Von den ersten und letzten Dingen: Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche 9783110844917, 9783110039436


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Von den ersten und letzten Dingen: Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche
 9783110844917, 9783110039436

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

Herausgegeben von

Mazzino Montinari · "Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel

Band 1

1972

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Von den ersten und letzten Dingen" Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche von

Peter Heller

1972

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der

Herausgeber:

Dr. Mazzino Montinari via dei Deila Robbia 29,1-50132 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter 1 Berlin 45, Adolf-Martens-Straße 11 Prof. Dr. Heinz Wenzel 1 Berlin 33, Harnackstraße 16

ISBN 3 11 003943 5 Library of Congress Catalog Card Number 72-81556 © Copyright 1972 by Walter de G r u y t e r & Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J . Trübner — Veit 8c Comp. — P r i n t e d in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung v o n Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Drude: Müller & Co. K G . , Berlin 46

INHALT Vorwort

IX

Abkürzungsverzeichnis

XLI

I. Die Uberwindung der Metaphysik Studie zum 1. Aphorismus 1. Das Thema im weitesten Sinn und seine Beziehung zu

3 Grundtendenzen

Nietzsdies 1. Antithetik und Heraklitismus 2. Reduktionismus und Umwertung 3. Perspektivismus 4. Zusammenfassung II. Engere Fassung des Themas

Studie zum 2. Aphorismus 1. Oer Mangel an historischem Sinn 1. Illustrationen 2. Personalperspektive, Egozentrik und Selbstbesdieidung II. Die Tugend des Historikers: Zum Thema Nietzsche und Burdthardt

Studie zum 3. Aphorismus I. Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst II. Nietzsches Auffassung von Kunst und Künstler in der Phase von Μ A (Versuch einer Synopsis) 1. Künstler und Wissenschaftler 2. Charakteristika der Kunstwerke und ihrer Wirkung 3. Die Endphase der Kunst und ihr Verfall 4. Aufgaben und Zukunft der Kunst 5. Rückblick und Abschluß

4 4 9 16 19 21

26 27 27 35 41

55 56 67 67 76 82 91 102

Aphorismus 4

108

Aphorismus 5

111

Aphorismus 6

116

Aphorismus 7

122

Aphorismus 8

128

VI

Inhalt

Aphorismus 9

133

Aphorismus 10

137

Aphorismus 11

Hl

Aphorismus 12

148

Aphorismus 13

153

Aphorismus 14

163

Aphorismus 15

168

Aphorismus 16

173

Aphorismus 17

184

Aphorismus 18

190

Aphorismus 19

197 II. Die Kultur im Zeitalter der Vergleichung und in der Epoche der Wissenschaft

Aphorismus 20

209

Aphorismus 21

214

Studie zum 22. Aphorismus

217

1. Paraphrase 2. Psychologischer Exkurs über Nietzsches Machttraum

Studie zum 23. Aphorismus 1. Das Zeitalter der Vergleichung 2. Historischer Sinn und Allempfänglichkeit

217 220

228 228 233

Aphorismus 24

242

Aphorismus 25

248

Nachträge zu dem Themenkreis des 25. Aphorismus

258

1. Zu Nietzsches Antisozialismus 2. Zu Nietzsches Konzept der Vornehmheit

Studie zum 26. Aphorismus 1. Dynamik der Aufklärung 1. Disposition 2. Fortschritt und Reaktion 3. Renaissance und Reformation II. Voltaire und Rousseau 1. Hommage ä Voltaire 2. Der „grandseigneur des Geistes"

258 262

268 269 269 270 272 277 277 281

Inhalt

VII

3. Der Anti-Revolutionär 4. Wirkungen Rousseaus 5. Das Problem der Zivilisation 6. Die .Überwindung' Voltaires III. Romantik 1. Romantik und Rousseauismus 2. Pathologie der Romantik 3. Oberwindung der Romantik durdi die Tat 4. Die geistige Überwindung der Romantik 5. Zu Nietzsches Auffassung der Romantik IV. Schopenhauer V. GereAtigkeit

284 287 292 294 299 299 302 304 309 313 320 345

Aphorismus 27

359 III. Die Not des Erkennenden

Aphorismus 28

369

Aphorismus 29

378

Aphorismus 30

388

Aphorismus 31

395

Aphorismus 32

401

Studie zum 33. Aphorismus

406

1. Exkurs über Nietzsches Schreib- und Denkstil 2. Kommentar

Studie zum 34. Aphorismus

407 422

432

I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie 1. Selbstbeschwichtigung 2. Ästhetische Aspekte 3. Weisheit und Wissenschaft 4. Entwicklung des Freigeists aus dem christlichen Asketen 5. Biographische Aspekte II. Versuch einer Zusammenfassung

433 433 438 441 445 457 461

Anhang: Nietzsches Zusammenfassung des ersten Hauptstücks

485

Register 1. Namen- und Sachregister

491

2. Nietzsche

509

I. Werke, Briefe II. Nachlaß III. Phasen in Nietzsches Werk und Entwicklung

als Denker

509 511 512

VORWORT 1. Ich beginne mit einer Selbstanalyse, dem Versuch einer kritischen Besinnung angesichts der erstaunlichen Schwierigkeit, die es mir macht, über einen Text zu sprechen, mit dessen Interpretation ich mich seit Jahren beschäftige, über dem ich länger gebrütet habe als irgendein Leser und als der Autor selbst. Ich meine, wenn ich das sage, nicht etwa das Gesamtwerk, die zwei Bände Menschliches, Allzumenschliches in der Ausgabe von 1886 samt den aus demselben Jahr stammenden retrospektiven Vorreden, in denen ein späterer Nietzsche sein Werk im Sinne eines radikalen Credos apologetisch und selbstkritisch kommentiert, und als Zeugnis einer großen Umkehr, Krise, Selbstbefreiung von ästhetisch-romantischem Pessimismus und Idealismus, sowie als Entwicklungsphase auf dem Weg zur Umwertung aller Werte darstellt. Ich spreche auch nicht von den Sentenzen und Aphorismenreihen, die den zweiten Band ausmachen: den Vermischten Meinungen und Sprüchen von 1879 und dem 1880 veröffentlichten Wanderer und sein Schatten; ja nicht einmal von dem ersten Band Menschliches, Allzumenschliches aus dem Jahr 1878, sondern von dem ersten Hauptstück des ersten Bandes, der Reihe von 34 Aphorismen, die unter dem Titel „Von den ersten und letzten Dingen" dies „Buch für freie Geister" eröffnen und in der neuen Kritischen Gesamtausgabe wenig mehr als 30 Druckseiten einnehmen. Woher diese Schwierigkeit, dieses Gefühl hilfloser Unfähigkeit über den nur allzu bekannten Text ein Wort zu sagen, das sich ihm erklärend gegenüberstellt, statt ihn bloß zu wiederholen oder sich in ihm zu verlieren? Und woher zugleich die ebenso lästige Mahnung daran, daß Nietzsche und sein Text zur Konfrontation herausfordern und eine Stellungnahme verlangen? Offenbar enthält die Doppelfrage schon einen Teil der Antwort. Es gibt eine Nähe zum Text, durch die sich der Ausleger von Texten sein eigenes Handwerk legt. Die von Nietzsche als Kunst des Philologen gepriesene Übung in der behutsamgenauen, vor- und rückblickenden, jeder Regung des Textes nachspürenden und nachdenkenden Fertigkeit und Tugend des langsamen Lesens (73, 9 f.) verführt offenbar zur Entwicklung einer Form der Anomie, die dem Philologen — zumal dem von heute, der kaum mehr weiß, zu wem und wozu er spricht, — eigentümlich ist. Dem über die bedruckten Blätter gebeugten Blick schwindet der Horizont; die gewollte Symbiose mit dem Text erfüllt sich als Umklammerung. Die Seite, der Ab-

χ

Vorwort

satz, der Satz, eine einzige Wendung wird zum Labyrinth, das einen verschluckt; man verirrt sich in seinen Autor, meint selbst zum Text geworden zu sein, und kann noch von Glück sagen, wenn man ent-selbstet als kleiner Lessing, Mikro-Goethe, inkarniertes Nietzsche-Kompendium oder etwas ramponierter Computer davonkommt und nicht völlig verstummt als der heute gerne angeprangerte, zur Kommunikation unfähig gewordene Fach-Idiot. Und gerade dem Perfektionisten der Interpretation mag es passieren, daß er, wie jener Maler, der immer nur ein einziges Bild zu verbessern trachtete, am Ende nur noch ein Gewirr von Linien und Farben vor sidi hat. Mal etreint qui trop embrasse. Die Uberzeugung von Sterilität und Schädlichkeit des Universal-Komparatisten, der überall mit- und daneben-redet, ist uns eingedrillt worden. Aber äuch die Mikrologie, die Hingabe an den einen Text führt in ein Chaos — des infinitesimal Kleinen, — und erblindet endlidi in einer Art Wahnsinn, e. g. des interpretierenden Philologen, der sidi einbildet von seinem Text begraben worden zu sein. Zu diesem verzweifelten Verhältnis zwischen dem Leser-Adepten-Exegeten einerseits und dem Text und Autor anderseits fällt mir nun der Titel eines langvergessenen psychoanalytischen Aufsatzes ein. Er lautete: „Identification with the enemy and loss of self". Allerdings: die Bezeichnung des Textes oder des Autors — in meinem Fall: der Aphorismenreihe und Nietzsches — als „der Feind" dürfte zu einseitig sein; das Gefühl des Selbstverlusts zumindest einem Liebeshaß oder einer Haßliebe zwischen dem Interpreten und seinem Objekt, das er nicht bewältigen kann und von dem er sich am Ende überwältigt glaubt, entspringen. Zugleich aber mahnt die Erinnerung an das Verlangen danach, sich durdi Identifikation mit dem Gegner der Nötigung zur Selbstbehauptung zu entziehen, auch an die Angst vor dem kindlichen Hang, an die Abwehr dieses Verlangens, an den Willen zur Selbstbehauptung — und damit an die andere Komponente meines Interpretendilemmas. Denn, wie gesagt, Nietzsches Texte scheinen mir nicht nur zur Hingabe, zur Selbstaufgabe zu verleiten, sondern zugleich zur Stellungnahme herauszufordern. Und aus diesem Zugleich ergibt sich erst die Spannung, der erhöhte Konflikt. Zwar: man will in dem bewegten Fluß versinken. Aber die Momente der Besinnung, des antithetischen Widerstandes, die in ebendiesen, in der Bewegung dahinfließenden Texten enthalten sind und die Bewegung als solche überhaupt erst zu Bewußtsein bringen, halten einen dazu an, sidi — wie der Autor selbst, — der ständigen Bewegung, die sonst unfaßbar und namenlos bliebe, durch ständige Abgrenzung und antithetische Scheidung zu widersetzen und sie eben dadurch nur um so entschiedener in sein Denken aufzunehmen. Und erst aus dieser conjunctio oppositorium, — so scheint es mir nun, — entsteht die besondere Schwierigkeit bei der Interpretation von Nietzsches Texten, wie sie bei andern, die vornehmlich das Versinken und Aufgehen in der Bewegung, oder vornehmlich eine Auseinandersetzung fordern, nicht in demselben Grad gegeben wäre.

Vorwort

XI

Man könnte einwenden: die Nötigung sich dem Fluß zu überlassen und sich ihm zugleich zu widersetzen, bestehe in allen Fällen. Jede Interpretation verlange sowohl die Bewegung mit und in dem Text und damit eine qualifizierte Passivität, sowie eine Aussage über den Text und also die Behauptung einer Distanz und einer aktiveren Rolle. Ich meine aber, daß diese allgemeine Schwierigkeit in Nietzsches Fall eine Steigerung erfährt, weil sie einem wesentlichen Aspekt seines Werks und also dem Charakter des Autors korrespondiert und von diesem gefördert wird. Nietzsches Schriften — jede einzelne, und alle zusammen, von der Kunst-gläubigen Geburt der Tragödie (1872) und den weitgehend in analoger Gesinnung verfaßten Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873—76) über die —, scheinbar so jähe, — skeptische Wendung, die, mit MA (1878—1880) dokumentiert, in weiteren Aphorismenbüchern — der Morgenröte (1881) und der Fröhlichen Wissenschaft (1882) — fortgesetzt wird, um ohne Bruch zum bejahenden Pathos des Zarathustra (1883—85) und zu den polemisch-destruktiven Spätwerken (Jenseits von Gut und Böse) (1886), Genealogie der Moral (1887), Fall Wagner, Götzendämmerung (1888), dem frenetischen Antichrist und dem — hellsichtig-megalomanen — Rückblick des autobiographischen Ecce homo zu führen; — alle Schriften Nietzsches wirken, — trotz und in ihrer Polyphonie, — als Ausdruck einer einzigen, mächtigen, drängenden Gedankenbewegung, in der alles mit allem zusammenhängt, auseinander entsteht, miteinander in dialektischer Dynamik kommuniziert. Man entzieht sich diesem Eindruck umso weniger als die Dynamik dieses Lyrikers und Dramatikers der Erkenntnis1 zugleich suggestiver dichterischer Ausdruck des Gedankener/e&ens ist, Erdenknis und Erlebnis eins sein, sich nicht von einander trennen lassen wollen, ein Atem, ein ansteigender Sturm alles vor sich her treibt. Und der Nachlaß, — nicht weniger reich und bedeutend als die Veröffentlichungen, — das heißt: die Inedita, die in allen Phasen die Publikationen antizipieren, begleiten, variieren (und erst jetzt durch die neue KritisAe Gesamtausgabe ausreichend erschlossen werden), verstärken den Eindruck der Homogeneität dieses doch jederzeit in sich vielstimmigen und von Dissonanzen bewegten Denkens, so daß man kaum von irgendeinem einzelnen, wesentlichen Gedanken mit Sicherheit sagen dürfte, daß er nur dem frühen, oder dem mittleren, oder dem späten Nietzsche angehört. Zugleich aber mutet dieses Werk in jeder einzelnen Schrift und in Hinblick auf den Zusammenhang aller Schriften als ein sehr helles Labyrinth an, ja als bewegtes Abbild luzider Chaotik, eben weil jede Stimme Gegenstimmen fordert, Stimmen und Gegenstimmen sich ständig auseinander entwickeln, einander in Widerspruch und Widerstreit begegnen, umarmen, transzendieren. Vielleicht war, was Nietzsche versuchte, ebendies: die unbegreifliche und unaussprechliche Einheit im Widerspruch und Widerstreit als Antithese und innigen Zu1

Als Lyriker der Erkenntnis wird Nietzsche von Thomas Mann (schon 1906) bezeichnet (vgl. Thomas Mann, Rede und Antwort; Gesammelte Werke; Berlin: S. Fischer, 1925), Band IX, Seite 13.

XII

Vorwort

sammenhang in seinen Schriften widerzuspiegeln; anders gesagt: die Einheit dynamischer Antithetik, gegenwendiger Bewegung als U m und Auf des Denkens, des Erlebens, des menschlichen Universums in den Metaphern der Begriffe und Worte darzustellen. U n d wenn er damit, — in Anbetracht der Tatsache, daß die Sprache zu einem solchen Unternehmen ebenso nötig wie unzulänglich ist, — Unmögliches begehrte und zu tun unternahm, und je unerbittlicher er seinen Erkenntniswillen anstrengte, desto näher an die Grenze all dessen geriet, was seine Gedanken- und Erlebniskraft noch umspannen und ertragen konnte, bis endlich, jenseits der Grenze, das blendende Licht des Wahnsinns seinen Anspruch auf allumfassende Erhellung zu erfüllen schien, um ihn zu umnachten, zu anspruchslosem Irresein zu entspannen und zu zerstören, — so mag eine ungleich schwächere, harmlosere, aber immerhin analoge Erfahrung auch den berühren und verwirren, der im Nachvollzug dessen, was Nietzsche in dem Versuch, seine Welt und Erfahrung zu begreifen und darzustellen, zu tun unternahm, sich auf die Texte Nietzsches einläßt. Der Autor und sein Text wollen die Welt nachahmen und ihr gerecht werden; der Leser, der Interpret ahmt den Text, ahmt den Autor nach, um ihm gerecht zu werden; und erlebt auf seine geringere Weise, was jenem widerfährt. So darf er, — wenn nicht allein die eigene Unfähigkeit sein Versagen verursacht hat, — auch glauben, in seinem scheiternden Versuch mit der gegenwendigen Bewegung, der Antithetik und dem Zusammenhang eines und aller Nietzsche-Texte völlig ins Reine zu kommen, — mithin in seiner eigenen Erfahrung der dynamischen Labyrinthik seines Autors, — auch etwas vom Wesentlichen der Erfahrung dieses Autors miterlebt zu haben. Umso nötiger ist es aber, daß er sich nun audi wiederum auf die qualifizierte Feindschaft des Gegenüber 2 besinnt und — unter der, in diesem Kommentar immer gegebenen Voraussetzung, daß es viele Möglichkeiten der ,Reduktion', des Übersetzens, des Interpretierens gibt, — von einem Standort aus, eine vereinfachende Perspektive zu skizzieren versucht.

2. Es w a r die Rede von Antithese als Zusammenhang, Zusammenhang durch Antithese, von der Einheit im Widerspruch und der Einheit der dynamischen Antithetik oder gegenwendigen Bewegung. Unter der Ägis dieser Erfahrungen und Leitgedanken, scheint mir, lassen sich nun auch die frühen Werke Nietzsches und die Wendung zu M A darstellen. Man kennt die quasi Hegelianische Dialektik, welche — Nietzsche zufolge — die 2

In diesem Sinn heißt es in Nietzsches Betrachtung über „Richard Wagner in Bayreuth": „... jeder, der sich genau prüft, weiß, daß selbst zum Betrachten eine geheimnisvolle Gegnerschaft, die des Entgegenschauens, gehört" (77,342), eine Wendung, in der Nietzsche später das Anzeichen seiner Loslösung von Wagner sah (ΜΑ II, 4 f.).

