber, dass es dafür Objekt ihres Begehrens werden muss. Aber was begehrt sie? Hierfür steht die berühmte Formel des che vuoi?. Das Kind antwortet auf dieses unverständliche Begehren mit der Identifikation mit dem imaginären Phallus, also mit einer Identifikation, die in sich das Element der Täuschung und Selbsttäuschung hat. Zwei Dinge sind hier wichtig: Es gibt den Wunsch des Subjekts, sich zu objektivieren, und die Instanz der Subjektivierung wird als eine Sphinx figuriert, die etwas sehr heftig will, aber nicht sagt, was. Die zweite Instanz der Subjektivierung ist dann der Vater, der nun nicht ein Gesetz der Willkür vertritt, sondern das Gesetz des Tauschs, das wirklich ein Gesetz ist und die Welt ordnet. Er inkarniert nicht die Instanz wie die Mutter, was ja eine Täuschung war, sondern er vertritt sie; er ist selbst dem Gesetz, der Regel des Tauschs unterworfen und verweist somit auf sie. Er nimmt dem Jungen das imaginäre Phallussein und schenkt ihm dafür das Versprechen auf ein Haben, auf
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einen Anteil an dem, was Phallus im Symbolischen bedeutet, auf eine Position in der Ordnung des Tauschs, das heißt auf eine Zugehörigkeit. In der Identifikation mit dem in der symbolischen Ordnung festgelegten phallischen Signifikanten findet das Subjekt die Antwort auf das che vuoi?. Insofern ist die symbolische Identifikation der eigentliche weltbildende Mechanismus. Das Subjekt identifiziert sich mit dem Signifikanten, der es für den Anderen ist. Damit findet es ein Sein in einer Ordnung des Habens, das heißt des Eigentums als des Mediums, in dem Elemente der Dingwelt zu Signifikanten werden. Die Ordnung des Eigentums ist die symbolische Ordnung. Was das symbolische Gesetz befiehlt, ist die Identifikation mit dem, was man hat, mit den Eigentumssignifikanten. Als Sohn und Eigentümer respektiert das Subjekt das Eigentum der anderen, in der Formulierung des Dekalogs: ihr Haus, ihre Frau10, ihre Diener, ihre Dienerin, ihren Ochsen, ihren Esel und alles, was ihnen gehört. Das Band zum Namen des Vaters ist auch das Band zu den anderen als Söhnen. Was man hat, heißt immer: was einem gegeben ist und was man schuldet. Was das Subjekt an das Gesetz bindet, ist nicht zuerst ein Imperativ, sondern eine Schuld. Dadurch, dass es als Gabe das Sein erhalten hat, mit dem es gegenüber dem Begehren des Anderen bestehen kann, hat es eine Schuld übernommen, als Schuld anerkannt und ist in den Zyklus des Gebens und Schuldens eingetreten.11 An dieser Figur möchte ich einige Aspekte hervorheben: In Tauschsystemen ist das Eigentum die symbolische Struktur, die Wirklichkeit herstellt, und zwar in zweifacher Hinsicht: im Sinn von Tauschobjekten und im Sinn von Eigentum, das Tauschobjekte produziert, also zum Beispiel Zugangsrechte zur Jagd, Landbesitz, Herrschaftsrechte, Frauen. Ein Produktiveigentum ist der Signifikant, der eine genealogische Familie als einen Knotenpunkt in den Beziehungen des Tauschnetzes definiert. Tauschobjekte sind Signifikanten, die auf die Subjekte verweisen und sie vertreten, denen sie gehören, einmal gehört haben oder denen sie geschuldet sind. In allen Dingen, die ihm gehören, begegnet man dem Subjekt selbst, und zwar dem symbolischen, transzendenten Teil des Subjekts, seiner Identifikation in der Ordnung. In dieser Perspektive macht es Sinn, für ein Stück
10Wenn
man die Grundprinzipien der symbolischen Tauschordnung beschreiben will, dann muss man das von der Position des Mannes aus tun. Die Frau ist, wie man immer wieder gesagt hat, ein inneres Außen dieser Ordnung. Vgl. Waltz (1993): Ordnung der Namen, 108–111. 11Eine genaue Analyse der Bedeutung des Prinzips des symbolischen Tauschs für den frühen Lacan findet man in meinem Aufsatz Tauschsysteme als subjektivierende Ordnungen: Mauss, Lévi-Strauss, Lacan.
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Land zu sterben. Im Tausch gibt man ein Stück von sich oder bekommt einen Teil eines anderen.12 Eigentum und was wir Ökonomie nennen, sind das basale Medium der symbolischen Ordnung der Tauschsysteme. Das Symbolische legt sowohl die Beziehungen zu den anderen wie die zu der subjektivierenden Instanz in die Dimension einer bestimmten Freiheit. Lacan betont immer wieder, dass im Symbolischen ein Anderer entsteht, der wirklich ein Anderer ist. Der andere der imaginären Beziehung antwortet immer von dem Bild aus, als welches das Subjekt ihn entworfen hat. Der symbolische Andere antwortet nicht von der symbolischen Identifikation aus; es ist das Subjekt, das antwortet, und es antwortet mit dem Mittel der symbolischen Identifikation. Lacans Lieblingssatz in diesem Zusammenhang, „Du bist meine Frau!“, bezeichnet nicht – wie zum Beispiel „Du bist mein Ein und Alles!“ – eine Spiegelbeziehung, in die das Gegenüber unvermeidlich in der einen oder anderen Weise einsteigt. In ihm wird vielmehr eine Erklärung abgegeben, die von dem Gegenüber die Entscheidung verlangt, ob es diese Identifikation übernehmen will oder nicht. Das heißt aber auch, dass sie ihm die Entscheidung freigibt, und genau das meint: jemanden als Subjekt ansprechen. Das Symbolische stellt das soziale Band in die Dimension der Wahrheit. In diesem Begriff der Wahrheit geht es weniger um die referenzielle als um die performative Dimension. Wahre Aussagen sind solche, die das Subjekt an seine Rede binden. Das gilt alles auch, wenn man für das Symbolische den symbolischen Tausch einsetzt. Bei Žižek erscheint das Symbolische fast immer als ein Regelsystem, das vollständig festlegt, was sich in ihm abspielt. Das Reale erscheint dann als die rettende Störung, ohne die es keinen Freiheitsraum für das Subjekt gäbe. Das gilt aber nicht für das bindende Symbolische des frühen Lacan und somit auch nicht für den symbolischen Tausch. Lacan insistiert immer wieder auf dem Abstand zwischen dem, was in seiner Terminologie das Subjekt ist, dem Subjekt des Aussagens, und dem Signifikanten, der es im Symbolischen vertritt. Jeder Tausch-
12Mit
diesem Aspekt des Tauschs, der eine Sonderform des unausweichlich medialen Charakters der menschlichen Vergesellschaftung ist, tut sich Mauss sehr schwer. Er sieht ja richtig, dass ein Zusammenhang besteht mit der Verpflichtung des Erwiderns, also mit der Verbindung von Geben und Schuld, gibt aber schließlich eine naturalistische Erklärung. Das Einssein des Tauschobjekts mit dem Subjekt wird in die Nähe von magischen Praktiken gerückt, bei denen abgetrennte Körperteile, Fingernagelschnipsel oder abgeschnittene Haare benutzt werden. Für Lévi-Strauss erledigt sich das Problem der Schuld dadurch, dass er Reziprozität als unhintergehbares strukturierendes Prinzip versteht. Die Tatsache, dass Tauschobjekte Identifikationsobjekte sind, interessiert ihn nicht. In dieser Hinsicht sieht Mauss mehr als Lévi-Strauss.
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akt lässt im Prinzip das Subjekt seine ursprüngliche Identifikation, die Bindung an den Signifikanten, wiederholen. Man braucht hier die Dimension des Realen nicht, um der Selbstständigkeit des Subjekts gegenüber der Ordnung einen Ort zu geben. Insofern herrschen in einem Tauschsystem eine ganz spezifische Freiheit und Raum für den Ausdruck einer bestimmten Subjektivität. Es ist das Gegenteil der Freiheit des bürgerlichen Subjekts, das an gar nichts gebunden ist, aber damit auch machtlos ist oder, wenn es Macht hat, sich in dieser nicht wiederfindet. Das Tauschsubjekt ist an seinen Signifikanten gebunden, aber in einer freien Weise; es kann mittels des Eigentums zeigen, was es ist. Was heute in Ökonomie und Politik getrennt ist, fällt noch zusammen: Eigentum ist Macht, den Gebrauch von physischer Gewalt eingeschlossen. Das Eigentum ist zwar in ein Verpflichtungsnetz eingebunden, aber die Vielfalt und die Auslegungsmöglichkeiten dieses Netzes lassen doch viel Spielraum, und anders als in einem bürokratischen System hat der Eigentümer eben eine Verfügungsgewalt. Er kann sich nicht nur ausdrücken, wie ein Bürger, sondern in seiner Macht verwirklichen. Es ist das Konzept der Freiheit, das man von Alexis de Tocqueville und Hannah Arendt kennt.13 Für das Verständnis der verschiedenen Konzepte von subjektivierenden symbolischen Systemen ist es wichtig zu sehen, wie jeweils das Verhältnis des Subjekts zum konstituierenden diskursiven System aufgefasst wird. Bei Foucault und Butler ist das Konstitutionsverhältnis ein völlig einseitiges Machtverhältnis, bei dem Foucault der Macht 14 gibt es gar keine Freiheit des Subjekts gegenüber dem Sprachsystem,15 bei Butler die Möglichkeit eines gewissen Widerstands in der performativen Wiederholung des Systems. In symbolischen Systemen ist das Verhältnis dialogisch, was man zum Beispiel an den Initiationsriten der Stammesgesellschaften ablesen kann, oder natürlich in den Geschichten des Alten Testaments – wobei klar ist, dass es sich da um einen sehr eigenartigen asymmetrischen Dialog handelt. Es gehört zu den Basispostulaten des Dekonstruktivismus, dass symbolische Systeme sich nie schließen können, dass die Bilder der Einheit, die sie entwerfen,
13Die
Nähe des frühen Lacan zu Tocqueville hat Elisabeth Roudinesco hervorgehoben. Vgl. Roudinesco (2001): Jacques Lacan oder die ausgelöschte Geschichte, 267. 14In diese Phase gehören als Hauptwerke Foucault (1995 [1975]): Überwachen und Strafen sowie Foucault (1986 [1976]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 15Beim späten Foucault ist diese Dimension ausgeklammert. Die Freiheit der Selbstsorge ist nur eine Freiheit im Innern des Sprachsystems, das nun allerdings als Ganzes bejaht ist.
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nur eine konstitutive Lücke verdecken. Bei dem späteren Lacan findet sich in der berühmten Formel von der Inkonsistenz des Anderen dasselbe Postulat. Es gilt jedoch nicht für den Tausch als symbolische Ordnung. Hier sagt der Andere, was er will; es gibt keinen Bruch in der Ordnung. Auf der Ebene der symbolischen Artikulation der Wirklichkeit existiert die Lücke natürlich. Tauschsysteme sind Eigentumsordnungen, die die Verteilung des Eigentums, auf der sie beruhen, nie begründen können. Sicher kann man Mythen im Sinn des Dekonstruktivismus als Versuche ansehen, diese Lücke zu schließen. Aber im Wesentlichen wird die Einheit durch die Identifikation hergestellt. Die Gabe ermöglicht diese Identifikation in der Dimension einer freien Bejahung. Wenn das Subjekt die Gabe angenommen hat, hat es die Ordnung bejaht, in der diese Gabe ihren Sinn hat.16 Das heißt also, man muss sehen, dass die Schließung einer symbolischen Ordnung, wenn sie denn glückt, nicht auf der Ebene der symbolischen Strukturierung der Weltartikulation liegt, sondern durch den Prozess der Identifikation hergestellt wird. In der symbolischen Identifikation lernt das Subjekt, die ganze Wirklichkeit, die anderen und sich selbst von dem Ort des Gesetzes, der Tauschregel aus zu sehen. Damit gehört zur Identifikation immer auch das Moment der Anerkennung. Wenn sie geglückt ist, dann hat das Subjekt den großen Anderen anerkannt und weiß sich von ihm anerkannt, und es hat die Mitmenschen als Anerkannte anerkannt. Es sieht die anderen als ihm wesentlich gleich: Sie folgen nicht nur dem gleichen Gesetz, sie sind wie es selbst Teilhaber an dem großen Spiel, das durch das Tauschsystem gegeben ist. Durch die symbolische Identifikation wird das Subjekt zum Mensch unter Menschen. Diesen Aspekt hat Pierre Legendre in den Mittelpunkt seines Werks17 gestellt. Tauschsysteme sind ethische Vergesellschaftungen. In ihnen ist die erste Identifikation, die man mit Legendre als die Menschwerdung bezeichnen kann,
16Lévi-Strauss versteht die Mythen bekanntlich als ein Mittel, die inneren Widersprüche einer symbolischen Ordnung aufzuarbeiten. Hier werden die Mythen als eine Rationalisierung verstanden, wobei der Begriff gegenüber dem Freud’schen etwas verschoben ist. Die Mythen geben einer Bejahung, die ihren Grund am Rande der Ordnung, in dem Modus des Zugangs zu dieser hat, einen Grund im Innern des Systems. Also verlieren die Mythen ihre Kraft genau dann, wenn der die Bejahung tatsächlich herstellende Modus des Zugangs verschwindet. 17Hierzu besonders: Legendre (1989): Le crime du caporal Lortie (dt. Legendre 1998: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie).
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gleichzeitig der Eintritt in die reale Ordnung des Kollektivs. Menschwerdung und Zugehörigwerden sind dasselbe. In den Argonauten des westlichen Pazifik18 beschreibt Malinowski das Tauschsystem der Trobriander als ein großes Spiel, das er im Übrigen sehr bewundert. Er beschreibt auch, dass die Menschen, als dieses Spiel von der Kolonialverwaltung und den Missionaren zerstört wird, in Langeweile und Alkoholismus verfallen. Spiel ist hier natürlich nicht im Gegensatz zum Ernst verstanden, es gibt kein Außen dieser Spiele; die Spielmetapher ist deswegen brauchbar, weil sie darauf hinweist, dass hier nicht nur Bedeutungen, Einstellungen, Gewohnheiten, sondern Identifikationen und Begehren generiert werden, wie das – aber eben in spielerischer Weise – in den Wettspielen geschieht. In den ernsten Spielen des symbolischen Tauschs mischen sich die Dimensionen von Wettbewerb und Verpflichtung. Wenn man den Wettbewerbscharakter ins Auge fasst, dann unterscheiden sich die Spiele in den Stammesgesellschaften von denen in feudalen Gesellschaften, die wir aus den wunderbaren Selbstbeschreibungen in der Epik kennen, durch die Art des Einsatzes. Dort wird meistens vorsichtig gespielt, ins Spiel gehen nur die Tauschobjekte ein, der Wert der Positionen wird nur durch den mehr oder weniger geschickten Umgang mit den Tauschoperationen gesteigert oder gemindert. Schon im Potlatsch kann man dagegen leicht die Positionen selbst im Spiel verlieren. In der epischen Welt wird schließlich Tauschen von Eigentum durch Berauben ersetzt, das noch intensiver bindet als das Geben. Und die Einsätze sind höher: Frauen, Leben und, was noch wesentlich mehr ist, die Position selbst. Eine genealogische Linie kann ausgelöscht werden.19 Die Moderne20 Kann man die Kultur der Moderne als ein einheitliches Tauschsystem beschreiben? Das Selbstverständnis der Moderne sagt das Gegenteil. Die wichtigsten alten, auf dem Tauschprinzip beruhenden Institutionen, also Feudalsystem und Zunftordnungen, sind verschwunden. Was die Tauschsysteme in der
18Malinowski
(1979 [1922]). Waltz (1993): Ordnung der Namen, 116–131. 20Was hier mit dem Begriff der Moderne gemeint ist, wird im Folgenden dargestellt, nämlich eine bestimmte Phase in der Geschichte der Auflösung der Strukturierung der Gesellschaft als Tauschsystem. Mit den Einschränkungen, die für die zeitlichen Festlegungen von Strukturwandlungen immer gelten, ist diese Phase zwischen dem 18. Jahrhundert und dem als Postmoderne bezeichneten Einschnitt zwischen 1960 und 1980 anzusetzen. 19Vgl.
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Moderne auflöst, sind Warentausch und Bürokratie. Der Warentausch löst den Gabe- und Verpflichtungscharakter des Tauschs auf. Die Bürokratie bedeutet, wenn man Eigentum in dem obigen Sinn definiert, eine Enteignung. Eine Position in einer bürokratischen Institution bedeutet nicht, eine bestimmte Macht mit entsprechenden Rechten zu besitzen, mit der man ausdrücken kann, was man in einem gegebenen Netz von Rechten und Pflichten sein will. Der Angestellte vertritt eine Macht, er hat Rechte nur als Vertreter; wenn er versucht, etwas Eigenes durchzusetzen, wird ihm die Macht entzogen. Eine bürokratische Organisation ist ihrer ersten Idee nach tatsächlich eine geschlossene symbolische Struktur im Sinn von Žižek, in der das Subjekt nur wie ein Rädchen in einer Maschine funktioniert. Die wirklichen Gesetze des Kollektivs sind in der Moderne demnach nicht mehr auf dem Tauschprinzip aufgebaut. Eigentum und soziale Position sind aus dem durch Rechte und Verpflichtungen geknüpften Beziehungsnetz des Tauschs herausgelöst. Die Identifikationen mit den sozialen Positionen sind nicht mehr Identifikationen in einem Tauschsystem, sie verlieren ihre Legitimation und können nur noch als Vorurteile angesehen werden. Man darf sich nicht mit seinem Geld identifizieren. Folgt man der Intuition des frühen Lacan, dass die zeitgenössische symbolische Ordnung im Kern seit den Stammesgesellschaften ein und dieselbe geblieben ist, dann würde das aber heißen, dass die von der Bürokratie und dem Warentausch produzierten Strukturen der modernen Gesellschaft auf der Ebene der Konstitution von Identifikationen und Begehren immer noch eine Tauschordnung geblieben sind. Wie kann man das verstehen? Für die Beschreibung von symbolischen Ordnungen ist die Literatur eine vorzügliche Quelle, ergiebiger als Geschichtsschreibung oder Soziologie. Nun beschreiben die Romane der bürgerlichen Epoche, von Honoré de Balzac bis Thomas Mann, André Gide und Jean Paul Sartre, die bürgerliche Gesellschaft als eine gute Gesellschaft, in der die Figur des Eigentümers noch die zentrale Identifikationsfigur war. Zwar war das Eigentum in bürokratische und Strukturen des Warentauschs eingebunden, aber hinter diesen Strukturen lag ein Netz von Beziehungen, die als Beziehungen des symbolischen Tauschs organisiert waren, in die das Subjekt noch wesentliche Dimensionen seines Eigentums einbringen und sich über dessen Verwendung ausdrücken konnte. Dies Netz lag außerhalb der legitimatorischen Diskurse des Bürgertums, aber es war substanziell genug, um eine Zugehörigkeit zu begründen, die sich vererben ließ. Die dauerhaften Subjektpositionen waren immer noch die Familien im genealogischen Sinn des Worts, also an vererbbare Familienvermögen geknüpft. Auch die Zugangsrechte zu den Positionen in den großen bürokratischen Systemen, dem Staatsapparat und dem Militär, waren familiäres Eigentum im alten Sinn. Das bedeutet – und das ist der zentrale Punkt –, dass in der vertikalen Dimension die Tauschstruktur
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noch funktionierte; es gab noch eine Zugehörigkeit als geschuldete Gabe zu vererben. Was der große Andere des Bürgertums im ersten Akt der Subjektivierung verlangt, ist immer noch die Identifikation mit einem Eigentum als Schuld. Diese Identifikation wird zwar nicht mehr wie früher regelhaft übernommen und bejaht, aber auch die Ablehnung bedeutet ja, dass Eigentum und Schuld als fundierende Begriffe der Kultur funktionieren. Die symbolische Ordnung der Moderne ist also in sich widersprüchlich. In der vertikalen Linie, zwischen Eltern und Kindern, wird eine Identifikation angelegt, der die Ordnung der Gesellschaft in wesentlichen Aspekten, vor allem in dem der normativen Selbstbeschreibung, widerspricht. Žižek fasst diesen Sachverhalt mit der Bemerkung, dass der große Andere hier in der Figur des che vuoi? erscheint. Der große Andere verlangt noch eine Identifikation, bestimmt sie aber nicht mehr inhaltlich. Die Dynamik und der Reichtum der modernen Kultur entwickeln sich in diesem Widerspruch. Weite Bereiche der Kultur der bürgerlichen Epoche, in der Kunst, aber auch die großen sozialen Erfindungen der Moderne beruhen deshalb auf der Ablehnung der Eigentumsidentifikation. Aber Ablehnung bedeutet immer auch Bindung. Der wichtige Punkt ist für uns der folgende. Wir haben das Tauschsystem als ein einziges großes Spiel beschrieben, mit dem jeder identifiziert ist. Das basale Gesetz, die Identifikation mit dem Eigentum und die Regel von Gabe und Schuld, gilt für alle. Jeder kann jeden auf dieses Gesetz hin ansprechen. Jeder kann von jedem verlangen, dass er sich vor diesem Gesetz legitimiert. Und es kann nur eine Wahrheit geben. Man kann das Gesetz ablehnen, aber man kann nicht ablehnen, sich mit dieser Ablehnung auseinanderzusetzen. Zur Veranschaulichung möchte ich auf einen bekannten Roman aus dem linken Milieu der Nachkriegszeit in Frankreich verweisen: Les mandarins von Simone de Beauvoir. Das Feld der Romanhandlung ist durch klare Oppositionen strukturiert: Wer für die einen Recht hat, hat damit notwendig für alle anderen Unrecht. Die Frage „Was denken Sie?“ übersetzt sich unmittelbar in die Frage „Zu welcher Partei gehören Sie?“, und diese Frage lastet ununterbrochen auf jeder Person. Auf der Seite der Subjekte handelt es sich immer um eine totale Zugehörigkeit; und das Grundmotiv, das in gewisser Weise das ganze Feld nährt, ist ein grundlegendes Schuldgefühl. Wer einen schönen Sommertag genießt, ist schuldig, denn er vernachlässigt den Appell, der aus dem Unglück und der Ungerechtigkeit der Welt kommt. Jede Wahl ist, für das andere Lager, ein Verbrechen; jeder ist für irgendeinen anderen ein Verräter. In der Grundstruktur würde jeder Text aus der Linken das gleiche Bild ergeben. Zwar gibt es die verschiedensten Auffassungen, aber es gibt eine Grundlage, auf der man sich streitet: ein Gefühl der Verpflichtung und
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die Gewissheit, dass es nur eine Wahrheit gibt. Man sieht, wie sehr dies schon Vergangenheit ist, nicht nur die Inhalte, sondern die Struktur. Man kann sich diese Entwicklung am Feld der Literatur klarmachen. Die Literatur der Nachkriegszeit ordnet sich in Gruppen, die durch bestimmte Grundidentifikationen verbunden sind, zuerst die Linken und die Konservativen, später die traditionellen Linken – Sartre – und die avantgardistischen Formalisten – der Nouveau Roman. Etwa ab 1980 sieht es dann jedoch ganz anders aus; es gibt immer noch gute Bücher, immer noch Rezensionen, aber keine Polemiken mehr, keine Situierung, keine Ablehnungen und Bündnisse. Die einzelnen Bücher sagen wie immer unendlich viel, aber diese Unendlichkeit fasst sich nicht zu öffentlichen Bedeutungen zusammen, weil diese erst in einem Netz von Beziehungen und Differenzen entstehen. Die Literatur verschwindet nicht, aber sie ist etwas anderes. Der Streit zwischen Positionen, mit denen man identifiziert ist, verwandelt sich in die Kontroversen der Talkshows.21 Die Hochmoderne Mit der Vorstellung der wirklichkeits- und subjektkonstituierenden Macht der Sprache ist notwendig auch die Vorstellung mitgegeben, dass es eine Geschichte auf der Ebene der Konstitution gibt. Für Heidegger ist das die Geschichte der Metaphysik, für Derrida die des Phallologozentrismus, für Foucault zum Beispiel die Entwicklung von der alten juridischen zur modernen produktiven Macht. Auch für Lacan gibt es eine solche Geschichte, die Geschichte der Beziehung des Menschen zum Logos.22 Es ist, wie bei den genannten Autoren auch, wesentlich eine Geschichte der Entstehung der Moderne. Der entscheidende Moment ist dabei der Anfang der modernen Wissenschaft und die Ablösung des Symbolischen von der Realität, Descartes und die Entstehung des Subjekts der
21Ein
für die vorliegende Argumentation vernachlässigbarer, aber an sich wichtiger Punkt soll hier mindestens erwähnt werden. Die feudale Gesellschaft definiert – mit marginalen Ausnahmen und in einer manchmal abgeleiteten Weise – alle ihre Angehörigen vom Eigentumssignifikanten her. Die Moderne setzt bekanntlich mit einem großen Enteignungsprozess ein. Sie schafft eine Klasse von Nichteigentümern, die Proletarier, die dann konsequenterweise tendenziell auch als Nichtmenschen betrachtet werden. Für sie werden andere Subjektivierungs- und Motivierungsmechanismen erfunden, im Wesentlichen die von Foucault beschriebenen. Beginnend im 19. Jahrhundert und vor allem im 20. Jahrhundert ist diese Klasse aber auch in eine wesentlich veränderte Eigentumsordnung weitgehend integriert worden. 22Vgl. Lacan (1986): Le séminaire livre VII [1959–1960], 15 (Sitzung vom 18. November 1959).
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Psychoanalyse.23 Wir interessieren uns hier für den Übergang zur Hochmoderne. Diesen Schritt hat Lacan nicht beschrieben, sondern – in dem Übergang von einem Denken der symbolischen Ordnung zu einem Denken des Realen und der jouissance – vollzogen. Diesen Vollzug will ich im Folgenden im Hinblick darauf darstellen, inwieweit man daraus eine Beschreibung gewinnen kann. Die Auflösung des verpflichtenden Symbolischen und das Erscheinen des Realen sind zwei Seiten einer Medaille. Das an Mauss und Lévi-Strauss angelehnte Symbolische des frühen Lacan braucht keinen Borromäischen Knoten, es trägt sich aus sich selbst heraus. Der große Andere fragt nicht nur, er sagt, was er will, er benennt, er stoppt das Gleiten des Subjekts unter der Kette der Signifikanten, er identifiziert in einem Netz von Rechten und Pflichten. Das Begehren braucht kein objet a, es wird durch den Phallus hinreichend geführt. Dieser Phallus braucht noch nicht vom Realen her bestimmt zu werden, er ist das Objekt des Begehrens des großen Anderen. Das Gesetz des Tauschs ermöglicht das Begehren nicht nur in dem Sinn, dass es verbietet – es gibt ihm Inhalte. Das Begehren geht nicht nur auf die Auflösung von Identifikationen, es ist ihnen in positiver Weise mitgegeben. Von seinen Identifikationen aus begehrt das Subjekt, mehr zu geben zu haben, stärker verpflichten zu können, mehr begehrt zu werden; und umgekehrt ist es ständig dem Begehren des Anderen und seinen Forderungen ausgesetzt. Natürlich ist auch in diesem Symbolischen das Reale existent. Zwar ist der Tausch der Tod der Sache, dieser Tod wird aber immerzu aufgehoben und immerzu neu vollzogen. Lévi-Strauss sagt, jeder Sexualakt sei eigentlich ein Inzest, denn er profaniert ein Objekt, das verpflichtet, indem er es zum Genussobjekt macht, und das geschieht immerzu. Auf der Seite des Subjekts gilt das Gleiche: Jede Identifikation ist eine Kastration, sie verlangt das Opfer des Pfund Fleisches.24 Und das gilt nicht nur für die ödipale Identifikation, jede Handlung im Symbolischen verlangt ein Opfer nach seiner spezifischen Art und formt den Körper des Subjekts in dem Austausch zwischen dem Realen und dem Symbolischen.25 Aber dieser im Verhältnis zum Späteren so gut funktionierende
23Auf
einer anderen Ebene gehört zu dieser Geschichte auch die Geschichte der großen kulturellen Erfindungen: die Erfindung des Monotheismus, der europäischen Philosophie, der höfischen Liebe, der Psychoanalyse. 24Vgl. Lacan (1966): Écrits, 630. 25In einer Phase der europäischen Geschichte empfand man diese so geformten Körper als in hohem Maße darstellungswürdig; unsere Museen sind ein gigantisches Archiv dieser Darstellungen.
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Nexus zwischen dem Realen und dem Symbolischen taucht auf dem Schirm von Lacans Interessen nicht auf. Die Inkonsistenz des großen Anderen und das Reale sind komplementäre Entdeckungen. Im Seminar VII produziert das Reale einen neuen Ort in Bezug auf das Symbolische, den zweiten Tod. Der normale Tod ist ein Ereignis im Innern des Symbolischen, im zweiten Tod lösen sich die Bedeutungen auf, die die Wirklichkeit tragen; es entsteht ein Ort außerhalb der symbolischen Wirklichkeit. Hier liegt auch die Wahrheit über das Begehren. Man sieht, dass alle realen Objekte des Begehrens eigentlich Verdeckungen sind; sie verdecken den Grund des Begehrens, der im Realen liegt. Im Seminar VII steht hierfür das mütterliche Ding, die chose, später wird Lacan hier die Begriffe des objet a und der jouissance ausarbeiten. Beide Begriffe haben die Funktion, die Wirksamkeit des Realen im Symbolischen zu beschreiben. Das Reale übernimmt jetzt die Aufgaben, die das erste Symbolische aus sich selbst erfüllen konnte. Um die Gewissheit in seiner Identifikation zu haben und um in der Wirklichkeit begehren zu können, muss das Subjekt sich auf das objet a stützen. Es gibt kein ich bin, kein ich will, kein ich begehre dich, ohne dass das objet a beteiligt wäre. Die jouissance bringt das energetische Moment ins Spiel, das beim frühen Lacan wenig thematisiert wird, anknüpfend an das, was bei Sigmund Freud Lust, Libido, Triebbefriedigung war.26 Die jouissance ist real, das heißt, sie ist rein präsentisch, dem, der spricht, unzugänglich. Sie verwirklicht sich nur im Sexualakt, oder als ein plus-de-jouir, als ein Mehrwert an Lust, der die Verläufe des Begehrens begleitet. Wenn wir Lacan für eine Beschreibung der Kultur der Gegenwart fruchtbar machen wollen, dann müssen wir die Außenseite des Innen-Außen-Verhältnisses konstruieren, von dem Lacan die Innenseite zu beschreiben sucht. Die Schwierigkeit liegt im Folgenden: Bei dem frühen Lacan hat das Innen-Außen-Verhältnis durch den Hinweis auf Lévi-Strauss klare Konturen; später gilt das nicht mehr. In den Seminaren finden sich verschiedene Versuche, die gegenwärtige Form des sozialen Bandes zu fassen. Im Seminar VII erscheint an dieser Stelle der Staat, der mit dem aristotelischen Begriff des Guten in Zusammenhang gebracht wird. Für die Beschreibung des sozialen Bandes am wichtigsten sind die vier Diskurse.27 Für uns am interessantesten sind Texte, die das aktuelle Soziale implizit oder explizit dem alten Konzept der symbolischen Ordnung
26Vgl.
Miller (2001): Prologue, 8. Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit der vier Diskurse ist hier nicht möglich. In Žižeks Lacan’scher Interpretation der aktuellen Kultur spielen sie eine große Rolle. Vgl. Žižek (2005): Körperlose Organe, 256–267.
27Eine
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entgegensetzen. Nur ein – allerdings wichtiger – Hinweis ist die Bemerkung: „c’est sûr que que les êtres humains s’identifient à un groupe; quand ils ne s’identifient pas à un groupe, ils sont foutus, ils sont à enfermer.“28 Dieser Satz enthält eine wichtige Implikation. Das alte Modell der symbolischen Identifikation war einstufig konzipiert. Die ödipale Identifikation mit dem Vater ist der Anlage nach die Identifikation im Netz des Sozialen. Jetzt geht Lacan von einem zweistufigen Modell aus; die Identifikation in einer Gruppe kann man nicht als Entfaltung einer ödipalen Identifikation verstehen. Am wichtigsten für uns ist die große Interpretation der Trilogie der Coûfontaines von Paul Claudel im Seminar VIII Le transfert:29 Hier wird die Transformation des Ödipuskomplexes mit der kapitalistischen Zerstörung der alten, auf der verpflichtenden Identifikation mit einem ererbten Namen und Eigentum beruhenden symbolischen Ordnung in Beziehung gebracht. Diesen Text möchte ich als Grundlage für die folgenden Überlegungen nehmen. In der symbolischen Ordnung wird das Subjekt in die Kette der Schuld hineingezwungen, die durch ein ursprüngliches Verbrechen entstanden ist – das begründet die Tragik der antiken Tragödie. Die Tragik in der Gegenwart liegt darin, dass das Subjekt auch noch diese Einbindung, „den Pakt mit der Erde“,30 seine Bindungen in der Ordnung der Rechte und Pflichten aufgeben muss. Die Schuld selbst wird ihm weggenommen. Die Begriffe, die hier auftauchen, sind der zweite Tod und „die absolute Verlassenheit“.31 In der Antike ist der zweite Tod die Grenze der Ordnung, in der Gegenwart ist er dagegen allgegenwärtig. Er bestimmt jetzt den Raum, in dem man sich einrichten muss. Die Beschreibung endet in der Frage, wie aus einer derartig radikalen Position ein Begehren entstehen kann.32 Macht es Sinn, die Hochmoderne als eine Kultur zu beschreiben, deren Innenseite der zweite Tod ist? Zuerst einmal empfiehlt es sich, den Begriff aus der Sphäre des Pathetischen herauszunehmen. Das Lacan’sche Pathos ist angemessen, weil Lacan das Gefühl hat, etwas Neues, Unerhörtes zu entdecken.
28„Es
ist gewiss, dass die Menschen sich mit einer Gruppe identifizieren; wenn sie sich nicht mit einer Gruppe identifizieren, sind sie verloren, sind sie nur noch zum Einsperren gut“ (Übersetzung M. W.). Lacan: R.S.I., 15. April 1975, unveröffentlicht, zitiert nach Porge (1989): Se compter trois, 189. 29Lacan (2001): Le séminaire livre VIII [1960–1961], 315–369. 30Ebd., 323. 31Ebd., 328 32Vgl. ebd., 360.
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Wenn der zweite Tod tatsächlich ein Raum ist, der unsere Kultur bestimmt, dann wird man sich mit einer nüchterneren Sprache wohler fühlen. Die Formulierung „der zweite Tod“ erklärt sich aus dem Kontext der Tragödieninterpretation, in dem er entstanden ist. Tod meint hier das Herausfallen aus der Ordnung des Symbolischen, also aus dem, was im Zusammenhang einer symbolisch artikulierten Welt die Wirklichkeit ist. Der große Andere, von dem aus man die anderen und sich als aufeinander bezogen sieht, ist verschwunden, nichts bindet mehr und nichts ist mehr begehrenswert. Es ist ein Raum der Gegenwärtigkeit. Von der symbolisch und imaginär artikulierten Wirklichkeit aus gesehen, markiert er einen absoluten Bruch, ist jenseits aller Identifikationen. Nach Lacan hat Sophokles einen Menschen erfunden, der an diesem Ort lebt, Ödipus auf Kolonos, Ödipus, der nach dem Ende der Tragödie weiterlebt. In dieser Fiktion befindet er sich in einem Raum ohne Begehren, wo nur noch der Schmerz zu existieren übrigbleibt. Von der artikulierten Wirklichkeit aus gesehen, ist dieses Jenseits das absolute Objekt des Begehrens und der Gegenstand, der die größte Angst erzeugt. Es muss immer wieder betont werden, dass es so etwas wie den zweiten Tod in der Wirklichkeit nicht gibt. Man kann nicht sagen: „Hier ist dieser Ort“. Niemand kann von ihm sagen: „Hier bin ich. Das ist der Ort, der mich bestimmt“. Der Titel der Tagung, Inflation des Realen, suggeriert, es könne mehr Reales geben. Es kann aber natürlich nur andere Konfigurationen des RSI geben. Was Lacan von den meisten konstruktivistischen Theoriearchitekturen in der Anlage unterscheidet, ist die Annahme, dass das außersprachliche Reale, das in jedem Konstruktivismus mitgedacht werden muss, in sich eine Artikulation hat, und dass es als etwas, das in der diskursiven Wirklichkeit nicht vorkommt, diese doch in einer fundamentalen Weise konfiguriert. Wenn man die soziale Seite der Kultur von Lacan aus verstehen will, dann muss man diese Hypothese mit übernehmen, das heißt, man muss davon ausgehen, dass das Diskursive von einem Raum aus seine Konfiguration erhält, der in ihm nicht vorkommt. Wenn wir die Aufmerksamkeit auf das R im RSI in Lacans Denken als Antwort auf einen Bruch in der Geschichte der Beziehung des Menschen zum Logos, in der Geschichte der Kultur verstehen, dann heißt das, dass dieser Bruch es nötig macht, vom Realen zu sprechen. Inflationär ist dann nicht das Reale, sondern die Rede vom Realen. In der alten Anordnung des RSI war die symbolisch-imaginäre Ordnung in sich so konsistent, dass man sich in ihr zurechtfinden konnte, ohne das R besonders zu beachten. In der neuen Anordnung scheint es hingegen notwendig geworden zu sein, Worte und Bilder für das R in die Wirklichkeit einzuführen. Uns interessieren aber nicht diese Worte und Bilder selbst, sondern die Frage, ob
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es möglich ist, diese neue Konstellation in ihrer Grundform im Verhältnis zu der alten zu beschreiben. Die immer noch am meisten zitierte Beschreibung der Postmoderne – ich ziehe, wie gesagt, den Ausdruck „Hochmoderne“ vor – ist die von Lyotard: An die Stelle von wenigen großen treten viele kleine Erzählungen. Diese Formel drückt die verbreitete und ja auch plausible Wahrnehmung aus, dass die aktuelle Kultur sich aus einer Vielzahl von Kulturen zusammensetzt. Dabei denkt man an Minderheiten, die durch eine Sprache und kulturelle Tradition verbunden sind, aber vor allem auch an so etwas wie Szenen, die durch einen Lebensstil verbunden sind, subkulturelle Szenen wie die der Rapper, Unternehmenskulturen, politische Kulturen von Parteien, lokale Fasnachtskulturen etc. Die Formel erfasst offenbar etwas Wichtiges, für das man aber einen genaueren Begriff braucht. Der Gegensatz „wenige große vs. viele kleine“ weist auf einen quantitativen Unterschied hin; nun zeigt uns die Geschichte des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine solche unübersehbare Vielfalt von Erzählungen, dass man kaum von einem Weniger und einem Mehr sprechen kann. Genauer scheint mir die Beschreibung des Phänomens, die in den Diskussionen über die aktuelle Geschichte der Popkultur ausgearbeitet worden ist: Danach ist die Moderne bestimmt durch den Gegensatz zwischen einer herrschenden Kultur, die von den Werten Familie, Eigentum, Leistung geprägt ist, und einer Gegenkultur, die, in sich unendlich vielfältig, sich immer durch den Gegensatz zur herrschenden Kultur definiert. Dieser Gegensatz hat sich aufgelöst; an seine Stelle tritt eine Vielzahl von Szenen, von denen keine dominiert und die unter sich die vielfältigsten Beziehungen haben.33 Das Ereignis besteht also nicht in einer Vermehrung der Erzählungen, sondern – das ist der wichtige Punkt – in der Auflösung der Einheit der Kultur. Die moderne Vielfalt hatte ihre Einheit – das haben wir oben schon gesehen – in dem ihr strukturell mitgegebenen Zwang zur Auseinandersetzung. Das Spezifische der Hochmoderne wird erst beschreibbar, wenn man die beiden Schlagwörter „Vielfalt“ und „Beliebigkeit“ richtig verbindet. Die Beliebigkeit gilt nicht innerhalb der Szenen, wo ja durchaus Regeln herrschen, sondern zwischen ihnen.34 Das Fundament der alten Einheit der modernen Kultur hatten
33Vgl.
Holert und Terkessidis (1996): Einführung in den Mainstream der Minderheiten; Bonz (2005): Zeichen und Techno; Gropper (2003): „… unsere Leidenschaft – ist ihnen rätselhaft …“. 34Auch diese Aussage ist zu präzisieren. Es gibt durchaus auch in der Hochmoderne Verbindung und Auseinandersetzung zwischen den Szenen. Nur liegt sie nicht auf der Ebene der Argumentation, sondern auf der Ebene des Geldes und des Kampfes um öffentliche Aufmerksamkeit.
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wir darin gesehen, dass die ganze Vielfalt der Zugehörigkeiten – in Bejahung oder Ablehnung – auf einer gemeinsamen basalen Identifikation35 aufsitzt, nämlich der Identifikation mit der Position in dem durch das Eigentum hergestellten Netz der Rechte und Pflichten. Wenn nun die kulturellen Szenen nicht mehr durch eine einheitliche identifizierende Kultur zusammengehalten wird, dann werden diese Szenen eine fundamentale Aufgabe der verschwundenen Kultur übernehmen: Es werden identifizierende Kulturen werden. Damit ist nun endlich das Problem benannt, das im Zentrum dieses Beitrags steht. Wie immer man die Subjektseite der Kultur auffasst, als Habitus, tiefe Werte, unterworfenes Subjekt etc., es wird in jedem Fall als selbstverständlich angenommen, dass symbolisches System und Subjektivität sich entsprechen und dass beide Seiten in sich einheitlich sind. Wenn ein Mensch zwei Habitus in sich hätte, könnte ja ein Habitus den anderen betrachten. Das widerspricht dem Prinzip, dass ein Habitus unbewusst sein muss, um zu funktionieren. Genauer gesagt: Es würde ein Ort entstehen, von dem aus das Subjekt die in ihm funktionierenden Habitus anschauen könnte, also ein Metahabitus. Damit wäre man wieder zu einem traditionellen Subjektbegriff zurückgekehrt. Die Unfähigkeit, der hochmodernen Vielfalt gerecht zu werden, hat man Bourdieu auch oft vorgeworfen, als handle es sich um einen gewissermaßen handwerklichen Mangel der Theorie.36 Nun ist aber hoffentlich deutlich geworden, dass dieser Mangel in dem Kulturbegriff selbst liegt, der das ganze Feld der Kulturtheorien organisiert. Gleichzeitig handelt es sich hier aber um den avanciertesten Kulturbegriff, den einzigen, den wir haben.37 Die Flut von Literatur erweckt den Eindruck, dass wir die Hochmoderne übermäßig gut verstehen. Demgegenüber möchte ich darauf aufmerksam machen, dass wir sie nicht verstehen, da wir über keine Sprache verfügen, die beschreibt, wie unsere gegenwärtige Kultur als subjektivierendes System funktioniert. Vor diesem Hintergrund
35Ich
kann hier nicht auf das Problem eingehen, in welcher Beziehung der hier in Anlehnung an den Begriff der symbolischen Identifikation des frühen Lacan entwickelte Begriff der basalen Identifikation mit anderen Konzepten steht, die dieselbe theoriearchitektonische Position besetzen wie das Konzept des Habitus. 36Vgl. Reckwitz (2000): Die Transformation der Kulturtheorien, 617–637. Reckwitz versucht hier Korrekturen anzubringen. Die Korrekturen bleiben grundsätzlich im Bereich des Postulats einer basalen Habitus-Welt-Kohärenz. 37Natürlich wird die Thematik der Diversität in vielen Bereichen aufgenommen, zum Beispiel in den Cultural Studies unter Stichworten wie Transkulturalität, Hybridität, lokal vs. global. Aber hier fehlt meistens das Problembewusstsein, das der Begriff der „Kultur“ erzeugt. Eine Ausnahme ist Homi K. Bhabha und die auf ihn sich beziehenden Diskussionen.
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sollte man den folgenden Versuch ansehen, mit Lacan’schen Denkfiguren die gegenwärtige Kultur zu beschreiben. Um den theoretischen Überlegungen etwas Plastizität zu geben, möchte ich an dieser Stelle die Beschreibung einer Szene einfügen, in der es um Identifizierung geht. Gegenstand ist eine dreitägige Wochenendblockveranstaltung in einem gebührenpflichtigen Aufbaustudiengang im Bereich Management am Ende des ersten Semesters.38 Die Veranstaltung wird von den zwei Professorinnen P. und R. geleitet. Frau R. ist auch für den Studiengang als Ganzen zuständig, die Kollegin P. wirkt bei einzelnen Veranstaltungen mit. Die Studierenden tröpfeln in einem Zeitraum von zwei Stunden nacheinander ein, einige sind ganz weggeblieben; die Mitarbeit verläuft schleppend. Das Ganze macht einen eher desolaten Eindruck. Als die Stimmung bedrückend bleibt, thematisiert Frau P. nachdrücklich die Situation. Ihre Intervention löst eine Flut von Vorwürfen aus, die sich gegen den Studiengang und die Trägerorganisation richten. Es wird bald deutlich, dass diese Probleme schon mehrfach angesprochen wurden und vielfach schon gelöst sind. Eine Nebenbemerkung – vier Studierende haben bereits im ersten Semester das Studium abgebrochen – gibt Anlass für eine Intervention: „Es ist eine mörderische Gruppe. Man kann hier herausgedrängt werden? Wer gehört dazu, wer nicht? Auf was kann man sich verlassen?“ Sobald diese Themen angegangen werden, verändert sich die Atmosphäre. An die Stelle von Vorwürfen treten Äußerungen, in denen sichtbar wird, was die Einzelnen erwarten, was sie befürchten, was sie zu geben bereit sind. Die Gruppe beginnt, sich in einen Raum zu verwandeln, in dem Arbeit möglich ist. Es geht hier darum, mit welchem Typ von Subjekten ein solcher Studiengang arbeitet und was er zu leisten hat. Muss man ihn als einen Ort des Zusammentreffens von Individuen ansehen, die ihre Ziele mitbringen und von ihnen aus motiviert werden, oder ist der Studiengang eine Gruppe in dem Sinn, wie Lacan im obigen Zitat von Gruppe spricht, also ein Kollektiv, in dem man sich identifiziert und wo dann die Motivationen, der Stil und die Qualität der Arbeit von der Struktur der Gruppe und der Form der in ihr möglichen Identifikationen abhängen? Die beiden Professorinnen verkörpern diese beiden Positionen. Ich möchte diesen Gegensatz als die Differenz zwischen einer modernen und einer hochmodernen Position interpretieren. Modern ist die Auffassung, dass es sich
38Ich
habe ein reales Ereignis so umgeformt, dass die mir wichtigen Aspekte ohne großen Interpretationsaufwand deutlich werden. Das Ergebnis ist eine Fiktion, die den Anspruch auf Aussagekraft erhebt. Die Interpretation ist zusammen mit Brigitte Scherer ausgearbeitet worden.
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bei den Studierenden um mündige, autonome Personen handelt. Das Wort „autonom“ hat in dem kulturwissenschaftlichen Rahmen, in dem wir hier arbeiten, keinen Sinn. Es ist zu übersetzen als: „identifiziert in einem Rahmen, der durch eine genealogische Familienstruktur und ein verpflichtendes Soziales bestimmt ist“. Diese symbolische Identifikation ist im Normfall gut internalisiert und erzeugt den Effekt der Autonomie. Wenn man es mit solchen Menschen zu tun hat, dann sind die Beziehungsprobleme zweitrangig, sie gehören in die Privatsphäre und es ist eigentlich ungehörig, sie anzusprechen. Das ist die Auffassung von Professor R. Die Wirklichkeit sieht aber offenbar anders aus. Der Studiengang macht einen desolaten Eindruck, die Motivation ist gering, es herrscht eine generelle Unzufriedenheit. Frau P., die die Rolle einer Supervisorin übernimmt, macht zwei Angebote, die beide in der Dimension des Wahrnehmens, Wichtignehmens, Anerkennens liegen. Wichtig genommen wird hier zuerst einmal ein Zustand des Nicht-Wollen-Könnens; er wird aber nicht den Studierenden als ein je individueller Defekt zugerechnet, sondern es wird ihm ein Recht zu existieren zugebilligt. Die zweite Intervention besagt: „Ihr seid füreinander wichtig.“ Das heißt für jeden, dass er gleichzeitig ein in seiner Subjektivität von den anderen abhängiges Subjekt und ein Vertreter des großen Anderen ist, von dem wiederum auch die anderen abhängig sind. Die Übernahme dieser doppelten Position ist die Identifikation. In ihr wird das Subjekt zu jemandem, der in der Beziehung zu anderen einen Willen hat. In der modernen Struktur stellt das verpflichtende Soziale den großen Anderen her. Jedes konkrete Kollektiv ist Teil des übergreifenden Netzes; auch im Innern des jeweiligen Kollektivs bleiben die Subjekte auf den der ganzen Ordnung gemeinsamen großen Anderen bezogen. Jetzt entsteht das Kollektiv nicht als Teil der Ordnung, sondern aus dem Zwischenraum heraus, aus dem Nicht-Wollen-Können. Was die Supervisorin in Gang bringt, ist die Emergenz der Gruppe als großer Anderer. Anders gesagt: Die Gruppe identifiziert.39 Sie bringt nicht handlungsfähige Subjekte zusammen, sondern sie konstituiert die Subjekte als handlungsfähige. Schon der Alltagscharakter der beschriebenen Szene spricht
39Die
paternalistischen Unternehmen des 19. und 20. Jahrhunderts verlangen offenbar auch eine Identifikation. Es handelt sich aber um eine Identifikation anderen Typs. Der Unternehmer als Eigentümer beansprucht der große Andere zu sein. Vgl. dazu meine Analyse des wohl ersten Modells einer paternalistischen Unternehmensstruktur in Rousseaus Nouvelle Héloïse. Waltz (1993): Ordnung der Namen, 194–198, 214–223. Das will das Unternehmen heute nicht mehr und es würde auch nicht akzeptiert. Jetzt bezieht sich die Identifikation auf das Unternehmen als Kollektiv oder eher als Rahmen für Kollektive.
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dafür, dass diese Aussage heute weitgehend für alle wichtigen Kollektive gilt, ebenso für Unternehmen, Institutionen, subkulturelle Verbindungen und Peergroups, von Teenagern bis zu Spitzenmanagern, etc.40 War das nicht immer so? Man kann den Unterschied auf den Begriff bringen: Das moderne Unternehmen verpflichtet, das hochmoderne identifiziert. Ab einem gewissen Niveau bedeutete die Anstellung in einem Unternehmen zuerst einmal eine Anerkennung. Aber Anerkennung von was? Bourdieu hat in seinem frühen Werk Les héritiers41 gezeigt, dass die Selektionsverfahren im französischen Erziehungssystem auf die Bestätigung einer Zugehörigkeit hinauslaufen. Es wird bestätigt, dass der Geprüfte den Habitus der Oberklasse besitzt, einen Habitus, den er in der familiären Erziehung erworben hat. Man wird das Prinzip auf die Auswahl der höheren Angestellten ausdehnen dürfen. Anerkannt wird die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft der Eigentümer. Man stellt den an, bei dem man wahrzunehmen glaubt, dass er denselben großen Anderen anerkennt wie man selbst. Dann wird er auch die Übertragung einer Verantwortung als eine Gabe ansehen und sich dem Gebenden verpflichtet fühlen. Dieses Modell gehört anerkanntermaßen der Vergangenheit an. Heute wird Identifikation erwartet und auch gesucht. Identifikation ist gleichzeitig mehr und weniger als Verpflichtung. Tendenziell will sie den ganzen Menschen; sie erfasst Bereiche, die früher als private unberührt blieben. Zugleich ist eine Identifikation etwas, in das man einsteigt und aus dem man wieder aussteigt: Sie bindet nicht. Sie will den ganzen Menschen erfassen, aber einen Menschen, der in der Dimension der Zeit kein Ganzes ist.42 Wenn man von der Vergangenheit her – die wir alle noch in uns haben – auf diese hochmodernen identifizierenden Kollektive schaut, ist ein Aspekt auffällig. Die vormodernen symbolischen Ordnungen galten als unsterblich. Man wusste,
40Es
gibt natürlich ganz andere Modi der Identifikation als den hier skizzierten. Um nur einen im Bereich der Unternehmenskultur wichtigen Modus zu nennen: die narzisstische Identifikation mit der Gruppe als eine Macht und ein Objekt der Bewunderung. 41Passeron und Bourdieu (1964): Les héritiers, les étudiants et la culture. 42Als Universitätslehrer hat man in den 90ern eine Umstellung ähnlichen Typs erlebt. Früher ging man davon aus (natürlich ohne dass Derartiges thematisiert zu werden brauchte), dass Professoren durch die Verpflichtung motiviert waren, die sie der Wissenschaft und der ihnen übertragenen Aufgabe, diese weiterzugeben, gegenüber empfanden. Die leistungsbezogene Bezahlung und das System der kontraktförmigen Mittelverteilung, die jetzt eingeführt werden, zeigt, dass man sich darauf nicht mehr verlassen will und sich mehr von dem Motivationsmittel der imaginären Rivalität verspricht. Identifizierung bezieht sich jetzt auf die durch imaginäre Rivalität begründete Gruppe der Kollegen.
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dass Reiche untergehen, man glaubte, dass die Menschheit untergeht, aber der Rahmen für diese Untergänge war unerschütterlich. Dem modernen Begriff der Nationalkultur, in dem auch schon – von Rousseau und Herder angefangen – mitgedacht ist, was wir hier als Kultur bezeichnen, ist auch die Idee mitgegeben, dass diese Kulturen sterblich sind. Dieses Bewusstsein gibt dem Nationalismus seine tiefe Macht und seine Position jenseits aller Gesetze – die Nation ist die sterbliche Grundlage jedes Gesetzes, und daher gilt es, sie auf jeden Fall zu erhalten. Und auch die Schleife der wechselseitigen Konstitution, auf die wir am Anfang hingewiesen haben, ist sehr deutlich: Ich muss die Nation erhalten, weil sie die Welt ist, in der ich bin, was ich bin, in der ich überhaupt etwas bin. Die Nation ist aber immer noch eine einheitliche, das Subjekt von Anfang an und in absoluter Weise prägende Kultur. Was dort weltgeschichtliches Drama war, ist heute jedoch trivial. Jedes dieser identifizierenden Kollektive kann aufgelöst werden, das Subjekt kann aussteigen und es existiert weiter. In der Hochmoderne hat jedes Subjekt den Außenstandpunkt zu der Kultur, in der es gerade befangen ist, immer schon in sich. Und dieser ist immer ein Standpunkt der Endlichkeit. Der zweite Tod, der Tod der Ordnung selbst, ist in der Hochmoderne normaler Bestandteil der Wirklichkeit. Die alten symbolischen Ordnungen, auch die der Moderne, waren, wenn man so will, dicht; sie waren undurchlässig für das Außen, für das Reale in der Sprache Lacans. Die hochmodernen symbolischen Ordnungen sind aber durchlässig, in ihnen entsteht ein Zwischenraum ohne symbolische Organisation. Wenn man fragt, wo das hochmoderne Subjekt zu Hause ist, so bleibt als Antwort nur: in diesem Zwischenraum, im Realen. In jede der vielen symbolischen Ordnungen bringen die Subjekte das Außen herein, das Wissen von dem zweiten Tod. Daher sind sie nur wirklich an diesem Ort bei sich, an dem man sich nicht aufhalten kann, der aber der einzige Ort ist, von dem aus die Wirklichkeit in einer Weise gesehen wird, die nicht von einem anderen Standpunkt aus sofort als eine ganz besondere, beschränkte Wirklichkeit wahrgenommen wird.43 Es ist dieser Zwischenraum, der in der Wirklichkeit nicht fassbar ist, aber die Grundstimmung
43Luhmann
hat ja bekanntlich die Hochmoderne, bei ihm die vollendete Moderne, gerade dadurch beschrieben, dass es in ihr keinen ausgezeichneten Ort der Beobachtung gibt. Vgl. Luhmann (1992): Beobachtungen der Moderne. Auch für ihn haben die Individuen das ihnen wirklich eigene Leben in dem Zwischenraum zwischen den Systemen, aber Luhmanns in dieser Hinsicht der Romantik nahe Konzeption lässt ihn diesen Zwischenraum als einen Raum der Individualität und der Liebe denken. Hierzu vgl. Reckwitz (2004): Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen, 213.
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des hochmodernen Lebens bestimmt, die Gegenwart des zweiten Todes, der es erlaubt, von einer Szene in die andere zu wechseln, ohne nach deren Beziehung zu fragen. Jetzt ist es möglich, die eigenen Identifikationen zu vergessen und wieder zu finden, weil man sie immer als solche behandelt hatte, von denen man von Anfang an schon gelöst war und die man also, während man in ihnen lebt, immer schon betrauert hat. Was wir hier mit Lacan als Auflösung der symbolischen Ordnung beschreiben, ist nichts Verborgenes. Die Doktrin, die gewöhnlich als Neoliberalismus bezeichnet wird und die das wirtschaftliche und politische Handeln gegenwärtig beherrscht, hat sich in dieser Kultur eingerichtet. Den Sozialstaat kann man, wie oben kurz angedeutet, als eine moderne Umarbeitung der auf dem verpflichtenden Eigentum und der genealogischen Familie beruhenden symbolischen Ordnung verstehen. Der Satz, dass Eigentum verpflichtet, ist nicht nur eine Phrase, und die Auffassung, dass jeder Bürger Rechte hat, und insbesondere, dass man durch Arbeit Rechte erwirbt, besitzt eine harte ökonomische Realität. Unter dem Gesichtspunkt der Subjektivierung wird der Neoliberalismus im Kontext der Anwendung von Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität44 untersucht. Unter diesem Gesichtspunkt kann man das neoliberale Denken in zwei Imperative zusammenfassen. Der erste besagt: „Du musst die Verantwortung für dich selbst übernehmen!“ Das heißt: „Du hast keine Rechte!“ Dieses du musst ist keine Verpflichtung, das Subjekt wird niemandem und nichts gegenüber verpflichtet. „Du musst für dich selbst sorgen“ verbindet sich mit dem Nachsatz, in dem die eigentliche Aussage steckt: „Du darfst von niemandem erwarten, dass er es tut.“ Margaret Thatchers viel zitierter Satz „Die Gesellschaft existiert nicht“ sagt dasselbe: Es gibt keine Ordnung, auf die man sich verlassen kann. Nichts anderes ist die Universalisierung des zweiten Tods. Die Angst, die mit ihm verbunden ist, wird zum tragenden Motiv des Lebens. Der zweite Tod ist zum Zwischenraum, zu etwas Alltäglichem geworden. Die Dramatisierung, die wir hier hereinbringen, entsteht nur durch den Vergleich. Tatsächlich ist das Alte aber schon fast vergessen, jedenfalls in der Dimension der Kultur, und es bleibt nur noch die Erinnerung an frühere und jetzt gestrichene Zahlungen.45
44Vgl.
Bröckling et al. Hrsg. (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Hier ist die aktuelle Form der Subjektivierung Effekt der neoliberalen Gouvernementalität. Darauf kann ich an dieser Stelle nicht eingehen; es liegt aber auf der Hand, dass ein Lacan’sches Herangehen die Problematik in einer anderen Weise artikuliert. 45Kulturen als subjektivierende Systeme sind ihrem Wesen nach vergesslich. Oder anders gesagt: Kulturen arbeiten das Gedächtnis um und bringen die alten Gedächtnisse zum Verschwinden.
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Der zweite Imperativ ist: „Du brauchst eine Zugehörigkeit, du musst dich identifizieren!“ Bekanntlich ist es seit einiger Zeit üblich geworden, dass Unternehmen, Universitäten, Kliniken, Diözesen sich bewusst und explizit anstrengen, Identifikationen herzustellen, und sie einfordern. Wir haben oben gesehen, dass ein solcher Imperativ in einer modernen Struktur keinen Platz gehabt hätte, aber wie notwendig er in einer hochmodernen Struktur ist und wie sehr er dem zentralen Wunsch des Menschen entspricht, in der sozialen Welt überhaupt in Erscheinung zu treten. Damit haben wir den Ansatz einer Antwort, wie wir eine plurale Kultur denken können, eine Kultur, in der es auch die Einheit der Widersprüche nicht mehr gibt, eine Einheit, die auch bedeutet, dass jeder in sich eine Verbindung mit allen anderen fühlt, und sei es eine Verbindung in Feindschaft. Das Problem ist: Die soziale Dimension einer Kultur und der Habitus bzw. die basale Identifikation sind zwei Seiten einer Sache. Damit ist aber undenkbar, dass ein Subjekt in verschiedenen Kulturen identifiziert ist. Die Lösung ist einfach: Das hochmoderne Subjekt ist in keiner Kultur ganz identifiziert. Oder genauer: An der Stelle im Subjekt, wo früher die Identifikationen saßen, ist jetzt die Nicht-Identifikation. Der Kern des hochmodernen Selbst ist dieser: durch die Erfahrung des Zwischenraums durchgegangen zu sein und gelernt zu haben, dass man nichts von dem, was man ist, wirklich ist. Man ist in vielen Kulturen zu Hause, weil man in keiner einzigen zu Hause ist. Man kann das auch so ausdrücken: Die Hochmoderne ist die erste nicht ethnozentrische Kultur. Frühere Kulturen waren dies immer, oder, altmodisch ausgedrückt, sie glaubten, dass das, was sie für richtig hielten, auch tatsächlich richtig war. Die ganze postkoloniale Selbstkritik der westlichen Kultur richtet sich gegen diesen Ethnozentrismus.46 Eine hochmoderne Überzeugung hat immer diesen Charakter: „Wie sollte es denn wahr sein? Aber ich tue gut daran, daran zu glauben.“ Was bedeutet durch eine Erfahrung des Zwischenraums durchgegangen zu sein? Es heißt einfach: erwachsen geworden zu sein. In der alten symbolischen Ordnung hieß Erwachsenwerden, den zugewiesenen Platz einzunehmen. In der Moderne hieß es, auf das che vuoi? des großen Anderen eine Antwort gefunden
46Der
Glaube, dass man im Richtigen ist, charakterisiert auch die Repräsentanten der Moderne in der Hochmoderne. So wird in einer typisch hochmodernen Umkehrung der Kritik am Ethnozentrismus in einem hübschen kleinen Roman Habermas mit der von jeder Rivalität freien Bewunderung beschrieben, die das postmoderne Subjekt für einen Menschen empfinden kann, der an das, was er tut und sagt, wunderbarer Weise auch glaubt. Vgl. Wackwitz (1996): Walkers Gleichung.
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zu haben. Jetzt heißt es, das Wissen von der Inkonsistenz des Anderen in sich aufgenommen zu haben.47 Rekapitulieren wir: Was die an der symbolischen Konstitution der sozialen Welt interessierten Kulturwissenschaften als Voraussetzung nehmen, nämlich, dass die Konstitution von sozialer Welt und Subjektivität eine wechselseitige ist und die beiden Seiten also zueinander passen müssen, haben wir als ein Problem gefasst, das die Kulturen zu lösen haben. Für dieses Problem gibt es eine einfache Lösung, nämlich, dass die Konstitutionsregeln der sozialen Welt in der frühen Kindheit erworben und dann je nach dem sozialen Ort verschieden weiterentwickelt werden. Der an Lévi-Strauss und Mauss orientierte Begriff der symbolischen Ordnung stellt eine – wenn auch natürlich hochstilisierte – theoretische Rekonstruktion dieser Lösung dar. Die soziale Welt wird als ein Beziehungsnetz beschrieben, das auf einer einfachen Grundregel beruht – so weit Lévi-Strauss und Mauss. Der Ödipus, als entscheidender Akt der Subjektivierung, wird als die Situierung des Kindes in diesem Netz aufgefasst. Diese Lösung haben wir – mit den genannten Autoren – als die Lösung angesehen, die die ganze vormoderne Menschheit unendlich variiert hat und die auch in der Moderne noch wirksam ist. Lacans Theorie der Inkonsistenz des Anderen und des Realen haben wir als eine Antwort darauf verstanden, dass die Hochmoderne die sozialen Voraussetzungen dieser Lösung zerstört. Wenn man die Begriffe des späteren Lacan auf die soziale Seite der Kultur hin extrapoliert, dann kommt man zu dem Bild, das wir skizziert haben. Die alte einstufige Verbindung von Subjektivierung und symbolischer Konstitution der Welt wird durch eine zweistufige abgelöst. Man kann nicht umhin, die Kindheit als eine in sich hinlänglich48 geschlossene Kultur zu denken. Der Kern einer hochmodernen Identität besteht dann aber in der Erfahrung, dass mit dem Erwachsenwerden diese Welt untergeht – untergeht nicht in dem alten Sinn, dass man erkennt, dass die kleine Kultur Teil einer großen war, wobei der Totalitätsanspruch, den jede Kultur in sich hat, in dieser großen aufgehoben bleibt. Diese Welt geht ganz unter, sodass der Erwachsenwerdende erkennt, dass dieser absolute Anspruch eine kindliche Täuschung war
47Deswegen
ist in der Hochmoderne, wie man oft festgestellt hat, niemand mehr im alten Sinn erwachsen. In einer modernen Sicht (die natürlich etwas schief ist) würde man einen hochmodernen Erwachsenen als ewigen Adoleszenten betrachten, als jemanden, der noch nicht in der Wirklichkeit angekommen ist. 48Es ist natürlich die Frage, was „hinlänglich“ bedeutet. Jedes symbolische System kann viel an Störungen ertragen. Eine Mindestanforderung liegt jedenfalls darin, dass die Ordnung nicht im Rauschen untergeht.
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und es nirgends einen Ort gibt, wo er erfüllt wäre. Damit ist er – im normativ erfolgreichen Fall – fähig, in dem hochmodernen Modus zu existieren. Hier glaubt man an etwas, obwohl man weiß, dass es nur wahr ist, weil und solange man daran glaubt; und man weiß, dass man nicht anders verfahren kann.