Vorwort

XIII

Grundstruktur der Geburt der Tragödie bildet3: „Eine ,Idee' — der Gegensatz dionysisch und apollinisch — ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser ,Idee'; in der Tragödie der Gegensatz zur Einheit aufgehoben" (77, 348). Was hier dargestellt wird, ist die antithetisch-dynamische Polarität und Einheit von zwei Mächten, die, als Kunsttriebe aneinander gebunden, einander im Kampf und fruchtbaren Wettstreit begegnen und herausfordern, sich aneinander steigern, sich gegenseitig umarmen und endlich in der Synthese der griechischen Tragödie einander durchdringen, um wieder auseinanderzufallen. Apollo: paradiesische Illusion, Sophrosyne, Ruhe der Erfüllung in einer Utopie des Diesseits, einer zur statischen Gegenwart erhobenen Welt der Individuation, selig in sich; Wunschbild der Dauer in erfüllter Begrenzung, Plastik, Ordnung, Harmonie; der Traum von Schönheit. Dionysus: orgiastische Bewegung, Schmerz und Lust ineinander verflochten und sich entladend in ewig ruheloser Zeugung und Zerstörung, Schöpfung und Selbstvernichtung; Dissonanz, die nach ihrer Lösung verlangt und jede Harmonie in grenzenloser Unrast durchbricht; Begier nach Alleinheit und Allvernichtung jenseits der Schranke der Individuation, sich widerspiegelnd im Dynamismus der Musik, im tragischen Lebensgefühl. — Die Griechen selbst gehören als das Volk der ästhetischen Kultur einem mittleren Bereich an, dem der Kunst, d. h. ebenjenem, in dem Apollo und Dionysus sich die Waage halten, wenn audi die höchsten Manifestationen des Griechentums und seiner Kunst, — der tragische Mythus, in dem sich diese Kultur erfüllt, und das Kunstwerk der Tragödie geboren aus dem Geist der Musik, — unter der Dominanz des Dionysus stehen. Für die Tragödie gilt: „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist". (70,173) Haben wir es aber, angesichts der Antithese Dionysus : Apollo nur mit künstlerischen, nur mit Kunst-Trieben im engeren Sinne zu tun? Offenbar nicht, da die apollinisch-dionysische, künstlerische Kultur der Griechen zwischen der dominant dionysischen, die Individuation verneinenden Kultur Indiens und der, von der Diesseitswelt der Individuation beherrschten Kultur Roms, das sich dem „staatenbildenden Apollo" als dem „Genius des principii individuationis" verschrieben hat, die Mitte hält (vgl. 70, 165 f.; 146). Die Macht aber, die, Nietzsche zufolge, die künstlerische Kultur der Griechen und ihre Quintessenz, die Tragödie, zerstört hat, erscheint zunächst als eine weder dionysische noch apollinische (vgl. 70, 110), obschon es von ihr heißt: in ihren logischen Schematismus habe sich die „apollinische" Tendenz „verpuppt" (70, 122), und Nietzsche vorwiegend ihren Kampf gegen das dionysische Element betont4. Diese Macht ist der Sokratismus, das überall nach Er5

4

Die im Folgenden entwickelte Auffassung der Geburt der Tragödie faßt im Wesentlichen zusammen, was ich anderwärts ausführlicher begründet und belegt habe. Vgl. Dialectics and Nihilism (Amherst: U. of Mass. Press, 1966), Seite 82—112. Die sokratisdie Tendenz scheint die apollinische zu vernichten, indem sie sie übersteigert. Das Verhältnis wird aber nicht eindeutig genug bestimmt. Vgl. Dialectics

XIV

Vorwort

hellung strebende Bewußtsein, der Geist der — zunächst optimistischen — ratio und Wissenschaft, welcher selbst dort, wo er sich im Bereich des Ästhetischen betätigt, als unkünstlerisch, als verderblicher Gegner der wahren Kunst gilt. Der antithetische Bau von Nietzsches eigentlichem Erstlingswerk läßt an Klarheit zu wünschen übrig. Jedenfalls geht man nicht fehl, wenn man den Sokratismus, — welcher nicht apollinische Plastik sondern Begrifflichkeit, nicht Sophrosyne sondern bestenfalls reines rastloses Erkenntnis-Streben und Serenität des theoretischen Bewußtseins ist (70, 130), — zunädist als neue Antithese auffaßt, die sich der erreichten apollinisch-dionysischen Synthese der künstlerischen Kultur entgegensetzt, diese zerstört, ihre apollinische Komponente etwa in Abstraktionsfreudigkeit aufsaugt und das dionysische Element, soweit sie es nicht in ruhelosem ErkenntnisStreben zu sublimieren imstande ist, verleugnet, unterdrückt, in eben unterirdischen Geheimkult hinabzwingt (70, 116; 82, 16 f.). Und nun scheint der Sokratismus als der Mentor der spätantiken sowie der, seit der Renaissance entwickelten, neuzeitlichen alexandrinisdien Kultur der höheren, gebildeten Klassen zu herrschen. Der neuzeitlichen Kultur im Zeichen der sokratischen ratio und Wissenschaft erwachsen aber unüberwindliche Gegner, und zwar sowohl von außerhalb ihrer eigentlichen Zivilisationsdomäne, — nämlich von Seiten der, durch sokratische Ideologien revolutionierten barbarischen Massen, — wie auch innerhalb ihres Bewußtseinsbereichs. Der Optimismus des Intellekts, der sokratische Wahn, man könne Dasein und Welt völlig durch den Intellekt ergründen, die menschlichen Leiden und die Gebrechen der menschlichen Gesellschaft durch einen melioristischen Rationalismus überwinden, läuft sich tot. Ausgesetzt inmitten seines Wissenswusts erkennt der späte, moderne, faustische Sokratiker die Grenzen der Erkenntnis, die Begrenztheit der Wissenschaft und ihrer Möglichkeit, die Welt zu verbessern; sein Wissensstolz schlägt um in Wissens-Ekel und in Kunstbedürftigkeit, in Sehnsucht nach der heilenden Illusion apollinischer Schönheit und nach dionysischem Rausch, nach der Wiedererweckung der griechischen Kultur (vgl. 70, 141—150). Der Intellekt, das Instrument sokratischer Erkenntnis, kehrt sich gegen sich selbst, um — wie Kant und Schopenhauer dies taten {70, 149), — die Prätention des Intellektes, er könne das Wesen und An-sich der Dinge begreifen, als Irrglauben zu erkennen. Und ebenso scheitert die Hoffnung des melioristischen Sokratismus auf eine durchrationalisierte, daher gerechte, tugendhafte, daher glückselige Menschheit. In dieser selbstmörderischen Wendung des Sokratismus kündigt sich aber zugleich auch eine andere Macht an, nämlich die der dionysisch-pessimistischen Einsicht in den Urwiderspruch im Herzen der Welt, in Urschmerz und Urlust der, jenseits aller

and Nihilsm, op. cit., „The dialectic of Socratism", Seite 89 ff., 314 f.; ferner Nietzsches Vortrag über „Sokrates und die Tragödie" vom 1. 2. 70, in dem Sokrates als Verkörperung apollinischer Klarheit aufgefaßt und verurteilt wird (Kleinoktavausgabe IX, 55); oder die 82, 7 abgedruckte Notiz, in der von dem „rastlosen apollinischen Triebe nach Wahrheit" die Rede ist.

Vorwort

XV

Fiktionen der ratio, herrschenden Dynamik des all-schaffenden, all-zerstörenden UrEinen oder Willen (70,149)5. Und wenn einerseits die deutsche Philosophie die Umkehr des Sokratikers zu tragisch-dionysischer Einsicht und Weisheit bewirkt, so vollzieht sich anderseits in der deutschen Musik von Badi zu Beethoven, von Beethoven bis zu ihrem Gipfel in Wagner der Durchbruch antisokratisch-dionysischer Macht in den Bereich der Kunst, um in Erneuerung des Wesens griechischer Kultur, der Doppel-Einheit apollinisch-dionysischer Kunsttriebe, endlich die Wiedergeburt der Tragödie (gemeint sind die Wagnerschen Produkte) und damit des tragischen Mythus hervorzubringen. Die sokratisch-alexandrinische Epoche, die jetzt, — zu Ende des 19. Jahrhunderts, — dazu bestimmt ist, an ihrem Lebensekel, ihrer Ziellosigkeit, ihrem inneren Widerspruch (zu dem auch die wachsende Empörung des Sklavenstandes im Namen melioristisch sokratischer Glücksansprüche gehört) elend zugrunde zu gehen, soll also kraft des deutschen Wesens abgelöst werden durch eine neue künstlerische bzw. tragisdie Epoche. In und mit dieser soll aber auch der sokratisdie Geist in gewandelter Gestalt wiederauferstehen, der nämlich, Nietzsche zufolge, nadidem er in Sokrates, — dem Wirbel und Wendepunkt der menschlichen Gesdiichte, — sich manifestierte, überhaupt nicht mehr untergehen kann, solange die Menschheit besteht (vgl. 70, 125, 129). Es hat also offenbar mit diesem sokratischen Geist mehr auf sich als eine summarisdie Obersicht der dialektischen Bewegungen in Nietzsches Essay anzudeuten vermochte. Es ist kein Widerspruch, wenn Nietzsche sowohl behauptet, die Tragödie sei am Sokratismus zugrundegegangen (70, 115), wie audi: sie habe — gleich dem Euripides — Selbstmord verübt (70, 102, 123,119 f., 110). Denn das, woran sie, seiner Meinung nach, zugrundeging: nämlich die, in ihrem apollinisch hellen Aspekt — zumal dem Dialog — angelegte „Dialektik", welche der, dem Sokrates hörige Euripides hypertrophieren ließ (70, 101, 116 f.), ist nichts anderes als sokratischer Geist. Ebenso aber will Nietzsche im Grunde den sokratisdien Geist, — wie Sokrates selbst (70, 119 f.), — durdi Selbsttötung enden lassen, indem er in dem faustischen Sokratiker die dionysisdie Erkenntnis des eigenen Wahns aufgehen läßt, zu der es das rastlose, kritisch-selbstkritische Erkenntnis-Streben des Sokratikers vielleicht seit je hintrieb, sowenig er sich dessen bewußt war. Und wie Nietzsdie die Tragödie in ihrem Doppelwesen von ihrem Selbstmord wieder auferstehen läßt, so auch den sokratischen Geist, der als Erkenntnis-Streben mithin durdiaus nicht so einseitig auf den optimistischen Wahn zu reduzieren ist, wie es zunächst den Anschein hat, sondern sich ebenfalls als conjunctio oppositorum verrät, sobald er nämlich sich mit pessimistischer Skepsis verbindet und endlich als eine gewissermaßen dionysische ratio, als „Musik treibender Sokrates" wiederaufersteht. Mit dieser Reinkarnation ist der naiv sokratisdie Glaube an die „Ergründbarkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens" (70,141) überwunden, ist der „theoretische Mensch" von seinem Wahn durch Einsidit in das Begrenzte, Illusio5

Zu dem Ur-Einen und seiner Dynamik vgl. 70, 61 f., 76, 138 f., 189 f.

XVI

Vorwort

näre der Wissenschaft geheilt und durch den Blick in den unheilbaren Urwiderspruch und das, der ratio und ihrer Macht entzogene, unsagbare, dionysische Ur-Eine zugleich dermaßen verwundet, daß ihm mit der tragischen Erkenntnis auch das Wissen gegeben ist, daß er der Tröstung, ja des Illusionären der Kunst bedarf, daß sein eigenes Wesen zur „Neuschaffung der Kunst immer wieder nötigt", daß die Kunst „ein notwendiges Korrelativum und Supplement der Wissenschaft" ist (70, 125). Die dialektische Struktur des Essays scheint sich zunächst auf Antithesen und deren Synthese innerhalb des Bereichs der Kunst zu beschränken, i. e. auf die Antithese Dionysus : Apollo und deren Synthese in der Tragödie. Sie erweitert sich aber zur Dialektik zwischen Kunst und Wissenschaft, bzw. zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Kultur, zur Darstellung des — vorerst — siegreichen Sokratismus und seiner — bevorstehenden — Uberwindung durch Wiedergeburt der dionysischen, der apollinischen und der, beide vereinenden, tragischen Kunst; um schließlich — so scheint es — in der, alle Antithesen synthetisierenden Vorstellung einer „Kulturform" zu gipfeln, deren Wesen das „Symbol" des „künstlerischen", des „musiktreibenden Sokrates" (70, 141) bezeichnen soll. Denn im Zeichen dieser Synthese von theoretisch-wissenschaftlicher und tragischer Weltbetrachtung sollte sich wohl alles entfalten dürfen: also nicht nur Philosophie als Wissenschaft und Weisheitslehre, sondern ebenso die ihrem Bedürfnis entsprechende tragische, bzw. dionysisch-musikalische und apollinisch-verklärende Kunst. Dennoch ist das vordringliche Thema des Essays Geburt, Entwicklung, Untergang des künstlerischen Zeitalters und seiner höchsten Form, der Tragödie; und deren Erneuerung, deren Wiedergeburt: die Wiederbringung und Wiedervereinigung des Apollo und des Dionysus, als deren Herold und Heros der deutsche Künstler Richard Wagner erscheint. Denn er — und nicht der neue Sokrates und SuperNietzsche, der kaum aus der Kulisse tritt, — wird hier auf offener Bühne mit Wagnerianischem Pathos, dröhnendem Orchesterschwall, treudeutscher Sentimentalität und heldischen Ressentiments gefeiert.

3. Ich habe versucht die dynamische Antithetik und Einheit gegenwendiger Bewegung in Hinblick auf die Struktur der Geburt der Tragödie vereinfachend zusammenzufassen. Der Versuch bleibt unzulänglich. Andere Linien wären nachzuziehen, und manche der einander entgegengesetzten Begriffe sind, wie gesagt, nicht scharf genug definiert, so daß auch der aufmerksame Leser verwirrt wird von der glitzernden, blendenden, allzu beweglichen Dialektik, die sich zudem mit einem quasilyrischen, dithyrambischen Pathos amalgamiert, um — gemäß dem Vorbild des Musik treibenden Sokrates — als Gedankenmusik zu wirken. Dennoch will ich es hier bei diesem Versuch bewenden lassen und nur noch darauf hinweisen, daß die

Vorwort

XVII

Geburt der Tragödie, obschon beherrscht von internen Antithesen und von internen Bewegungen der Umkehr, sich auch in antithetischer Dynamik zu externen Gegnern bewegt. „herr Nietzsche tritt ja nicht als wissenschaftlicher forscher auf"; er wolle „als epopt seines gottes" bloß „auf dem wege der intuition erlangte Weisheit" und „wunder" verkünden. So Wilamowitz-Möllendorf in seinem Angriff auf die „erträumte genialität" und „frechheit" von Nietzsches „Zukunftsphilologie" 8 . Der dithyrambische, undokumentierte Essay des jungen Professor-Antiprofessor mußte als Affront gegen Stil, Methode und Geist der akademischen Disziplin und Zunft der Altphilologie wirken, deren Meister, Ritsdil, Nietzsche als seinen begabtesten Schüler an die Universität Basel empfohlen hatte. Seinem Gehalt nach stellt das später auch „Griechentum und Pessimismus" betitelte Werk die damals vorherrschende Meinung von Heiterkeit, edler Einfalt und stiller Größe, — den (vielfach verwässerten) Glauben Winckelmanns und der deutschen Klassik — insofern auf den Kopf, als es diese apollinische Sphäre als Palliativ aus der Leidensfähigkeit, dem Pessimismus und der Illusionsbedürftigkeit der Griechen hervorgehen läßt; die ,Einfalt* oder Einfachheit aus der Erfahrung der Wirrsal, Maß als Abwehr und Schutz vor orgiastischer Erfahrung des Exzesses und der Ekstase erklärt, und das sublimste Erzeugnis griechischer Kultur, die Tragödie, als verklärte Offenbarung des dionysischen Leidens, der pessimistischen Weisheit, einer maß- und grenzenlosen Erfahrung von Schmerz und Lust darstellt. Und wenn der Anfang dieser Schrift das Idealbild des Griechen umkehrt, so richtet sich ihr weiterer Verlauf gegen die sokratisch wissenschaftliche Gelehrtenbildung und optimistische Kultur der Oper, d. h. gegen den Alexandrinismus der eigenen Epoche, als deren Gegner Schopenhauer und Wagner erscheinen. Damit sind wir aber nun schon durchaus im Bereich von Nietzsches folgenden Veröffentlichungen, den vier Unzeitgemäßen Betrachtungen, in denen, umgekehrt als in der Geburt der Tragödie, die Ausfälle gegen den externen Gegner, den Alexandrinismus der Epoche, am Anfang stehen und dominant sind, indes die internen Konflikte rezessiv und gewissermaßen halb im Verborgenen bleiben, weshalb diese — teils polemischen, teils hortatorisch panegyrischen — Schriften vergleichsweise ruhiger und geschlossener wirken. Ich weise hier nur auf einige Muster der Antithetik und der Kehren hin. Das positive Credo der frühen Schriften ist, — mit dem späteren Nietzsche zu reden, — ein ästhetisch romantischer Pessimismus, als dessen Komponenten Griechentum, Schopenhauer und Wagner erscheinen. Als deren Gegensatz gilt auch dem Nietzsche der Unzeitgemäßen der unkünstlerisch-stillose, gelehrtenhaft philistroese Optimismus, welcher die schlechte Durchschnittsnorm des alexandrinisch gebildeten, d. h. ver6

Vgl. Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie; Die Schriften von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Moellendorf (zusammengestellt und eingeleitet von Karlfried Gründer; Hildesheim: Georg Olms, 1969), Seite 27—30.

XVIII

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bildeten und seinem eigenen Wesen entfremdeten deutschen Bürgers darstellt. Die zwei ersten Betrachtungen negieren Negationen, greifen Pseudo-Positiva des Zeitgeists an. Die erste richtet sich gegen den deutschen Bildungsphilister, der statt Kultur, — und das heißt vor allem „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes" {71, 7), — ein barbarisches „System der Nicht-Kultur" (71, 11), ein unverbindliches Vielerlei von Wissen, ein chaotisches Durcheinander aller Stile als fortschrittlich moderne Bildung zur Schau trägt, und im Namen einer als statisches Monument gepriesenen deutschen Kultur das Streben nach einer solchen, erst zu schaffenden Kultur unterdrückt. Die zweite Betrachtung richtet sich gegen den Stolz dieser falschen alexandrinischen Gebildetheit, den exzessiven wissenschaftlichen Historismus, der rastlos und ohne Instinkt f ü r die Funktion des historischen Gedächtnisses (welches — sei es monumental-heroisch; antiquarischbesinnlich, konservativ; oder kritisch-destruktiv — dem vitalen Bedürfnis zu dienen hat) die Relikte aller Völker und Zeiten durchwühlt ohne geistige Nahrung zu finden, und nur ein aperspektivisch-hypertrophes Bewußtsein, eine monströse, ziel- und richtunglose Vielwisserei hochzüchtet, die der Kultur und dem Leben feindlich sind. Den zeitgenössischen Götzenbildern: — dem sich positiv dünkenden, optimistischen Bildungsphilister, der in Wahrheit den Triumph der geistigen Schwäche und der unkünstlerischen Barbarei repräsentiert; und dem als höchste Errungenschaft des Zeitalters gefeierten Historismus, an dem in Wahrheit das Zeitalter krankt, — stellt Nietzsche nun die echten Leitbilder entgegen, die sich dem Zeitgeist entgegensetzen, und von denen allein Rettung, Führung, Erlösung von dem unphilosophischen und unkünstlerischen Zeitgeist zu erhoffen ist: nämlich den Philosophen Schopenhauer als den wahren Erzieher und den Musiker, den Künstler Wagner als den wahrhaft schöpferischen Menschen. Das Zeitalter will Scheinmenschen, entselbstete Sklaven unpersönlicher Normen und anonymer öffentlicher Meinungen. Der wahre Erzieher erzieht und befreit die Einzelnen dazu, ihr eigenes Selbst zu realisieren, sowie er das philosophische Denken aus der Versklavung an die akademisch normierten Begriffe befreit und in seiner revolutionären Radikalität wiederherstellt. Der wahre Philosoph ist der unzeitgemäße Mensch schlechthin, der „Hemmschuh im Rade der Zeit" (82, 45), der nicht nur die Vorurteile seiner Zeit sondern die aller Zeiten, alle Historizität und alle Illusionen des Fortschritts in der Zeit, ja alle Zeitlichkeit durchschaut und negiert, da er den Blick auf das ewige Wesen jenseits der Illusionen alles Werdenden richtet, nämlich auf den „Willen" selbst und auf dessen Erlösung und Selbstaufhebung. Jedoch der illusionslos Erkennende gilt, da er die Scheinwelt der Zeitlichkeit mit seinem verachtenden Blick durchdringt, als der zerstörerische Genius; und also verlangt er, — analog der, die Welt vernichtenden dionysischen Offenbarung, — nach seinem Besänftiger und Antipoden: nach dem schöpferischen Genius, der eine neue, apollinisch-dionysische Welt der Kunst, der Musik, des Traumes, des tragischen

Vorwort

XIX

Mythus hervorbringt; nach der erneuten, aus dem Künstlergeist Bayreuths geschaffenen Gemeinschaft, nach dem neuen Zeitalter, das den modernen Menschen aus seiner Zerspaltenheit, Schwäche und Verwirrung erlöst. „Das größte Pathos", sagt Nietzsche in einem Rückblick, „erreichte ich, als ich den Schopenhauerschen Menschen entwarf: den zerstörenden Genius, gegen alles Werdende. Als Gegenbedürfnis brauchte ich den aufbauenden metaphysischen Künstler, der einen schön träumen macht in solchem unheimlichen Tagwerk" (82,144). Das Essay über Wagner schließt eine Kritik an Wagner mit ein, — verhüllt von dem festlichen Pathos, mit dem Nietzsche den Meister von Bayreuth zum letzten Mal, ja eigentlich zum Abschied zelebriert. Bemerkenswert ist, daß in Hinblick auf Wagner angedeutet wird, die Synthese eines bösen, und das bedeutet zugleich: eines starken — Willens mit der Reinheit des Herzens sei dazu bestimmt, den Menschen von seiner Unnatur zu erlösen, ihm den Weg zu seiner wahren Natur zu bahnen. — Hier klingt gewissermaßen noch in Form des Siegfried-Motivs das spätere Wunschbild und Ethos des Übermenschen an, im Gegensatz zu christlicher Selbstverstümmelung und dέcadence. Das idealisierte Bildnis Schopenhauers (im Grunde ein idealisiertes Selbstportrait von Nietzsche): die Darstellung des einsamen, mutigen Befreiers; seiner illusionslosen Härte und Wahrhaftigkeit, welche der Wahrheit des Pessimismus die Treue hält; seiner stilistischen Meisterschaft; seines echt philosophischen Geistes — steht in enger antithetischer Beziehung zu dem Zerrbild des Bildungsphilisters, David Friedrich Strauß, der Darstellung des Wortführers glatter, allseits bestätigter Gemeinheit, feiger Mediokrität und eines banalen, verlogenen, unwahren Optimismus; des Pseudo-Philosophen und .Meisters' eines Mischmaschs aller Stile, mithin der Stillosigkeit. Und ebenso steht die Betrachtung über den alexandrinischen Historismus in antithetischer Beziehung zu dem Essay über Wagner: der Historismus ist Unnatur, oder Perversion der Natur, schwächendes Potpourri kaleidoskopisch fragmentierter, ubiquitärer Vielwisserei und miteinander unvereinbarer Perspektiven, mangels des einfachen, fest umgrenzten Horizonts, der die Bedingung gesunder Vitalität und echter Kultur ist. Wagner aber ist der „Gegen-Alexander", Sieger über den Wirrgeist der Moderne, der große Vereinfacher und Neuschöpfer mythisch umgrenzter Perspektiven, der Wiederhersteller der Natur in ihrer vitalen, transrationalen und wohl auch transmoralischen Kraft und Unschuld. Wiederum fällt, wie schon bei der Geburt der Tragödie, auf, daß der, von dionysischer Einsicht in die Wahrheit verwandelte Mensch philosophischer Erkenntnis, der hier unter dem Namen Schopenhauers auftritt, scheinbar an zweiter Stelle steht, als diene er vorbereitend nur der Erneuerung einer mythisch-künstlerischen Kulturleistung des schöpferischen Genies. Und wieder bleibt, wie im Fall der Geburt der Tragödie, der Zweifel bestehen, ob der philosophische Jünger Wagners nicht, einer heimlichen Absicht nach, die tröstliche Illusion der Traum- und Mythen-bildenden Kunstwelt und des ästhetischen Mythus als bloßes „Korrelativum und Supplement",

XX

Vorwort

oder, wie es nun heißt: als bloße „Ruhepause im K a m p f " (IV 1, 282 (11 [ 2 0 ] ) ) — gerade audi der Erkenntnis — erachte; und also das Verhältnis zwischen Meister und Jünger, Wagner und sich selbst in Wahrheit umkehren wollte, um den Musik treibenden Sokrates oder Nietzsche als Erzieher, den Philosophen als den Erkennenden und als den Gesetzgeber jeder Kultur an die Spitze zu stellen.

4. Nun denke man sich aber — und erst damit sind wir bei der Phase von MA, — wie diese Thematik, dieser polyphone Strom von miteinander verflochtenen, einander widerstrebenden, steigernden und durchdringenden Tendenzen einer alles umfassenden Wende und Umkehr unterworfen wird, bei der zwar keine Komponente des vorwärtsdrängenden Konglomerats verloren geht, wohl aber jede ihre Stelle innerhalb der dynamischen Konfiguration verändert, so daß vielfach was vorher obenauf war und die Richtung anzugeben schien, nun nach unten oder beiseite geschoben, in halb verborgener Gegenströmung weiterwirkt, hingegen was vorher unterschwellig mitdrängte zu Tage tritt. Auch dieses Bild gibt allerdings nur einen Anschein wieder; vereinfacht eine komplexe, von langer Hand vorbereitete Entwicklung, die sich mit Hilfe der Notizhefte näher verfolgen ließe. Jedoch beweist anderseits die Tatsache, daß sich etwa die Kritik an Wagner als Gegenstimme schon in den Jahren von Nietzsches manifester Wagner-Verehrung verfolgen läßt, nichts gegen die Bedeutung jenes jähen Umschlags im Sommer 1876, als Nietzsche, kurz nach Beendigung seiner Lobeshymne auf Wagner, in seiner Enttäuschung über die ersten Festspiele in Bayreuth, in den Böhmerwald flüchtete, um dort „harte Psychologika" im Sinne von M A zu notieren 7 . Und wenn er, der seine vorige Schrift Wagner gewidmet hatte, das neue, dem Andenken Voltaires gewidmete Buch im Mai 1878 an Wagner schickte, so mochte er sich über dessen Befähigung, im Gegner noch den Freund zu achten, täuschen; aber konnte er wirklich über die Gegnerschaft selbst im Zweifel sein? Alles an diesem Buch mußte Wagners Geschmack und dem Geschmack der Wagnerianer zuwider sein: die skeptische Grundhaltung, die Wendung zur desillusionierenden, überall Menschliches Allzumenschliches aufspürenden psychologischen Analyse, die Stilisierung nach dem Muster französischer „Moralisten" und Sentenzenschleifer 8 , die Wiederaufnahme und Radikalisierung aufklärerischer Tendenz, die 7

8

Vgl. 77, 3 6 1 ; Μ A II, 334 (Bäumler); 82, 401 f.; IV 4, 2 1 — 2 3 ; „Die Pflugschar" IV 2, 409, 4 1 0 — 4 2 7 . Zu Nietzsches Auffassung dieser Kunst der Prosa sowie zu seiner Auffassung des Moralisten, i. e. des Betrachters, Sezierers, Kritikers der mensdilich allzumenschlichen Moralia, in der Epoche von MA, vgl. ΜΑ I, Aphorismen 3Ϊ und 36; IV 2, 478 (22 [ 1 5 ] ) , 514 (23 [ 4 1 ] ) , 546 (23 [ 1 3 2 ] ) ; IV 4, 1 7 4 — 1 7 6 ; ferner ΜΑ I, Aphorismen 203 und 282; Μ A II VM Aphorismus 5 und 72; Μ A II WS, Aphorismen 19 und 20; und Morgenröte, Aphorismus 209.

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XXI

strikte Ablehnung der Metaphysik, namentlich die Polemik gegen den metaphysischen Pessimismus Schopenhauers, sowie gegen Religion und insbesondere gegen das Christentum und die auf dem Boden des Christentums entwickelten moralischen Vorurteile. Und mehr als zuwider: die Kritik an Genie und Geniekult, und am deutschen Wesen; zumal der Angriff Nietzsches sich offenbar auch, — ohne Wagner zu nennen, — gegen Wagners Person und seine Kunst richtet. Denn diese gilt nun, im Gegensatz zur wahren Klassik, als Barock, ja als Dekadenzform. Oberhaupt aber wendet sich Nietzsche jetzt gegen die quasi-religiöse Verehrung der Musik, — als sage ihre, im Grunde vom Intellekt entwickelte Symbolik etwas über das Wesen der Welt aus! — und ferner gegen alle Kunst als archaisch-infantiles Relikt und gegen den Künstler als „zurückbleibendes Wesen" (ΜΑ I, 143). Denn Nietzsche hält nun dafür, daß — zumindest für die nächste Wegstrecke historischer Entwicklung — der skeptische, wissenschaftliche, kritische und selbst-kritisdie Intellekt die Führung zu übernehmen habe, und fordert vor allem eine historisch-genetische Analyse aller menschlichen Vorstellungen und Empfindungen. Und nichts scheint ihm zunächst ferner zu liegen als die Hoffnung auf eine Wiedergeburt des tragischen Mythus oder auf eine neue, von dionysischer Offenbarung geprägte Kultur im Zeichen der apollinisch-dionysischen Musiktragödie. Wagner tritt ab, und mit ihm der metaphysische Künstler, die „metaphysisch künstlerischen Ansichten" (IV 2, 559), die im Stil der Inspiration konzipierte Metaphysik der Kunst. Und so sah denn der späte Nietzsche, MA als „Denkmal einer Krisis" und als „Fortschritt" zu sich selbst (77, 359). „Ein Irrtum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt — ei erfriert... Hier zum Beispiel erfriert „das Genie"; eine Ecke weiter erfriert „der Heilige"; unter einem dicken Eiszapfen erfriert „der Held"; am Schluß erfriert „der Glaube", die sogenannte „Uberzeugung", auch das „Mitleiden" kühlt sich bedeutend ab — fast überall erfriert „das Ding an sich" " (77, 360). Und wenn man bedenkt, wie Nietzsche nun, statt Metapysik die Physis, statt hoher Idealitäten — im Sinne einer reduktiven Ideologie — die Realitäten, die schlichten nächsten Dinge zu Ehren bringen will; und statt dem Künstlerglauben und Künstlertrost, daß die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei, nun allein der „Erkenntnis um jeden Preis" (82, 404) zu leben gewillt zu sein scheint; oder selbst die Hoffnung auf Kultur als Einheit des Stils hintanstellt, um die alexandrinische Epoche barbarischer Mischung aller Stile und Denkweisen als das uns bestimmte „Zeitalter der Vergleichung" (ΜΑ I, Apho. 23) anzuerkennen, so begreift man, daß er im Rückblick meint: Er habe damals — in der Phase von Μ A — gegen sich und seine Vorliebe Partei ergriffen (82,146). „Unbarmherzig schritt ich über die schönen Wünschbarkeiten und Träume hinweg, wie sie bis dahin meine Jugend geliebt hatte, unbarmherzig ging ich meines Weges weiter . . . " (82, 404). Und dabei habe ihm seine Erkrankung, — obschon er bisweilen auch meint, diese sei selbst die Folge seines geistigen Radikalismus gewesen (vgl. 82, 404, 402), — den Dienst erwiesen,

XXII

Vorwort

ihn aus allen bisherigen Bindungen zu lösen (77, 363 f.). Denn Nietzsche fühlte sich nun aus Gesundheitsgründen genötigt, sich vom akademischen Dienst dispensieren zu lassen. U n d so beginnt die Verwandlung des nach Stand und A m t dem bürgerlichen Establishment zugehörigen ordentlichen Professors der classisdien Philologie zu Basel und vielfach gefeierten jungen Autors einer Avantgarde — zum kranken, einsamen Unbehausten, der, in zunehmendem Kontrast zu dem alles umstürzenden Anspruch seiner kaum noch beachteten Schriften, ein schattenhaftes, unstetes, der äußeren Form nach sehr bescheidenes Leben als Pensionär, — vorzugsweise in der Schweiz und in Italien, — verbringt, bis zuletzt der Ausbruch seines Wahnsinns diesem Wanderleben ein Ende macht. Was uns aber hier zu beschäftigen hat, ist nicht der Ausblick auf Nietzsches weiteren Lebenslauf, noch der biographische Hintergrund der in M A dokumentierten Wendung, sondern diese selbst. W i r umschrieben diese Wendung, indem wir behaupteten: die vorher dominanten Tendenzen werden nun rezessiv, die vorher rezessiven dominant. U n d als Beispiel dafür könnte gelten, daß Nietzsches A b neigung und Feindschaft gegen Wagner nun — und bis zuletzt — nicht weniger mit seiner Liebe und Verehrung für Wagner zu kämpfen hat als die frühere A n betung und Liebe zu Wagner mit seiner K r i t i k an Wagner in ihm kämpfen mußte; oder daß Nietzsche auch zu einer Zeit, da er nodi nicht als radikaler Skeptiker öffentlich sprach, schon als radikaler Skeptiker zu denken im Stande war, wie etwa sein unveröffentlichter Aufsatz über „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" aus dem J a h r 1873 beweist. N u r genügt diese Formel nicht, um die Umkehrbewegungen und Wenden innerhalb der großen Wende und Umkehr von M A ausreichend zu charakterisieren. D a f ü r ließen sich nun viele Beispiele anführen, statt denen ich hier nur eines gebe, nämlich: daß Nietzsche bei entschiedener Abwertung der Kunst, der griechischen Tragödie, usf., dennoch behaupten konnte: „ J e t z t " , — i. e. in der Phase von M A , — „jetzt tagte mir das Altertum und Goethes Einsicht der großen K u n s t " (82, U m aber solchen antithetischen Bewegungen innerhalb

der großen

nachzugehen, bedarf es der Einzelstudien und eines detaillierten

147).

Bewegung

Kommentars.

Hier sei zunächst nur in Hinblick auf die Gesamtbewegung von M A behauptet, daß man es sich zu leicht macht, wenn man Nietzsches Antithesen bloß als Selbstwidersprüche konstatiert; und dies trotz der Tatsache, daß Nietzsche selbst, in Hinblick auf die Wendung vom Frühwerk zu M A meinte, wer sich, wie er, erlaubt hätte, öffentlich zu sprechen, nun auch dazu verpflichtet sei, sich öffentlich zu widersprechen, da er seine Meinungen geändert habe 9 .

> IV 2, 466 (21 [23]). Vgl. audi IV 2, 559 (23 [159]): „Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysisch-künstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentlichen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhaltbar. Wer sich frühzeitig erlaubt öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich gezwungen, sich bald darauf öffentlich zu widersprechen."

Vorwort

XXIII

5.

Ich komme wieder auf mein Hauptthema: die dynamische Antithetik als Zusammenhang, die Einheit vielstimmig gegenwendiger Bewegung, die Nietzsches Denken charakterisiert und seiner heraklitistischen Intuition und Auffassung des Lebens und der Welt entspricht. Dem detaillierten Nachweis der bewegten Antithetik, d. h. dem Versuch, im Einzelnen zu zeigen, wie sich die Gedankenbewegung Nietzsches in und kraft der Antithetik manifestiert, soll, wie gesagt, der folgende Kommentar dienen. Inwieweit ist aber ein derartiger Versuch überhaupt berechtigt? Man hat Nietzsches Aphorismen immer wieder als verstreute Bemerkungen oder bunte Reihen aufgefaßt; oft unter Hinweis darauf, daß jedenfalls der von Schopenhauer emanzipierte Nietzsche, Systeme und Systemzwang als Zuflucht für ein unfreies Denken verachtete; an kein System, an keine durch ein Gedanken-System zu erfassende Welt oder Welterfahrung glaubte. Und das ist in mehr als einem Sinn richtig, nämlich sowohl in Anbetracht von Nietzsches Skepsis und Unglauben an die Fiktionen des logischen Denkens, sowie in Anbetracht seines Pan-Perspektivismus (der Uberzeugung, daß jede .Erkenntnis' eine perspektivistische Illusion sei), wie auch in Anbetracht der Tatsache, daß Nietzsche nicht gesonnen war, sich durch Systemzwang hemmen, von einer Gedankenbahn, die in einen gegebenen Rahmen nicht paßte, auf die Dauer abhalten zu lassen. Es dürfte aber einen Unterschied machen, ob jemand von ,Systemen' und Systematik' deshalb nichts hält, weil ihm das radikale Durchdenken eines Problems widerstrebt, er als Denker Impressionist sein will oder ist; oder aber: weil er keine Einschränkung des radikalen Durchdenkens duldet, sich durch kein System vor geistiger Erfahrung schützen und dumm machen lassen will. Dies scheint mir weit eher Nietzsches Fall zu sein, obschon am Ende die Alternative selbst kein Entweder-Oder bezeichnet. Charakteristisch für Nietzsche ist auch hierin der Widerspruch, die Spannung: also sowohl die Offenheit eines — nicht bloß intellektuellen — Impressonismus wie auch dessen Widerpart: die bohrende Konsequenz, und zwar nicht nur die des Theoretikers. Dennoch lohnt es, gerade der Konsequenz von Nietzsches Denken nachzugehen. Zwar seine Skepsis richtete sich auch und ausdrücklich gegen die Strategien des Intellekts, des Bewußtseins, der Begriffe, der Logik, der Sprache — jedoch durch Selbstkritik des Intellekts. Und so versuchte er immer wieder, sich dem mutmaßlichen Fluß der Dinge mit Hilfe eben jener statischen Fiktionen der Sprache, der Logik, der Begriffe, der unvermeidlichen Bewußtseins-Perspektivismen anzunähern, — also nicht durch Ausschaltung sondern durch Radikalisierung des Denkens. Die rastlos und rücksichtslos radikale Gedankenbewegung war für Nietzsche ja eine dionysische Lust, Qual, Leidenschaft10. Und insofern seine Spätphilosophie 10

Vgl. Mazzino Montinari: „Nietzsches Philosophie als Leidenschaft der Erkenntnis' " (Studi Germanici VII Nr. 2—3, 1969, 337—357) und meinen Nietzsdie-Essay in Dialectics and Nihilism op. cit., 71—81, 146 f.