Literatur Bonz, Jochen. 2005. Zeichen und Techno. Eine Feldforschung zwischen den Signifikanten des Tracks. In Techno-Visionen. Neue Sounds, neue Bildräume, Hrsg. Sandro Droschl, Christian Höller und Harald A. Wiltsche, 35–54. Wien. Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann, und Thomas Lemke. Hrsg. 2000. Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M. Foucault, Michel. 1986. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1976). Ders. 1995. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1975). Gropper, Klaus. 2003. „… unsere Leidenschaft – ist ihnen rätselhaft …“ Popkultur im Alltag. Analysen biographischer Interviews. Unveröffentlichte Magisterarbeit im Studiengang Kulturwissenschaft, Universität Bremen. Holert, Tom, und Mark Terkessidis. 1996. Einführung in den Mainstream der Minderheiten. In Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Hrsg. Tom Holert und Mark Terkessidis, 5–19. Berlin. Lacan, Jacques. 1966. Écrits. Paris. Lacan, Jacques. 1986. Le séminaire livre VII: L’éthique de la psychanalyse [1959–1960], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Ders. 2001. Le séminaire livre VIII: Le transfert [1960–1961], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Legendre, Pierre. 1989. Le crime du caporal Lortie. Traité sur le père. Leçons VIII. Paris (dt.: ders. 1998. Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlungen über den Vater. Lektionen VIII, Hrsg. Gerhard Neumann und Günther Schnitzer, übers. Clemens Pornschlegel. Freiburg im Breisgau). Luhmann, Niklas. 1992. Beobachtungen der Moderne. Opladen. Malinowski, Bronislaw. 1979. Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1922). Miller, Jacques-Alain. 2001. Prologue. In Autres Écrits, Hrsg. Jacques Lacan. Paris. Passeron, Jean-Claude, und Pierre Bourdieu. 1964. Les héritiers, les étudiants et la culture. Paris. Porge, Erik. 1989. Se compter trois. Le temps logique de Lacan. Toulouse. Reckwitz, Andreas. 2000. Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist. Ders. 2004. Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen: Niklas Luhmann und die Kulturtheorien. In Luhmann und die Kulturtheorie, Hrsg. Günter Burkart und Gunter Runkel, 213–241. Frankfurt a. M.
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Das Subjekt in der Verantwortung [2004]
In der deutschen, französischen und englischen Sprache taucht das Wort „Verantwortung“ erst im 18. bzw. im 19. Jahrhundert auf. Die Sache ist aber so alt wie die Menschheit selbst. Wenn Gott Kain fragt: „Wo ist dein Bruder Abel?“ und Kain antwortet: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“, so geht es um Verantwortung, um Verantwortung im Zusammenhang mit Schuld. Offenbar werden viele der Phänomene, für die wir heute den Begriff der Verantwortung verwenden, früher mit Begriffen wie Schuld und Verpflichtung erfasst. Es ist eine interessante Frage, in welchen Zusammenhängen der moderne Begriff der Verantwortung auftaucht. Man kann vermuten, dass es im Zusammenhang der Entstehung von Staatlichkeit und Bürokratie geschieht, wo Verantwortungsfragen von Schuldfragen abgekoppelt werden. Der Titel „Subjekt in der Verantwortung“ soll darauf hinweisen, dass es nicht um eine inhaltliche Problematik – also um Fragen des Typs: Für was sollte man Verantwortung übernehmen? – geht, sondern um die Verankerung der Verantwortung in den Subjekten. Eine solche Verankerung geht allen Inhalten voraus und wird von ihnen immer in Anspruch genommen. Gäbe es nicht so etwas wie eine prinzipielle Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, ein Verantwortungsgefühl, würde kein Appell überhaupt als Appell wahrgenommen. Der Titel weist ferner darauf hin, dass In-der-Verantwortung-Stehen und Menschliches-Subjekt-in-der-Welt-Sein synonym sind. Das Wort „zurechnungsÜberarbeitung des Textes Le sujet dans la responsabilité (in: Poulain, Sandkühler, Triki. Hrsg. [2006]: L’agir philosophique dans le dialogue transculturel, 159–169) für einen Vortrag im Fachbereich Pflege der KFH Freiburg 2004.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_11
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fähig“ meint ja nichts anderes, als dass man dem zurechnungsfähigen Subjekt Verantwortung zuschreiben kann. Das heißt natürlich nicht, dass nur ein Mensch ist, wer auch fähig ist, Verantwortung zu übernehmen. Aber eine menschliche Welt kann nur bestehen, wenn die, die an ihr teilhaben, sich für ihr Handeln verantwortlich fühlen. Das soll hier auch die Definition des Begriffs „Subjekt“ sein: Teilhaber einer menschlichen Welt sein zu können. Weil Subjektsein und In-der-Verantwortung-Stehen dasselbe sind, soll hier die Problematik der Verankerung der Verantwortung im Menschen im Zusammenhang der Diskussion über die Subjektivierung, das Subjektwerden des Menschen, behandelt werden. Wenn wir Subjektsein als Eingebunden- und Verantwortlichsein verstehen, dann ist der Prozess der Subjektivierung nicht ein für alle Mal abgeschlossen; er wiederholt sich immer, wenn wir in einen neuen sozialen Zusammenhang kommen, zum Beispiel einen neuen Posten übernehmen. *** Der Begriff der Verantwortung impliziert eine dreipolige Struktur: Das Subjekt ist für etwas (bzw. für jemanden) gegenüber jemandem verantwortlich. In dieser Struktur kann man die eine oder die andere Seite betonen, die Seite, nach der man für etwas, oder die, nach der man gegenüber jemandem verantwortlich ist. Beide Akzentsetzungen möchte ich hier diskutieren. Wenn man in Deutschland von Verantwortung redet, begegnet man unweigerlich dem Buch Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas. In diesem Buch ist das Prinzip der Verantwortung ausschließlich von dem ersten Pol der Struktur her konstruiert. „Das Erste ist das Seinsollen des Objekts [das heißt der Sache, die an die Verantwortung appelliert], das Zweite das Tunsollen des zur Sachwaltung berufenen Subjekts. Das Heischen der Sache einerseits […] und das Gewissen der Macht andererseits […] vereinigen sich im Verantwortungsgefühl“.1 Das ganze Buch handelt von dem, was Jonas sehr ausdrucksvoll das „Heischen der Sache“ nennt, ich werde im Folgenden auch von dem Appell der Sache sprechen. Der Archetyp der Sache, die an die Verantwortung appelliert, ist das neugeborene Kind, dessen bloßer Atem, wie Jonas schreibt, „unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich seiner anzunehmen“.2 Die These des Buches besagt, dass die Existenz der Menschheit als Ganzer das fundamentale Gut ist,
1Jonas 2Ebd.,
(1979): Das Prinzip Verantwortung, 175. 235.
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das absolut erhalten werden muss und von dem ein dringender Appell zur Verantwortung ausgeht. Vom Anfang bis zum Ende insistiert das Buch auf diese Dimension des Appells der Sache. Dagegen sucht man vergeblich nach dem anderen Pol, der Beziehung des Subjekts zu der Instanz, gegenüber der es verantwortlich ist. Auf einer einzigen Seite3 spricht Jonas von dieser Dimension, und dann auch nur in einem sehr engen Kontext. Es geht um die Verantwortung, die Jonas die vertragliche nennt, zum Beispiel die des Finanzbeamten gegenüber seinen Vorgesetzten. Wenn wir uns in der zeitgenössischen philosophischen Diskussion über den Begriff der Verantwortung umschauen, so treffen wir immer wieder auf eine massive Privilegierung der Dimension des „Heischens der Sache“. Wer dem Denken von Emmanuel Lévinas begegnet ist, weiß, welchen zentralen Stellenwert der Appell, der vom Antlitz des anderen Menschen ausgeht, hier hat; dieselbe Privilegierung findet man auch bei Jacques Derrida.4 *** Ich möchte hier aber die andere, trivialere Dimension des Verantwortungsbegriffs ins Zentrum stellen, die Verantwortung des Subjekts gegenüber der Instanz, vor der es verantwortlich ist. Um in diese Dimension einzuführen, möchte ich einen Satz zitieren, der zu Recht oder zu Unrecht Foucault zugeschrieben wird,5 der aber jedenfalls eine in der antiautoritären Bewegung der 1960er und 1970er Jahre verbreitete Denkweise reflektiert: „Responsabilité est un mot de flic.“6 Was in diesem Satz abgelehnt wird, ist sicher nicht die Dimension des Appells, sondern ein trivialerer Gebrauch des Wortes. Es ist etwas geschehen, was nicht hätte passieren sollen; irgendjemand hat da Recht zu sagen: „Sie sind verantwortlich! Daran hätten Sie denken müssen!“ Hier ist nicht die Rede von einem Appell, der von einer Bedürftigkeit kommt, die auf Hilfe angewiesen ist. Es hat einen Auftrag gegeben, man ist mit einem Amt betraut worden, oder mit einem Recht, das mit Pflichten verbunden ist. Es gibt eine Verantwortung, die man übernehmen muss und die notwendig mit einem Gesetz verbunden ist, und damit mit der immer anstehenden Möglichkeit eines Vergehens oder einer Schuld.
3Vgl.
ebd., 178 f. Moebius (2003): Die soziale Konstituierung des Anderen, 152 f. 5Wahrscheinlich eher zu Unrecht. Der Terminus „Verantwortung“ kommt in den Œuvres complètes nicht vor. 6„Verantwortung ist ein Polizistenwort.“ 4Vgl.
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Worum es in dieser Dimension geht, möchte ich an einem psychoanalytischen Fallbeispiel erläutern. Es stammt aus dem ersten der Seminare des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan; Lacan gibt hier aber die Fallbeschreibung eines Kollegen wieder, Michael Balint. Bei der Patientin handelt es sich um eine intelligente und charmante Frau; auffällig ist, dass sie es trotz ihrer Fähigkeiten fertigbringt, in jeder ihrer Stellungen ziemlich schnell gekündigt zu werden. Die Sitzungen füllt sie mit Plaudern aus, mit Reden-Reden-Reden, um nichts zu sagen. Das ist auch bei anderen Analytikern schon recht lange so gegangen. Wo liegt die entscheidende Wendung? Nach einem anstrengenden Geplauder legt Balint den Finger auf das, was sie nicht sagen will: Sie hat ein Empfehlungsschreiben für eine Anstellung bekommen, in dem sie als „vertrauenswürdig“ bezeichnet wird. Balint gelingt es, die Patientin zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass es für sie seit jeher genau darum geht: Man darf sie nicht für vertrauenswürdig halten, das heißt für jemanden, für den sein Sprechen verbindlich ist. Denn wenn ihre Worte für sie verbindlich sind, dann wird es nötig werden, dass sie sich „an die Maloche“ macht, in die Welt der Arbeit eintritt, also in die Welt der Erwachsenen, wo man immer mehr oder weniger auf Sklaverei reduziert ist. Lacan erzählt diesen Fall in seinem Seminar in einem bestimmten Zusammenhang. Er will zeigen, dass eine (mehr oder weniger bewusste) Absicht von neurotischem Verhalten darin besteht, sich aus der Sphäre der Verbindlichkeit zurückzuziehen. Der Text lässt ein Verständnis für diese Absicht durchscheinen. Die Welt der Verbindlichkeit ist auch die der Maloche, eine Sklaverei. Das ist ein Punkt, den man nicht vergessen darf, wenn man von Verantwortung spricht. Das Prinzip der Verbindlichkeit lastet auf dem Leben, unterdrückt in weiten Bereichen alles, was unmittelbar und spontan ist, Wünsche, Lust, Genuss. Man braucht die Traumata, die Neurosen erzeugen, nicht lange zu suchen. Das Sich-der-Verbindlichkeit-Unterwerfenmüssen ist in sich schon ein Trauma. Aber natürlich ist gerade diese Unterwerfung auch das Ziel der Analyse. Nur durch die Unterwerfung wird man ein richtiger Mensch, ein Subjekt; und jenseits von ihr kann man nun ja auch in einer anderen Weise wieder Wünsche und Lüste, sogar eine andere Form der Spontaneität finden. Und wenn alles gut gegangen ist, hat man sogar das Trauma vergessen. *** Ich möchte mich dem Phänomen der Subjektivierung noch mit einem anderen, sehr bekannten und viel diskutierten Text nähern, dem Aufsatz Ideologie und
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ideologische Staatsapparate7 des strukturalistischen Marxisten Louis Althusser. Dieser Text ist von Judith Butler in einem Kapitel ihres Buches Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung8 wieder aufgenommen und ausführlich besprochen worden. Der Aufsatz von Althusser präsentiert uns eine Inszenierung des Prozesses der Subjektivierung, der Verwandlung des vormenschlichen Wesens in ein menschliches Subjekt. Inszenierung ist eine treffende Formulierung von Butler; tatsächlich versucht der Text gar nicht eine Beschreibung dieses in der Wirklichkeit ja so ungeheuer komplexen Prozesses zu geben, er personifiziert die Entitäten, die in diesem Prozess wichtig sind, und lässt sie miteinander agieren. Dadurch wird einerseits die Struktur deutlich, andererseits das, worum es in diesem Prozess überhaupt geht. Nun also die Szene: Ein Passant wird auf der Straße von einem Polizisten angerufen: „He, Sie!“, und er dreht sich um. Er hat sich angesprochen gefühlt. Diese Szene wird verdoppelt von einer Szene aus dem Alten Testament. Gott ruft Moses, um ihm zu sagen, dass er, Gott, existiert, und dass Moses ihm für seine Taten Rechenschaft ablegen muss. Und Moses antwortet: „Hier bin ich. Ich bin dein Diener und ich werde dir gehorchen.“ Das Subjekt nennt und definiert sich durch die Stimme, die von einer Instanz kommt, die ich hier mit Lacan die symbolische Ordnung oder den großen Anderen nennen werde. Indem es sich diesem Anruf unterwirft, wird das Individuum ein Subjekt, ein Mensch, der andere Menschen als ihm gleich anerkennen und in der Welt verantwortlich handeln kann. Einige der wichtigsten Bücher von Foucault, vor allem Überwachen und Strafen und Geschichte der Sexualität I, kann man als eine Ausführung dieses Schemas lesen, eine Ausführung, die den Aspekt der Gewaltsamkeit dieser Unterwerfung betont. Er zeigt, wie diskursive Machtapparate, Gefängnisse, Kliniken, psychiatrische Anstalten, Schulen durch Disziplinierung Subjekte schaffen. Butlers Interesse am Prozess der Subjektivierung ist zentriert auf die Übernahme sexueller Normen und Verhaltensweisen. Aber anders als Althusser und Foucault betont sie die positiven Seiten der Subjektwerdung: Durch sie erst bekommt das Individuum die Möglichkeit, in der sozialen Welt aktiv zu werden. Sie stellt auch die Frage nach dem Verhältnis des Subjekts zu dem Gesetz, dem es unterworfen ist. Ein ambivalentes Verhältnis: Einerseits geht Butlers zentrales Interesse auf die Möglichkeiten, wie das Subjekt dem Gesetz der Zwangsheterosexualität, das es unterworfen hat, Widerstand
7Althusser 8Butler
(1976): Idéologie et appareil idéologiques d’État. (2001 [1997]): Psyche der Macht, 122.
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leisten kann, andererseits sieht sie auch, dass das Subjekt gerade diesem Gesetz „leidenschaftlich verhaftet“ ist. Wir haben damit ein begriffliches Schema, in dem man Subjektivierung denken kann, ein Schema, das Aktoren und einen Prozessverlauf beschreibt. Es gibt ein Individuum vor der Sozialisation, dieses Individuum wird angerufen von einer Instanz – die Sprache, das Symbolische, die Kultur –, die eins ist mit der Ordnung der Welt und die auch die Macht hat, diese Ordnung durchzusetzen. Von dieser Instanz wird das Individuum benannt, an einen Platz in der Welt gestellt und dazu gebracht, sich diese Ordnung und ihre Normen zu eigen zu machen, sie zu internalisieren; damit ist es Subjekt in der Welt geworden. Ich möchte ganz kurz den Stellenwert dieses Schemas in der wissenschaftlichen Diskussion benennen. Es ist grundlegend für die poststrukturalistische Tradition, aus der auch die bisher angeführten Texte stammen, und auch für die moderne Kulturtheorie, die in der Soziologie, in der Ethnologie und in der Philosophie wichtig geworden ist. Diese Auffassung konkurriert mit der seit der Aufklärung dominierenden Konzeption, die der Sprache/der Kultur einen kleineren Stellenwert gibt, sie nämlich wesentlich als ein Mittel der Verständigung ansieht, und die soziale Ordnung als Effekt der Verständigung zwischen Subjekten begreift; dabei haben die Subjekte mehr Selbstständigkeit gegenüber dem Sozialen. *** Natürlich kann man dieses Schema in ganz verschiedener Weise ausfüllen. Auf eine Unterscheidung, die für die Strukturierung von Verantwortlichkeit wichtig ist, will ich hier ausführlicher eingehen. Für die drei behandelten Autoren ist Subjektivierung ein Machteffekt. An dem Verhältnis der Subjekte zu der Macht, der sie ihre Existenz verdanken, interessiert sie fast nur die Frage, ob und wie das Subjekt dieser Macht Widerstand leisten kann. Althusser sieht wohl, dass die Instanz der Macht von dem Subjekt erwartet, dass es Verantwortung übernimmt. Die Anrufung durch den Polizisten oder durch Gott ist immer auch ein Für-schuldig-Erklären. Der Druck der Schuld veranlasst das Subjekt, Ver antwortung zu übernehmen. Eine wesentliche Frage bleibt hier aber offen. Denken wir an den Luthersatz: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Hier wird eine Verantwortung übernommen. Das „Ich kann nicht anders“ sagt, dass ihm etwas auferlegt wurde. Aber gleichzeitig drückt der Satz nicht nur eine Unterwerfung, sondern auch eine Entscheidung aus, die Entscheidung, das Auferlegte auch selbst zu wollen. Das Beispiel der charmanten Patientin zeigt in der Ablehnung dasselbe. Das Prinzip der Verantwortlichkeit wird dem Individuum nicht in dem Sinn aufgezwungen, dass es nicht auch nein sagen könnte. Wahrscheinlich ist das eine unglückliche Entscheidung, aber es ist eine Entscheidung. Man kommt nicht durch eine bloße Unterwerfung, sondern durch eine Bejahung
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in den Bereich der Verantwortlichkeit. Das Ziel der Analyse ist ja dann auch, eine solche Bejahung zu erreichen. Die Frage ist also: Wie kann man das Schema der Subjektivierung so fassen, dass es auch zu verstehen erlaubt, dass man Verantwortungen auch bejahen, sich für sie entscheiden kann? Mit dieser Frage sind wichtige Dinge verbunden. Die Bejahung der subjektivierenden Unterwerfung ist ja auch eine Bejahung des Selbst, des Selbst in dem Sinn dessen, was George Herbert Mead das me nennt, das Selbst, das man für die anderen darstellt. Es gibt schon lange den Traum einer Freiheit vor aller Verantwortung, aber es gibt ja auch eine Freiheit in der Verantwortung, und sie ist nur möglich, wenn man die subjektivierende Unterwerfung und die Person, die man durch sie geworden ist, bejaht. Die drei Autoren interessieren sich nicht für diese Frage, und wenn man die Instanz der Anrufung nur als eine Macht denkt, dann kann man sie auch nicht beantworten. Weder in der Literatur über Verantwortung in Organisationen noch in der zeitgenössischen Ethikdiskussion spielt diese eine besondere Rolle. Wenn man glaubt, dass die Frage, warum, aus welchen Motiven, in welchem Geist man eine Verantwortung übernimmt, für eine Ethik der Verantwortung wichtig ist, dann muss man sie stellen. Aus dem religiösen Kontext ist diese Frage bekannt. Wenn der Mensch nicht sündigen, sich nicht gegen Gott stellen könnte, hätte die Frömmigkeit keinen Sinn. Die eigentliche Freiheit des Menschen liegt in der Möglichkeit, sich gegen den zu entscheiden, der ihn geschaffen hat und der sein Leben trägt. Es ist eine interessante Frage, wie man diese Problematik aus dem religiösen Kontext herauslösen kann. Man kann sich dabei auf wenig an Vorarbeit stützen; ich werde nur kurz einige Optionen vorführen. Warum befolgt ein Arzt die von einer Ethikkommission ausgearbeiteten Regeln, zum Beispiel hinsichtlich der Informationen, die er einem Patienten bezüglich des mit einem Eingriff verbundenen Risikos geben muss? Es mag allerlei Gründe geben, aber man verlässt sich darauf, dass er es tut, weil er ernsthafte Schwierigkeiten fürchtet. Sicher ist Angst einer der zentralen Gründe, warum man Verantwortung übernimmt, nicht unbedingt fühlbare Angst, aber die Hintergrundangst vor Ablehnung oder gar vor Entlassung und was damit an tiefen Ängsten für jeden Einzelnen verbunden ist. Sicher spielt auch das Motiv der Schuldgefühle, das Althusser erwähnt, eine große Rolle. Hier ist jedenfalls die Übernahme von Verantwortung Effekt einer Abhängigkeit, nicht Ergebnis einer Entscheidung. Der Akt der Subjektivierung ist eine Unterwerfung, eine Festlegung auf ein bestimmtes Selbst und auf bestimmte Normen, aber er ist auch eine Gabe. Das Kind bekommt zumindest die Versprechung, einmal in der Welt eine Rolle
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spielen zu können. Der Erwachsene bekommt eine Stelle und einen Handlungsspielraum. Die Gabe ist etwas Zweideutiges. Sie macht abhängig von dem, dem man jetzt etwas schuldet. Aber man kann sich auch vorstellen, dass der, der sie gibt, sie nicht als etwas gibt, was ihm gehört, sondern sie weitergibt als etwas, was er selbst bekommen hat und was ihn verpflichtet. Eine solche Gabe macht nicht abhängig, sondern sie schafft eine Verpflichtung, die in der Sache liegt und die zum verantwortlichen Umgang und zur Weitergabe drängt. Eine solche Verpflichtung kann man übernehmen und bejahen. Nach dem heute gängigen Modell übernimmt man Verantwortung aus Motiven der Selbstverwirklichung, anders gesagt: aus narzisstischen Motiven. Hier hat man Verantwortung ohne Verpflichtung und ist also völlig frei. Nun gehört ja bekanntlich zur narzisstischen Struktur, dass man entweder grandios oder gar nichts ist. Wenn man der psychoanalytischen Literatur folgt, liegt hinter dem narzisstischen Größenselbst eine fundamentale Angst. Hinter dem Schein von Freiheit kann eine völlige Abhängigkeit liegen. Wenn man allerdings gelernt hat, mit solchen Größenwünschen und Ängsten auch in der Beziehung mit anderen umzugehen, dann kann hier eine Freiheit in der Übernahme von Verantwortung entstehen. *** Wir haben einige Denkmöglichkeiten unseres dreipoligen Modells der Subjektivierung durchgespielt. Die Instanz der symbolischen Ordnung haben wir bisher nur als eine Instanz angesehen, die benennt, festlegt, fordert, gibt. Es gibt aber auch eine Beziehung in der umgekehrten Richtung. Das Subjekt hat auch Erwartungen gegenüber dieser Instanz. Ein Beispiel aus dem Alten Testament kann in die Problematik einführen, die Geschichte von Hiob: Am Anfang ist Hiob ein gerechter, frommer und glücklicher Mann; gerecht nach den Normen der Welt, fromm, indem er den göttlichen Gesetzen folgt, die übrigens fast dieselben sind wie die Regeln der Welt. Er übernimmt alle Verantwortungen, die man übernehmen muss, und er übernimmt sie gern. Er ist zufrieden mit der Person, die er in seiner Welt darstellt. Er ist nicht nur zufrieden, weil es ihm gut geht und er mit Reichtümern gesegnet ist, sondern auch, weil er weiß – und das ohne Anmaßung –, dass er sein Glück auch verdient. Dann wird er von einem Unglück nach dem anderen geschlagen. Daran knüpft sich eine lange Diskussion, wie man damit umgeht, wenn Gott sich als ungerecht erweist. Diese Diskussion interessiert mich hier nicht, sondern nur, was in ihr vorausgesetzt ist, nämlich dass es sich hier um eine Ausnahme handelt, mit der Gott ganz besondere Absichten verfolgt. Die einfachste Lehre der Geschichte ist: Man hat das Recht zu erwarten, dass Gott gerecht ist. Das ist ein trivialer Satz, aber er hat eine sehr weitgreifende Geltung. Verantwortung setzt Ordnungen voraus, Räume von Regelhaftigkeit.
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Verantwortung funktioniert nur, wenn die Instanz, die von anderen Menschen Verantwortung einfordert, der große Andere, sich in der Beurteilung der Leistungen an Regeln hält. Es muss klar sein, was der Verantwortliche zu tun und zu lassen hat, was als gute und schlechte Ausfüllung einer Verantwortlichkeit gilt. Das heißt auch, dass die Instanz dem Subjekt Aufmerksamkeit entgegenbringen muss, dieses muss sich in dem, was es tut, gesehen fühlen. Das alles geschieht nicht wirklich. Nie waren die verantwortungstragenden Instanzen völlig aufmerksam und völlig gerecht. Aber Gerechtigkeit muss ihnen unterstellt werden können; und die Instanzen müssen diese Unterstellung stützen, sie müssen wenigstens der Form nach an sich die Forderung stellen, gerecht zu sein. Es ist allerdings ein sehr spezifischer Begriff von Gerechtigkeit, der hier verwendet wird. Gewöhnlich verbindet man mit dem Begriff moralische und humane Gesichtspunkte; gerecht ist ein System, das allen ihm zugehörenden Menschen in ihrer Eigenart gerecht ist. In diesem Sinn brauchen Verantwortungssysteme nicht gerecht zu sein. Sie ähneln mehr Wettspielen. Es muss Regeln geben, die bestimmen, was als Leistung gilt und was als Fehler, und diese Regeln müssen beachtet werden. Ungerechte Entscheidungen haben denselben Charakter wie ungerechte Entscheidungen im Fußball. Diese Gerechtigkeit ist hinreichend dafür, dass die Beteiligten sich mit dem, was sie in diesem System sind, identifizieren können. *** Die Verantwortlichkeit selber sehen wir als eine Universalie an. Der Mensch ist verantwortlich, das ist eine der wenigen Dinge, die man von dem Menschen sagen kann. Aber die Formen der Verantwortlichkeit verändern sich natürlich, insofern gibt es eine Geschichte. Im Folgenden möchte ich einige Aspekte der Veränderungen der Verantwortlichkeit in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts darstellen. Die Voraussetzung dabei ist, dass tatsächlich in dem Umbruch, sagen wir von der Moderne zur Postmoderne, wesentliche Veränderungen eingetreten sind, und zwar gerade in dem Bereich, der uns interessiert, im Bereich der Kultur im weiten Sinn und der Subjektivität. Dem Inhalt nach sind sie hinlänglich bekannt. Die Stichworte sind: Wertewandel, Individualisierung, Desintegration, Ökonomisierung. Ich möchte diese Veränderungen in eine poststrukturalistische Perspektive rücken. Die Inkarnationen der Instanz der symbolischen Ordnung, des großen Anderen, sind in der bürgerlichen Welt leicht auszumachen. Besonders die Literatur ist für solche Fragen sensibel und daher eine gute Quelle. Von Sturm und Drang und der Romantik angefangen bis zu Thomas Mann, André Gide oder Jean-Paul Sartre begegnet man immer dem gleichen Imperativ, der sich exemplarisch in einer Szene aus einem Roman von Sartre ausdrückt. Der Held
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des Romans, Roquentin, in unserer Sprache ein Aussteiger, geht in das städtische Museum des Ortes, an den er sich zurückgezogen hat. Dort begegnet er den Blicken der bürgerlichen Honoratioren, deren Portraits das Museum schmücken. Diese Blicke befragen ihn: „Was für eine Familie haben Sie? Was verdienen Sie? Mit wem verkehren Sie? Zu was haben Sie es im Leben gebracht?“ Familie, Eigentum, persönlicher Erfolg, das sind die wichtigen Dinge. Aber es genügt nicht, dass man das alles besitzt, man muss sich auch damit identifizieren. Man muss auf die Frage „Wer sind Sie?“ mit der Aufzählung aller dieser Attribute antworten und man muss es mit Überzeugung tun. In seinen Inhalten ist dieser Imperativ derselbe wie jener der vorbürgerlichen Welt. Man ist bestimmt durch die soziale Position, die ihrerseits durch die Familie gegeben ist. Familie nicht im Sinn der Kleinfamilie, sondern als genealogische Familie, eben als Ort der Tradierung der sozialen Position. Aber es gibt einen großen Unterschied: Der alte Imperativ der Identifikation mit der sozialen Rolle und den mit ihr verbundenen Normen stützt sich auf eine kulturelle Ordnung und entsprechende Diskurse, deren Legitimität unbezweifelt ist. Schon das Wort, das die Bindung des Subjekts an seine Position in der sozialen Welt bezeichnet, die Ehre nämlich, drückt das in aller Klarheit aus, um die religiösen Legitimierungen gar nicht zu erwähnen. In der bürgerlichen Welt ist diese unbezweifelte Legitimität verloren. Es gibt einen witzigen Satz des Dichters Christian Dietrich Grabbe: „Einmal auf der Welt, und dann ausgerechnet als Klempner in Detmold!“ Durch ein Faktum, familiäre Herkunft und Position, das man als zufällig oder ungerecht empfindet, definiert zu sein – das ist eines der fundamentalen Probleme der bürgerlichen Welt. Tatsächlich ist ein wichtiger Teil der bürgerlichen Kultur auf der Ablehnung dieser Unterwerfung aufgebaut. Die großen Institutionen des Bürgertums schaffen Räume, die von der familiären Herkunft weitgehend unabhängig sind: die Wissenschaft, die Kunst mit ihren heiligen Orten, dem Theater, den Museen, und natürlich vor allem den Staat, das Beamtentum und das Militär. Der Staat ist die große bürgerliche Ordnungsinstitution, in ihm versammelt sich die gesellschaftliche Verantwortung. Das hat etwas mit Macht zu tun. In der Folge der Französischen Revolution hat der Nationalstaat mit seinem doppelten Potenzial der Mobilisierung und der Bündelung der sozialen Kräfte seine enorme Überlegenheit über die bisherigen Organisationsformen erwiesen. Aber diese Macht ist nicht nur Macht, sondern auch der Effekt der Schaffung bindender Ordnungen. Diese Ordnungen unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von den alten Ordnungen der Verantwortlichkeit. Traditionell ist die Ordnung selbst vorgegeben, durch Religion oder Tradition. Jeder ist in der Ordnung für etwas verantwortlich, aber niemand ist für die Ordnung als Ganze verantwortlich. Der Staat dagegen ist keine gegebene, sondern eine geschaffene Ordnung. Der Staat ist für
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die Ordnung als Ganze verantwortlich. Der ideale Beamte ist von allen einzelnen Bindungen gelöst, damit er sich ungehindert mit den Interessen des Ganzen, mit dem allgemeinen Gesetz identifizieren kann. Man sieht, dass es sich hier um eine ganz besondere Art der Subjektivierung handelt. Gewöhnlich identifiziert die Subjektivierung mit etwas Besonderem, etwas, was man hat, kann oder weiß. Etwas, worin man sich mit anderen vergleichen kann und auch mit ihnen in Konkurrenz tritt. Hier identifiziert man sich mit der Ordnung als Ganzer. Das ist ein neuer Modus, der eine große Askese auf der Ebene der Emotionen und der Vergnügen verlangt, aber der den Genuss ermöglicht, der in der Identifizierung mit einer als übermächtig erlebten Instanz liegt. Man entgeht der Begrenzung, die normalerweise zum menschlichen Leben gehört. Die kantische Ethik – das hat man oft bemerkt – ist eine Ethik für Beamten. Sie verlangt die Identifikation mit dem allgemeinen Gesetz und verbietet genau das, was die alte Ethik verlangt hatte, die Identifikation mit dem Platz in der Gesellschaft. Der Adressat der staatlichen Verwaltung sind Menschen, die in ihren spezifischen Lebenszusammenhängen nur partielle Verantwortungen haben. Das hindert sie nun gerade, die Verantwortlichkeiten wahrzunehmen, die von dem Ganzen her kommen; in dieser Perspektive sind sie also unverantwortlich.9 Der Staat sortiert damit die Menschen hinsichtlich der Verantwortung in zwei Klassen: in die, die die wahre Verantwortlichkeit, auf die es eigentlich ankommt, besitzen, und die, denen sie abgeht. Das linke Denken treibt diese Struktur noch weiter, indem es den Begriff des Staates durch den der Gesellschaft ersetzt. In dieser Auffassung besitzt die Gesellschaft eine noch umfangreichere Macht als der Staat. Gesellschaft ist nicht die Verbindung der in ihr lebenden Menschen, sie ist eine Entität, die selbst die Menschen formt: in ihrem moralischen Wesen, in ihren Werten, Bedürfnissen und Wünschen. Der Kommunismus radikalisiert die Differenz zwischen denen, die Träger der Verantwortung sind, der Partei, und denen, die von der Verantwortung ausgeschlossen sind. Es kann eine Art Hyperverantwortung für die Zukunft der Menschheit entstehen, die alle Grausamkeiten gegenüber den gegenwärtigen Menschen legitimiert. Das sind einige Bemerkungen zu den Strukturen, in denen Verantwortung in der bürgerlichen Welt organisiert ist. Aber was ist die Grundbeziehung zu der Instanz der symbolischen Ordnung, in die diese Strukturen eingebettet sind?
9Diese
Struktur der Verantwortung steht der Struktur des Geständniszwanges sehr nahe, den Foucault in Geschichte der Sexualität entwickelt hat.
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Althusser spricht von Schuld, in der jüdisch-christlichen Kultur steht die Schuld am Anfang, und auch in weniger schuldorientierten vormodernen Kulturen wird der Mensch in ein Netz von Verpflichtungen hineingeboren und ist damit von Anfang an verpflichtet. Auf dieser fundierenden Ebene der Beziehung des Menschen zu dem, was ihn bestimmt, ist es wahrscheinlich Kafka, der die bürgerliche Welt am besten beschreibt. Es gibt eine Schuld, die aber keinen Namen und keine Gründe hat; es gibt ein Gesetz, aber keinen Zugang zu diesem Gesetz. *** Sie kennen alle das Bild, das die Protestbewegung der 1960er und 1970er Jahre von der Ordnung der zeitgenössischen Gesellschaft entwirft, das Bild, das man zum Beispiel in den Beatles-Filmen findet: arbeitsbesessen, familienfixiert, sexund überhaupt lustfeindlich, aber umso mehr kriegslustig, also eine Variante von dem, was wir oben als den Kern der bürgerlichen Ordnung beschrieben haben. Diese Ordnung erscheint als eine unglaublich mächtige, bedrückende und fordernde Instanz. Gegen diese Ordnung muss man rebellieren, Alternativen zu ihr entwickeln. Natürlich ist die Protestbewegung mit dem, wogegen sie protestiert, auch verbunden. Keines der Ziele zum Beispiel der Hippiebewegung ist nicht irgendwo auf den Theatern, in der Literatur, an den Universitäten der bürgerlichen Welt gefeiert worden – natürlich nur gefeiert, nicht gelebt. Und die absolut zentrale Idee der bürgerlichen Welt, nämlich, dass man Ordnungen herstellen kann, hat die Protestbewegung aus dem, was sie bekämpft, übernommen. In dem Spiegel der Protestbewegung kann man am deutlichsten die Wandlungen der symbolischen Ordnung in der Postmoderne erkennen. Dieser erdrückende und fordernde Gegner zerfällt. Der Mainstream selber, wie die Ordnung jetzt heißt, ist keine Einheit mehr, er hat sich aufgelöst in eine Vielzahl von Szenen. Niemand behauptet mehr, dass er das von Natur aus Richtige vertritt. Die Subversion, wenn sie denn einen gewissen Erfolg hat, ist nichts anderes als eine Szene mehr. Die einzige neue, postmoderne Subkultur, Techno, hat auch nicht protestiert, nicht versucht, ein alternatives Leben zu schaffen, sie hat nur kurzlebige Räume einer absoluten Präsenz produziert, ein Außen gegenüber jeder symbolischen Ordnung, eine radikale, aber folgenlose Unterbrechung. Aber es ist nicht nur die Einheit der symbolischen Ordnung verschwunden. Verschwunden ist auch das Bewusstsein, dass man – aus der Identifikation mit der Ordnung – das Recht hat, Forderungen zu stellen. Dieses Recht – soweit es wirklich ein Recht ist – beruht auf dem Bewusstsein, dass man eine Schuld weiterzugeben hat. Sie kennen den von Ulrich Beck geprägten Begriff der Individualisierung. Damit ist unter anderem die Lösung aus sozialen Zusammenhängen gemeint: schichtenspezifischen Lebenszusammenhängen, Gewerkschaften, Parteien, familiären Zusammenhängen. Diese Bemerkung muss man
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verallgemeinern. Was sich auflöst, sind nicht Bindungen an einzelne Zusammenhänge, sondern ist die Dimension der Verpflichtung selbst, jedenfalls in einem bestimmten Sinn. Die symbolische Ordnung der Moderne hatte mit den vormodernen das Prinzip geteilt, dass der Mensch schuldig geboren wird; und das hieß für die Moderne: verpflichtet, sich zu verpflichten. Die meisten der weltanschaulichen Dispute, die in der Moderne so beliebt waren, kreisten darum, welche Verpflichtung die richtige ist. Die moderne Welt ist von Schuld und Verpflichtung beherrscht, das gilt auch für ihre furchtbarste Realisierung, den Faschismus. Die postmoderne symbolische Ordnung hat dieses Prinzip aufgegeben, die Kinder werden in keine Schuld hereingeboren. Es liegen natürlich auch Erwartungen auf ihnen, aber das ist ein anderer Punkt. Verschwunden ist auch die moderne Überzeugung, die seit der Französischen Revolution das Denken beherrscht, man könne gesellschaftliche Ordnungen herstellen. Das zeigt sich in dem oft bemerkten Verschwinden des utopischen oder radikalkritischen Denkens oder an dem Untergang der Linken. Was mit der Auflösung der kommunistischen Staaten verschwunden ist, ist ja nicht einfach, wie zu erwarten gewesen wäre, der Glaube an den Kommunismus – das hätte nur zu einer Ersetzung durch eine andere der vielen zur Verfügung stehenden Varianten utopischen Denkens geführt –, sondern der Glaube an die Herstellbarkeit sozialer Ordnungen. Das zeigt sich auch in kleinerem Maßstab an den Institutionen, die früher als ordnungsherstellende begriffen wurden: der Medizin, der Psychiatrie, den Schulen, dem ganzen sozialen Bereich, in gewisser Weise auch an den Organisationen in der Wirtschaft. Sie wissen, wie viel Arbeit in letzter Zeit darauf verwendet wird, diese Konzeption durch eine andere zu ersetzen. Damit löst sich auch der oben beschriebene Typ von Verantwortung auf, die darauf beruhte, dass eine Macht- und Wissensinstanz die Verantwortung für eine Personengruppe zu übernehmen hatte, die als zur Verantwortung nicht fähig angesehen wurde. Ich möchte das am Beispiel des Sozialsystems verdeutlichen. Dabei interessieren mich nicht die gegenwärtig so drängenden finanziellen Probleme, sondern die Veränderung in der Auffassung der Beziehung zwischen unterstützendem System und den Empfängern. In der modernen, der ehemaligen Auffassung ist diese Beziehung von dem Begriff der Gesellschaft aus strukturiert, von dem ich eben gesprochen habe. Die Gesellschaft vergibt die sozialen Chancen und sie tut es in einer ungerechten Weise. Es gibt einen Appell an die Gesellschaft, der von den Benachteiligten ausgeht. Das unterstützende System, der Sozialarbeiter, nimmt diesen Appell auf; gleichzeitig identifiziert er sich mit der schuldigen Gesellschaft, die die Pflicht und auch die Macht hat, diese Schuld auszugleichen. Wenn ich an die Diskussionen in der Studentenbewegung in den 60er und 70er Jahren denke, dann bleibt die Erinnerung an die Kraft dieses
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Appells, an die bedrückende Intensität des Schuldgefühls und das Gewicht der Verpflichtung, die daraus entstand. Was mir im Nachhinein fühlbar wird, ist die Faszination durch diese Beziehung, die auf der Vorstellung einer absoluten Differenz zwischen den Helfern und denen, denen geholfen wird, beruht. All das hatte auch einen sehr klaren Effekt in der Anziehungskraft, die Ausbildungen in diesem Bereich damals hatten. Bekanntlich ist diese Betrachtungsweise der Sozialsysteme heftig kritisiert und weitgehend aufgegeben worden: in England durch Margaret Thatcher – man kennt ihren, in der Tat scharfsichtigen, Satz „Die Gesellschaft existiert nicht“ –, in den USA und, etwas später und etwas weniger entschieden, in Deutschland. Der Begriff der Gesellschaft als Hypersubjekt verschwindet allmählich, die Benachteiligten werden nicht mehr als Opfer angesehen, der Appell, der von ihnen ausgeht, wird sehr viel weniger empfunden; im Extremfall spricht man von ihnen wie von Parasiten. Zugleich werden sie aber auch nicht mehr als unselbstständige, völlig auf Hilfe angewiesene Wesen angesehen, sondern als Personen mit anderen Werten und einer anderen Kultur als die Mehrheit der Gesellschaft. Dass sie nicht die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen können, wird dem Unterstützungssystem selbst angelastet, das sie abhängig macht. Aus Bedürftigen werden Kunden. Parallel dazu verändert sich die Identifikation des Sozialarbeiters. Er vertritt nicht mehr ein System, das die Normen inkarniert, die er den zu Unterstützenden zu übermitteln hat und der für sie die Verantwortung übernehmen muss. Er wird ein Techniker, der akzeptieren muss, dass seine Klienten ihren eigenen Lebensstil haben, der diesen Stil verstehen und seine – immer sehr begrenzten – Unterstützungsangebote ihm anpassen muss. Im Idealfall wird der Klient oder die Klientengruppe als ein blockiertes System angesehen, dessen Blockaden man auflösen muss, damit es wieder funktioniert und fähig wird, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Es ist interessant, dass diese Veränderung begleitet ist von einem Wandel in den Theorien, die man benützt. Eine gesellschaftskritische Soziologie wird durch die Systemtheorie abgelöst. Dadurch wird die Beziehung zwischen dem, bei dem Macht und Verantwortung zusammenkommen, und einem Ohnmächtigen und zu Verantwortung nicht Fähigen abgelöst durch die Beziehung zwischen zwei Systemen, die jeweils ihrer eigenen Systemlogik folgen. Das ist nur eine negative Beschreibung; sie sagt, welche Strukturen von Verantwortlichkeit in der Postmoderne nicht mehr vorhanden sind. Wie neue Strukturen der Verantwortlichkeit aussehen, darüber ist nichts gesagt. Eine mögliche Antwort wäre natürlich, dass unser Thema eben ein altmodisches Thema ist, dass im Subjekt verankerte, internalisierte Verantwortung abgelöst wird durch Verantwortung, die nur einsetzt, wenn es um Vorteile oder die Abwendung von
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Nachteilen geht. Die Diskussionen über die Gehaltsforderungen des oberen Managements enden oft in der Klage über das fehlende Verantwortungsgefühl oder in Analysen der Dominanz von narzisstischen Strukturen. Die wissenschaftliche Diskussion interessiert sich kaum für Motive, nur für verantwortliche Verhaltensweisen und die Frage, durch welche Sanktionsstrukturen sie produziert werden können. Die zunehmende Verantwortlichkeit von Großunternehmen im ökologischen und sozialen Bereich hat klar ökonomische Gründe, aber – und hier wird das Bild widerspruchsvoller – es ist ein postmodernes Phänomen, dass die Konsumenten ihre Macht in dieser Weise verantwortungsvoll einsetzen, und das ohne Vorteile. Man kann mit Sicherheit kein rundes Bild zeichnen. Zum Abschluss möchte ich zwei Beispiele besprechen, an denen gewisse Strukturen und Probleme von postmoderner Verantwortlichkeit sichtbar werden. Wenn man heute nach sozialem Engagement sucht, das von einem Sinn für Verantwortung zeugt, so denkt man natürlich an die NGOs, deren Bedeutung immer größer wird, oder an Bewegungen wie Attac. Ein Vergleich mit einem modernen, also typischerweise mit einem linken Engagement kann die Beschreibung erleichtern. Die Differenzen sowohl auf der Ebene der Personen wie der des Feldes, in dem die Personen agieren, sind überdeutlich. Als Zeugnis für ein linkes Engagement möchte ich den Schlüsselroman von Simone de Beauvoir wählen, Les mandarins, der die linke Pariser Intellektuellenszene nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt. Das Feld ist durch klare Oppositionen strukturiert; damit will ich sagen, dass wer für die einen Recht hat, damit notwendig für alle anderen Unrecht hat. Die Frage: „Was denken Sie?“ übersetzt sich unmittelbar in die Frage: „Zu welcher Partei gehören Sie?“ – und diese Frage lastet ununterbrochen auf jeder Person. Auf der Seite der Subjekte handelt es sich immer um eine totale Zugehörigkeit; und das Grundmotiv, das in gewisser Weise das ganze Feld nährt, ist ein grundlegendes Schuldgefühl. Man ist schuldig, wenn man einen schönen Sommertag genießt, wenn man das tut, vernachlässigt man den Appell, der aus dem Unglück und der Ungerechtigkeit der Welt kommt. Jede Wahl ist, für das andere Lager, ein Verbrechen; es ist eine Welt von Verrätern. Über die Welt der NGOs kenne ich noch keine Romane; aber man kann doch einige Züge festhalten. Das Feld ist ein offenes Feld, das nicht durch zwei sich ausschließende Pole organisiert ist, sondern durch eine Vielzahl von Einheiten, die unter sich wiederum eine Vielzahl von Beziehungen haben. Auf der Seite der Subjekte sind die Zugehörigkeiten typischerweise nicht total. Wenn die Subjekte für ihr Engagement Gründe angeben, dann gibt es im Allgemeinen auch einen Aspekt, der mit ihrem eigenen Leben und ihrer Lebensgeschichte zu tun hat, Erklärungen von der Art: „In einem gewissen Moment meines Lebens war es gut für mich, mich zu engagieren.“ Man findet nicht das Drängende und das bohrende Schuldgefühl des modernen Engagements.
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In einer Welt von dem Typ der Mandarins ist man von vorneherein schuldig; es gibt eine Pflicht, auf den Appell zu antworten, der aus der Wirklichkeit kommt. In der postmodernen Welt ist man eher durch die Leere bedroht, durch die berühmte postmoderne Beliebigkeit, die auch eine Form der Leere ist. Sicher antwortet das Engagement auf einen Appell, den Jonas’schen Appell, die Welt für die nächsten Generationen zu erhalten, oder einen Appell, der aus einer Not kommt. Es gibt sogar Gründe, die dafürsprechen, dass ein postmodernes Subjekt Appellen gegenüber offener ist als ein modernes. Aber zwischen dem E inen-Appell-Vernehmen und dem Handeln liegt eine Kluft, die in den Mandarins durch die Verpflichtung zur Verpflichtung geschlossen war. Wie wird diese Kluft heute geschlossen? Was führt dazu, dass ein Appell sich in ein Engagement umsetzt? Es gibt eine schon länger dauernde und mit Intensität geführte Debatte über Lebenskunst. Sie geht aus von dem Begriff der Selbstsorge, den Foucault in seinen letzten Büchern entwickelt hat; die Grundidee ist, dass man sein Leben wie ein Kunstwerk gestaltet. In einem Kontext des Verpflichtetseins würde eine solche Idee keinen Sinn machen. Sie ist aber wohl sinnvoll, wenn man davon ausgeht, dass man auf der Grundlage einer primären Unverbundenheit sich die Frage stellt, wie man ein Leben führen kann, das gegenüber den Ängsten oder den inhaltslosen Erfolgswünschen, die die Postmoderne einem aufdrängt, eine gewisse Souveränität bewahrt. Man könnte ein postmodernes Engagement als Ausdruck einer klugen Lebenskunst verstehen, die begriffen hat, dass ein Leben, das auf Appelle hören und Verpflichtungen eingehen kann, ein besseres Leben ist. Und was die Beziehung angeht zwischen denen, die helfen, und denen, denen geholfen wird, so ist das nicht eine Beziehung des modernen Typs, wo die Verantwortung ganz auf der einen Seite liegt. Schon lange ist das Schlagwort in solchen Kontexten „Hilfe zur Selbsthilfe“. In der Beziehung entsteht ein Verhältnis der Wechselseitigkeit, auf die der Begriff „Verantwortung“ gar nicht gut passt. Verantwortlichkeit würde dann nichts anderes heißen als die Offenheit für den Appell, bevor dieser Appell in eine Beziehung umgesetzt worden ist. Mit einer solchen Bestimmung wären wir nahe an dem, was Lévinas und Derrida unter Verantwortung verstehen. Das zweite Beispiel stammt aus dem sehr lesenswerten Buch von Richard Sennett Der flexible Mensch. Sennett hat über eine längere Zeit die Unterhaltungen einer Gruppe von Ingenieuren verfolgt, die bei IBM gearbeitet hatten und jetzt arbeitslos sind. Er erzählt, wie sich die Interpretationen, mit denen diese Leute ihr Schicksal begreifen, im Lauf der Zeit verändert haben. Sie hatten alle gute Stellen gehabt und waren überzeugt gewesen, dass sie bis zur Pensionierung bei IBM arbeiten würden. Dann kamen die Krise und die Entlassung. In der Ent-
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wicklung der Interpretationen gibt es drei Phasen. In der ersten sind sie voller Anklagen gegen das Unternehmen; es hat versagt und seine Verantwortlichkeiten verraten. Dann verstehen sie, dass das Unternehmen gegenüber den Auswirkungen der Globalisierung ohnmächtig war. Aber sie bleiben in der Haltung des Haderns; jetzt ist die Globalisierung und sind die indischen Programmierer an ihrem Unglück schuld. In der dritten Phase erkennen sie, dass sie, wie sie es ausdrücken, selbst verantwortlich sind: Sie hätten die technischen und wirtschaftlichen Zeichen der Zeit rechtzeitig erkennen müssen und in Kalifornien eine eigene Firma aufmachen müssen, wie es einige Kollegen tatsächlich getan haben, denen es jetzt gut geht. Wir erinnern uns an Hiob. Wir hatten gesehen, dass jedes Verantwortungssystem eine Instanz voraussetzt, der man Gerechtigkeit unterstellen kann, wie es Hiob Gott gegenüber tut. Für die Ingenieure war IBM diese Instanz. Diese Instanz hat sie verraten und sie hadern mit ihr. Nach einer Weile verstehen sie, dass sie einen Götzen angebetet hatten, dass die wirkliche Macht, die über ihr Leben entscheidet, an einem anderen Ort zu suchen ist. Sie finden diese Instanz in den Gesetzen der Wirtschaft, eine anonyme Instanz, die sich um niemanden kümmert, aber wenn man klug genug ist, ihre Gesetze zu erkennen, dann kann man ihr Gerechtigkeit unterstellen. Sie belohnt diejenigen, die sich an ihre Gesetze halten, und bestraft die anderen. In der symbolischen Organisation ihres Lebens stehen die Gesetze der Wirtschaft für die Ingenieure an der Stelle, an der für Hiob Gott stand. Für sich, seine Familie die Verantwortung zu übernehmen, heißt, diese Instanz als gerechte anzuerkennen und sich der Aufgabe gewachsen zu fühlen, diese Gesetze zu verstehen. Das ist eine öffentlich anerkannte und empfohlene Verantwortungsstruktur unserer postmodernen Kultur.
Literatur Althusser, Louis. 1976. Idéologie et appareil idéologiques d’État. In Positions Paris (1964– 1975). Paris. Butler, Judith. 2001. Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, übers. Reiner Ansén. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1997). Jonas, Hans. 1979. Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. Moebius, Stephan. 2003. Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida. Frankfurt a. M. Waltz, Matthias. 2006. Le sujet dans la responsabilité. In L’agir philosophique dans le dialogue transculturel, Hrsg. Jacques Poulain, Hans-Jörg Sandkühler und Fathi Triki, 159–169. Paris.
Autorität: Gestalten des Gesetzes in kulturellen Formationen [2008]
Gewöhnlich definiert man Autorität als eine bestimmte Weise, Macht auszuüben. Einleuchtend ist die Bestimmung von Hannah Arendt. Sie setzt Autorität gegen Gewalt auf der einen Seite und gegen Überredung bzw. Überzeugung auf der anderen Seite ab. Wo Gewalt angewendet werden muss, hat die Autorität versagt. Überredung setzt Gleichheit voraus und verlässt sich auf Argumente, gerade nicht auf Autorität. Das ist nur eine Eingrenzung, nicht eine positive Bestimmung. Max Weber, dessen Bestimmung immer wieder zitiert wird, koppelt die Frage nach der Quelle der Autorität mit der Frage der Legitimität von Macht. Für ihn gibt es drei Typen legitimer Herrschaft. Der erste Typ, die traditionale Herrschaft, beruht auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltenden Traditionen. Der zweite Typ ist die legal-rationale Autorität, die auf dem Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen beruht. Als letzten Typ beschreibt Max Weber die charismatische Autorität. Sie beruht auf der „Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnung.“1 Autorität ist hier also der Effekt eines bestimmten Typs von sozialer Ordnung und nicht die Eigenschaft einer Person. Auch die charismatische Autorität hängt ab von sozialen Situationen. Man kann an eine charismatische Persönlichkeit wie De Gaulle denken, der seine Rolle nur in der Situation einer ganz spezifischen militärischen Niederlage einnehmen konnte.
1Weber
(2013 [1921/1922]): Wirtschaft und Gesellschaft, 453.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_12
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Allerdings schafft die Kopplung des Autoritätsproblems an die Großformen politischer Macht einen sehr engen Rahmen. Hier möchte ich einen breiteren Rahmen vorschlagen. Am Anfang seines Buches Autorität berichtet der amerikanische Soziologe Richard Sennett von einer Erfahrung, die sein Bild von Autorität geprägt hat: „Jeder hat eine intuitive Vorstellung davon, was ‚eine Autorität‘ ist, so schwierig es sein mag, diese Idee genauer zu umreißen. Die Vorstellung, die sich mir selbst tief eingeprägt hat, geht auf die Zeit zurück, als ich dem Dirigenten Pierre Monteux einige Wochen lang bei einer Orchesterprobe zuschauen konnte. Wer Monteux einmal im Konzert erlebt hat, weiß, daß er kein charismatischer Mann der großen Gesten war. Sein Taktstock bewegte sich innerhalb eines vierzig Zentimeter hohen und dreißig Zentimeter breiten imaginären Kästchens vor ihm. Von der Stabarbeit, die in diesem Kästchen vor sich ging, sah das Publikum wenig, das Orchester jedoch verfolgte sie mit gespannter Aufmerksamkeit. Eine Bewegung von zwei Zentimetern nach oben war das Zeichen für ein Crescendo; eine Bewegung von fünfundzwanzig Zentimetern zeigte einen gewaltigen Klangausbruch an. Die Einsätze für die einzelnen Instrumente signalisierte Monteux meist mit Blicken. Die Waldhörner, eine Gruppe, deren Einsätze immer schwer zu geben sind, erhielten ihre Signale von einer hochgezogenen Augenbraue; bei den Streichern genügte ein kurzer Blick des Dirigenten. Monteux verfügte über eine entspannte, vollkommene Selbstbeherrschung, und diese Sicherheit war die Grundlage seiner Autorität. Ich will damit nicht sagen, er sei dogmatisch gewesen; häufig überdachte er eine Passage in aller Ruhe, während das Orchester wartete, und manchmal änderte er seine Meinung. Aber die Ausgeglichenheit, mit der er das Kommando führte, veranlaßte andere, sich ihm wie selbstverständlich zu fügen. Und diese Sicherheit erlaubte es ihm auch, die Musiker auf seine Disziplin zu verpflichten. Zum Teil rührte diese Disziplin aus der Stabarbeit selbst; man mußte sich sehr genau auf Monteux konzentrieren, um seine Signale mitzubekommen. Ich erinnere mich an eine sehr schwierige Stelle in Strawinskys Le sacre du printemps, wo die Celli weitgehend von Monteux’ kleinem Finger geleitet wurden. Aber auch Monteux’ Gegenwart trug zu dieser Disziplin bei. Einige Dirigenten erzeugen Disziplin, indem sie Schrecken verbreiten; Toscanini zum Beispiel schrie, stampfte mit dem Fuß und warf gelegentlich sogar mit dem Taktstock nach einem Musiker. Von der eigenen Wahrheit gründlich überzeugt, duldete er bei anderen keine Fehler. Um seinem Zorn zu entgehen, tat man, was er sagte. Ganz anders Monteux. ‚Wollen die Celli tatsächlich so laut sein?‘ Oder zur Oboe gewandt: ‚Eine wunderschöne Passage, wenn man sie sanft spielt.‘ Da war kein Zwang und keine Drohung; da war nur ein Mensch, der einem helfen wollte, besser zu werden. Besser – das hieß, so zu spielen, wie er es wollte, denn er wußte Bescheid. Er hatte die Aura dessen, der zu einer Einsicht gelangt war, die es ihm erlaubte, sich mit größter Gelassenheit ein Urteil zu bilden. Auch dies ein wesentliches Element der Autorität: daß jemand über eine bestimmte Stärke verfügt und sie einsetzt, um andere anzuleiten, indem er ihr Handeln im Hinblick auf einen höheren Maßstab verändert.
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Ich weiß, daß Monteux im Konzert stets freundlich und gutmütig wirkte. Ähnlich war er im Umgang mit seinen Musikern. Aber da gab es noch etwas anderes. Seine Autorität flößte auch Furcht ein – nicht jene, die Toscanini verbreitete, sondern eine andere Furcht. Ein Moment im langsamen Satz des Zweiten Klavierkonzerts von Brahms: Das Solocello hat sich völlig verheddert. Monteux klopft ab und sieht den Cellisten schweigend an. Das Schreckliche daran ist, daß man genau weiß, so würde er es mit dem letzten Cellisten der Gruppe niemals machen; der erste Cellist ist dem, was man billigerweise von ihm erwarten konnte, nicht gerecht geworden, und nun zieht Monteux ihn zur Rechenschaft. Auch dies ein Element, das Monteux zu einer Autorität machte: Er hatte die Kraft, seine Musiker zu durchschauen, abzulehnen, was die Kollegen noch akzeptiert hätten. Daher die bange Strebsamkeit, die fieberhafte Anspannung.“2
Sennetts Text führt in die Problematik ein, indem er zeigt, was eigentlich an einer Person Autorität ausmacht. Ich möchte die Frage stellen, in welchem Verhältnis die hier beschriebene Form von Autorität zu der sozialen Struktur steht, in der sie wirkt. Der soziale Rahmen, der die Situation bestimmt, ist die Musik. Musik ist einerseits eine kulturelle Praxis, aus der eine klare Normativität erwächst. Normativität heißt natürlich nicht, dass es ein eindeutiges Bewertungssystem gibt, es heißt, dass es zur Logik dieser Praxis gehört, dass man sich um Bewertungen immer streitet. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die Musikkritik Teil dieser Praxis ist. Andererseits ist die Musik eine große Institution, mit Organisationen, Gebäuden, Stellen, Hierarchien etc. Zu ihrer kulturellen Ordnung gehören der Aufbau der Orchester, die verschiedenen Rollen der Instrumente, die Kompetenz in der Ausführung, Kenntnis und Verständnis der Werke etc. Hinsichtlich dieser Kompetenz befinden sich der Dirigent und die Musiker im selben Raum. Sie haben diese Ordnung als für sie verbindlich akzeptiert und sie definieren sich von dieser Ordnung her. Bei allen Verschiedenheiten gibt es eine fundamentale Gleichheit. Alle Kompetenzen unterscheiden sich dem Wert nach nur graduell, nicht grundsätzlich. Worin besteht nun die Autorität von Monteux? Zuerst in der ausgeglichenen Sicherheit, mit der er die Kommandos gibt. Man kann ein normatives System – hier eine Aufführungspraxis – besser oder weniger gut verinnerlicht haben, man kann einen besseren Überblick über den Gesamtzusammenhang eines Werks haben, interessantere Interpretationsideen einbringen. Hier kommt die Autorität aus einer Überlegenheit, die dem gemeinsamen Ziel zugutekommt. Dann gibt es noch etwas anderes, den Blick, der dem ersten Cellisten sagt, dass er dem,
2Sennett
(1980 [1980]): Autorität, 22.
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was man von ihm berechtigterweise erwarten konnte, nicht entsprochen hat. Als Institution ist ein Orchester auch ein System von Verpflichtungen, das an die interne Hierarchie gekoppelt ist; das System ist zwar nicht kodifiziert, aber allen bekannt und akzeptiert. In jedem Verpflichtungssystem gibt es die subjektive Position des Appells an die Verpflichtung. Diese Position kann im Prinzip jeder einnehmen. Aber sie ist nicht die Alltagshaltung, sie verlangt eine kleine Anstrengung, verändert die Stimme. Und sie setzt voraus, dass der Betreffende die Ordnung der Verpflichtungen im Kopf hat. Diese Position – die typischerweise vom Dirigenten übernommen wird – ist von Monteux in einem bestimmten Stil wahrgenommen: Er weiß, wer was zu bringen hat, wo ein Mangel ist, mahnt er diesen sofort an. Diese Verpflichtungsordnung ist eine identifizierende Ordnung. In dem Orchester ist jeder, was er kann und was er zu leisten hat. Natürlich ist jeder außerhalb dieser Identifikation noch allerlei anderes, ein netter Kumpel, Fußballfan etc., aber die Identifikation ist ihm wichtig. Wenn Monteux den Cellisten ermahnend anschaut, dann sieht er nicht den Menschen, der ihm vielleicht sympathisch ist, sondern er sieht diese Identifikation. Es geht also auch um eine Form der Wahrnehmung, die mit der Forderung auch eine Anerkennung enthält. Diese Beziehung funktioniert, weil der Angesprochene sich selbst so sieht, wie er von dem Dirigenten gesehen wird. Es ist eine sympathische Form von Autorität, die Sennett beschreibt. Sie ist die Leistung eines bestimmten Menschen. Aber – ich denke, das ist klar geworden – sie ist nur möglich in einer ganz bestimmten kulturellen Ordnung. Es ist eine Autorität unter grundsätzlich Gleichen. Die Musik ist eine Ordnung von Normen, alle Beteiligten sind in dieser Ordnung identifiziert, bestimmen sich von ihr aus, durch ihre Kooperationen und Rivalitäten, ihren Neid und ihren Stolz. Jede Identifikation hat eine Seite, wo sie Gewohnheit, wo sie sogar, wie Bourdieu sagen würde, inkorporiert ist: Musiker haben – je nach dem Instrument, das sie spielen – ihre besonderen muskulären, ihre besonderen Gehirnstrukturen. Aber die Identifikation hat auch eine Seite, wo sie Anstrengung ist, die immer erneute Entscheidung gegen die anderen Möglichkeiten des Lebens, die jeder in sich hat. Die Autorität des Dirigenten beruht darauf, dass er „tiefer“ und entschiedener identifiziert ist als die anderen, aber sie funktioniert nur, weil er die anderen Musiker in dieser selben Identifikation ansprechen kann. Ich möchte nun an zwei Beispielen ein alternatives Modell von Autorität vorstellen: zum einen das Idealbild eines Landguts, das Jean-Jacques Rousseau in der Mitte des 18. Jahrhunderts entworfen hat, das wahrscheinlich erste Modell eines paternalistisch geführten Unternehmens, und zum anderen das panoptische Dispositiv, in dem Michel Foucault den Inbegriff einer für das 19. Jahrhundert typischen Form der Menschenzurichtung ansieht.
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Rousseaus Protagonist Wolmar ist ein Adliger, der beschlossen hat, sein Leben nicht in Konkurrenzspielen mit Gleichrangigen zu verbringen, sondern seinen Landbesitz nach den Prinzipien der aufgeklärten Vernunft fruchtbar werden zu lassen. Die Ziele sind: eine gute Rendite zu erwirtschaften, möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen, dafür zu sorgen, dass die Diener gute Menschen werden, wozu gehört, dass sie sich auch glücklich fühlen. Schließlich sollen auch die Herren selbst ein erfülltes und glückliches Leben haben. Die Lösung, die Rousseau skizziert, ist die paternalistische, die bis vor kurzen immer wieder ausprobiert worden ist. Sie hat drei Elemente. Erstens: Man konstruiert für die Diener eine Welt, man organisiert ihren Lebensraum so, dass sie von alleine, ohne Zwang, tun, was sie tun sollen. Dazu gehört mit dem Lebensalter wachsender Lohn, eine möglichst befriedigende Gestaltung der Arbeit, eine sehr sorgfältige Organisation ihrer Freizeit, zum Beispiel werden Männer und Frauen möglichst getrennt, aber es finden regelmäßig Feste statt, wo sie sich in einem kontrollierten Rahmen kennenlernen können. Besonders viel Aufmerksamkeit wird der Frage gewidmet, wie man erreichen kann, dass die Diener zwar unter sich ein freundschaftliches Verhältnis haben, sich aber nicht zulasten der Herren verbünden. Wer diese geschlossene Welt nicht annimmt, zum Beispiel sich lieber auswärts vergnügt, wird unauffällig entfernt. Zweitens sollen sich die Diener ständig angeschaut fühlen. Dieser Blick ist kontrollierend, aber auch liebevoll. Die Diener sollen den Herrn lieben. Drittens kommen Zwangsmittel zum Einsatz, wie die Entlassung. Sie werden nur sehr sparsam angewendet, aber sie bleiben im Hintergrund präsent. Für Rousseau ist die hier geschilderte Ordnung nur die zweitbeste. Die beste Ordnung ist die Republik. In ihr werden die Bürger durch eine gemeinsame Normativität und gemeinsame Ziele zusammengehalten. Unter den Gesichtspunkten, die uns hier interessieren, ist die Republik eine Ordnung vom selben Typ wie das Orchester; die Mitglieder sind durch eine gemeinsame Identifikation verbunden. Aber bei den Bediensteten kann man so etwas nicht voraussetzen, es sind „Söldner“, die für Geld arbeiten.3 Wie soll man sie motivieren, wenn nicht durch Zwang? Aber es geht noch um ein anderes Problem als jenes der Motivation durch Bezahlung. Mit vorausgesetzt in dieser Konstruktion ist, dass diese Menschen, die sich da verdingen, überhaupt kein eigenständiges Leben, keine eigene Welt haben. Sie haben an der grundsätzlich aufklärerischen Normativität, an dem, was die Aufklärung Vernunft nennt, nicht teil. Nun macht aber die Ver-
3Vgl.
Rousseau (1961 [1761]): La Nouvelle Héloise, 10. Brief.
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nunft den Menschen zu Menschen, die Diener gehören in dieselbe Kategorie wie die Kinder. Ihre Menschlichkeit besteht in dem Appell, der von ihnen ausgeht, sie zu Menschen zu machen. Aber dieses Programm wird nur zur Hälfte ausgeführt. In dem idealen Gut benehmen sich die Diener zwar vernünftig, aber sie tun es nicht aus Einsicht und aus freier Wahl, aus Vernunft eben, sondern aus Abhängigkeit von einer Autorität. Sie bringen dieser Autorität Anerkennung und Liebe gegenüber, sie haben sie in sich aufgenommen, aber sie haben sie als Fremdes in sich auf sich genommen. Die Regel, nach der die Herren leben, ist von der Vernunft gegeben. Diese Regel verstehen die Diener nie. Sie identifizieren sich nicht von der Regel aus, sondern von den Herren, die diese Regel in Weisungen übersetzen. Die architektonische Figur des Panopticons, der von Jeremy Bentham entwickelte ideale Typ einer Gefangenenanstalt, repräsentiert für Foucault eine für das 19. Jahrhundert charakteristische Form der Autorität. „Das Panopticon von Bentham ist die architektonische Gestalt dieser Zusammensetzung. Sein Prinzip ist bekannt: an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so daß die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen.“4
Der zentrale Turm ist so gestaltet, dass die Insassen nicht wahrnehmen können, von wem sie da überwacht werden; sie können nicht einmal sehen, ob dort überhaupt jemand ist. Sie sind unentwegt einem unsichtbaren Blick ausgeliefert. Diesen Blick nehmen sie in sich auf, sie sehen sich selbst immerzu von diesem Blick aus. Die Grundprinzipien dieses Dispositivs findet man in Strafanstalten, in psychiatrischen Anstalten, Erziehungsanstalten, teilweise in Krankenhäusern, in Fabriken. Man sieht sofort die strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem freundlichen landwirtschaftlichen Betrieb Rousseaus und diesem grimmigen Dispositiv. Am Anfang steht eine absolute Trennung zwischen dem oben und denen
4Foucault
(1975 [1975]): Überwachen und Strafen, 256.
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unten. Macht bedeutet nicht nur, Befehle erteilen zu können, es bedeutet – das ist der zentrale Punkt – für die, die unten sind, eine Welt herzustellen und sie zu Menschen zu machen, aber zu Menschen, die der permanenten Kontrolle bedürfen, um Menschen zu bleiben. Im Gegensatz zu den Herren der vorbürgerlichen Welt sind diese neuen Herren an ihren Untertanen, an den Insassen ihrer Anstalten, intensiv interessiert. Um sie so zuzurichten, wie man sie haben will, muss man sie kennen. Foucault lässt bekanntlich die ganzen Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts aus der Ausfüllung dieser Struktur entstehen. Das panoptische Dispositiv ist ein Schema, das die Grundzüge paternalistischer Organisation auf den Punkt bringt. Sie sind, was man auch totale Institutionen genannt hat. Allerdings betont Rousseau, was Foucault weglässt, die Liebe der Herren zu den Dienern; aber das ändert nichts an dem Grundcharakter des Dispositivs. Piaget vs. Freud Wir haben das Autoritätsverhältnis darauf hin angeschaut, in welches der vorgängigen kulturellen Verhältnisse die Autoritätsbeziehung eingelassen ist, und wir haben zwei fundamental verschiedene Verhältnisse unterschieden. Im ersten Fall ist das soziale Feld (hier am Beispiel der Musik bzw. des Orchesters) durch eine allen gemeinsame kulturelle Praxis und daraus entspringende Normativität strukturiert, die zwischen ihnen ein Netz von Beziehungen herstellt. Alle Beteiligten sind von diesen Regeln aus in diesem Beziehungsnetz identifiziert. Das grundlegende Wissen, wie das soziale Band funktioniert, haben alle. Die Autorität hat die Aufgabe, die Normativität, die alle anerkennen, in einer Situation präsent zu halten, sie koordiniert und soll insbesondere die kreativen Aspekte einer Situation bündeln. Das zweite Modell (Rousseaus Landgut und Foucaults Panoptikum) beruht auf der absoluten Differenz zwischen oben und unten. Die Eigenschaften, die im ersten Modell alle haben, liegen jetzt nur bei der Autorität, die Wesen im unteren Bereich sind unmündig, können nicht ihre Welt gestalten und in ihr selbstständig leben. Im ersten Fall leitet sich jede Autorität von der Unterwerfung unter die Regeln ab, die alle kennen und in sich tragen. Das heißt auch, man kann jede Autorität zur Rede stellen. Bei Rousseau und Foucault kennen die der Autorität Unterworfenen die Regeln nicht, die die soziale Welt strukturieren. Das Gesetz der Welt verwandelt sich in den Autoritätspersonen zu einer realen Macht; man hat es zwar auch internalisiert, aber als etwas Äußerliches. Man hat es nicht verstanden und kann es nicht in einer freien Entscheidung auf sich nehmen, zu einem Teil der eigenen Person machen, wie die Musiker ihre Musik. Es ist eine äußerliche Macht, deren Weisungen man folgt.
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Ich denke, dass man die Probleme, die mit dem Begriff der Autorität verbunden sind, besser verstehen kann, wenn man von diesem widersprüchlichen Paar von Strukturierungen des Sozialen ausgeht. Das möchte ich im Folgenden in verschiedene Richtungen demonstrieren: Autorität wird ja immer in zwei Dimensionen diskutiert: einmal im Feld des Kulturellen/Sozialen, in dem wir uns eben bewegt hatten; zweitens als ein psychologisches Phänomen, wobei man darauf abhebt, dass der Mensch innerlich auf Autoritäten angewiesen ist und dass er auf alle äußeren Figuren der Autorität immer auch seine inneren Bilder projiziert. Unterstellt wird dabei meistens, dass diese inneren Figuren Allmachtsfiguren sind, also unserem zweiten Modell entsprechen. Dieses Problem möchte ich diskutieren, indem ich Jean Piagets Vorstellung von der moralischen Entwicklung des Kindes mit dem Konzept des Überichs und der Identifikation in der Massenbildung bei Sigmund Freud konfrontiere. Piagets klassisch gewordenes Buch Das moralische Urteil beim Kind beginnt mit folgenden Sätzen: „Die Kinderspiele sind bewundernswerte soziale Einrichtungen. Das Murmelspiel der Knaben zum Beispiel enthält ein System mannigfaltiger Spielregeln; ein vollständiges Gesetzbuch und eine ganze Rechtsprechung. […] Will man daher zum Verständnis der kindlichen Moral gelangen, so ist es angebracht, mit der Analyse derartiger Tatsachen zu beginnen.“5 Die Analyse der in den Wettspielen enthaltenen Moral macht den Kern des Buches aus. Ihr wird die Moral des Kleinkindes gegenübergestellt, das sich noch nicht an Wettspielen beteiligt, und der Übergang zwischen den beiden Phasen wird dargestellt. Diesen Übergang lasse ich hier außer Acht und stelle die beiden Stufen der Moral gegenüber. Und das in einer schematischen Weise, wobei es mir nur auf die allgemeinen Strukturen ankommt. • Die Gesetze, denen sich das Kleinkind unterwirft, kommen von den Erwachsenen. Sie gelten, weil es die Gesetze sind, die die Eltern aufstellen. Die Gesetze sind heilig, die Eltern sind allwissend, allmächtig. Die Entdeckung, dass die Macht der Erwachsenen begrenzt ist, stellt für die Kinder den Glauben an die Weltordnung infrage.6 Die Regeln gelten in ihrem ganz konkreten Wortlaut. Sie sind nicht interpretierbar.
5Piaget 6Vgl.
(1979 [1954]): Das moralische Urteil beim Kinde, 7. ebd., 427.
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• Die Spielregeln hingegen gelten aus sich selbst heraus; sie verweisen nicht auf die Autorität eines Gesetzgebers. Die Regeln können in Einzelheiten in Absprache verändert werden. Es gibt aber einen „Geist der Spiele“, konstituierende Regeln, die immer beachtet werden müssen. So müssen etwa die Spieler gegenüber den Anforderungen der Spiele annähernd gleichwertig sein, der Erfolg muss Effekt eines Könnens sein und nicht nur des Zufalls etc. • Das Kleinkind ist dem Willen der Eltern unterworfen. Es hat nichts, worauf es sich stützen könnte, um gegen eine Entscheidung der Eltern zu protestieren.7 Auch Wettspiele stellen die Mitspieler in eine fundamentale Verpflichtung: Man muss sich an die Regeln halten. Aber die Verpflichtung richtet sich nicht auf eine Person, die das Gesetz inkarniert, sondern auf das Gesetz selbst. Jeder Mitspieler kann die Position des Gesetzes einnehmen, etwa die Einhaltung der Regeln einfordern und sich über falsche Interpretationen beschweren usw. • Das Verhältnis der Kleinkinder untereinander kann man an ihrer Art zu spielen, an dem Rollenspiel deutlich machen. Sie spielen zusammen Lehrer und Schüler, Polizisten und Diebe. Sie identifizieren sich in einer Zweierbeziehung: Der eine ist Lehrer für den Schüler, der andere Schüler für den Lehrer, es gibt keine Regel und keine Stabilität. • Ein älteres Kind, das bereits in den Wettspielen engagiert ist, sieht in einem Mitspieler jemanden, der sich denselben Regeln unterworfen hat wie es selbst, ein moralisches Subjekt, das es als solches achtet. Es stellt sich eine absolute Differenz her zwischen denen, die „richtig“ spielen, und denen, die das nicht tun, entweder weil sie zu klein oder weil sie „zu blöd“ sind und folglich keine Achtung verdienen. • Kleinkinder müssen in der Welt der Erwachsenen leben, die ihnen weitgehend fremd ist. Sie entschädigen sich, indem sie weitgehend in einer Fantasiewelt leben, wie sie in den Rollenspielen sichtbar wird. Diese Fantasiewelt wird von niemandem beobachtet, bewertet, festgehalten. In ihr gibt es keine Verbindlichkeit, kein festes Selbst, auch nicht, was wir Wirklichkeit nennen. Daher lügen Kleinkinder nicht, sie haben sich eben nur gerade etwas anderes ausgedacht. • Das Wettspiel dagegen verpflichtet die Spieler auf ein bestimmtes Selbst; sie dürfen nicht, wie Kleinkinder es tun würden, mit den Murmeln plötzlich etwas ganz anderes machen. Die Verwandlung in Spieler ist ein moralischer Akt,
7Erst
ab einem gewissen Alter können moderne Eltern Gesetze aufstellen, an die sie sich auch selbst halten und an die das Kind appellieren kann.
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wobei die Regeln identifizieren. Damit schaffen sie eine Wirklichkeit – durchaus im normalen Sinn des Worts –, eine Welt, in welcher die Dinge und Handlungen eine feste Bedeutung haben. • In der Welt des Wettspiels gibt es keine Unterscheidung, die der Unterscheidung von Eltern und Kindern in der Welt der Kleinkinder entspricht. Die Regeln sind das Gesetz der Welt des Spiels. Sie sagen, was die Welt „im Innersten zusammenhält“. Jeder Spieler kennt die anderen Spieler, die er beobachten muss, um ihre Gedanken zu erschließen. Er weiß, dass sie von den Regeln aus denken wie er, und wo sie anders denken, weil sie andere Stärken und Schwächen haben, kann er sich das auch vorstellen. Piaget betont die Lust, die die Kinder daran haben, über Regeln nachzudenken. Jeder Spieler hat das Gesetz der Welt in sich, er braucht keine Autorität, die dieses Gesetz ihm gegenüber vertritt. • Die Babys werden in ihre Welt hineingeboren, da gibt es keinen Raum für eine Entscheidung. Bei den Wettspielen ist das anders. Piaget stellt sehr schön dar, wie die kleinen Kinder bereits so tun, als ob sie Wettspiele spielten, obwohl sie noch gar nicht wissen, wie das geht. Die Welt der Wettspiele erscheint vielen, vielleicht nicht allen, als eine wunderbare Welt. Man geht in diese Welt, weil man sich das wünscht; sich diesen Regeln zu unterwerfen, ist auch etwas Großes. Und – das ist der wichtigste Punkt – es erfordert eine Entscheidung. Das Spielerselbst ist ein Selbst, das das Kind nicht einfach hat, sondern für das es sich entschieden hat. Für Piaget ist das Wettspiel keine marginale kindliche Aktivität. In der zweiten Hälfte seines Buchs wird deutlich, dass er es als ein Grundmodell des Sozialen überhaupt betrachtet und aus ihm auch das Konzept einer demokratischen Pädagogik ableitet. Diese Verwendung des Wettspiels als Grundmodell des Sozialen ist nun nicht die kuriose Idee eines Kinderpsychologen, sie spielt in dem gegenwärtigen Denken eine wichtige Rolle. Theoretisch anspruchsvoll ausgeführt ist es im klassisch gewordenen Werk Mind, Self and Society (1934) des amerikanischen Sozialphilosophen George H. Mead. Die Vorstellungen Meads sind wiederum in der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas aufgenommen worden. Meads Begrifflichkeit macht einige wichtige Punkte in der Analyse des Wettspiels als Grundform des Sozialen deutlicher, als sie bei Piaget erscheinen. Diese Punkte will ich hier ergänzen. Der eine Begriff ist der des verallgemeinerten Anderen. Mead geht wie Piaget von der Differenz Rollenspiel/Wettspiel aus. Im Rollenspiel sieht jedes Subjekt sich von anderen aus. Der Polizist sieht sich vom Dieb aus als Polizist, der ihn verfolgt. Im Wettspiel hingegen – wir können hier an den Fußball denken –
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muss sich jeder von einem übergeordneten Ort aus sehen, er muss den Blick aller anderen in sich haben; dabei ist der Blick der anderen durch das ganze Set der formellen und informellen Regeln bestimmt, die das Spiel ausmachen. Die Regeln sind also nicht nur eine Norm, sie sind auch etwas wie ein Blick, ein imaginärer Ort, von dem aus jeder sich angeschaut sieht. Diesen Blick-Ort nennt Mead den verallgemeinerten Anderen. Der zweite wichtige Begriff ergibt sich aus der Zerlegung des Subjekts in die beiden – nach den beiden englischen Wörtern für Ich benannten – Instanzen des Ich: I und me. Einerseits sind wir das, als was wir von den anderen, genauer gesagt von dem verallgemeinerten Anderen, aus gesehen werden, das ist das me. Aber wir sind nicht einfach identisch mit dem sozialen Selbst, es gibt eine Instanz, die entscheidet, dieses me zu seinem Selbst zu machen, es mit den Energien der Seele und des Körpers zu verbinden. Diese Instanz nennt Mead das I. Die Unterscheidung zwischen I und me ist eine etwas andere Unterscheidung als die aus der Rollentheorie bekannte zwischen den Rollen, die wir spielen, und dem eigentlichen wahren Ich. Mead sagt: Wir sind wirklich, was wir im Sozialen sind. Wenn man alles Soziale abgezogen hat, den Musiker, den Liebhaber, den Morgenmuffel, dann bleibt nichts mehr übrig, dieses Nichts ist das I, das Verhältnis zu allen diesen Dingen.8 Wir können das, was wir im Sozialen sind, als etwas uns Äußerliches, als eine Rolle betrachten. Wir können zu ihm aber auch in einem solchen Verhältnis stehen, dass wir bereit sind, dafür zu sterben (wie zum Beispiel der Ritter für seine Ehre). Daher scheint es angemessener, für die Inhalte des me nicht den Begriff „Rolle“, sondern den der „Identifikationen“ zu benützen.9 Wenn wir reden, reden wir von unseren Identifikationen her. Gleichzeitig wird aber auch immer etwas sichtbar von dem I, also von dem Verhältnis, welches das Subjekt zu seinem Reden hat: Ist es überzeugt oder geniert es sich? Hat es das Gefühl, es hat hier das Recht zu reden? Bei genauerem Hinsehen erweist sich, dass der verallgemeinerte Andere in einem wesentlichen Punkt jene Funktion abdeckt, die der Freud’sche Begriff des Überichs erfüllt, nämlich Gewissen und Selbstbeobachtung.10 Für Freud ist 8Gelegentlich
findet man bei Mead auch eine substanziellere Vorstellung des I. gesagt, muss man zwischen Rollen und Identifikationen unterscheiden können. Und hinter jedem me als Rolle steckt immer ein me als Identifikation, hinter dem dann nichts mehr steckt als das I, das diese Identifikation akzeptiert hat. 10Im Prinzip gilt das auch, wenn auch in etwas komplexerer Weise, für die Idealbildung, die Freud auch, in den meisten Texten, dem Überich zuweist. In Meads Begrifflichkeit ist das Ichideal Teil des me und, wie dieses Selbst, Produkt des verallgemeinerten Anderen. Dieser Andere ist ja auch ein Normensystem, er sieht jeden, wie er sein sollte und wie er im Vergleich zu dem, was er sein sollte, tatsächlich ist. 9Genauer
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Autorität die Projektion des Überichs auf eine Person; den Freud’schen Begriff möchte ich jetzt im Gegensatz zum Mead’schen kurz darstellen. Die Funktion des Überichs ist, wie gesagt, Gewissen und Selbstbeobachtung, und, mit Einschränkungen, Idealbildung. Das Überich entsteht im Durchgang durch den Ödipuskomplex. Es entsteht durch die Internalisierung der väterlichen Verbote, durch die Identifikation mit dem verbietenden Vater. Verboten wird zuerst die sexuell begehrte Mutter. Die eigentliche dauerhafte Macht des Überichs entsteht dann dadurch, dass das Subjekt die Aggressionen gegen den übermächtigen Vater gegen sich selbst wendet. Dabei ist die Freud’sche Annahme zu bedenken, dass neben der Sexualität die Aggressivität das Grundverhältnis zwischen den Menschen bildet. Dann gehen in das Überich die ganzen Ansprüche ein, die die Kultur an die Menschen stellt. Diese Ansprüche werden ausschließlich als Verbote wahrgenommen. Darin besteht der wesentliche Gegensatz zu dem Modell von Mead. Der generalisierte Andere enthält das Wissen von der Gesamtstruktur der Welt, wozu wesentlich auch die Verfahren zur Erzeugung von Spannung und Lust, also vitale/positive Aspekte, gehören. In dem großen, Anfang der 1920er Jahre geschriebenen Aufsatz Massenpsychologie und Ich-Analyse skizziert Freud seine Auffassung der gesellschaftlichen Natur des Menschen. Auf der soziologischen Seite stützt sich Freud auf das damals berühmte Buch Die Psychologie der Massen von Gustave Le Bon. Realer Hintergrund dieser Analysen sind die aus allen sozialen Bindungen herausgelösten Massen in der Französischen Revolution, die den blutigen Akten der Terreur zujubelten. Kennzeichen dieser Massen ist, dass Menschen, die aus den verschiedensten Zusammenhängen kommen, eine Art Kollektivseele entwickeln, sich einem Führer unterwerfen, einen gemeinsamen Willen entwickeln und dabei sehr viel der kulturell bedingten Triebunterdrückung abstreifen. Zur psychologischen Erklärung dieses Phänomens greift Freud auf den wissenschaftlichen Mythos vom Ursprung der Menschheit zurück, den er in Totem und Tabu entwickelt hatte. Danach entsteht die menschliche Gesellschaft aus einer Urhorde; sie wird von einem Vater beherrscht, der alle Frauen für sich beansprucht und die Söhne unter seinem Regiment hält. Der eigentliche Anfang der Menschheit ist der Akt, in dem sich die Söhne zusammentun und den Vater ermorden. Die Söhne hatten den Vater auch geliebt. Die Schuldgefühle wegen des Mordes bewirken, dass sich die Gestalt des toten Vaters als Überich in ihrem Innern aufrichtet – und mit ihm die Gesetze der Kultur. Die Söhne unterdrücken die Aggressionen, die sie gegeneinander haben, und teilen die Frauen untereinander auf. Die Söhne sind die Massenmenschen, die sich nicht zur Tat getrauen und keinen eigenen, sondern nur einen Kollektivwillen haben. Das Überich schützt mithilfe der in ihm bewahrten Liebe zum Vater vor der
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z erstörerischen Aggression der Menschen untereinander. Gerechtigkeit ist unterdrückter Neid. Unverkennbar handelt es sich hier um eine Variante der Struktur, für die wir Rousseau und Foucault als Zeugen herangezogen haben. Was ist nun das Ergebnis dieses Durchgangs durch theoretische Klassiker? Wir haben zwei fundamental verschiedene Konzepte von der Natur des Sozialen und damit auch von der Autorität gefunden. Bei dem Modell, das ich das autoritäre nennen möchte, geht man von dem absoluten Gegensatz zwischen der Autorität und den ihr Unterworfenen aus. Die Autorität organisiert die Welt, die Unterworfenen sind nicht ganz dem Status von Kleinkindern entkommen. Sie verstehen die Organisationsprinzipien der Welt nicht, sie brauchen die Autorität, um den Bestand ihrer Welt zu sichern. In dem Modell, für das hier das Orchester und das Wettspiel stehen und das ich das demokratische nennen möchte, ist das Kollektiv von einer Gesetzlichkeit geleitet. Diese Gesetzlichkeit ist von allen Mitgliedern internalisiert. Autoritätspositionen werden in einer der Grundnorm entsprechenden Weise von demjenigen eingenommen, der, was das Wissen, das Können und das Engagement angeht, sich ausgezeichnet hat. Das Subjekt, das zum Teilhaber an dieser Welt wird, hat sich die Regeln zu eigen gemacht, sie verinnerlicht, gelernt, die Welt – und sich selbst als Teil von ihr – von dem Standpunkt des verallgemeinerten Anderen aus anzuschauen. Einen wichtigen Unterschied zu dem autoritären Modell habe ich bisher nicht hinlänglich betont. Dort haben die Subjekte nur die Rechte, die die Autorität ihnen zubilligt. Im demokratischen Modell sind mit der Zugehörigkeit zu der jeweiligen Ordnung Rechte mitgegeben. Jeder hat Autorität, jeder kann einen anderen an dessen Verpflichtungen erinnern und seine Rechte einfordern. Auch wenn Positionen mit viel Autorität ausgestattet sind, so beruht diese doch nicht auf einer absoluten Differenz. Es gibt keine Autoritätsverhältnisse, in denen die Wechselseitigkeit und die gegenseitige Achtung als fundamental Gleiche aufgehoben wären. Betonen möchte ich noch, dass die Psychoanalyse nicht grundsätzlich dem autoritären Modell folgt. Der bekannte französische Psychoanalytiker Jacques Lacan sieht Freuds Auffassung des Ödipuskomplexes als Effekt der Neurose Freuds. Er unterscheidet zwei Gestalten, in denen der Vater auftreten kann. Das eine ist die Gestalt der bedrohlichen Übermacht, die auch Freud beschreibt. Es gibt zudem aber den Vater, der gegenüber dem Kind als ein Mensch auftritt, der selbst den Regeln unterworfen ist und der auf die Frage des Kindes nach dem eigentlichen Herrn der Welt nicht auf bestimmte ausgezeichnete Menschen, sondern auf das Gesetz verweist.
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Die Unterscheidung zwischen den zwei Grundstrukturen der Erzeugung von Autorität ist wichtig, wenn man sich die Frage stellt, wie man sich eigentlich das Selbstständigwerden eines Menschen, die Befreiung von den Fesseln der Autorität vorstellen kann. Unstreitig ist, dass das Kind am Anfang des Lebens die Eltern als Götter, als die Herren einer Welt sieht, die es nicht versteht. Für Freud und die, die denken wie er, kann Selbstständigkeit nur heißen, sich der Abhängigkeit bewusst zu werden, sie zu bearbeiten und, so gut es geht, zu lockern. Lösen wird man sich von der Autorität nie können. Und das hängt nicht nur mit der Macht der frühkindlichen Erfahrungen zusammen, sondern damit, dass das im Überich enthaltene Wissen und Verhaltensrepertoire ein unersetzlicher Teil der eigenen Person ist, ohne den man nicht leben kann. Das so geformte Subjekt wird in Personen, die es als Autoritäten empfindet, immer Allmachtsfiguren sehen, und wenn es selbst als Autoritätsfigur auftritt, wird es das in der Identifikation mit einer Allmachtsfigur tun. Alle reflexive Selbsterkenntnis wird diese Struktur nur mildern, den Umgang mit ihr erleichtern, aber sie nicht auflösen. Wenn man dem demokratischen Modell folgt, dann gibt es keine Befreiung von der Autorität. Von der Autorität des Gesetzes kann und will man sich nicht befreien. Man kann allenfalls einen Vertreter des Gesetzes durch einen anderen ersetzen. Autorität ist dann nicht mehr die Macht einer Person oder etwa einer Gruppe, sondern die Macht der die Welt ordnenden Gesetzlichkeit. Die weltbildende Funktion des Überichs ist von der Person auf das Gesetz übergegangen. Die Imagines des übermächtigen Vaters bleiben sicher in dem Subjekt irgendwie lebendig, aber nur als Narben kindlicher Erfahrung, nicht als Figuren, die es in seinem wirklichen Umgang mit anderen Menschen immer evozieren muss, weil es kein anderes Repertoire in sich hat. Wenn es eine Autoritätsrolle übernimmt, dann tut es das nicht in der Identifikation mit einer Allmachtsfigur, sondern in der Identifikation mit einem Recht, das auf ein Gesetz verweist. Das ist eine Position, in der man sich sicher fühlen und die von den anderen akzeptiert werden kann. Der Preis der Identifikation Jede Identifikation, auch die trianguläre, ist eine Unterwerfung. Sie ermöglicht etwas, aber sie kostet auch etwas. Ich möchte das mit einer kleinen Episode aus meiner Schulzeit illustrieren. Unser fortschrittlich eingestellter Griechischlehrer machte eines Tages der Klasse folgendes Angebot: Er, der Lehrer, würde während der Klassenarbeit den Raum verlassen; wir würden dafür versprechen, ohne Spicken und Abschreiben zu arbeiten. Wir wollten das nicht, er sollte im Raum bleiben, und wir wollten weiterhin spicken. Wir waren brave Schüler, die die Regeln der Schule grundsätzlich akzeptierten. Aber die Regeln im Einzelfall zu durchbrechen, macht Spaß, außerdem bringt das Spicken gewisse Vorteile,
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es ermöglicht kleine Abenteuer, Kumpanei usw. Wir wollten die Regeln nicht in uns haben, sie sollten da sein, aber außen, bei den Lehrern. In folgendem Zitat reflektiert Hegel über diesen Sachverhalt: „Sein eigener Herr und Knecht zu sein, scheint zwar einen Vorzug vor dem Zustand zu haben, worin der Mensch Knecht eines Fremden ist. Allein das Verhältnis der Freiheit und der Natur, wenn es […] eine eigene Unterdrückung der Natur werden soll, wird viel unnatürlicher als das Verhältnis im Naturrecht, in welchem das Gebietende und Machthabende als ein Anderes, außer dem lebendigen Individuum Befindliches erscheint. Das Lebendige hat in diesem Verhältnisse immer noch eine in sich geschlossene Selbstständigkeit; […] das Widerstreitende ist eine fremde Macht. […] [Andernfalls] ist die innere Harmonie zerstört.“11
Wie schmerzhaft diese Internalisierung ist, hängt offenbar von der Art der Regeln ab. Die Regeln der Schule tun mehr weh als die des Fußballspiels. Aber ein Verlust, wie Hegel es ausdrückt, an Natürlichkeit ist immer mit ihr verbunden. Von daher versteht man manche Autoritätsverteilungen, wie sie in im Prinzip regelhaften und nicht autoritären Verhältnissen entstehen. Manche Menschen ziehen die Vorteile, die man hat, wenn man sich nicht identifiziert, denen vor, die man hat, wenn man sich identifiziert. Die ersten haben eine Aversion gegen Führungspositionen – was nicht heißt, dass sie nicht auf die Vorteile neidisch wären, die mit diesen meistens verbunden sind. Die zweiten ziehen daraus auch eine emotionale Befriedigung – was wiederum nicht heißt, dass sie nicht auch auf die „Natürlichkeit“ der anderen neidisch wären. Die Schritte der Identifikation Wir haben das Identifikationsmodell bisher ganz abstrakt oder am doch sehr eingeschränkten Modell des Wettspiels beschrieben. Ich möchte an einer kleinen Filmszene, der Eingangsszene des Films Out of Africa, zeigen, wie alltägliches Handeln in einer triangulierten Position vor sich geht. Die Szene spielt auf einem Fest im Freien in einer vornehmen dänischen Gesellschaft. Eine junge Frau macht ihrem Liebhaber, einem Baron, Vorhaltungen, weil er ein Rendezvous nicht eingehalten hat. Aus der Art seiner Antwort erkennt sie, dass er sie loswerden will, und lässt ihn empört stehen. Dann sieht man sie im Gespräch mit dem Bruder des Liebhabers, mit dem sie befreundet ist. Dieser Bruder hat sein Geld durchgebracht, jetzt hat er nur noch eine Farm in Afrika, in die man Geld investieren
11Hegel
(1979 [1801]): Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, 72; Hervorhebung im Orig.
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müsste, das er nicht hat. Sie berichtet ihm die Szene, redet von ihrem Wunsch, weit weg zu sein; dann kommt sie auf eine Idee. Sie beschreibt ihre Situation: Sie ist die sitzengebliebene Geliebte, die entehrte Frau, er der Baron ohne Geld. Sie sind ein Paar, sie könnten heiraten. Das ist ihr Vorschlag, den er auch annimmt, und das ist der Anfang des Films, der von dem Leben in Afrika handelt. Damit ist sie eine andere Frau geworden. Folgendes sind die Schritte der Entwicklung: (1) Die junge Frau merkt, dass ihr Liebhaber sie verlässt. (2) Sie sieht, was sie in den Augen des verallgemeinerten Anderen ist. Dieser verallgemeinerte Andere ist hier die dänische gute Gesellschaft, von ihr aus sieht sich die junge Frau. Sie sieht sich als sitzengebliebene Geliebte. Und sie akzeptiert, dass sie das objektiv ist. (3) Sie beschließt etwas mit dem, was sie nun mal ist, zu machen. Sie ersetzt ein konventionelles durch ein nicht konventionelles Leben, das aber immer noch im Bereich dessen bleibt, was der verallgemeinerte Andere anerkennen kann. Man erkennt die Bedeutung der einzelnen Schritte, wenn man sich andere Möglichkeiten vorstellt. Sie hätte am Anfang einfach in der Klage über ihr Unglück verharren können und überhaupt nicht beachten, wie sie von den anderen gesehen wird. Das wäre das Verhalten, das Hegel das natürliche nennt. Wenn sie das Urteil der anderen über sie wahrgenommen hätte, was wahrscheinlich jede getan hätte, nur nicht so schnell, hätte sie es als ungerecht, unmenschlich ablehnen und sich in dieser Ablehnung als Opfer einrichten können. Damit hätte sie sich in ein duales Verhältnis zur Autorität gebracht und wäre von ihr abhängig geblieben. Die junge Frau im Film akzeptiert das Urteil. Aber nicht in dem Sinn: „Jetzt bin ich die Entehrte.“ Sondern so, wie wenn man im Schach eine Figur verliert und denkt: „Na ja, der Turm ist weg. Was mache ich jetzt?“ Und – das ist dann der dritte Schritt – sie macht dann etwas damit. Sie sucht auf der Grundlage dieses Urteils eine Position, in der sie sich wohlfühlen kann. Man sieht, dass sie in der guten Gesellschaft identifiziert ist, aber nicht in dem Sinn, dass sie diese als eine Instanz erlebt, deren Macht man nichts entgegensetzen kann. Sie sieht die Gesellschaft als ein Spiel, dessen Regeln sie akzeptieren muss, aber eben als Regeln eines Spiels, in dem sie nicht Opfer, sondern Spielerin ist. Das ist ein sehr souveräner Umgang mit dem Spiel, und es kennzeichnet die junge Frau als jemanden, die ihrerseits als Autorität auftritt und anerkannt wird. Der verweigerte Zugang zu den Regeln Jean-Paul Sartre hat auf 600 Seiten das Leben des großen französischen Schriftstellers Jean Genet beschrieben. Das Buch ist nicht eine Erzählung, sondern die Rekonstruktion einer Entwicklungslogik. Der Ausgangs- und Angelpunkt dieser Logik ist eine Szene, die der zehnjährige Genet erlebt hat. Genet wird von seiner Mutter bald nach der Geburt 1910 weggegeben und dann als Pflegekind
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in einer Bauernfamilie untergebracht. In einer sozialen Welt, wo Besitz alles ist, ist er besitzlos. Er hat auf nichts ein Recht, was er bekommt, ist ein Geschenk. Er ist ein braves, ruhiges, fleißiges Kind, aber gelegentlich nimmt er sich etwas. Das sind Gelegenheitsakte, bei denen er sich nichts denkt und die – so sieht es Sartre – seinen Wunsch befriedigen, auch etwas zu haben, zu sein wie die andern. Aber einmal wird er erwischt, und der Satz wird ausgesprochen, der sein Leben bestimmen wird: „Du bist ein Dieb.“12 Damit hat er den Bereich der kindlichen Natürlichkeit verlassen, den Bereich des Egozentrismus, wie Piaget es nennt, wo man alles und jedes sein kann und nichts verbindlich ist; er ist identifiziert. Es gibt eine Welt der Regeln, wo Rechte an Eigentum geknüpft sind, und aus dieser Welt ist er ausgeschlossen. Aber als Ausgeschlossener, als Dieb ist er zugleich an sie gebunden. Sein ganzes Leben wird darin bestehen, in immer neuen Variationen diese Szene zu wiederholen. Er wird Kleinkrimineller werden und im Gefängnis um diesen Akt herum Romane entwerfen. Nachdem er als Wiederholungstäter zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden soll, kommt er dank des Gnadengesuchs von Sartre und anderen prominenten Intellektuellen, die seine Texte kennengelernt haben, in Freiheit. Das Schreiben ersetzt das Stehlen, und er wird zu einem der ganz großen Schriftsteller der französischen Nachkriegszeit. Die Stimme, die ihn verurteilt, ist die des „Vaters“ im übertragenen Sinn des Wortes. Die Übermacht des Vaters kommt ja daher, dass er die Macht der wirklichen Welt gegenüber dem Kind vertritt, das diese Welt nicht versteht und in ihr keine Rechte hat. Seine leiblichen Kinder hätte dieser Vater als seine Nachfolger anerkannt. Die Forderungen, die er an sie gestellt hätte, hätten sich an die zukünftigen Besitzer von Rechten und von Verantwortung gewendet. Damit hätte er seine Kinder in den Bereich der Regeln und der fundamentalen Gleichheit eingeführt. Eine der wichtigen Lehren der Psychoanalyse besagt, dass an den Erfahrungen des Kindes nicht so sehr wichtig ist, wie erfreulich oder schmerzhaft sie sind, sondern wie auf ihrer Basis die inneren Strukturen aufgebaut werden, mit denen wir die Welt in uns abbilden. Das geschieht in Akten von der Art, wie sie Sartre hier beschreibt. Zuerst sind es die Eltern, die die Welt vertreten. Die Autorität, die ihnen damit zuwächst, kann nur ersetzt, nicht aufgelöst werden. Was in die Welt des Gesetzes einführt, ist ein Akt der Anerkennung. Ohne diesen bleibt die Autorität in ihrer Allmachtsform immer im Innern lebendig und strukturiert die Welt.
12Sartre
(1982 [1952]): Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, 34.
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Produktion der Autorität aus dem Nichts Wir haben zwei Formen der Autorität kennengelernt, die mit zwei verschiedenen Ordnungen des Sozialen gekoppelt waren. Das eine Mal organisiert eine soziale Gruppierung die Welt für eine andere: Es sind Abhängige, die nur als Objekte dieser Organisation auftauchen. Die Autorität erwächst aus dieser absoluten Differenz. Das andere Mal ist die Welt durch Regeln geordnet, vor denen alle Mitglieder im Kern gleich sind. Autorität entsteht aus einem höheren Grad von Identifikation mit diesen Regeln. In beiden Fällen haben wir es mit sozialen Ordnungen zu tun, die die Welt in einer ganz realen Dimension organisieren, die einen gewissen Umfang und eine gewisse Stabilität haben und von der aus die Subjekte sich, eventuell auch in der Form der Ablehnung, identifizieren. Heute gibt es aber viele soziale Situationen, die durch schwach strukturierte soziale Ordnungen, Abwesenheit von Autorität und Abwesenheit von Identifizierungen gekennzeichnet sind. Schwach strukturiert heißt nicht unbedingt, dass äußere Regelungen fehlen. Es genügt die Abwesenheit von Identifizierungen. Nun sind aber Ordnungen eben nicht nur Ursprung von Verboten, sondern Bedingungen von Identifizierungen, von Begehren, von Lust und Intensität. Deshalb können Ordnungen und damit Autoritäten sehr leicht auch aus unstrukturierten Situationen entstehen. Ein Beispiel hier sind Gangs und Cliquen. Für arbeits- und perspektivlose Jugendliche, die herumhängen und sich langweilen, kann es durchaus ein Gewinn an Lebensqualität sein, sich zu Gangs zu organisieren und gegenseitig zu bekämpfen, so etwa im Stil der West Side Story. Die soziologischen Untersuchungen zu Street Corner Societies zeigen, dass solche Gangs nicht unbedingt autoritäre, sondern durchaus triangulierte Strukturen haben können, wie sie beim Orchester oder bei den Wettspielen evident sind. Triangulierte Strukturen brauchen keineswegs moralisch gut zu sein. Aber etwas unterscheidet sie doch positiv vom autoritären Modell, und das macht sie auf eine Art sympathischer: In ihnen haben die Menschen immer eine gewisse Würde. Damit sind wir aber immer noch in dem Bereich, den wir schon kennen. Ich möchte noch eine andere Form von sozialer Ordnung vorführen, die ganz anders strukturiert ist und die in der gegenwärtigen Welt eine große Rolle spielt. Ein Name für diese Struktur wäre das Wort „Clique“. Das Wort möchte ich im Folgenden nicht in dem Alltagssinn, sondern für eine bestimmte Struktur verwenden. Eine banale Szene kann illustrieren, was ich meine. Stellen Sie sich in einer Schule einen Haufen Mädchen vor, die sich langweilen. Plötzlich fangen zwei Mädchen an, intensiv miteinander zu tuscheln. Ein weiteres Mädchen kommt nun hinzu und fragt, was sie reden. Die beiden antworten, dass sie das nichts angehe,
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wenden sich ab und lassen sie stehen. So ist aus dem Nichts eine soziale Struktur geworden, die zwei teilen etwas, woran die andere beteiligt sein möchte. Würden sie sie teilhaben lassen, dann wäre das Ganze schnell vorbei. So aber bleibt bei der Ausgeschlossenen die Fantasie, dass da etwas sei, und bei den zweien der Genuss, Gegenstand dieses Wunsches zu sein, und das Gefühl von Macht. Man kann sich leicht vorstellen, wie eine solche Struktur verstetigt wird. Eine Gruppe kann sich zusammentun mit keinem anderen Inhalt, als einige andere für „doof“ zu erklären und systematisch den Kontakt mit ihnen zu verweigern. Schon hat man eine Clique mit einer ganz bestimmten Autoritätsstruktur: Die Clique ist als Gruppe eine faszinierende und gehasste Autorität für die Ausgeschlossenen, eine Autorität, die an die des identifizierenden „Vaters“ bei Genet erinnert. In der Novelle Die Kindheit eines Chefs hat Sartre die Bedeutung, die die Mitgliedschaft in einer Gruppe mit Cliquenstruktur für einen jungen Mann hat, aus der Innenperspektive beschrieben. Lucien ist ein Student aus gutbürgerlicher Familie, der nicht weiß, was er ist und was er will, „eine kleine traurige und unbestimmte Existenz“,13 er fühlt sich gallertartig wie eine Qualle. Er wird in eine ultrarechte antisemitische Gruppierung hereingezogen, vor allem, weil er die drahtigen und selbstbewussten jungen Männer bewundert. Dort bekommt er ein Ansehen, weil er Lieder singen und antisemitische Witze erzählen kann. Aber das löst seine Probleme noch nicht. Auf einer Party wird ihm von einem Freund ein jüdischer Bekannter vorgestellt. Lucien weigert sich, dem Vorgestellten die Hand zu geben, dreht sich um und geht hinaus. Das war keine Entscheidung, nur ein Impuls, hinterher denkt er, er habe sich wie ein Idiot benommen und sich unmöglich gemacht. Als er den Freund aber wieder trifft, ist dieser zu Luciens Überraschung eingeschüchtert und entschuldigt sich, dass er einen Juden mit ihm eingeladen habe. Plötzlich fühlt Lucien sich stark und sicher. Als er dann über den Boulevard geht, hat er eine Vision. Er sieht einen breiten, muskulösen Rücken, der sich voll ruhiger Kraft entfernt und der, unerbittlich, im Dunst entschwindet. Er sieht auch den Freund mit dessen Schwester: Der Freund ist blass, er blickt diesem mächtigen Rücken nach, er sagt: „Na, wenn das kein Schnitzer war!“ Lucien wird von einer fast unerträglichen Freude überwältigt: Dieser mächtige und einsame Rücken war der seine! Was Lucien hier entdeckt, ist das, was die kleinen Mädchen praktizieren: die Macht der Clique, die Macht, die davon ausgeht, dass man sich zusammenschließt, indem man bestimmte andere zu Wesen erklärt, die beseitigt
13Sartre
(1983 [1938]: Die Kindheit eines Chefs, 229.
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werden müssen oder mit denen man mindestens den Kontakt verweigert. Er entdeckt die Faszination, die für andere von diesem Akt ausgeht, die Autorität, die der Akt begründet, wenn er entschieden durchgeführt ist. Er erlebt die in ihm liegende Kraft, in einer sehr euphorisierenden Weise zu identifizieren, ein Selbstgefühl von großer Macht herzustellen; dabei identifiziert man sich mit dem Bild, das die Kränkung in dem Gekränkten hinterlässt. Um eine politische Gruppe in dieser Struktur herzustellen, braucht es natürlich ein Minimum an Inhalten, das die Ablehnung begründet. Das ist hier der Antisemitismus. Aber in der Logik der Cliquenordnung sind die Inhalte im Wesentlichen gleichgültig. Man tut sich nicht zusammen, weil man die Juden hasst, sondern man hasst die Juden, weil einem das erlaubt, sich in einer bestimmten Weise zusammenzutun. Genau das ist die Grundthese von Hannah Arendts berühmtem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in dem die Gemeinschaftsform von totalitären Systemen als eine besondere und sehr komplexe Realisierung einer Cliquenstruktur beschrieben wird. In hierarchisch-autoritären Ordnungen und in triangulierten Ordnungen haben Cliquen nur wenig Bedeutung. Cliquen entstehen auf der Basis von Desidentifikation und Langeweile. Die Macht, die sie haben, kommt aus der fundamentalen Überlegenheit, die jede identifizierende Ordnung, einfach als Ordnung, vor der Ordnungslosigkeit hat, sie beruht auf dem Gegensatz von Zugehörigkeit und Ausgestoßensein. Das ist der größte Gegensatz, den man sich denken kann, größer als der Gegensatz zwischen den Gefängnisinsassen und den Aufsehern bei Foucault oder zwischen den Herren und Dienern bei Rousseau; dort sind die Untergeordneten ja immer noch Teil der Ordnung. Die Clique ist eine Ordnung, in der die Inhalte beliebig sind, die einzig auf dem Akt des Ausschließens beruht. Dieser Akt kann, selbst wenn er, von außen gesehen, unscheinbar aussieht, ganz massive Ängste und verlockende Allmachtsgefühle auslösen und damit eine ungeheure Dynamik entfalten. Und es ist eine Macht, die sehr vielen zur Verfügung steht und einfach anzuwenden ist. In unserer Wirklichkeit spielt sie eine große Rolle, fast überall, wo Gewalt im Spiel ist. Das Mobbing funktioniert vorwiegend in solchen Cliquenstrukturen und nutzt deren Dynamik. Um zusammenzufassen. Die Hauptthese dieser kleinen und natürlich unvollständigen Theorie der Autorität besagt: Alle Autorität leitet sich von der sozial-kulturellen Ordnung her. Soziale Ordnungen sind ihrerseits meistens auch mit Macht verbunden, es gibt also eine Beziehung von Autorität und Macht, aber keine notwendige Beziehung. Es gibt offensichtlich auch Autorität ohne Macht. Die inneren Figuren der Autorität sind die Innenseite der sozialen Ordnung. Wir haben drei Figuren der sozialen Ordnung und der Autorität unterschieden: (1) Eine Gruppe von Menschen stellt die Ordnung her, der die anderen sich
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unterwerfen. Dabei berufen sich die Herren auf eine Gesetzlichkeit, die den Unterworfenen unzugänglich ist, zum Beispiel auf die Gesetze der Vernunft. (2) Ursprung der Ordnung und sichtbare Quelle der Autorität sind Regeln, Gesetze. Alle Autorität von Einzelmenschen beruft sich auf die Unterordnung unter die Gesetze. (3) Die Ordnung entsteht in dem Akt des Ausgrenzens und Abwertens. Es gibt überhaupt keine bzw. nur willkürlich gesetzte Gesetze und Regeln. Daraus ergeben sich einige Konsequenzen: • Es gibt kein Leben ohne Autorität. Man kann sich – in sehr idealisierter Weise – ein Kollektiv vorstellen, in dem es keine Autorität von Einzelmenschen gegenüber anderen gäbe. Das wäre ein Kollektiv, wo alle gleichermaßen die Autorität der Gesetze anerkennen. Das war das Ideal der Aufklärung. Es ist auch das Ideal, das Piaget propagiert. • Die einzige Form von Autorität, die wir heute wirklich akzeptieren können, ist die auf einer geteilten Gesetzlichkeit beruhende. Hier akzeptiert das Subjekt, das zu sein, als was es in dieser Ordnung, für den verallgemeinerten Anderen erscheint, und es identifiziert sich mit den Rechten, die es in dieser Ordnung hat. Es gibt keine natürliche Ordnung; sich einer Ordnung zu unterwerfen, hat immer seinen Preis. • Persönliche Autorität hat, wer die Unterwerfung unter eine Ordnung für sich akzeptiert hat und damit ohne starke Ambivalenzen zurechtkommt. Für solche Menschen kann Autorität so wenig ein Problem darstellen, dass sie manchmal glauben, es könnte soziale Strukturen ohne Autorität geben.
Literatur Foucault, Michel. 1975 [1975]. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1979. Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie. Hamburg (Erstveröffentlichung 1801). Piaget, Jean. 1979. Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1954). Rousseau, Jean-Jacques 1961. La Nouvelle Héloise. Der zehnte Brief. Œuvres completes IV. Paris (Erstveröffentlichung 1761). Sartre, Jean-Paul. 1982. Saint Genet, Komödiant und Märtyrer. Gesammelte Werke Bd. 4. Reinbek bei Hamburg (Erstveröffentlichung 1952). Ders. 1983. Die Kindheit eines Chefs. Ges. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg (Erstveröffentlichung 1938). Weber, Max. 2013. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Gesamtausgabe Bd. I/23. Tübingen (Erstveröffentlichung 1921/1922). Sennett, Richard. 1980. Autorität. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1980).
Zwei Topografien des Begehrens: Pop/ Techno mit Lacan (2001)
Auch in der Wissenschaft gibt es vorwiegend zwei Modi, über Pop zu reden: den Modus des Wunderbaren oder den der Desillusionierung. Aus der ersten Perspektive ist Pop der Ort, an dem geschieht, was eigentlich geschehen sollte, aber sonst nicht geschieht: die Verbindung von Leben und Revolte, die gelebte Dissidenz. Zu ihrer Beobachtung gehört das Bedauern, dass sie sich so unvollkommen und ziemlich bewusstlos ereignet und außerdem permanent kastriert ist von der Macht, die sie umgibt. Pop ist aus dieser Sicht demnach zwar das Schönste, was es gibt, aber doch nur – mit den Worten von Dick Hebdige1 – Graffiti auf einer Gefängnismauer. Das ist die Sicht der Birminghamer Schule, der Wiege der angloamerikanischen Subkulturforschung. Aus der Sicht der Kritik ist hier die Wissenschaft wieder einmal den idealisierten Selbstbildern aufgesessen. Die entwirft man in der Wirklichkeit nun einmal von sich selbst – und Pop eben nur mit bemerkenswert gutem Erfolg. Aus dieser Perspektive ist klar: Tatsächlich geht es in der Popkultur um Rivalitätsspiele wie anderswo. Nur haben Jugendliche, die noch von den Orten ausgeschlossen sind, wo man um wirkliche und wichtige Dinge kämpft, um Geld und Macht, sich ein eigenes Feld aufgebaut mit einer – in den Begriffen Bourdieus – eigenen subkulturellen Kapitalform, der Hipness. Das ist die Sicht von Sarah Thornton.2 Soweit ihre Kritik Recht hat, ist die Popkultur schlicht und einfach langweilig, denn Rivalitätsspiele kennt man zur Genüge.
1Hebdige
(1979): Subculture. (1997): The Social Logic of Subcultural Capital.
2Thornton
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_13
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Die Sicht von Hebdige, einem Vertreter der Birminghamer Cultural Studies, bezieht sich auf die Subkultur der 1970er und in gewissem Maß noch der 1980er Jahre. Die aktuelle Entwicklung seit Techno kann mit dem Begriff der Dissidenz nicht mehr erfasst werden. Aber daraus muss nicht automatisch folgen – und vor allem ist dies nicht interessant –, die Subkulturauffassung von Hebdige und die Birminghamer Schule zu kritisieren. Es kommt vielmehr darauf an, den Punkt zu finden, wo die Geschichten, die man über Techno und die Clubkultur erzählen kann, interessant werden. Wann werden Geschichten interessant? Bekanntlich ist nichts langweiliger, als einer Gruppe von Leuten, die man nicht kennt, zuzuhören, wenn sie im Erzählen schwelgen. Wie erreichen es Romane, dass Geschichten von Fremden spannend werden? Das normale Erzählen erwähnt nur Erfolge und Scheitern; der Roman fängt jedoch vor den Ereignissen an: mit der Sehnsucht, dem Unglück, dem Ausgeschlossensein, der Langeweile. An diesen Punkt stellt der Roman den Leser; von diesem Punkt aus versteht dieser die Bedeutung der Ereignisse, die in der Alltagserzählung für den Außenstehenden verschlossen bleibt. Und richtig interessant wird die Erzählung dann, wenn der Leser sich im dargestellten Wunsch, im Unglück, in der Angst wiedererkennt. Interessant über Popkultur reden heißt den Punkt finden, wo sie auf Probleme antwortet, die solche der ganzen Kultur sind. Man erfährt dann allerlei über die Probleme, in die man selbst verwickelt ist, über die Seiten, die noch dunkel waren, und natürlich über Möglichkeiten, damit umzugehen. Was ist das Bezugsproblem: Repression oder nicht eher Langeweile? Die Hauptlinie der Cultural Studies sieht das Verhältnis von Popkultur und hegemonialer Kultur als ein Machtverhältnis, es geht um eine Revolte gegen eine Macht, die benachteiligt, einschränkt, fordert und ausschließt. Eher am Rande findet man eine andere Interpretation, die diese überlagert. Für Lawrence Grossberg steht am Anfang der Geschichte von Rock ’n’ Roll die Langeweile; Rock ’n’ Roll ist eine Antwort auf die von der herrschenden Kultur produzierte Langeweile, er ist eine „different organisation of desire and pleasure“.3 In Diedrich Diederichsens Sexbeat4 – sicher die beste Erzählung von Pop aus dem Inneren für die draußen – spielen Machtverhältnisse keine Rolle; es sind Wörter wie
3Grossberg
(1997): Another Boring Day in Paradise, 482. (1985): Sexbeat.
4Diederichsen
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„interessant“, „langweilig“, „unglamourös“, die bezeichnen, was Pop gegenüber dem normalen Leben so attraktiv macht. Man muss sich allerdings klarmachen, was das Wort „Langeweile“ bedeutet. Gewöhnlich versteht man Langeweile im Gegensatz zu unterhaltend, abwechslungsreich. Aber man weiß auch, dass unterhaltend ebenfalls nur eine Variante – eben eine unterhaltende Variante – des Langweiligen ist. Wenn eine Gruppe zusammenspielt, alle dasselbe Spiel, dann langweilt sich der, der sich nicht einlässt, nicht identifiziert. Für ihn entstehen auch keine Wünsche im Spiel. Identifikation und Begehren gehören zusammen; die Langeweile ist der Effekt des Fehlens von Identifikation. Am Beispiel der beiden Bauern von Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe wird das besonders deutlich: Sie bekriegen sich bis zu ihrem Tod für einige Furchen Acker und langweilen sich nicht in diesem extrem monotonen Leben, eben weil sie übermäßig identifiziert sind und heftig begehren. Ein Blick auf die Geschichte bestätigt diesen Sachverhalt. Der Begriff der Langeweile entsteht im 18. Jahrhundert, und zwar in dem Moment, da die vormodernen familiären, ständischen und religiösen Identifikationen ihre Verbindlichkeit verlieren. Man muss zu den bekannten Errungenschaften der Moderne die Langeweile dazurechnen. Die Aufgabe, eine „verschiedene Organisation von Begehren und Lust“ – und damit auch: von Identifikationen – zu entwerfen, die Grossberg dem Rock ’n’ Roll zuschreibt, ist eine Aufgabe, die ansteht, seit die vorbürgerliche Organisation von Begehren und Lust nicht mehr funktioniert. Das Bürgertum war in dieser Produktion kreativ: Die kapitalistische Konkurrenz, der Nationalismus, das utopisch-revolutionäre Geschichtsdenken sind einige der bekannteren Begehren und Identifikationen erzeugenden Maschinen, die das Bürgertum erfunden hat. Die Kunst ist die große Antimaschine, das heißt, sie ist selbst eine Organisation des Begehrens, und sie ist ein Mittel zum Kampf gegen die anderen Organisationen. Sie stellt gegen die kollektiv vorgegebenen Identifikationen und Begehrensobjekte das Prinzip der Freiheit: Die erste Entscheidung, die das bürgerliche Subjekt in den Bereich der Kunst führt, ist die Entscheidung, nein zu sagen und sich der Faszination, die von Orten in der Welt ausgeht, anzuvertrauen. Sexbeat nennt die Popkultur das „Reich Bohemia“ und betont ebenso wie Lipstick Traces von Greil Marcus die Verbindung zwischen der Popkultur und der Tradition der avantgardistischen Kunst. Mit Recht. Ab den 1970er Jahren interessieren sich viele von denen, die sich früher auf die Welt der Kunst eingelassen hätten, für die Popkultur. Es geht um dieselbe Differenz. Was den Unterschied ausmacht, ist eine Entwicklung in der allgemeinen Kultur. Mit dem Faschismus und dem Stalinismus sind die bürgerlichen „Ideologien“,
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die Organisationen von Begehren und Identifikation entwertet. Was von der bürgerlichen Organisation der Welt übrig bleibt, ist ihr Kern: Familie, Erfolg in der Konkurrenz, Leistung, Pflicht, Disziplin – nicht mehr eine Weltanschauung, sondern eine Lebensweise. Gegen die „Ideologien“ konnte man Kunstwerke setzen; gegen die Lebensweise hilft nur eine andere Lebensweise, gegen die symbolische Strukturierung des normalen Alltags nur die „semiotische Guerilla“, von der Hebdige, Umberto Eco zitierend, spricht. Grossbergs „different organisation of desire“ ist eine schöne Formel; aber man fragt sich doch, wie eigentlich diese Organisation von Begehren funktioniert. Grossberg präzisiert: „it is the apparatus itself which is constantly producing ever-changing structures of desire“, und er spricht – eine zweite schöne Formel – von „topographies of desire“.5 Es ist lohnend, diese abstrakten Sätze in eine Problematik umzuformen, sich zu überlegen, wie dieser Pop-Apparat es nun anstellt, Begehren zu produzieren. Bei Sarah Thornton, die diese Frage nicht explizit stellt, ist doch eine Antwort zu finden, und zwar eine recht simple. Begehrt wird, was alle anderen begehren. Offenbar gelingt es immer, einen Habitus oder eine Aktion mit dem Prädikat der Hipness – das ist der subkulturelle Term für das Begehrenswerte – auszuzeichnen. Aber das ist ein kontingenter Anfang, der dann die eigentlich relevante Aktion in Gang setzt: Was hip ist, ist hip, weil und nur weil es hip ist. Damit ist eine Dimension getroffen; aber es ist eine ärmliche Beschreibung, eine dichte und reiche Darstellung des Apparats findet man in Sexbeat. Hier geht das Begehren nicht nur auf das Begehrtwerden, es ist auch Begehren nach etwas, das aus dem leeren Zirkel, den Thornton beschreibt, hinausführt. Die Popkultur: das Begehren nach dem Begehren In der Topografie von Sexbeat steht am Anfang eine Ordnung, das kann die europäische Funktionsharmonik sein, der eheliche Sex oder die Ostpolitik der SPD. Das Begehren richtet sich immer auf die Auflösung: zum Free Jazz bzw. zu den K-Gruppen. Man kann die Lebensbereiche austauschen, von der Politik zum Zen oder zu den Drogen, man kann Drogen und Politik verbinden oder sie gerade gegeneinanderstellen. Man kann die Orte wechseln: Wenn das „Weiter“ der Auflösung, um das es immer geht, hier blockiert ist, dann, so hört man, ist gerade in London etwas Neues entstanden. Man kann den Glauben an das „Weiter“ bewahren, indem man ihn aufgibt: Dann gibt es kein Ziel, das sich erreichen lässt,
5Grossberg
(1997): Another Boring Day in Paradise, 484.
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weder das Schweigen des Zen noch die klassenlose Gesellschaft, aber es gibt die Historizität bzw. die Ironie. Dann spielt man mit dem, was andere glauben, beispielsweise dem salzstangenknabbernden Spießer vor der Glotze im Dienst der Subversion.6 Der Begehren erzeugende Apparat funktioniert über eine Negation in zwei Richtungen: nach außen zu dem „System“, den „anderen“, und nach „gestern“ zu der Phase von Bohemia, die man gerade zu verlassen im Begriff ist. Aber das ist immer noch eine formale Beschreibung. Es ist zwar richtig, dass das Begehren Effekt einer „Anordnung“, „Topografie“ ist, aber irgendwann sind es doch Leute, die begehren. Eine gute Beschreibung muss bis auf die Ebene der Leute heruntergehen und auch die zeitliche Dimension präzisieren. Damit es Begehren gibt, braucht es kein Ziel, das formulierbar und irgendwie erreichbar erscheint. Genau das ist der Punkt, den die traditionell politisch denkenden Linken an der Topografie der Popkultur nie verstehen. Als Ziel genügt ein diffuses Etwas am Horizont. Konkret wichtig ist der Glaube an den nächsten Schritt, und zwar der gemeinsame Glaube. So entsteht eine gemeinsame, durch ein geteiltes Begehren (ein Glauben ist nichts anderes als ein Begehren, das ein reales kollektiv verankertes Objekt gefunden hat) getragene Bewegung. Diederichsen beschreibt ironisch und sehr realistisch die „Anordnungen“, die Identifikationen, die die schwierige und für das Überleben der Popkultur entscheidende Produktion des Glaubens erlaubt. Es braucht den Hipster, „den nach Bohemia hineingeborenen Leichtfuß, der von Haus aus den Zugang zu den geheimen Revieren hat“.7 Und es braucht den Hip-Intellektuellen, dem gerade im Gegenteil das Exil an- und eingeboren ist, der den Hipster beneidet, bewundert und idealisiert. Er überzieht den Hipster mit einem Weltbild, macht aus Bohemia ein Bild und eine Geschichte. Dieses einigermaßen narzisstische Paar von sich wechselseitig für wunderbar haltenden „Großfreunden“, wie Diederichsen sie nennt, kann dem Glauben an den nächsten Schritt einen Körper geben; damit haben sie die „Aura, die sie herrlich, uneinnehmbar und begehrenswert macht“,8 das „Es“, das bewirkt, dass die Mädchen mit dem Herrlichen schlafen und die Jungen ihre Freunde werden wollen. Während Thorntons Bestimmung des Begehrens das Geflecht der Popkultur auf eine einzige Dimension reduziert, wird es hier in seiner komplexen Struktur entfaltet. Natürlich ist auch bei Diederichsen
6Vgl.
Diederichsen (1985): Sexbeat, 128 f. 64.
7Ebd., 8Ebd.
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begehrenswert, was alle anderen begehren. Aber es bleibt nicht bei diesem leeren Zirkel. Was eigentlich begehrt wird, ist nicht das Begehrtwerden, sondern das begehrende Subjekt: die Fähigkeit zu sehen, zu begehren, zu glauben, das Begehren für die anderen sichtbar zu machen, sodass es zu einem kollektiven Gefühl wird und die gemeinsame Bewegung möglich macht. Damit haben wir aber erst die spektakuläre Seite der popkulturellen Topografie des Begehrens beschrieben, den Ort, wo die Hipster stehen. Eine Qualität von Sexbeat liegt genau darin, dass auch die andere Seite beschrieben wird, nicht nur das Begehren innerhalb der Popkultur, sondern dasjenige, das in sie hineinführt. Das Eingangskapitel von Sexbeat entwickelt diese Konstellation. Es gibt ein „Wir“, zwei Jungen von gerade 16, die das Popwesen mit gierigen Augen betrachten und mitzumachen suchen. Dann gibt es zwei smarte und coole Freunde, die schon drinnen sind oder es zu sein scheinen. Plötzlich haben die coolen Freunde ihre langen Haare abgeschnitten, tragen violettrote bzw. blaue Diner-Jackets und Rüschenhemden. Warum sie das tun? „Weil wir es geil finden.“ Damit bricht für das Wir, die beiden 16-Jährigen, die bisherige „Welt aus Haschisch, Doors und Grateful Dead zusammen“.9 Hier spricht ein anderes Begehren als das der „Großfreunde“. Es ist nicht ein Effekt des Pop-Apparats, sondern es ist in der Welt der „anderen“ entstanden; die beiden Jungen sind Kinder von „Spießern“, nicht verrückte und abartige, ganz normale Kinder, die in der Welt, in die sie hineingeboren sind, nichts zu begehren finden, nicht identifiziert werden. Ihr Begehren geht nicht auf Objekte bzw. nur auf Objekte in der einen und einzigen Eigenschaft, Begehren wecken zu können. Es ist ein Begehren nach Identifikation und Begehren. Dieses Begehren trägt die Popkultur. Ganz materiell. Die Popkultur ist nicht eine Kultur wie die des gehobenen Bürgertums; sie setzt keine Kinder und Erben in die Welt. Sie lebt von dem Nachwuchs von außen, davon, dass sie in den Kindern der Bürger das Begehren nach dem Begehren befriedigt. Aber auch in einem inneren Sinn: Die Fähigkeit der Großfreunde, den nächsten Schritt zu sehen und an ihn zu glauben, ist darauf angewiesen, dass dieses Begehren begehrt wird. Man ist befriedigt, wenn es etwas zu begehren gibt. Die banalen Fragen der alten Politik – was denn nun wirklich das Objekt sei, ob und wie man es erreichen könne – kann man ignorieren. Die Langweile der Spießer, ihr Begehren nach dem Begehren, ist der Grund, auf dem der Begehren produzierende Apparat der Popkultur beruht.
9Ebd.,
16 f.
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Die Popkultur: die Lust an der Verweisung Das kann man alles in Sexbeat nachlesen; es ist noch nicht ganz im theoretischen Diskurs angekommen, aber doch irgendwie bekannt. Noch offen und faszinierend ist die Frage, wie der „apparatus producing ever-changing structures of desire“ bei Techno funktioniert. Dabei ist ein Punkt besonders interessant. Techno impliziert einen Bruch mit einer Tradition, die die Popkultur gerade noch emphatisch fortgesetzt hatte. Techno ignoriert die Grenze, durch die sich die Bohemia, die modernitätsbewusste Kunst und die Popkultur, der Welt des Eigentums und der Familie – das ist die Welt der „Spießer“ – gegenüberstellt. Wir sind alle an die Vorstellung gewöhnt, dass man nur jenseits dieser Grenze wirklich begehren und wirklich denken kann. Was bedeutet es, diese Grenze zu ignorieren? Für Techno gilt, wie für die Popkultur: Techno ist eine Lösung für ein Problem, das in der Gesamtkultur erzeugt wird. Mich interessiert die Lösung hauptsächlich, insoweit sie auf das Problem verweist. Aber die Lösung liegt vor aller Augen, das Problem ist verborgen, nur über die Lösung zugänglich. Die Verführung in Sexbeat – in der Eingangsszene mit den zwei Freundespaaren – geht aus von einem unverstandenen Zeichen, das auf einen unbekannten und faszinierenden Weltzusammenhang verweist. Sexbeat handelt von nichts anderem als von einer Kette von Verweisungen; das Ur- und Grundproblem der Popkultur besteht ja darin, diesen Verweisungszusammenhang aufrechtzuerhalten. Das „Es“, das die Jungen und Mädchen begehren, ist nichts als die Verkörperung einer Verweisung, das Weiter ist eine Verweisung, und die Historizität, das Zitat, die Ironie sind potenzierte Verweisungen. Das einzige Nichtverweisungshafte, die Drogen, wird schließlich doch in einen Zusammenhang von Verweisungen gestellt, und damit ist „auch das LSD endgültig besiegt“.10 Techno: die Ablehnung von Begehren, Verweisung und Welt Wie hier Sexbeat für die klassische Popkultur steht, soll der Handlichkeit halber auch ein einziger Text, Rave von Rainald Goetz,11 für die Technokultur stehen. Wie Sexbeat mit Verweisungen und Codes jongliert und triumphierend die Meisterschaft in dieser Kunst ausstellt, so ist Rave ein einziger Kampf gegen das Prinzip der Verweisung selbst. Techno handelt von dem, was Lacan das Reale nennt, von dem Präsentischen, dem Jenseits der Verweisung und der Sprache.
10Ebd.,
78. (1998): Rave.