XXIV

Vorwort

ein happy end hat, kann man sagen, daß sich in ihr die Leidenschaft für das Suchen nach der Wahrheit nur verwandelt in die Leidenschaft für das Schaffen der einzigen Form von ,Wahrheit', die es unter der Voraussetzung, daß es die Wahrheit nicht gibt, noch geben kann, — nämlich in die Leidenschaft für das Vermögen immer mächtigere, zwingendere, umfassendere Perspektiven zu setzen (vgl. 78, 377).



Und also sollten sich bei Nietzsche, infolge der nervösen Rapidität seines Denkens, sehr wohl Abbreviaturen, Sprünge, scheinbare Diskontinuitäten feststellen lassen, aber zumindest seltener als man gern annimmt: bloßer Mangel an Penetration, bloße Inkonsequenzen. Es schien mir ferner, daß die Einheit dynamischer Antithetik, wenn damit eine tendance

dominante bezeichnet ist, sich bei Nietzsche im Großen wie im Kleinen

nachweisen lassen und als Schlüssel zu einem besseren Verständnis, als Prinzip der Auslegung seiner Schriften bewähren müßte. Überdies war die in Frage stehende Tendenz als Prinzip oder Strategie der Umkehrung längst bemerkt worden: vor allem von Nietzsche selbst (e. g. in der Vorrede zu Μ Α I (Μ A I , 3); und von Kennern Nietzsches, etwa von Wagner, der von „einem steten Umsichherumdrehen" spricht, oder von den mit Nietzsche befreundeten Overbecks, die sein Prinzip der Umkehrung verdächtig fanden 11 , von Karl Joel, der die Tendenz „umzuschlagen" gewissermaßen aus der Dialektik der geistigen Leidenschaft entwickelt, dem Seelenfeuer, das des riesenhohen Wellengangs und damit des extremen Wechsels, der Folge von Lust und Leid, von J a zu Nein, von Nein zu J a bedarf; von Martin Heidegger, der von Nietzsches „Umkehren" spricht 12 . So war es naheliegend, eine genauere Anwendung zu versuchen, und etwa zu zeigen, wie sich die, alle Motive Nietzsches umfassenden Wendung in der Phase von M A an einem Segment des Werkes verfolgen läßt, und wie sich wiederum innerhalb dieses Segments, sowohl seiner Gesamtstruktur nach, wie audi innerhalb der einzelnen Textstücke, analoge Bewegungen antithetischer Dialektik manifestieren. Die vorliegende Arbeit ist also eine Lese-Ubung. Sie will, indem sie, zwecks gründlicheren Verständnisses, auf die Texte eingeht und oft weit über sie hinausgeht, zunächst Nietzsches Hinweisen auf die Schwierigkeit der aphoristischen Form seiner Schriften folgen. Diese liegt darin, heißt es in der Vorrede zur „daß man diese Form heute nicht schwer genug

Genealogie,

nimmt". Denn ein Aphorismus

11

Das W o r t von Wagner stammt aus seinem Angriff auf Nietzsdie und Μ Α I, der unter dem Titel „Publikum und Popularität" in den Bayreuther Blättern (August- und Septemberheft 1878) erschien. Vgl. Elisabeth Förster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsches (Leipzig: Naumann, 1897) 2. Bd., I. Abtig., 310. Overbecks: Vgl. Carl Albrecht Bernoulli: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche (Jena: Diederidis, 1908) I, 241, 4 0 9 ; II, 176.

12

Karl Joel: Nietzsche und die Romantik (Jena: Diederichs, 1905), 93· f., vgl. audi 124—134. Martin Heidegger: Nietzsche (G. Neske: Pfullingen, 1961), I, 3 3 — 4 4 .

Vorwort

XXV

müsse, nachdem er „abgelesen" worden sei, erst noch „entziffert" werden, und dann erst habe „dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf" (76, 248)13. „Freilich tut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist — und darum hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit" meiner Schriften —, zu dem man beinah Kuh und jedenfalls nicht „moderner Mensch" sein muß: das Wiederkäuen ..." (76, 248). Zugleich will diese Arbeit aber auch zeigen, daß eine bestimmte Aphorismenreihe, im Zusammenhang gelesen, genaue Gedankenverbindungen aufweist, ja sich als dramatisch entwickelte Komposition auffassen läßt. Und wenn sie Nietzsches dynamische Antithetik, sein Denken in Kehren an Mikro- und Makrostrukturen, dieser Reihe nachweisen soll, so auch deren Relationen zu anderen Schriften, so daß sowohl die einzelnen Glieder, wie die Gesamtkomposition der Reihe, gewissermaßen nach rückwärts und vorwärts, d. h. in ihren Beziehungen zu früheren und zu späteren Phasen von Nietzsches Denken zu diskutieren sind, um eine Deutung der Reihe im Gesamtzusammenhang von Nietzsches Werk und Entwicklung zu ermöglichen. Das mag zunächst abstrus klingen. Aber wovon war denn die Rede, wenn nicht von Beispielen dynamischer Antithetik und von Umkehrungen — etwa in Hinblick auf die polaren Mächte und deren Schicksal in der Geburt der Tragödie, oder in Bezug auf die Strukturen der Unzeitgemäßen Betrachtungen, oder hinsichtlich der Umwertung in der Phase von MA? Daß sich aber in kleinen und kleinsten Einheiten analoge Prozesse abspielen, läßt sich mühelos an zahllosen Beispielen illustrieren, etwa wenn Nietzsche von der „Seligkeit des Unglücks der Erkenntnis" spricht (82, 337), oder von „Veredelung durch Entartung" (ΜΑ I, 183); die Predigt der Nächstenliebe in die der Fernsten-Liebe verkehrt (75, 64); oder, wie Rέe, behauptet, daß wer sich erniedrigt, sich erhöhen will 14 ; die Moral — statt der 15

Nietzsche selbst gibt in der Genealogie den „Kommentar" zu einem Aphorismus von kaum einer Seite in Form der über 80 Seiten langen Abhandlung „Was bedeuten asketische Ideale?" (76, 335—412). — Vgl. ferner zu dem Thema der Auslegung die folgende N o t i z aus der Epoche von MA: „Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette: sie verlangt, daß der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle; dies heißt sehr viel verlangen. Eine Sentenz ist eine Anmaßung. —Oder sie ist eine Vorsicht: wie Heraclit wußte. Eine Sentenz muß, um genießbar zu sein, erst aufgerührt und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichte) versetzt werden. Das verstehen die Meisten nicht und deshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen" (IV 2, 451 (20 [3]). Übrigens meint auch Bäumler, daß für die Aufdeckung der Zusammenhänge und für das Verständnis der „Komposition" von Nietzsches Aphorismenbüchern, — die in einem „tieferen Sinne ,gebaut' " sind als so manche philosophischen Systeme — noch viel zu tun sei (73, 330 f.).

14

ΜΑ I, 79 (Apho 87). Auf die Übereinstimmung mit Rees Psychologischen Beobachtungen weist Hans M. Wolff hin (Friedrich Nietzsche, Der Weg zum. Nichts (Francke: Bern, 1956, Sammlung Dalp 83), 302).

XXVI

Vorwort

Unmoral — als Circe — nämlich der Philosophen — bezeichnet15; oder die Wagnerianisch-pessimistische, pseudoreligiöse Perspektive der Götterdämmerung in eine anti-wagnerianische, anti-pessimistische, anti-religiöse der „Götzendämmerung" umkehrt (wobei Gott gleich Götze ist); und endlich die größte Aufgabe seines Spätwerks als „Antichrist" in der Formulierung „Umwertung aller Werte" zusammenfaßt. Schwieriger ist es, den Zusammenhang innerhalb einer Aphorismenreihe zu beweisen, und zwar nicht etwa deshalb weil es bei Nietzsche u. a. selbstverständlich auch Sammlungen von Einfällen gibt, die zwar jeweils allesamt aus einer Grundüberzeugung stammen, aber von diesem gemeinsamen Nenner, wie Radien von einem Punkt, ausgehen, ohne untereinander eine dialektische Sequenz zu bilden. Die hier auf das „Erste Hauptstück" von ΜΑ I angewendete Methode hat aber auch insofern keinen Anspruch auf Alleingültigkeit als die Texte Nietzsches die Mitarbeit des Lesers fordern, und zwar, wie gesagt, in besonderem Maße dort, wo der Autor in Aphorismen spricht, die „langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen" gelesen sein wollen (73, 10), — und das Auffinden der Zusammenhänge lieber dem Leser überläßt als sie ihm aufzudrängen. Die Aphorismen dieser Reihe, wie die mancher anderen, ließen sich also wohl auch als Individuen auffassen, die in näherer oder entfernterer Verwandtschaft zu anderen Aphorismen und Gruppen von Aphorismen stehen. Sie pflegen Beziehungen und Affinitäten nicht bloß zu den Texten, die unmittelbar vorangehen oder nachfolgen, sondern auch über die Köpfe der Nahestehenden hinweg zu denen, die sich anderswo in demselben oder in anderen Kontexten befinden. Infolge dieser ihrer halb-offenen Individualität oder ihres Doppelcharakters als für sich bestehende Aussagen und als Angehörige eines Kollektivs bleiben sie aber vielfältig und vieldeutig miteinander verflochten, selbst wenn man sie einseitig, somit viele offen gelassene Türen schließend, manche Hintergedanken sowie Rück- und Vorsichten vernachlässigend, und also nicht gerade mit zarten Fingern und Augen, als Glieder einer zusammenhängenden Kette auffaßt. Und sogar bei derart eingeschränkter Blickrichtung könnten sich einem anderen Leser, entsprechend seinen anderen Voraussetzungen und Interessen, sehr wohl eine oder mehrere andere fortlaufende Ketten des Zusammenhanges ergeben. Ein Grundproblem des Interpretierens — denn wer wollte heute die Eindeutigkeit, ja auch nur die Möglichkeit der Eindeutigkeit irgendeines Textes ohne weiteres behaupten! — wird also im Fall der Auslegung einer Reihe von ,halb offenen* Aphorismen selbst für den zur verengenden Systematik entschlossenen Exegeten akut. Und damit wären wir also wiederum bei einer Not des Interpreten, der bei allen seinen apologetischen Beteuerungen, sich dessen bewußt ist, daß er audi nur 15

E. g. 73, 5. Zu der Entwicklung dieser Metapher vgl. Dialectics 143, 319.

and Nihilism,

op. cit.,

Vorwort

XXVII

eine Weise, Nietzsche zu lesen, demonstriert. Am Ende mag die Eigenart und der Fehler dieser Arbeit darin liegen, daß ich mit Isaiah Berlin (und Archilodios) zu reden 1 ·, als systematisierender »Igel", Nietzsche immer wieder nach verschiedenen Richtungen hin gegen den Strich zu lesen versuche. Und schließlich weiß ich auch, daß diese 34 Variationen über ein Thema, von denen manche sich nicht auf „Kommentare" beschränken lassen wollten, sondern mir unter der H a n d zu „Studien" wurden, über jene, bloß dem Verständnis dienen wollende .Feindschaft des Gegenüber' hinaus, Ansätze zu einer Kritik an Nietzsche enthalten. Die Verschleierung dieser Ansätze hätte aber, — obschon es nicht der Zweck dieser Arbeit ist, Kritik zu üben, — besten- oder schlimmstenfalls der Täuschung des Lesers gedient. Hingegen kann dieser die — immer vorhandenen — Urteile und Vorurteile des Interpreten in Rechnung stellen, wenn sie offen zu Tage treten.

6.

Keineswegs sollen aber nun diese Einschränkungen dazu dienen, die Behauptung, daß die Aphorismenreihe des 1. Hauptstücks sich als ein Ganzes auffassen lasse, wieder zurückzunehmen. Dem Germanisten mag es naheliegen, dagegen zu erinnern, daß viele der in die Reihe aufgenommenen und in ihr verarbeiteten Prosastücke in ihren ursprünglichen Fassungen, „Vorstufen" oder Vorformen, zu verschiedenen Zeiten, zum Teil über einige Jahre hin, entstanden sind". Aber auch das scheint mir kein relevanter Einwand gegen meine These zu sein. Vielmehr nehme ich an, daß Nietzsche Zusammengehöriges zusammenfügte; daß er eine Anzahl von Gedanken, die ihn immer wieder beschäftigt hatten, in ihrem Zusammenhang übersah und durchdachte; und daß er aus den einzelnen Prosastücken eine Reihe komponierte 18 . u

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Isaiah Berlin: The hedgehog and the fox. An Essay on Tolstoy's View of History (Mentor: N e w York 1957), 7. Den Anmerkungen in IV 4, 164—174 zufolge, sind es etwa die Hälfte der 34 Aphorismen, hingegen für den Rest keine Vorstufen, Parallelstellen etc. angeführt werden. Aber auch das ist nicht genau zu nehmen. Enge Beziehungen lassen sich zumindest bis zum März 1875 — den „Notizen zu Wir Philologen" {IV 1,91—114) — zurückverfolgen (vgl. etwa IV 1, 113' f.), also etwa über drei Jahre hin, da Nietzsche und Gast vom September 1877 bis Januar 1878 „gemeinsam am Druckmanuskript für MA arbeiteten", die Korrektur des Drucks — zusammen mit P. Widemann — „bis Mitte April" besorgten, und das Buch, nämlich ΜΑ I, Anfang Mai 1878 erschien (7V 4, 104 f.). Eine Anregung zu meiner Arbeit gab mir das Nietzsche-Buch von Hans M. Wolff, der, — neben sehr klugen Bemerkungen, — von dem 1. Hauptstück — und zwar auch unter Anführung mutmaßlicher Entstehungsdaten — behauptete, es habe weder mit dem Titel Menschliches Allzumenschliches noch mit dem Rest des Buchs etwas zu tun; und sich audi sonst darin gefiel, seine Lieblingsmethode der Interpretation literarischer Werke durch Auseinanderreißen ihrer Glieder an diesem Objekt ein wenig zu praktizieren (vgl. Nietzsche, op. cit. „4. Kapitel Menschliches, Allzumenschlidies", besonders Seite 82, 90). Ich verkenne dabei die Tradition nicht, dank derer sidi H. M. Wolff etwa gar mit

XXVIII

Vorwort

Das dramatische Thema der Reihe ist aber ebenjene „Seligkeit des Unglücks der Erkenntnis" (82, 3 3 7 ) ; anders gesagt: Emanzipation, Tätigkeit, Ziel und Ende des Intellektuellen. Was hier umschrieben wird, ist das D r a m a des Freigeists; d. h. zunächst und vor allem: die Problematik, das Schicksal, das Pathos des sich aus allen Fesseln befreienden; dann: des in Freiheit tätigen Menschengeists; endlich: des Menschen, der allein um der Erkenntnis willen leben will und zu der Einsicht in die Grenze der Erkenntnis, oder wenn man so will: in deren Unmöglichkeit gelangt, um entweder zu verzweifeln oder zur Weisheit zu finden. F. A. Wolff identifiziert haben könnte. Das Fragmentieren mittels Datierung, — auch eine Rache der Schriftgelehrten an ihren Texten —, gehört wesentlich zur Tradition der kritischen Philologie. Aber so wenig — um auf die theologischen Ahnen der Zunft zurückzugehen — im Grunde die verschiedenen Entstehungszeiten von ,inspirierten' Texten — unter Voraussetzung des Glaubens an die Möglichkeit eines göttlichen Autors — per se etwas gegen die Einheit derartiger Texte bewiesen, — da einem allmächtigen, aljweisen ewigen Wesen immerhin zuzutrauen war, daß es sich zu verschiedenen Zeiten, unter wechselnden historischen Bedingungen und auf verschiedene Weisen äußern konnte, ohne dabei den Zusammenhang zu verlieren, — so wenig beweisen auch im Bereich der profanen Philologie die verschiedenen Entstehungszeiten der in einen Text aufgenommenen, verarbeiteten oder eingeschmolzenen Stücke schon an sich etwas gegen dessen Homogeneität; und zwar auch dann nicht, wenn man die Einheit des Autors leugnet. Dennoch bürgerte sich — um von Bibel, Homer, Nibelungenlied, etc. abzusehen — in der vergangenen Epoche der Neu-Germanistik ein günstiges Vorurteil für die entgegengesetzte Ansicht ein. So bemühte man sich, vor lauter Verehrung für den größten deutschen Dichter immer wieder darum, die Heterogeneität seines beberühmtesten Werkes auf Grund von chronologischen Erwägungen zu beweisen; gewöhnte sich also — unter der Beteuerung, es sei anders gemeint — daran, den Faust so zu lesen, als hätte Goethe nicht genug Kunstverstand gehabt, um aus den zu verschiedenen Zeiten entstandenen Stücken ein Ganzes zu formen. Und das hatte wiederum Folgen, die bedauerlich sind, selbst wenn jenes, der Akribie zuungunsten des Textes schmeichelnde Verfahren sowohl im Fall des Faust wie in anderen Fällen eine gewisse Berechtigung haben mochte. — Prinzipiell, d. h. unter Voraussetzung genügend enger Definitionen, ließe sich ja überhaupt behaupten, daß jeder Text aus sukzessiv Entstandenem zusammengefügt ist, daß ferner der ,Autor' keine ,Einheit' ist wie er ja auch gewiß keine Einheit garantiert, etc. Gerade die Philologen, die auf Vorarbeiten aufbauen und mit Zettelkasten arbeiten, sollten aber auch Verständnis dafür haben, daß einem Autor nicht alles Zusammengehörige zur gleichen Zeit einfällt. Im Rahmen des philologischen common sense steht also meiner Annahme, daß Nietzsche eine Auswahl aus seinem Gedankenmaterial zum Aufbau einer kohärenten Reihe verwendete, — wobei er die Formulierungen der einzelnen Abschnitte bis zur letzten Fassung, zum Teil auch noch im Druckmanuskript veränderte, — nichts entgegen. Daß dabei die Frage bezüglich des Grades und der Art der ,Homogeneität', — denn es gibt unzählige Grade und Weisen der loseren und engeren Fügung, — offen bleibt, gebe ich zu. Die weitere Möglichkeit aber, die übrigens heutzutage als respektabel gilt, daß nämlich dieser Zusammenhang des Texts nur im Auge des Betrachters liegt oder seine eigene Schöpfung ist, möchte ich nicht wahrhaben. Und zwar auch deshalb nicht, weil mir scheint, daß die konsequente Skepsis bezüglich der Möglichkeit einer nicht bloß subjektiven Interpretation auch die Möglichkeit jeder Verständigung überhaupt tangiert; meine Erfahrung aber dieser Skepsis widerspricht. Vielmehr scheint mir, daß der Philologie, — wie jeder intellektuellen Tätigkeit des Menschen, — gewisse Glaubensakte, e. g. an die Möglichkeit der Kommunikation und also des Verständnisses und des Mißverständnisses, zugrundeliegen.