11Goetz
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„Wir sind im Reich der früheren Reiche“, schreibt Goetz.12 „Es spielt in einer Welt, die vor dem vor gelegen ist“.13 Hier ist es richtig, bodennah zu leben. Die Begegnung mit den Leuten aus der S pex-Redaktion: Goetz sitzt bei der Popkomm auf dem Boden, weil ihm übel ist (auch Übelkeit ist etwas Körperliches, Gutes), die Spexler reden von oben auf ihn herunter.14 Körper, immer und überall geht es um Körper. Es ist aber nicht der Hardbody von Bret Easton Ellis, der narzisstische Bildkörper der aktuellen Körperkultur, es ist ein bildloser Körper für das Fühlen. „An Laarmann konnte sich ein etwas schmächtiger Mensch einfach anlehnen und da im Weichen wohlfühlen“.15 Gelegentlich sieht man auch den narzisstischen Körper: „Sie geht in Schönheitszeitlupe dahin, und alles wendet sich ihr zu. Sie wird zur Göttin Sowieso.“ Aber das Bild bleibt Momentaufnahme und Zeitlupe, eine Göttin Sowieso, ein Augenblick in einer Aneinanderreihung von Augenblicken. Nie wird etwas festgehalten und in Beziehung gesetzt. Mit der Sprache wird analog verfahren. Man kann die Sprache nicht beseitigen, aber man kann ihr die Fähigkeit nehmen, Bedeutungen und Verweisungen zu erzeugen. „Im Grund ist jetzt wohl der Idealzustand erreicht, dieser extrem erstrebenswerte Zustand von Erschöpfung und erschöpfter Heiterkeit, wo man am Ende des Satzes nicht mehr genau weiß, wovon der Satz am Anfang eigentlich gehandelt hatte, damals als man diesen Satz begann, in irgendeinem fernen, frühen –“.16 Das Vergessen ist das fundamentale Verfahren zur Auflösung der Verweisungskette, das ständige Sichwidersprechen ist ein zweites. Ein weiteres besteht darin, Satzbrocken aneinanderzureihen: „Echt?“ „Auch den –“ „Hey!“ „Wie?“ „Gut.“17 Ein Satz bekommt seine Bedeutung am Ende; die Brocken verweisen auf eine bloß präsentische Intention. Ein weiteres fundamentales Prinzip der Übersetzung ins Präsentische ist die Instabilität des Blicks. Eine kleine Eifersuchtsszene, die man in jeden realistischen Roman platzieren könnte, verwandelt sich, durch die Art, wie sie angeschaut wird, in ein „Blickereignis“, in einen Moment explodierender Energie.18 Die ganze Clubszene ist einerseits „Euphorie. Als hätte man es noch
12Ebd.,
165. 166. 14Vgl. ebd., 157. 15Ebd., 24. 16Ebd. 121. 17Ebd., 27. 18Ebd., 171. 13Ebd.,
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NIE erlebt. Als gäbe es keine Geschichte für Glück“.19 Im nächsten Moment ist dasselbe nur kaputt, Wiederholungen, stumpfe Typen, schlechte Drogen, der immer gleiche hohle Text. Wenn es keine Konstanz von Kontext und Blickweise gibt, dann kann man zwar immer noch dauernd reden, aber es gibt keine stabilen Bedeutungen und Verweisungen mehr. Wie für den radikalen Konstruktivismus ist die Welt ein subjektives Ereignis, aber für ein Subjekt, das seinerseits dauernd gleitet. Das gilt für das Erschöpfungsgefühl nach einer Rave-Nacht, aber genauso für ein Leben aus Studium, Heirat, Kinderkriegen.20 Man kann es auch so ausdrücken: In der Technokultur gibt es kein Begehren mehr. Begehren ist, wie Lacan sagt, Metonymie, lebt in der Dimension der Verweisung. Die Technokultur ist Genuss der Präsenz. Sie ist nicht reine Präsenz – die gibt es nicht –, aber die Technik, alles Begehrensmäßige, alle Identifikationen ihrer Bedeutung zu entkleiden und in Gegenwärtiges zu verwandeln. Pop und Techno sind zwei Lösungen: Aber was sind die Fragen, und wo werden sie gestellt? Was macht man mit dieser Unterscheidung der beiden Kulturen? Man kann die beiden Parteien gegeneinander antreten lassen, wie es im Gespräch zwischen Rainald Goetz und Texte zur Kunst21 geschieht. Aber das sind weitgehend Schaukämpfe. Die tatsächliche Entscheidung für das eine oder das andere wird woanders getroffen. Da, wo die beiden 16-Jährigen von einem unverständlichen Outfit total fasziniert sind, wo das Mädchen, das zu einer Party eingeladen wird, „gleich so ein bisschen von innen her aufleuchtet“.22 Alle Subkulturen sind Antworten auf etwas, das in der Hauptkultur geschieht. Wenn man das verstehen will, muss man in den eher unzugänglichen Bereich schauen, wo solche Entscheidungen fallen. Das heißt auch, man muss darauf vertrauen, dass die Texte, wenn man genau hinsieht, nicht nur sagen, was sie sagen, sondern auch, auf welche Fragen sie antworten. In Sexbeat haben wir die Topografie des Begehrens und das Begehren nach dem Begehren hervorgehoben. Vergleicht man Sexbeat mit Rave, findet man
19Ebd.,
69. ebd., 150. 21Das Gespräch zwischen Rainald Goetz und der Redaktion von Texte zur Kunst ist in einem Sammelband von Goetz veröffentlicht. Ders. (1999): Celebration. 22Goetz (1998): Rave, 146. 20Vgl.
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noch eine andere Dimension. Das Buch ist durchzogen von einem Vokabular von Imperativen und Verpflichtungen: Opfer, Ströme pubertären Herzblutes, die dauernden Fragen, ist es das Richtige, ist es das Falsche, die Panik, etwas zu versäumen. Das Weiter ist ein gigantisches Überich, das befriedigt werden muss, immer geht es um Sinnsuche. Die beiden Jungen – die Subjekte der Popkultur – rebellieren zwar gegen die Verpflichtungen der bürgerlichen Welt. Aber das Prinzip der Verpflichtung haben sie mitgenommen. In Rave gibt es keine Verpflichtung und keine Sinnsuche. Das gilt nicht nur für die Nachtwelt, sondern auch für die „normale“ Wirklichkeit, die ja auch gelegentlich dargestellt wird. In Sexbeat sind die Vertreter des Normalen die „anderen“, Deutschlehrer oder Nonnen. In Rave ist das Normale nicht das andere, sondern dasselbe anders gesehen. Nicht zufällig ist Harald Schmidt so etwas wie eine verborgene Leitfigur des Textes. Die Welt des Tages, die die Welt der Nacht abstützt, ist das ganz normale narzisstische Cliquensystem, das die Schmidt-Show vorführt und das nirgends mit so viel Verständnis auch für die Seite von Angst und Schrecken dargestellt ist wie in American Psycho. Das narzisstische Cliquensystem ist der Ort, von dem aus die Clubnacht faszinierend erscheint und der ihre Struktur bestimmt. Für das Verhältnis von Tag und Nacht, von Gesamtkultur und Subkultur haben wir zwei Interpretationen kennengelernt: Die Gesamtkultur ist die Macht und die Subkultur die Subversion – so Hebdige. Für Grossberg erzeugt die Hauptkultur ein Bedürfnis, das die Subkultur befriedigt. Was auf dem Weg zu Techno passiert, liegt aber in einem anderen Register. Die Gesamtkultur ist nicht nur Verbot und Privation. Vor allem strukturiert sie auch das Subjekt, genauer das Innen/Außen, das man Lebenswelt nennen könnte und das die Grundform und die Grundprobleme auch für die Strukturierung der Subkulturen erzeugt. Pop und Techno – das haben wir beschrieben – sind zwei grundverschieden strukturierte Welten. Die klassische Popkultur ist eine in sich geschlossene Welt, mit Strukturen für Raum und Zeit, Strukturen der Identifikation, der Beziehungen. Der Hipster, der Popsänger ist begehrenswert, weil er verweist, weil er in seiner Person einen ganzen Weltkontext inkarniert. Techno ist nur Rückseite, sie negiert Identifikation, negiert Begehren, bekämpft Sprache und Festlegung, ist glücklich in der Begegnung mit Körper und Erde, in der Aufhebung des Abstands zwischen den Leuten. Technomusik ist Präsenz. Nicht in dem Sinn, dass sie keine Verweise mehr kennt, aber in den Verweisen wird nicht mehr der Weltzusammenhang genossen, auf den verwiesen wird. Der Kontext wird zum Effekt in der Gegenwart. Natürlich hat die Technokultur Stars. Aber DJs sind nicht Stars, weil sie auf einen Lebenskontext verweisen, sondern weil Präsenz am besten über Intensität herzustellen ist und weil der DJ Meister in der Kunst ist, eine Versammlung von Leuten in einer gemeinsamen Intensität zu vereinigen.
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Die Gesamtkultur produziert auch die Subjekte der Subkultur, sie legt fest, wie Verbote erlebt werden, welche Form Wünsche haben, welche Beziehungen denkbar und möglich sind. Die Modernisierung erfasst die Kultur in ihrer ganzen Tiefe, als ein subjekt- und weltproduzierendes System. Pop und Techno gehören zu verschiedenen Kulturen, die sich so begegnen, wie sich im 18. Jahrhundert die Kultur des Mittelalters und die der Moderne begegnen konnten. Die Begegnung zwischen Goetz und Texte zur Kunst ist auf einer Ebene die Begegnung zwischen Intellektuellen, die denselben Raum bewohnen; es ist im Kern aber eine interkulturelle Begegnung, mit allen dazugehörenden Kommunikationsproblemen, und so ist sie auch in Rave dargestellt. Die Postmodernediskussion zwischen Ulrich Beck, Anthony Giddens, Zygmunt Bauman und Homi K. Bhabha macht Angebote, wie man den kulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte beschreiben kann. Die Stichworte sind: Individualisierung, Reflexivität, Fremdheit, und, bei Bhabha, das Zwischen. Die moderne Kultur wird charakterisiert durch normative Zugehörigkeiten, zu Familienverbänden, Vereinen, Klassen, Nationen. Die Postmoderne (oder, in einer anderen Terminologie, die abgeschlossene Moderne) individualisiert, verlangt und erlaubt Reflexivität. Bauman und vor allem Bhabha sehen deutlicher, dass es sich hier nicht nur um eine Veränderung von Lebensumständen handelt, wobei die Menschen immer dieselben bleiben, sondern um die Veränderung von Subjektpositionen. Wenn man die Frage verstehen will, auf die Techno eine Antwort ist, dann muss man dem Begriff der Zugehörigkeit, dem sozialen Band seine Selbstverständlichkeit nehmen. Wo bisher über Sozialisierung, Person-Werdung nachgedacht worden ist, in der soziologischen Tradition von George H. Mead und von Émile Durkheim, oder in der Psychoanalyse von Sigmund Freud bis Jacques Lacan, ist es unstrittig, dass der Mensch zum Menschen wird, indem er Soziales, Bindungen und Zugehörigkeiten in sich aufnimmt. Lacan zufolge gibt es zwei Modi von Bindungen: durch das Bild (imaginär) und durch die Schuld. Der symbolische Mechanismus läuft über die Schuld. Das ist der Modus der traditionellen Vater-Sohn-Beziehung: Der Nachfolger ist durch das Erbe der Familie verpflichtet. Mit Schuld operiert der Nationalismus, aber auch die alte Ethik der Wissenschaften und der linken Parteien und die traditionelle Unternehmenskultur. Es ist der herrschende Modus der modernen Kultur, die in diesem Punkt einfach traditionell ist. Auf dieser Ebene sollte man den Einschnitt sehen, den Techno realisiert. Das Subjekt der Popkultur konstruiert seine Welt im Modus von Schuld, Verpflichtung, Versäumnis, Empörung, Protest, Aufbegehren. Es wehrt sich gegen die Verpflichtung, die die herrschende Kultur ihm auferlegen will. Aber es rebelliert im Modus der Verpflichtung. Begriffe wie Individualisierung, Reflexivität, Auflösung von Zugehörigkeiten verweisen
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heute darauf, dass die symbolischen Mechanismen der Vergesellschaftung durch imaginäre abgelöst werden. Zur Topografie der postmodernen, imaginär bestimmten Vergesellschaftung gehört der Gegensatz zwischen einer wunderbaren Wir-Gruppe und einem verachteten Außen, das von dieser Gruppe fasziniert ist. Der Einsatz in dem Spiel, das das Leben der Gruppe ausmacht, ist das immer bedrohte Selbstbild, das Aufmerksamkeit, Bewunderung und Neid braucht, um zu überleben. Die Harald-Schmidt-Show zeigte den Mechanismus: die Verbindung durch den Spott nach außen, die Allianzen der wechselseitigen Bewunderung, die Lust, den andern bloßzustellen. Dadurch entstehen andere Identifikationen, andere Subjekte, andere Probleme und schließlich andere kulturelle Antworten. Rainald Goetz sagt das sehr deutlich. Die Hauptdifferenz zu den Spex-Leuten liegt in dem, was man ist, bevor man etwas tut. „‚Dissidenz‘, ‚Differenz‘ wird angestrebt, anstatt von ihr auszugehen. Wie oft hat man es den Politfreunden vorgebetet: isoliert, dissident, allein und unglücklich bin ich eh, wie jeder andere auch, selber, ununterbrochen, jeden Tag. Das kann doch nicht das Ziel von Politik sein.“23 Allein sein hat in einem symbolischen und in einem imaginären Kontext zwei ganz verschiedene Bedeutungen. Da symbolische Beziehungen internalisiert werden, hat das Subjekt den Anderen in sich, durch den es seine Identifikationen und seine Existenz als Person hat. Die imaginären Identifikationen bleiben dagegen immer auf das Gegenüber angewiesen, auf Liebe, Bewunderung von anderen, Spott über andere. Sie produzieren nicht ein Subjekt, das eine Welt „in sich trägt“, sondern ein Subjekt, das verlassen ist, wenn es nicht von der Clique getragen ist. Was dieses Subjekt der imaginären Identifikation sucht, ist nicht eine andere Welt, eine Form, Begehren und Revolte zu organisieren, gesucht wird ein Raum und eine Verbindung mit anderen außerhalb dieser stressigen Cliquenwelt, aber das heißt jetzt: außerhalb jeder Welt. Woher kommt aber der Genuss am Körper, am Realen, auch in den von Goetz beschriebenen unangenehmen Formen von Erschöpfung, Übelkeit, Erbrechen? Der Eintritt ins Symbolische, was die Psychoanalytiker Ödipus und Kastration nennen, schneidet den bewussten Zugang zum Realen ab, aber bewahrt das Reale als Verdrängtes auf. Man kann das Reale noch genießen, auch wenn man es nicht mehr kennt. Die Identifikationen mit dem Bild verdrängen das Reale dagegen nicht, sondern schließen es aus. Sie sind inkompatibel mit dem Erhalt des Bildes, da das Reale jedes Bild zerstört. Andererseits lassen sie, da es instabile Identi-
23Goetz
(1999): Celebration, 221.
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fikationen sind, den Zugang zum Realen offen. Sie ermöglichen das Umkippen, das eine der Grundbewegungen von Rave ist. Aus dieser Cliquenwirklichkeit kann man sich einfach herausfallen lassen, man braucht nur anders zu schauen. Und man findet genau das, was die Clique nicht nur verdrängt, sondern in einer sehr fühlbaren Weise wegnimmt: den Boden, den Körper, die Nähe, die Gegenwart von allem und jedem.
Literatur Diederichsen, Diedrich. 1985. Sexbeat – 1972 bis heute. Köln. Goetz, Rainald. 1998. Rave. Frankfurt a. M. Ders. 1999. Celebration. Frankfurt a. M. Grossberg, Lawrence. 1997. Another Boring Day in Paradise. Rock and Roll and the Empowerment of Everyday Life. In The Subcultures Reader, Hrsg. Ken Gelder und Sarah Thornton, 477–493. London. Hebdige, Dick. 1979. Subculture. The Meaning of Style. London. Thornton, Sarah. 1997. The Social Logic of Subcultural Capital. In The Subcultures Reader, Hrsg. Sarah Thornton und Ken Gelder, 200–211. London.
Über die Kultur des School-shooting als symptomatisches Phänomen aktueller Schülerkultur (anlässlich des Amoklaufs von Winnenden) [2009]
Ist das School-shooting eine pathologische Reaktion auf Versagen, Demütigung, Ausschluss, Mobbing oder ist es eine Form der Revolte, die Affirmation einer Person, die sich als Subjekt behaupten, die sich in dieser Handlung zeigen will? Ein Subjekt, das sich in dieser Handlung mit anderen verbunden weiß, weiß, dass es da welche gibt, die in ihr ihre wichtigsten Wünsche wiedererkennen? Sicher gibt es immer eine Vorgeschichte von schweren Kränkungen und psychischen Störungen. Es gibt auch die Identifikation mit einer tödlichen Allmacht, die man in den Killerspielen genießen kann. Aber es gibt auch diesen Akt, der lange im Voraus geplant ist, kein Affektdurchbruch, sondern die Tat eines denkenden und planenden Menschen. Es gibt keine einfache Kausalität, die von den Kränkungen, von dem Allmachtsgenuss am PC zu diesem Akt führt. Dazwischen liegt eine Entscheidung. Diese Killer sind keine Verrückte, die nur ihnen zugänglichen Befehlen gehorchen. Sie führen Entscheidungen aus, Entscheidungen brauchen Gründe, und Gründe brauchen Begründungszusammenhänge, und diese können wiederum nur in einem kulturellen Umfeld entstehen. Es gibt dieses kulturelle Umfeld, es gibt Gruppen, die den Geburtstag des Killers von Erfurt feiern; es gibt viel Zustimmung im Internet zu der Tat, eine Gruppe von Schülern aus der Umgebung hat sich zu einer Schießübung an der Albertville-Schule verabredet. Das Problem ist nicht, dass es Menschen gibt, die heftig darunter leiden, dass sie sich ausgeschlossen fühlen. Das Problem ist, dass es eine Kultur gibt, die solchen Menschen erlaubt, sich mit ihrem Hass zu identifizieren, zu sagen: „Ich bin voll Hass – und das liebe ich“ (so der Titel eines neuen Buchs über das Massaker von
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_14
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Colombine)1. Es gibt eine Kultur, die ihnen das Gefühl gibt, dass viele gern das täten, was sie vorhaben, das Gefühl, dass es das Richtige ist, schießend durch die Klassen zu laufen. Revolten gegen die jeweils herrschende kulturelle Ordnung sind ein Bestandteil unserer Tradition und aus dieser nicht wegzudenken. Ihre Form ist bestimmt von der Form der Ordnung, die sie bekämpfen. Eine religiöse Ordnung hat ihre Ketzer, die bürgerlich-kapitalistische Ordnung ihre Sozialisten, Anarchisten, und, auf einer anderen Ebene, was in der Kunst an die Romantik anschließt, die mit der Kunst verbundene Lebensform der Bohème. Diese Revolten haben bei allem Hass auf das Bestehende den Kontakt nie ganz abgebrochen, sondern immer versucht, sich dem Gegner mitzuteilen, zu erklären, was sie tun, warum sie es tun. Es bleibt eine gemeinsame Sprache. Hierzu einige Sätze des der Popkultur nahestehenden Autors Rainald Goetz: Seinen Hassobjekten will er „voll in die Eier hauen […], in dem sein Fleisch hineinschneiden, darin herumfoltern“.2 Aber aus dem Hass wird ein Text, den der Autor in Klagenfurt als Wettbewerbsbeitrag vorträgt. Es bleibt der Wunsch, der verhassten Kultur den Hass um die Ohren zu schlagen, und auch das implizite Vertrauen, dass dieser Hass verstanden wird. Wie kommt es, dass ein solcher Wunsch, ein solches Vertrauen verschwinden, und warum gerade in den Schulen, jener Institution, in der die Jugendlichen den Grundregeln unserer Kultur begegnen sollten? Ergiebiger als alles, was man bisher über Winnenden gelesen hat, scheint mir der Film, den Gus Van Sant über das Massaker von Colombine gedreht hat.3 Zwei Dinge sind wichtig: die Abschottung der Schule von der Welt der Erwachsenen und die Cliquen, das Mobbing. Erwachsene kommen kaum vor, und wenn, dann nur als Kontrolleure. Nie verweisen sie auf eine Welt, die über die Schule herausführen würde, auf Objekte des Begehrens, der Auseinandersetzung. Wie Gus Van Sant es ausdrückt: Es gibt keine Zukunft. Und: Die Schule ist eine geschlossene Welt. Das heißt auch: Wer in dieser Welt lebt, ist ihren Gesetzen mit Haut und Haar ausgeliefert. Was für Gesetze sind das? Für den bekannten amerikanischen Sozialpsychologen Elliot Aronson, der nach dem Amoklauf in Colombine eine umfangreiche Untersuchung durchgeführt hat, ist die Antwort klar: Es sind die Cliquen, die über richtig und falsch, über Zugehörigkeit und Ansehen oder Ausschluss entscheiden, wobei die Sportler bei den Jungs, die Cheerleader bei den Mädchen
1Gaertner
(2010): Ich bin voll Hass – und das liebe ich. (1986): Subito, 9 f. 3Elephant. USA (2003). Regie: Gus Van Sant. 2Goetz
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die wichtigsten sind. Cliquen und Mobbing gehören zusammen. Die Inhalte, um die sich die Cliquen organisieren, sind dabei nicht das Wichtige; ihre Macht gewinnen sie durch die Fähigkeit, Status zuzuweisen, aber vor allem durch die Fähigkeit, einzuschließen und auszuschließen. Cliquen inkarnieren die absolute und zugleich inhaltslose Macht des Sozialen. Sie benützen die Tatsache, dass der Mensch nur als soziales Wesen ein Mensch ist, um ihn in diesem Wesen zu zerstören. Die Rebellen haben der herrschenden Kultur immer Elemente ihres eigenen Kanons entgegengehalten, stets begleitet von dem Vorwurf, dass die Kultur ihre eigenen Werte nicht realisiert. Das Verhältnis war das eines Kampfes, in dem es auch darum ging, wer Recht hat, in dem gesprochen wird. Die Rebellion war in gewisser Weise eine Bestätigung der Zugehörigkeit. Die Cliquen hingegen haben keine Werte, mit denen sie verbunden sind; das Verhältnis ist umgekehrt: Die zur Schau getragenen Werte sind Zugehörigkeitsmarkierungen. Sie verlangen keine Zugehörigkeit, sondern sie genießen es auszuschließen. Sie existieren durch soziale Vernichtung und sie erzeugen den zerstörerischen Hass, für den die sicher gestörten Jugendlichen, die schießend durch die Schulen laufen, die Vollstrecker sind. Allmacht gegen Allmacht, gegen die soziale Allmacht der Cliquen die Allmacht am Abzug der Schnellfeuerwaffen. Aber die Entstehung dieser Cliquenwelten ist nur ein Symptom, das eigentliche Problem liegt woanders. Wenn wir Biografien lesen, in denen heute alte Menschen über ihre Jugendzeit sprechen, dann sieht man, wie selbstverständlich und vielfältig die erwachsene Welt in die Jugendwelt eindringt und diese gestaltet, über die großen Begehrensobjekte, die Institutionen, die man bewundert, gelebte Regeln des Zusammenseins etc. Wieso spricht unsere Kultur nur noch so schwach zu den Jungen? Noch bis vor nicht so langer Zeit hat man sich in unserer Kultur darauf verlassen, dass die großen kulturellen Bereiche, die Medizin, das Recht, das Ingenieurswesen etc., internalisierte Haltungen hervorbringen, Formen des Habitus, auf die man vertrauen konnte. Jetzt vertraut man den Kontrollsystemen, die unser Leben ordnen. Die Kultur funktioniert nicht mehr über Internalisierung, sondern über Anpassung. In dem alten System haben die Menschen von innen heraus getan, was sie taten. Sie waren nicht zuverlässig berechenbar, aber sehr sichtbar. Heute tut man, was man tut, weil es erwartet und honoriert wird, in diesem System werden die Menschen eher unsichtbar. In der Organisationstheorie unterscheidet man zwischen starken, das heißt stark internalisierten, und schwachen Kulturen. Unsere offizielle Kultur ist eine schwache Kultur. Schwache Kulturen haben wenig Integrationskraft.
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Literatur Elephant. USA. 2003. Regie: Gus Van Sant. Gaertner, Joachim. 2010. Ich bin voll Hass – und das liebe ich. München. Goetz, Rainald. 1986. Subito. In Hirn, Hrsg. Rainald Goetz, 9–21. Frankfurt a. M.
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Die archaische Begründung der Geschlechterdifferenz und ihre Auflösung: Rekonstruktion einer Geschichte des Begehrens
Der Frauentausch [1993]
Bei Marcel Mauss erscheinen die Frauen nur als eines unter den Gütern, die getauscht werden. In den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft zeigt Claude Lévi-Strauss, dass der Tausch der Frauen aus mehreren Gründen eine das gesamte System begründende Bedeutung hat: 1. Die Frauen sind das wertvollste Gut, das ein Kollektiv besitzt; alle anderen Güter sind irgendwie ersetzbar; an dem Besitz von Frauen hängt der Bestand der Gruppe. 2. Der Tausch schafft sich seine Objekte durch Verbote; was getauscht werden soll, darf man nicht konsumieren. Auf die Frauen angewendet, bedeutet diese Regel, dass das Inzestverbot als ein Exogamiegebot zu verstehen ist, als das Gebot, Frauen zu tauschen – eben das ist die Grundthese von Lévi-Strauss. Nun ist das Inzestverbot das einzige universal gültige Verbot. Das bedeutet, dass die Frauen das einzige Gut sind, für das der Tauschimperativ universal gilt: Einzig Frauen müssen getauscht werden. 3. Mit den Verboten gibt sich der Tausch Gegenstände und zugleich – da es verlockende Dinge sind, die nur über den Tausch zugänglich sind – verankert er mit ihnen seine Macht in den Herzen der Menschen. Indem er, wie Lévi-Strauss es ausdrückt, Reize in Zeichen verwandelt,1 werden die Zeichen, mit denen er arbeitet, in einer Weise begehrenswert, wie es reine Zeichen
1Vgl.
Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 73.
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nie sein könnten. Dass die Frauen der erste und universale Gegenstand des Tauschs sind, bedeutet auch, dass die Sexualität sein erstes Material ist; das Sexuelle und das Soziale verbinden sich in dem Knoten, den das moderne Denken im Ödipus wiederentdeckt. 4. In den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft ist das Verhältnis von Allianz und Filiation ein zentrales Thema. Je nachdem, ob die Sippenzugehörigkeit oder der Wohnort der Kinder durch den Vater oder die Mutter festgelegt wird, entstehen andere Strukturen des Frauentauschs. Für uns ist dabei nur das allgemeine Prinzip wichtig: Das Inzestverbot und die Institutionalisierung der Familie als Abstammungslinie bedingen sich wechselseitig. Nach der einen Seite hin ist das evident: Wenn die Familienbande nicht normativ definiert sind, hat das Inzesttabu keinen Sinn. Aber der Satz gilt auch in der umgekehrten Richtung. Wenn eine Gesellschaft über Tauschprozesse organisiert ist, dann braucht sie überpersönliche Einheiten, auf die die einzelnen Akte verrechnet werden können. Für die übrigen Güter sind viele Möglichkeiten denkbar, solche Einheiten zu bilden, und viele sind in der Geschichte realisiert worden; aber der Tausch der Frauen kann nur auf eine einzige Einheit verrechnet werden, die Abstammungslinie. Den Frauentausch und die Institutionalisierung der Abstammungslinie als fundamentale Verrechnungseinheit im Tausch kann man nur als zwei Seiten derselben „Erfindung“ verstehen. Wenn Frauen Dinge im Tausch sind, so bleiben sie doch Subjekte; nicht außerhalb und nebenbei, sondern Subjekte, die ihre Namen als Objekte des Tauschs finden. Über diese Verwandlung der Frauen in Dinge hat man sich sehr aufgehalten.2 Man hat kaum bemerkt, dass die Männer einer symmetrischen Verwandlung unterworfen sind. Als Männer werden sie bestimmt als diejenigen, die tauschen müssen, als die Vertreter der Linien. Diese Veränderung ist nicht weniger einschneidend: Die Männer sind an Namen gebunden, die sie als Gaben empfangen; sie kommen mit einer Schuld ins Leben. Diese Namen, an denen sie hängen, müssen sie als Einsätze in das Spiel des Tauschs einbringen; sie müssen sie an andere abgeben, von ihnen einfordern; sie können ihnen gewaltsam
2Ich
glaube nicht, wie Lévi-Strauss, dass eine solche Bestimmung heute noch gültig ist – die Gründe werden später noch deutlich werden. Und sicher handelt es sich um eine sehr grobe Bestimmung. Aber als allgemeine Formel für die Geschlechterbeziehung in der Alten Welt und das, was heute von dieser noch lebendig ist, trifft sie die Wirklichkeit besser als die gängige Formel des Patriarchats.
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genommen werden und müssen verteidigt werden. Die Ehre verlangt von ihnen, dass sie etwas Äußeres, den Besitz, zu ihrem Inneren machen. Und indem sie ihre Namen als Schuld und Recht übernehmen, übernehmen sie den fordernden Blick des Dritten auf sich, als den Blick, mit dem sie sich selbst sehen. Die Frau als Gebärende ist von Natur Wert; ihre Gestalt wird ihr nicht geschenkt als eine Schuld, sie hat sie von selbst, ohne dass sie etwas dafür gibt. Ihre Gestalt bejahen heißt für sie nicht, eine Schuld auf sich zu nehmen, sondern sich den Regeln zu unterwerfen, durch die sie ein Wert ist;3 daher ist so oft in der Alten Welt der Kern der weiblichen Ehre die Jungfräulichkeit und die sexuelle Treue. Da die Frau den Besitz nicht vertreten kann, besitzt sie im Sinn des Tauschs nichts und kann auch nichts schulden. Sie hat nur, was anderen gehört. Daraus ergibt sich umgekehrt, dass die Frau geben kann, ohne Schuld zu erzeugen. Das ist eben die Eigenschaft, der wir in der Systemfigur der „Mutter“ begegnen. Das Kind empfängt, ohne geben zu müssen; es hat eine Gestalt ohne Schuld. Die Frau hat die Fähigkeit, eine solche Welt herzustellen. Die Beziehungen zwischen Tausch und Sexualität sind wechselseitig: Nicht nur nährt sich der Tausch aus den Energien, die die Sexualität ihm zur Verfügung stellt; die Geschlechterbeziehung stützt sich auf die Motive, die aus dem Tausch kommen, und erhält aus ihnen ihre spezifische Form. Der Tausch produziert Begehren: nach den großen Namen, danach, viel zu besitzen, um viel geben zu können, den Wunsch, an den großen Spielen teilzuhaben. Da die Frau vom Mann ihren Namen erhält und umgekehrt sein Name durch den Besitz einer Frau erst vollständig wird, verflechten sich die sexuellen Begierden mit dem Begehren nach den Namen. Aber das ist nicht alles. Der Besitz ist immer mit Schuld verbunden; die Namen sind immer Namen unter anderen. Das anfängliche Begehren, das in die Welt der Namen hineinführt, ging darauf, alles für den anderen zu sein, es war der Wunsch nicht nach dem begrenzten, sondern nach dem absoluten Unterschied. Es war das Festhalten an diesem ersten Wunsch, das Sartre den Zugang zu dem Bereich der Namen versperrt hatte. In der Begegnung der
3In
der Welt des Tauschs sind die Frauen also nicht den Männern unterworfen, wie man es heute meist sieht, sondern einem Spiel. Dabei sind die Männer allerdings die Spieler und die Frauen die Einsätze. Aber diese Unterscheidung ist selbst ein Produkt des Spiels. Solche Differenzierungen kann man als spitzfindig ansehen. Aber wenn sich heute die Geschlechtsrollen als so hartnäckig erweisen, so liegt das vielleicht weniger an dem Machtwillen der Männer oder der Zähigkeit der Gewohnheiten als an der Macht der Spiele und der Faszination, die von ihnen ausgeht. Jedenfalls können die Spiele nicht durch eine Emanzipation aufgelöst, sondern nur durch andere Spiele ersetzt werden.
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Geschlechter entsteht für eine kurze Zeit die absolute Differenz. Jeder ist für den anderen, was dieser nicht ist, er der Name, sie der Wert; jeder gibt dem anderen, was diesem fehlt. Noch die bürgerliche Kultur zelebriert dieses Geschlechterverhältnis, das sie verloren hat, in den historischen Romanen, in den Opern und Operetten: die Begegnung zwischen dem einen Wesen, das seinen Stolz dareinsetzt, sich in dem zu verlieren, was es besitzt, kann und tut, und diesem anderen mit dem entgegengesetzten Stolz, das weiß, dass es eine Kostbarkeit ist, und damit spielt; die Begegnung, in der jeder die Gestalt des anderen durch sich und seine eigene durch den anderen genießt. Die Hochzeit ist das, was in den anderen Tauschzyklen das Fest des Schenkens ist; ein dem Tausch vorbehaltenes Objekt wird konsumiert.4 Danach geschieht mit der Frau, was auch mit den anderen Gütern geschieht; sie wird zur Schuld. Für den Mann bedeutet sie die Schuld gegenüber der frauengebenden Sippe;5 gleichzeitig verkörpert sie die Möglichkeit, dass der Mann wieder zum Schenkenden wird: Er wird an die Söhne seine Position weitergeben, die Töchter verheiraten können. Grundsätzlich lebt die Frau in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit als der Mann. Der Tausch ist ein Spiel, das Motive, eine bewegte Zeit schafft. An diesem Spiel hat die Frau keinen Anteil. In der Phase vor der Heirat gibt ihr der Tausch das Begehren nach der Gestalt: Sie wartet auf die initiatorische Begegnung in der Hochzeit. Nachher stellt ihr der Tausch keine Zeit und keine Motive mehr zur Verfügung. Der Wert, den sie darstellt, geht an die nächste Generation über, ohne dass dieser Übergang ein Geschenk wäre. In diesem Bereich, den der Tausch nicht besetzt, liegt der „mütterliche“ Raum, in dem die Kinder aufwachsen können. Wir interessieren uns für den Tausch als weltbildendes Spiel, für seine Rationalität; daher genügt uns hier die Feststellung, dass die „Frau“ ein Bereich ist, wo diese Rationalität nicht ganz greift, wo das System in seinem Inneren Enklaven erzeugt, die es nicht strukturieren kann. Exkurs: Tausch und Sexualität Der Frauentausch produziert ein Geschlechterverhältnis. Lange nicht alles an diesem ist sexuell; aber was wir – in sehr abstrakter Form – als Werbung beschrieben haben, ist doch die Grundform für die eindringlichsten Bilder einer sexuellen Begegnung der Geschlechter, die wir kennen. Es sieht so aus, als produziere der Tausch auch eine bestimmte Form der Sexualität; und zwar nicht
4Vgl. 5Das
Lévi-Strauss (1967): Les structures élémentaires de la parenté, 561. ist ein Aspekt, den Lévi-Strauss stark betont.
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nur in der Form von Verboten, sondern auch in dem Sinne, dass er dem formlosen „Trieb“ das Begehren des Tauschs zur Verfügung stellt, das diesem feste Objekte und Dauer gibt. Das ist ein befremdliches Phänomen. In dem ganzen System des Tausches ist nichts sexuell; wie können dann plötzlich an einem Punkt – und zwar in einer gesetzlichen Weise – Sexualität und Tausch sich miteinander verbinden? Im Folgenden möchte ich eine sehr provisorische und unvollständige Antwort auf diese Frage geben. Man weiß, dass bei Sigmund Freud die Geschlechterbeziehung in zweifacher Hinsicht ein ungelöstes Problem geblieben ist. Einmal ist unklar, wie es kommt, dass die polymorph-perverse Sexualität des Kindes in einer doch einigermaßen zuverlässigen Weise in die natürlich und kulturell gewollte genitale Norm einmündet. Zweitens gelingt es Freud nicht, einigermaßen inhaltsvolle Aussagen über das Wesen der Geschlechterdifferenz zu machen. Die einzige Antwort, die sich für Freud angeboten hat, ist die Differenz von aktiv und passiv, und diese Lösung hat er immer wieder als ungenügend verworfen. In der späteren Entwicklung (zum Beispiel bei Jones) ist die Psychoanalyse teilweise dazu zurückgekehrt, die Geschlechterbeziehung als eine natürlicherweise sexuelle zu denken.6 Wir können das sexuelle Verhältnis der Geschlechter nach dem Modell der Verwandlung des (unfassbaren) Objekts des reinen Bedürfnisses in den Tauschgegenstand denken;7 dabei bietet es sich an, sich auf Jean-Jacques Rousseaus Fiktion des Menschen im Naturzustand zu beziehen. Dieser Mensch (natürlich ein Mann) isst, wenn er Hunger hat, schläft, wenn er müde ist, folgt einer Frau – der einen so gut wie der anderen –, wenn er erregt ist, und vergisst sie, wenn er befriedigt ist. Es gibt keine Gegenstände; der Hunger lässt die Früchte aus den Blättern hervortreten, die Sättigung verwandelt sie wieder in Farbtupfer. Für den Tauschenden ist die Frucht zuerst die Frucht des anderen. Er sieht sie mit ihrem Blick; und wenn er die Frucht verzehrt, sieht er das Zusammenspiel von Angebot und Bedürfnis als etwas ihm Äußeres. Er verzehrt einen Wert; und seine Wahrnehmung ist die des Tauschenden geworden. Er hat Bedürfnisse, der Naturmensch ist das Fließen der Bedürfnisse selbst (was ein Zusammenspiel zwischen Bedürfnis und Angebot in der Umwelt voraussetzt, für das wir bei dem Tier den Begriff des Instinkts haben).
6Vgl.
Löcher (1987): Verschiedenes, 65 ff. ist natürlich eine sehr verkürzte Figur. Man müsste die psychoanalytische Triebtheorie und ihre Interpretation durch Lacan hier einsetzen.
7Das
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Ebenso kann man sich eine sexuelle Beziehung denken, in der zwei Bedürfniskörper aufeinandertreffen, wo jeder für den anderen die ursprüngliche Frucht ist. Aber menschliche Subjekte können mit diesem Bedürfniskörper nicht mehr zusammenfallen; sexuelle Beziehungen müssen in irgendeiner Weise inszeniert werden, damit sie auch Beziehungen zwischen Personen sein können. Im Folgenden möchte ich zwei Stile der Inszenierungen derjenigen des Tauschs gegenüberstellen. Die Auswahl ist ziemlich willkürlich; es kommt mir nur darauf an, durch die Verschiedenartigkeit der Lösungen das Problem als Problem sichtbar werden zu lassen. Der ersten dieser Lösungen können wir uns über einen kleinen Umweg nähern. Die Tatsache, dass das Bewusstsein als eine lästige, aber unvermeidliche Hemmung zwischen dem Körper und seiner Umwelt steht, ist auch in anderen Bereichen eine Schwierigkeit, zum Beispiel im sportlichen Training. Der Körper ist ja doch nicht, wie wir überspitzt formuliert haben, ganz blind und ganz gelähmt. Wenn jemand gut Tennis spielt, dann spielt der Körper allein und das Bewusstsein hat nur eine ganz allgemeine Oberaufsicht. Sagt aber ein Trainer dem Spieler, er solle seine Rückhand anders einsetzen, greift das bewusste Subjekt mit seiner nur wenige Signale auswählenden Selbstwahrnehmung in das Wissen des Körpers ein und dieser spielt schlechter. Das gilt natürlich genauso, wenn der Betreffende sich selbst korrigiert. Manche Trainer verlangen daher von ihren Schülern, sie sollen die Höhe des Balls über dem Netz schätzen und laut ausrufen und Ähnliches, lediglich zu dem Zweck, das Bewusstsein abzulenken, damit es den Körper nicht stört. Asiatische Kampftechniken haben zur Lösung dieser Schwierigkeiten viel subtilere Verfahren entwickelt. Die Schüler sollen – was eine lange Schulung voraussetzt – die automatischen Bewegungen des Körpers wahrnehmen (das heißt solche, mit denen der Körper ein gestörtes Gleichgewicht wieder herstellt oder einen Sprung abfängt) und sollen die bewusste Kontrolle mit der automatischen zusammenfließen lassen; das Bewusstsein soll dem klugen, aber ohnmächtigen Körper sozusagen seine Augen und seine Kontrolle über die Motorik zur Verfügung stellen. Diesen beiden Arten, sprechendes Subjekt und Körper in Verbindung zu bringen, entsprechen sexuelle Stile; den ersten demonstriert zum Beispiel ein von Henry Miller geschildertes Paar, das den Sexualakt am liebsten mit ablenkenden Nebentätigkeiten wie Telefonieren verbindet, mit dem zweiten kann man die für uns so fernen meditativen erotischen Techniken des Ostens wie das Tantra in Verbindung bringen. Im Gegensatz zu diesen Verfahren wird der Grundmechanismus, mit dem der Tausch Sexualität inszeniert, sehr deutlich. Der Tausch provoziert das Begehren nach der Gestalt und baut auf ihr seine Systeme. Die vollständigste und befriedigendste Begegnung, die der Tausch ermöglicht – in der jeder das,
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was er zu sein begehrt, in den Augen des anderen wiederfindet –, ist es auch, die der sexuellen Begegnung ihre Form gibt. Das bedeutet, der Tausch koppelt die Sexualität an das Begehren nach der Gestalt. In unseren Kulturen ist diese Koppelung – natürlich in ganz anderen Formen – immer noch selbstverständlich. Man kann etwa daran erinnern, dass für Freud Verliebtheit immer etwas mit Idealisierungen zu tun hat. Die asiatischen Verfahren zeigen aber, dass das nicht so sein muss; ihr Ziel ist es gerade, die Sexualität von jeder Form des Begehrens nach der Gestalt zu lösen. Ein Beispiel kann einen anderen Stil der Inszenierung des Sexuellen verdeutlichen. Ein Paar sitzt in einem Café, der auf dem Tablett verschüttete Kaffee hat zwei kleine Seen gebildet, in denen Brocken eines Croissants liegen. Über längere Zeit spielen die beiden ohne Worte und nur gelegentlich lachend mit diesen Dingen. Was ist der Inhalt der Spiele? Unruhe, die die Ruhe stört, kleines Schiff im braunen Meer, Fisch im Wasser, Meer, das aufsaugt – sicher nicht genau das, aber doch irgendetwas von dieser Art. Kaffeeseen und Brotkrumen enthalten eine Reihe von Bedeutungselementen, die in Opposition treten können: flüssig und fest, dunkel und hell, rund und lang, umhüllend und umhüllt usw. Da die beiden nicht sprechen, kann das Spiel nur diese in den Gegenständen liegenden Bedeutungselemente verwenden. Ein psychoanalytisch geschulter Beobachter würde in diesem Spiel sicher eine sexuelle (orale, anale oder genitale) Metaphorik entdecken. Das ist legitim; uns interessiert aber nicht die Reduktion einer Beziehung auf einen sexuellen „Kern“, sondern das Umgekehrte: wie dieser Kern in eine Beziehung zwischen zwei Personen umgesetzt werden kann. Das Verfahren ist dem Tausch näher als dem Tantra. Das Spiel ist ein Spiel der Gestalten; jeder Zug des einen ist ein Vorschlag einer Szene, in der der andere eine Position suchen muss. Man kann auch denken, dass die halbe Öffentlichkeit, in der das Spiel stattfindet, dabei mitgenossen wird, ebenso wie die Werbung im Tausch ein Schauspiel für die Öffentlichkeit ist – nicht zufällig sind die Liebesromane der Alten Welt Geschichten von unendlich in die Länge gezogenen Werbungen. Aber das Verhältnis von Gestaltspiel und Sexualität ist hier umgekehrt. Der Tausch produziert fest institutionalisierte Geschlechtsgestalten, an die sich die Sexualität heftet. Hier ist eine sexuelle Beziehung als ein Rahmen, als eine formlose und formsuchende Spannung vorgegeben. Das Spiel besteht darin, sich den Differenzen, die die Wirklichkeit anbietet, in einer ähnlichen Weise, wie es das wilde Denken gegenüber der Natur tut, zu öffnen und sie als Material für Inszenierungen der sexuellen Spannung zu verwenden – sodass ein doppelter Effekt entsteht: Die sexuelle Energie mit ihren Besetzungsmöglichkeiten erlaubt es den Spielenden, den Festlegungen der Wirklichkeit zu entfliehen und in
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hundert flüchtigen Gestalten zu leben; die Vielfalt der Gestalten, umgekehrt, gibt dem Sexuellen ebenso viele Chancen, sich zu realisieren. Die Geschlechterbegegnung im Tausch ist so eng mit dem Gesamtsystem verbunden, so energisch und erfolgreich kodifiziert, dass sie uns – jedenfalls in einigen ihrer Dimensionen – bis heute als quasi natürlich erscheint. Die Kaffeeund Krumenszene, auf der wenige Bedingungen lasten, sollte daran erinnern, wie allgegenwärtig und vielfältig in seinen Möglichkeiten das Verhältnis von Sexualität und Gestaltspiel ist. Wenn man das sieht, ist es wenig verwunderlich, dass es dem Tausch mit der großen Macht, die er über das Begehren nach der Gestalt hat, nicht schwerfällt, eine Form zu finden, die das Sexuelle einigermaßen zuverlässig binden kann. Zusammenfassung Der Ort, von dem aus wir auf die Welt des Tauschs schauen, ist das weltlose Subjekt Sartres, mit der Frage, die dieses stellt: Wie heften sich die Bedeutungen an die Dinge und geben ihnen die Abwesenheit, die Weltdingen eigen ist und die der Ekel aufhebt? Wie kann man sich seiner zukünftigen Wünsche gewiss sein? Was gibt dem Begehren ein Recht, das das Gegenüber anerkennen oder bestreiten kann? Wie kann die Bindung an die Namen bejaht werden? Wenn der Blick, der der Welt ihre Festigkeit gibt, der eines allmächtigen Anderen ist, was kann dieser Andere sein, wenn nicht das Produkt einer Illusion? Für das Denken der Aufklärung ist ein Gegenstand zuerst Bedürfnisgegenstand. Die Ordnungen des Tauschs schieben zwischen die Hand, die pflückt, und den Menschen, der isst, die Gegenwart der anderen: Wer pflückt, darf nicht essen. Der Wilde sieht in der Frucht die Schuld aus einer vergangenen Gabe oder das Recht und die Macht, die er mit ihr gewinnt. Das heißt aber auch, dass durch den Tausch alles abwesend wird; die Welt der Gegenstände ist von den anderen aus gesehen. Ein Ding sehen heißt jetzt nicht mehr: eine Verbindung zwischen der Außenwelt und dem Bedürfnis schaffen; es bedeutet: was mir außen erscheint, registrieren und mit dem vom Tausch vorgegebenen Wert vergleichen. Mauss zitiert eine Etymologie, nach der die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes für Ding, res, die Gabe bedeutet.8 Im zweiten Kapitel der Elementaren Strukturen zitiert L évi-Strauss ein Experiment, das das Verhältnis von Bedürfnisobjekt und Objekt für die anderen beleuchtet. Der Wissenschaftler will mit seiner Tochter einen Versuch nachspielen, den man mit Affen angestellt hatte:
8Vgl.
Mauss (1968): Essai sur le don, 233.
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Das Mädchen soll ein Stück Schokolade vom äußeren Sims eines geschlossenen Fensters holen. Der Versuch misslingt in einer charakteristischen Weise. Der Affe hatte sich nur für die Banane interessiert; das Kind dagegen wendet sich an den Vater: Er soll ihr die Schokolade geben. Die Weigerung empfindet sie als pervers, der ganze Versuch verwandelt sich in einen Streit. Und als das Kind schließlich die Schokolade doch holt, genießt es hauptsächlich den Triumph über den Vater. Der Liebes- und Machtkampf ist wichtiger als die Süßigkeit; daher verwandelt sich diese vom Bedürfnisobjekt zu einem Einsatz in diesem Spiel. Das Denken der Aufklärung reduziert diese Verwandlung auf eine „kulturelle Interpretation“ der Bedürfnisse; es macht aus dem Menschen einen klug gewordenen Affen. Die Dinge, die aus der Verneinung der Bedürfnisse entstehen, sind das Material der Namen. Eine Position ist die Schnittstelle eines privilegierten Verhältnisses zu einem Teil der natürlichen Umwelt mit einer Vielzahl von Tauschbeziehungen. Sartre beschreibt das bürgerliche Eigentum in ähnlicher Weise als ein Bündel von Rechten und Pflichten. Aber hier lassen diese sich nicht legitimieren. Die „vernünftigen“, aus dem Gemeinwohl abgeleiteten Begründungen treffen nicht die wahren Motive; das tatsächlich motivierende System der Rechte und Pflichten ist durch die Einführung des Geldverhältnisses verstümmelt und nicht mehr artikulierbar. In den Stammesgesellschaften kann jeder einigermaßen korrekt sagen, warum er tut, was er tut. Die Motive sind als ethisch gebotene in den Positionen gegeben. Jeder Name kann sich legitimieren im Verhältnis zu anderen Namen, als Schulden, zu deren Begleichung die Zeit noch nicht gekommen ist, als ein Horizont begehrenswerter Objekte, die zu Recht begehrt werden. Und in der Abfolge der Generationen ist er legitimiert als eine Gabe, die wiederum eine Schuld begründet. Durch das Naturverhältnis sind die Namen verräumlicht; es ist ein Raum geschaffen, der aus Gegenständen besteht, die das Subjekt benennen. Wo immer der Wilde hingeht, er begegnet einem Teil von sich und den anderen; er sieht, was ihn unterscheidet und was ihn verbindet. Der Tausch produziert eine komplexe Zeitlichkeit. Die Tauschketten schaffen eine Zeit, die durch Begehren und Schuld perspektiviert ist und die in den Umschlagpunkten, den Festen gewissermaßen, zum Stillstand kommt; dabei gibt es wieder die schnelle Zeit des Objekttauschs und die langsame des Frauentauschs und der Generationenfolge. Daneben steht das entperspektivierte zeitliche Register des medialen Gedächtnisses, das in der Ordnung der Dinge selbst liegt, in der die Positionen mit ihrem Soll und Haben eingetragen sind. Das Geschlechterverhältnis erhält seine soziale Gestalt als ein Tauschverhältnis, indem die Geschlechterdifferenz in die Differenz zwischen Tauschenden und Tauschobjekten übersetzt wird.
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Schließlich schafft der Tausch den überpersönlichen Blick des Dritten, der der Welt ihre Objektivität gibt, von dem aus das Subjekt sich in seinen jeweiligen Beziehungen gesehen sieht, und der ihm befiehlt, den Forderungen seines Namens zu entsprechen. Da die Natur in das Tauschverhältnis einbezogen ist, wird sie zu etwas, das gibt, zum Ursprung aller Gaben. Und da sie die Sprache ist, in der die das Tauschsystem fundierenden Differenzen formuliert sind, trägt sie einen Blick, der auf die Menschen schaut und sie benennt. Der Tausch ist ein absolut legitimierendes Prinzip.
Literatur Mauss, Marcel. 1968. Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In Sociologie et Anthropologie, Hrsg. Marcel Mauss, 143–279. Paris. Lévi-Strauss, Claude. 1967. Les structures élémentaires de la parenté. Paris. Löcher, Elfriede. 1987. Verschiedenes. Untersuchungen zum Umgehen (mit) der Differenz in Theorien zur Geschlechtsidentität. Vervielfältigte Dissertation, Universität Bremen.
Das Objekt des Begehrens im Betrug (Boccaccio, Crébillon fils) (2001)
Was ist die Beziehung von Liebe und Betrug? Das umfangreiche Buch von Manfred Schneider, das genau diesen Titel trägt,1 geht von der These aus, dass die Sprache der Liebe ihrem Wesen nach eine betrügerische Sprache ist. Dieser Gedanke wird in verschiedenen Richtungen entwickelt; im Zentrum steht der Gedanke, dass Verlangen durch Illusionen, also durch Täuschungen, erzeugt wird und Illusionen erzeugt. Das Buch beschreibt die Versuche der Sophisten, Platoniker, Christen und anderen Vertreter der Vernunft bis hin zu den New-AgePropheten, die Liebe in Sprachen der Wahrheit zu fassen. Am Ende des Buchs steht der Appell, den Betrug zu entkriminalisieren, „Täuschung als unvermeidliche Bedingung alles Sprechens (anzuerkennen), das Macht und Verlangen ins Spiel bringt“.2 Illusion ist ein Begriff, der auf Wahrheit verweist. Bei Schneider sind die Sprachen der Liebe allesamt illusionär. Wahrheit ist nur außersprachlich. Wahr ist das Zwitschern des Fleisches; ein anderes Jenseits der immer täuschenden Sprache sind die Hunde, die die Menschen nicht an ihren Worten und Namen, sondern an ihrem Geruch erkennen, und deren Gesellschaft die Liebenden suchen. Das ist eine witzige Neuformulierung des alten Biologismus. Sexualität ist natürlich, aber nicht nur das biologisch Sexuelle. Auch bei Manfred Schneider zwitschert das Fleisch in aller Regel, wenn Männlein und Weiblein
1Schneider 2Ebd.,
(1992): Liebe und Betrug.
434.
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sich treffen; das heißt, in einer solchen Begrifflichkeit ist die Natürlichkeit der Geschlechterdefinition und des zwischengeschlechtlichen Begehrens mitgesetzt. Das sind Voraussetzungen, die eigentlich schon bei Freud und sehr intensiv in der neueren Diskussion in Zweifel gezogen werden. Ich werde im Folgenden Fragen stellen, die sich aus dieser Position des Zweifels ergeben, und zwar auf der Basis der Lacan’schen Theorie. Lacans Versuch, die Beziehung der Geschlechter theoretisch zu rekonstruieren, liegt zwischen dem alten Biologismus und der Vorstellung, Geschlechterbeziehungen seien total kulturell konstruiert. Einerseits – „du côté du vivant“3 – ist der Ausgangspunkt der mythische Verlust an Leben, der für die Subjekte mit der sexuellen Form der Fortpflanzung gegeben ist, und die Folgen dieses Verlusts für das von der Sprache erfasste Lebewesen. „Du côté de l’Autre“ liegt andererseits der Ort der Begegnung mit dem Austausch der Signifikanten, mit den Idealen, die diese tragen, mit den elementaren Strukturen der Verwandtschaft, der Metapher des Vaters. Dort stehen die Worte unter der Forderung der Wahrheit, es entstehen Normen, eine Ordnung, die dem Subjekt sagt, was es als Mann und Frau zu tun hat. Im Folgenden wird es nur um die „Seite des Anderen“ gehen, um die kulturelle Ordnung der Geschlechter und des Begehrens. Ich will zeigen, dass es eine Wahrheit des Begehrens geben kann, in einem doppelten Sinn: Betrug verlangt, dass man sich mit der Ordnung identifiziert, die man betrügt. Und, wie Plato es von den Räubern gesagt hat, Betrüger brauchen ein Gesetz, das sie verbindet. Wie kann man von Wahrheit des Begehrens, von Wahrheit der Liebe sprechen? Ganz ausweichen kann man dieser Dimension jedenfalls nicht. Auch heute noch gehört zum Standard einer Liebesgeschichte eine Selbstbefragung des Subjekts: „Warum liebe ich?“, „Was an der geliebten Person ist es, das mich lieben lässt?“ und „Liebe ich wirklich?“ Heute gibt es auf die erste Frage, wenn überhaupt, nur individuelle Antworten; es geht vorwiegend um die zweite Frage, bei der die Gewissheit der Liebe ins Spiel kommt. Im Folgenden wollen wir uns mit den vorbürgerlichen Verhältnissen beschäftigen. Hier wird die Gewissheit kaum zum Problem; dafür gibt es ein kulturelles System von Gründen, die Männer und Frauen füreinander begehrenswert machen. Wenn eine Frau geliebt wird, so wird sie geliebt „als …“, als die Tochter des Königs von Neapel, als besonders anmutig, geistvoll, schön, tugendhaft. Das ganze Buch hindurch will Manfred Schneider beweisen, dass in der Liebe Sprache nur als täuschender
3Lacan
(1966): Écrits, 849.
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Kanal funktionieren kann, aber in der vorbürgerlichen Welt begründet sich die Liebe in einer Sprache, die Wahrheitsgeltung beanspruchen kann. Im Extremfall kommt die Liebe ohne Begegnung aus; es genügt ein Katalog von Eigenschaften, um die heftigste Leidenschaft auszulösen. Wenn ein Mann geliebt wird „als …“, dann heißt das auch, in Lacans Formulierung, dass „ein Mann als männlicher immer mehr oder weniger seine eigene Metapher ist“.4 Der Effekt einer Metapher ist eine Identifikation. Begehren und Liebe identifizieren. „Ich liebe dich“ ist nicht eine Aussage über einen Sachverhalt, sondern ein performativer Satz. Er sagt: „Ich will der sein, für den du dieses und dieses und dieses bist“, wobei sich der konkrete Inhalt aus dem spezifischen jeweils die Liebesbeziehungen regulierenden Code ergibt. „Wahre Liebe“ heißt dann nicht nur, dass das Subjekt sich und das Objekt in einer Beziehung identifiziert, sondern auch, dass es die Macht des Codes über sich anerkennt. Wenn die Liebe als göttlich angesprochen wird, so bezeichnet das nicht nur ihre Macht, sondern auch die Gesetzlichkeit dieser Macht. Das Gesetz erzeugt die Lust am Betrug und macht aus dem Betrügen die höchste Lust; das möchte ich am Beispiel des Decamerone zeigen. Wenn das Gesetz seine Kraft verliert, dann ist natürlich auch der Betrug uninteressant. Das erotische Problem besteht dann darin, das Gesetz wenigstens für einen Moment wiederherzustellen; und dafür braucht es die Täuschung. Das soll an Texten aus dem 17. und 18. Jahrhundert dargestellt werden. *** Madonna Lisetta aus der zweiten Novelle des vierten Buchs des Decamerone ist deswegen an einem Liebhaber nicht interessiert, weil sie keinen Mann sieht, der ihrer einzigartigen Schönheit würdig wäre. Ihr Beichtvater, Fra Alberto, ein falscher Mönch, merkt sofort, dass das ein Acker für seinen Pflug ist, er redet ihr ein, der Erzengel Gabriel habe sich in sie verliebt und wolle sie in seiner – Albertos – Gestalt besuchen; was dann auch geschieht. Jeder Mann ist eine Metapher, aber Fra Alberto als Gabriel ist es in einer besonders drastischen Weise. Die wenigen Male, wo im Decamerone sexuelle Akte explizit dargestellt werden, geschieht das fast immer in solchen Figuren metaphorischer Täuschung: in der Novelle von dem Einsiedler (III, 10), der den Besuch eines jungen Mädchens bekommt, als die Gott wohlgefällige Aktion, den Teufel in die Hölle zu stecken; in der Novelle von der jungen Bauersfrau, die in eine Stute
4Lacan
(1998): Le séminaire livre V [1957–1958], 195: „Je vous fais remarquer qu’en tant qu’il est viril, un homme est toujours plus ou moins sa propre métaphore“.
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verwandelt werden möchte, in einer derb sexuellen Form. In der idyllischen Erzählung V, 4, in der das männliche Glied als Nachtigall apostrophiert wird, geht die metaphorische Aktivität nicht vom Verführer aus, sondern vom Vater; sie zielt nicht auf Täuschung, sondern auf Befriedung der durch die ordnungsbrechende Liebesnacht geschaffenen Situation. Anstatt den obligaten Weg der Rache zu gehen, zwingt der Vater den Besitzer der Nachtigall zur Ehe, sodass er dann „die Nachtigall in seinen eigenen Käfig getan hat und nicht in den anderer Leute“.5 Hier wird die auffällige Nachtigallenmetapher, die der eigentliche Gehalt der ansonsten ereignislosen Novelle ist, verdoppelt durch eine zweite, unauffällige Metaphorik, die des Eigentums. Man weiß, dass in der vorbürgerlichen Welt das Geschlechterverhältnis massiv über eine Semantik des Eigentums codiert ist. Vor allem in der historiografischen Literatur führt das zu dem gängigen Fehlurteil, bis ins 18. Jahrhundert wären Eheschließungen vor allem durch ökonomische Interessen bedingt und erst ab dann würde Ehe typischerweise mit Liebe verbunden. Dabei wird die aus anderen Zusammenhängen bestens bekannte Tatsache ignoriert, dass in der vorbürgerlichen Welt Eigentum auch in seinem materiellen Sinn ein symbolisches System ist, und zwar im Gegensatz zu heute, wo Eigentum natürlich auch noch massive symbolische Bedeutungen hat, in einer festen (und im Lauf der Geschichte unterschiedlich) codierten Form. Das bedeutet, dass Eigentum identifiziert; das kann es tun, weil es in eine Ordnung des symbolischen Austauschs im Sinn von Marcel Mauss eingebunden ist. Die genealogische Familie ist der eigentliche Träger alles Eigentums; die Familien, nicht Individuen, inkarnieren soziale Positionen. Die Familien konkurrieren, sie verbinden sich, die Verbindungen sind das wichtigste Instrument der Konkurrenz, und der Austausch der Frauen ist das wichtigste Instrument der Verbindung. Als ein System der symbolisch codierten, nicht nur ökonomischen Konkurrenz und des Austauschs schafft diese Ordnung Signifikanten, Werte, kodifizierte Objekte des Begehrens. Männer und Frauen sind auch Signifikanten, als die Träger der Familienzugehörigkeit und der in der Konkurrenz und im Austausch gewünschten Tugenden; hier schließt sich eine ganze umfangreiche Semantik an, zu der für Frauen vor allem auch die Schönheit gehört. Der Kern dieser Tugenden – was sich bei Frauen unter Worten wie costumata oder onesta verbirgt – ist die Identifikation mit dieser Zugehörigkeit und den sich aus ihr ergebenden Anforderungen. Identifikation ist nicht einfach Übereinstimmung; Lacan bestimmt das Subjekt
5Boccaccio
(1951) [ca. 1350]: Il Decameronee, 337: „[…] egli si troverà aver messo l’ussignuolo nella gabbia sua e non nell’altrui“.
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gerade dadurch, dass es mit seinen Identifikationen nicht übereinstimmt. Identifikationen sind aber auch nicht Rollen, die man wählen kann. Es sind internalisierte unbewusste Signifikanten, die das Subjekt in der fundamentalen, das Leben bestimmenden Auseinandersetzung mit den Vertretern des Anderen einsetzen kann. Die Fähigkeit, die Identifikationen bewusst zu übernehmen und für sie öffentlich einzustehen, nennt Boccaccio grandezza dell’animo.6 Ein großer Teil der Novellen des Decamerone erzählt ernste oder heitere Betrugsgeschichten, wobei die Erzählung fast immer die Partei des illegalen Paares ergreift. Diese Geschichten appellieren an ganz verschiedene Codes. Am höchsten steht der Code der höfischen Liebe, ein durch die Literatur etablierter echter Alternativcode zu dem offiziellen, für den es, trotz der Heimlichkeit der konkreten Beziehungen, einen öffentlichen Raum gibt, den Raum, in dem sich die Werbung abspielt und in dem, nach dem tragischen Ende, die Liebe gefeiert wird. Ganz unten stehen verschiedene Arten käuflicher Beziehungen und die wirkliche Prostitution, die auch gelegentlich detailreich beschrieben wird. Für uns am interessantesten ist der mittlere Bereich, aus dem ich eine typische Novelle, die neunte des siebten Tages, kurz vorstellen möchte. Einer jungen, mit einem vorzüglichen, aber zu alten Mann verheirateten Dame fehlt das, „woran die jungen Frauen am meisten Vergnügen haben“.7 Darauf beschließt sie, sich einen Liebhaber zu suchen, sie sucht sich einen jungen Mann aus, den vertrauten Diener ihres Gatten, der alle denkbaren Vorzüge besitzt, verliebt sich in ihn und trägt ihm durch ihre Magd ihre Liebe an. Der junge Mann fürchtet nun, sie sei von ihrem Mann angestiftet, der ihn auf die Probe stellen wolle, und er verlangt Garantien: Sie soll den Lieblingsfalken ihres Manns vor dessen Augen töten, sie soll ihm eine Locke von seinem Bart und einen seiner Zähne schicken. Die Frau erfüllt nicht nur diese Aufgaben, sie fügt noch eine weitere hinzu: Sie wolle sich in Gegenwart ihres Mannes mit ihm vergnügen. Auch das gelingt ihr, indem sie den Mann glauben macht, der Birnbaum, von dem aus er die Szene beobachtet hat, erzeuge Trugbilder. Genügt es, in dieser Novelle den Konflikt von moralischem Gesetz und individuellem Recht auf sinnliche Befriedigung zu sehen? Diese Lesart ignoriert gerade das Auffälligste: die Triangulierung der erotischen Szene, die Inszenierung der sexuellen Lust als Lust am Betrug. Das Objekt des Begehrens ist nicht die
6Ein
Beispiel dafür ist Ghismonda aus der ersten Novelle des vierten Buchs, von der noch später die Rede sein wird. 7Boccacio (1951 [ca. 1350]): Il Decamerone, 453: „[…] di quello che le giovani donne prendono più piacere io vivo poco contenta“.