Vorwort

XXIX

Uber die Hälfte der Reihe behandelt gewissermaßen die Geburt des Freigeists aus der Überwindung der metaphysischen — vormals religiösen — Irrtümer (inklusive ihrer ermäßigten, spielerischen Perpetuierung im Bereich der Kunst) durch das strenge kritische Denken in Form einer genetisdi-historisdien Analyse unserer Vorstellungen (und Empfindungen), welche allesamt auf Illusionen beruhen, wobei sich aber diese Kritik auch schon auf die den Wissenschaften zugrundeliegenden Fiktionen (e. g. Logik, Zahl, Sprache) bezieht. — Im 20. Aphorismus findet dann eine Umkehr statt: es wird eine rückläufige Besinnung gefordert auf das, was die menschliche Kultur den — überwundenen — religiösen, metaphysischen, künstlerischen Epochen zu verdanken hat. Und nun sollen die Kulturleistungen jener Epochen in der zu erringenden, unmetaphysisch-wissenschaftlichen Kultur resorbiert und umfunktioniert werden (Apho. 21 und 22), zu der unser eigenes Ubergangzeitalter des Nebeneinander und der Vergleichung (Apho. 23) die Vorarbeit zu leisten hat. Im Hinblick auf die kommende Epoche entwirft der konfirmierte tätige Freigeist nun Aufgaben und Richtlinien für die Zukunft: bewußtes Planen des möglichen Fortschritts (Apho 24); ökumenische Ziele der Menschheit unter der Ägis der Wissenschaft (Apho 25). Er hat eine, durch Kenntnis der archaischen Entwicklungsstadien korrigierte und bereicherte Aufklärung fortzuführen (Apho 26). Nach dem Abdanken von Religion und Metaphysik — und der jetzt nodi verwendbaren, entladenen Wirkungen der Kunst — soll endlich der Übergang in eine „wirklich befreiende philosophische Wissenschaft erfolgen" (Apho 27, Seite 41), die weder eine beschimpfende (pessimistische) noch eine verherrlichende (optimistische) Weltbetrachtung kennt (Apho 28). — Hier aber scheint mir, überschneiden sich die Entwicklungslinien; hat schon die, — im ersten Teil vorbereitete, — Krisis eingesetzt. Sie wird im 29. Aphorismus akut, da der Freigeist nun vollends begreift, daß nur die Welt als Irrtum für den Menschen bedeutend, tief, reich, Glück und Unglück im Schöße tragend ist, was zu einer „Philosophie der /ogwc&e« Weltverneinung' (43) führt. Aber ist er damit nicht in Gefahr nur für das, was ihm als Menschen Not bereiten muß, Partei zu ergreifen? (Apho 30). Wie soll er sich mit der, dem Leben notwendigen Unlogik (Apho 31) und dem notwendigen Ungerechtsein (Apho 32) abfinden? Wie damit, daß „Irrtum über das Leben zum Leben notwendig ist", daß die Menschheit im ganzen kein Ziel hat, daß das Dasein ziellos ist (Apho 33)? Kann der um der Wahrheit willen Existierende bewußt in der Unwahrheit leben? Ist da der Tod nicht vorzuziehen? Oder gibt es für ihn, statt einer Philosophie der Zerstörung und der persönlichen Verzweiflung, die Möglichkeit, sich darüber, daß Leben notwendig in Unwahrheit eingebettet ist, zu trösten, indem er, an das Leben nur noch mit dünnsten Fäden gebunden, über allem was die Menschen hochhalten, — über allen Schätzungen der Dinge, — frei und furchtlos schwebt, und nur deshalb weiterlebt, um immer besser zu erkennen? (Apho 34).

Vorwort

XXX

Audi hier setzt sich die Einheit gegenwendiger Bewegung durch, die von der Lust zur Befreiung von allen Fesseln und der Aussicht auf eingreifendes Denken im Sinne eines aufgeklärten Bewußtseins bis zu Selbstaufhebung und Selbstmord des an aller Erkenntnismöglichkeit verzweifelnden Freigeists zu führen scheint, um dann noch einmal in Hoffnung auf einen Schwebezustand weiser und freier Indifferenz umzuschlagen, dessen Problematik sidi Nietzsche aber halb bewußt sein mag, den er später als Symptom der K r a n k h e i t oder bestenfalls der fragilen Rekonvalenszenz auffassen wird. Die Antithesen, zwischen denen sich D r a m a und Dilemma des Erkennenden abspielen, sind einfach genug. In einem relativ frühen Brief an Gersdorff (Basel, 13. Dezember, 1875), in dem nodi der Pessimismus Schopenhauers anklingt, gibt Nietzsche seiner Überzeugung „von dem U n w e r t h des Lebens und dem Trug aller Ziele" Ausdruck. H i e r heißt es: „Man soll sein H e r z nidit an [das Leben] h ä n g e n . . . und doch worin kann man es aushalten, wenn man wirklich nichts mehr Ich meine das Erkennen-Wollen

will!

bleibe als letzte Region des Lebens-Willens übrig,

als ein Zustand zwischen Wollen und Nichtmehrwollen, ein Stück

Purgatorium,

soweit wir auf das Leben unbefriedigt und verachtend zurückblicken ( ) und ein Stück Nirwana, insofern die Seele dadurch dem Zustande reinen Anschauens nahe kommt." U n d Nietzsche will nun glauben, der ihm „gleichsam verheißene . . . Ges u n d h e i t s z u s t a n d " der Seele sei ebenjener, „wo sie nur noch den Einen Trieb, das Erkennen-Wollen, übrig behalten h a t und sonst von Trieben und Begehrungen freigeworden ist" ( B A B IV, 248). W i e aber — und damit ist das D i l e m m a gegeben — wenn, wie Nietzsche kurz nach Beendigung von Μ Α I notiert, „auch unsere Lust an der Wahrheit auf der Lust der Illusion ruht" (IV 3, 3 5 8 ) , und wenn es nur die eine Erkenntnis gibt, daß es kein wahres Erkennen gibt? Nietzsche hatte als Liebhaber metaphysisch künstlerischer Ansichten, als Apostel Schopenhauers, vor allem als Jünger Wagners gesprochen. N u n spricht er in M A als einer, der Schopenhauers metaphysischen I r r t u m durchschaut hat und nicht mehr an ein Loch im Mantel der Erscheinung (IV

2, 5 6 3 (23 [ 1 7 3 ] ) und damit an die

Möglichkeit eines Blicks in das An-sich der W e l t glaubt; der nicht mehr Wagner als den tragischen „Dichter am Schluß aller R e l i g i o n "

zelebriert (IV

1,

280

( 1 1 [ 1 8 ] ) 1 ' , vielmehr sich selbst als den D e n k e r am Schluß aller Religion an die Spitze stellt. Nun spricht er als Freigeist, der den Künstler in der Entwicklung der Menschheit ablöst, d. h. als einer der frei werden will 2 0 ; der sich in

freigeisterhaftem

" Zu Nietzsches Ablehnung der Religion vgl. audi die Notiz aus dem Frühling-Sommer 1875, wo es, mit einer gewissen Spitze gegen Schopenhauers konziliantere Auffassung von Nutzen und Nachteil religiöser Gesinnungen (dazu: „Demopheles" und IV 4, 367) u. a. heißt: „Also das ist das Neue alles zukünftigen Welttreibens: man darf die Menschen nicht mehr mit religiösen Vorstellungen beherrschen" (IV 1, 122' (5 [24]). Siehe ferner auch ΜΑ I, Aph. 109. 20 Etwa ab IV 1, 170 (5 [189]): „Jetzt darf ich nur hoffen, allmählich frei zu werden",

Vorwort

XXXI

Rundgang um den Menschen vom Herkömmlichen zu lösen trachtet (IV 2, 442 (19 [67]), wozu er in Anbetracht alles bisher Geschätzten der Skepsis, des verdächtigenden Blicks für das Menschlich-Allzumenschliche bedarf, und selbst des Hohnes: „Ecce ecce homunculus" ( / V 2, 499 (22 [135]). Schon vor MA fordert Nietzsche eine Genossenschaft der „Vernichter" (IV 1, 124) und meint, der klassische Philologe sei zu ihr berufen, da er, — der das religiös-mythisdie und metaphysisch-künstlerische Fundament der alten — und aller bisherigen — Kultur begreift, und zugleich einsieht, daß dieses Fundament für uns nicht mehr besteht, — zum großen Skeptiker über unsere ganze Kultur und also zu ihrem Vernichter (zugleich auch zum Vernichter des Philologen-Standes) werden muß" (IV 1, 114, 132). Nun tritt Nietzsche selbst als dieser — im Gegensatz zu den, durch Tradition gebundenen Geistern — höchst bewegliche, den Sophisten verwandte (/V 2, 443) Intellektuelle auf, der weiß, daß er Ansichten äußern muß, die als schmählich gelten und seine Freunde befremden (IV 1, 170 (5 [ 1 9 0 ] ) ) und sich zugleich seiner Berufung bewußt ist, durch die Geschwindigkeit des Meinungsumschwungs Geschichte zu machen (IV 2, 448), sich mit seiner Gesinnung der Menschheit einzuprägen (vgl. IV 2, 387). Jedoch indem der Freigeist sich von der Herrschaft des persönlichen Nutzens, des Herkommens, der Religion, der Kunst, der metaphysischen Philosophie befreit und auf seinem Erziehungsweg die sechste Stufe der Befreiung „unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Nutzens" überwindet, um die letzte, die siebente, „unter der herrschenden Absicht auf Erkenntnis" ( / V 2, 462) zu erreichen, wird er sidi zugleich seiner eigenen Problematik und der Problematik seiner Position bewußt. Er kehrt seine Skepsis gegen sich selbst: Was treibt ihn zur Freigeisterei? Die Nötigung zur Selbstverteidigung, ein Machtverlangen, ein Wunsch nach Rache für seine Ohnmacht (IV 2, 387 (16 [25, 2 6 ] ) ) ? Ist er nidit selbst noch in seiner asketischen Hingabe an das Ideal reiner Erkenntnis einer Illusion und Selbsttäuschung verfallen? Oder sollte sich seine radikale Skepsis am Ende als eine bloße Phase der Entwicklung erweisen21? Ich bin mir bewußt, hier nur wiederum die gleiche Kehre umschrieben zu haben. Es ist aber nötig, die Entwicklung des Freigeists nicht nur in ihrer quasi selbstmörderischen Konsequenz durchzudenken, sondern ebenso die positiven Möglichkeiten zu beachten, die gerade durch die Selbstrelativierung des Freigeists und durch seine dankbare Besinnung auf das, was die Menschheit und er selbst den menschlich allzumenschlichen Bestrebungen, Wunschbildern, Illusionen verdankt, gegeben sind. Ist nicht auch er, — wie der Philhellene einer früheren Stufe,

11

— einer Notiz aus dem Frühling-Sommer 1875, — kehrt dieses Motiv immer wieder. E. g. IV 2, 383 f., 385 ff., 398 (17 [30]), 409 f., 441 (19 [66]), etc. So heißt es etwa — obschon im Rahmen einer Verteidigung der Skepsis — audi die Skepsis relativierend: „Man muß von Zeit zu Zeit skeptische Perioden durchleben, wenn anders man ein Recht haben will, sich eine wissenschaftliche Persönlichkeit zu nennen." (/V 2, 513 (23 [38]).

XXXII

Vorwort

— Feind der rohen Macht und des dumpfen Intellekts (IV 1, 140), und Freund der höheren Kultur? Ein wichtiges Bekenntnis aus der Epoche von MA lautet: „Nöthig, den ganzen Positivismus in mich aufzunehmen, und doch noch Träger des Idealismus zu sein" (IV 2, 482 (22 [37]). Und ferner: „Mir liegt nur an den Motiven der Menschen: das objektive Bestehen der Erkenntnis ist mir ein Greuel. Die höchste Erkenntnis wird, wenn sich die Menschen verschlechtern, weggewischt" (/V 2, 396). Ja, es läßt sich bei aufmerksamem Lesen von MA feststellen, daß selbst jene einst dominanten Hoffnungen auf ein neues Zeitalter auch der künstlerischen Gestaltungskraft, — so wenig deren Erfüllung von der nächstliegenden Wegstrecke zu erwarten ist, — im Verborgenen weiterwirken, und als Fernziel: etwa in Form einer Wiedergewinnung des — von allen metaphysischen Voraussetzungen befreiten und gereinigten, rein diesseitigen — Wesens der Antike aus dem Geist der Erkenntnis, im Hintergrund des Werkes, gewissermaßen als Andeutung der übernächsten ,Umkehr', skizziert werden. Aber geht derlei nicht entschieden über das, was dem konsequenten Freigeist zu denken erlaubt ist, hinaus? Oder wäre Verpflichtung zu solch grober Konsequenz in Wahrheit gerade das Zeichen seiner Unfreiheit? Oder ist es konsequent, wenn der Freigeist, indem er sich mit seinem bloßen Menschentum abfindet, sich darauf besinnt, daß auch seine Absicht, allein der Erkenntnis zu leben, in ihrer Rigidität unfrei wäre, und daß auch diese Absidit arn Ende nur der Steigerung des Menschen und seines geistigen Lebens, d. h. einer neuen Form der Kultur, der Bildung zu dienen habe? — Oder ist gar der Freigeist selbst in all seiner Radikalität ein Mittel zum Zweck, ja ein vorgeschobener Protagonist, der einer verborgeneren Absicht seines Autors dient? Wir erinnern nochmals daran: Nietzsche sprach — nicht ohne heimlichen Vorbehalt — als Apologet metaphysisch-künstlerischer Ansichten, als Apostel Schopenhauers, als Jünger Wagners. N u n spricht er — nicht ohne Vorbehalt — als Freigeist, wie er in Zukunft als der Verkünder Zarathustra, oder als Antichrist sprechen wird. Aber sind das nicht alles Personae, Pseudonyme, Masken des Dionysus? Nietzsche sprach später von Maske, gerade in Hinblick auf den Freigeist (e. g. 82, 412). Aber auch in dem Fragment, das ursprünglich als Vorrede zu MA gedacht war, gesteht Nietzsche, daß er „mitunter dem eigenen Kinde mit Verwunderung in die Augen sehe" (IV 2, 579), und distanziert sich von seinem Werk. „Jeder von uns, den ausgeprägteren Menschen dieses Zeitalters", — so heißt es hier, — „trägt jene innere freigeisterische Erregtheit mit sich herum, welche in einem, allen früheren Zeiten unzugänglichen Grade uns gegen den leisesten Druck irgend einer Autorität empfindlich und widerspänstig macht. Es ist ein Zufall, daß Keiner von uns bis jetzt ganz und gar zum Typus des Freigeistes der Gegenwart geworden ist, während wir den Ansatz zu ihm und den gleichsam vorgezeichneten Abriß seines Wesens wie mit Augen an uns Allen wahrnehmen" (IV 2, 579). Und so habe der Verfasser, um dem Mangel eines wesentlichen, modernen Typus abzuhelfen,

Vorwort

XXXIII

versucht, „das Bild des Freigeistes der Gegenwart nach jenen Fingerzeigen zu malen, indem er auf die Stunden Acht gab, in welchen jener Geist aus ihm redete" und „den inneren Zusammenhang jener Geisterreden fand", so daß ihm „aus einem Geiste eine Person, aus einer Person beinahe eine Gestalt" wurde. „Zuletzt gewann er es nicht mehr über sich selbst, diesselbe, als den Typus des Freigeistes der Gegenwart, öffentlich nur zu malen; das Verwegenere gefiel ihm, den Geist reden zu lassen, ja ihm ein Buch zu unterschieben. Möge der Hörer dieser Reden mit Vertrauen seine Nähe fühlen, möge er empfinden, wie jene fast nervöse freigeisterisdie Erregtheit, jener Widerwille gegen die letzten Reste von Zwang und anbefohlener Mäßigung an eine gefestete, milde und fast frohsinnige Seele angeknüpft ist . . . " Denn, so behauptet Nietzsdie, „der moderne Freigeist" ist „aus dem Frieden der Auflösung" geboren, „in welche er alle geistigen Mächte der alten gebundenen Welt eingegangen sieht" (IV 2, 580). Und endlich heißt es im letzten Abschnitt dieses Fragments, das zum Teil in den absdiließenden, 34. Aphorismus des Ersten Hauptstücks verarbeitet wurde: „Nachdem soldiermaßen der Autor — fast hätte ich gesagt: der Dichter — den Prolog zu Gunsten seines Stücks und Helden gesprochen, mag Dieser selbst auftreten und sein monologisches Spiel beginnen. Ob Trauerspiel? O b Komödie, ob Tragikomödie? Vielleicht fehlt das Wort, das hier zur Bezeichnung völlig a u s r e i c h t e . . ( I V 2, 581).

7. Woher die Neigung und Nötigung zur Maske? Nietzsche spricht von der Maske als Schutz, — um das zerbrochene Herz zu verbergen (76, 219), um nicht fortwährend gekreuzt zu werden (83, 247), und in diesem Sinn auch in ΜΑ II von der Klugheit, die Mediokrität als Maske zu gebraudien (ΜA II, 255 (W S, Aph. 175) ), worin aber auch Mitleid und Größe liegen könne, also der Wunsch, die andern zu schützen. Und Nietzsdie spricht von der Maske als Verführungsmittel (83, 247), als Inkognito, dessen der höhere Mensch bedarf; alles was tief sei, liebe die Maske (76, 50 f.). Die Maske verbirgt; aber „die beste Maske, die wir tragen, ist unser eigen Gesicht" (82, 359). Am Ende ist die Maske über dieser Maske ein Versuch sich mitzuteilen: „Die Unmitteilbarkeit ist in Wahrheit die furditbarste aller Vereinsamungen, die Verschiedenheit ist die Maske, welche eiserner ist als jede eiserne Maske" 22 . Nietzsches H a n g zur Maske ist ,überdeterminiert' — wie jede wesentliche Tendenz. Die Maske ist u. a. Symptom der Unsicherheit, des Denkens und Erlebens in Tentativen, in bloßen Möglichkeiten; korrespondiert dem Verdacht, daß es Die Wahrheit nicht gibt, sondern nur eine Vielfalt von Perspektiven und perspekti22

Brief an die Schwester, 8. Juli, 1886 (NB V, 2. Teil (1909), 684).