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Frau, sondern die Frau als Eigentum eines anderen. Die Frau, die einem Mann (von ihrem Vater) gegeben worden ist, der sie (im sexuellen Sinn des Wortes) nicht zu würdigen weiß, schenkt sich selbst vor dessen Augen einem besseren Mann. Die ganze erotische Konstellation ist in dem Code von Eigentum und Gabe gefasst. *** Man könnte Boccaccios Novellen daraufhin durchgehen, welche Varianten und Merkwürdigkeiten die Codierung der Geschlechterbeziehung als Eigentum und Gabe produziert. Ich möchte hier einen anderen Weg gehen und an Texten aus dem 17. und 18. Jahrhundert zeigen, was es für Folgen hat, wenn das Prinzip des identifizierenden Eigentums als Code nicht mehr zur Verfügung steht. Durch die Allgegenwart des Eigentumscodes werden die metaphorischen Bewegungen möglich, durch die Männer „als …“ und Frauen „als …“ zu Objekten des Begehrens werden. Die Auflösung des Codes macht genau dieses „Als“ – als was Männer und Frauen begehrt werden, ihre Konstruktion als Objekte des Begehrens – zum Problem. Dieses Problem möchte ich an einer eingeschobenen Geschichte aus der Clélie8 deutlich machen. Den Erzähler hat es auf eine Insel verschlagen, wo er auf eine Salongesellschaft trifft, wie wir sie überall in der Clélie finden. Er verliebt sich, die Liebe wird erwidert. Eines Tages erfährt er, dass die Frau vorher eine Beziehung mit einem Mann hatte, der zwar alle Eigenschaften eines honnête homme hatte, aber aus irgendwelchen Gründen in der Gesellschaft eine Zielscheibe des Spottes war. Dieses Wissen bringt die Liebe zum Erlöschen. Nicht wegen der Tatsache einer früheren Beziehung, sondern wegen der Aura des Lächerlichen, die dem früheren Freund anhaftet und auf die Frau abfärbt. Geschichten dieser Art findet man ab dem 18. Jahrhundert die Menge, vor der Entstehungszeit der Clélie gibt es sie nicht. Sie erlauben es, die Frage zu stellen, mit welchen Mechanismen Begehren erzeugt wird und wie sich die Dimension des Paktes und der Wahrheit mit dem Begehren verbindet und von ihm löst. Für uns ist es selbstverständlich, eine durch Formen sozialen Prestiges erzeugte Liebesbeziehung als falsche, nur konventionelle anzusehen.9 Wenn 8Scudéry
(1654/1660): Clélie. Histoire Romaine Livre III tome 2, 1202–1370. ist sehr ungenau ausgedrückt. Groupies, die mit Popstars ins Bett gehen, werden belächelt; wenn eine Frau einen Mann liebt, weil er fantasievoll und engagiert ist, finden wir das eher normal. Der entscheidende Unterschied besteht wahrscheinlich darin, ob wir das System der Werte von innen oder von außen betrachten. Das bedeutet dann auch, dass die beiden Typen der Konstruktion von Begehrenspositionen, die wir unterschiedlichen Momenten einer Entwicklungslogik zuschreiben, in unserer Kultur nebeneinander existieren. 9Das
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man sich für eine ethnologische Geschichte der Liebe interessiert, das heißt die historischen Konstellationen der Geschlechterbeziehung als einen systematischen Zusammenhang beschreiben will, dann muss man solche Selbstverständlichkeiten in Fragen verwandeln; hier geht es um die Frage, warum ein sozial induziertes Begehren ab einem gewissen Zeitpunkt als lächerlich gilt. Wenn sich Frauen im Decamerone umschauen, in welche Männer sie sich verlieben möchten, dann schauen sie nach einem klar umrissenen Bündel von Eigenschaften. Im Extrem genügt die Aufzählung selbst ohne persönliche Bekanntschaft, um eine extreme Leidenschaft zu erzeugen wie in der Novelle IV, 4. Hier – wie in der Clélie – ist es ein sozialer Mechanismus, der das Verlangen erzeugt. Warum genau ist der Effekt ganz verschieden? Wir müssen auf den Lacan’schen Begriff der symbolischen Identifikation zurückkommen. Symbolische Identifikation heißt, dass das Subjekt sich von dem Ort des Gesetzes aus sieht, sich selbst als das erlebt, als was es von dem Gesetz aus gesehen wird. Bei Boccaccio ist dieses Gesetz das tatsächlich noch gültige der genealogischen Familie und der Ehre, sein Vertreter ist der Vater in dem alten starken Sinn des Wortes, der symbolische Vater Lacans. Das Gesetz ist universal und total, es gibt weder in der Welt noch im Subjekt ein Außen, von dem aus man es infrage stellen könnte; es begründet eine gemeinsame, die ganze Person erfassende Identifikation, auf der alle weiteren Identifikationen aufbauen. Die Salongesellschaften stehen außerhalb des symbolischen Raums der Familien. Wenn sie auch einen bestimmten sozialen Status als Zugangsvoraussetzung verlangen, so sind sie doch gerade dadurch definiert, dass sie eine von der sozialen Ordnung unabhängige Rangordnung schaffen, eigene Objekte des Begehrens und eigene Identifikationen. Diese Gesellschaften identifizieren nie total; ihr Gesetz erscheint zwar als mächtig, auch innerlich mächtig, aber immer als gesetzt, als willkürlich und konventionell. Zur symbolischen Identifikation gehört ein Akt der Bejahung, das heißt die Übernahme der Figur, als die der Andere mich sieht, als mein eigenes wahres Ich. Wenn Versac in den Égarements du coeur et de l’esprit10 den Erzähler in die Gesellschaft initiieren will und ihm zeigt, was er selber ist und was der Junge zu werden hat, dann spricht er von sich als einem anderen. Von der Gesellschaft geht zwar ein absoluter Imperativ aus, dem er zu folgen hat, aber es ist unmöglich, die Person, die dieser Imperativ erzeugt, als sein eigenes Selbst zu übernehmen.
10Crébillon
fils (1977 [1736/1738]): Égarements du coeur et de l’esprit, 236–258.
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*** Ich möchte an drei Bereichen zeigen, was diese Neuorganisation der Identifikationen für den Betrug bedeutet, für das Subjekt im Betrug, die Rolle des Sex, die Dimension des Pakts zwischen dem betrügerischen Paar. In Marivaux’ Paysan parvenu11 hat eine vornehme Dame, Madame de Fervacques, die in der Gesellschaft die Rolle der dévote spielt, dem Protagonisten, Jacques, der noch vor kurzem nicht mehr als ein Diener war, in einem zweideutigen Haus ein Rendezvous gegeben; dabei wird sie von einem ihrer standesgemäßen Verehrer überrascht, den sie abgewiesen hatte und der außerdem noch Jacques als Diener kennt. Der Verehrer scheut sich nicht, die Situation für seine Wünsche auszunützen. Die Dame fürchtet den Verlust ihres Rufes, schickt Jacques weg und fügt sich mit umschweifigen Reden in ihr Schicksal. In der Anlage ist das eine Situation, die auch für Boccaccio typisch ist: Die bei einer verbotenen Liebe ertappte Frau begegnet dem Vertreter des sozialen Gesetzes. Im Decamerone muss der Mann in dieser Situation die Rolle des Vertreters des Gesetzes übernehmen. Er kann das Gesetz milde handhaben, sogar verspotten; aber es ist extrem verwerflich, wenn er es nicht in sich fühlt, wie der homosexuelle Ehemann in der vierten Novelle des fünften Buches, der die Situation ebenso wie im Paysan parvenu für seine eigenen erotischen Interessen ausnützt. Die ertappte Frau kann wie Ghismonda reagieren, als stolze Gläubige, die ihre ketzerische Auffassung des Codes verteidigt. In den mehr schwankhaften Novellen herrscht die Lust am Betrug, die ganz und gar auf der Ebene der Eigentumscodierung des Geschlechterverhältnisses liegt: Es ist hochvergnüglich, dem rechtmäßigen Eigentümer seine Schätze zu entwenden, zu genießen, ohne zu zahlen. Dabei funktioniert der Betrug als eine metaphorische Codierung des sexuellen Genusses: Das oben angeführte Beispiel, wo der Ehemann vom „verzauberten“ Birnbaum aus dem Treiben des Liebespaares zuschaut, ist extrem, aber typisch. Offensichtlich ist der Sex umso schöner, je näher der betrogene Ehemann der Szene ist. Die Lust am Betrug setzt den Glauben an das übertretene Gesetz voraus. Diese Lust ist im 18. Jahrhundert verschwunden. Es macht keinen Spaß, ein Gesetz zu übertreten, an das man nicht glaubt. Für die sexuellen Aktivitäten der prüden Damen, von denen die erotischen Romane des 18. Jahrhunderts voll sind, passt das Wort Betrug überhaupt nicht mehr, das immer verwendete Wort ist Hypokrisie. In dem Code des Decamerone ist sexueller Genuss ein Wert, um den man kämpfen kann. In dem Code der jetzigen guten Gesellschaft ist der Sex,
11Marivaux
(1969 [1734/1735]): Le Paysan parvenu, 221 ff.
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zumindest für die Frauen, kein Wert. Will man ihn doch, muss man den Code verlassen. Daher reden auch die libertinen Romane immer abschätzig über sexuelle Lust. Hypokrisie heißt dann auch im 18. Jahrhundert nicht mehr, wie noch im Tartuffe, zu verbergen, woran man eigentlich gebunden ist, sondern zu verbergen, dass man an gar nichts gebunden ist. Marivaux macht konsequenterweise aus der Hypokrisie ein allgegenwärtiges inneres Prinzip, die Unmöglichkeit, zu wissen, was man will, die Unmöglichkeit der Identifikation. Der frühe Lacan vertritt die Auffassung, dass eine geordnete und dauerhafte Liebesbeziehung nur innerhalb eines Paktes möglich ist. Der Pakt stellt die Beziehung in die Ordnung des Symbolischen, die quer steht zu der Dimension der Gefühle und Leidenschaften. Das immer wiederkehrende Beispiel ist der Satz „tu es ma femme“, der performative Satz, der im Appell an die bewussten und unbewussten Signifikanten im Subjekt Identifikationen und Bindungen schafft. Im Decamerone steht die Rolle von Macht und Gewalt im Geschlechterverhältnis im Vordergrund, aber die Dimension des Pakts als Grundlage der Ehe ist in einer globalen und selbstverständlichen Weise immer vorhanden; in der Griselda-Erzählung, der Abschlussnovelle des Decamerone wird sie in hohem Stil zelebriert. Allerdings in einer merkwürdigen Weise. In dem genealogischen System ist es eine Pflicht zu heiraten, das, was man erhalten hat, weiterzugeben. Der Protagonist, der Markgraf Gualtieri, entzieht sich dieser Pflicht. Als er dem sozialen Druck schließlich nachgibt, heiratet er die Tochter eines armen Mannes, und er nimmt sie buchstäblich nackt. Was sie hat, hat sie von ihm. Sie ist nur Schuldnerin, er hat nur Rechte; und er erkennt sie erst als Frau an, als er die Gewissheit hat, dass sie auch als Gräfin an dieser Auffassung der Beziehung festhält, dass sie alles, was sie jetzt besitzt, nie als Eigentum, immer nur als geliehen ansieht und keine Rechte daraus ableitet. Das ist bestimmt keine orthodoxe Interpretation des Codes und keine normale Situation. Normalerweise bringt die Frau Eigentum mit und hat daher auch Rechte, die sie öffentlich geltend machen kann. Der Markgraf wird daher auch von den Zuhörern getadelt, aber Griselda wird wegen ihrer Tugend gerühmt. Wie auch immer, deutlich wird jedenfalls die Interpretation der Ehe im Register des Gabentauschs. Es ist dieses Verhältnis, das die Beziehung von Mann und Frau fundamental bestimmt, ihre wechselseitigen Positionen festlegt und den Pakt begründet. Auch die verbotenen Beziehungen liegen im Innern des durch den Code geschaffenen Raums und sind durch die Dimension des Gabentauschs und des Pakts bestimmt. In den an die höfische Liebeskonzeption angelehnten Novellen ist das völlig evident. Aber es gilt ebenso für eine Novelle mittleren Stils wie die oben angeführte, wo der Ehemann vom Birnbaum aus den Liebesspielen seiner Frau zuschauen muss. Die Liebesproben, die der Auserkorene von der verliebten jungen Frau verlangt, beweisen den Bruch
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des ehelichen Pakts, aber etablieren gleichzeitig einen neuen Pakt zwischen dem illegitimen Paar. Dass sich die Betrüger wechselseitig betrügen, gibt es im Decamerone nicht, außer wenn es sich um käufliche Verhältnisse handelt. *** Im 18. Jahrhundert geht es ausschließlich genau darum, wie die Partner in der Liebe nicht so sehr den störenden Dritten, sondern wie sie einander täuschen. Hier wird nun tatsächlich historisch wahr, was Manfred Schneider zur allgemeinen Wahrheit erhebt, dass Begehren nur durch Täuschung entsteht. Diese Täuschung ist nun allerdings etwas ganz anderes als der Betrug bei Boccaccio. Dort ging es um die Aneignung eines Guts, das dem Gesetz nach einem anderen gehörte und dessen Wert feststand, durch List und Schlauheit. Jetzt ist Täuschung das Mittel der Verführung: Es geht darum, durch Spiele mit allen Möglichkeiten der vorhandenen Codes sich zum Objekt des Begehrens für den anderen zu machen.12 Man erinnert sich an Madame de Lurçay aus den Égarements du coeur et de l’esprit: Zuerst war sie liebenswert als die tugendhafte, unerreichbare Frau, was eine doppelte Täuschung darstellte; einmal, weil ihre bewegte Vergangenheit einer solchen Beschreibung nicht entsprach, aber auch, weil sie an diesen Code überhaupt nicht glaubte. Als sie in diesem Code nicht mehr attraktiv ist und die Liebe zusammenbricht, wechselt sie zum Code der großen Liebenden. Die erotische Literatur des 18. Jahrhunderts ist voll von solchen Spielen. Dahinter ist die traurige Überzeugung fühlbar, dass Frauen sich eigentlich nichts anderes wünschen als Sex mit jedem beliebigen Mann. Wenn es viele Codes gibt und keiner verbindlich ist, dann gilt eigentlich überhaupt kein Code. Und ohne verbindlichen Code ist eine Frau nichts wert; und was sie begehrt, ist auch nichts wert. Nun ist ja, wie Lacan sagt, das Begehren des Mannes phallisches Begehren. Er wird durch das Verlangen der Frau selbst zu etwas Begehrenswerten, aber eben nur, wenn der Wunsch der Frau auf den Phallus geht und nicht auf den Penis, wenn sie die „richtigen“ Wünsche hat, das heißt, wenn sie sich den Mann wünscht, der die Insignien der symbolischen Ordnung des Sozialen trägt.13 Der Sultan in Diderots Bijoux indiscrets will aus untrüglicher Quelle wissen, was die Frauen begehren. Die Antwort ist immer die gleiche: Sex und Penis. 12Diese
Form der Täuschung gibt es auch bei Boccaccio, zum Beispiel in der zitierten Novelle IV 2, in der der Mönch Madonna Lisetta als Erzengel Gabriel verführt. Hier ist Kuriosität, was später ein zentrales Problem wird. 13Die Problematik, die daher rührt, dass die soziale Ordnung sich auf das richtige Begehren der Frauen stützt, ist von Lacan ausführlich diskutiert in den Sitzungen über Hamlet im Seminar VI. Lacan: Le séminaire livre VI, Le désir et son interpretation (1958–1859). Teilweise veröffentlicht in Ornicar? Bulletin périodique du champ freudien 1981–1983
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Nur das Kleinod der Favoriten spricht anders: Es will nichts als Mangogul, den reinen Eigennamen oder, wenn man es anders sagt, die Person als solche. Damit gehört nun Mirzoza zu den ganz besonders wertvollen Frauen, die die seltene Eigenschaft haben, die Person als solche zu begehren. Der Roman endet mit der Empfehlung, den Zauberring zurückzugeben und die Frage lieber auf sich beruhen zu lassen. Das ist einen Hauch realistischer als die Empfehlung, mit der Manfred Schneider sein dickes Buch beendet: die Täuschung als Täuschung zu akzeptieren. Das hieße ja, sich mit dem Zwitschern des Fleisches einfach zufriedenzugeben und auf die Manifestationen des Phallus in der Beziehung der Geschlechter zu verzichten, und das möchte nun allerdings, wie die Literatur des 18. Jahrhunderts eindringlich lehrt, niemand. Man kann allerdings auch bezweifeln, ob der Sultan mit dieser Liebe zu sich als Person an sich wirklich auf die Dauer zufrieden ist; er hat genug Selbstironie, um zu wissen, dass er als Person so etwas Wunderbares nun auch wieder nicht ist. Laclos’ Liaisons dangereuses haben eine bessere Lösung: Wer eine Frau verführt, die Gott begehrt, der kommt selbst an diesen großartigen Platz. Aber auch da bleibt die Frustration, ein Gott zu sein, an den man nicht glaubt. So ist denn am Ende das einzig wirkliche Objekt des Begehrens in der libertinen Literatur die Position desjenigen, der die Täuschungen durchschaut, die die anderen nicht durchschauen, und diese so manipulieren kann, also die Position der Protagonisten der Liaisons dangereuses; es hat eine gewisse Logik, wenn dann von der Geschlechterbeziehung nur noch der Kampf auf Leben und Tod übrig bleibt. *** Das Gebot „Du sollst nicht begehren deines Nachbarn Weib!“ liest man meist als ein Verbot des sexuellen Begehrens. Das ist die christliche Lesart, und sie ist bis heute noch einflussreich, weil sie der Dimension der bürgerlichen Moral entspricht, die sich in der Kant’schen Ethik und ihrer fundierenden Opposition von Sinnlichkeit und Moral ausdrückt. Es ist irreführend, diese Lesart auf die europäische Geschichte vom Mittelalter bis zur Aufklärung anzuwenden. Diese Epoche, die für uns die der Herrschaft des christlichen Glaubens darstellt, war für sich selbst immer vorzugsweise sündig; eine ihrer fundamentalen Unterscheidungen war die zwischen einem frommen Leben und einem Leben nach
(Bd. 25/1982). Sie wird schon in den frühen Diskussionen über die höfische Liebe angesprochen, zum Beispiel in Chrétiens Yvain, in der erotischen Literatur des 19. Jahrhunderts nimmt sie, wie zu erwarten, einen großen Raum ein, zum Beispiel bei Barbey d’Aurevilly.
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den Regeln der Welt. Diese Unterscheidung muss man ernst nehmen. Wenn man sie in einer modernen Sprache formuliert, heißt sie einfach, dass es immer eine Ethik und eine Kultur gab, die von weltlichen und nicht von christlichen Regeln beherrscht war.14 Diese Ethik ist es, die die alltägliche Geschlechterbeziehung zuerst einmal beherrscht; die Literatur ist die wichtigste Quelle, die zu ihr Zugang gibt. Man kann das Gebot auch lesen als einen Modus der Lenkung des Begehrens. Dann bedeutet es: Nichts ist so verführerisch als des Nachbarn Weib. Schließlich kann man es lesen als Element eines Systems, das Männer und Frauen identifiziert und die Geschlechterbeziehung als eine bestimmte Ordnung des Begehrens konstruiert. Dann sagt das Gebot, warum die Frau des Nachbarn begehrenswert ist, nämlich weil sie das Eigentum des Nachbarn ist. Es ist zwar wahr, dass das Gesetz bestimmte Wege des Begehrens verbietet, aber bevor es verboten wird, muss das Begehren erst hergestellt sein. Begehren ist etwas anderes als sexuelles Bedürfnis; begehren kann man nur Signifikanten, das heißt Objekte, die von dem Zyklus des Bedürfnisses unabhängig sind, die als abwesende gegenwärtig bleiben, indem das eigene Begehren sich mit dem der anderen vermittelt und anerkannt werden kann. Es ist das vorbürgerliche System des identifizierenden Eigentums, der Ehre, das die Geschlechterbeziehung als eine wirksame und legitime Ordnung des Begehrens codiert. Selbst in der modernen Historiografie der Geschlechterbeziehung in der vorbürgerlichen Welt15 werden die Dimensionen des Eigentums und der Macht als zu sexuellen Neigungen und zur Liebe grundsätzlich im Gegensatz stehend betrachtet. Wenn Interessen im Spiel sind, gilt das als Beweis, dass Gefühle und sexuelle Wünsche ausgeschlossen sind. Sehr viel spricht dafür, dass das Gegenteil richtig ist. Die Trennung von Eigentums- und Geschlechterordnung beginnt mit dem 17. Jahrhundert und wird allmählich zur modernen Norm. Vorher bildet die Eigentumsordnung den Code, der die Geschlechterbeziehung als eine Ordnung des Begehrens strukturiert, den Code – in Lacans Sprache –, der die metaphorischen Bewegungen erlaubt, in denen sich Männer und Frauen als Akteure im Spiel des Begehrens konstituieren. Die Texte aus dem 17. und 18. Jahrhundert haben an den Schwierigkeiten, die aus seiner Auflösung entstehen, die Leistungskraft dieses Codes sichtbar gemacht.
14Das
ist trivial. Dass man es sagen muss, zeigt wieder einmal, dass es in der Geschichtsschreibung zur Geschlechterbeziehung keine zusammenhängende Diskussion und daher auch keinen Diskussionsstand gibt. 15Zum Beispiel in dem einflussreichen Werk von Georges Duby.
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Die gegenwärtige Diskussion wird bestimmt von der Ablehnung des alten Systems und der Perspektive der Emanzipation. Die zentrale Frage ist die der Konstruktion von Geschlechterrollen und Machtverhältnissen. Es könnte aber allmählich lohnend und möglich sein, die Frage der Konstruktion des Begehrens ins Spiel zu bringen und das alte System, anstatt es immer wieder zu kritisieren, auf die Verfahren seines Funktionierens als begehrenserzeugendes System zu befragen.
Literatur Boccaccio, Giovanni. 1951. Il Decamerone [ca. 1350], Hrsg. Angelo Ottolini. Milano. Crébillon fils. 1977. Les Égarements du coeur et de l’esprit, Hrsg. René Etiemble. Paris (Erstveröffentlichung 1736/1738). Lacan, Jacques. 1966. Écrits. Paris. Lacan, Jacques. 1982. Le séminaire livre VI, Le désir et son interprétation [1958–1859]. Teilweise veröffentlicht in Ornicar? Bulletin périodique du champ freudien 1981–1983 (Bd. 25). Ders. 1998 . Le séminaire livre V: Les formations de l’inconscient [1957–1958], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Marivaux, Pierre Carlet de Chamblain de. 1969. Le Paysan parvenu, Hrsg. F. Deloffre. Paris (Erstveröffentlichung 1734/1735). Schneider, Manfred. 1992. Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens. München. Scudéry, Madeleine de. 1654/1660. Clélie. Histoire Romaine. Paris.
Ist die Emanzipation der Frau eine Revolution oder eine Katastrophe? (2000)
„Im großen und ganzen denke ich, dass dies eine Katastrophe für ihn ist, und das ist noch immer besser, als wenn er nie eine Katastrophe erlebt hätte.“ Hannah Arendt
Revolution nennen wir üblicherweise einen Umsturz im Inneren eines geordneten Ganzen, der auch einer immanenten Logik folgt, zum Beispiel was früher unten war, nach oben stellt. Von einer Katastrophe sprechen wir, wenn ein Ereignis von außen in eine Ordnung hereinbricht und wesentliche Funktionen in massiver Weise zerstört. So war die Französische Revolution eine Revolution, was die Klassenstruktur der französischen Gesellschaft angeht, sie war für viele Wirtschaftsbereiche, zum Beispiel für diejenigen, die von dem repräsentativen Konsum der Aristokratie abhingen, eine Katastrophe. Wir können uns – nicht ohne Schwierigkeiten, aber in einer abstrakten Weise doch – vorstellen, dass ein zukünftiger Historiker Entwicklungen dieser Art in den Vordergrund stellen, dass ihm die Französische Revolution als eine Katastrophe erscheinen wird. Das ist es genau, worauf die obige Frage abzielt, auf eine Verschiebung des Kontextes. Was bedeutet Emanzipation der Frau, wenn man den Rahmen wechselt, in dem sie figuriert?1
1Die
im Folgenden skizzierten Überlegungen sind teilweise ausgeführt in dem – zum Begehren komplementären – Kontext einer Geschichte der Identifikation in Waltz (1993): Ordnung der Namen. Sie bilden den Rahmen für ein von Helga Gallas und mir geleitetes
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_17
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Der übliche Rahmen ist die Gesellschaft als ein Raum, in dem durch Kämpfe und Diskurse Machtpositionen und Zugangschancen verteilt werden. Die Frauenbewegung stellt der machtproduzierten Verbindung Ungleicher die freie Beziehung von Gleichen gegenüber. In diesem Zusammenhang ist die Frauenemanzipation offensichtlich eine Revolution. Die Problematik, die zu dem katastrophischen Kontext führt, öffnet sich mit der Frage, wie das Begehren zwischen den Geschlechtern und, damit zusammenhängend, wie der Wunsch nach Kindern hergestellt wird. Wir haben uns daran gewöhnt zu denken, dass „Mann“ und „Frau“ gesellschaftlich produzierte Identifikationen sind. Man kann auch einiges darüber erfahren, in welcher Weise, mit welchen Mitteln diese Identifikationen hergestellt, den Subjekten aufgezwungen, diese in sie hineinverführt werden. Fragt man aber, wie das Begehren zwischen den Geschlechtern produziert wird, stößt man ins Leere. Die verpönte „Natur“ meldet sich hier heimlich wieder: Was analysiert wird, ist die durch Herrschaftsverhältnisse verzerrte, entfremdete Form einer Beziehung; damit ist aber eine reine, auf Gleichheit beruhende Naturform (ohne die es nichts zu entfremden gäbe) vorausgesetzt. Wo sorgfältiger argumentiert wird, etwa bei Judith Butler, ist das zwischengeschlechtliche Begehren Effekt des Diskurses der Zwangssexualität, die biologisches Geschlecht (sex) und kulturell konstituierte Geschlechtsidentitäten zusammenbindet.2 Die implizite Annahme dabei ist (explizit wird das Thema nie behandelt), dass Diskurse der Macht in der Lage sind, regelmäßig (wenn auch nicht ohne Ausnahmen) Begehren zu produzieren. Sobald man das Problem einmal thematisiert, sieht man, dass die Dinge so einfach nicht liegen können. Im Bereich der Erziehung, vom Kindergarten bis zur universitären Lehre, geht es ja um nichts anderes als darum, zu erreichen, dass die Belehrten, was sie tun müssen, auch tun wollen. Jeder Pädagoge weiß, dass ihm die Macht in dieser Hinsicht wenig nützt; seit es die Schule gibt, ist sie bekanntlich ein unausgesetzter und oft verlorener Kampf gegen die Langeweile. Andererseits gibt es triviale Regeln, wie Begehren hergestellt wird. Drei kleine Mädchen, die zusammen tuscheln und das vierte abweisen, beherrschen sie vollkommen; es gibt keine Frau und keinen Mann, die nicht zumindest ein kleines Repertoire von Techniken besäßen; diese Techniken
Forschungsprojekt, das auf der Grundlage von literarischen Quellen der Geschichte der Geschlechterbeziehung als einer Geschichte des Begehrens nachgeht. 2Vgl. Butler (1991 [1990]): Das Unbehagen der Geschlechter, 38, 39.
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sind heute umfangreich professionalisiert; in der Literatur ist ein ungeheures Material zu diesem Thema angesammelt, was Marcel Proust dazu zu sagen hat, könnte man allein in ein Handbuch mittlerer Stärke übersetzen. Der Widerspruch zwischen „nichts ist schwerer herzustellen als Wünsche“ und „jeder beherrscht diese Kunst“ ist leicht aufzulösen. Die Wunschproduktion geschieht nach Regeln, diese Regeln muss man akzeptieren, wenn man sie ausnützen will, es gibt, wie das Beispiel der Schule lehrt, Strukturen, die sich der Aufnahme dieser Regeln widersetzen. Die erste dieser Regeln ist das tautologische Gesetz: Begehrenswert ist, was die anderen begehren. Diese Regel ist richtig, aber offensichtlich ungenügend; nach ihr könnte einfach alles zum Wunschobjekt werden. Eine naheliegende Antwort liegt darin, Wünsche mit Bedürfnissen zu identifizieren. Wenn es so wäre, wäre die Welt vernünftiger; so ist denn auch von Rousseau bis Habermas diese Identifizierung ein Grundgedanke der Aufklärung. Die Wirklichkeit ist offenbar anders; wohl können Bedürfnisse das Material für Wünsche liefern, aber meistens wünschen wir uns Dinge, die wir nicht brauchen. Der Erste, der, soweit wir wissen, sich systematisch darüber Gedanken gemacht hat, dass man das Gute nicht selbstverständlich begehrt, ist bekanntlich Plato. Die im Prinzip schlichte Lösung, dass es eine hierarchische Ordnung begehrenswerter Dinge gibt – die Schönheit des Körpers verweist auf die der Seele etc. –, hat lange standgehalten, so lange, um bei diesem Beispiel zu bleiben, bis die bloße Schönheit der Körper als fade erschien und weitergehende Stimulanzen verlangt wurden. Eine moderne Theorie des Begehrens kann nicht mehr von einem Kanon der Objekte ausgehen, sie muss umgekehrt die Mechanismen darlegen, wie Wünsche Objekte herstellen.3 Früher sagte man: Die männliche Kraft (Jugend, Mut …) lässt die Frauen begehren, die weibliche Schönheit (Hingabe, Witz …) lässt die Männer begehren. Wir fragen: Welche Konstellation des Begehrens produziert Mann/Frau als Wunschobjekte? Zuerst ist ein Vorurteil beiseitezuräumen: Wir – seit der Romantik – heiraten aus Liebe, früher wurde man von der Familie nach ökonomischen bzw. Statusgesichtspunkten verheiratet. Eine einfache Überlegung genügt. Auch heute begehrt die Frau nicht den Mann pur, die Verbindung einer Seele mit einem Geschlechtsteil, sondern sie liebt ihn, weil …, und dann erscheinen allerlei Eigenschaften. Heute wäre es geschmacklos, wenn der soziale Status unter
3Freud
tut das in impliziter Form, Lacan hat seine Systematisierung des psychoanalytischen Denkens um diese Problematik herum aufgebaut.
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diesen liebenswerten Eigenschaften auftauchte. Früher wäre es selbstverständlich gewesen. Nun war früher der Status eine innere Eigenschaft, wie heute vielleicht die Liebe zur klassischen Musik; ein Graf war nicht ein Mensch mit dem sozialen Status „Graf“, sondern er war ein Graf. Erst das 18. Jahrhundert hat diese Verbindung aufgelöst, seitdem gilt der Status als etwas dem Menschen Äußerliches. Aber da ist noch ein zweiter Einwand: Heute kann man wählen, früher wurde man zusammengebracht. Aber das heißt doch nur, dass wir heute glauben, dass ein besonderes Individuum ein anderes besonderes Individuum liebt, während man früher dachte, dass Mann und Frau sich von Natur lieben und es genügt, sie unter einigermaßen günstigen Umständen zusammenzuführen. Die Präferenzen waren weniger wichtig, Präferenzen gab es natürlich auch, wenn auch nach anderen Kriterien. Diese sehr provisorischen Gedanken sollen plausibel machen, dass auch Begriffe wie „Liebe“, „Ökonomie“, „soziale Position“ ihre Bedeutung im Inneren von kulturellen Systemen haben. So methodenbewusst die Sozialgeschichtsschreibung in der Auswahl und Auswertung der Quellen verfährt, so naiv ethnozentrisch ist sie fast immer in der Verwendung ihrer Grundbegriffe. Natürlich entgehen wir dem Ethnozentrismus nie; wir können nur denken, was wir denken können. Andererseits kennen wir die Grenzen dessen, was wir denken können, nicht; und eines der interessanten Dinge in der Beschäftigung mit fremden Kulturen – und unsere eigene Tradition ist in vieler Hinsicht eine fremde Kultur – liegt darin, an diesen Grenzen zu arbeiten. Zu sagen, was in der vorbürgerlichen Welt Frauen und Männer in der Dimension des Begehrens sind, setzt also – explizit oder implizit – die Konstruktion einer Geschichte des Begehrens voraus. Wenn man eine ganz grobe Formel sucht, so könnte folgende genügen: In der Alten Welt beruht das soziale Band auf Begehren und Schuld, in der Moderne auf Selbsterhaltung und Macht. Weil Begehren immer den tautologischen Charakter hat, Begehren nach dem Begehren des anderen zu sein, ist es in sich vergesellschaftend. Wir wollen hier alle Verfahren, die auf diesem Prinzip Kollektive begründen, Spiele nennen, weil in unserer Gesellschaft Spiele eine Organisation des Begehrens sind, bei denen Probleme der Selbsterhaltung und der Macht ausgeklammert werden. Unsere Geschichtsschreibung – vielleicht ist das das Prinzip der Geschichtsschreibung überhaupt, im Gegensatz zur Literatur – betrachtet die Spiele als die Oberfläche, durch die man hindurchschauen muss, Macht und Selbsterhaltung als das Wesen, worauf man zu schauen hat. Wenn das Wesen das ist, was siegt und dauert, dann hat sie Recht; wir haben uns anders entschieden und wollen das Wesen in den begehrensproduzierenden Spielen sehen.
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Sich für eine Geschichte der Spiele zu interessieren, heißt aber, dass man in der Geschichtsschreibung das sehen muss, worauf nicht zu schauen diese stolz ist. Trotzdem kann man viel finden: In den Untersuchungen über den Begriff der Ehre, zum Beispiel in Bourdieus frühen Texten über die kabylische Kultur,4 in Blochs klassischem Werk über den Feudalismus; es gibt eine berühmte Darstellung des ersten dieser Spiele – das vielleicht sogar das fundamentale, das Spiel aller Spiele ist –: die Theorie von Mauss5 und Lévi-Strauss6 über den archaischen Tausch der Güter und der Frauen. Wenn man den Versuch über die Gabe und die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft mit heutigen Augen liest, dann sagen sie, dass das, was wir den Menschen nennen, ein Effekt dieses Spiels ist. In der Geste, in der ein Wesen etwas, das sich genießen ließe, dazu verwendet, in einem anderen Schuld zu erzeugen, kann man alles figurieren, was ein menschliches Wesen ausmacht: Es entstehen „Personen“, Identitäten, die durch diese Geste selbst erzeugt sind und eine Existenz jenseits aller empirischen Realität haben; aus irgendetwas, das für niemanden etwas Bestimmtes ist, ist ein Gläubiger oder ein Schuldner geworden; und sie werden immer Wesen bleiben, die sich Schuld und Gabe zurechnen lassen. Zugleich werden aus Objekten, deren Bedeutung dem Wechsel der Bedürfnisse folgt, eine Welt fester Gegenstände, deren Bedeutung durch das Spiel von Schuld und Begehren festgelegt ist. In der Radikalität, mit der archaische Gesellschaften Produktion und Konsum durch Verbote trennen – wenn etwa der, der Wasser trinken will, es von dem als Gabe empfangen muss, der es schöpft –, kann man die Härte erkennen, mit der diese Verwandlung einmal durchgeführt werden musste. Aus dem Gleiten der reinen Gegenwärtigkeit wird eine Zeit, die zwischen Gegenwart und Zukunft aufgespannt ist, eine Zeit des Rechnens und Erzählens. Das Tauschschema realisiert im Sozialen diesen Übergang, den die Psychoanalyse, und mit besonderem Akzent die lacanistische, als den Verlust der Beziehung zur archaischen Mutter und als Kastration beschreibt, den Übergang, der in der Psychose vermieden ist, der in literarischen Erfahrungen – etwa in Sartres Ekel – oder in etwas wie der buddhistischen Erleuchtung rückgängig gemacht wird. Bei Mauss und Lévi-Strauss (oder kürzer in den frühen Arbeiten Bourdieus über die Ehre und das Geschlechterverhältnis bei den Kabylen) kann man sehen, in welcher Form – der Potlatsch ist davon der bekannteste – das Spiel
4Vgl.
Bourdieu (1976 [1972]): Entwurf einer Theorie der Praxis. Mauss (1968): Essay sur le don. 6Vgl. Lévi-Strauss (1967): Les formes élémentaires de la parenté. 5Vgl.
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des Tauschs Gesellschaften organisiert. Die Feudalordnung, das System von Kränkung und Rache, die Fehde sind solche Spiele. Wenn Montesquieu7 die alte monarchistische der neuen republikanischen Welt entgegenstellt, dann folgt er dieser Linie der Unterscheidung: Die Monarchie ist ein Spiel der Ehre und der Reputation, bei dem der Monarch der Schiedsrichter ist. Er bewundert es, weil in diesem System der Zusammenhalt der Gesellschaft erreicht wird, ohne irgendwo Motiv zu sein. In der republikanischen Tugend ist die Selbsterhaltung der Republik selbst unmittelbar das Motiv; das ist ein Jenseits aller Spiele, und es fällt Montesquieu schwer, wie es bis heute allen Ethiken in dieser Tradition schwerfällt, plausibel zu machen, wie ein solches Motiv funktioniert. Allen diesen Spielen gemeinsam ist der Begriff der Ehre. Dieser Begriff sagt, dass etwas Äußeres zum Innersten der Person gemacht ist und dass dieses Innere/Äußere höher einzuschätzen ist als die Erhaltung des Lebens. Der eigentliche Träger dieser Ehre, der Ort, dem sie zugerechnet wird, ist nicht der Einzelmensch, sondern die Familie im Sinn der Erblinie. Damit ist gesagt, dass die Ehre nicht nur Recht, sondern immer auch Schuld ist; man kann das nachlesen in Molières Dom Juan,8 in der Rede, die der Vater dem Sohn hält, dessen libertäre Revolte ihren Kern darin hat, dass er sich dieser Schuld verweigert. Was sind in diesem System Frauen und Männer als Objekte des Begehrens? Ein Mann ist ein Spieler in dem Spiel, in dem die Ehre den Einsatz bedeutet. Wenn er sich als Person sehen lernt, dann in diesem System der Schuld, der Rechte und der Imperative, die sich aus den Spielregeln ergeben. Dass das Subjekt in eine Spielposition hineingeboren wird, bedeutet natürlich nicht, dass es in diesem Spiele aufgeht und mit ihm restlos zusammenfällt. Wo wir Diskurse der Ehre finden, sprechen sie als Imperative, die man lieben und fürchten, denen man widerwillig, gar nicht oder mit Leidenschaft folgen kann. Nie sind die Spiele, aus denen eine Gesellschaft besteht, unter sich widerspruchsfrei; das bedeutet: Es gibt so etwas wie ein Subjekt außerhalb der Spiele, das sich entscheidet. Die Frau ist zuerst einmal die Ausgeschlossene: Sie spielt nicht mit. In dem Spiel ist sie Objekt, ein fundamentaler Teil des Einsatzes: sexuelles Objekt, Mutter der Kinder, innig verbunden mit dem Reichtum und den sozialen Verbindungen, die man mit ihr zusammen gewinnt. Objekt natürlich nur in der Perspektive des Spiels; ebenso wenig wie der Mann mit dem Spieler zusammen-
7Vgl. 8Vgl.
Montesquieu (1964 [1748]): Esprit des Lois, Buch IV, Kap. 2. Molière (1951 [1622/1673]): Dom Juan ou le Festin de pierre, Akt IV, Szene 4.
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fällt, ist die Frau Objekt; ebenso wie man in hundert verschiedenen Arten dasselbe Spiel spielen kann, kann die Frau in hundert Arten kostbar sein. Aber die Position im Spiel alleine definiert nicht die Geschlechterbeziehung, man muss sich auch daran erinnern, was der Preis des Zugangs zu den Spielen war: die Trennung von diesem unfassbaren ersten Weltverhältnis, die Verwandlung von Objekten in Zeichen, die Unterwerfung unter die Zeit- und Raumstruktur, die von den Regeln hergestellt wird, die Anerkennung des spezifischen Körpers und Geistes, die die Spiele verlangen und anerkennen. Dass die Frauen dieses Opfer nicht bringen müssen, entspricht dem, was immer über ihre enge Beziehung zur Natur, zum Körper, ihre tiefe Weisheit, ihre magischen Fähigkeiten gesagt worden ist. Und schließlich verkörpert sich in der Frau, gerade weil sie ausgeschlossen ist, in der vollständigsten Weise die Unterwerfung unter die Gesetze von Ehre und Familie. Die Spiele haben immer die beiden Dimensionen, sie sind der narzisstische Kampf um Geltung und die Hingabe an das, was verlangt ist. Bei den Männern verdeckt das eine häufig das andere. Die Frauen, denen die narzisstischen Vergnügen verwehrt sind, können – wie Andromache in der Ilias – das vertreten, was das System als Ganzes verlangt. Im Ursprung des Begehrens ist ein Mangel, für den es keine Befriedigung gibt. Sexuelles Begehren produzieren heißt, dem Mangel Form und Objekt zu geben. Was der Frau fehlt, ist das Begehren, das sich in den Spielen der Ehre herstellt. Jeder Mann besitzt, was ihr ganz und gar fehlt und was sie nur durch ihn erwerben kann, in der Weise, dass sie es nie besitzt. Daher kann der Mann für die Frau die symbolische Ordnung selbst, die Ordnung von Begehren und Schuld verkörpern; sie begehrt in ihm, in Lacans Sprache, den großen Anderen. Der Mann begehrt in der Frau den wertvollsten Besitz, aber vor allem auch das, was er hat aufgeben müssen, um Mann zu sein: die Fähigkeit zu genießen. Deswegen ist die Frau, im Guten wie im Bösen, das Symbol der Lust. Innerhalb der Spiele ist der Mann begehrt für das, was er jeweils einem anderen voraushat, also nur für einen kleinen Teil dessen, was er ist. Gegenüber der Frau ist er, was diese nicht hat, er ist die Verkörperung des Spiels; nur in der sexuellen Begegnung ist er ganz und gar er selbst, genießt er ein Wesen, das nur hier wirklich wird. Die Frau wiederum, deren Alltag außerhalb der großen Formen des Begehrens liegt, wird begehrenswert als Bild von allem, was der Mann geopfert hat. Die Beziehung der Geschlechter ist immer als eine Beziehung der Gabe gesehen worden: Der Mann gibt sich dem Spiel, die Frau gibt sich dem Mann, für den sie der innerste Kern seiner Ehre ist. So ist in verschiedener Weise jeder, was er ist, durch den anderen. Weil Männer und Frauen Systemfiguren sind, impliziert diese Abhängigkeit keine Leidenschaft in einem modernen persönlichen Sinn.
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Leidenschaft wird sie erst, wenn der kodifizierte Rahmen sich auflöst. So kennen wir sie in den großen Liebesgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts; eine Leidenschaft, die tödlich ist, einfach weil sie sich nicht auf eine konkrete Beziehung des Austauschs öffnet. Das System produziert Männer und Frauen als Figuren des Begehrens, und es produziert Mütter, die Kinder begehren und sie lieben können. Für die Väter sind Kinder Nachfolger und Wertobjekte, die Mütter begehren in den Kindern das, was sie mit der Welt der Spiele verbindet und sie dort in gewisser Weise repräsentiert; und als nicht durch das Spiel Geformte können sie die Kinder lieben, ihrem Verhältnis zu den Dingen, ihrer Zeit folgen, ihre Körper wahrnehmen. Im Bereich der Herrschafts- und Wirtschaftsstrukturen ist die Modernisierung ein revolutionärer Prozess gewesen, dem man ein Subjekt unterlegen kann; er hat bestehende Strukturen wahrgenommen und umgebaut. Für die Funktion der alten Gesellschaftsorganisation, Begehren und Identifikationen für das Begehren zu erzeugen, ist dieser Prozess blind gewesen. Hier konnte er nur wie eine schleichende Katastrophe wirken. Das gilt auch für die Geschlechterbeziehung, die ein tragender Teil dieses Systems war, und für die Emanzipation der Frau. Was für Folgerungen ergeben sich, wenn man diese Überlegungen auf die Gegenwart anwendet? Alles hängt ab von der allgemeinen Geschichte der Spiele. Auch heute noch – Bourdieu hat das gezeigt – kann man die Gesellschaft als ein Ensemble von Spielen beschreiben. Allerdings erscheint das, was Bourdieu in den Feinen Unterschieden9 beschreibt, wie eine Reduktionsform der alten Spiele der Ehre. Diese waren alle nach dem Prinzip der wechselseitigen Gabe aufgebaut und gehorchten der Ethik, die Schuld und Begehren koppelt. Wenn die Familien die eigentlichen Eigentümer der Spielpositionen waren, so heißt das, dass die ödipalen Identifizierungen gleichzeitig die sozialen waren, was diesen auch einen anderen Sinn gibt: Wenn das Kind sich mit Vater oder Mutter identifiziert, das heißt sich als potenziellen Erwachsenen zu sehen beginnt, dann sieht es sich in einer durch eine bestimmte Schuld und einen bestimmten Horizont des Begehrens definierten Position. Was Bourdieu beschreibt, sind rein narzisstische Spiele der Rivalität, aus denen die Dimension der Verpflichtung – sowohl die Schuld der Mitspielenden untereinander wie die Verpflichtung gegenüber der genealogischen Familie – herausgefallen ist. Damit verlieren die Positionen ihre identifizierende
9Bourdieu
(1987 [1979]): Die feinen Unterschiede.
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Kraft; dem entspricht auf der semantischen Ebene, dass Ehre und Schuld Begriffe sind, die auf die aktuelle Gestalt der Spiele nicht mehr anzuwenden sind. Männlichkeit war bestimmt als Unterwerfung unter die Forderung der Spiele, als Opfer, Schuld, Stolz und Begehren. Davon übrig geblieben ist etwas Widersprüchliches: die narzisstische Reduktionsform des Yuppies auf der einen Seite, andererseits der unbegründbare Imperativ, dass man sich den Spielen nicht entziehen darf, und die Sehnsucht, in den Spielen einen Sinn jenseits der narzisstischen Dimension zu finden. Durch dieses Widersprüchliche muss man definieren, was man heute „Mann“ nennen kann. Die einsinnige Männlichkeit existiert fast nur noch in den Augen derjenigen Frauen, die an dem Glauben festhalten, dass das, was ihnen fehlt, anderswo eine Wirklichkeit hat. Der fundamentale durch das Prinzip der Spiele selbst erzeugte Mangel, der die Sehnsucht nach der Frau als dem ganz Anderen erzeugt, ist immer noch da; und er produziert die wunderbaren und schrecklichen Frauenbilder, von denen auch heute noch jeder Mann seine private Sammlung in sich trägt, aber in denen sich die Frauen nicht wiedererkennen mögen. Die Frauen können jetzt das, was sie früher über den Mann begehrt hatten, für sich selbst wünschen. Allerdings wollen sie den Zugang zu den Spielen gerade in dem Moment, wo die Spiele ihre Kraft verlieren. Wenn sie das nicht reizt und sie ein eigenes weibliches Selbst suchen, dann können sie auch nur finden, was eben da ist: das Andere als das Formlose, dem Wahnsinn Nahe. Die einzige handhabbare Identität haben sie als unterdrückte Frauen; darum ist es lustvoll, sich um die Unterdrückung zu versammeln. Wo diese nicht mehr greift, gibt es für die Frauen wie für die Männer keine Identifikationen mehr, in denen sie sich wiederfinden können. Wenn die Frauen dem Wunsch, mitzuspielen, folgen oder sich mit ihrer Rolle in den Spielen identifizieren, dann haben sie den Mangel verloren, der sie für die Männer und die Männer für sie kostbar macht. Und die Frauen, die nach der alten Weise lieben, finden vielleicht Männer, die Sehnsucht nach ihnen haben, aber nicht die, die sie brauchen. Solche Bilder fügen den vielen Untergangs- und Verlustgeschichten, die wir kennen, eine weitere hinzu. Wenn es Verluste gibt, so ist es auch richtig, sie zu benennen, aber doch nur, um zu erleichtern, das Verlorene auch aufzugeben.10 Es gibt einen anderen interessanteren Umgang mit dieser Katastrophe.
10Der
Spezialist dieser Verlustgeschichte im Bereich der Geschlechterbeziehung ist Botho Strauss. An seinem Beispiel wird sehr deutlich, wohin es führt, wenn man das Bewusstsein eines Verlusts zu dem Ort eines wahren Wissens über unsere Zeit aufbläht.
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Eine Katastrophe ist immer noch besser, als wenn man nie eine erlebt hätte. Dieser eingangs zitierte Gedanke von Hannah Arendt kann den trivialen Sinn haben, dass der Zustand vor der Katastrophe ein schlechter war – das gilt natürlich für das traditionelle Verhältnis der Geschlechter. In der zweiten Lesart bekommt das Wort einen anderen Sinn. Wenn man das Wesen einer Ordnung in ihrem faktischen Bestand sieht, dann ist eine Katastrophe nichts als Zerstörung. Wenn man konkrete Ordnungen als Effekte einer Performanz versteht, dann bedeutetet eine Katastrophe zwar auch Zerstörung, Verwirrung und Schmerz, aber auch die Freisetzung einer Produktivität. In der Katastrophe geht etwas verloren, was bisher Rahmen und nicht thematisierte Grundlage des Lebens war; eben deswegen ist die Katastrophe auch eine Nebenfolge von Aktivitäten, die sich im Bereich der gemachten und erinnerten Geschichte abspielen. Im Verlust streift das Verlorene den Schleier der Selbstverständlichkeit ab und wird sichtbar. Was bisher Grund des sozialen Lebens war, wird jetzt dessen Gegenstand. Daher ist ein Effekt einer Katastrophe, dass der Bereich dessen, was Geschichte ist, sich erweitern kann. Wo bisher in einer historisch-soziologischen Perspektive über Geschlechterverhältnis nachgedacht worden ist – etwa bei Luhmann, Beck, Giddens –, ist dieses Denken von der modernen, das heißt der romantischen Konzeption der Liebe geleitet. Die Problemhorizonte sind die Intimität, das Sichverstehen, die Konflikte zwischen Bindung und individueller Selbstverwirklichung. Dabei wird immer noch stillschweigend der Natur zugerechnet, was hinter dem permanenten Wandel der Liebeskonzeptionen liegt: die Herstellung des Begehrens und die fundamentalen Bestimmungen dessen, was Männer und Frauen in der Dimension des Begehrens sind. Auf dieser Ebene liegt aber der entscheidende Bruch. Wenn man ihn wahrnimmt, kann sich die Katastrophe in produktive Geschichte verwandeln.
Literatur Bourdieu, Pierre. 1976. Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1972). Ders. 1987. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1979). Butler, Judith. 1991. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1990). Lévi-Strauss, Claude. 1967. Les structures élémentaires de la parenté. Paris. Mauss, Marcel. 1968. Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In Sociologie et Anthropologie, Hrsg. Marcel Mauss, 143–279. Paris.
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Molière. 1951. Dom Juan ou le Festin de pierre [1622/1673]. In Œuvres completes, Hrsg. Maurice Rath. Paris. Montesquieu, Charles de. 1964. Esprit des Lois [1748]. In Œuvres completes, Hrsg. Daniel Oster. Paris. Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M.
Eine Konstante in der Geschichte der Geschlechterdifferenz: Decamerone, Rouge et Noir, Being John Malkovich (2005)
Im Folgenden möchte ich zwei berühmte Texte und einen Film von 1999 mit einer Linie der Theorie der Geschlechterdifferenz zusammenbringen, in der Hoffnung, der Theorie mehr Körper zu geben und in den Texten strukturelle Logiken erscheinen zu lassen, die sonst nicht sichtbar wären und die erlauben, Beziehungen zwischen den Texten herzustellen. Ich beziehe mich auf den in diesem Kontext wichtigen Lévi-Strauss’schen/Lacan’schen Theoriekomplex und möchte aus diesem Komplex die Aspekte herausgreifen, die sich als Rahmen für eine historische Beschreibung des Geschlechterverhältnisses eignen. Die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft1 entfalten eine Hypothese über die Entstehung der Menschheit und des Geschlechterverhältnisses. In einem und demselben Ereignis, in der Emergenz des Systems des Frauentauschs, entsteht Gesellschaft, wird das soziale Band geknüpft, in dem Menschen zu Menschen werden, und werden die Geschlechter in Opposition zueinander bestimmt. Im Sprachgebrauch der Soziologen bezeichnet das soziale Band gewöhnlich die Beziehung zwischen Menschen, die als der Beziehung vorgängig gedacht werden. Für Claude Lévi-Strauss liegt das soziale Band auf der Ebene der Konstitution, es erschafft die Menschen, indem es sie in Beziehung setzt. Und es erschafft sie sofort als Männer und Frauen. Der Frauentausch ist also auch das Prinzip der Konstitution der Geschlechterdifferenz. An dem Grundgedanken
1Lévi-Strauss
(1967): Les formes élementaires de la parenté.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_18
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des symbolischen Tauschs, den Lévi-Strauss von Marcel Mauss2 übernimmt, möchte ich einen Aspekt hervorheben. Der Tausch schafft Eigentum, in dem doppelten Sinn von tauschbaren Objekten und von Positionen in Tauschsystemen; dabei werden letztere in den archaischen Gesellschaften von Sippen besetzt und sind mit „Produktiveigentum“ verbunden, das heißt mit solchem Eigentum, das Tauschobjekte produziert, zum Beispiel Jagdrechte. Von dem Eigentum in Tauschsystemen kann man genauso gut sagen, dass die Subjekte ihr Eigentum besitzen, wie dass sie von ihm besessen werden. Jedes Eigentum ist situiert in einem Netz von Rechten und Verpflichtungen, in dieser Eigenschaft bindet es seine Besitzer. Diese Beziehung nennt Lacan symbolische Identifikation. Durch ihr Eigentum werden die Subjekte im sozialen Raum bestimmt, durch das Eigentum werden sie untereinander vergleichbar, sie können es weitergeben, sich mit Gaben verbinden, und vor allem bildet das Eigentum das Medium, in dem sie konkurrieren können. Dieses soziale Band unterscheidet die Menschen in die, die Eigentum haben, und in die, die Eigentum sind; das Merkmal, nach dem man in die beiden Klassen sortiert wird, ist der biologische Geschlechterunterschied. Diese Teilung spaltet das Soziale in zwei verschiedene Räume. Die Männer konstruieren sich über das Eigentum und die Rechte und Pflichten, die mit den Eigentumspositionen verbunden sind. Der erste Imperativ in den alten Sozialordnungen ist der der Identifizierung, Männer müssen ganz und gar das sein, was sie haben. Ein Imperativ, der Unmögliches verlangt, schon deswegen, weil die Männer auch Lebewesen sind.3 Die Männer leben im Raum der Signifikanten. Von dieser Identifizierung aus müssen sie ihr Begehren, die Anlage ihrer Welt ganz und gar bestimmen. Der Begriff, der den Identifikationsimperativ bezeichnet, ist die Ehre, die, wie Marcel Mauss herausstellt, ein wesentliches
2Vgl.
Mauss (1968): Essay sur le don. jeder Identifizierung innewohnende Unmöglichkeit, ganz zu sein, was man ist, wird gerade in der Diskussion um geschlechtliche Identifikationen immer wieder hervorgehoben (sehr sorgfältig von Copjec (2004 [1994]): Lies mein Begehren; bei Homi K. Bhabha als durchgehendes Thema und, speziell auf Männlichkeit bezogen, in ders. (1995): Are You a Man or a Mouse?). Nicht gesehen wird in dieser Diskussion, dass diese Unmöglichkeit auch den Raum für die Möglichkeit gibt, sich immer erneut zu entscheiden; ein Mann als Mann ist gerade das, was er „natürlicherweise“ nicht ist. Diese Entscheidung, und nicht, wie es oft gesehen wird, die Verleugnung der Unmöglichkeit, ganz zu sein, was man ist, ist die Grundlage des Idealtypus der vormodernen Person. Dieses Missverständnis hat offenbar damit zu tun, dass dieser ganze Theoriekomplex sich an imaginären und nicht an symbolischen Identifikationen orientiert, was ja durch die postmoderne Realität auch nahegelegt wird.
3Diese
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Element der Tauschordnungen ist. Die Frauen werden identifiziert. Es wird von ihnen verlangt, dass sie sich ihrer Bestimmung im symbolischen Raum unterwerfen, sie können auch aktiv diese Identifikation übernehmen, das gibt ihnen dann eine besondere Würde; jedenfalls müssen sie nicht ganz und gar von ihr aus leben. Sie leben gleichzeitig auch in einem anderen Raum, in der Lacan’schen Sprache: in einem für das Reale offenen Raum, einem Raum, der zwar auch von dem Symbolischen beherrscht wird, aber beherrscht nur im Sinn der Einordnung und Begrenzung. Das Prinzip der Vergleichbarkeit organisiert nicht alles. Es können in diesem Raum, um nur einen Zug zu nennen, auch Lebewesen existieren, die erst zu Menschen werden sollen. Diese Theoriekonstruktion erlaubt es auch, das Begehren zwischen den Geschlechtern als einen Effekt der subjektivierenden Funktion dieser Teilung zu verstehen. Das Begehren selbst, das ist ein Lacan’scher Grundgedanke, ist nichts Natürliches, hat nichts mit dem Bedürfnis zu tun, sondern ist ein Effekt der Tatsache, dass der Mensch in der Begegnung mit dem Signifikanten, mit der symbolischen Ordnung zum Menschen wird. Ein Effekt auf zwei Ebenen: Das Symbolische stellt den Menschen in die Dimension des Vergleichs, die Beziehung zu den anderen ist immer wesentlich eine des Vergleichs und der Konkurrenz. Damit entsteht die Dimension des phallischen Begehrens, das die menschliche Wirklichkeit bestimmt; alle Begehrensobjekte werden begehrenswert nicht in Bezug auf Bedürfnisse, sondern in ihrer Bedeutung in einem Vergleichssystem. Und insofern jeder Vergleich eine Instanz voraussetzt, die bestimmt, worin verglichen wird, und die die Regeln der Konkurrenz festlegt – die Instanz, die Lacan den großen Anderen nennt –, ist jedes Begehren auch das Begehren des großen Anderen. Nur was von ihm aus gesehen begehrenswert ist, ist ein Wert. Auf der anderen Seite ist die symbolische Identifikation auch ein Opfer, das Opfer der unmittelbaren Beziehungen zur Wirklichkeit, des direkten Genusses. Dieses Opfer produziert das Begehren nach dem Verlorenen. Die Teilung des sozialen Raums verwandelt diese Struktur in eine Struktur des Begehrens zwischen den Geschlechtern. Die Männer als Eigentümer haben Teil an dem Spiel des phallischen Begehrens, die Frauen sind davon ausgeschlossen. Daher begehren die Frauen in jedem Mann das, was sie nicht haben, den Zugang zur symbolischen Ordnung, den Phallus. Die Männer begehren in den Frauen das, was diese nicht in demselben Maße verloren haben wie sie selbst, das, was Lacan die jouissance oder das Reale nennt, den vor-symbolischen Zugang zur Wirklichkeit.4
4Der
hier angedeutete theoretische Rahmen ist ausgeführt in Waltz (1993): Ordnung der Namen; vgl. hierzu den Abschn. Ist die Emanzipation der Frau eine Revolution oder eine Katastrophe?
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An drei Beispielen möchte ich drei Momente in der Geschichte dieses gespaltenen Raums vorführen. Dabei hat das erste Beispiel, eine Novelle des Decamerone, vor allem die Funktion, die alte Form als Hintergrund zu evozieren; in Rouge et Noir geht es um die romantische Umstrukturierung des Raums, in Being John Malkovich um seine postmoderne Aufsplitterung. Boccaccio: Decamerone IV, 1 Tancred, der Fürst von Salerno, will sich nicht von seiner jungen, schönen und klugen Tochter Ghismonda trennen und versäumt es, diese, die nach einer kurzen Ehe verwitwet ist, wieder zu verheiraten. Ghismonda ist aber nicht gewillt, auf die Freuden der Liebe zu verzichten, sie wählt unter den Männern ihrer Bekanntschaft einen in Verhalten und Sitten edlen jungen Mann aus und geht mit ihm eine Beziehung ein. Als der Vater die Beziehung entdeckt und den Liebhaber töten lässt, verhält sie sich nicht wie eine „dolente femina o ripresa del suo fallo“, sondern als „non curante e valorosa“; sie besteht auf ihrem Recht, wenn ihr die Ehe verweigert wird, sich einen ihrer Position angemessenen Liebhaber zu suchen, und sie bestätigt diese Liebe, indem sie sich den Tod gibt. Von der Geschichte ist mir hier nur das Schema wichtig: Es ist die alte zweigeteilte Welt, die Männer sind mit ihren Eigentumssignifikanten in der symbolischen Ordnung und dessen Imperativen identifiziert; diese Identifikation kann sie dazu bringen zu zerstören, was sie am meisten lieben. Diese Identifikation ist es aber auch, nach der die Frauen bei den Männern suchen und in die sie sich verlieben. Was Ghismonda an ihrem Liebhaber schätzt – die virtù und den Adel seiner Sitten –, ist eine andere Seite derselben Identifikation. Die Frauen sind nicht notwendig identifiziert, sie können – ohne den Status und die Anerkennung als Frau im normativen Sinn des Wortes zu verlieren – wählen, wählen zwischen der Unterwerfung und der Identifizierung. Ghismonda ist dadurch würdig, Heldin einer Novelle zu werden, dass sie die Identifizierung wählt, dass sie in einer „männlichen“ Weise ganz Frau ist. Gewöhnlich interpretiert man die Novelle als den Aufstand einer Frau gegen die alte patriarchale Ordnung, und damit als einen Hinweis auf die in der Renaissance sich ankündigende Moderne. In unserer Fokussierung sieht man, dass die alte Aufteilung der Bereiche hier noch voll gültig ist. Verschiedene Subjektpositionen der Frau, verschiedene Interpretationen des normativen Systems, auch Verstöße gegen dieses gehören zu dieser Ordnung der Räume.
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Stendhal: Rouge et Noir, Teil I, Kap. 6, L’ennui Der Text, der uns hier beschäftigt, beschreibt eine erste Begegnung, den Beginn der großen Liebe, die den Roman beherrschen wird. Julien ist der Sohn des Besitzers einer kleinen Sägerei; in seiner Familie ist er fremd; er ist besessen von der Idee, Karriere zu machen, unter den Bedingungen der Restauration scheint ihm der geistliche Weg der Erfolg versprechende. Madame de Rênal ist die Frau des adligen Bürgermeisters der kleinen Stadt, dieser will auf Empfehlung des Pfarrers Julien als Hauslehrer für seine Kinder einstellen. Julien steht nun an dem schmiedeeisernen Tor des vornehmen Hauses, von Schüchternheit gelähmt, traut er sich nicht zu läuten. Madame de Rênal, die ebenso aufgeregt den Besuch des neuen Hauslehrers ihrer über alles geliebten Kinder erwartet, sieht ihn am Tor stehen, hält ihn für einen jungen Bauern und geht ihm entgegen. Der erste Satz unterscheidet die beiden Räume: Wir sind weit weg von den Blicken der Männer, und nur in einem solchen Außerhalb kann Madame de Rênal ihre Lebendigkeit und ihre Anmut entfalten. Und die Beschreibung der Begegnung markiert in mannigfacher Weise, dass auch Julien nicht in die Kategorie der Männer fällt: Der zukünftige Geliebte erscheint fast als Kind, ein Kind, das gerade geweint hat, oder als verkleidetes Mädchen – dieses Motiv wird auch später noch einmal aufgenommen. Die Begegnung zwischen Mann und Frau ist codiert als Begegnung zwischen einer jungen und schönen Mutter und einem Fast-noch-Kind, einem Wesen zwischen Knaben und Mädchen. Jeder soziale Raum schreibt Distanzen vor. Julien und Madame de Rênal sind sich plötzlich ganz nahe, zu nahe nach den sozialen Regeln. Die Nähe stellt sich nicht als Effekt der Liebesbeziehung her, sondern geht ihr voraus; als ein Jenseits der sozialen Ordnung ist sie Bedingung der Liebe, der Raum, in dem diese entstehen kann. Ganz anders als im Decamerone, wo die Liebe im symbolischen Raum der Männer entsteht, unter den Bedingungen des Abstands. Mit der Nähe verbindet sich das Plötzliche, die Überraschung. Für den Hauslehrer ist die feine Dame etwas nie Gekanntes, der Duft ihrer Kleider, der sanfte Ton, in dem sie zu ihm spricht. Madame de Rênal hat einen schmutzigen, pedantischen Priester erwartet, jetzt steht dieser mädchenhaft schöne Junge vor ihr mit den nassen Haaren und den großen schwarzen Augen. Nähe und Überraschung stellen den Raum her, den die Liebe braucht, um zu entstehen. Wie Räume Begehren erzeugen Im Decamerone sind Männer, wenn sie so sind, wie Männer sein sollen, grundsätzlich für Frauen begehrenswert. In Rouge et Noir sind Männer, wenn sie so sind, wie Männer gewöhnlich sind, für Frauen, jedenfalls für die beiden
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Protagonistinnen des Romans, grundsätzlich langweilig oder abstoßend oder beides zugleich. Was ist da geschehen? Was für ein Problem haben wir, wenn wir diese Frage stellen? Welchen Stellenwert hat diese Frage in der Wissenschaft? In der konstruktivistischen Genderdiskussion spielt das Problem, wie die Konstruktion des Begehrens zwischen den Geschlechtern zu denken ist, eine sehr bescheidene Rolle, immer geht es um Regulierungen eines Begehrens, das als solches einfach immer schon da ist.5 Stendhal hat sich mit dem Problem bekanntlich lebenslänglich auseinandergesetzt, sowohl auf der begrifflichen Ebene wie implizit in der Strukturierung seiner Romane. René Girard6 hat die in den Romanen implizierte Theorie des Begehrens ausgearbeitet. Es ist nicht eine deskriptive, sondern eine konstruktivistische Theorie; es geht um die Herstellung von Begehren. Ich möchte hier – sehr verkürzt – Girards Analyse in den oben skizzieren Rahmen stellen. Was die Frauen in dem alten System begehren, sind Männer, die ihre Identifikation in der symbolischen Ordnung auf sich nehmen und bejahen. Genau das können die Männer in Rouge et Noir nicht. Sie leben in der permanenten Furcht vor dem Bild, das die anderen von ihnen haben könnten. Girard hat es brillant ausgeführt: Was sie eigentlich fürchten, ist die Verachtung, die sie selbst für sich in sich tragen. Die Selbstverachtung ist gerade Effekt der Tatsache, dass sie mit dem, was sie darstellen, nicht innerlich verbunden sind, es nicht bejahen können. Stendhal datiert diese Zerstörung des alten Geschlechterverhältnisses, das er nostalgisch bewundert, mit der Französischen Revolution. Damit hat er nicht ganz unrecht. Die Aufklärung hat mit den Eigentumsverhältnissen auch etwas sehr viel Grundlegenderes zerstört: das alte Konzept des Eigentums als eine Position in einem Netz von Rechten und Verpflichtungen und damit die Legitimität der Identifikation des Subjekts mit seiner Eigentümerposition. Eigentlich weiß man jetzt, dass der Mensch nicht das ist, was er besitzt. Dieses
5Das
gilt zum Beispiel auch, um einen der Orte zu nennen, wo das Problem überhaupt angesprochen ist, für die Überlegungen von Butler über die Melancholie der Heterosexualität, die aus der Verleugnung der ursprünglichen homosexuellen Neigungen des Kindes entsteht. Vgl., als einen von vielen Texten, Butler (1995): Melancholy Gender/Refused Identification. 6Vgl. Girard (1961): Mensonge romantique et vérité romanesque.
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Wissen hebt die Grundlagen der alten Männlichkeit auf,7 diese wird nur noch in dem Modus der Subjektposition lebbar, für die Jean-Paul Sartre den Begriff der mauvaise foi erfunden hat. In der Wirklichkeitswahrnehmung des Romans hat sich die alte Zweiteilung der Geschlechter kompliziert. Der Raum der Männer ist gespalten. Ein Teil beherrscht die Welt, aber die Regeln dieser Herrschaft formen die Subjekte in einer Weise, dass die Frauen sie nicht mehr begehren können. Es gibt eine andere Gruppe von Männern, die aus der Männerherrschaft ausgeschlossen sind bzw. sich ausschließen. Diese Männer, wir wollen sie die „Romantiker“ nennen, wechseln in den Raum der Frauen. Der Raum der Frauen hat sich aber seinerseits verändert. Geblieben sind der Zustand außerhalb der Identifikationen und die Offenheit für das Reale. Zugleich ist dieser Raum nur noch äußerlich dem Gesetz der Männerwelt unterworfen. Es gibt ein zweites Gesetz, das allerdings keine soziale Realität hat, nur durch den Glauben der Frauen getragen ist. Der Roman würde nicht funktionieren, wenn Madame de Rênal nicht eine wirklich fromme Frau wäre. Liebe ist in diesem Raum nicht mehr die Begegnung zwischen zwei Geschlechtern, die als unterschiedliche festgelegt sind, sich in dieser Verschiedenheit begehren und sexuell genießen. Liebe ist in ihrem innersten Kern symbiotische Verschmelzung. Der Roman ist der Weg zu diesem Ziel; er lebt davon, dass dieser Weg langwierig ist. Am Anfang ist Julien der Mann, der die Männlichkeit als abgelehnte in sich trägt, Madame de Rênal die Mutter, nicht die Mutter des Inzests, sondern die Mutter, die das Gesetz aufrechterhält. Diese Positionen machen eine ehebrecherische Beziehung möglich, weil sie den symbiotischen Inzest verhindern, aber damit verhindern sie auch die wirkliche Befriedigung. Am Ende hat Julien mit seiner Angst vor der Verachtung der Männer seine Bindung an diese, Madame de Rênal ihre Unterwerfung unter das den Inzest verbietende Gesetz aufgegeben. Jetzt ist die Liebe ihrem Ziel so nahe, wie es möglich ist: Es gibt kein inneres Hindernis mehr, nur noch ein äußeres, die Tatsache, dass Julien im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet. Das ist die Form der Bewahrung des Abstandes, die das größte denkbare Liebesglück ermöglicht.