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Vorwort

vistischen Vorläufigkeiten, Rollen, Fälschungen; entspricht der — einem Philologen immer naheliegenden — Vermutung, daß alles nur .Interpretation' sei. Nietzsche selbst weist auf den Mangel an einem profilierten, repräsentativen Typus und Stil hin, sowie auf die Auflösung aller Verbindlichkeiten in dem alles in Frage stellenden Zeitalter der Vergleichung, dessen Eigenart er, wie wir sahen, schon früh darin erkannte, daß man die Menschen nicht mehr mit religiösen Vorstellungen beherrschen könne, und später — deutlicher — darin: daß es keine tragenden Norm der Normen, nichts Absolutes, kein summum bonum, kein ens realissmum gibt, daß Gott tot ist; hingegen glaubhaft bestenfalls nur der Fluß aller Dinge, mithin auch dessen, was Ich sagt, der .Persönlichkeit', der ,Rollen'. Wir fragen aber nach der Konstanten, nach dem, was sich im Wechsel der Personae und Masken und in der Bewegung von Nietzsches Denken durchhält. Wer ist der Freigeist in diesem Zusammenhang der Entwicklung? Wir erinnern uns an die dialektische Laufbahn des dialektischen Sokratikers in der Geburt der Tragödie: Sie führte vom aufklärerischen Optimismus zur Skepsis des modernen Mensdien, des faustischen Sokratikers, der an seinem Wissen verzweifelt, und weiter: zur Selbstvernichtung der Prätentionen des Intellekts, um endlich in Kunstbedürftigkeit umzuschlagen. Zugleich wurde aber ebenjenem Sokratismus nach seinem Selbstmord eine glänzende Wiederauferstehung in der gewandelten Gestalt des zu dionysischer Weisheit gereiften, Musik treibenden Sokrates prophezeit, so daß kaum zu bezweifeln war, daß Nietzsche sich selbst hier, — wie auch in der Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher, — zwar nicht mit der gemeinen, platten, wohl aber mit der gesteigerten, geläuterten Erscheinung des theoretischen Menschen identifizierte. Und wenn er seine Ovationen dem künstlerischen Genie darbrachte, so fügte sich auch dies einer vertrauten Tradition: daß der Weise dem Schönen, der Sentimentalische dem vergleichsweise Naiven, der Geist dem schöpferischen Leben sich neigt. Nun erwäge man aber, was nach der Enttäuschung an Wagner, — sowie an Schopenhauer, — und nach der Aufgabe der Hoffnung auf die Wiederbringung des metaphysisch künstlerischen Zeitalters in der Gegenwart dem faustisch-skeptischen Sokratiker oder theoretischen Menschen noch bleiben konnte? Offenbar er selbst und das ihn bestimmende, auch zuvor nicht verleugnete Streben nach Erkenntnis, das aber nun auch eine Wandlung erfahren muß, insofern der Glaube an die Möglichkeit einer metaphysischen Offenbarung (Erfahrung, Erkenntnis) des An-Sich (i. e. des von Schopenhauer postulierten .Willens') jetzt ebenfalls als Illusion gilt. Damit sind aber Hauptmerkmale des Freigeists bezeichnet, der nun seinen Weg allein gehen muß, im Wesentlichen ohne Tröstung durch die Kunst, und ohne Hoffnung auf einen anderen Bereich der Wirksamkeit als den für das jetzige alexandrinische Zeitalter der Vergleichung gegebenen, dem als Ziel allein die Entwicklung zu einer wissenschaftlich fundierten Kultur zukommt, was immer auch das fernere Leitbild einer über dieses Ziel wieder hinausführenden Wendung sein könnte. —

Vorwort

XXXV

Damit ist die Frage nach dem Wesen des Freigeists nicht erschöpft. Zum Abschluß sei aber die Struktur der dynamischen Antithetik als Einheit der Bewegung in Hinblick auf eine, in allen Phasen von Nietzsdies Werk bestehende Problematik skizziert. Dabei empfiehlt sich, zwecks schematischer Vereinfachung, die seit je beliebte und angefochtene Dreiteilung, die von Nietzsche selbst nahegelegt wird23. Sie läßt sich an Nietzsches Veröffentlichungen besser darstellen als an dem Nadilaß, in dem etwa der metaphysisch-ästhetische und der skeptische Nietzsche nebeneinander bestehen. Zudem bezeichnen diese Kategorien, ebenso wie die dritte — der vitalistisch umwertende Nietzsche — auch in Hinblick auf die Veröffentlichungen nur den jeweils dominanten Aspekt. Und endlich mag die Dreiteilung auch der Auffassung nicht widersprechen, daß es, — selbst wenn man von Nietzsches Publikationen ausgeht, — im Grunde nur eine umfassende antithetische Kehre gibt, nämlich die von der Bejahung einer ästhetisch-metaphysischen Ansicht im Frühwerk, — d. h. in der Geburt der Tragödie und den — zum Teil schon vermittelnden — Unzeitgemäßen Betrachtungen, — zu der Vorherrschaft der Skepsis in MA und den andern Aphorismenbüchern des mittleren Werks (Morgenröte, Fröhliche Wissenschaft), in denen sich die skeptischen Positionen von MA radikalisieren, zugleich aber audi Tendenzen des Frühwerks wieder aufgenommen werden. Das Spätwerk stellt sich in diesem Schema als Versuch einer Synthese oder Synthetisierung der vorhergehenden Phasen dar, nämlidi als eine Konjunktion von schöpferischen und destruktiven Perspektiven: So will der Zarathustra vor allem als Verkündigung positiver Postulate imponieren; hingegen die vorwiegend destruktiven Spätschriften als Mittel zur Freilegung der schöpferischen Gesinnung gelten können. In den späten, — übrigens audi untereinander divergierenden — Schriften werden Haupttendenzen des Frühwerks resorbiert, umfunktioniert, verwandelt, aber unter den Voraussetzungen, die von ihrem kritischen, negativen Ansatz her dem mittleren Werk, also etwa der Skepsis von MA entsprechen. Wir rekapitulieren: Glaube an Kunst, das künstlerische Genie, an Kultur als künstlerische Gestaltung und Einheit des Lebensstils charakterisieren die erste Epoche des Werks, in der Dasein und Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt erscheinen; anderseits die pessimistische Einsicht in das Wesen der Dinge zur Hoffnung auf Erlösung von Welt und Dasein in einer metaphysischen Selbstvernichtung des Willens als letztes Ziel verlockt. In der zweiten Epoche herrscht die Leidenschaft der Erkenntnis vor, der Wille zur Wahrheit als Wille zur Wissenschaft, zur reinen Erkenntnis, als radikaler Zweifel an allen Setzungen, als Weg der Befreiung von allen Bindungen und Illusionen und zu der über allen Schätzungen schwebenden, abenteuernden Weisheit des Freigeists; — oder aber, — angesichts jenes unbedingten, vormals von Nietzsche abgelehnten, „fiat Veritas pereat mundus" (71, 127), — zur Verzweiflung, da die einzige Wahrheit: die Einsicht, daß Leben in Illusionen-Befangensein bedeutet, wiederum zum Untergang 23

Vgl. 82, 249 f. und Zarathustras Rede von den drei Verwandlungen, 75, 25—27.

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Vorwort

verlockt. — Die dritte Epoche aber fordert sowohl die Kraft zur Erkenntnis des Illusorischen aller Perspektiven wie die zur schöpferischen Illusion, d. h. die Steigerung des illusionslos Erkennenden und des künstlerisch schaffenden Menschen zum dionysischen Übermenschen, der selbst, aus eigener Macht, ohne fiktiver Stützen zu bedürfen, die alles schaffende alles zerstörende norm-, sinn- und wert-freie Dynamik des Willens zur Macht in höchster Vitalität repräsentiert. Sie fordert also die Verbindung und Kulmination von Erkenntnis-Trieb und Kunst-Trieb; — oder schlägt um in die hoffnungslose Aussicht auf den Untergang der Menschen, da der aus dem Chaos und Nichts für das Chaos und Nichts, im Sinnlosen und ohne Glauben, seinen Sinn realisierende Übermensch am Ende selbst eine Fiktion und Unmöglichkeit sein mag. Der Freigeist will Antwort auf eine Frage, Lösung eines Konflikts, der audi den Protagonisten der künstlerisdie-metaphysischen Phase und den Verkünder des Ubermenschen bewegt. Ausgangspunkt ist immer wieder Nietzsches konstante Erfahrung einer dynamisch vorantreibenden Einheit der Gegensätze, jenes Konflikts, der in der Geburt der Tragödie als Ur-widerspruch im Ur-Einen projiziert wird (70, 76). Dieses Ur-Eine ist Urschmerz, an dem sich Urlust entzündet 24 . Sein Ausdruck in der Zeit ist der im Widerstreit sich bewegende Fluß, und ihm entspricht, subjektiv, die Antithetik von radikaler Lebensverneinung und Lebensbejahung. Man mag sich diese Urerfahrung durch Analogien verdeutlichen: im Bild der Zeit, die als Saturn die eigenen Kinder verzehrt; als die sich immerfort erneuernde und verschlingende Natur (wie sie dem Werther erscheint); als das — dem Goetheschen Faust ebenso wie Faustus-Nietzsche — zunächst so unerträgliche Prinzip des schaffend-zerstörenden Erdgeists (IV 1, 171 (5 [194]), oder auch als Schopenhauers Willen, der beim späten Nietzsche dann gewandelt: als der — zu bejahende — Wille zur Macht erscheint. Aber wie mit diesem ewig sich perpetuierenden und sich vernichtenden Monstrum zu Rande kommen? Wie läßt sidi diesem Dasein, das keine Sinn gebende Macht leitet, Sinn abgewinnen, verleihen, aufoktroyieren, ohne daß man sich selbst dabei belügt, ohne die Wahrheit — die Authentizität — der eigenen Erfahrung zu verleugnen? Die metaphysische Offenbarung, an die der Autor der Geburt der Tragödie glauben will, offenbart auch nur den Urwiderspruch im Ur-Einen. Audi das Ur-Eine ist nur blinder Konflikt, nur Motor seiner eigenen blinden Dynamik. Das Dionysische ist an sich, d. h. ohne apollinisch-individierendes Korrelativ, „orgiastische Selbstvernichtung" (70, 170), zerstört das menschliche Leben, zielt als dionysische Weisheit auf Erlösung des Ur-Einen selbst ab, d. h. auf Verneinung des ,Willens' im Nichts. Die Gegenwelt aber, deren das dionysische Wesen, wenn es sich nicht selbst aufheben soll, zu seiner eigenen Entladung und zeitlichen Tröstung bedarf: die im weitesten Sinne apollinische Macht der Individuation und die im engeren 24

Vgl. 70, 61 f., 138 f., 187, 189, etc., und Dialectics and Nihilism,

op. cit., 82 fi.

Vorwort

XXXVII

Sinne apollinische Macht des ästhetischen Scheins, ist Macht der Illusion, Schleier, Täuschung 25 . D a m i t wäre aber audi gesagt, daß die Kunst z w a r mit dem Dasein versöhnen kann, jedoch nur deshalb, weil sie das Wesen des Daseins, kurz: die Wahrheit, verleugnet; daß aber die Erkenntnis der Wahrheit das Dasein zerstört. Dennoch versucht Nietzsche in der Geburt

der Tragödie

eine Antwort darauf zu geben, wie

sich der höhere Mensch sowohl durch Kunst wie durch Weisheit abfinden könne. Denn Kunst transzendiert ihren eigenen Illusionsbereich einigermaßen, wenn sie, vom dionysischen Geist durchwaltet, zum Spiegel des Ur-Einen wird und zur Identifikation mit dem Ur-Einen führt, das sich im Schein erlöst und ihn vernichtend wieder in sich aufzehrt (wie dies in der Tragödie der Fall ist). Und die dionysische Weisheit bleibt dem individuierten Scheinbereich des Daseins verhaftet, statt dieses zu verneinen, wenn sie sich in ihrer Trostbedürftigkeit der Kunst verbindet. Die

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Nietzsche denkt in der Geburt der Tragödie analog der Lehre Schopenhauers: der Auffassung der Welt an sich als Wille, welcher jedoch auf der Stufe seiner Objektität in der Maia-Welt der Vorstellung in ewigen ,Ideen' oder Grundformen erscheint, wie die wahre Kunst sie abbildet, sofern sie nicht Musik ist, die zwar audi nur ästhetisches Abbild, aber als solches unmittelbar, d. h. Abbild des Willens selbst ist (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (Sämtliche Werke in 5 Bänden; Leipzig: Insel, ohne Datum, I. Band, Seite 346). Audi die Kunst dient am Ende nodi der Befangenheit in vitaler Illusion, und so besteht im Gedankenbereich der Geburt der Tragödie wie bei Schopenhauer die weitere, letzte Möglichkeit der Verneinung des Willens, dergemäß alles höhere Streben im Leben zuletzt auf Erlösung vom Leben (vom Willen) abzielt. Anders als bei Schopenhauer erscheint aber in Nietzsches Frühwerk diese Verneinung durchaus nidit eindeutig als das wahre Ziel, sondern der Autor bleibt, wie das von ihm postulierte Ur-Eine, im Konflikt zwischen All-Bejahung und All-Verneinung. Ja, man darf sagen, er identifiziert sich selbst mit diesem Ur-Einen der Gegensätze, das sich — als Urschmerz und Urlust — gewissermaßen dionysisch von einer Seite auf die andere wirft, um sich ad infinitum in illusorischen Schöpfungen zu entladen und diese wieder zu zerstören. Und wenn dabei auch die dionysische Macht des Schaffens und Zerstörens, des gleichmächtigen J a und Nein, durch bejahende Apollinik überhöht scheint, so ist eben auch dies nur Schein, da in Wahrheit die apollinische Kunst nur Illusion ist, nur Epiphenomenon der sich aufgipfelnden Dionysik, welche auch den Schein der ästhetischen Ordnug und Weltrechtfertigung nur hervorbringt, um ihn zu zerstören und neu zu schaffen. — Was ist der Geburt der Tragödie zufolge die „Mysterienlehre der Tragödie"? „Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit" (70, 99). — Jedoch diese Einheit ist, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, der Tod, das Ende des Menschengeschlechts, der Untergang der Welt — und vielleicht sogar die Selbstauflösung des Ur-Einen, das jedenfalls, — zufolge der in dem Essay allein explizit gemachten metaphysischen These, — als Polarität von Urschmerz-Urlust bestimmt wird; es sei denn, daß dieses Ur-Eine auch in einem ganz andern Sinne als in sich befriedet und sich selbst genug gedacht werden könnte, wovon zwar bei Schopenhauer die Rede ist, jedoch kaum in Nietzsches Essay, da Nietzsche das Bedürfnis des Ur-Einen nach Entladung, i. e. in der Schaffung und Zerstörung von Scheinwelten der Individuation, betont, hingegen er den anderen, mystisch positiven Begriff des Nirwana im Grunde kaum berührt.

XXXVIII

Vorwort

Identifikation mit der Dynamik des Ur-Einen soll also die Vereinung von Verneinung und Bejahung, von metaphysischer Offenbarung und Wille zum Dasein zuwege bringen, — und zwar durch eine dionysisch geprägte Kunst, welche das apollinische Element in sich ,aufhebt' und folglich dionysische Weisheit enthält, — oder durch dionysische Weisheit, welche die Tröstung der Kunst in sich aufnimmt (wie dies im Symbol des künstlerischen Sokrates angedeutet wird). Aber ist die Absicht der Tröstung, aus der diese Lehre wohl selbst entstanden ist, nicht allzu transparent? Sie empfiehlt dem Menschen, er möge vor der Einsicht in die Wahrheit des Daseins zu den Illusionen der Kunst entfliehen, um sich von diesen wieder zur Einsicht zurückführen zu lassen. Denn ebenso mache es ja das — angeblich geoffenbarte — Urwesen selbst, das selber nur reiner Widerspruch sei, das selber immer wieder vor sich selber in einen illusorischen Bereich der Erscheinungen entfliehen müsse, um sich durdi deren Zerstörung wiederzugewinnen. Heißt das nicht, das eigene Bedürfnis in das Wesen aller Dinge projizieren? Und kann diese Lehre den, der nach einem Dasein im Einklang mit der Wahrheit strebt, befriedigen, da sie am Ende doch darauf hinausläuft, daß man sich das Dasein durch ästhetische Illusion palatabel macht, also sich selbst belügt, — sei es als Adept der Kunst, sei es auch als dionysischer Weiser, der doch des Kunst-Trostes, d. h. der Kunst-Lüge bedarf, solange er im Leben bleibt, statt sich zu vernichten? Wie wird das Dasein erträglich und sinnvoll, ohne daß man sich selbst belügt? Indem man, so scheint zunächst die Antwort der zweiten Phase zu lauten, allein um der Erkenntnis willen lebt, was aber, wie schon bemerkt, ebenfalls nicht angeht, ja unmöglich ist, da bewußtes Leben soviel bedeutet wie der Lüge verhaftet bleiben, und die einzige reine Erkenntnis, deren wir fähig sind, besagt, daß jede .Wahrheit* trügt, daß jede andere als ebendiese einzige Erkenntnis eine im Dienste des Lebens stehende perspektivische Fälschung, kurz: eine Form der Lüge ist. Wie kann man dem Dasein Sinn verleihen? Indem man den All-Perspektivismus, den Illusionismus jeglicher Erkenntnis, Sinngebung, Idee, aller Ideale illusionslos anerkennt und dennoch die vitale Kraft hat, das Spiel der Illusionen zu bejahen. Indem man die Zerstörung aller Fiktionen und wertverleihenden Sinngebungen zu bejahen imstande ist und zugleich aus eigener Kraft dazu fähig ist, selbst — als Fiktionen erkannte — Fiktionen zu schaffen, ein gesteigertes Leben zu führen, das als Ausdruck der eigenen spielerischen Macht, ebenso zerstörend wie schaffend ist, — und so am Ende die dionysisch schaffend-zerstörende Dynamik des Universums, des physisch-metaphysischen ,Willens zur Macht' selbst in sich, und zwar im höchsten Grade, realisiert. (Denn diese dionysische These des Werdens hält gerade auch der späte Nietzsche offenbar immer wieder fest, nicht nur als eine das Leben steigernde Perspektive, sondern auch als eine heraklitistische Intuition des Ewigen, sowenig er sich sonst zu einem dogmatischen Glauben bekennen will).