7Es
ist eine interessante Frage, auf welche Identifikationen sich Männlichkeit nach der Auflösung der Eigentümeridentifikationen stützt. Eine Antwort ist die Identifikation mit der Nation. Vgl. hierzu Bhabha (1995): Are You a Man or a Mouse?; Mosse (1985): Nationalism and Sexuality.
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Being John Malkovich Es ist unumgänglich, den Plot von Being John Malkovich8 zu erzählen. Am Anfang sieht man eine von einem üppigen Vorhang umgebene Bühne, auf der eine Marionette den „Tanz der Verzweiflung und Desillusion“ aufführt. Wie die Kamera zurückfährt, erscheinen ein kleines Marionettentheater in einem Kellerraum und der Marionettenspieler selbst, Craig Schwarz. Er wohnt hier mit seiner Frau Lotti und allerlei Tieren, darunter eine Schimpansin namens Elisa, die seit kurzem wegen eines frühkindlichen Traumas in Psychotherapie ist. Craig ist ein erfolgloser Puppenspieler, man sieht ihn auf der Straße die Geschichte von Heloïse und Abélard aufführen, in einem gleichzeitig romantischen und sehr sexuellen Stil, was ihm regelmäßig Schläge von skandalisierten Zuschauern einbringt. Um endlich Geld zu verdienen, nimmt er einen Job an. Dabei entdeckt er im Büro hinter einem Schrank eine versteckte kleine Türe, er kriecht hinein, wird von einem Wirbel erfasst, und plötzlich sieht er die Welt durch die Augen eines unbekannten Mannes: wie dieser das Wall Street Journal liest, im Spiegel seine Erscheinung korrigiert, die Wohnung verlässt und in ein Taxi steigt; im Gespräch mit dem Taxifahrer erfährt er, dass der Mann, in dem er sich befindet, der berühmte Schauspieler John Malkovich ist. Nach einer Viertelstunde wird er hinausgeworfen und fällt auf eine Böschung an einer Ausfahrtstraße. Er erzählt das Abenteuer einer Kollegin, einer schönen jungen Frau namens Maxime, in die er sich heftig, aber erfolglos verliebt hat. Während er über das metaphysische Geheimnis rätselt, sieht Maxime sofort die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Sie gibt eine Anzeige auf: „Möchten Sie einmal jemand anders sein?“ Bald drängen sich jeden Abend eine Menge Leute, die 200 Dollar bezahlen, um eine Viertelstunde John Malkovich zu bewohnen. Auch Lotti, Craigs tierliebende Ehefrau, will es versuchen. Sie duscht sich als Malkovich und ist von der Erfahrung überwältigt. Endlich weiß sie, wer sie ist. Alles hat einen Sinn. Sie hält sich für eine Transsexuelle. Der zielstrebigen Maxime gelingt es (in der Wirklichkeit), von Malkovich eingeladen zu werden. Sie trifft ihn gerade in dem Moment, in dem Lotti in Malkovich haust. Lotti verliebt sich sofort in Maxime, aber auch diese erkennt in Malkovich’ Augen Lottis Blick, ihre weibliche Sehnsucht „haut sie um“. Lotti genießt es über alle Maßen, als Malkovich mit Maxime Sex zu haben; sie wird ihrerseits von Maxime geliebt, aber nur im Körper von
8Being
John Malkovich. USA 1999. Regie: Spike Jonze. Drehbuch: Charlie Kaufman; mit John Cusack, Cameron Diaz, Catherine Keener.
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Malkovich. Craig bekommt das Arrangement mit, und es gelingt ihm, nun seinerseits als Malkovich mit der begehrten Maxime Sex zu haben. Mit seiner Fähigkeit als Marionettenspieler gelingt es ihm außerdem, Malkovich ganz zu beherrschen und ihn dauerhaft zu besetzen. Davon ist nun auch Maxime angetan. Craig beherrscht Malkovich und sie beherrscht Craig. Dann wird Maxime aber schwanger, von dem Sex mit Lotti via Malkovich; in der Schwangerschaft verliert sie das Interesse an Craig und wendet sich der eigentlich geliebten Lotti zu. Craig wird gezwungen, Malkovich zu verlassen, aber er kann sich in Maximes kleiner Tochter einnisten und von dort aus Maxime lieben. In der Gesellschaft, in der wir leben, ist die Aufteilung der Welt in Geschlechterräume im Prinzip abgeschafft, es gibt zwar noch gewichtige Reste, aber eben doch nur Reste, Archaismen neben anderen Archaismen. In diesem Punkt ist Being John Malkovich banal realistisch, es gibt die prinzipielle Auflösung und es gibt Reste; zum Beispiel das Paar Lotti und Craig. Sie lebt in einem Frauenraum, liebevoll mit Tieren und Kindern. Craig ist der Romantiker, der in der Welt der Konkurrenz nichts taugt und nichts gilt – und besessen ist von dem Begehren nach der fantasierten Welt, wo es Männer, Frauen und Leidenschaften gibt, oder von dem Begehren, sein eigenes Unglück als das allgemeine, allen Menschen gemeinsame Unglück darzustellen und zur Anerkennung zu bringen. Das Paar ist nicht so weit entfernt von Julien und Madame de Rênal. Allerdings ist alles zwischen ihnen zwar lieb, aber diffus, uneindeutig, spannungslos und etwas öde. Man kann vermuten, dass es der Kampf mit der zwar abgewerteten, aber doch noch mächtigen, auch innerlich noch mächtigen Welt der Männer war, der früher der Beziehung zwischen der mütterlichen Frau und dem Romantiker Spannung und Intensität gegeben hat. Malkovich erscheint hauptsächlich als Gefäß für die verschiedenen Subjekte, die ihn bewohnen. Ihn selbst sieht man als Schauspieler, der die Leidenschaften anderer Menschen spielt, er ist Schauspieler, wie Craig Puppenspieler ist. Schließlich kriecht Malkovich in sein eigenes Gehirn, was er dort sieht, ist in allen Leuten nur Malkovich. Er, der das Objekt der Begierde aller anderen ist, sieht in allen anderen nur sich selbst gespiegelt als Objekt der Begierde. Das ist der Zirkel, in dem sich hier das Begehren der Männer bewegt. Das spektakuläre Thema des Films, für eine Viertelstunde jemand anders, ein berühmter Mann sein, führt ja zuerst einmal eine fundamentale Differenz ein: Es gibt einige, die sind, was sie sind, und die damit zufrieden sind, und eine Menge, die lieber etwas anderes wären. Dabei gehören fast alle zu dieser mit sich unzufriedenen Menge, natürlich Craig und auch Lotti, die erst in Malkovich weiß, wer sie ist, und es offenbar vorher nicht wusste. Auch Malkovich selbst, der ja davon lebt, dass er andere spielt, gehört in diese Menge. Mit sich zufrieden
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sein heißt identifiziert sein, und identifiziert sein hatten wir in dem alten System der Geschlechterdifferenz als die basale Qualität der Männer erkannt; Männer sind ganz das, zu was sie die symbolisch geregelten Verhältnisse von Austausch und Konkurrenz machen. Wenn man von diesem Begriff her auf den Film schaut, sieht man sofort, dass es einen „Mann“ im Sinn der Identifikation gibt, einen einzigen, der kein Interesse hat, sich in Malkovich zu verwandeln, das zentrale Objekt des Begehrens im Film, und das ist Maxime. Maxime ist ganz und gar in einem bestimmten, sehr simplen Konkurrenzsystem identifiziert; die symbolischen Werte des Systems sind sexuelle Attraktivität, Geld, Berühmtheit, und zwar nicht als Werte, die sie anhimmelt, sondern als Werte in einem Spiel, in dem sie mitspielt;9 wobei sie ihren eigenen, ungenierten und amüsierten Stil hat. Diese Position macht sie zu dem zentralen Objekt des Begehrens im Film. Der Film beschreibt den Einbruch der Leidenschaft in eine friedliche, liebevolle und langweilige Welt. Das ist eben der Einbruch der guten alten Differenz, die jetzt nur nicht mehr die zwischen biologischen Männern und biologischen Frauen ist. Und noch etwas hat sich verändert. Maxime ist nicht nur nicht Mann, wie früher die Männer Mann waren, weil sie nicht starke Fäuste, sondern ihren schönen Busen in die Konkurrenz einbringt. Früher mussten die Männer Männer sein, dieses Müssen schloss eine Bejahung nicht aus, im Gegenteil, es verlangte nicht Gehorsam, sondern eine Bejahung, aber die identifizierende Bejahung war eben die Antwort auf ein Müssen. Bei Maxime hat sich dieses Müssen offenbar in etwas wie ein Angebot verwandelt. Es gibt die Möglichkeit, wenn man entsprechend ausgestattet ist, in einem Konkurrenzspiel mitzuspielen, und wenn man es tun will, bleibt es nicht ganz unverbindlich, man hat den Preis dafür bezahlt und die Sphäre des Narzissmus verlassen. Aber man hat die Wahl gehabt. Das heißt auch, dass dieses Spiel von allen moralischen Implikationen gelöst ist. In der Welt des Decamerone hat Mannsein viel mit Narzissmus und Stolz zu tun, aber auch viel mit Verpflichtung, es ist mit den basalen ethischen Imperativen der Gesellschaft verbunden. Bei Stendhal gibt es diese Verbindung noch in der immerhin mächtigen Form der befohlenen Hypokrisie. In dem Spiel, das Maxime vertritt, mit seinen offen „materialistischen“ Werten, ist eine solche Verbindung völlig aufgegeben, es ist ein pures Spiel.10
9So
teilt sie in einer Unterhaltung mit Lotti und Craig die Menschen ein in die, die sich nehmen, was sie wollen, und die, die es sich nicht nehmen, die Langweiler, also die, die sich nicht trauen, mitzuspielen. 10Lacansch gesprochen ist Maxime in der Position des Herrn, das übrige Personal in der Position des Hysterikers.
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Wir haben den Film auf die fundierenden Differenzen hin gelesen, mit denen er die Wirklichkeit artikuliert. Natürlich kann ein Film keine Aussagen über die Wirklichkeit machen, die eine empirische Relevanz hätten. Er kann aber Differenzen hervorheben, die eine interessante Wahrnehmung der Wirklichkeit ermöglichen.11 Die Opposition „identifiziert vs. nicht-identifiziert“, anders gesagt die Differenz der verschiedenen Positionen zum Prinzip des Symbolischen, ist eine solche Differenz. Von ihr ausgehend behauptet der Film, dass diese Differenz, auch wenn die Koppelung an das Geschlechterverhältnis gelöst ist, immer noch sexuelle Leidenschaft mobilisiert.
Literatur Being John Malkovich. USA 1999. Regie: Spike Jonze. Bhabha, Homi K. 1995. Are You a Man or a Mouse? In Constructing Masculinity, Hrsg. Maurice Berger, Brian Wallis und Simon Watson, 57–65. New York. Butler, Judith. 1995. Melancholy Gender/Refused Identification. In Constructing Masculinity, Hrsg. Maurice Berger, Brian Wallis und Simon Watson, 21–36. New York. Copjec, Joan. 2004. Lies mein Begehren. Lacan gegen die Historisten. München (Erstveröffentlichung 1994). Girard, René. 1961. Mensonge romantique et vérité romanesque. Paris. Lévi-Strauss, Claude. 1967. Les structures élémentaires de la parenté. Paris. Mauss, Marcel. 1968. Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In Sociologie et Anthropologie, Hrsg. Marcel Mauss, 143–279. Paris. Mosse, George L. 1985. Nationalism and Sexuality. Middle Class Morality and Sexual Norms in Modern Europe. New York. Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M.
11Es
wäre interessant, eine solche Wahrnehmung mit der zu vergleichen, die uns durch die mit dem Begriff queer bezeichnete Diskussion oder mit der Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz durch Judith Butler entgegentritt.
Was das Geschlechterverhältnis einmal war und heute ist. Die Jugend von heute (2006)
Ausgangspunkt: Das Geschlechterverhältnis als Begehren produzierendes System Meine Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Helga Gallas nicht lange nach ihrer Berufung nach Bremen (1974) ist geprägt von der gemeinsamen Erfahrung einer Intensität, die von dem damals noch unbekannten und faszinierenden Gegenstand Lacan ausging. Unser gemeinsames Interesse war die französische Theorie (darunter vor allem Lacan), in der wir uns aus irgendeinem Grund mehr zu Hause fühlten als in den damals in der Linken dominierenden Diskursen.1 Unsere Diskussionen, die im Rahmen regelmäßiger Zusammenkünfte stattfanden, haben sich nach einiger Zeit auf das Thema Geschlechterbeziehung konzentriert. Helga Gallas beschäftigte sich eine Weile intensiv mit dem Thema in einem feministischen Kontext: mit Schriftstellerinnen aus dem 18. Jahrhundert und den Schwierigkeiten, mit denen diese konfrontiert waren. Dabei fiel ihr auf, dass die Beziehungskonstellationen in den Romanen so angelegt waren, dass
1Gelegentlich
ist die Wissenschaft ein geteiltes Glück, wenn man dieses große Wort für die einfache Sache verwenden will, dass man etwas zusammen mit anderen tut, was alle für wichtig halten und mit dem jeder auf seine Weise verbunden ist. Und wie man ja weiß, hat die Universität auch beachtliche Fähigkeiten, dieses Glück unmöglich zu machen. Damals war das einfach und selbstverständlich, aber im Rückblick sehe ich, dass es etwas Wunderbares war. [Anm. der Hrsg.: Weitere Überlegungen zum „Begehren in der Wissenschaft“ führt Waltz in seinem so betitelten Text an, der in den Jahren 2002/2005 entstand und bisher unveröffentlicht blieb, s. Abschn. Das Begehren in der Wissenschaft.]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_19
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Sexualität eine denkbar geringe Rolle spielte. Das war der Anstoß zu der Idee, dass es eine Geschichte des sexuellen Begehrens gibt, und zwar eine Geschichte, die weder in dem Kontext von Unterdrückung noch in dem von Befreiung zu verstehen ist. Ausgangspunkt war das Phänomen einer Schwächung des sexuellen Begehrens. Und damit stellt sich die Frage, wie man eigentlich die Konstruktion des Begehrens zwischen den Geschlechtern verstehen kann. Auffällig war, dass in der Wissenschaft diese Frage eigentlich keinen Status hat. In der Psychoanalyse wird davon zwar materialreich geredet, aber mit nur minimal angedeutetem sozialem und historischem Zusammenhang. Wenn man schaut, wo und wie in einem gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhang von der Geschlechterbeziehung gesprochen wird, auch bei Konstruktivisten wie Niklas Luhmann oder Judith Butler, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die Frage niemanden wirklich interessiert. Das ist auch nicht eigentlich überraschend. Die wichtigsten Arbeiten über die Geschichte der Geschlechterbeziehung sind in einem linken, feministischen Kontext entstanden, dessen Leitbegriffe die Unterdrückung und das Patriarchat sind. Wenn wir das patriarchalische Geschlechterverhältnis aber als ein Begehren produzierendes System anschauen wollten, dann bedeutete das eine interessante Verschiebung. Man sieht, dass die in einem linken Zusammenhang geschaffenen Begriffe bei aller Vielfalt doch auf ein einheitliches altes System der Konstruktion der Geschlechter verweisen. Dieses System ist die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung, und es ist im Begriff zu verschwinden. Aber während feministische Positionen auf Ungleichheiten und Unterdrückung schauen und sich mit dem Kampf für deren Aufhebung identifizieren, betrachten wir das alte System als eigentlich schon aufgelöst und schauen von den Problemen aus, die diese Auflösung mit sich bringt. Dann sieht man nicht nur die Mängel, sondern auch die Leistungen. Aber der Hauptunterschied ist natürlich der Wechsel von einem kritischen zu einem ethnologischen Blick. Wir wollten das traditionelle Geschlechterverhältnis als eine untergegangene Kultur sehen. Der Bezug auf die Gegenwart ist durch den ethnologischen Blick eher intensiver geworden. Wir konnten sehen, was heute noch überlebt, das Gegenwärtige im Vergleich wahrnehmen, und vor allem das Geschlechterverhältnis als eine mit der gesamten symbolischen Ordnung verbundene Struktur betrachten, was davor bewahrt, das Ganze in Elemente zu zerpflücken, in solche, die einem passen, und solche, die einem nicht passen. Fehlendes Begehren als zwischengeschlechtliches und soziales Problem Natürlich ist die Frage nach den Bedingungen der Entstehung von Begehren ein aktuelles, postmodernes Problem, und die postmoderne Problematik des
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Begehrens war denn auch eines der großen Themen unserer Diskussionen. Eine Studentin hat es einmal auf den Punkt gebracht: Früher, wenn man eine Arbeit schreiben wollte, hatte man das Problem, dass sie gut werden soll. Jetzt hat man dieses Problem auch noch, aber außerdem hat man noch das Problem, eine Beziehung zu der Arbeit herzustellen, eine Motivation aufzubauen. In der Moderne war die Frage, was die wahren, die legitimen und wertvollen Objekte des Begehrens sind, jetzt ist das Problem, überhaupt ein Objekt festzuhalten. Zum ersten Mal deutlich geworden ist mir das, als ich in einem der Korridore der Uni hinter zwei punkigen Studentinnen herlief; die eine beklagte sich über Schwierigkeiten mit der Bürokratie und ihre Klage endete mit dem Satz: „Die Motivation für die ganze Woche ist hin.“ Man kann das Ganze auch in eine größere Perspektive bringen. Was immer man von den Utopien hält, mit denen die Moderne von der Aufklärung an gelebt hat, jedenfalls waren sie große Begehrensobjekte; auch die Nation war ein großes Begehrensobjekt, und in einem anderen Maßstab waren es auch die Protestkulturen zwischen den 1960ern und den 1980ern. Alle haben sie bekanntlich ihre Macht verloren. Damit sind wir nur scheinbar von dem Thema der Geschlechterbeziehung abgekommen. Wir hatten einige große organisierende Thesen. Die eine besagte, dass das Begehren zwischen den Geschlechtern innerlich verbunden war mit den spezifischen Formen des Begehrens, die jeweils die Welt organisierten. Mit dieser These verbinde ich zwei Bilder: eine Szene aus einem Film von Éric Rohmer. Eine junge Frau erzählt einer anderen, dass sie heiraten möchte und dafür einen Mann suche. Dann erklärt sie, was sie an Männern mag. Wenn Männer ihr den Hof machen, gockeln sie und sind blöd; aber wenn sie arbeiten und auf ihre Dinge konzentriert sind, dann sind sie schön. Es ist das Begehren, das die Männer in ihrer Arbeit entwickeln, das sie begehrenswert macht. Eine andere Geschichte von einer Weggefährtin, die in jungen Jahren mit einer Freundin zusammenlebte: Beide waren Singles und daran interessiert, diesen Zustand zu beenden. Dabei hatten sie zwei verschiedene Verfahrensweisen. Wenn die eine einen Mann attraktiv fand, lernte sie ihn kennen, indem sie sich sofort mit ihm einließ: So sollte sich herausstellen, ob man wirklich zusammenpasste. Die Andere schaute sich die Männer zuerst einmal an, wie sie wohnten, wie ihre Freundschaften waren, wie sie mit ihrer Arbeit umgingen etc. Danach wurde aussortiert, wer überhaupt in Betracht kam, und erst dann ging es um die Liebe. Vom Standpunkt der Theorie aus ist die Geschichte in mannigfacher Weise interessant, aber vor allem weist sie darauf hin, dass das Verhältnis des zwischengeschlechtlichen und des sozialen Begehrens in der modernen Geschichte der Geschlechterbeziehung bis heute ein zentrales Problem ist.
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Wie entsteht Begehren? – Tauschkultur als Begehrenssystem Den theoretischen Rahmen, der uns erlaubt hat, eine solche Problematik zu fassen, haben wir in der Mauss’schen/Lévi-Strauss’schen/Lacan’schen Idee der Konstitution der Gesellschaft durch den symbolischen Tausch gefunden. Jemand wird zu einem sozialen Wesen, zu einem Wesen, das mit sich selbst und mit anderen Verbindungen eingeht, das Verbindlichkeiten kennt, dadurch, dass es von einem Vater etwas bekommt, was diesem Vater gehörte, was dieser Vater seinem Vater schuldete, was das Subjekt jetzt wieder schuldet und weitergeben muss. Das Subjekt als Person im Sozialen ist dieses Eigentum, das nicht Eigentum im heutigen Sinn ist, sondern Schuld und Recht. Teile dieses Eigentums konstituieren in der Kette von deren Weitergabe die Sippe, mit einem anderen Teil, eben besonders mit den Töchtern und Schwestern, ist diese eingebunden in eine Kette des Gebens und Nehmens, die die Sippen untereinander verbindet. Eigentum ist dabei eher etwas, dem das Subjekt gehört, als etwas, worüber es verfügen könnte. Es ist als Äußeres das Innerste; in dem Begriff der Ehre spiegelt sich dieses Verhältnis wider. Etwas Äußeres zum Innern machen ist ja die Definition der Identifikation. Wenn das, was identifiziert, eine Gabe ist, dann versteht man, warum diese Identifikation mit einer Aura von Freiheit verbunden ist. Eine Gabe kann man ablehnen, wenn man sie annimmt, hat man sie als Gabe angenommen und die Verpflichtung, die mit ihr gegeben ist, als Teil des Selbst akzeptiert. In dieser Struktur entsteht auch ein Bild des Geschlechterverhältnisses. Die Männer sind die, die sich von dem Eigentum besitzen lassen und die es vertreten. Eigentum ist immer Verbindung und die Macht, Verpflichtungen zu erzeugen. Je mehr man hat, umso mehr kann man geben, umso mächtiger ist man und mit umso Mächtigeren kann man sich verbinden. Die Tauschkulturen, die Marcel Mauss beschreibt, sind große Spiele einer geregelten Rivalität, wo das Eigentum, das ja ein Teil des Selbst ist, den Einsatz darstellt. Und die Kampfkulturen, die das Material für die Ilias oder die mittelalterlichen Epen abgeben, sind Spiele derselben Art. Diese Spiele erzeugen ein intensives und geregeltes Begehren, das das ganze Leben strukturiert. So beschreibt Bronisław Malinowski in den Argonauten des westlichen Pazifik, dass die Trobriander, nachdem ihnen ihre Tauschkultur von den Kolonisatoren weggenommen war, in Lethargie und Alkoholismus verfallen. Die Männer sind Spieler und voll und ganz mit ihren Positionen im Spiel und mit dem Begehren identifiziert, das das Spiel produziert. Dabei sind diese Spiele keine bloß narzisstischen Spiele des Stolzes; die Tatsache, dass jedes Eigentum auch Schuld ist, stellt sie immer auch in die Dimension der Verpflichtung.
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Die Männer sind den Spielen unterworfen, die Frauen von ihnen ausgeschlossen; sie sind nicht durch den Besitz einer Gabe identifiziert, sondern mit ihrem körperlichen Selbst als Wertobjekt und Gabe. Das stellt sie in eine andere Dimension. Auf den Tausch kann man die Gedanken übertragen, die Lacan im Anschluss an Hegel bezüglich der Sprache entwickelt. Der Tausch ist der Tod der Sache. Ein Ding, das man tauscht, ist in einen Signifikanten verwandelt, die Unmittelbarkeit des Weltbezugs ist zerstört. Dadurch, dass die Frauen von den Spielen ausgeschlossen sind, ist ihnen die Unmittelbarkeit des Weltzugangs nicht in demselben Maß genommen wie den Männern. Sie haben eine ganz anders strukturierte Welt, eine Welt, in der unter anderem solche Wesen, die erst Menschen werden sollen, Kinder, Platz haben. Durch diese Zweiteilung der Wirklichkeit wird das Begehren zwischen den Geschlechtern erzeugt. Jeder begehrt bei den anderen, was ihm genommen ist. Jeder Mann repräsentiert für die Frauen das Symbolische als Ganzes und ist damit wie ein Gott, und jede Frau ist für die Männer das, was sie geopfert haben, ein unheimliches Wunder. In Veranstaltungen, wo wir die These vom Frauentausch vorgestellt haben, hat sie immer Empörung ausgelöst: Die Frauen zu Tauschobjekten zu machen, erscheint eine noch massivere Erniedrigung als die patriarchale Unterdrückung. Aber so einfach sind die Verhältnisse nicht. Wenn die Frau das wichtigste Eigentum des Mannes ist, so ist sie auch der Kern seiner Ehre, sie ist das Äußere, das in seinem Inneren wohnt. Wir kennen diese Struktur nur, wenn die Identifikationen sich auflösen, wie in Effi Briest, wo der Mann sich noch von diesem inneren Äußeren sein Leben zerstören lässt, aber es als etwas Fremdes empfindet. Oder von den Zeitungsberichten über die türkischen Frauen, für die dieser Platz in den Männern, den sie nicht mehr besetzen wollen, zum Alptraum wird. Aber wenn man die Struktur als funktionierende, identifizierende nimmt, dann gibt sie auf die Frage, was die Geschlechter voneinander wollen, was sie trennt und was sie verbindet, eine faszinierende Antwort. Dieses Schema ermöglicht eine neue Perspektive auf die traditionelle Geschlechterbeziehung.2 Was kann sie aber dazu beitragen, die gegenwärtigen Verhältnisse zu verstehen? Man muss von dem berühmten Lacan’schen Satz ausgehen: Es gibt keine Geschlechterbeziehung.3 Dieser Satz bedeutet ja, dass es
2Für
das 18. Jahrhundert und die Romantik ist diese Perspektive von Helga Gallas ausgearbeitet in: dies. (2005): Kleist. Gesetz, Begehren, Sexualität, 123–158. 3Die Aussage Lacans „Il n’y a pas de rapport sexuel“ wird von Hans-Joachim Metzger übersetzt mit „Es gibt kein Geschlechtsverhältnis“. Vgl. dazu Lacan (1988 [1970/1974]): Radiophonie. Television, 17.
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im Realen eine Beziehung zwischen den Geschlechtern sehr wohl gibt; was es nicht gibt, ist eine „richtige“, zwingende Einschreibung dieser realen Beziehung im Symbolischen. Dieses „Es gibt nicht“ beschreibt nicht einen einfachen Sachverhalt, sondern ein dynamisches Verhältnis. Die Geschlechterbeziehung muss immer und kann nie in die Wirklichkeit eingeschrieben werden. Es muss eine kulturelle Ordnung der Geschlechter geben, aber es ist immer eine „falsche“. In einer ebenso kühnen Verallgemeinerung, wie sie der Idee des Patriarchats zugrunde liegt, glauben wir, dass unser Schema die „falsche“ Ordnung beschreibt, mit der die Menschheit bis heute ausgekommen ist. Ihr Zusammenbruch lässt erwarten, dass wir in der Gegenwart Bruchstücke des Alten finden, aber auch, dass neue „falsche“ Ordnungen entstehen. Derartige neue Ordnungen darf man dann nicht einfach als Verfall des Alten beschreiben, sondern als in sich nach Konsistenz strebende (und, wie der Dekonstruktivismus betont, diese immer verpassende) Strukturen. Bei deren Beschreibung kann uns das alte Schema doch noch helfen. Zwar ist die konkrete Strukturierung eine ganz andere, aber wir glauben doch, dass wir abstrakte Konstruktionsprinzipien wieder finden, insbesondere das Lacan’sche Prinzip, dass geschlechtliche Identifikationen und das Begehren zwischen den Geschlechtern in dem symbolisch strukturierten sozialen Feld entstehen. Damit ist nicht nur gemeint, dass es eine äußere Abhängigkeit der Geschlechterbeziehungen vom Sozialen gibt, was niemand bezweifelt, sondern dass die Geschlechterbeziehung das Soziale braucht und immer verwendet, um eine Form zu gewinnen. Das Verhältnis von Liebe, Sexualität und Begehren in der gegenwärtigen Jugendkultur In dieser Perspektive möchte ich einen Roman untersuchen, der einen Aspekt der Geschlechterbeziehung in einer aktuellen Jugendkultur explizit zum Thema macht: Die Jugend von heute von Joachim Lottmann.4 Wie der nach einer soziologischen Untersuchung klingende Titel schon andeutet, handelt es sich um die Beschreibung einer bestimmten Berliner/Münchner Jugendkultur in Form eines Romans. Der Erzähler, Johannes, meist Jolo genannt, ein Mann von etwa vierzig Jahren, Schriftsteller und Journalist, hat eine Art väterlicher Beziehung zu seinem Neffen Elias oder Eli, einem jungen Mann, jung jedenfalls im Sinn der Zugehörigkeit zu dieser Kultur. Das Ziel, dass der Onkel den Roman über verfolgt und das diesem seine Einheit gibt, besteht darin, dass Elias erwachsen werden
4Erschienen
2004.
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soll. Dafür müsste er, nach der Auffassung des Onkels, eine feste Beziehung zu einem Mädchen eingehen, und dafür wiederum müsste er mit einem Mädchen den Sexualakt vollziehen. Der Neffe, offenbar ein allseits beliebtes Wunderkind in dieser Jugend, schleppt auch andauernd Mädchen an, Omo, Jassi, Julia 1 bis 3 und viele andere, teilt mit ihnen das Bett, aber bei allen Aktivitäten geschieht nie das, was der altmodische Johannes für den ersten Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden hält. Der Erzähler ist offenbar ganz und gar dem archaischen Kern des alten Modells verbunden. In diesem war ja der sexuelle Akt ein identifizierender Akt, und zwar einer der wesentlichen identifizierenden Akte, ein Mann ist erst ein Mann, wenn er der Mann einer Frau ist, und eine Frau ist nur Frau als Frau eines Mannes.5 Nun ist es nicht so, dass dieses Prinzip im Leben des Onkels selbst eine Rolle spielen würde, erstens schaut er die Welt der Erwachsenen eher mit dem Blick der Jugend an, und zweitens funktionieren die Erwachsenen auch nicht nach diesem Prinzip. Aber als pädagogisches Prinzip der Jugend gegenüber hat es noch eine Kraft. Und der Autor verwendet das Prinzip zur Organisation seines Romans – ähnlich übrigens, wie wir unsere Forschung von ihm organisieren lassen. Nun stellt sich natürlich die Frage, warum zwischen Eli und den hübschen Mädchen die Dinge laufen, wie sie laufen. Der Text macht darüber einige Aussagen: Miteinander schlafen könnte dazu führen, dass man sich verliebt, und das will man nicht.6 Generell will man Beziehungen vermeiden. Dazu ein Zitat aus einer Unterhaltung zwischen dem Onkel und dem Neffen nach einer mit einer „Iljana“ verbrachten Nacht: „‚Guten Morgen, Eli! Na, schlecht geschlafen?‘ ‚Die ganze Nacht gekuschelt. Das gibt echt die guten Botenstoffe […]. Die schlechte Nachricht: Ich habe die ganze Zeit an Julia zwo gedacht.‘ ‚Mit der lief wohl mehr?‘ ‚Es war einfach die endskrasse Mega-Superspannung da, auch wenn sich nur unsere Knie berührt haben.‘ […] ‚Wow: Und mit Iljana?‘ ‚Naja… nicht so toll. Sie nervt mit Gefühlen […].‘ […] ‚[…] geküsst?‘ ‚Nein, wo denkst du hin? Küssen hat immer gleich so eine Bedeutung.‘“7 Körperliche Begegnungen sollen nichts mit Beziehungen zu tun haben, sie haben ihren Wert als Erlebnisse. Darauf komme ich noch zurück.
5Helga
Gallas hat gezeigt, dass dieses Prinzip in einer spezifischen Verwendung fundamental ist für das Verständnis der Bedeutung der Sexualität bei Kleist. Vgl. Gallas (2005): Kleist. Gesetz, Begehren, Sexualität, Anm. 1, 141 ff. 6Vgl. Lottmann (2004): Die Jugend von heute, 62. 7Ebd., 154.
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All das legt die Vermutung nahe, dass Elias den archaischen Glauben seines Onkels an die Macht des Sexualakts teilt. Der Akt könnte eine Beziehung herstellen, und die Beziehung könnte ihn erwachsen werden lassen. Genau das will Eli nicht, er will Teil der Jugend bleiben. Diese Konstellation erinnert an Jean-Jacques Rousseaus Umgang mit Sexualität. Rousseau fürchtet den Sexualakt genau aus dem Grund, warum Johannes ihn sich für seinen Neffen wünscht: weil er in die Welt des Verbindlichen, des Symbolischen hineinführt. Der Zauber der unschuldigen erotische Spiele vor dem Bereich der Verbindlichkeit ist eine der Entdeckungen der Confessiones.8 Eine Phase der sexuellen Beziehungen, die es in unserer Kultur sicher schon lange gegeben hat, bekommt bei Rousseau einen literarischen Status und einen Wert; in der Jugend von heute wird sie zu einem tragenden Element einer Kultur. Nun gibt es aber einen wesentlichen Unterschied. Rousseau fürchtet eine Verbindlichkeit, die tatsächlich existiert, Jolo wünscht sich, Eli fürchtet eine Verbindlichkeit, die es in der Welt des Romans in einer ganz systematischen Weise gar nicht gibt. Sichtbar wird das an dem, was in dem Roman das Reden bedeutet. Hören wir Eli: „‚Ich hab ihr jetzt die superharte glasklare Ansage gemacht! Ich habe ihr erklärt: Alles, was ein Mann von einer Frau braucht, sind zwei Dinge – absolute Bewunderung und absolute Zärtlichkeit. Und alles, was eine Frau von einem Mann braucht, sind folgende zwei Dinge: absolute Sicherheit und absolute Freiheit. Nach dieser heavy Ansage habe ich sie alleingelassen. Zwei Tage werde ich sie braten lassen. Dann ist sie fertig. Dann steht die Connection. Dann habe ich das totale Commitment, Alter …‘“.9 Identifizierte Menschen reden von ihren Identifikationen aus. Daher weiß man, dass hinter ihren Reden jemand steht. Eli identifiziert sich für, im und durch das Reden. Im Reden ist er jemand. Niemand, der zuhört, käme auf die Idee, dass hier etwas gesagt wird, das Bestand haben soll, das etwas ausdrückt, das hinter dem Reden steht. Das Wissen, das dieses Reden trägt, ist „ein Gemisch aus Sternzeichen, Coolnessgeboten, biologischem und esoterischem Determinismus“,10 ein Wissen, das immer absolute Wahrheiten bereithält, dabei aber beliebig verschiebbar ist. In der Welt der Erwachsenen reden Jolo und einige andere auch in dieser Weise.11 Er entwickelt Theorien, etwa über den Abgang von Helmut Schmidt, die
8Vgl.
Waltz (1993): Ordnung der Namen, 178. (2004): Die Jugend von heute, 54. 10Ebd., 76. 11Vgl. ebd., 255. 9Lottmann
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nichts anderes mitteilen als: Ich bin der, der diese originellen Theorien hat. Dabei ist die Geste der absoluten Wahrheitsbehauptung, die an die Stelle der fehlenden Verbindung des Sprechenden zum Gesagten tritt, bei Onkel und Neffe dieselbe. Die meisten Erwachsenen reden allerdings anders. Sie markieren mit dem, was sie sagen, ihre Zugehörigkeit, was aber auch nicht heißt, dass sie glauben, was sie sagen. Dass man glauben könnte, was man sagt, scheint in der Hauptkultur und der Subkultur gleichermaßen ein abwegiger Gedanke. Der Unterschied besteht darin, dass man in der Hauptkultur Angst um die eigene Zugehörigkeit hat, während man in der Jugend die im Reden erzeugten Identifikationen als Spielmaterial verwendet. Empfehlenswert ist daher eigentlich, das Reden einzustellen und sich im Bereich der lebendigen Toten, also der echten Erwachsenen, wohlzufühlen, wo es überraschenderweise eine „altmodische, unzweideutige, bedingungslose“12 Liebe gibt. Diese Beschreibung erfasst den Unterschied von dem uns Geläufigen als ein Defizit. Ich möchte hier auch versuchen, das Unbekannte als eine Struktur zu beschreiben. Die klassischen Subkulturen13 konnte man über Stile, über die Umdeutung der kulturellen Semantik der Hauptkultur, Werte beschreiben. Was sich hier aufdrängt, sind Räume. Wir sind gewohnt, bewohnte Räume als symbolische Orte zu sehen, sie mit Eigentümern oder mit öffentlichen Institutionen zu verbinden. Hier sind die bewohnten Räume Höhlen, ein Innen ohne ein Außen, ohne Einordnung, warme Höhlen, wo ganz viele Leute zusammenhocken, schlafen, manche tags, manche nachts, manchmal mehrere in einem Bett; wo ganz viel rumgelegen, gekocht, getrunken, viel Musik gehört, ununterbrochen geschwätzt wird. Es sind offene Räume, über die dauernd aktiven Handys mit vielen anderen verbunden. Es herrscht ständige Bewegung: in den Räumen selbst oder beim Verlassen dieser, um in andere „Höhlen“ zu gehen, die Clubs, und von dort aus mit teilweise anderen Leuten in andere gleichartige Höhlen.
12Ebd. 13Der
Ende der 1980er Jahre anzusetzende Bruch zwischen einer traditionellen Subkultur, die sich in einer Geste der Subversion einem Mainstream entgegenstellt, und der aktuellen Popkultur, die integrierter Teil eines Mainstream der Minderheiten (so der Titel des Sammelbandes, der in dieser Diskussion wichtig ist [Holert, Terkessidis. Hrsg. 1996]) war, ist ein Topos der Diskussion im Bereich der Popkultur. Vgl. hierzu auch Zwei Topografien des Begehrens: Pop/Techno mit Lacan. In der Jugend gibt es keine subversive Geste. Die Welt der Erwachsenen ist einfach langweilig und öde. Wenn die Jugend sich von ihr aus gesehen fantasiert, dann sieht sie sich als ein Objekt des Begehrens.
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Eine Haupteigenschaft des Symbolischen ist ja, die Subjekte mit den Objekten zu verbinden, die sie in der sozialen Welt repräsentieren, mit dem, was man schuldet und was man begehrt, und sie damit aus der Gegenwart herauszunehmen. Die Jugend lebt in einer permanenten Gegenwärtigkeit, es gibt keine Verpflichtungen, die Wünsche kommen und vergehen ununterbrochen. Am eindrucksvollsten hat sich das an dem Verschwinden der bindenden Kraft des Sprechens gezeigt. Zum Symbolischen gehört auch, dass man immer unter einem Blick lebt, sich gesehen sieht von dem großen Anderen, der den Wert der Dinge festlegt, mit denen jeder identifiziert ist. Diesen Anderen gibt es hier nicht. Jeder ist wohl dauernd gesehen, aber einfach von den anderen, die um ihn herum sind. Diese vielen konkret anwesenden anderen sind es, die den großen Anderen ersetzen. Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Woher die Aversion gegen den Sexualakt? Die bisherige Antwort war: Sexualakt bedeutet Bindung, und Bindung bedeutet, was man gerade nicht will: Erwachsenwerden. Wir können jetzt die Antwort ergänzen: Für die Jugend hat der Sexualakt keine Bedeutung mehr; er ist nicht mehr in sich attraktiv, kein Objekt des Begehrens. In einer symbolischen Struktur hat er verschiedenartige und gewichtige Bedeutungen. Man braucht das nicht auszuführen, die Worte Eroberung, Besitz, Hingabe, Schande, Entehrung verweisen darauf, unsere Literatur handelt endlos davon. In Lacans Systematisierung ist das girl – das Mädchen, das noch niemandem gehört – das Objekt, das alle begehren, eine Inkarnation des Phallus. Das Mädchen ist der Preis in dem symbolisch strukturierten Wettkampf der Männer. Der Sexualakt bedeutet den Besitz dieses begehrten Objekts. Gleichzeitig ist das Mädchen das Tausch-, das Wertobjekt, das sich dem Genießen hingibt. Der Genuss des symbolischen Objekts ist das, was Lacan jouissance nennt. In der Welt der Jugend haben die Mädchen als Sexualobjekte keinen Wert, weil es keine Instanz gibt, die einen Wert aufrechterhält, der Sexualakt hat die Bedeutung der Hingabe verloren, es gibt in ihm nichts zu erobern, nichts zu besitzen. Zur Illustration der typische Verlauf eines Abends, den der Erzähler miterlebt hat. Aus einer Wohnung, wo einige Jungs zusammenhocken, zieht man in einen Club, man lernt zwei Mädchen kennen, geht mit ihnen in die Wohnung, dann singt der eine deutschen Rap, Eli kocht, schließlich geht der Erzähler enttäuscht ins Bett, dann sollen anscheinend die zwei Männer das eine der Mädchen durchgevögelt haben, wobei die Zärtlichkeiten zwischen den beiden Jungs aber alle
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anderen sexuellen Aktivitäten in den Schatten gestellt hätten.14 Am anderen Tag revidiert Eli, von Jolo angesprochen, aber diese Version: „Du verstehst die Jugend nicht, wenn du glaubst, man macht einfach mal so einen Dreier. Das tut niemand. Das tun vielleicht alte Leute am Ende ihrer sexuellen Laufbahn. Für junge Leute ist die Sexualität heilig. Da lässt man niemanden reinschauen.“15 Die eigentliche Aussage ist die Vieldeutigkeit. In einer symbolischen Struktur hat der Sexualakt in sich eine extrem stabile Bedeutung, und das ist die, die er in den Augen des großen Anderen hat. In der Jugend herrscht offensichtlich immer noch die Vorstellung, dass er eine Bedeutung haben könnte oder sollte, und er hat die, die man ihm gerade, mit der Geste der absoluten Gewissheit, jeweils gibt. Wenn der Sexualakt nichts bedeutet, heißt das natürlich ganz und gar nicht, dass die Mädchen nichts bedeuten. Der Rahmen, in dem diese Bedeutung hergestellt wird, ist einfach der alte; die Jugend ist in dieser Hinsicht viel konservativer als die Erwachsenen: Ihre Welt zerfällt in männlich und weiblich; die Geschlechterdifferenz ist die Differenz, die die fundamentalen Strukturen setzt – die Jungs „stellen etwas auf“, die Mädchen sind schön. Man kann das etwas genauer beschreiben. In der alten Geschlechterordnung sind ja die Männer von dem großen Anderen her identifiziert; daher sind sie in einer Art permanentem Gespräch mit ihm, können von ihm aus sprechen, seine Ansprüche gegenüber anderen, und insbesondere den Frauen gegenüber, geltend machen. Die Frauen können das nicht. Daher entsteht die Bedeutung der Frauen in dem Diskurs der Männer. In der Jugend ist an die Stelle des alten großen Anderen das permanente Gelaber der Jungs über Musik, alles Mögliche und vor allem eben über Mädchen getreten. Das Reden der Mädchen über die Jungs hat in der Jugend kein Gewicht. Was die Mädchen bedeuten, jedenfalls was sie in der Jugend bedeuten, bedeuten sie dank dem Gelaber der Jungs. Aber was bedeuten sie? Zuerst einmal ist das Ausgehen ja auch ein Spiel, die Mädchen sind in diesem Spiel die Punkte, die man macht. Als solche sind sie reine Signifikanten, bedeuten gar nichts. Aber was gibt es darüber hinaus? Hören wir wieder Eli: „Sie [Momo] sagt, wenn sie mit mir schläft, würde sie sich unsterblich in mich verlieben, also für immer, und das will sie nicht. Aber sie ist soooo liebevoll, und ich bin total angetan von ihrem Körper. Ich muss den ganzen Tag an ihren Körper denken. Ich bin auch tagsüber wie im Rausch davon. […] Sie taugt mir schon sehr, nur Viola und Hase sind noch besser. Als Freundin und Partnerin ist Gabriela besser, die
14Vgl.
Lottmann (2004): Die Jugend von heute, 137. 140.
15Ebd.,
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stellt echt was auf. Vom Gesicht her und vom Body ist natürlich Viola unschlagbar, bei Viola bin ich noch mehr im Rausch […]. Am wichtigsten ist natürlich Hase. Mit ihr könnte ich eine Dynastie gründen. Es ist das langfristigste Projekt …“16 Das präsentische Leben der Jugend hat etwas von einem permanenten Rausch. Dabei darf man nicht einen Begriff wie Ekstase assoziieren, einen Bruch in dem Alltagsverhältnis zur Realität, wie es die Drogenerfahrungen der Subkulturen der 1970er Jahre sein sollten. Hier ist der Rausch eher ein angenehmes Dabeisein bei allem, was man eben gerade tut, die Fähigkeit, die Dinge, wie sie so kommen, zum Leben zu erwecken und zum Sprechen zu bringen, wobei egal ist, was sie sagen; es kann bescheuert sein, Hauptsache ist, es spricht. Das kann sich steigern zu einem „absoluten Rausch“17 in einer Clubnacht, oder es ist „plötzlich das, was Hans Nieswandt in seinem DJ-Klassiker-Buch […] einen guten Abend nennt“.18 Natürlich spielen die Drogen bei der Erzeugung dieses Zustands die zentrale Rolle. Der Bereich der Drogen wird überhaupt in der Jugend ähnlich ernst genommen wie bei den Erwachsenen der des Geldes. Die Mädchen sind auch ein Rauschmittel: durch ihre Körper, weil man mit ihnen nächtelang reden kann, weil sie die lockeren Formen von Begehren erzeugen, ohne die auch das präsentische Dasein nicht auskommt. Ein Erwachsener würde nun denken, dass Sex, Sex im engeren Sinn, doch ein sehr gutes Rauschmittel ist. Und so wiederholt sich unsere Ausgangsfrage in der Form, warum hier dieses Rauschmittel nicht verwendet wird. Vielleicht versteht man die Logik, die hier am Werk ist, wenn wir wieder die alte Struktur neben die neue halten. Vokabeln wie „Auflösung“ oder „der kleine Tod“ oder jouissance verweisen darauf, dass im Sex der große Andere, mit dem der Mensch im normalen Leben immer Kontakt hält, verschwunden, vergessen ist. Wenn das so ist, dann müsste der Sexualakt ein Moment extremer Verlassenheit sein. Derartiges ist aber nur in seltenen Fällen bezeugt. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist im Symbolischen der große Andere so fest internalisiert, dass er auch noch da ist, wenn er vergessen ist. Zweitens ist ja im alten Geschlechterverhältnis der Sexualakt einer der wenigen Momente, wo der Mann den großen Anderen inkarnieren kann; es ist nicht Verlassenheit, sondern die größte Nähe. Für die Jugend gilt, dass es total wichtig ist, dass die anderen immer da sind, anwesend im Sinn der Aufmerksamkeit, zumindest als Stimme über das Handy. Diese
16Ebd.,
62 f. 166. 18Ebd., 87. 17Ebd.,
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anderen haben die Funktion des Anderen, sie tragen die Bedeutung der Welt und des Selbst. Aber dass sie immer real anwesend sein müssen, zeigt, dass sie nicht internalisiert sind. Der Kontakt zu ihnen darf nicht unterbrochen werden. Das innere Gespräch muss immer mitlaufen; es darf nichts geschehen, das nicht erzählt werden kann. Genau das würde in der Auflösung des Orgasmus, in dem kleinen Tod geschehen, und darum hat der Sexualakt in der Jugend keinen Platz.
Literatur Gallas, Helga. 2005. Kleist. Gesetz, Begehren, Sexualität. Frankfurt a. M. Holert, Tom, und Mark Terkessidis. 1996. Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Hrsg. Tom Holert und Mark Terkessidis. Berlin. Lacan, Jacques. 1988. Radiophonie. Television. Weinheim (Erstveröffentlichung 1970/1974). Lottmann, Joachim. 2004. Die Jugend von heute. Köln. Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M.
Houellebecqs Les particules élémentaires – Wie man sich in einer narzisstischen Welt einrichtet (2001)
Eigentlich glauben wir ja, dass es heute nichts mehr gibt, womit man ein Publikum schockieren kann. Michel Houellebecq ist dies nun doch gelungen, und zwar nicht mit einer Strategie der Schockmaximierung, sondern weil er anscheinend den richtigen Punkt getroffen hat. Der Eindruck, den die Lektüre auf mich1 hinterlassen hat, ist zwiespältig. Einerseits erkennt man viele Topoi zeitgenössischer Kulturkritik wieder – insbesondere der Kritik an der narzisstischen Struktur unserer Welt –, andererseits ist es doch ein Buch, das mich berührt und gefesselt hat wie schon lange kein Text der zeitgenössischen Literatur. Die Gespräche und Diskussionen, die ich hatte, haben mir klargemacht, woran das liegt: Die Narzissmuskritik, die wir immer kennen – die Kälte, das Verschwinden von Verbindlichkeiten und übergeordneten Zielen, die Bindungsunfähigkeit, der Körper- und Schönheitsfanatismus, der Drang nach medialer Aufmerksamkeit, das Verdrängen des Todes etc. –, ist immer eine Kritik von außen. In Les particules élémentaires gibt es kein Außen. Die Wirklichkeit ist eben, wenn wir nun diesen übrigens auch vom Autor verwendeten Begriff gebrauchen wollen, narzisstisch. Es ist eine Innensicht. Für die Dauer der Lektüre lebt man in einer narzisstischen Welt. Das Buch ist kritisch, weil man dort ziemlich schlecht lebt. Aber stimmt das wirklich? Lebt es sich schlecht in einer narzisstischen Welt? Man braucht nur das Fernsehen anzudrehen, um narzisstisch strukturierte
1Auch
auf viele Leute, mit denen ich mich über Houellebecq unterhalten habe.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_20
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Welten vorgeführt zu bekommen, in denen es die Leute sich anscheinend gut gehen lassen. Vor diesem Hintergrund sieht man eine zweite Besonderheit an Houellebecq. Wo Narzissmus distanzlos vorgeführt wird, dann immer in der Perspektive der Gewinner. Houellebecq wählt in sehr radikaler Weise die Perspektive des Loosers, und zwar nicht des Verlierers, der am Ende doch noch gewinnt oder der im Unterliegen großartig wird, sondern des Verlierers, der neidisch, hässlich, verbittert und dumm wird.2 Houellebecq hat tatsächlich einen neuen Ort entdeckt.3 Es lohnt sich, dem nachzugehen, was es dort zu sehen gibt. Les particules élémentaires4 beschreibt die Biografien zweier Halbbrüder. Beide sind von der schönen Mutter zugunsten der Selbstverwirklichung in der gerade entstehenden Alternativkultur verlassen und wachsen bei ihren Großmüttern auf. Bruno, der Ältere, gerät in ein Internat, wo er von stärkeren Jungen sadistisch gequält und gedemütigt wird. Seit der Pubertät sind die Körper von jungen Frauen das Einzige, was ihn interessiert. In der Verfolgung seiner Ziele ist er völlig erfolglos, unglücklich, auf den Besuch pornografischer Filme reduziert. Trotzdem besteht er die Agrégation, integriert sich in die Welt der Lehrer, heiratet und hat einen Sohn. Dabei bleiben die attraktiven Schülerinnen das einzige Objekt seines Begehrens. Nach der Scheidung und einer kurzen, in einer sehr spezifischen Weise glücklichen Beziehung endet er in der Psychiatrie. Der zweite Bruder Michel lebt ohne Verbindung mit dem Leben auf der Ebene der Gedanken. Gerade dadurch wird er das Objekt der lebenslangen Liebe einer schönen und guten Frau. Die Liebe bleibt für eine Weile so etwas wie eine Kinderliebe und so lange ist sie glücklich. Zu einer erwachsenen Liebe ist Michel nicht fähig, Sexualität ist ihm fremd. Das Buch endet als ein Science-FictionRoman. Michel wird ein erfolgreicher Forscher und entdeckt ein Verfahren, das ihm erlaubt, Menschen zu klonen, die sexuelle Fortpflanzung überflüssig zu machen und den Menschen die Unsterblichkeit zu schenken. Nach dieser Entdeckung verschwindet er im Meer. Sein Werk wird der Ausgangspunkt einer Bewegung, in der eine neue Welt entsteht, eine Welt ohne Tod, ohne Differenzen, ohne Hass, ohne Begehren; mit seiner Hilfe wird die Menschheit als Spezies sich abgeschafft haben.
2Das
ist nicht die einzige Perspektive des Buchs, aber es ist eine wichtige. gibt einen zweiten Autor, der eine Innensicht der narzisstischen Welt gibt und der oft mit Houellebecq zusammen genannt wird, Bretwood Easton Ellis. 4Erschienen 1998. 3Es
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In seiner basalen Geste kann man den Roman mit Sartres Nausée vergleichen: Es geht um den Punkt, an dem man sich von allen gesellschaftlich vorgeschriebenen Doktrinen getrennt hat und sieht, was das Leben wirklich bestimmt. Wie immer erhellt auch hier der Vergleich die Unterschiede. Für den Protagonisten der Nausée liegt das sozial Wahre in dem bürgerlichen System von Rechten und Pflichten, das ihm in den Porträts der bedeutenden Männer der Stadt im Museum von Bouville entgegentritt. Die Bewegung des Romans besteht darin, dieses symbolische System, den Lacan’schen großen Anderen, der in die Seele der Menschen greift, an den sie glauben und der sie von innen beherrscht, zu entlarven und ihm seine Macht zu nehmen. Wie man es von einem postmodernen Roman erwartet, ist in Les particules élémentaires der Andere ein Surrogat, der eine Instanz ersetzt, von der man gerade einmal in einigen Momenten wahrnimmt, dass es sie gegeben haben muss. Für Michels schöne Freundin Annabelle als Teenager inkarniert sich dieser Surrogat-Andere in den Regeln über Liebe, Küsse, Sexualverkehr, die die einschlägigen Zeitschriften damals in die Welt setzten, für ihre Eltern in der Familienideologie, die die Zeit vom Kriegsende bis zum Ende der Fünfziger beherrscht, für Michel als Jungen in der Moral der von ihm geschätzten Comics – das Buch enthält eine ganze ziemlich gut informierte Soziologie der historischen Figuren des großen Anderen. Für Les particules élémentaires ist, was in der Nausée der Höhepunkt ist, die Desillusionierung, der Zusammenbruch des großen Anderen (in einer natürlich nicht so spektakulären Form) der Ausgangspunkt, das heißt, es gibt keine Werte, kein gemeinsames Begehren, nichts, was die Menschen wirklich verbindet. Soweit der Roman soziale Räume darstellt, sind sie von einem langweiligen, öden, bedrückenden Konformismus beherrscht.5 Das Symbolische alten Typs, die Dimension der Verpflichtung erscheint am Anfang des Romans, unter dem Titel des verlorenen Reichs. Es ist die Welt der Großmütter, die sich um die von der alternativ engagierten Mutter verlassenen Kinder kümmern, vor allem die Großmutter von Michel. Der Roman spricht voller Bewunderung von dieser Frau, die ihr ganzes Leben nur für andere gelebt und das für selbstverständlich gehalten hat. Aber es wird auch klar gemacht, dass ein solches Verhalten in der Gegenwart, in der der Roman spielt, keine Rolle mehr spielt, nicht einmal mehr verstanden werden kann.6
5In
Les particules élémentaires spielt die Sphäre des Berufslebens eine kleine Rolle. In Houellebecqs erstem Roman L’extension du champ de la lutte (ders. 1999 [1994]) bekommt sie mehr Raum. 6Vgl. Houellebecq (1998): Les particules élémentaires, 115 f.
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Es gibt auch nicht einmal mehr den Wunsch, dass es so etwas wie eine verpflichtende symbolische Ordnung geben möge. Es ist zwar nicht so, dass diese neue, konformistische symbolische Ordnung keine Macht hätte, dass man, was die Regeln in den Zeitschriften oder in den Büros vorschreiben, nicht ernst nähme; man nimmt es bitterernst. Aber es ist keine Macht, die identifiziert und Begehren schafft. Es ist, mit Lacan gesprochen, ein Symbolisches ohne Stepppunkt, ohne Beziehung zum Subjekt. Die einzige Beziehung liegt in der Angst, herauszufallen, nicht dazuzugehören. Daher sind die Protagonisten auch nicht mehr wie bei Sartre Pole eines Widerstandes. Es gibt nichts, wogegen, und nichts, womit man Widerstand leisten könnte. Wenn Bruno und Michel in einem gewissen Sinn doch noch Romanhelden sind, anders als die Menschen in ihrer Umgebung, dann nicht, weil sie sich gegen etwas wehren, was andere tatsächlich glauben würden. Aber sie haben nicht einmal die konformistische Angst und den Wunsch nach Zugehörigkeit verinnerlicht, der bei den anderen an der Stelle des Glaubens steht. Nicht einmal die Verfahren, mit denen üblicherweise imaginäre Identifikationen hergestellt werden, wenn die symbolischen nicht mehr greifen, wirken noch bei ihnen. Bruno ist von seinen Mitschülern gequält und gedemütigt worden, aber das führt ihn nicht zu einer Position masochistischer Bewunderung. Ebenso wenig hasst oder bewundert er, obwohl er von ihnen ausgeschlossen ist, die Cliquen, denen die Mädchen nachlaufen. Er ist nicht, wie Marcel, der Held in Prousts Recherche, ein Snob, der dazugehören möchte. Abwesenheit von Begehren, Abwesenheit von Glauben7 – das ist der Ort, den der Roman eröffnet: Es gibt keinen großen Anderen mehr, nur noch ein Reden wie die Reklamen im Supermarkt, an die niemand glaubt und denen doch jeder mehr oder weniger folgt. Das ist die allgemeine Aussage des Romans, die Aussage, wegen der man ihm die Qualität der Wahrheit zuweist: Es gibt offenbar heute für viele einen Ort in ihrem Leben, wo sie an nichts glauben, nichts begehren, mit nichts verbunden sind. Die ‚Liebe‘ und die Liebe Aber diese Skizze beschreibt mehr den Hintergrund, vor dem der Roman spielt, als diesen selbst. Tatsächlich sind die beiden Brüder von einem ganz bestimmten Begehren besessen. Les particules élémentaires ist, wie man mit Recht immer wieder sagt, ein Thesenroman. Er funktioniert über ein massiv ausgeführtes
7„Glaube“
wird hier terminologisch verwendet, wie zum Beispiel bei Žižek: als in einem Kollektiv anerkanntes Begehren.
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System von Oppositionen. In diesem System erscheint die Dimension der Verpflichtung nur am Rand. Das eigentliche Objekt des Begehrens, das, was am Anfang schon verloren ist, im Verlauf immer mehr verloren geht und schließlich in der neuen Menschheit wieder aufersteht, ist eine eigentümliche Form von Liebe. Was wir gewöhnlich Liebe nennen, eine bestimmte Beziehung zwischen zwei Personen, gibt es in Les particules élémentaires nur noch als etwas unmöglich Gewordenes. In groben Zügen ist der Sachverhalt folgender: Es gibt (noch) einige Frauen, die die Liebe suchen und zu ihr fähig sind. Aber da die Männer nicht lieben können, stürzt sie diese Suche nur in ein besonders tiefes Unglück. Um diese Verhältnisse besser zu verstehen, ist es nützlich, die Lacan’schen Figuren zu Hilfe zu nehmen. Bedingung der Liebe ist, dass das Objekt begehrenswert ist, phallische Attribute, anders gesagt: einen Wert in einer übergreifenden Ordnung, besitzt. Einige Frauen glauben in diesem Sinn an die phallische Qualität der Männer. Annabelle begehrt Michel, weil er so abwesend ist; das erlaubt ihr, in ihm etwas Vollkommenes, vollkommen Wertvolles zu sehen (was die Geschichte ja auch bestätigen wird, nämlich als den Wunsch, die Welt zu zerstören). Christine, Brunos ideale Freundin, hatte als junge Frau ganz einfach den Penis begehrt, sie hat ihn als etwas Großes verehrt und daher konnte sie Männer lieben. Damit sind wir nahe an Lacans Satz, dass die Frau in der Liebe den großen Anderen begehrt – auf den das Wunderbare in Michel oder, für Christine, der Penis des Ehemanns verweisen. Dieser Glaube ist bei den beiden Frauen unerschütterlich; innerhalb des desillusionierten Realismus, den der Roman sonst zur Schau stellt, sind diese Frauen die reinsten Traumgestalten. Der Roman entwickelt aber einen anderen Begriff der Liebe, der sich durch den ganzen Roman hindurchzieht und am Ende explizit formuliert wird. Diese „Liebe“ ist ein Raum, ein Weltzustand. Les particules élémentaires ist ein explizit konstruktivistischer Roman: Der Raum entsteht in den Köpfen der Menschen. Heute leben die Menschen als verschreckte Wesen in einem kalten, angsterzeugenden Raum, in dem sie sich traurig aus der Ferne grüßen. Der zukünftige Raum der „Liebe“, den Michel mit seinen Forschungen zu realisieren hofft, ist eine „wunderbare, endlose und wechselseitige Verknüpfung“.8 Die neugeschaffene Welt, so heißt es am Ende, „ist rund, glatt, homogen und warm wie der Busen einer Frau“.9 Wenn man vom Ende aus schaut, sieht man, dass
8Houellebecq 9Ebd.,
387.
(1998): Les particules élémentaires, 376.
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diese „Liebe“ das eigentliche Objekt des Begehrens ist, das den ganzen Roman organisiert – natürlich nicht als isolierter Begriff, sondern als Term einer Opposition, vor dem Hintergrund von Kälte und Trennung. Am Anfang ist es die Mutterliebe, die die beiden Brüder nicht gefunden haben und für die die Fürsorge der Großmütter ein Ersatz ist. Diese Liebe ist von Anfang an ein Raum und ein Zustand, ein „état fusionnel et regressif“, der für Houellebecq die unabdingbare Voraussetzung für Glück ist.10 Dieser Zustand entsteht, wenn Bruno sich an den Körper seiner debilen Großmutter schmiegt, auch, wenn sie lange nach ihrem Tod diejenige bleibt, der er im Geist alle Ereignisse seines Lebens erzählt. Oder wenn Michel als Junge mit seiner Cousine im Gras herumtollt.11 Oder wenn die Männer bei der Fellatio zu kleinen Kindern werden.12 Wenn Michel und Annabelle nach der Schule zusammen den Kanal entlanggehen. Er zeigt sich auch in dem Vertrauen, mit dem Michel auf einem alten Kinderfoto in die Welt blickt, in der Freude, mit der der kleine Bruno im Korridor der großelterlichen Wohnung mit seinem Dreirad aus dem Dunkeln auf den hellen Balkon zufährt. Dieser Zustand kann sich einer normalen Liebe annähern, wenn Bruno entdeckt, dass er in Christines Nähe keine Angst mehr hat und sich glücklich fühlt. Er ist das, was definitiv verschwindet, wenn die Großmutter tot ist, ein Verschwinden, das bei Michel eine „terreur animale et abjecte“13 auslöst, ihn zum zerstörten, verwüsteten Menschen macht. Was hier mit dem Begriff „Liebe“ angesprochen wird, meint offenbar nicht, was man gewöhnlich zuerst darunter versteht. Es hat mehr mit dem zu tun, was die Psychoanalyse „Symbiose“ oder „Urvertrauen“ nennt, mit Balints primary love, mit Bions Begriff des Containing oder mit Lacans jouissance. Diese „Liebe“ ist ein Verhältnis, das am Rande der sozial geordneten Wirklichkeit, außerhalb der Sprache, im Realen (in der Lacan’schen Bedeutung des Wortes) liegt, das aber trotzdem die Wirklichkeit in gewisser Weise begründet und trägt. Dieser Zustand hat eine Rückseite. Nach dem Tollen im Gras werden die beiden jungen Leute von quälenden Stichen geplagt. Es folgt die wissenschaftliche Beschreibung der Parasiten, die zu dieser Jahreszeit im Gras leben und sich in das Fleisch ihrer Wirte einbohren. Wenn sich Bruno an die Großmutter schmiegt, träumt er davon, sie zu erstechen und dann zu sterben. Seine tote
10Ebd.,
351. ebd., 44. 12Vgl. ebd., 175. 13Ebd., 118. 11Vgl.
Houellebecqs Les particules élémentaires …
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Großmutter sieht Michel wieder bei einer Umbettung auf dem Friedhof im präzise beschriebenen Zustand einer fortgeschrittenen Verwesung. Das leuchtende irische Meer ist das Meer, in dem sich Michel ertränkt. Der Raum der Liebe in der neuen Welt ist bezahlt mit dem Untergang der Menschheit. Sobald die Liebe zwischen Christine und Bruno fühlbar wird, droht auch eine unerträgliche Langeweile, gegen die die kluge Christine schnell eine Abhilfe findet: den Gruppensex. Die jouissance ist unerträglich. Wenn man sich ihr nähert, ist sie tödlich, und normalerweise kann man sie nur auf Umwegen und andeutungsweise erreichen.14 Diese Umwege sollen im Folgenden dargestellt werden. Sex – Begehren – Liebe Die Romane von Houellebecq sind eine einzige Reflexion über die Themen Sex, Begehren, narzisstische Rivalität, Liebe, Lust (plaisir), Genießen. Begehren (désir) wird vorwiegend mit dem Wunsch nach narzisstischer Differenzierung verbunden und gilt dann als das Böse schlechthin; in der neuen Welt ist es daher verschwunden. Andererseits gilt aber die Adoleszenz, die hohe Zeit des sexuellen Begehrens, als die einzige Phase, wo der Mensch überhaupt lebendig ist. In L’extension du domaine de la lutte, Houellebecqs erstem Roman, wird festgestellt, dass ein Pärchen in einer Gruppe von Jugendlichen mehr Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit austauscht als alleine, was als Beleg für die Bedeutung der narzisstischen Rivalität genommen wird. Aber es bleibt doch ein Rest, ein sexuelles, nicht rivalitätsinduziertes Begehren. Die Sexualität ist genauso ambivalent. Sie kann eine mechanische Operation sein, die sozialen Codes folgt,15 und das neue Kampffeld, das in der Moderne den klassischen Kampf um Reichtum und Macht ergänzt. Sie ist aber auch in einem kalten und langsamen Universum der einzig warme Ort. Immer wieder ist der Sex der Weg, wie man zu dem finden kann, was wir oben als „Liebe“ bezeichnet haben, der Weg zu jouissance; und die jouissance ist der einzige Ort, wo sich Menschen überhaupt begegnen. Der Sex und das sexuelle Begehren sind genau das Lacan’sche plus-de-jouir. Sie öffnen den Zugang zur jouissance und verstellen ihn zugleich. Nun setzt aber das sexuelle Begehren die (verborgene) Präsenz des Phallus voraus, die Präsenz von etwas, was in den jeweiligen Objekten „eigentlich“ begehrt wird. Dieses Etwas verweist auf zwei Dimensionen, einerseits auf das, was im Prozess der Symbolisierung, das heißt auch der Sozialisierung, ver-
14Das 15Vgl.
ist die Problematik, die in Lacans Begriff des plus-de-jouir angesprochen ist. Houellebecq (1999 [1994]): L’extension du champ de la lutte, 304.
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loren gegangen ist, auf die jouissance und das Reale. Andererseits verweist es auf den Wert, also das, was in der symbolischen Ordnung begehrenswert ist, auf das Begehren des großen Anderen. Diese Dimension wird in einer Szene eines Films von Éric Rohmer sehr hübsch evoziert. Die Protagonistin sucht einen Mann zum Heiraten. Dabei stellt sie fest, dass sie Männer als albern, langweilig gockelhaft empfindet, wenn sie ihr den Hof machen; sie gefallen ihr, wenn sie arbeiten, dann sind sie ernst und bei der Sache. In Les particules élémentaires gibt es aber keine Männer, die bei der Sache sind, keine Sache, die die Männer bewegen würde, ernst zu sein; was ein anderer Ausdruck dafür ist, dass es keine Formen symbolischer Ordnung gibt. Es gibt natürlich Codes, das sind entweder die Codes der narzisstischen Rivalität und/oder die der ebenso narzisstischen Angst und des Bedürfnisses nach Konformität. Der wichtige Punkt hierbei ist: Wenn die Sexualität von derartigen Codes beherrscht wird, wenn die Subjekte sich diesem (imaginären) Begehren des großen Anderen unterwerfen, dann geht die Verknüpfung zwischen Sex und Lust verloren16 bzw. wird sie in einer Bewegung gesucht, die von der „Liebe“ weg zur sadomasochistischen Gewalt führt. Die Sexualität steht also in der paradoxen Situation, dass sie auf phallisches Begehren angewiesen ist, dass dieses Begehren aber das zerstört, was an der Sexualität eigentlich wertvoll ist, die Begegnung in der Lust. Für dieses Paradox gibt die Person von Bruno eine – allerdings sehr zerbrechliche und auf eine bizarre Art anspruchsvolle – Lösung. Brunos Besonderheit besteht ja darin, dass er an keinen Code glaubt, keinen Wunsch nach Zugehörigkeit besitzt und sich in keinem System narzisstischer Rivalität situiert. Er ist nicht mit einem imaginären Selbstbild identifiziert wie die ganzen erfolgreichen jungen Männer, sondern mit dem Fehlen dieses Bildes, mit der Tatsache, dass er für die Frauen immer nur die zweite Wahl ist.17 Er begehrt zwar nach dem imaginären Modell das Versprechen auf narzisstische Vollständigkeit, das in dem vom Alter noch nicht berührten Körper der jungen Mädchen liegt, und will ihnen den Phallus geben, der ihnen fehlt. Aber dann kann/will sich Bruno mit diesem Phallus nicht identifizieren, wie es die normalen Männer tun. In den konkreten sozialen Strukturen, in denen die narzisstische Rivalität sich herstellt, bekommt das Begehren nach dem phallischen Selbstbild eine bestimmte Form, es entstehen reale Objekte des Begehrens. Bruno situiert sich überhaupt nicht innerhalb dieser Strukturen. Aus dieser Position des Nichthabens heraus sieht er
16Vgl. 17Vgl.
Houellebecq (1998): Les particules élémentaires, 303 f. Houellebecq (1998 [1994]): L’extension du champ de la lutte, 15.
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den Phallus nicht als gestützt durch das Begehren des (narzisstischen) großen Anderen, sondern durch das Begehren der Frauen. Er kann zwar nie Gegenstand dieses Begehrens werden; aber dieses Begehren wird auch nie desillusioniert wie auf dem „normalen“ Weg. Der Glaube an diesen Phallus bleibt unerschüttert. Das ist der einzige Glaube, den er hat, aber diesen Glauben hat er. In dem Roman geht es ja darum, einen Rest von Begehren, von Welt und Lebendigkeit zu erzeugen. Der Angelpunkt dieser Konstruktion, das Letzte, was noch bleibt, ist das (vom Mann) unterstellte Begehren der Frau. In dieser Logik ist es für Bruno die einzige Möglichkeit, zuzuschauen, wie machistisch Männer es mit den wunderbaren jungen Mädchen treiben. Das ist auch eine der Szenen des Romans. Aber der Autor gönnt seinem Helden doch eine befriedigendere Lösung. Bruno kann nicht wirklich mit einer Frau schlafen, weil er sich nicht mit dem Phallus identifizieren kann.18 Aber wie sein Halbbruder hat er ein Talent zu finden, was er eigentlich sucht, diesen état fusionnel, den Moment der jouissance. Diesen Zustand findet er in der Fellatio, wo die Männer nicht zu Phalloi, sondern zu kleinen Kindern werden. Das Problem ist dann: Der Phallus kann ja aus dem Spiel nicht verschwinden, er ist das plus-de-jouir, ohne den die jouissance nicht zu haben ist. Die Lösung ist eine spezifische Triangulierung. So schenkt der Roman Bruno für eine kurze Weile eine Frau, die bereit ist, ihm das Glück der Fellatio zu schenken, während sie sich einem anderen hingibt. Die jouissance der Weltzerstörung – die Naturwissenschaft als der große Andere Der große Andere in seiner Funktion, der Welt eine Ordnung zu geben und gemeinsame Objekte des Begehrens herzustellen, existiert nur noch in der Form des von Jahr zu Jahr – oder wenigstens von Jahrzehnt zu Jahrzehnt – wechselnden Mediendiskurses, dem alle folgen, ohne wirklich an ihn zu glauben. Es gibt eine Ausnahme, einen Diskurs, der die Funktion des großen Anderen wirklich ausfüllt, der Diskurs der Naturwissenschaft. Das Buch beginnt mit der Evokation eines glorreichen Momentes in der Geschichte der modernen Physik, der Ausarbeitung der Quantentheorie in Kopenhagen in den Jahren 1925 bis 1927 durch Niels Bohr. Hier lebt alles, was sonst kaum mehr am Horizont erscheint: Der Andere, die Reden, an die man glaubt, das gemeinsame Begehren, das Verbindung und Verbindlichkeit, Lust und Wärme und Berührung produziert. In
18Diese
Unfähigkeit braucht man nicht zu erschließen. Dauernd ist von Brunos mangelhafter Potenz und dem zu kleinen Penis die Rede.
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dem mikrobiologischen Forschungszentrum von Palaiseau, an dem Michel am Ende des Jahrhunderts arbeitet, ist von dieser Atmosphäre nichts mehr zu spüren. Die Regeln der Wissenschaftsbürokratie sind so wenig identifizierend wie die, die die Medien verbreiten. Trotzdem gibt es an diesem Ort eine Bewegung, die einerseits marginal, aber andererseits mächtig ist, in der die Wissenschaft nicht nur ein Spiel ist, das alle erfasst, aber niemanden berührt. Es gibt zwei alte Männer, Desplechin in Palaiseau, Walcott in Irland. Die Beziehung vom Vater zum Sohn, die in der Wirklichkeit leer geworden ist, weil die Väter den Söhnen nichts mehr zu geben haben und nichts mehr mit ihnen teilen können, lebt hier in metaphorischer Form wieder auf. Michel als Sohn verwirklicht, was Desplechin als Vater geträumt hatte. Der eigentliche Sinn der Wissenschaft, das Begehren, das sie trägt, ist – wir haben es am Anfang schon gesehen – die „Liebe“, der Raum als „wunderbare, endlose und wechselseitige Verknüpfung“,19 das Ende aller Trennung, die nur ein anderer Name für das Böse ist. In einer allerdings etwas kühnen Interpretation der Voraussetzungen der Quantenmechanik weiß Michel die Bedingungen der Möglichkeit der Liebe wieder zu entdecken. Es war Annabelle, die ihm erlaubt hatte, sich ein Bild von der Liebe zu machen, die er selbst nie gekannt hatte. Was mit diesem Raum der „Liebe“ zugleich angestrebt wird, ist natürlich das Ende der Menschheit. Wie Bruno den Glauben an den imaginären Phallus bewahrt, weil er keinen Anteil daran hat, so ist Michel der Held der Liebe als jouissance, weil er allem, was ihr nahekommt, getrennt ist. Weil er die jouissance begehrt, kann er die Wissenschaft aus der bürokratischen Erstarrung lösen und sie mit dem Begehren füllen, das sie tatsächlich trägt. Im Roman wird prophezeit, dass zu Beginn des dritten Jahrtausends die zum Erscheinungszeitpunkt maßlos überschätzten Autoren Foucault, Lacan, Derrida, Deleuze ihr Ansehen verlieren und die Menschen sich den Naturwissenschaften anvertrauen würden. Bei den inkriminierten Autoren ist der große Andere, oder was jeweils für ihn steht, immer eine Macht, die einem Einspruch ausgesetzt ist oder die vor eine Wahl stellt. Die Macht der Naturwissenschaften, wenn sie denn anerkannt ist, ist eine Macht ohne Grenzen. Die Menschen des 21. Jahrhunderts werden ihr folgen, weil sie das Begehren teilen, das das Begehren dieser Macht ist. Die neue Welt wird weiblich sein, sagt der unermüdliche Propagandist Hubczejak. Die Naturwissenschaften, die diese neue Welt begründen, sind selbst
19Vgl.
Houellebecq (1998): Les particules élémentaires, 376.
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„weiblich“. Sie ersetzen die „väterliche“ Diskursmacht, für die Foucault, Lacan, Derrida und Deleuze stehen, durch die „mütterliche“, die den Genuss und den Tod verlangt. Der „Realismus“ Houellebecqs Diskussionen über Houellebecqs Romane führen häufig zu Sätzen wie: „Die Welt ist nicht so!“; oder gerade umgekehrt: „So ist es wirklich!“ Und das ist dann jeweils das Ende der Diskussion. Was soll man zu solchen Sätzen auch sagen? Aber vielleicht kann man dieser Frage nach dem Realismus doch eine Fassung geben, in der sie einen Sinn macht. Als Beispiel kann man die Achtundsechziger-Bewegung nehmen. Einer der Standardvorwürfe gegen Houellebecq ist ja, dass für ihn die Achtundsechziger an allen Übeln, die er beschreibt, schuld sind. Wenn man auf die Inhalte schaut, so ist Houellebecqs Darstellung sicher völlig schief. Was man aber interessant finden kann, ist der Blick, mit dem er auf die Sache schaut und in dem die ungerechte Sicht entsteht. Das Besondere an diesem Blick ist die Radikalität im Übersehen. Verschwunden ist alles Politische, die Verbindung mit den Kämpfen der Dritten Welt, der Widerstand gegen Unterdrückung jeder Art, kurz: alle Sachen, um die es ging. Wahrgenommen wird die Auflösung aller Verpflichtungen, der Wunsch nach individueller Selbstverwirklichung; sie werden verstanden als die vollständige Durchsetzung der narzisstischen Rivalität als Prinzip der sozialen Strukturierung. Was den Roman auszeichnet, ist nicht die Beschreibung einer narzisstischen Welt, sondern vor allem die eines narzisstischen Blicks. Natürlich kann man Blick und Welt nicht trennen. Der Blick macht die Wirklichkeit zu dem, was er sieht, er produziert die Form, in der die Wirklichkeit zur Welt wird. Es gibt eine lange Tradition von an narzisstischen Phänomenen orientierter Kulturkritik, von Ziehe über Lasch bis zu Sennett. Diese Kritik schaut mit einem Blick, der wie auch immer anders strukturiert ist, und sie sieht den Narzissmus von außen als ein Phänomen, das in die eigene Welt eingeordnet wird. Nichts an den Phänomenen, die Houellebecq beschreibt, ist neu. Neu ist, dass er die narzisstische Welt mit einem narzisstischen Blick beschreibt, damit beschreibt er nicht nur Phänomene, sondern wirklich eine Welt. Aus dieser Welt ist die Unterscheidung imaginär – symbolisch nun völlig herausgenommen, nicht nur auf der Ebene des Beschriebenen, sondern auch auf der des Beschreibenden. Herausgenommen sind damit nicht nur alle Sachen, denen gegenüber jemand verpflichtet wäre, es sind auch alle narzisstischen Ziele herausgenommen; der Narzissmus wird hier nicht in der Phase der euphorisierenden und ja immer noch verbindenden Größenvorstellungen präsentiert, sondern in der Phase der
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Desillusionierung, und das ist nun einmal die immer präsente Rückseite jedes Narzissmus, seine „Wahrheit“. Das Beschriebene bleibt bei diesem Blickwechsel nicht einfach das Gleiche. In der kritischen Außenperspektive wird die narzisstisch strukturierte Wirklichkeit zu etwas wie einer psychiatrischen Anstalt. Was immer die „Insassen“ denken, planen und tun, es verweist immer auf dasselbe, auf ihren Defekt. Erst wenn die Wirklichkeit auch ihre Selbstabbildung mit in sich einbezieht, dann entsteht wirklich eine Welt, eine Welt, in der es Gutes und Schlechtes gibt, Wünsche und Ängste, richtige und falsche Abbildungen des Wirklichen, Utopien, eine Geschichte und eine Zukunft.20 Houellebecq zeigt, dass man heute nicht nur narzisstische Wirklichkeiten, sondern eine narzisstische Welt darstellen kann; und zwar so, dass man nicht denkt, hier rede ein Verrückter, sondern dass – wie viele auch immer – denken können: „So sieht es tatsächlich aus.“ Wenn eine Wirklichkeit als Welt dargestellt werden kann und auch so aufgenommen wird, dann ist eine Realität nicht eigentlich abgebildet, sondern entstanden und durchgesetzt, eine der vielen Welten, in denen wir leben und mit denen wir rechnen.21
20Nicht
jeder Blickwechsel hat diesen weltbildenden Effekt. Wenn in der sogenannten personalen Erzählweise die Wirklichkeit aus der Sicht eines Außenseiters welcher Art auch immer gezeigt wird, dann sieht man mit dessen Augen, aber das Bewusstsein, dass die Wirklichkeit eigentlich anders ist, bleibt immer präsent. Bei Houellebecq wird der narzisstische Blick vom Erzähler übernommen, nicht von einer Figur des Romans. 21Einiges spricht dafür, dass diese nicht leicht fassbare, aber fundamentale Verschiebung auf der Ebene nicht des Beschriebenen, sondern des Beschreibenden eine allgemeinere historische Entwicklung erfasst. Bezüglich der Protestsubkulturen der 1960er bis 1980er Jahre findet man sie auch auf einem ganz anderen Terrain. Bis vor einigen Jahren wurde diese – am bekanntesten im Kontext der Birmingham School – in Begriffen wie „Subversion“, „Revolte“, „semiotische Guerilla“ verstanden, in den neueren repräsentativen Studien (vgl. Thornton [1997]: The Social Logic of Subcultural Capital) sieht man in ihnen den Kampf um kulturelles Kapital, um „hipness“, also einen spezifischen Fall von narzisstischer Rivalität. Genau wie bei Houellebecq wird die symbolische Dimension der jeweiligen „Sache“ einfach als irrelevant ausgeschieden bzw. dem Bereich der Vorwände und Legitimierungen zugeschoben. Interessant dabei ist der wachsende Einfluss der Sozialtheorie Bourdieus, die in ihrer Grundanlage die „Wahrheit“ der kulturellen Phänomene sowohl in dem Kampf um Kapitalien als auch in der narzisstischen Rivalität sieht (wobei bei ihm eine Außenperspektive doch noch gewahrt ist, die in der Rezeption dann häufig verschwindet).
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Literatur Houellebecq, Michel. 1998. Les particules élémentaires. Paris. Ders. 1999. L’extension du champ de la lutte. Paris (Erstveröffentlichung 1994). Thornton, Sarah. 1997. The Social Logic of Subcultural Capital. In The Subcultures Reader, Hrsg. dies., Ken Gelder, 200–211. London.
Literaturwissenschaft als Identifikationssystem
Die Bühne der Repräsentation: Moderne und Postmoderne (2003)
Wenn man im Zusammenhang von Literatur von Repräsentation spricht, denkt man zuerst einmal an Mimesis, Realismus bzw. an die Realismuskritik, die das beherrschende Thema der Literaturdebatte der 1960er und 1970er Jahre war. Ich möchte mich mit aktuelleren Phänomenen beschäftigen. Dabei interessieren mich nicht so sehr die Abbildungsverhältnisse selbst, sondern der Raum und die Prozesse, in denen sie ablaufen. Ich will Repräsentation dabei in einer hermeneutischen oder systemtheoretischen Perspektive angehen, daher möchte ich eher von Selbstabbildungen sprechen. Dabei werden Kulturen als selbstreferenzielle Prozesse gesehen, die man als zweistufig beschreiben kann. In jedem praktischen Akt des Alltags werden Abbildungen der Kultur mitgestaltet; die „großen Selbstabbildungen“, zum Beispiel die der Literatur, stellen eine zweite Ebene der Selbstreferenz dar. Beginnen will ich mit einer kurzen Darstellung der Selbstabbildung bei zwei Autoren aus der Frühzeit der bürgerlichen Literatur, Diderot und Balzac. Im Zentrum der Novelle von Diderot, Madame de Carlière, steht die Unterhaltung zweier Freunde. Sie sprechen über ein gesellschaftliches Ereignis, eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Eine von ihrer Ehe enttäuschte Frau hatte sich zu einer neuen (festen, aber nicht ehelichen) Verbindung nur unter der Bedingung bereit erklärt, dass der Mann ihr feierlich und ganz persönlich Treue verspricht – eine ganz unübliche Erwartung. Als sie erkennen musste, dass das Versprechen nicht eingehalten wurde, hat sie dem Bruch der Verbindung die Form einer feierlichen öffentlichen Anklage gegeben. Der eigentliche Gegenstand der Novelle ist
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_21
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nicht diese Geschichte selbst, sondern die Reaktion der Gesellschaft, ihre Parteinahme, die Folgen dieser Parteinahme für die Betroffenen, die mannigfachen, oft zweifelhaften Gründe für die Parteinahme, der Umschlag der Stimmungen, das allmähliche Vergessen, sodass von dem Urteil nur eine Stigmatisierung ohne Gründe übrig bleibt. Worum es also geht, ist die Repräsentation von Handlungen in der Gesellschaft, die als eine Instanz der Bewertung und Sanktionierung, das heißt aber auch zuerst einmal der Abbildung, gesehen ist. Diese Gesellschaft wird als eine empirische Gruppe von Menschen, mit zufälliger Klugheit, verschiedenen Interessen, einem beschränkten Gedächtnis, gesehen, die von kontingenten Umständen und Stimmungen abhängig sind. Das Ergebnis ist natürlich: Es gibt weder eine richtige Abbildung noch eine gerechte Beurteilung; und diese sind eigentlich auch gar nicht denkbar. So unausweichlich und vielleicht auch banal uns dieses Ergebnis erscheinen mag, historisch ist diese Thematisierung etwas Neues, in seinem Auftauchen Datierbares. Auch in der älteren Literatur ist die Abbildung, Bewertung, Sanktionierung der Handlungen der Protagonisten durch die Gesellschaft immer selbstverständlich mitgegeben. Aber die Gesellschaft erscheint immer als eine ideale, nicht als eine empirische Instanz. Ihre Vertreter können sich täuschen oder getäuscht werden. Aber noch in diesen Trübungen drückt sich die selbstverständliche Überzeugung aus, dass es wahres Abbild und gerechte Bewertung gibt. Aus diesem Beispiel können wir zwei theoretische Schlussfolgerungen ziehen: 1. Jede Gesellschaft ist in sich ein Abbildungssystem. Die alte Literatur ist ziemlich unmittelbar Teil dieses Abbildungssystems. Konkret heißt das, dass die Texte die beschriebenen Handlungen im Wesentlichen in der gleichen Weise sehen und bewerten wie die Personen im Text und wie das Publikum in seinem realen Leben. 2. Was wir eigentlich Literatur nennen – das ist ein Sinn, dem wir den Begriff der Autonomie der Literatur geben können –, beginnt damit, die Abbildung zum Problem zu machen. Literatur ist dann Abbildung und Problematisierung nicht der gesellschaftlichen Realität, sondern der Gesellschaft als Abbildungssystem. Ich möchte das am Beispiel Balzacs deutlich machen, der gewöhnlich als der Realist überhaupt gesehen wird, bei dem der allwissende Erzähler immer die Eindeutigkeit des Sinns garantieren, bei dem also die Abbildung keinerlei Probleme machen soll. Der Père Goriot, einer der bekanntesten Romane Balzacs, beginnt mit der Feststellung, dass das Leben von Paris für jeden
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Nichtpariser unverständlich ist. Wiederum ist jedes Stadtviertel ein Universum für sich und dasselbe gilt für den Ausschnitt, auf den sich der Erzähler schließlich festlegt, eine bestimmte Pension. Das ist ein Topos Balzacs: Die Wirklichkeit besteht aus unzähligen, voneinander abgeschotteten Welten, die nach ihren eigenen Regeln funktionieren und sich untereinander nicht verstehen. Teilweise bilden diese Welten sich in sich selbst ab, wie die Gesellschaft einer Provinzstadt: Allerdings sind auch diese Abbildungen immer ungenügend. Manche Bereiche sind abbildungslos: Es gibt eine neue Form des Unglücks, das Unglück des „Überhaupt-nicht-Gesehenwerdens“. An der genannten Textstelle fingiert Balzac einen Leser, der nach dem Essen in einem Roman blättert und sich schnell zu langweilen beginnt. Das ist die triviale Darstellung eines großen Problems. Das Abbilden verlangt ein Interesse; das ist ein strukturelles Erfordernis, aber auch ein empirisches Problem; und es ist alles andere als selbstverständlich, dass dieses Interesse gegeben ist. Punktuell gibt es allerdings auch ein interesseloses Interesse an der Abbildung, so etwa bei dem Flaneur, diesem inneren Ethnologen, der sich gerade von der Fremdheit faszinieren lässt; oder, überraschenderweise, bei dem Wucherer, der die alles erfassende Macht des Geldes dazu benützt, in seiner finsteren Wohnung die verschiedensten Welten sich enthüllen zu lassen. Und natürlich gibt es den Super-Ethnologen, den Dichter, dieses gottähnliche Auge, der allen diesen ungesehenen oder schlecht gesehenen Wesen ihr wahres Bild schenkt. Aber wie kann der Dichter der Ort der Abbildung sein? Das ist ein Problem, das Balzac intensiv beschäftigt hat und dem er zwei Romane, Seraphita und Louis Lambert, gewidmet hat, Romane, in denen er selbst den Höhepunkt seines Werks sieht, die allerdings von der Kritik wenig beachtet werden.1 Es ist eine konstruktivistische Theorie der Abbildung, die Balzac hier entwickelt: Die Abbildungsmodi sind nicht Verfahren, die nötig und nützlich sind, um ein vorgängig bestehendes Wesen zu enthüllen. Sie sind Teil der Wirklichkeit und stellen diese her. Es gibt zwei Grundmodalitäten, die zugleich den Weltzugang, das Erleben und das Verstehen betreffen: einmal das unmittelbare Erleben, das Fühlen, die Intuition, das Herz; auf der anderen Seite die Analyse, der Verstand, die Distanz. Jede von beiden ist ein notwendiger Teil der Wirklichkeit, aber sie sind unvereinbar. Auf der höchsten Ebene des Erkennens führt die Dimension des Erlebens zu einer mystischen Weltschau, die den ganzen Kosmos in die Präsenz einer Vision
1Ausnahmen
sind Curtius (1923): Balzac und vor allem das für die hier skizzierten Fragestellungen wichtige Buch Nykrog (1965): La Pensée de Balzac dans la „Comédie humaine“.
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zusammenfasst. Diesen Modus des Erkennens beschreibt der Roman Seraphita. Es ist die Geschichte eines zweigeschlechtlichen Wesens, als Mann und als Frau geliebt, das schließlich zum Himmel aufsteigt. Der Schauplatz liegt am Rande der Welt: Es ist ein entlegener norwegischer Fjord. Der Träger der analytischen Weltabbildung ist ein junger Mann (Louis Lambert, in dessen Geschichte Balzac viel von seinem eigenen Leben einbringt), den sein Wissen verrückt werden lässt. In die unzusammenhängenden Sätze dieses Verrückten legt Balzac die Leitsätze seiner Gesellschaftstheorie. Das Fazit des Ganzen ist: Das Wissen über die Menschheit bildet sich in zwei unzusammenhängenden Modi ab, und es ist ein Wissen, das kein Mensch, eben nur ein Verrückter oder ein Engel, ertragen kann und das niemand wissen will. Andererseits – zum Beispiel im Avant-propos der Comédie humaine – stellt Balzac, was er zu sagen hat, als etwas Nützliches dar, etwas, was aufgenommen werden kann und soll. Das ist wichtig; aber wenn man den Gesamtzusammenhang beachtet, ist es klar, dass Balzac hier als eine Rolle spricht (wie in anderen Texten der Erzähler den schnodderigen Ton des Journalisten übernimmt). Die praktisch-soziale Nützlichkeit ist nur ein ganz und gar beschränkter Abbildungsmodus. In der Comédie humaine ist es klar, dass sie nie verstanden werden wird. Es gibt keinen realen Ort, wo ihre Bedeutung voll repräsentiert werden könnte. Man weiß, wie Lukács Balzac liest: als eine Abbildung der Gesellschaft, die der Autor zu verstehen glaubt und falsch versteht und der der marxistische Kritiker zu ihrer wahren Bedeutung verhelfen muss. Das ist eine Lesart, die mit großen Teilen des Werks und gerade denen, die Balzac besonders wichtig waren, nichts anfangen kann. In der hier skizzierten Perspektive erscheint eine andere Comédie humaine. Balzac beschreibt die Gesellschaft nicht als Gegenstand, über den er Bescheid wüsste, sondern als ein sehr komplexes, in sich widersprüchliches und sich selbst undurchsichtiges Selbstabbildungssystem. Er selbst, Balzac, der Blick, der sieht, ist in dem System selbst repräsentiert. In vielen verschiedenen Rollen, aber zentral in drei Positionen, als der Verrückte, als der Engel und als der konservative Kritiker seiner Gesellschaft – das letzte ist die Rolle, mit der er gewöhnlich identifiziert wird. Die letzte große Debatte über Wert und Funktion der Literatur lief in Frankreich von der Mitte der 1950er (die Diskussion um den Nouveau Roman) bis in die 1970er Jahre; wichtig waren dabei die Zeitschrift Tel Quel sowie Autoren wie Julia Kristeva und Roland Barthes. Der zentrale Punkt war dabei bekanntlich die Bekämpfung aller mimetischen (im aristotelischen Sinn), repräsentativen Dimensionen der Literatur. Die Sprache selbst ist faschistisch, sagt Roland Barthes; und zwar genau, weil sie repräsentiert, festlegt, an kollektive Konventionen bindet. Die Literatur hat die Aufgabe, gegebene Repräsentationssysteme
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aufzulösen. In dieser Debatte waren Kritiker und Schriftsteller aufeinander bezogen; der klassische Kanon wurde umgeordnet, es wurden neue Formen der Lektüre traditioneller Texte entwickelt. Ab Mitte der 1970er Jahre hat die deutsche Romanistik im Großen und Ganzen aufgehört, sich mit der aktuellen französischen Literatur zu beschäftigen. Als ich vor einigen Jahren eine Veranstaltung über den aktuellen Roman machte, ist mir der Grund klar geworden. Bisher hatte sich die Literatur für den Wissenschaftler immer schon als etwas in sich Geordnetes angeboten. Diese Ordnung war im Zusammenspiel von Schriftstellern, Kritikern und Publikum entstanden. So war es im klassischen 17. Jahrhundert, so in der Romantik, in der Zeit der engagierten Literatur, und so war es eben auch in der eben skizzierten Debatte. Etwa ab 1980 sieht es ganz anders aus; es gibt immer noch gute Bücher, immer noch Rezensionen, aber keine Polemiken mehr, keine Situierung, Ablehnungen und Bündnisse. Die einzelnen Bücher sagen wie immer unendlich viel, aber diese Unendlichkeit fasst sich nicht zu öffentlichen Bedeutungen zusammen, weil diese erst in einem Netz von Beziehungen und Differenzen entstehen. Es sieht so aus, als wäre früher die Literatur als Ganze noch einmal repräsentiert gewesen, wie auf einer Bühne, wo gerühmt, gefeiert, beschimpft, polemisiert und sehr viel getratscht wurde. Das Publikum drängte sich zu diesen intellektuell anspruchsvollen, aber preiswerten Spektakeln. Es war diese Bühne, die die Leser nicht nur anzog, sondern in gewisser Weise auch produzierte. Die Lust am Lesen war auch die Lust, diese Bühne zu betreten; man fand eine Identifikation, Gegner, Freunde, andere Bücher, eine Vergangenheit von Büchern, eine eigene Vergangenheit; ein geheimer Teil des Selbst durfte sich plötzlich zeigen und gesehen fühlen. Man fand eine Welt. Diese Bühne ist jetzt verlassen. Inwieweit kann man das, was wir hier skizziert haben, von einer hermeneutischen Position aus verstehen? Die Hermeneutik sieht die Kultur als einen selbstreferenziellen historischen Prozess. Die Kultur stellt ein sinnhaftes Weltwissen zur Verfügung, das in „heiligen Texten“ fassbar ist. Wenn aus irgendwelchen Gründen das automatische Funktionieren dieses Wissens gestört ist, wendet man sich an die Texte und legt sie im Hinblick auf die gegenwärtige Problemlage neu aus. Dabei ist die Interpretation der Texte ebenso wie das gesamte Weltverhältnis durch dieses Vorwissen geleitet. Auch die Produktion neuer Texte, bei der es sich ja immer um Anknüpfen an Traditionen und deren Variierung geht, lässt sich zwanglos nach einem solchen Muster verstehen. Die Geltung des Vorwissens als Ganzem kann für Gadamer nicht infrage gestellt werden, aus zwei zusammenhängenden Gründen. Das Vorwissen ist so umfassend, dass es als Ganzes nicht thematisiert werden kann. Und es leitet die Konstitution der Welt selbst; es gibt keinen Ort, von dem aus man es wahrnehmen könnte, weil es
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die Form der Wahrnehmung selbst bestimmt. Wenn wir uns nun an die von Diderot entwickelte Problematik erinnern, so sehen wir, dass die Dinge so einfach nicht liegen. Das soziale Vorwissen kann gleichzeitig als faktisch die Welt organisierendes hingenommen und in seiner Geltung als ein nur konventionelles und kontingentes infrage gestellt werden. Hier wird ein Problem sichtbar, für das sich die Hermeneutik meines Wissens nicht besonders interessiert hat und das man besser fassen kann, wenn man den Bourdieu’schen Begriff des Habitus einführt. Danach funktionieren die normativen und kognitiven Muster einer Kultur dadurch, dass die Kultur nicht nur sich selbst dauernd reproduziert, sondern auch die Menschen herstellt, und zwar so, dass diese Muster auf sie passen, für sie selbstverständlich sind; das Ergebnis dieser Produktion ist der Habitus. Der Habitus ist also etwas wie eine Schleife: Die Kultur ist Kultur, weil sie von dem Habitus aus gesehen, erlebt wird, den sie andererseits selbst herstellt. Das in der Moderne sicher relevante Phänomen, dass die Habitusproduktion misslingt, interessiert Bourdieu nicht, aber der Begriff erlaubt es, solche Phänomene in einer neuartigen Weise zu beschreiben. Damit eröffnet sich ein Feld von Fragen, zum Beispiel nach den Bedingungen von Gelingen oder Misslingen, nach der Historizität dieser Bedingungen. In der so erweiterten hermeneutischen Begrifflichkeit möchte ich jetzt die modellhaft skizzierte Geschichte der kulturellen Selbstabbildung in der Literatur beschreiben. 1. Die vorbürgerliche Literatur funktioniert nach dem hermeneutischen Modell in seiner einfachen Form. Eine bestimmte Vorurteilsstruktur ist gegeben und wird nicht infrage gestellt. Daher ist selbstverständlich, dass es wahre Abbildungen der Gesellschaft gibt. Der Gegenstand der Literatur sind Konflikte im Innern dieser Vorurteilsstruktur: zum Beispiel Konflikte zwischen Liebe und Ehre, zwischen der Ethik der Ehre und der christlichen Moral, zwischen einem ethisch und einem zweckrational ausgerichteten Umgang mit Macht. Die Produktion der Habitusschleife, die die Wahrheit der Weltabbildungen garantiert, funktioniert. 2. Zu Beginn der Moderne, bei Diderot, bei Balzac, wird in ganz verschiedener Weise die Möglichkeit einer wahren Selbstabbildung infrage gestellt. Es gibt zwar Selbstabbildungen in der Wirklichkeit selbst, aber sie sind mit einem Zweifel behaftet und halten dem Nachdenken nicht stand. Man kann sagen, dass das Problem der Selbstabbildung das theoretische Kernproblem der ganzen bürgerlichen Literatur ist. Auch am Ende der Moderne, in den letzten großen literaturtheoretischen Diskussionen der 1960er und 1970er Jahre, geht es darum. Hier ist vorausgesetzt, dass die sozialisierende Habitusproduktion Gewalt ist; der Literatur wird die Aufgabe zugewiesen, diesen Prozess immer
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wieder zu durchbrechen. Die Habitusproduktion funktioniert also, aber sie erzeugt keine selbstverständliche Zustimmung, keine Selbst- und Weltgewissheit, sondern wird als Gewalt und Konformismus gesehen. 3. Damit haben wir sehr bekannte Dinge von einer spezifischen Problemstellung her wieder aufgenommen. Aber wie kann man das verstehen, was uns hier eigentlich interessiert, das Verlassen der Bühne, auf der die literarischen Positionen sich begegnen? Im systemtheoretischen ebenso wie im hermeneutischen Verständnis ist die Kultur in jedem ihrer kleinsten Akte ein selbstreflexiver Prozess: Immer wird alles, was einem konkret begegnet, auf räumliche, zeitliche, soziale, normative Kontexte bezogen, in jedem Akt werden Abbildungen der kulturellen Zusammenhänge evoziert. Die literarischen Selbstabbildungen haben mit den rituellen, mythischen, religiösen gemeinsam, dass sie aus der alltäglichen Selbstreproduktion der Kultur herausgehoben sind. Dieses Herauslösen realisiert sich auf verschiedenen Ebenen; es ist im religiösen Bereich am besten sichtbar und am meisten untersucht worden, gilt aber mutatis mutandis genauso für die Literatur: 1. Die Gesamtabbildungen brauchen einen gesonderten außeralltäglichen Raum, im religiösen Bereich eben den Raum des Heiligen. In der Bibelforschung findet man ausführliche Untersuchungen, wie sich die verschiedenen Gattungen der heiligen Texte auf die verschiedenen Orte in der religiösen Räumlichkeit beziehen. 2. Es gibt ein spezialisiertes Personal und ausgearbeitete symbolische Traditionen. Diese beiden Dimensionen schaffen einen gleichzeitig konkreten, symbolischen und sozialen Raum, einen Raum, in dem man sich nicht selbstverständlich bewegt und zufällig begegnet, sondern an dem man sich zu bestimmten Zeiten versammelt; dabei handelt es sich der Idee nach um eine Versammlung von allen. Was ich am Anfang die Bühne genannt habe, ist dieser Raum der Versammlung. Wir können jetzt den Übergang von der zweiten (modernen) zu der dritten (postmodernen2) Phase unseres historischen Schemas beschreiben. In der
2Der
Begriff der Postmoderne bezeichnet gleichzeitig eine komplexe kulturelle Entwicklung und eine bestimmte (schon etwas aus der Mode gekommene) Beschreibung dieser Entwicklung. Hier ist das Wort nur als Etikett für das Erstgenannte verwendet. Der Sache eher angemessen wäre wahrscheinlich ein Begriff wie „vollendete Moderne“.
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zweiten Phase ist der Zusammenhang von Habitus und Welt, wenn auch als problematischer, bewahrt; das gilt noch für die französischen Theorien der 1960er und 1970er Jahre: Die symbolische Ordnung bei Lacan oder Kristeva, Foucaults Disziplinargesellschaft, Derridas Metaphysik sind bestimmte Beschreibungen eines solchen welt- und subjektproduzierenden Zusammenhangs. Er existiert und er produziert noch die Bühne, auf der natürlich nicht mehr die Religion die wichtigste Rolle spielt, sondern neue Diskurse – Nationalismus, Gesellschaftstheorie, Literatur, Philosophie –, wo es nicht um Bestätigung des Habitus, sondern um Neudefinitionen und Kritik geht. Es liegt nahe, die Frage zu stellen, was eigentlich der Kern dieses Habitus ist, der der modernen Kultur ihre problematische Einheit gegeben hat. Wenn man von der Literatur aus schaut, von Thomas Mann, Franz Kafka, Marcel Proust, Jean-Paul Sartre, dann ist die Antwort einfach: Es ist das Prinzip der Familie, nicht der bürgerlichen Intimfamilie, sondern der Familie im genealogischen Sinn als Erbfolge, wie sie im Bürgertum aus der vorbürgerlichen Zeit weiterlebt, Familie in dem Sinn auch, dass die Gesellschaft eine Gesellschaft von Familien (und nicht von Individuen) ist: In diesem Sinn ist die Familie eine ethische Institution und produziert einen fundamentalen Habitus: Sie identifiziert das Kind von Anfang an mit einer Position in einem umfassenden Zusammenhang, sie schenkt eine Mitgliedschaft, Rechte und verpflichtet damit. Alle konservativen Ideologien der Moderne stellen diese Institution in den Mittelpunkt. Im Hintergrund der literarischen Werke der Moderne findet man fast immer, liebevoll in den Buddenbrooks, hasserfüllt bei Sartre, ambivalent bei Kafka, dieses Bild der Familie und ihrer Ethik wieder, als das, wogegen sich das Leben in und durch die Literatur absetzt. Der Bruch im Habitus zwischen Moderne und Postmoderne ist nach dieser These in der Auflösung der genealogischen Familie begründet, eine Entwicklung, die sich durch das ganze 20. Jahrhundert durchzieht, aber erst in den 60er und 70er Jahren breit durchsetzt. Diese Bemerkungen bekommen einen theoretisch interessanten Kontext, wenn man sie verbindet mit Lacans Auffassung des Ödipus als Identifikation mit dem genealogischen (nicht dem wirklichen) Vater, und als Einführung in die symbolische Welt der Rechte und Pflichten. Den klassischen Ödipus muss man auch in der Dimension der Gabe sehen, im Sinn von Marcel Mauss, als verpflichtende Versprechung einer Position in der Welt und damit als Imperativ, sich mit der Familienzugehörigkeit zu identifizieren.3 In der Moderne ist nicht mehr
3Vgl.
etwa Lacan (1994): Le séminaire livre IV [1956–1957], 82.
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verlangt, dass der Erwachsene diese Identifikation übernimmt, aber was immer sich – in den komplexen Prozessen der Ablehnung und der Annahme – an Identität herausbildet, entsteht in der Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Ursprung.4 Das heißt, es gibt einen einzigen Habitus, eine gemeinsame erste Strukturierung der weltbildenden Vorurteile. Die Auflösung der genealogischen Familie bedeutet dann auch eine Umstrukturierung des Ödipus.5 In dieser Perspektive kann man den Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne in einem etwas literarischen Bild zusammenfassen: In der Moderne hat jeder die Stimme des genealogischen Vaters gehört, die ihm sagt, was er zu sein hat. Was er in seinem Leben tut, welchen Traditionen er sich anvertraut – immer ist es eine Antwort auf diesen Imperativ. Die ganze Vielfalt der Traditionen hat ihre Einheit als Antworten auf diese Stimme. Diese Stimme spricht nicht mehr, wenn der genealogische Vater verschwindet. Wie immer der postmoderne Ödipus aussehen mag, es scheint eine plausible Annahme zu sein, dass dieser Zusammenhang aufgelöst ist. Der Ödipus stattet nicht mehr mit Rechten und Pflichten aus, die sich auf die Kultur öffnen, er produziert nicht ein Familienmitglied, das diese Mitgliedschaft ausfüllt oder ablehnt. Die späteren kulturellen Zusammenhänge bauen nicht auf gemeinsamen Vorurteilsstrukturen auf; sie schaffen diese jeweils neu. Es sind jeweils abgeschlossene Kulturzusammenhänge. Eben deswegen ist unsere Kultur nicht mehr eine artikulierte Einheit, sondern ein Gemenge von Szenen. In dieser Auffassung, das möchte ich betonen, ist die Postmoderne (oder abgeschlossene Moderne) nicht eine Position in theoretischen Auseinandersetzungen, sondern ein historisches Ereignis auf der Ebene der Konstitution der kulturellen Welt. Das sind sehr kurze Bemerkungen. Ich denke, sie können hilfreich sein, um zu zeigen, dass der gesamte Raum der kulturellen Selbstabbildungen in der Postmoderne sich in einer sehr radikalen Weise verändert, von der wir als Spezialisten dieser Selbstabbildungen auch wesentlich betroffen sind. Einige Dimensionen dieser Umstrukturierung möchte ich im Folgenden darstellen.
4Die
Betonung der Bedeutung der ersten Identifikationen unterscheidet einen von Lacan abgeleiteten Begriff der Identität von Vorstellungen, wie sie etwa von Habermas und Tugendhat vertreten werden, wonach Identität sich in einer immer erneuerten Erzählung herausbildet. 5Zuerst klar fassbar wird dieser Prozess an dem Konzept der romantischen Liebe. Vgl. Kittler (1978): Der Dichter, die Mutter das Kind, 102–114. Für die aktuelle Situation schließen sich hier die bekannten Diskussionen über neue Werte, Individualisierung, Narzissmus unmittelbar an.
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Der erste Punkt betrifft das Verhältnis von kulturellen Selbstabbildungen und Lebenspraxis. In der hermeneutischen Perspektive ist es klar, dass beide Bereiche immer aufeinander bezogen sind. Selbstabbildungen sollen den Zusammenhang zwischen dem durch Vorurteil bzw. Habitus strukturierten Subjekt und der Welt verdichten, sodass das Subjekt in der Formung von Körper und Seele auf die Welt bezogen ist und die Welt auf die Form des Subjekts. Die traditionelle Hochkultur ist ihrem Wesen nach auf ein solches Subjekt mit einer inhaltlich ausgefüllten und integrierten Struktur von Vorurteilen bzw. Identifikationen ausgerichtet. Es ist eine „tiefe“ Kultur,6 die das Subjekt in der Tiefe seiner Identität erfasst, und eine „breite“ Kultur, die sich immer auf das Gesamte des jeweiligen Kanons bezieht. Das Interesse zum Beispiel an Literatur hat traditionellerweise auf der Vorstellung beruht, dass die Literatur in einer nur ihr eigenen Weise Wesentliches über die „Wahrheit unserer Kultur“ aussagt. Lukács oder Heidegger oder Adorno oder Roland Barthes – alle hatten das geglaubt, und auch viele, die der Literatur fernstanden. Wahrheit in diesem emphatischen Sinn kann sich nur auf den Zusammenhang von Kultur und Habitus beziehen, und mit der Auflösung dieser Einheit kann es keine „Wahrheit unserer Kultur“ mehr geben. Als Indiz für eine solche Entwicklung kann man ansehen, dass die traditionelle Hochkultur sich ihrerseits zu Szenen reduziert oder in eine Erlebniskultur7 verwandelt; ihr einstiger Anspruch, den Kern der Gesamtkultur, den Nexus zwischen Subjekt und Welt abzubilden, ist schon fast vergessen. Das bedeutet natürlich nicht das Ende der Literatur, aber es bedeutet eine Verschiebung ihrer Position innerhalb der Gesamtkultur. Die Geisteswissenschaften haben nicht nur die Abbildungssysteme der traditionellen Kultur zum Gegenstand, sie sind Teil von ihnen. Die viel berufene Krise der Geisteswissenschaften ist nicht nur eine äußere; es geht um eine Funktionsverschiebung, die eine Antwort verlangt. Das hermeneutische Kulturmodell beschreibt Kultur als einen Prozess, in dem eine Beziehung der Kultur auf sich selbst als Ganze eingebaut ist, in dem es eine Dimension bewusster Arbeit der Kultur an sich selbst gibt. Von der klassischen bürgerlichen Kultur konnte man mit guten Gründen sagen, dass sie von diesem Ideal gesteuert wurde; das gilt heute offenbar nicht mehr. Das hermeneutische Modell kann man unter heutigen Verhältnissen nur in abgeschlossenen „Szenen“ finden, in denen eine Lebensweise, ein Habitus, Formen und Bühne der Selbstabbildung aufeinander bezogen sind. Eine aktuelle
6Vgl. 7Vgl.
Jameson (1986): Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, 45–102. Schulze (1992): Die Erlebnisgesellschaft.
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Realisierung des hermeneutischen Prozesses findet man zum Beispiel in der Popszene, genauer gesagt: im Underground-Bereich der Popszene. Hier wird eine Lebensweise produziert, ein Habitus, Selbstabbildungen in Musik und Liedtexten, und es gibt die Bühne einer öffentlichen Diskussion, wo Produktion und Leben aufeinander bezogen werden: Das sind einmal die Vorstellungen selbst, die intensive und in Interviews öffentlich gemachte Diskussion der Abhängigkeiten und Kontroversen, die Kneipen, die dieselbe Funktion haben wie früher die literarischen Cafés. Es gibt eine interne Geschichtsschreibung, einen historischen Kanon und eine beständige Ausarbeitung des Kanons, Wiederentdeckungen von Vergessenem, Neubelebungen etc. Interessant ist dabei die Entwicklung des Prinzips, nach dem sich der Underground nach außen abgrenzt. Ursprünglich folgte die Abgrenzung dem Kriterium, das schon im 19. Jahrhundert die Bohème und dann die künstlerischen Avantgarden praktiziert hatten. Man verstand sich als Opposition zu einer einheitlichen Gesamtkultur, die durch Leistungsdruck, Statusdenken, Lust- und Sexualfeindlichkeit, eine abstrakte Rationalität, Gewaltbereitschaft und Unterdrückung gekennzeichnet war. In neuester Zeit löst sich diese Grenzziehung auf, und zwar deswegen, weil die Gesamtkultur nicht mehr als ein Block, sondern selbst als eine Vielfalt von Szenen wahrgenommen wird, sodass die Popkultur als eine Szene unter anderen erscheint.8 Da die Zugehörigkeit zur Popszene gewöhnlich mit der Pubertät beginnt, ist der Pop auch eine Kultur mit einer gewissen Tiefe, in der sich strukturierte und artikulierte Biografien entwickeln. Im Gegensatz zur traditionellen Kultur ist es nur eine abgegrenzte Szene; sie erfasst nie die ganze Person, man kann sie verlassen oder aus ihr herausfallen. Auch die traditionelle Kultur war nur zum Schein universal, sie beruhte auf einem kontingenten Habitus. Aber da es eben die eine große europäische Kultur war, blieb diese Bedingtheit unauffällig. In der Popkultur wird unaufhörlich über gut und schlecht, richtig und falsch diskutiert, aber diese Diskussion ruht – ganz explizit und ausgesprochen – auf einer Verwurzelung, man kann nur von innen mitreden. Damit stellt sich ein neuartiges Problem, das den Status des Wissenschaftlers betrifft. In den traditionellen Geisteswissenschaften ist der Wissenschaftler Mitspieler im kulturellen System der Selbstabbildung. Er agiert in einem ausdifferenzierten Bereich, der etwa von der Kritik oder der reinen Kunstliebe klar abgegrenzt ist, aber er ist eben doch Mitspieler, gleichgültig ob er mehr Kenner und Kritiker ist, mehr Historiker oder Philologe. Zugleich ist er auch Leser und
8Vgl.
Holert, Terkessides (1996): Einführung in den Mainstream der Minderheiten.
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als Mensch Teil der Kultur, in der die Literatur operiert. In den neueren Szenen ist er normalerweise außen, er teilt nicht Habitus und Lebensweise und was er sagt, liegt außerhalb des Selbstverständigungsprozesses der kulturellen Szene. Daher wird jetzt vom Wissenschaftler verlangt, dass er gleichzeitig Teil der Szene und distanzierter Wissenschaftler ist, eine Position, die in den angloamerikanischen Cultural Studies recht typisch ist. Tatsächlich ist die Forderung nach einer Zugehörigkeit etwas, das nach unserem Verständnis von der Wissenschaft und auch von der Identität des Wissenschaftlers äußerst befremdlich ist. Nach einer begrifflichen Logik wäre wohl die klare Trennung einer Innenperspektive und einer Außenperspektive, in der Sprache Luhmanns der Beobachtung erster und zweiter Ordnung, die richtige Lösung, eine Trennung, die aber in den Geisteswissenschaften ganz neu wäre. In dieser Übersicht über die Problemzonen, die mit der neuen Topografie der kulturellen Systeme entstehen, möchte ich jetzt auf das Problem eingehen, wie sich die Selbstabbildungen einer kulturellen Szene in eine andere übertragen, in dieser abbilden lassen, also auf eine neue Form der Interpretation, die man gewöhnlich kontextuell nennt. Dabei will ich wieder von der Popkultur ausgehen. Die Intellektuellen der Popkultur haben ein sehr klares Bewusstsein der Tatsache, dass sie als Angehörige einer bestimmten und begrenzten Kultur urteilen, sich entscheiden, handeln, und dass Sichtweisen, von denen sie sich bestimmen lassen, begrenzt und an konkrete soziale und historische Zusammenhänge gebunden sind. Entsprechend verstehen sie auch die Popkultur nicht als einen einheitlichen Zusammenhang, sondern wieder als ein Bündel verschiedener Kulturen, die auf jeweils anderen Voraussetzungen basieren. Die klassische hermeneutische Position geht davon aus, dass wir die Texte unmittelbar verstehen, weil wir durch die Tradition, zu der die Texte gehören, zu dem geworden sind, was wir sind. Wir sammeln zwar eine Menge Kontextwissen; aber diese Kenntnisse haben nur eine Hilfsfunktion, der Kern unserer Arbeit zielt daraufhin ab, „die Texte selbst“ zum Sprechen zu bringen, weil wir, in einem hermeneutischen Zusammenhang mit Recht, die Überzeugung haben, dass sie zu uns sprechen. Die geisteswissenschaftliche Lektüre ist immer eine Lektüre erster Ordnung. Wenn Diedrich Diederichsen9 die Konzerttour eines Hip-Hoppers beschreibt, ist das eine Beobachtung zweiter Ordnung. Er beschreibt, wie Ice-T auf sein schwarzes Publikum wirkt und auf das weiße, welche Reaktionen er in den verschiedenen Hip-Hop-Zentren hervorruft, wie er auf diese Reaktionen
9Diederichsen
(1993): Präsident Bush’s Most Wanted.
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reagiert, wie er sich selbst in der Szene situiert, was die schwarzen Intellektuellen von ihm halten, wie sich seine Musik zu den Ghettoproblemen, zu Gewalt und Drogensucht verhält. Gegenüber diesem Mosaik, das auch eine ziemlich vollständige Beschreibung des kulturellen Prozesses als Ganzem ist, sucht der Journalist dann, seine Position und sein Interesse zu situieren. Die bildende Kunst ist der hochkulturelle Bereich, der das klarste Bewusstsein der postmodernen Bedingungen hat. In ihm ist auch die Technik der kontextuellen Lektüre am deutlichsten entwickelt, in Deutschland besonders in der Zeitschrift Texte zur Kunst. Die Beschreibung einer Ausstellung zum Beispiel folgt hier einer neuen Ordnung. Da ist zuerst der Raum: Eine Galerie ist ein symbolischer Ort, dessen Stellenwert bestimmt ist durch das Verhältnis zu anderen Galerien auf der Ebene der favorisierten Richtungen, durch das Verhältnis zum Kunstmarkt, zur subkulturellen Szene und zu deren eventuellen politischen Ansprüchen. Die Ausstellung ist ein Ereignis in diesem Netz, sie kann Annäherung, vorsichtige Distanzierung, Brüche etc. bedeuten. Ferner ist die Ausstellung ein Moment in dem komplexen inneren Leben der Gruppe und ebenso in der Entwicklung jedes Einzelnen. Inhaltlich verweist sie auf die Werke anderer Künstler, sie kann diese weiterentwickeln, dagegensetzen, mit ihnen spielen, was unmittelbar war, reflexiv machen. Schließlich ist sie Auseinandersetzung mit ganz anderen Kunstrichtungen, am Ende verweist sie auch in direkter Weise auf ein Außerkünstlerisches, Gesellschaftliches. Letztlich will sie in genau dieser beschriebenen Weise gelesen werden; sie macht sich selbst lesbar für eine Kritik, die in dieser Weise zu lesen gelernt hat. Eine solche Kritik setzt den Leser in ein sehr spezifisches Verhältnis zum Objekt. Ein Kunstwerk der klassischen Moderne (ein Bild von Klee, ein Absatz von Proust) repräsentiert den Bruch einer traditionellen Sehweise und etabliert ein neues, dem Künstler eigenes Weltverhältnis. Gewiss verweist auch die moderne Kunst auf die eigene Werkgeschichte und darüber hinaus auf eine potenziell unendliche intertextuelle Dimension. Aber der Kritiker, der aktuelle Ort der Repräsentation, kann sein Wissen übersetzen in eine Bedeutung, die dem Ideal nach jedem zugänglich ist. Bei der aktuellen (postmodernen) Kunst ist dieses Herauslösen aus den kontextuellen Zusammenhängen unmöglich. Es gibt keine Bedeutung „für jeden“. Die Ausstellung bedeutet nur etwas in dem symbolischen Netz, das ich angedeutet habe. Dieses Netz ist nicht nur ein Geflecht von Vorstellungen, es ist Material, in ihm wird gearbeitet, Geld verdient, werden Freundschaften geschlossen, wird gestorben; all das kann zum Teil der künstlerischen Unternehmungen selbst gemacht werden; man denke nur an Warhols Factory.
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In der europäischen Tradition, zuletzt und explizit in der Hermeneutik, ist immer der Zusammenhang von Kunst und Lebenspraxis als Kriterium für „hohe Kunst“ genommen worden; was aus diesem Zusammenhang herausfällt, ist trivial. Diesem Kriterium entspricht heute nur Kunst, die sich ihrer Bindung an lokale Kontexte, an Szenen bewusst ist. Die universalistische Hochkultur ist trivial geworden; sie redet nicht mehr über das Ganze, sondern ist Teil des Alltagslebens, eben „Erlebnis“. Zu einem solchen Befund muss man sicher anmerken, dass er mehr eine Tendenz als einen Tatbestand beschreibt. Unsere Kultur und damit auch die Selbstbeschreibungen sind immer noch zu einem guten Teil modern. Es bleibt die Frage – und mit ihr möchte ich abschließen –, ob es eine Kunst gibt, die die postmoderne Problematik aufgreift und sich dennoch nicht an bestimmte Kontexte bindet. Kunst verweist auf Kunst, Bücher verweisen auf Bücher, Filme auf Filme – das ist eine der Eigenschaften, die aktueller Kunst oft vorgeworfen wird: In einer endlosen Kette von Verweisungen repräsentiert sie schließlich nichts als die Kunst selbst; sie macht müde und hat nichts zu sagen. Das ist nun allerdings immer so gewesen, auch die Hermeneutik betont, dass jedes noch so originelle Werk originell als Arbeit in einer Tradition ist. Interessant ist aber, warum es jetzt wichtig wird, die Verweisungen explizit zu machen. Nehmen wir einen Film wie Pulp Fiction. Es ist ein Film über Filme, über Videos, über Comics. Zugleich ein Film über die Pop-Ästhetik der 70er Jahre, der sich gleichzeitig über die 70er Jahre und ihr aktuelles Revival lustig macht. Es gehört zum Film – und Tarantino breitet es genüsslich aus –, dass er in jungen Jahren in Videotheken, Comicläden, Plattengeschäften und ähnlichen Orten zu Hause war. Das war seine Erfahrung mit Abbildung. Man weiß aber, dass Abbildungen nicht unschuldig sind. Zuerst einmal ist es nicht so, dass ein Subjekt den Abbildungen gegenübertritt, sie von außen sieht und beurteilt. Sie sind die Art, wie man die Welt sieht, die Brille, das Auge selbst, das man nicht sieht, weil man mit ihm sieht. Das war eh und je so. Genau das ist die Funktion eines Kanons, man lernt die Literatur in dem Sinne, wie man Klavier spielen lernt: Man lernt die Psychologie, die großen Personen, Lear, Faust, Anna Karenina, Erzählformen, die Art, wie Sätze fallen, die Verwendung von Wörtern. Das Subjekt besitzt nicht den Kanon, sondern der Kanon besitzt das Subjekt und formt es – das ist ein Teil dessen, was Bourdieu als Habitus analysiert hat. Erst wenn das Subjekt sich hat besitzen lassen, wird es zu dem Subjekt mit Abstand, das sieht, das Werke vergleichen und einordnen kann. In Pulp Fiction haben Filme, Videos, Comics genau die Funktion, die in Gadamers Hermeneutik die abendländische Tradition hat. Der Unterschied zum Umgang mit dem klassischen Kanon besteht nur darin, dass für den Tarantino, der die Subkultur verlassen hat, die vollkommene Kontingenz der Brille, die
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seine Wirklichkeit geschaffen hat, durchsichtig geworden ist. Man kann sie nicht anders anschauen als mit einer maximalen Ironie; aber die Ironie ändert nichts daran, dass in der Form dieser Bilder – und nur in ihnen – die Wirklichkeit Gestalt angenommen hat. In der Bewegung zwischen dem Subjekt, das durch die Bilder sieht, und dem, das auf die Bilder sieht, der Mischung von absolutem Ernst und absoluter Ironie wird im Werk selbst das Produktionsprinzip aktueller Kunst sichtbar. Ausgegangen waren wir von der These, dass Repräsentation eine Bühne, einen Ort der Versammlung braucht. Der alte Ort lag im Innern eines einheitlichen Systems der Repräsentation; der Gegenstand der anspruchsvollsten Werke war die Kritik dieses Systems. Die klassische Hermeneutik schien uns eine dieser Ordnung adäquate Theorie. Der anspruchsvollste Gegenstand ist jetzt die Darstellung von Repräsentationssystemen selbst, die gleichzeitig lokal und – wie es für Repräsentationssysteme eben immer gilt – total sind. Ersichtlich gibt es auch eine neue Bühne. Dass ein Medienwechsel stattgefunden hat, liegt auf der Hand. Aber wenn man das Funktionieren dieser Bühne verstehen will, genügt dieser Hinweis sicher nicht. Man muss die Transformationen der gesamten Ordnung der Selbstabbildung ins Auge fassen und eine Beschreibung entwickeln, die auf dem theoretischen Niveau der klassischen Hermeneutik liegt.
Literatur Curtius, Ernst Robert. 1923. Balzac. Bonn. Diederichsen, Diedrich. 1990/1993. Präsident Bush’s Most Wanted – Unterwegs mit Ice-T. In Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990–93, 203–223. Köln. Holert, Tom, und Mark Terkessidis. 1996. Einführung in den Mainstream der Minderheiten. In Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Hrsg. Tom Holert und Mark Terkessidis, 5–19. Berlin. Jameson, Fredric. 1986. Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Hrsg. Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, 45–102. Hamburg. Kittler, Friedrich A. 1978. Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität. In Romantik in Deutschland, Hrsg. Richard Brinkmann, 102–114. Stuttgart. Lacan, Jacques. 1994. Le séminaire livre IV: La relation d’objet [1956–1957], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris. Nykrog, Per. 1965. La Pensée de Balzac dans la „Comédie humaine“. Esquisse de quelques concepts-clé. Kopenhagen. Schulze, Gerhard. 1992. Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M.
Das Begehren in der Wissenschaft. Die Verwandlung der historischen Literaturgeschichte in die systematische Literaturwissenschaft [2002/2005]
Der Zugriff der Literaturgeschichte auf theoretisch organisierte Humanwissenschaften war ein Ereignis der 1960er Jahre. In der deutschen Romanistik ist er vor allem mit dem Namen Hans-Robert Jauss verbunden. Es begann mit dem russischen Formalismus, dann kam der Strukturalismus, die Narratologie, die umfangreiche theoretische Umrahmung des Nouveau Roman, dann natürlich der Übergang zum Post… in Frankreich, Tel Quel, die Theorie der écriture. Vorher war die Literaturgeschichte etwas anderes gewesen: Die Qualifikation bestand in der Beherrschung des Methodenarsenals des philologischen Könnens, in einer umfassenden Kenntnis der Literaturgeschichte, in schwer fassbaren Eigenschaften wie der Liebe zur Literatur und einem intuitiven Zugang zu ihr und schließlich in der Fähigkeit zu einer würdevollen Präsentation. Eine Literaturtheorie gab es nicht und daher auch nicht den Begriff „Literaturwissenschaft“.1 Deutlich wird dies zum Beispiel an der Sprache des Literaturgeschichtlers: eine mit einigen Fachausdrücken durchsetzte gehobene Alltagssprache und eben keine Theoriesprache. Diese Mutation – also die neue Ausrichtung auf und Orientierung an Theorien – war das Ergebnis eines Kampfes, in Frankreich des sehr groß inszenierten Kampfes um die Nouvelle Critique, ein heute eher vergessener Raymond Picard gegen Roland Barthes. In Plänkeleien setzt sich dieser Kampf bis heute fort.