Vorwort

XXXIX

Die dritte Phase Nietzsches erscheint, wie gesagt, als Versuch einer Steigerung und Verschmelzung von Elementen der beiden vorhergehenden Phasen: Wiedergewinnung des Künstlerglaubens, Wiederbejahung einer im weitesten Sinne künstlerisch-dionysischen Sdiöpfungs- und Zerstörungsmacht, aber auf der Basis radikaler, illusionsloser Skepsis, die in der zweiten Phase in den Vordergrund tritt und ihren Anspruch geltend madit. Auch im Furor der letzten Verkündigungen klingt aber der Zweifel mit. Zu dem dionysischen Allvermögen reicht ja der illusionsbedürftige und in seiner Schöpfungs-Zerstörungslust defekte Mensdi nicht aus. Es bedarf des Ubermenschen, — denn nur der vermag es, sich angesichts des Sinnlosen zur höchsten Sinngebung zu steigern und diese zugleich als sinnlos zu erachten, oder vielmehr: auch diesen Gegensatz zu überwinden, indem er begreift und in seinem ganzen Wesen realisiert, daß es nichts anderes gibt als ebenjene, sich selbst in immer neuen Schöpfungen zerstörende und transzendierende Macht. Auch hier, sage ich, klingt der Zweifel mit an, ob dieses dionysische Vermögen des Übermenschen mehr sei als ein Wunschtraum geboren aus der Not menschlicher Ohnmacht. Und auch darin setzt sidi, — ebenso wie im Verlauf des Dramas von Glanz und Elend des Freigeists, — das Muster der rastlosen an der Verneinung sich entzündenden Bejahung, die Konjunktion Urschmerz—Urlust wieder durch und drängt weiter zu ihrer Entladung in der Zerstörung, Schaffung, Selbstvernichtung von Gedanken und Denkbildern. — siWas hat dieses Phänomen manischer, ekstatischer Lust an der dialektisch schaffend-zerstörenden Bewegung des Denkens und melancholischer Vereinsamung im Leiden am Dasein hervorgerufen? Das dürfte, unter anderem, eine Frage für sozio-, psycho-, physiologische Interpretationen sein, wenn nur die Interpreten nicht vergessen wollten, daß auch ihre Erklärungen eine bedingte Erfahrung des Lebens voraussetzen, und daß Nietzsches Erfahrung eines sinnleeren oder chaotischwidersprüchlichen Daseins, das ebendarum Sinn und Form zu fordern und zu verneinen sdieint, und dem Menschen alles Glück und Unglück grenzenloser Freiheit verheißt, die Erfahrung der ,nihilistischen' Epoche war oder ist, — zunächst als Preärogativ elitärer Freigeister, wenig später als Stimulans zur Emanzipation, als Ingrediens im psychischen Elend audi der Massen — und vielleicht als Vorbedingung zu Lösungsversuchen, die bei Nietzsche zu suchen vergebens wäre.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 70, 71, bis 78

Kröners Taschenausgabe von Friedrich Nietzsches „Sämtlichen Werken in Einzelbänden' (Stuttgart).

82, 83

Fr. Nietzsche, ΝαώΙαβ. Die Unschuld des Werdens I und II in Kröners Taschenausgabe. Nietzsche-Register von Richard Oehler in Kröners Taschenausgabe (Bd. 170). NB. Diese Ausgabe, samt Nachlaßbänden u. Registerband, entspricht in Seiten und Zeilenzahl der neueren Version von Kröners Taschenausgabe: Sämtliche Werke in 12 Bänden; Dünndruckausgabe mit Registerband, Stuttgart, 1965. Die beiden gesondert durchnumerierten Bände von Menschliches Allzumenschliches; beide in Kröners Taschenausgabe Band 72 (bzw. Bd. 3). Erstes Hauptstück von M A I : „Von den ersten und letzten Dingen" (ΜΑ I, 15—48). Bezeichnung der 34 Aphorismen des Ersten Hauptstücks von ΜΑ I.

Oehler

ΜA I, ΜΑ II l.Hst. Apho 1, 2 bis 34 (ohne Zusatz) Aph. IV 1 IV 2 IV 3 IV 4

Bezeichnung aller anderen Aphorismen. Bd. 1—4 der 4. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken (hsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari; De Gruyter: Berlin, 1967, 1969). Die den kursiven Ziffern folgenden Ziffern bezeichnen die Seitenzahl; die in runde und eckige Klammern gesetzten Ziffern entsprechen der Numerierung der Fragmente in der Kritischen Gesamtausgabe. Beispiel: IV 1, 361 (15 [25]) bedeutet: 4. Abteilung, Band 1, Seite 361, Fragment Nr. 25 des mit 15' bezeichneten Manuskripts.

Weitere BA BAB I bis IV BuWB

GdT KG KOA

Abkürzungen:

Fr. Nietzsche, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bede. München, 1933 ff. (unvollständig). Die (insgesamt 4) Briefbände dieser Ausgabe, 1938 ff. Jacob Burc&hardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (mit Nachwort und Anmerkungen von Rudolf Marx), Kröner: Leipzig, o. J., Taschenausgabe Bd. 55. Die Geburt der Tragödie. Kritische Gesamtausgabe von Nietzsdies Werken (hrsg. v. G. Colli und M. Montinari) siehe oben. „Kleinoktav-Ausgabe" (Fr. Nietzsche, Werke, 16 Bände, Naumann/ Kröner: Leipzig, 1898 ff.).

XLII

Abkürzungsverzeichnis

ΚΤΑ

Kröners Taschenausgabe (siehe oben).

Musarion

Fr. Nietzsche, Gesammelte Werke (Musarion Verlag: München, 1923).

Ν

Fr. Nietzsche

NB 1 bis V Schlechte. I, II, III UB I, II, III, IV

U-Struktur VM WS WzM

Fr. Nietzsches Gesammelte Briefe (5 Bände; 3. Aufl.; Insel: Leipzig, 1902 ff.). Fr. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta (Hanser: München, o . J . [1954 ff.]). Unzeitgemäße Betrachtungen. I. David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller. II. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. III. Schopenhauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth. Struktur der Umkehrung, Umkehr, Kehre in Nietzsches Werk. Vermischte Meinungen und Sprüche [Die erste Fortsetzung von MA]. (Siehe ΜΑ II). Der Wanderer und sein Schatten. [Die zweite Fortsetzung von MA]. (Siehe ΜΑ II). Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Ausgewählt und geordnet von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Förster-Nietzsche. [Kein „Werk" Nietzsches, sondern eine Kompilation von Fragmenten aus dem Nachlaß]. Bd. 78 (bzw. Bd. 9) von Kröners Taschenausgabe.

NIETZSCHE

LITERATUR

Hinweise auf die in den Kommentaren und Studien angeführten Werke über Nietzsche finden sich im Register unter den Namen der jeweiligen Autoren. Eine umfangreiche Obersicht über N. Literatur bietet die International Nietzsche Bibliography (ed. Herbert W. Reichert, Karl Schlechta) (U. of North Carolina Press: Chapel Hill: 1968).

I.

DIE ÜBERWINDUNG DER METAPHYSIK

STUDIE ZUM 1. APHORISMUS

1. Chemie der Begriffe und Empfindungen. — Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an wie vor zweitausend Jahren: wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Totem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für andere aus Egoismus, 'Wahrheit aus Irrtümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des einen aus dem andern leugnete und für die höher gewerteten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des „Dinges an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen Fällen (und vermutlich wird dies in allen ihr Ergebnis sein), daß es keine Gegensätze sind, außer in der gewohnten Übertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung, und daß ein Irrtum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zugrunde liegt: nach ihrer Erklärung gibt es, streng gefaßt, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimierungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. — Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Groß- und Kleinverkehr der Kultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebnis abschlösse, daß auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinne zu schlagen: muß man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren? —

Studie zum 1. Aphorismus

4

I. DAS THEMA IM WEITESTEN SINN UND SEINE BEZIEHUNGEN ZU GRUNDTENDENZEN NIETZSCHES

1. Antithetik Der Titel, „Chemie

und

Heraklitismus

der Begriffe und Empfindungen",

gibt die Analyse des

menschlichen Denkens und Fühlens, bzw. der Sinneswahrnehmungen als Grundthema an, das am Ende des Aphorismus auf den eigentlichen Themenkreis von MA beschränkt wird. Wir fassen das Thema zunächst im weitesten Sinn: Wie Nietzsdie im Folgenden ausführt, besteht die Welt, die den Menschen angeht und ihm zugänglich ist, allein in seinen Begriffen und Empfindungen. Sie ist nur Welt als Vorstellung (43), mithin menschlich allzumenschlich. Ebendies hat die „Chemie", d. h. die Analyse dieser Welt darzustellen. Zugleich ist Chemie hier im Wortsinn als Lehre von den Verwandlungen zu verstehen: Es soll gezeigt werden, wie „Etwas aus seinem Gegensatz"

entstehen kann

(IV 4, 164*)'. Als solche auseinander entstehenden und gerade auch in Hinsicht auf ihre Bewertung antithetische Phänomene der Begriffs- und Empfindungswelt werden 1

Die in dem Kommentar mit einem Stern (*) bezeichneten Hinweise beziehen sidi auf spätere Überarbeitungen des jeweils besprochenen Texts. Für den 1. Aphorismus kommen in Betracht: 1.) Nietzsches Eintragungen in ein Handexemplar von Μ A (He 2) (IV 4,165*); 2.) die Umformulierung des 1. Aphorismus (IV 4,164 f.*), weldbe, — ebenso wie die, der gleichen Epoche zugehörigen, Bearbeitungen des 2. und 3. Aphorismus, — P. Gast zufolge, „aus dem Herbst 1885" stammt (KOA II, 442) und der Absicht diente, Jenseits von Gut und Böse mit dem Inhalt von ΜΑ zu „verquicken" (KOA II, 434; ebenso Musarion VIII, 423), hingegen in KG als „Umarbeitung vom Januar 1888" (IV 4,164) bezeichnet wird; 3.) die radikalere Verarbeitung des 1. Aphorismus von ΜΑ I im zweiten Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse (76, 8). — Die Bedeutung dieser späteren Textstücke besteht für uns zunächst darin, daß sie Manches im Text von ΜΑ I selbst verdeutlichen und gewissermaßen Nietzsches eigenen Kommentar zu den vorliegenden Aphorismen enthalten. Nur ist dabei zu beachten, daß der spätere Nietzsche diese Texte auch aus einer anderen Perspektive sieht; sie im Sinne mancher Intentionen interpretiert oder verändert, deren er sich zwar (wie audi die Nachlaßfragmente aus der Epoche von MA beweisen) zumeist schon zur Zeit der Abfassung einigermaßen bewußt war oder bewußt wurde, die ihn aber, — siehe die spätere „Vorrede und Warnungstafel" (IV 4, 161) zu ΜΑ I (e. g. ΜΑ I, 11 f.), — nicht als klare Zielvorstellungen leiteten und bestimmten. (So ist ζ. B. für die Akzentuierung der Umwertungszeit charakteristisch, daß die Überarbeitung des 1. Aphorismus den Titel „Chemie der Begriffe und Werthgefühle" (IV 4, 164*) trägt). — Im Rückblick meint Nietzsdie selbst, daß ΜΑ I „schwer verständlich ist", „zur Verwechslung reizt", „irreführt" (IV 4, 161). Die Vielschichtigkeit von Nietzsches Denken zwingt daher den Interpreten dazu, sidi gewissermaßen in konzentrischen — engeren und weiteren — Kreisen der Auslegungsmöglichkeiten zu bewegen und die Texte in mehr als einem Sinn zu deuten.

I. Grundtendenzen

5

genannt: das Vernünftige — das Vernunftlose, das Empfindende — das Tote, die Logik — die Unlogik, das interesselose Anschauen — das begehrliche Wollen, das Leben für andere — der Egoismus (i.e., „die Selbstsucht"; IV 4, 164 f.*), endlich: die Wahrheit — die Irrtümer. Hier ist die dialektische Antithetik, die Umkehrung ins Gegenteil, selbst zum Thema geworden. Das Problem der Entstehung der zuhöchst geschätzten Dinge aus gering geschätzten und verachteten Dingen wurde aber bisher durch eine Scheinlösung überspielt, da die „metaphysische Philosophie" aufgrund ihres Glaubens „an die Gegensätze der Werte" (76, 8*), die Entstehung der Gegensätze auseinander verleugnete, indem sie f ü r die höher gewerteten einen Wunderursprung aus dem „An-sidi der Dinge" (IV 4, 164 f.*) annahm. Hingegen ist die neue Lehre von den Verwandlungen als „Chemie" der Grundbegriffe, welche diese als geworden und noch werdend begreift (7V 4,164*), das Gegenteil von Metaphysik, — „eine umgekehrte", „antimetaphysische Philosophie" (IV 4, 164*), zugleich Naturwissenschaft und „historische Philosophie" (15), mithin „eigentliche Philosophie des Werdens" (IV 4, 164*). Hierbei wird das Verhältnis der Umkehr noch weiter dadurch betont, daß die empfohlene philosophische Methode als „allerjüngste" (15) der alten metaphysischen Methode entgegengesetzt wird. Die Behauptung: „Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an wie vor zweitausend Jahren" (15), stellt die Beziehung zu antiker Spekulation her. Schon in dieser ersten Epoche der westlichen Philosophie wurde aber, Nietzsche zufolge, die Frage des Werdens, — die Frage nach der Entstehung der „Gegensätze" auseinander 4 , — durch die Fiktion einer absoluten, nicht werdenden Welt des Seins verstellt. Diese Scheinlösung wäre nicht mit dem Anfang des westlichen Philosophierens überhaupt zu identifizieren, wenn auch manche Präsokratiker, vor allem Parmenides, Nietzsche als ihre Vorväter gelten®. Dem Heraklit bleibt Nietzsche treu. Hingegen stellt sich die allerjüngste Philosophie den „sokratischen Schulen" entgegen, die in Aphorismus 7 als „Störenfried in der Wissertschaß" (20) bezeichnet werden; und offenbar hat Nietzsche den Piatonismus als Verleugner oder Verleumder der Werdenwelt im Auge. Schon hier macht sich also, wenn auch in verhüllter Form, der später kraß formulierte Anspruch Nietzsches geltend, die Entwicklung der letzten zweitausend Jahre umzukehren, und zwar durch Rückkehr zu den Anfängen, auf dem Wege des konsequenten Zu-Ende-Denkens und des Überwindens einer in Sokratismus-Platonismus-Christentum-neuzeitlicher Metaphysik gegebenen Richtung; um dergestalt, — wie es im Ecce homo in Hinblick auf die Demaskierung der christlichen Moral heißt, des Weiteren aber auch in Hinblick darauf, daß „alles was bisher ,Wahrheit* 8

Vgl. etwa die Rolle, die diese Frage in Piatos Phaidon spielt. * Vgl. etwa die Behandlung des Parmenides in Nietzsches Frühwerk „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" (70, 298—315), sowie im Spätwerk (78, 369), und siehe unten Seite 146.

6

Studie zum 1. Aphorismus

hieß . . die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge" sei, — die „Geschichte der Menschheit in zwei Stücke z u brechen" (77, 408). Das immediate Objekt v o n Nietzsches Polemik dürfte jedoch die Lehre Schopenhauers sein, wie überhaupt das Erste Hauptstück der Auseinandersetzung

mit

Schopenhauers Metaphysik dient. So ist etwa im ersten Aphorismus nicht bloß die Ablehnung jeder Erklärung unter Berufung auf das An-sich der Dinge, sondern auch die spezifische Empfehlung der historischen Philosophie (15) gegen Schopenhauer gerichtet, der das historische Philosophieren ausdrücklich verwirft und meint, daß die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt, „d. h. diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinaus führt", die D i n g e nicht als werdend und vergehend betrachtet, sondern „umgekehrt" gerade das „in allen Relationen erscheinende, selbst aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt" z u m Gegenstand hat 4 . 4

Schopenhauer's Sämmtliche Werke in fünf Bänden (Leipzig: Insel Verlag, ohne Datum), I, 366 f. (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Teil, 4. Budi). — Auf die Funktion des Ersten Hauptstücks, den Kontrapunkt zu Schopenhauers Lehre zu liefern, wird immer wieder hinzuweisen sein; allerdings ohne Anspruch auf systematische Behandlung dieses Aspekts, die dazu zwingen würde, jeweils auch die Thematik Schopenhauers mit-darzustellen. — Daß Nietzsches Denken, wie oft betont worden ist, sich in vieler Hinsicht zu einer Umkehrung der Schopenhauersdien Philosophie hin entwickelt, ist evident; e. g. wenn man bedenkt, daß in Nietzsches Spätwerk die Bejahung eines alldurchwaltenden ,Willens', bei Schopenhauer hingegen die Verneinung des .Willens' gelehrt wird; bei Schopenhauer das Mitleid als höchste Tugend, bei dem späteren Nietzsche das Mitleid als Ausdruck der decadence gilt; Schopenhauer in der „moralischen Bedeutung der Welt und des Lebens" (op. cit., V, 216) die höchste Offenbarung des metaphysischen Wesens aller Dinge sieht, der späte Nietzsche hingegen als Antimoralist und Antichrist einer Ansicht das Wort zu reden scheint, die nach Schopenhauer, „der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrthum, die eigentliche Perversität der G e s i n n u n g . . . [und] wohl im Grunde auch Das [ist], was der Glaube als den Antichrist personificiert hat", nämlich die Meinung, „daß die Welt bloß eine physische, keine moralische Bedeutung habe" (op. cit., V, 216). Freilich läßt sich mit derlei Bemerkungen das komplexe Thema (vgl. etwa Georg Simmel: Schopenhauer und Nietzsche; München: Duncker, 1923) von Nietzsches im Für und Wider sich entwickelnder Auseinandersetzung mit seinem „Lehrer" und „einzigen Erzieher" (76, 244·; ΜΑ Η, 4) weder für die späte Phase erledigen, noch für die Epoche von MA, in der die bewußte „Loslösung" von Schopenhauers „blindem Willen zur Moral", sowie von Wagners „unheilbarer Romantik" (Μ A I, 4 f.) von Nietzsche in Selbstqual und Selbstquälerei betrieben wird, da er zugleich noch an Schopenhauer und an Wagner hängt. Für MA, — wie auch für die späteren Phasen, — wären also jeweils nicht nur die Punkte anzugeben, in denen Nietzsche sich von Schopenhauer distanziert, sondern auch die weiterhin bestehenden Affinitäten, e. g. in bezug auf die im Kommentar zu dem 1. Aphorismus hervorgehobenen Ansichten: Auffassung der ,Welt als Vorstellung' (denn es ist wohl Schopenhauers .Kantianismus', auf den Nietzsche rekurriert), Betrachtung des Intellekts als „Accidenz" und „Hülfsmittel" (Schopenhauer, op. cit., II, 1457), ja auch des Egoismus als eines „Grundelements" (ibid., I, 439 f., vgl. auch ebenda den Hinweis auf La Rochefoucauld), etcetera. Für das Spätwerk wären ferner im Besonderen die Analogien und die Unterschiede zwischen Schopenhauers ,Wille' und Nietzsches ,Wille zur Macht' in Betracht zu ziehen.