1Für
den angloamerikanischen Bereich müsste man dieses Bild modifizieren.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_22
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Aber man kann danach fragen, was diesen Kampf überhaupt in Gang gesetzt hat. In dieser Perspektive ist die Mutation ein Ereignis, und es ist interessant, sich zu fragen, mit welchen anderen Entwicklungen dieses Ereignis in Beziehung steht. Für eine solche Frage gibt es sicher eine Vielzahl von Antworten, die auf verschiedene Zusammenhänge verweisen, auf innerwissenschaftliche, institutionelle, regionale etc. Ich möchte hier einen Zusammenhang skizzieren, der in meiner wissenschaftlichen Biografie besonders interessant war und der mir auch allgemein wichtig erscheint. Man kann diesen Zusammenhang unter den Titel der performativen Implikationen der literaturgeschichtlichen bzw. literaturwissenschaftlichen Tätigkeit stellen. Bekanntlich hat jede Aussage eine performative Komponente. Wenn ich sage, es regnet, sage ich damit auch: Ich stehe dafür ein, dass es regnet. Nur dadurch erklärt sich, dass, wenn ich offenbar Unrichtiges sage, es mir als Subjekt zugerechnet wird und einen Verlust an Glaubwürdigkeit, eventuell sogar an Zurechnungsfähigkeit bedeutet. Wenn ich in einer universitären Veranstaltung über Literatur rede, kommt eine weitere fundamentale, aber wenig beachtete performative Dimension ins Spiel. Ich sage: „Was ich hier erzähle, ist für euch als Zuhörer wichtig, es hat euch etwas zu sagen, was ihr hören solltet.“ Meine These besagt, dass diese performative Dimension, die Gewissheit, dass das, was ich als Literaturwissenschaftler sage, dem Zuhörer etwas zu sagen hat, in den 1960ern problematisch geworden ist und dass der Rekurs auf die theoretisch organisierten Humanwissenschaften ein Lösungsversuch für diese Problematik darstellt. Von einer solchen These aus stellt sich natürlich zuerst einmal die Frage, wie dieser performative Akt in der traditionellen Literaturgeschichte überhaupt funktioniert hat. Der Verweis auf die Gadamer’sche Hermeneutik kann die Form dieses Funktionierens deutlich machen. Die Literatur der Literaturgeschichte ist eine kanonische Literatur, das heißt, sie ist von der Existenz eines Kanons her geordnet. Kanon meint zuerst einmal eine hierarchisierende Selektion, er unterscheidet wichtige von unwichtigen Texten. Aber mit dem Kanon ist auch eine performative Funktion gegeben. Kanonisch bedeutet für einen religiösen Text, dass er eine Glaubensverbindlichkeit fordert, für einen juristischen Text, dass er Recht setzt – was bedeutet es für einen literarischen Text? Ein kanonischer Text verlangt einen bestimmten Typ von Lektüre. Er kann nicht beurteilt werden, weil er die Kategorien des Urteilens festlegt. Ein kanonischer Text beurteilt den Leser: Hat er das Ohr für den Rhythmus eines gelungenen Verses, kann er richtig lesen mit allem, was das jeweils bedeutet? Hier kann man zum Beispiel auf die Angst verweisen, die in Prousts
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Roman Die Suche nach der verlorenen Zeit den Zugang des Protagonisten Marcel zu Kunstwerken ständig begleitet, die Frage, ob er dem, was die Kunstwerke verlangen und voraussetzen, gewachsen ist. Die kanonische Literatur ist nicht nur der Partner einer dialogischen Beziehung, sie besetzt auch den Ort des Lacan’schen großen Anderen, jener Instanz, die identifiziert, die einen Weltbezug eröffnet und verbindlich macht, ein Subjekt produziert. Daher hat die Lektüre auch nicht die Form eines Dialogs, sondern einer Einverleibung, der Leser nimmt eine Form in sich auf. Erst wenn Identifikation und Einverleibung vollzogen sind, wird der Leser in der Welt der Literatur ein Aktor, jemand, der ein Urteil besitzt, was er liest, einordnen und bewerten kann, der eventuell sogar den Kanon umbauen kann. Er ist, in dem Sinn von Gadamer, in die Tradition eingerückt, hat die in ihr gegebenen Vorurteile sich zu eigen gemacht und kann nun an der Arbeit der Rezeption, Interpretation und Umarbeitung mitwirken, die die Tradition am Leben erhält. Die kanonische Literatur kann nur deswegen Forderungen stellen, weil sie auch ein Versprechen in sich trägt und ein Begehren erzeugt, weil sie eines der großen Begehrensobjekte der bürgerlichen Welt war. Man muss sich nicht nur die Literatur einverleiben, man will es auch, und oft auch „mit heißem Begehren“. Wie alle Objekte des Begehrens wird die Literatur begehrt, nicht weil man sie kennt, sondern weil man sie nicht kennt, wegen der Versprechung, die sie in sich trägt. Dieses Begehren ist nicht etwas Subjektives – auch wenn es immer einen ganz individuellen Hintergrund hat –, es ist auch das Begehren nach dem Mitbesitz an diesem Objekt, nach dem Wissen, dem spezifischen Weltbezug, den die Literatur vermittelt, den man in anderen wahrnimmt, bevor man ihn besitzt, und das Begehren nach einer Zugehörigkeit, die zwar weitgehend immateriell ist, aber dafür eine sehr stabile innere Gewissheit vermittelt. Die universitäre Literaturgeschichte ist Teil dieses Feldes. Dieses Feld bestimmt den Ort, von dem aus der Wissenschaftler spricht, von dem aus er Faszination erzeugt, die Überzeugung von der Bedeutung seines Gegenstandes vermittelt, von dem aus er Forderungen stellt und Identifikationen herstellt. Dieser Ort kann selbstverständlich in ganz unterschiedlicher Weise besetzt werden. Es kann der bescheidene Philologe sprechen, der seine Aufgabe darin sieht, dem Text zu dienen, indem er an einigen Stellen die richtige Lesart wiederherstellt. Der georgianische oder Heidegger’sche Interpret kann sich als Sprachrohr einer fundamentalen verborgenen Wahrheit fühlen. In den 1970er Jahren löst sich der Kanon auf. Selbstverständlich hatte es auch zuvor nie einen einzigen, in sich konsistenten Kanon gegeben; Kanons wurden umgebaut, es gab Tendenzen, die sich bekriegten. Aber jetzt löst sich das Prinzip des Kanonischen auf. Es ist ein bekanntes und viel diskutiertes Phänomen und
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schon an den Lehrplänen der Gymnasien erkennbar. Diskutiert wird die Auflösung des Kanons aber immer ausschließlich unter dem Aspekt, dass große Bereiche der literarischen Tradition aus dem allgemeinen kulturellen Bewusstsein verschwinden. Man macht Vorschläge, wie man diesen Verlust rückgängig machen kann, indem man dem traditionellen Kanon an der Schule und der Universität wieder mehr Gewicht gibt. Nicht wahrgenommen wird, dass der eigentliche Verlust nicht der eines bestimmten Kanons, sondern des Prinzips des Kanonischen ist. Die Literatur als Ganze (und viel anderes mit ihr) ist aus dem von der Hermeneutik so gut beschriebenen Prozess der kulturellen Reproduktion herausgenommen. Das ist ein Ereignis, das sich auf der Ebene universitärer oder ministerieller Entscheidungen manifestiert, aber sich dort nicht begründet. Es liegt im Bereich einer nicht beherrschbaren Geschichte, die Derrida als Geschichte der Metaphysik oder des Phallologozentrismus beschreibt, die Foucault mit dem Begriff der Disziplinargesellschaft erfassen will, die bei Lacan als die Geschichte der „Reinigung“ des Symbolischen erscheint, die Luhmann in der Tatsache zusammenfasst, dass die gegenwärtige Gesellschaft keine zentrale Beobachterposition mehr zulässt, die schließlich in der Soziologie unter Stichworten wie Wertewandel, Individualisierung, Desintegration auftaucht. Welche Folgen hat dieses Ereignis für die Literaturwissenschaft? Damit ein Wissenschaftler forschen und lehren kann, muss er in einem Feld stehen, das ein Objekt kollektiven und anerkannten Begehrens erzeugt. Zu diesem Feld muss er als Wissenschaftler einen privilegierten Zugang haben, er muss etwas versprechen können, er muss etwas zu geben haben, er muss etwas fordern können. Seine Lehre muss die Studenten identifizieren, ihnen etwas geben, was sie als einen Wert ansehen und wofür sie etwas einzusetzen bereit sind; sie muss das Bewusstsein einer Zugehörigkeit vermitteln. Wenn eine Wissenschaft dieses Objekt des Begehrens verliert, dann entsteht ein Problem. Und zwar eines, das nicht ungelöst bleiben kann. Solange geschrieben und gelehrt wird, ist dieses Objekt immer schon implizit mit gesetzt. Gerade weil das Problem immer schon gelöst ist und diese Lösung den Ort schafft, von dem aus man als Wissenschaftler arbeitet, besteht wenig Neigung, das Problem als Problem zu formulieren – zumal die Formulierung keineswegs dazu verhilft, das Problem zu lösen. Nun ist das Problem nicht neu, und es haben sich Lösungen etabliert. Die wichtigste Lösung ist die, um die es hier geht, die Verwandlung einer im Innern des kulturellen Feldes angesiedelten Literaturgeschichte in eine theoretisch orientierte Humanwissenschaft. Diese Verwandlung begründet sich vorwiegend in innertheoretischen Zusammenhängen. Ich möchte im Folgenden darstellen, was an ihr auffällt, wenn man sie als Lösung des Problems ansieht, ein Feld und ein verlorenes Objekt des Begehrens durch ein neues zu ersetzen. Hinter dieser
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Fragestellung steht auch ein autobiografisches Interesse; meine wissenschaftliche Biografie ist sehr wesentlich durch diese Transformation geprägt. 1. Ein Effekt dieser Transformation sind natürlich Verunsicherung und Rückzug. Das ist keine Lösung, die sich zu Wort meldet, sie bleibt unauffällig und hinterlässt vor allem auch kaum Spuren. Aber sie war in den letzten Jahrzehnten an vielen Orten spürbar. 2. Eine wesentliche Strategie besteht darin, dass die Wissenschaft sich von dem kulturellen Feld, das in der gesellschaftlichen Realität existiert, abschottet. Traditionell waren die Geisteswissenschaften sehr offen für die Tendenzen, die aus dem gesamtgesellschaftlichen Feld auf sie zukamen. In der Literaturgeschichtsschreibung ist das überdeutlich. Gleichzeitig kann eine Wissenschaft aber nur Probleme bearbeiten – das ist ein Gesichtspunkt, den unter anderem die Systemtheorie starkmacht –, die sie in innerwissenschaftliche Probleme übersetzen kann. Das heißt, es müssen Forschungsverfahren hergestellt werden, es muss definiert werden, was als Fortschritt gilt, es muss ein System der Anschlussfähigkeit gebildet, Qualitätskriterien müssen festgelegt werden – alles Voraussetzungen, die nötig sind, damit die Wissenschaft zu dem geregelten System des Wettbewerbs wird, als das sie nur existieren kann. Seit es Geisteswissenschaften gibt, gibt es auch Konflikte zwischen der Innenund der Außenorientierung. Es liegt nahe, wenn gesamtgesellschaftlich das Objekt des Begehrens verschwindet, dass man es im wissenschaftlichen Binnenraum wieder herstellt. Prinzipiell ist es ohne weiteres möglich, die Wissenschaft intern als Begehren erzeugendes System zu organisieren. Dazu genügt ein Forschungsfeld, das es erlaubt, Fortschritte zu machen, nach Regeln zu verfahren, „gute“ von „schlechten“ Arbeiten zu unterscheiden. Es müssen allerdings Prämien2 zur Verfügung stehen und das Ganze kostet Geld. Es wäre aber falsch zu denken, wenn die Probleme nicht in einem Außenfeld schon interessant sind, dass dann nur noch die Prämien interessieren. Es entsteht ein Begehren erzeugendes Feld, in dem dann auch – nach einer internen Logik, und nur für Zugehörige verständlich – die Forschung selbst begehrenswert wird. Es wäre umständlich, die Mechanismen, wie diese Begehrensproduktion abläuft, im Einzelnen darzulegen. Ein implizites Wissen von diesen Prozessen besitzen wir alle.
2Kontakte,
Beziehungen, Macht, eine relative Freiheit zur Realisierung von Idiosynkrasien, Reisen, Einkommen etc.
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Solche Abkopplungsstrategien kann man meines Wissens in einigen Nachbarwissenschaften finden, zum Beispiel in der Psychologie und in der Philosophie, man findet sie auch in der Literaturwissenschaft. Man bestimmt den alten Kanon und ein Set von Verfahren bzw. Theoriefragmenten als wissenschaftlichen Gegenstand und sucht auf dieser Basis eine Professionalität herzustellen. In der universitären Lehre kann dieses Verfahren einigermaßen funktionieren, weil es sich auf das stützen kann, was von dem alten literarischen Feld noch lebendig ist. In der Forschung kann es nicht funktionieren, man kann kein Objekt beliebig schaffen. Das Problem dieser Strategie liegt offenbar in der Außenbeziehung. Also einerseits im Kontakt mit den Studenten, die dahin kommen müssen, dass sie das, was sie lernen sollen, auch lernen wollen. Die Organisation des Studiums durch ein komplexes System von Prüfungen ist ein Effekt dieses Problems. Die Außenbeziehung betrifft andererseits die Beziehung zu den Geldgebern, die das, wofür sie Geld geben, für wichtig halten müssen. 3. Man sucht ein anderes Objekt des Begehrens und bindet die Literatur an dieses neue Objekt. Als Beispiel kann man auf die Postcolonial Studies hinweisen. Dort geht es um die Analyse symbolischer Strukturen in ihrer Eigenschaft, Identitäten, Grenzen, Bewertungen festzulegen und damit symbolische Macht auszuüben.3 Dann geht es um die Rolle von Texten, von Narrationen in solchen Prozessen, um interkulturelle Räume, hybride Identitätsbildungen etc. Hier handelt es sich um ein neues Objekt, das aus Weiterentwicklungen der Semiologie entstanden ist. Wenn die alte Literaturwissenschaft sich für Nachbarwissenschaften interessiert hatte, dann immer auf der Basis der Voraussetzung, dass das eigentlich Interessante die Literatur ist: Man konnte sich für die Entwicklung der Druckindustrie, die Geschichte des Bistums Angoulême oder bestimmte Formen der Psychose interessieren, weil alles für Balzac interessant war. Jetzt ist es umgekehrt. Interessant ist die Entstehung von Identitäten, von daher kommt man auf die Rolle, die die Literatur in solchen Prozessen spielen kann. Insofern löst diese Strategie das Problem radikal. Die Literatur als Objekt des Begehrens wird aufgegeben, das alte Feld verlassen. Die Literaturwissenschaft ist dann untergeordneter Teil einer theoretisch organisierten Kulturwissenschaft.
3Saids
Orientalismus, die Untersuchungen zur Nation von Anderson, Gellner und anderen.
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Dabei geht es aber nicht nur um einen Wechsel des Objekts. Es hat noch eine zweite, weniger offensichtliche Transformation stattgefunden, die den performativen Charakter des wissenschaftlichen Arbeitens wesentlich verändert. Der performative Akt in dem hermeneutischen Feld vollzieht, was Luhmann eine Beobachtung erster Ordnung nennt. Es ist ein Akt, der an der Setzung von Objekten, Identitäten, Wertungen beteiligt ist. Damit ist alles gegeben, was wir oben über die identifizierende Funktion des literarischen Feldes gesagt haben. Diese Funktion wird umso wirksamer erfüllt, weil sie von niemandem bewusst intendiert und in aller Regel auch nicht thematisiert wird. Die kulturwissenschaftliche Wende bedeutet nun einen Übergang von der Beobachtung erster zur Beobachtung zweiter Ordnung. Der Wissenschaftler ist nicht mehr selbst Teil einer identifizierenden symbolischen Macht, sondern er beobachtet das Funktionieren identitätsbildender Systeme. Diesen Übergang von der ersten zur zweiten Ordnung muss man in einem größeren Zusammenhang sehen. Offensichtlich hat die Auflösung des literarischen Feldes als eines identifizierenden Traditionszusammenhangs mit dem postmodernen Phänomen zu tun, das Jean-François Lyotard das Ende der großen Erzählungen nennt. Die Literatur ist eine der großen Erzählungen. Ich möchte hier in das Schema von Lyotard noch einen fundamentalen Gedanken von Homi Bhabha einfügen. Die Ersetzung von wenigen großen durch viele kleine Erzählungen kann man nicht nur als ein rein quantitatives Phänomen ansehen. Was sich wesentlich ändert, ist das Verhältnis zwischen den verschiedenen Erzählungen (bzw. identifizierenden Traditionsfeldern). Früher war das ein Verhältnis des wechselseitigen – realen und symbolischen – Kampfes. Jede Erzählung hielt sich für die wahre. Jede versuchte, die anderen in den eigenen Begriffen zu verstehen, und noch zu verstehen, warum sie sich nicht selbst verstehen konnte – das war die Ideologiekritik. In der postmodernen Welt weiß jede Erzählung, dass sie eine von vielen ist, sie weiß, dass sie begrenzt ist, dass sie nicht den ganzen Raum des Wirklichen erfassen kann. Damit ist aber auch ein neuer Raum entstanden, den es früher nicht gab, der Raum des Zwischen. Bhabha beschreibt ihn als den fundamentalen Raum der Postmoderne, jeder wohnt in ihm; der Migrant ist die exemplarische Figur, weil er sonst nirgends zu Hause ist und nur diesen unbewohnbaren Raum bewohnt.4 Diesen Raum besetzen auch die Kulturwissenschaften, seit sie Wissenschaften zweiter Ordnung geworden sind. Ich will versuchen, einiges, was ich als typisch
4Homi
K. Bhabha bezeichnet diesen Ort vor allem als „[d]ritte[n] Raum“. Vgl. dazu ders. (2000 [1994]): Die Verortung der Kultur.
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für die neue Form der Wissenschaftlichkeit empfinde, von diesem Schema aus zu konstruieren. Außer Bhabhas Migrant, der kein Wesen aus Fleisch und Blut ist, wohnt niemand nur in diesem Zwischen. Jeder wohnt auch in einem Raum der ersten Ordnung, in einem der vielen begrenzten und sich als begrenzt verstehenden Traditionsfelder, die die postmoderne Wirklichkeit ausmachen. Für den Wissenschaftler ist dieses Feld die Wissenschaft als geregeltes Wettbewerbsund Geltungssystem, die Scientific Community. Hier – und nicht im Feld der Literatur oder der Kunst oder des philosophischen Denkens – ist er primär identifiziert. Wahrscheinlich ist er in einer gewissen Weise auch mit dem identifiziert, worüber er denkt und forscht und schreibt. Er hat also zwei Identifikationen in zwei – nicht nur materiell, sondern auch in der Art der Beziehung – weit auseinanderliegenden Feldern. Er ist strukturell eine gespaltene, in der aktuellen Terminologie eine hybride Persönlichkeit. Es ist natürlich richtig, dass es die Wissenschaft als System des Wettbewerbs um Stellen etc. auch früher gegeben hat. Aber der Unterschied ist ebenso deutlich. Nicht zufällig wurde früher diese Dimension mit dem abwertenden Terminus des Betriebs beschrieben. Das eigentliche Subjekt der Wissenschaft war im kulturellen Feld definiert, der Betrieb war ein unvermeidlicher Bestandteil der Wirklichkeit, aber ein klar hierarchisch untergeordneter. Jetzt ist aus dem Wissenschaftsbetrieb die Scientific Community geworden, die nun als solche ganz massiv Identifikationen fordert und auf der informellen, aber auch schon auf der formellen Ebene von allen Inhalten unabhängige ethische Regeln wissenschaftlichen Verhaltens entwickelt. Dieser Typ von Identifikation ist es, den der Ausdruck „wissenschaftliche Professionalität“ bezeichnet, die Bindung an die Wissenschaft als Wissenschaft und die Distanz zum Gegenstand, also auch die Fähigkeit und Bereitschaft, den Gegenstand zu wechseln. Man kann vermuten, dass das ungeheure Prestige, das die amerikanische Wissenschaft seit einiger Zeit genießt, und die begleitende Selbstentwertung der deutschen Wissenschaft damit zusammenhängen, dass man in den USA diesen Schritt zur zweiten Ordnung und zur Professionalisierung schon länger vollzogen hat. In diesen Zusammenhang passt auch die Beobachtung, dass das Berufsbild von kulturwissenschaftlichen Studenten (im weiten Sinn des Wortes) sich seit einiger Zeit auch in die Richtung auf die zweite Ordnung und die Professionalisierung bewegt. Bevorzugtes Berufsziel ist nicht mehr der Zugang zu dem kulturellen Prozess selbst, als Lehrer, Kritiker, Lektor oder ähnliches, sondern das Kulturmanagement, das Verwalten von Kultur, die andere machen. Die Formel vom Wissenschaftler als gespaltene Persönlichkeit bezeichnet nicht einen Sachverhalt, sondern ein neues Beziehungsfeld, das in den verschiedensten Formen ausgefüllt werden kann. Eine wesentliche Dimension ist die
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Beziehung des Wissenschaftlers zu seinem Gegenstand. In dem alten Modell war sie die Grundlage seiner wissenschaftlichen Identität. Man musste die Literatur lieben, um sich wissenschaftlich mit ihr zu beschäftigen. Das gilt jetzt nicht mehr. Man kann wahrscheinlich nicht wissenschaftlich arbeiten, wenn man gar keine Beziehung zu dem Gegenstand hat. Aber welcher Art diese Beziehung sein soll, ist jetzt offen. Die Beziehung zum Gegenstand ist von einer Voraussetzung zu einer Eigenschaft geworden, die die Wissenschaftler individualisiert und die die Qualitäten und die Grenzen ihrer Arbeit bestimmt. Einige mögliche Positionen: Es gibt Wissenschaftler, die von ihrer Biografie her eng mit ihrem Gegenstand verbunden sind, wie zum Beispiel Stuart Hall mit den Effekten der Dekolonisierung oder, in anderer Weise, Dick Hebdige mit den englischen Subkulturen. Auf dem entgegengesetzten Pol kann man auch eine Beziehung zum Gegenstand haben, wo dessen Außenbedeutung überhaupt keine Rolle spielt und nur die innerwissenschaftliche Logik und die von dieser generierten Bedeutungen wichtig sind. Man kann sich ebenfalls in einer mehr spielerischen Weise mit Phänomenen identifizieren und sich dabei von Eigenschaften faszinieren lassen, denen man in verschiedenen kulturellen Feldern begegnet. Man kann das Spiel von Ordnung und Transgression lieben, die Entstehung und das Vergehen von Objekten des Begehrens, Momente von Intensität. Eine solche Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen; aber gerade diese Beliebigkeit verweist auf strukturell relevante Züge. Die wissenschaftliche Identität beruht auf dem Nebeneinander von zwei Identifikation: Die eine, die sich auf die Scientific Community bezieht, ist sehr stabil und hat einen sehr ausgeprägten kollektiven Charakter; die Thematisierung der eigenen Identifikation ist permanent gefragt. Die andere, die das Subjekt mit dem Gegenstand verbindet, ist sehr individuell, kann sehr beweglich und auch ganz massiv idiosynkratisch sein; die Thematisierung der Beziehung ist dem Einzelnen überlassen und in der Struktur bedeutungslos. Dabei spielt sie bei der Konstitution des wissenschaftlichen Gegenstands eine wichtige Rolle. Die Beziehung der beiden Identifikationen ist komplex. Die eine kann jeweils von der anderen instrumentalisiert werden. Man kann die Wissenschaft benützen, weil sie einem die Möglichkeit einer spezifischen Teilnahme an einem kulturellen Feld bietet. Das geht dann in der Regel zulasten der innerwissenschaftlichen Logik, kann aber doch wissenschaftlich produktiv sein. Der umgekehrte Fall ist mehr belastet, weil auf der Seite der Scientific Community sehr viele harte Bindungen und Motive liegen, solche, die mit Geld und Stellen verbunden sind und die man nicht ohne Grund existenziell nennt, alle Motive des Ehrgeizes, der Lust an Macht, an Beziehungsreichtum. Von hier aus werden die nach außen in die kulturellen Felder gehenden Beziehungen überformt. Im Extrem ist dann das,
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was das Interesse des Wissenschaftlers an seinem Gegenstand wirklich bestimmt, die Angst, aus der Wissenschaftsgemeinde ausgeschlossen zu werden. In Wissenschaft als Beruf hat Max Weber ein Bild der Wissenschaft entworfen, dem das hier gezeichnete verbunden ist. Auch er trennt außen und innen. Innen ist für ihn die wissenschaftliche Objektivität, außen, aber konstitutiv für die Fragen, die in der Wissenschaft gestellt werden, ist die Pluralität der Götter, denen die Wissenschaftler als politische Menschen dienen. Worauf es für ihn ankommt, ist zu wissen, welchen Göttern man dient. Wenn wir die hier skizzierte Struktur anschauen, wird deutlich, dass die Struktur es nicht leicht macht, einen solchen Anspruch zu erfüllen. Die Humanwissenschaften sind ein Feld geworden, in dem es sehr schwer ist, bei anderen und bei sich selbst zu fragen und, natürlich noch mehr, zu verstehen, warum man tut, was man tut.
Literatur Bhabha, Homi K. 2000. Die Verortung der Kultur. Tübingen (Erstveröffentlichung 1994).
Diffuses Nichtwissen in die Form artikulierter Fragen bringen … Interview mit Matthias Waltz [2015]
Juliane Rytz: Was war ausschlaggebend für deinen Wandel vom Romanisten zum Kulturwissenschaftler? Matthias Waltz: Im Wesentlichen war es das, dass ich Literatur immer als Kulturund Sozialwissenschaft angesehen habe. Und zwar als Quelle, in dem Sinn, dass die Literatur durch ihre Form und ihr Wesen einen Zugang zu Phänomenen gibt, den man anderweitig nicht hat. Es sind die Phänomene, die mich interessieren, nämlich Identifikation und Begehren. Die Erzählung organisiert die Welt als etwas durch Identifikationen und Begehren Konstruiertes. Die Helden der Literatur haben Ziele, die sich daraus ergeben, was man ist, und die Literatur handelt von den Konflikten zwischen diesen Identifikationen, das sind die großen Themen der Welt und der Literatur: Identifikationen und Konflikte zwischen Identifikationen, Begehrensobjekte, der Umgang mit Begehrensobjekten. JR: Du verwendest den Begriff „Welt“,1 der die Stelle der symbolischen Ordnung (Lacan), der heteronormativen Matrix (Butler), des sozialen Felds (Bourdieu) oder der Diskursmacht (Foucault) besetzt. Was beinhaltet er, was in den anderen fehlt? MW: Welt ist ja ein alter Begriff. Ein Begriff, der unter anderem auch in der Romantik eine wichtige Rolle gespielt hat. Ein Begriff mit bestimmten
1Anm.
d. Hrsg.: Waltz verwendet den Begriff der Welt bereits in seinem Werk Ordnung der Namen. Hier wird vor allem in Bezug auf die Ausarbeitung der „Alten Welt“ als einer auf Tausch basierenden, vergesellschaftenden Ordnung von eben durch Namen definierten Eigentumspositionen sehr deutlich herausgearbeitet, dass es sich um eine Totalität, im Sinne einer wirklichkeitsgenerierenden Macht, handelt: Die Schleife von Subjekt und Weltkonstitution ist geschlossen. Vgl. hierzu Die Alte Welt: Die Spiele um die Namen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_23
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Konnotationen, der aber in ganz verschiedenen Kontexten verwendet wird. Der Kontext ist ein alter, bekannter: Wenn man zum Beispiel von der Welt der bretonischen Fischer redet, dann denkt man an die Beziehung zu einer bestimmten Umwelt, einer Sache, die man tut, zu anderen Leuten, und vor allem hat es die Konnotation: Es ist eine Totalität. Also man ist da drin und das macht das Ganze dessen, was man sehen, denken, fühlen kann. Dieser Totalitätsaspekt wird mit diesem Weltaspekt konnotiert, und das ist in den anderen Begriffen nicht enthalten. Es gibt den Begriff der Kultur, und Kultur ist, das sagt Luhmann schon, ein Vergleichsbegriff, das heißt, man denkt automatisch an die eigene Kultur und daran, dass es andere Kulturen daneben gibt. Bei „Welt“ hingegen denkt man: Das ist es einfach, das ist das Ganze. Und dies zu betonen, besonders im Zeitalter der Postmoderne, wo es so etwas eigentlich gar nicht mehr gibt, das ist interessant. JR: Für mich ist damit auch etwas Metaphysisches angesprochen. MW: Ja, klar. Welt ist das, was einen Glauben impliziert. JR: Die Nullerjahre waren, in Bezug auf die von dir veröffentlichten Texten, deine produktivsten. Was hat dich in dieser Zeit am meisten beeinflusst? MW: Es hat schon etwas damit zu tun, dass da so neue Themen aufkamen. Ein großes neues Thema in dieser Zeit war das Thema der Subkulturen, der Mehrheit der Minderheiten, die Durchsetzung dessen, was man Postmoderne nennt, also nach Lyotard: die Vielheit der Erzählungen. Für mich hat das bedeutet, dass ein Prozess begann, der darin bestand, mich von der Fixierung auf die Alte Welt zu lösen, die bis dahin mein Denken schon sehr geprägt hat, und das Interesse auf die Gegenwart zu lenken. Damit ist die Theorie viel lebendiger geworden. In Ordnung der Namen geht es schon auch etwas um die Postmoderne, aber es ist sehr von der Vergangenheit her konstruiert – und sehr schematisch. Die Wendung zur Gegenwart, das ist auch eine innerliche Lösung von dieser Sehnsucht nach der Vergangenheit. JR: Und dann hattest du Lust, dich auch den Subkulturen und der Popkultur zuzuwenden. Kam das durch die Zusammenarbeit mit Jochen Bonz? MW: Das kommt eigentlich von meinem Sohn Alexis. Ja, dann habe ich viel mit Jochen zusammengearbeitet, weil ich ja von den Gegenständen her auf dieser theoretischen Ebene interessiert war, aber auf der empirischen Ebene habe ich das überhaupt nicht gekannt. Ich bin viel zu alt dafür. Ich habe mich ja immer für das Thema der Identifikationen interessiert. Anfänglich über die Literatur, wie das auch in meinem eigenen Leben war: Um
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das zu werden, was ich bin, hat die Literatur eine ganz große Rolle gespielt. Und dann habe ich gesehen, dass das heute nicht mehr der Fall ist, dass die Literatur schon noch ihre Bedeutung hat, aber heute eigentlich niemand in seiner fundamentalen Identifikation durch die Literatur angeleitet wird. Meine Söhne nicht, und ich sehe sonst auch niemanden. Für die Fragen „Wer bin ich?“ und „Was sind die richtigen Identifikationen und die wichtigen Begehrensobjekte?“ spielen nun andere Dinge eine Rolle, die aus der Popkultur kommen, jedenfalls für diejenigen, für die das überhaupt eine Frage war und die nicht einfach so in das Leben hereingestolpert sind. Die haben sich mit diesen Subkulturen beschäftigt, die in dieser Zeit so ungeheuer wichtig waren. Dabei wurde das auf der Realebene, auf der Identifikationsebene und auf der Lebensebene wichtig. Hier ist auch eine richtige, total interessante Theorie entstanden, besonders im Umfeld der Zeitschrift Spex. Eine Person wie Diedrich Diedrichsen war für meinen Sohn eine Leitfigur. Mich hat Pop als eine Kultur interessiert, als eine Lebensweise. Zugang dazu hatte ich über autobiografische Bücher. JR: Du hast gerade schon von der Fixierung auf die Alte Welt gesprochen. Damit evozierst du den Begriff des Verlusts und der Moderne als „große Verlustgeschichte“. Dann wiederum beschreibst du die Emanzipation als Verlust der Begehren erzeugenden Geschlechterordnung, aber schreibst dieser Katastrophe eine produktive Kraft zu.2 Wie stehst du heute dazu? MW: Seit Rousseau gibt es Verlustgeschichten und die Romantik natürlich – da steht man ja in einer richtigen Tradition. Es gibt eine Verlustgeschichte und es gibt eine Utopie- und Fortschrittsgeschichte. Die Verlustgeschichte ist geleitet von einer großen Unsicherheit, das heißt den Fragen, wer man ist und was sich eigentlich lohnt zu begehren. Und zu den Leuten, die davon geplagt sind – was mit der eigenen Kindheit und den Grunderfahrungen zu tun hat –, zu denen zähle ich mich. Dahinter steckt immer die Sehnsucht nach einer Welt, in der man weiß, wer man ist, wo es Begehrensobjekte gibt, wo das Leben noch Ordnung hat. Das hat dann mehr Gewicht als die massive Gewalttätigkeit, die Ungerechtigkeit und die Freiheitseinschränkung dieser Alten Welt. Und es ist die Frage: Was hat man davon? Also: Was bedeutet das in der Gegenwart? Das hat ja eigentlich nur den Effekt, dass man aus der Gegenwart verschwindet, und das ist natürlich das Problem der Verlusterfahrung. Das hatten wir schon in der Romantik, und das
2Vgl.
hierzu den Abschn. Ist die Emanzipation der Frau eine Revolution oder eine Katastrophe?.
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hat man ihr ja auch mit Recht vorgeworfen. Und in dem Maß, in dem sich diese Sehnsucht dann in mir gelockert hat, habe ich dann schon gesehen, dass diese Verlustgeschichten noch eine andere Funktion haben. Man kann es richtig gut sehen an dem Thema der Geschlechterbeziehung: Die heutige Standarderzählung ist die der Emanzipation und Befreiung. Wenn man jetzt den Verlustaspekt ins Auge fasst, dann sieht man, dass das „verlorene Alte“ eine Bestimmung davon gibt, was ist ein Mann, was ist eine Frau, was begehren Männer in Frauen, was begehren Frauen in Männern, und dass die Alte Welt die Macht hatte, Männer, Frauen und Begehren herzustellen. Und dadurch, dass dieses Begehren verloren geht, entstehen Probleme, die nur in dieser Perspektive klar artikulierbar sind. Und in unserem Alltag diffus präsent. Nach der ersten Befriedigung über die Befreiung ist das ja heute wieder sehr deutlich und ein allgemeines Thema. Von der Verlustgeschichte her gibt es verschiedene Möglichkeiten, darauf zu antworten. Man kann in Nostalgie verharren, man kann zu restaurieren versuchen, was das Alte ist, oder man kann es verwenden, um die Probleme, die heute entstehen, klarer zu machen, weil man sagen kann: Das waren Probleme, die gelöst worden sind, und jetzt müssen sie neu gelöst werden. Und dann dient die Verlustgeschichte als eine Methode, die Gegenwart besser zu verstehen. Das habe ich mir zu eigen gemacht. Mit dem Verlust ergibt sich eine Art, die Vergangenheit zu sehen und zu beschreiben – wobei es hier schon die Gefahr gibt, dass es eine idealisierende Sicht ist. Aber es gibt eine Art, die Vergangenheit zu beschreiben, die tiefer guckt und die vor allem verhindert, was sehr häufig vorkommt: dass man die Vergangenheit aus einer eigenen Perspektive beschreibt. Stattdessen bekommt man einen Blick, der jenem Blick, mit dem die Leute sich selber angeschaut haben, näher ist. Ein Beispiel ist diese weit verbreitete absolut schematische Vorstellung, dass vor dem Bürgertum bei ehelichen Beziehungen nicht die Liebe eine Rolle gespielt hat, sondern dass es nach ökonomischen Gesichtspunkten ging; was gänzlich dem widerspricht, was man sieht, wenn man sich wirklich auf diese Alte Welt einlässt. JR: Der Freiheitsaspekt in der Alten Welt, den du kurz erwähnt hast: Aus heutiger Sicht handelt es sich ja um das Gegenteil von Freiheit. Du betonst aber immer wieder sehr nachdrücklich, dass es eine Freiheit des Subjektes gegenüber den Forderungen des großen Anderen in der Alten Welt gibt – worin besteht diese Freiheit eigentlich genau? MW: Bei der Frage denkt man an Dinge wie Gott und die Freiheit des Menschen, zu sündigen oder eben nicht zu sündigen. Aber es ist viel konkreter
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und das ist auch keineswegs etwas, was neu bei mir ist, sondern da gibt es eine große Referenz: Tocqueville, der genau über diesen Aspekt sein großes Buch geschrieben hat.3 Das ist ja auch eine konkrete und richtig fassbare Geschichte: Vom Mittelalter bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts beruhte die ganze Organisation grundsätzlich auf dem Feudalprinzip, das heißt, wirtschaftliche und politische Beziehungen waren persönliche Beziehungen auf einer ethischen Basis, also Vasallenbeziehungen, Treuebeziehungen, Verpflichtungsbeziehungen. Das heißt auch, dass diese Ordnung Identifikationen und Objekte des Begehrens festgelegt hat. Es entsteht eine bestimmte Struktur: Man muss seinen Rang wahren, Verpflichtungen und Begehren kreuzen sich, und es entwickelt sich eine Form der Konkurrenz und des Kampfes untereinander, die in das soziale System eingelassen ist; eine Form des Begehrens und der „Selbstherstellung“ wird geschaffen. Alle ethischen Beziehungen sind somit dein Werk: Du kannst treu sein, du kannst verraten, du kannst einen anderen Herrn wählen, weil der besser ist, kannst eine andere Religion wählen … Dieses „alte Leben“ beruht also grundsätzlich auf freien Entscheidungen, wohingegen der Mensch in der Moderne in fundamentale Abhängigkeit vom Staat gerät. Das ist das, was ja in Frankreich im 17. Jahrhundert passiert ist. Ein wichtiges Beispiel ist das Duell. Wenn du beleidigt bist, dann wehrst du dich selbst und hast das Risiko, dass der, der Unrecht hat, gewinnt. Das wird hingenommen. Aber du bist der, der für sich selber kämpft. Später wird das dann an den Staat abgetreten. Das ist das, was Kardinal Richelieu in Frankreich durchgesetzt hat. Es ist auch typisch, dass in unseren Kulturen die Durchsetzung des Duellverbots bis ungefähr Ende des 19. Jahrhunderts geht. Also das ist so tief in dem Selbstbewusstsein – zumindest einer gewissen Oberschicht – verankert, dass man selbst verantwortlich ist und dass man diese soziale Durchsetzung des Selbst nicht an den Staat abtritt, sondern in den eigenen Händen hält. Das ist die fundamentale Freiheitsdimension und damit ist auch verbunden, dass die ganze Gefühlsebene von Rache, von Hass, von Liebe, von Verpflichtung nicht die private Person, sondern die öffentliche Person betrifft. Das heißt, dass es diese Unterscheidung von privat und öffentlich noch gar nicht gibt. In der Öffentlichkeit bist du du selbst. Und dann in der Moderne hat man den Privatmenschen, der ist frei, und den öffentlichen Menschen, der machen muss, was die Sache und der Markt gebieten.
3Tocqueville
(1989 [1856]): Der alte Staat und die Revolution.
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JR: In den letzten Jahren hast du die Organisation als wichtige Institution in den postmodernen Gesellschaften identifiziert, die du ebenfalls als symbolische Ordnung interpretierst. Ist dies nun ein Ort, an dem die Freiheit in dem Sinn eingeschränkt ist, wie du es soeben beschrieben hast? MW: Zum Thema der Organisation bin ich eher zufällig gekommen, weil meine Frau in dem Bereich unterrichtet und ich da hereingezogen wurde. Als ich begann, mich damit zu beschäftigen, habe ich gesehen, dass das, was die Moderne und dann auch die Postmoderne trägt, die Organisation ist. Die moderne Welt ist einfach eine Welt der Organisation. Das ist das Grundprinzip: Markt und Organisation – die zusammenhängen – tragen die moderne Welt. Und da kommt auch wieder das Thema der Freiheit herein: Früher war das soziale Band eigentlich das Eigentum. Die Menschen oder kleinere Kollektive wie städtische Bünde, Zünfte usw. hatten Eigentum und damit eine Macht, und die sozialen Beziehungen waren Beziehungen zwischen Eigentümern. Das ging bis zu den Bauern. Sie hatten ihr Eigentum und dann hat man ihnen gesagt: Das und das musst du machen, das und das gehört dir und davon musst du uns so und so viel abgeben. Und auf der Ebene der Landwirtschaft ist die Veränderung auch gut sichtbar: Im 18. Jahrhundert kommen die organisierten landwirtschaftlichen Betriebe nach neuen, damals wissenschaftlichen Methoden zu den besten Arten der Bebauung. Das führt dazu, dass das Bauernleben, wie ich es eben beschrieben habe, zu Ende ist. Nun hat man die Bauern abhängig gemacht und in Landarbeiter verwandelt. Und so funktioniert es auch mit der Organisation: Jemand, der in der Organisation beschäftigt ist, hat an dem, wo die Organisation ihre Macht hernimmt und was sie bewirkt, überhaupt keinen Anteil. Die Organisation steht für eine Enteignungsgeschichte – und gleichzeitig auch für eine Unterwerfungsgeschichte. Organisation heißt: Du musst das, was du willst, danach richten, was dir jemand gesagt hat, und zwar der Eigentümer. Das ist eine Enteignung und Unterwerfung von höchstem Grade. JR: Aber ist das auch identifizierend? MW: Ja, es ist identifizierend auf eine ganz fundamentale Weise: Die Organisation bestimmt die Position in der sozialen Welt. Die Welt der Privatleute, die gibt es natürlich außerhalb der Organisation auch noch. In dieser Welt bekommst du deine Position, es ist da, wo die Familien sind, deine Kinder und deine Freunde sind: Deine Position wird dir durch die Organisation geschenkt. Das heißt, die Organisation gibt dir eine Lebensgrundlage – die sie auch wieder entziehen kann. Und das motiviert das Ganze. Damit ist das Grundmotiv in der Organisationswelt die Angst, seine soziale Existenz zu verlieren. Das ist die eine Sache.
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Aber dann will man schließlich doch, dass die Leute gut arbeiten, und muss daher wieder Motivation schaffen, die sich auf die wirkliche eigene Tätigkeit bezieht. Das ist die große Geschichte der Organisation. An dieser Stelle habe ich gemerkt, dass ich da selbst etwas Fundamentales erlebt habe: Die Uni habe ich ja nie als Organisation empfunden. Aber de facto war auch in meiner Jugend und immer schon Universität eine Organisation. Sie hat aber in dem Maße funktioniert, wie der Staat sie finanziert hat und erlaubt hat, dass sie sich selbst organisiert. Damit war die Wissenschaft eine selbstorganisierte Institution, die ihren Nachwuchs ausgebildet, ihre Ziele definiert und bestimmt hat, was unterrichtet und was geprüft werden sollte, die im Wesentlichen alles selbst organisiert hat. Der Staat hatte da zwar so eine Art Oberkontrolle, aber die ließ viel Freiraum. Das ist die Wissenschaft, in der ich aufgewachsen bin, und so war die ganze Wissenschaft, und eigentlich auch das ganze kulturelle System des 19. Jahrhunderts: Kunst, Musik, Wissenschaft, Medizin – alles war in dieser Weise organisiert, dass man Bereiche hatte, bestimmt von Sachbeziehungen, die man finanzierte und sich dann frei entwickeln ließ. Und das war die große Entwicklung der Wissenschaft, der Medizin im 19. Jahrhundert. Als dieses System nicht mehr funktioniert hat, hat man es in eine Organisation im engeren Sinn verwandelt. Das heißt, dass man nicht mehr den Leuten vertraut hat, weil man davon ausging: die haben eine Sachbeziehung, an der sie interessiert sind, und deshalb bauen sie eine gute Sozialordnung auf; sondern dass man typisch organisationsbezogene Motive erfunden hat. Man hat also Zielvereinbarungen erstellt und an diese wiederum die Arbeitsbedingungen geknüpft, und zwar durch eine Oberaufsicht, die aus Nichtwissenschaftlern besteht, die mit Kennzahlen operieren. Das heißt, man muss sich an Leuten orientieren, die von der Sache nichts verstehen. Dann wurde untereinander eine Konkurrenz aufgebaut, also wer da mehr kriegt und wer da weniger kriegt. Das sind typische Motivationsformen, die von der Sachbeziehung eigentlich wegführen und diese durch eine auf Konkurrenz basierende, im Kern narzisstische Personenbeziehung ersetzen. Ich habe dann erkannt, dass das etwas Fundamentales ist für den Übergang von der Moderne zur Postmoderne und für die heutige Lebensweise überhaupt: dass die Beziehungen zu Sachen ihren Wert verlieren. Das ist etwas, was mich momentan sehr interessiert und beschäftigt – wobei das auch zwiespältig ist, weil einerseits merken die Organisationen, dass die Beziehung zur Sache etwas Fundamentales ist, dass sie die gerade brauchen, andererseits zerstören sie diese gerade. In den Organisationen passiert da etwas sehr, sehr Interessantes und wenn man die Organisation ansieht, hat man einen sehr guten Blick auf das, was heute geschieht. Die Organisation ist der Ort, der heute mit einer großen Lebendigkeit
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verbunden ist. Die klassische Hochkultur ist zu einer Eventkultur geworden und in sich eigentlich nicht mehr interessant; sie ist langweilig. Wo heute das Leben stattfindet, das ist in der Organisation. Gut, es gibt Kulturbereiche, die immer noch interessant sind, aber die sind relativ marginal. Die Organisation ist ein Bereich, in dem das Leben intensiv ist und wo es um die tatsächlich wichtigen Dinge geht. Man lebt einfach in ihr; sie hat einen gewissen Weltcharakter [was einzelne Kulturveranstaltungen eben nicht bieten]. Früher war das nicht das Problem. Man ist in die Wissenschaft eingestiegen, dann hatte man ein und dieselbe Organisation, die man von Anfang an und bis zum Ende gekannt hat; so war das bei mir. Und weil die Organisation sich selbst ununterbrochen wandelt und ja auch fast niemand sein Leben lang in derselben Organisation bleibt, wird das ein lebensrelevanter Bereich, sich darin auszukennen. Die moderne Uni kann man heute mit Bourdieu beschreiben als einen großen Kampf um Positionen. Das war es bis zu einem gewissen Grad früher auch, aber damals war es ein Kampf um Positionen, ein Kampf um sachliche Leistungen, und die Schiedsrichter in diesem Kampf waren Leute, die selbst aus diesem Bereich kamen, also darin kompetent waren. Heute sind es irgendwelche Leute, die irgendwo sitzen und politische Ziele verfolgen bzw. Programme entwerfen darüber, was gerade politisch wichtig oder angesagt ist, worüber man forschen sollte. Danach müssen sich heutige Forscher richten, um erfolgreich zu sein. Das begann in den Neunzigerjahren. JR: Ein anderer wichtiger Erfahrungsbereich heute scheint mir das zu sein, was du unter dem Stichwort der „Inkonsistenz des Anderen“ beschrieben hast. Allgemein berührt das die Diskussion, die mit Begriffen wie etwa „Beliebigkeit“ und „Bedeutungslosigkeit“ belegt wird. Dazu eine persönliche Wahrnehmung, die die Abwesenheit einer sehenden Instanz betrifft: Das Gemeinwesen scheint in Einzelinteressen zu zerfallen. MW: Da ist etwas ganz Banales und etwas wahnsinnig Geheimnisvolles. Wenn man es ganz banal ausdrückt, kann man sagen, dass die alten Gesellschaften erreicht haben, dass man sich immer gesehen fühlte. Auf der religiösen Ebene ist das dann halt der liebe Gott, der einen immer sieht. Auf der Ebene, die man die Welt nannte – also das Säkulare –, da ist es Ehre. Wo es um Ehre geht, ist man immer im öffentlichen Raum, ist immer gesehen. Die Moderne hat dieses Prinzip gelockert und kompliziert, aber nicht aufgegeben. In der Postmoderne ist es schon so: Man ist grundsätzlich nicht gesehen. Das wird immer wieder auch aufgehoben, indem man so temporäre Orte hat, wo man gesehen ist, sonst würde man es ja auch nicht aushalten. Man geht von Ort zu Ort. Aber im Kern kommt man dann immer wieder an Orte, wo man merkt, dass das
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alles nicht so stimmt und dass man eigentlich nicht gesehen ist. Ab und zu entsteht dieses Gefühl: „Niemand schaut auf dich. Du bedeutest nichts.“ Das wird zwar wieder unterbrochen, wenn man irgendwo drin ist, aber selbst dieses Drinsein ist schon, glaube ich, geprägt durch dieses Gefühl, dass es begrenzt ist: Am Ende kommt man wieder dahin, wo man nicht gesehen ist. Wobei das vielleicht nur ein Gefühl derjenigen ist, die das Andere noch kennen oder zumindest die Sehnsucht danach; für die Heutigen ist es vielleicht einfach selbstverständlich. Das erzeugt allerdings in den heutigen Jungen einen permanenten Wunsch, dazuzugehören, der nicht daher kommt, dass man woanders hinwill, weil man denkt, die anderen haben eher Recht oder dort ist es besser, sondern daher, dass man von nirgends kommt. Was auch heißt, dass man an die Orte, die Zugehörigkeiten bieten, eigentlich keine Frage mehr stellt, sondern zufrieden ist, dass sie einen aufnehmen. Das müsste man noch präzisieren.4 JR: Eine ganz andere Frage: Viele lieben deine Lesarten von modernen Texten und behaupten, sie verstünden danach sowohl die Texte selbst als auch ihre Aussagen über die Gegenwart besser. Ähnlich ist das mit den Filmanalysen. Daher noch zu einem Film, der dir wichtig war: Was ist deiner Meinung nach bemerkenswert an dem Film Her von Spike Jonze? MW: Was ich am faszinierendsten fand, ist, dass eine Stimme ohne jemanden, der dahinter sichtbar ist, so eine große Macht hat. Gerade habe ich mit einer Psychoanalytikerin, die über die Odyssee arbeitet, über die Sirenen gesprochen, und die Sirenen sind auch so: Das ist eine Stimme, wo man niemanden sieht und von der eine totale Verführung bis in den Tod ausgeht. Damit ist ja etwas angesprochen, was für die Beziehung zu Frauen fundamental ist: Das Mächtigste darin ist eine Versprechung. Der große Schritt in das normale Leben ist, diese Versprechung in etwas Wirkliches zu übersetzen – und zwar so, dass von der Versprechung noch etwas übrig bleibt. Sie darf nicht ganz verschwinden in der Desillusion, dann ist das Leben leer, sondern es muss noch etwas von der Versprechung zurückbleiben, aber sie muss sich an etwas Reales heften. Das ist das Problem, das Spike Jonze in seinen Filmen grundsätzlich behandelt: ob man das schafft und wie man das schafft. Ich denke, das ist ein Grundproblem des Lebens überhaupt, diese Problematik des Versprechens und was das Versprechen für das Leben bedeutet. Auch für mich ist es etwas Grundlegendes. Das Alter bringt es übrigens mit sich,
4Weiterführend
dazu siehe Abschn. Das bürgerliche System des Medialen und seine postmoderne Auflösung.
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dass Versprechungen zunehmend aus dem Leben verschwinden, dass das Leben irgendwie versprechungsfrei wird, was einen ganz merkwürdigen Effekt hat. JR: Ausgangsposition im Film ist ja, dass es nichts Reales gibt hinter der Stimme. Aber trotzdem hat sie eine reale Macht. Wie funktioniert das denn? MW: Wie diese Verwandlung in das Reale im Film erfolgt, das weiß man nicht. JR: Aber es funktioniert ja auch für die Zuschauer: dass man an die Versprechung glaubt, dass sie etwas Reales für einen wird – obwohl es ja kein Geheimnis ist, dass sie nicht „existiert“, es gibt ja keine Täuschung. MW: Es gibt keine Täuschung, aber die Versprechung in sich hat diese Macht – das ist eben das, was dieser Film wirklich zeigt: dass man weiß, dass nichts dahinter ist. Gewöhnlich entsteht bei Liebesgeschichten die Illusion, da wäre etwas dahinter. Hier wird nicht einmal die Illusion angeboten und man sieht die reine Macht der Versprechung, wobei es ja etwas Reales gibt, nämlich die Stimme. Diese wunderschöne, zauberhafte Stimme … JR: … die ja, wie wir wissen, zu einer wunderschönen Frau gehört. MW: Ja, das außerdem. Ja – insofern –, es muss schon etwas Wirkliches da sein. JR: Wir haben viel über die Veränderung des Verhältnisses von Körper und Subjekt, zur Körpererfahrung diskutiert.5 Klar ist: Körper ist nicht mehr in der Art und Weise geformt wie in der Alten Welt. In welcher Rolle siehst du den Körper bei den postmodernen Subjekten? MW: Für mich persönlich ist der Körper sehr wichtig. Ich bin ja so körperbesessen und auch sehr interessiert, welches Verhältnis Menschen, die ich sehe, in und mit ihrem Körper leben. Nun gibt es ja tatsächlich in der Gegenwart eine ganz spezifische Körperkultur, die anders ist als die frühere. Auch mit Blick auf die Organisationen: Für viele Leute, die in den Organisationen tätig sind, ist es existenziell wichtig, irgendeinen Bereich zu haben, wo sie körperlich intensiv und konzentriert und reflektiert unterwegs sind. Dabei gibt es so große Veränderungen, zum Beispiel eine Veränderung der Auffassung, was ein alter Mann ist. Früher waren etwa emeritierte Professoren alte Herren, die noch so angezogen
5Die
Ergebnisse dieser Diskussionen sind eingeflossen in meine Dissertation. Vgl. Rytz (2009): „Die Sprache ist eine Haut“. Subjektivierung entlang versehrter Körpergrenzen in der Gegenwartsliteratur. https://elib.suub.uni-bremen.de/edocs/00103943-1.pdf. Zugegriffen: 18. März 2020.
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waren wie zu der Zeit, als sie noch gearbeitet hatten. Die Berufe haben ein soziales Selbst geschaffen, das bis zum Tod angedauert hat. Und jetzt ist es ja so, dass man viele Siebzigjährige sieht, die diese tollen blau-rot geflammten Klamotten anhaben und auf ihren Mountainbikes rumzischen – dieser Typ. Etwas, wofür sich die Früheren einfach unglaublich geniert hätten. Den heute Alten macht das gar nichts aus; die finden das okay. Das weist meines Erachtens darauf hin, dass heutzutage die sozialen Identitäten nicht mehr den ganzen Menschen ergreifen und auch nicht in derselben Weise den Körper formen. Das kann man gut sehen, wenn man einen Blick in die Geschichte wirft, zum Beispiel auf das Barock, wenn man die Bilder dieser Zeit betrachtet: Den barocken Körper erkennt man sofort. Man erkennt auch den des 19. Jahrhunderts, diese Anzüge, diese disziplinierten Gesichter, spezifische, „gehaltene“ Bewegungsformen. In der Gegenwart ist es so, dass der Körper einfach aus dem Sozialen freigesetzt worden ist: Man kann in der Firma in einem schönen Anzug rumlaufen, aber in der Freizeit ein ganz anderes intensives körperliches Leben haben. Früher war das, was man mit dem Körper in der Freizeit gemacht hat, genau in dem Rahmen, der dem Ganzen gedient hat. Heute ist es wirklich so, dass das ganze Organisationsleben den Menschen nicht erfüllt. Es schafft eine hektische Betriebsamkeit, saugt den Menschen ein, aber es identifiziert nicht, hat in seinem inneren Leben keinen Bestand. Das Körperliche wird damit für viele ein Bereich, in dem sie eigentlich ein Selbst finden, ein Mittel, mit der Wirklichkeit in Kontakt zu kommen, das sie für ihr Leben brauchen. JR: Geht es aber nicht andererseits auch um ein Diktat der Körperkontrolle, von Fitness, Gesundheit? MW: Das kann man auch verschieden interpretieren. Einerseits sieht man immer mehr, dass die Organisationen in die Seele greifen. Sie wollen immer mehr identifizieren, das ist sozusagen das Diktat der Organisation. Man kann sich auch fragen: Warum haben das die Leute früher nicht nötig gehabt? Früher haben sie ja auch sehr gut gearbeitet und die alten Organisationen haben ja auf eine andere Art in die Seele gegriffen: Wenn du dich wirklich für eine Sache interessierst, greift das natürlich bis in dein tiefstes Inneres; wenn du ein guter, engagierter Musiker bist, dann greift diese Motivation in dein Inneres hinein. JR: Aber keiner hat von dem erwartet, dass er Yoga macht. Und die alten Herren durften einen Schmerbauch haben und Zigarre rauchen. MW: Die brauchten kein Yoga. Weil die fundamentale Identifikation, die von ihnen erwartet wurde, war die Identifikation mit einer Sache. Die heutige Organisation nimmt die Dimension der Sache weg. Die Sache bestimmt aber den
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Körper. Der Churchill hat geraucht, bis er achtzig war, und war de facto wahnsinnig fit, weil das einfach leidenschaftlich mit der Welt, in der lebte, und mit seiner Aufgabe verbunden war. Das ist eine andere Art, ein anderer Körper, etwas anderes, was den Körper am Leben erhält. Aber wenn du keine Sache mehr hast, die dich richtig interessiert, dann musst du den Körper mit Yoga fit halten. JR: Da geht es doch auch um Perfektionierung, um so ein Gesamtbild: dass man auf allen Ebenen erfolgreich ist; und dann gibt es in dem Kontext auch diese Grenzüberschreitungen … MW: Naja, es gibt diese Grenzerfahrungen, die natürlich wahnsinnig gesucht werden, Bungeejumping, Freeclimbing usw. Da gibt es viel und ich glaube schon, dass das viel über die Welt sagt – ungefähr so: Früher hat einen die Welt erfasst und heute erfasst sie einen nicht mehr. Was man dann braucht, das sind diese tollen Kicks, damit man mal endlich weiß, wer man ist. In dem Moment, in dem du richtig Angst hast und da hinuntersiehst und du springen musst, fühlst du dich ganz und gar. Dagegen: Wenn du eine Aufgabe in dir siehst, fühlst du dich auch. Der Kern ist schon, dass die heutige Welt die Sachbeziehung, eine richtig tiefe Beziehung zu einer Sache, zerstört. JR: In einem 2015 erschienenen Artikel entwickelt Georg Seeßlen das Argument, dass der IS die aktuell attraktivste Subkultur für junge „überflüssige Menschen“ im Westen darstelle und dass er diese Attraktivität auch mit Mitteln der Popkultur errungen habe und weiter pflege.6 Sehen so tatsächlich die zeitgenössischen Subkulturen aus? Das ist eine anregende Idee, die auf wichtige Dinge hinweist. Es ist plausibel, dass man die Revolte gegen unsere Kultur, die sich in der Anhängerschaft an den IS ausdrückt, mit der Revolte in Verbindung bringt, die sich in der Popkultur und den verwandten Subkulturen ausgedrückt hatte. In den Siebziger- und Achtzigerjahren waren diese Kulturen gerichtet gegen eine Lebensform, die auf der Identifikation mit dem den Status garantierenden Eigentum, mit beruflicher Leistung und mit der Familie beruhte. Denkt man zum Beispiel an die Hippies, an die Beatles: Es ging um die Befreiung von den Zwängen, die mit dieser Lebensform verbunden waren; was man suchte, war ein für alle Dimensionen des Körpers und
6Georg
Seeßlen: 15 Anmerkungen zu europäischen Dschihadisten. getidan – Autoren über Kunst und Leben, 20. Februar 2015. https://www.getidan.de/gesellschaft/georg_ seesslen/67118/15-anmerkungen-zu-europaeischen-dschihadisten. Zugegriffen: 24. Februar 2020.
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der Seele offenes Leben. Das war ein heftiger Konflikt, aber doch ein Konflikt im Inneren der bürgerlichen Kultur. Alles, was dort verherrlicht war, war auch Teil von ihr, war mannigfach und vielfältig in den Künsten ausgedrückt. Das Verbrechen der Hippies lag nur darin, dass sie das, was man als Traum geliebt hatte, in wirkliches Leben übersetzt haben. Sodass es zu einem Angriff wird, auf die Kultur, die das bürgerliche Leben faktisch trägt. Die alten Subkulturen waren Gegner der herrschenden Form der bürgerlichen Kultur, aber eben nur Gegner aus dem Inneren heraus. Wenn man sich dem IS anschließt, schließt man sich einem Feind unserer Kultur an, einem Feind, der diese Kultur als Ganze hasst und in ihrer Zerstörung seine fundamentale Aufgabe sieht. Wenn man verstehen will, wie aus einer Gegnerschaft eine totale Feindschaft geworden ist, muss man an die fundamentale Veränderung unserer Kultur denken, die vor einiger Zeit unter dem Stichwort der Postmoderne diskutiert worden ist, aber eben nur auf ästhetischer und philosophischer Ebene. Man hat nicht gesehen, dass es eine Transformation der gesamten Kultur war, dass diese Kultur, gegen die die alten Subkulturen rebellierten, verschwunden ist und durch eine neue ersetzt wurde. In der Auseinandersetzung um die Entwicklung der Subkulturen in den Neunzigerjahren wurde diese Entwicklung unter dem Stichwort des Mainstream der Minderheiten breit diskutiert. Ein Phänomen, an dem diese Wandung deutlich wird, ist die Diskussion über den Missbrauch an Kindern in den Institutionen, die sich mit Kindern befassen, insbesondere in den Kirchen. Die Diskussion hat etwa ab 2000 richtig an Fahrt aufgenommen. Warum gerade dann, warum vorher nicht? Die Sachlage war immer massiv, für jeden, der hinschauen wollte, sichtbar. Warum also vorher nicht? Es geht um das Hinschauenwollen. Die Moderne war strukturiert durch mächtige, Identifikationen und Weltbilder formende Institutionen. Die meisten Menschen waren „gläubige“ Mitglieder einer solchen Institution, einer Kirche, der Reformpädagogik oder von was auch immer. Die Institutionen infrage zu stellen, hätte bedeutet, die eigene Welt zu zerstören, das eigene Selbst infrage zu stellen. Das Wegschauen war ein Erfordernis der Selbsterhaltung, der Erhaltung der eigenen Welt und des eigenen Selbst. Lyotard hat bekanntlich die Postmoderne beschrieben als das Ende der großen Erzählungen, deren Ablösung durch viele kleine Narrative. Was dabei nicht mitgedacht ist: Es handelt sich nicht um Erzählungen, sondern um weltbildende Institutionen. Und in dieser Pluralisierung verändern sich die Institutionen, und verändern sich die Menschen. Die alten Institutionen hatten den ganzen Menschen erfasst, hatten die fundamentalen Bindungen, den „Glauben“ an die eigene Welt hergestellt, den Bourdieu als Wesenselement jeder Kultur beschreibt.
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In der Sprache Lacans oder Žižeks würde man sagen: Der große A ist verschwunden. Was bedeutet das nun für Jugendliche? Der moderne Jugendliche stand in der Regel vor einer Welt, die Ansprüche an ihn stellte und dafür Zugehörigkeit versprach, ihm sagte, wie er sich zu verhalten habe, aber auch, wer er in dieser Welt sein könnte, und die ihm ihre großen Begehrensobjekte zeigte. Er konnte gegen diesen Anspruch revoltieren, aber damit war der Anspruch nicht verschwunden. Unter einem Anspruch stehen bedeutet Druck und Zwang, heißt aber auch: „ich werde gesehen, ich bin wichtig“. Der heutige Jugendliche ist vor keinen solchen fundamentalen Anspruch mehr gestellt, ist nicht gesehen, ist für die herrschende Weltordnung nicht wichtig. Sie stellt ihm anheim, sich einer dieser Miniwelten anzuschließen, die unsere offene Kultur anbietet. Nun ist der Zugang zu diesen Miniwelten von den Bedingungen abhängig, unter denen der jeweilige Jugendliche aufwächst. Derjenige, der keinen Zugang zu einer einigermaßen attraktiven Miniwelt hat, bleibt ein Nobody, für den sich niemand interessiert. Die Gegenwelten, die früher die Subkulturen gebildet hatten, gibt es nicht mehr. Man versteht, dass aus dieser Situation einfacher, totaler Hass entsteht. Ein IS, der Position und Anerkennung verspricht, und der erlaubt, diesen Hass auszuleben, muss sehr attraktiv sein.
Literatur Bonz, Jochen. 2012. Das Kulturelle. Paderborn. Holert, Tom, und Mark Terkessidis, Hrsg. 1996. Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin. Rytz, Juliane 2009. „Die Sprache ist eine Haut“. Subjektivierung entlang versehrter Körpergrenzen in der Gegenwartsliteratur. https://elib.suub.uni-bremen.de/ edocs/00103943-1.pdf. Zugegriffen: 18. März 2020. Seeßlen, Georg. 2015. „Islamischer Staat“. Beginnend mit Worten, endend mit Blut. Zeit Online, 15. Februar. https://www.zeit.de/kultur/2015-02/islamischer-staat-dschihadistenaus-europa-essay. Zugegriffen: 24. Sept. 2019. Ders. 15 Anmerkungen zu europäischen Dschihadisten. getidan – Autoren über Kunst und Leben, 20. Februar 2015. https://www.getidan.de/gesellschaft/georg_seesslen/67118/15anmerkungen-zu-europaeischen-dschihadisten. Zugegriffen: 24. Februar 2020. de Tocqueville, Alexis. 1989. Der alte Staat und die Revolution. München. Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M.
Editorische Notiz
Die hier versammelten Texte stammen aus unterschiedlichen Entstehungskontexten und -jahren. Diese sind unten vermerkt. Mit Rücksicht auf ein einheitliches Erscheinungsbild und eine zeitgemäße Lesart der Texte wurden diese für das vorliegende Buch in die neue Rechtschreibung übertragen. Überarbeitungen in Hinblick auf eine gendergerechte Schreibweise wurden hingegen nicht vorgenommen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6
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Verzeichnis Die Fundamente des Sozialen in der Alten Welt: Der symbolische Tausch und das Prinzip der Medialität Die Alte Welt: Die Spiele um die Namen (1993). In Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre, ders., 90–116. Frankfurt a. M.: Fischer. Der Traum von der archaischen Spontaneität und das Gesetz der Vergeltung. Wie die epischen Helden hassen und töten (1985). In Haß. Die Macht eines unerwünschten Gefühls, Hrsg. Renate Kahle, Heiner Menzner und Gerhard Vinnai, 177–196. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Die Sprache der Gewalt – Die Gewalt der Sprache (1988). In Émile. Zeitschrift für die Erziehungskultur, 1: 2 Duell, 9–18. Ilias und Chanson de Geste: Das System der Rache (1993). In Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre, ders., 116–131. Frankfurt a. M.: Fischer. Tauschsysteme als subjektivierende Ordnungen: Mauss, Lévi-Strauss, Lacan (2006). In Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe, Hrsg. Stephan Moebius und Christian Papilloud, 81–105. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften. Das bürgerliche System des Medialen und seine postmoderne Auflösung (1993). In Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre, ders., 267–293. Frankfurt a. M.: Fischer.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Waltz, Identifikation, Begehren, Gewalt, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6
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Verzeichnis
Bedingungen der Subjektkonstitution mit Lacan: Moderne und Postmoderne Ethik der Welt – Ethik des Realen (2001). In Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Hrsg. Hans-Dieter Gondek, Roger Hofmann und Hans-Martin Lohmann, 97–129. Stuttgart: Klett-Cotta. Die Trivialisierung des zweiten Todes – Das Unsagbare in der Postmoderne (2006). In Sagbar – Unsagbar. Philosophische, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen (= Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche 5), Hrsg. Martin Heinze, Christian Kupke und Isolde Eckle, 181–200. Berlin: Parodos. Das Reale in der zeitgenössischen Kultur (2007). In Verschränkungen von Symbolischem und Realem. Zur Aktualität von Lacans Denken in den Kulturwissenschaften (= Kadmos Kaleidogramme 9), Hrsg. Jochen Bonz, Gisela Febel und Insa Härtel, 29–55. Berlin: Kulturverlag. Das Subjekt in der Verantwortung [2004]. Bislang unveröffentlichte Überarbeitung des Textes Le sujet dans la responsabilité (in L’agir philosophique dans le dialogue transculturel [2006], Hrsg. Jacques Poulain, Hans-Jörg Sandkühler und Fathi Triki, 159–169. Paris: L’Harmattan) für einen Vortrag im Fachbereich Pflege der KFH Freiburg 2004. Autorität. Gestalten des Gesetzes in kulturellen Formationen [2008]. Bislang unveröffentlichter Vortrag. Zwei Topografien des Begehrens: Pop/Techno mit Lacan (2001). In Sound Signatures. Pop-Splitter, Hrsg. Jochen Bonz, 214–231. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Über die Kultur des School-shooting als symptomatisches Phänomen aktueller Schülerkultur (anlässlich des Amoklaufs von Winnenden) [2009]. Bislang unveröffentlicht.
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Die archaische Begründung der Geschlechterdifferenz und ihre Auflösung: Rekonstruktion einer Geschichte des Begehrens Der Frauentausch [1993]. Bislang unveröffentlichter Text, entstanden im Zusammenhang mit Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre, ders. Frankfurt a. M.: Fischer 1993. Das Objekt des Begehrens im Betrug (Boccaccio, Crébillon fils) (2001). In Lüge und (Selbst-)Betrug. Kulturgeschichtliche Studien zur frühen Neuzeit in Frankreich, Hrsg. Franziska Sick und Helmut Pfeiffer, 131–141. Würzburg: Königshausen & Neumann. Ist die Emanzipation der Frau eine Revolution oder eine Katastrophe? (2000). In Identität und Differenz: Zur Psychoanalyse des Geschlechterverhältnisses in der Spätmoderne, Hrsg. Hildegard Lahme-Gronostaj und Marie Leuzinger-Bohleber, 29–36. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Eine Konstante in der Geschichte der Geschlechterdifferenz: Decamerone, Rouge et Noir, Being John Malkovich (2005). In Eros und Literatur. Liebe in Texten von der Antike bis zum Cyberspace, Hrsg. Christiane Solte-Gresser, Wolfgang Emmerich und Hans Wolf Jäger, 325–342. Bremen: edition lumière. Was das Geschlechterverhältnis einmal war und heute ist. Die Jugend von heute (2006). In Literatur, Psychoanalyse, Gender. Festschrift für Helga Gallas, Hrsg. Wolfgang Emmerich und Eva Kammler, 157–173. Bremen: edition lumière. Houellebecqs Les particules élémentaires – Wie man sich in einer narzisstischen Welt einrichtet (2001). In Paradox oder über die Kunst, anders zu denken. Mélanges für Gerhart Schröder, Hrsg. Gisela Febel, Françoise Joly und Silke Pflüger, 525–534. Kemnat: Quantum Books.
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Literaturwissenschaft als Identifikationssystem Die Bühne der Repräsentation: Moderne und Postmoderne (2003). In Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel, Hrsg. Silja Freudenberger und Hans Jörg Sandkühler, 341–356. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Das Begehren in der Wissenschaft. Die Verwandlung der historischen Literaturgeschichte in die systematische Literaturwissenschaft [2002/2005]. Bislang unveröffentlicht. Diffuses Nichtwissen in die Form artikulierter Fragen bringen … Interview mit Matthias Waltz [2015]. Bislang unveröffentlicht.