I. Grundtendenzen

7

Wir stellen zunächst fest, daß die Struktur antithetischer Umkehr den Aphorismus, soweit wir ihn bisher gelesen haben, beherrscht. Sie tritt zuerst in dem als Frage verkleideten Satz von der Entstehung der Gegensätze auseinander auf; liegt aber ebenso den zwei angeführten Möglichkeiten der Umkehr dieses Satzes zugrunde. Die Metaphysik kehrt den Satz von der Entstehung der Gegensätze auseinander um, indem sie die wesentlichen Gegensätze absolut setzt. Sie leugnet die Entstehung der Gegensätze auseinander. Sie behauptet, die Antagonisten seien jeweils verschiedenen Ursprungs; läßt die niedrigeren Phänomene aus der Scheinwelt des Werdens, die hohen aus der absoluten Sphäre des Seins hervorgehen: e. g., sie mutet dem Irrtum eine andere Genese zu als der, direkt dem Absoluten entsprungenen Wahrheit. Die neue Lehre hingegen kehrt den Satz von der Entstehung der Gegensätze auseinander insofern um, als sie die absoluten Gegensätze leugnet. Sie nimmt die Entstehung eines Dinges aus dem andern, mithin das Werden ernst, faßt aber die Gegensätze als bloß scheinbare auf, die „außer in der gewohnten Ubertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung" gar „keine Gegensätze sind", so daß ihrer „Gegenüberstellung" ein „Irrtum der Vernunft zugrundeliegt" (15). Nietzsche stellt also 1. die dynamische Antithese als paradoxes Problem auf („Wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen"? (15)); meint 2. die Metaphysik habe die in der Problemstellung schon enthaltene Hypothese der miteinander, durch Entstehung auseinander verbundenen Gegensätze negiert, indem sie die höheren Dinge aus einer fiktiven Welt des Seins herleitet; und behauptet 3. in Umkehr der von der Metaphysik postulierten Hypothese absoluter Gegensätze, daß es in Wahrheit Entstehung der Dinge auseinander, — und zwar (dies ist implizit) nichts als solche Entstehung, — hingegen durchaus keine absoluten Gegensätze gebe. Nietzsche stellt damit die Auffassung Heraklits, wie er sie versteht, in wesentlichen Zügen wieder her. Als das Auszeichnende dieser Philosophie galt ihm, daß sie „das Sein" „überhaupt" leugnet und „nichts als Werden" sieht; gerade darum aber ebensowohl die Gegensätze betont („alles hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich", 70, 283; „aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden", 70, 285), wie sie die absoluten Gegensätze, wenn man darunter zwei schlechthin unvereinbare und miteinander unverbundene Wesen versteht, aufhebt. Denn „fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze; fortwährend streben diese Gegensätze wieder zueinander hin" und nur „das Volk m e i n t . . etwas Starres, Fertiges, Beharrendes zu erkennen" (70, 285). Nach der hier bejahten Auffassung aber, die schon von Aristoteles „des höchsten Verbrechens vor dem Tribunal der Vernunft" bezichtigt wurde, nämlich „gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben" (70, 283), läßt sich die Wahrheit nicht anders sagen als in Form eines Selbstwiderspruchs. Denn alles spielt sich in der Weise der Selbstentzweiung in Gegensätze und deren Mischung und Wiederentzweiung ab, alles „geschieht" „gemäß diesem Streite" (70, 286). Zugleich ist aber dieser Streit als Form des Werdens nur das Spiel, „ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld", das

s

Studie zum 1. Aphorismus

das ewig Eine, wie Heraklits „Aeon", mit sich selber spielt (70, 291). Allerdings setzt der frühere Nietzsche das Ur-Eine mit seinem Urwiderspruch selbst als metaphysisches Wesen, hingegen der Autor von MA von einer solchen metaphysischen Projektion des Werdens als Sein absieht, und konsequenterweise, — insofern er nämlidi nur die Welt als Vorstellung gelten läßt, — von jeder ,an sich' gültigen RealDialektik absehen müßte s . Aber die Auffassung von der einzigen Welt des Werdens als Streit der „Gegensätze", welche doch allesamt als Verwandlungen des einen „Grundelements " (15), — sei es der menschlichen „Begriffe und Empfindungen", der Welt als Vorstellung, oder der Welt überhaupt, — keine absoluten Gegensätze, vielmehr nur Modifikationen, Transformationen oder auch „Sublimierungen" (15) sind, bleibt, was die Denkstruktur angeht, wesentlich dieselbe. Man darf also nicht einfadi behaupten, daß Nietzsches Lösung die Gegensätze aufhebt. Es scheint nun vielmehr, als beruhe die von ihm, im Widerspruch zur metaphysischen Philosophie empfohlene Denkweise zuletzt doch auf jener „intuitiven Vorstellung", welche er dem Heraklit als dessen „königliches Besitztum" zuschrieb (70, 283), und von der er selbst meinte, sie ginge in „Begriffen und logischen Kombinationen" (70, 283), mithin audi in der Sprache nicht auf 6 . Und dies gerade darum nicht, weil sie zwar überall und immer das Ringen der Gegensätze sieht und gelten läßt, zugleich aber weiß, daß es „keine Gegensätze sind" (15). Der frühe Nietzsche meinte: „Die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit" (70, 297). Der späte Nietzsche scheint dieses Bekenntnis nur zu variieren und zu erläutern, indem er von der „Philosophie" spricht, so wie er sie „allein noch gelten" lasse, nämlich als „allgemeinste Form der Historie: als Versuch, das heraklitische Werden irgendwie zu beschreiben und in Zeichen abzukürzen (sie in eine Art von scheinbarem Sein gleichsam zu übersetzen und zu mumisieren)" (82, 242). Damit ist aber, so scheint es uns, wiederum auch ein Hinweis auf jene, schon vielfach erörterte Schwierigkeit von Nietzsches Schriften gegeben, die uns immer wieder nötigt, über die manifeste Aussage eines Textes hinauszugehen und ihm mehr als nur seinen vordergründigen Sinn abzugewinnen. Zwar Nietzsche weiß als Schriftsteller (wie als Mensch) den Anschein der Offenheit zu wahren. Aber verfährt er nicht zumeist nach dem Prinzip, das er in der griechischen Tragödie als wirksam zu erkennen glaubte, deren Klarheit er als den apollinischen Schein auffaßte, welcher den dionysischen Urgrund zugleich enthüllt und — in Licht, in Helligkeit — verbirgt (70, 184 f.)? Dieses Verfahren bestätigt — auf andrer Ebene — auch Zarathustras Rede über das „lange lichte Schweigen", in der es — mit charakteristischer UmkehrStruktur — heißt: „Meine liebste Bosheit und Kunst ist es, daß mein Schweigen lernte, sich nicht durch Schweigen zu verraten"; und die „feierlichen Warter" durdi „Worte und Würfel" überlistet werden sollen, damit „allen diesen gestrengen Auf5

Die Unsicherheit — oder, wenn man so will, die .Offenheit* — Nietzsches gerade in dieser Hinsicht scheint mir jedoch eine erhebliche Schwierigkeit zu sein. * Vgl. dazu audi Apho 11.

I. Grundtendenzen

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passem . . . mein Wille und Zweck" entschlüpfe. „So manchen Klugen fand ich: Der verschleierte sein Antlitz und trübte sein Wasser, daß niemand ihm hindurch und hinunter sehe. / Aber zu ihm gerade kamen die klügeren Mißtrauer und Nußknacker: ihm gerade fischte man seinen verborgensten Fisch heraus!/Sondern die Hellen, die Wackern, die Durchsichtigen — das sind mir die klügsten Schweiger: denen so tief ihr Grund ist, daß auch das hellste Wasser ihn nicht — verrät" (75, 192). Die verschweigende Rede, die verhüllende Offenbarung, das enthüllende Verbergen sind Ausdrucksformen der gleichen Tendenz, die sich als strategisches Mittel der Komposition im Großen (e. g. in der Weise wie im Zarathustra der Gedanke der Wiederkunft hinangehalten wird) und als taktisches Stilmittel an kleineren Einheiten nachweisen ließe. Es versteht sich, daß die Manifestationen dieser in sich antithetischen* Tendenz zu den Umkehrstrukturen gehören. Ihr Zusammenhang mit dem Heraklitismus aber ergibt sich daraus, daß, wie gesagt, dieser Art des Philosophierens etwas Unsagbares zugrundeliegt, nämlich eine Intuition des Werdens, die in planer, direkter Form nicht mitgeteilt werden kann, da sie in ihrer Reinheit den immer scheidenden Sprachformen widerspricht. Der Heraklitismus, d. h. die Auffassung des Universums als gegenwendig-homogenes Werden, nötigt oder drängt zumindest zur Esoterik, und zwar nicht nur in bezug auf das innerste, zentrale — bei Nietzsche: das dionysische — Erlebnis, sondern auch von Fall zu Fall. Denn zu jeder eingrenzenden Perspektive gehört schon die entgrenzende Perspektive als nächsthöhere oder nächsttiefere, wie auch in jeder als unbegrenzte Dialektik gedachten gedanklichen Bewegung zu jeder Position schon die Gegenposition, zu jeder Synthese schon die nächste Auflösung und ferner die unendliche Reihe selbst mitanzudeuten wäre, wozu es eben einer symbolischen Esoterik bedürfte. Dabei verfährt Nietzsche aber umgekehrt wie Heraklit, — von dem er zwar meint, er sei nicht dunkel sondern nur kurz (70, 294), — indem er sich gerne direkt, oft salopp, auf den Effekt bedacht gibt, nur als antithetisch spielende Oberfläche, die aber Ausdruck der tiefer liegenden Strömung und Gegenströmung ist, die sie verhüllend verrät.

2. Reduktionismus und Umwertung Angesichts dieser Stilisierung Nietzsches im Sinne des Heraklitismus melden sich aber nun Bedenken, Einwände, zumindest Einschränkungen an. Trifft die Bezeichnung Heraklitismus auf die im 1. Aphorismus empfohlene antimetaphysische, wissenschaftliche Methode wirklich zu? In seiner apodiktischen, unkritischen Form zielt auch der Heraklitismus auf eine ,Metaphysik' ab, wenn man unter Metaphysik den Versuch der Darstellung des ,Αη-sich' zu verstehen hat. Beschränkt man den Anspruch des Heraklitismus aber auf die Darstellung des Werdens — der Dynamik, der Geschichte — unserer Begriffe und Empfindungen, i. e. der Welt als Vorstellung, so scheint ihm zumindest noch etwas ,Irrationales* anzuhaften, da er die rationale

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Zeichensprache verwendet, um einem Ineffabile, einer Intuition des mutmaßlichen Flusses aller Dinge Genüge zu tun. Und dies wiederum scheint dem Eindruck zu widersprechen, daß Nietzsche in M A einer wissenschaftlichen', rational-empirischen Gesinnung das W o r t redet 7 . Haben wir nicht gerade das Auffälligste übersehen, nämlich: daß die im 1. Aphorismus charakterisierte Methode, — und damit das Erste Hauptstüdk überhaupt, — es auf psychologische Demaskierung unserer „Vorstellungen und Empfindungen" (16) als menschlich allzumenschlich abgesehen hat? „Der gelehrte Ausdruck" für „das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches" „lautet: die psychologische Beobachtung" (ΜΑ I, 49). Was immer die jüngste philosophische Methode sonst noch sein mag, sie ist auch eine „historische", d. h. genetische Psychologie, welche „weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen" gelten läßt, sondern die „höher gewerteten Dinge" nur als „Sublimierungen" — des Egoismus oder der begehrlich wollenden Anschauung — auffaßt, das Höhere also aus dem Niedrigeren entstehen läßt, wobei das „Grundelement" menschlichen Denkens und E m p findens allrdings als „fast verflüchtigt erscheint und nur für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist" (15 f.). Entscheidend ist dabei, wie schon das angeführte Beispiel verrät, die Anwendung der genetischen Methode auf die Moral, wie sie im zweiten Hauptstück von Μ Α I („Zur Geschichte der moralischen

Empfindungen")

versucht wird. Gute Handlungen

sind sublimierte böse, böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute (ΜΑ I, 96 f.). Zugleich aber gilt als „methodisch geboten", „unegoistisdie

Regungen auf

egoistische zurückzuführen" . 8

7

8

Diese Stilisierung im Sinne der Wissenschaftlichkeit kommt im 1. Aphorismus etwa auch darin zum Ausdruck, daß Nietzsche der von ihm empfohlenen philosophischen Methode zwar nachrühmt, sie hätte „in einzelnen Fällen" die Scheinbarkeit der Gegensätze nachgewiesen, ihr aber anheimstellt, dies auf dem Weg der wissenschaftlichen Untersuchung auch für die übrigen Fälle zu leisten und sich mit der Hypothese begnügt: der Nachweis, „daß es keine Gegensätze sind", werde „vermutlich . . in allen [Fällen] ihr Ergebnis sein" (15). Man könnte nun freilich sagen, Nietzsche erhoffe sich von der Wissenschaft eben den Nachweis der ,heraklitistisdien' Hypothese, die Verifizierung des Unglaubens an wahre Gegensätze. Dennoch macht es einen Unterschied, ob man von diesem Unglauben ausgeht, oder von der empiristischen Gesinnung, bei der nämlich auch die andere — bloß unwahrscheinlichere — Möglichkeit, i. e. die des Nachweises wahrer Gegensätze, offen bleiben muß. IV 2, 454. — In diesem Sinne wird der „sociale Instinkt" von Nietzsche „auf den Einzelnen" zurückgeführt (IV 2, 454). Er entsteht „aus dem Zwange, welcher ausgeübt wird sich für ein anderes Wesen zu interessieren (der Sclave für seinen Herrn, der Soldat für seinen Führer), oder aus der Furcht, mit ihrer Einsicht, daß wir zusammen wirken müssen, um nicht einzeln zu Grunde zu gehen" (IV 2, 511). „Die Schätzung des Socialen wird dann vererbt und, da die nützlichsten Mitglieder auch die geehrtesten sind, immer fort gestärkt" (/V 2, 454), bis endlich die soziale Empfindung entsteht, „ohne daß das ursprüngliche Motiv mit in's Bewußtsein tritt" (IV 2, 511). „Der unegoistisdie Zweck ist vergessen. Das .Gute' entsteht, wenn man den Ursprung vergißt" (IV 2, 454). „Es ist zum Bedürfnis geworden, welches nadi der Gelegenheit ausschaut sich zu bethätigen. Für andere, für eine Gemeinsamkeit" (IV 2, 511) — „für das Vaterland", oder „die Wis-

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Die Tendenz der neuen Disziplin ist also eine reduktive, da sie mit einem gewissen Dogmatismus darauf besteht, das ,Höhere' aus dem ,Niedrigeren' abzuleiten, wodurch sie wohl selber Gefahr läuft, in eine negative Abhängigkeit von metaphysischen Ansichten zu geraten. Begründet wird die reduktive Tendenz hier nicht. Sie mag für die „historische Philosophie" und die mit ihr verbundene „Naturwissenschaft" (15) als die selbstverständliche gelten, wie sich ja audi versteht, daß die Bezeichnung der neuen Disziplin als „Chemie" zuallererst die Idealisten schockieren soll, indem sie ihnen bedeutet, daß alle höheren geistig-seelischen, den Menschen auszeichnenden Erfahrungen und Fähigkeiten auf Phänomene der Physis — auf psychophysiologische, zuletzt auf „chemische" („und mechanische") Phänomene — zurückzuführen seien*. Daß der Mensch als — sublimiertes oder doch sublimierendes — Tier zu gelten

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senschaft" (IV 2, 454) — „alles zu leiden" (IV 2, 454), „erscheint dann als unegoistisch, ist es aber im Grunde nicht gewesen" {IV 2, 511). Und also vermutet Nietzsdie in der Phase von MA, der „unegoistische Trieb" sei „eine späte Entwicklung des socialen Triebes" (IV 2, 511), der seinerseits im Egoismus begründet ist. — Jedoch hält Nietzsdie diese Auffassung von der Genese und Entwicklung menschlidiei .Triebe' schon in der Phase von MA, zumindest was die hier verwendete Terminologie angeht, für ungenau und im Grunde für irreführend, wenn er sie auch, mangels einer besseren, naturwissenschaftlich fundierten Darstellungsweise, zur annähernden Bezeichnung der vermutlichen Entstehungsgeschichte unserer Moral gelten läßt. (Vgl. die Kritik an dem Wort .Trieb': IV 2, 501 f.; siehe unten Fußnote 10). — Anders und wesentlich radikaler lautet später die Kritik und polemisch zugespitzte Ablehnung dieser ganzen, auf „Nützlichkeit", „Vergessen", „Gewohnheit" und „Irrtum" beruhenden MoralGenealogie im Sinne der englischen Utilitarier, etwa vom Standpunkt der Genealogie der Moral aus (vgl. 76, 251). Vgl. IV 2, 502 (siehe unten Fußnote 10). — Zu der Auffassung des Wortes ,Chemie' vgl. auch Schopenhauer, of. cit., I, 65, wo es heißt der Gegenstand der „Naturwissenschaft als Chemie" sei die „todteste, roheste Materie, der erste Grundstoff"; und ferner festgestellt wird, daß „im Grunde das Ziel und das Ideal aller Naturwissenschaft ein völlig durchgeführter Materialismus11 ist (op. cit., I, 64). Wie sehr Schopenhauer diese, wie jede, „ihr Ziel verkennende", — nämlich radikal reduktive — „Ätiologie" in ihrem Bestreben, alles Organische „auf Chemismus", diesen aber wieder auf „Mechanismus (Wirkung durch die Gestalt der Atome)" zurückzuführen, zuwider ist; und wie er „dergleichen krasse, mechanische, demokritische, plumpe und wahrhaft knollige Theorien" abfertigt, erhellt aus dem 2. Buch der Welt als Wille und Vorstellung (Op. cit., I, 181 f.). Vgl. auch ibid, 204 ff., samt den Umdeutungen ätiologischer Hypothesen in Erklärungen, die auf der Annahme von Analogien in den Objektivationen des Willens beruhen (206 ff.), welche ihrerseits aus einem Kampf hervorgehen, in dem „die höhere Idee, oder Willensobjektivation" (210) sich die niedrigere dienstbar macht und assimiliert. — Überhaupt ist, wie schon bemerkt, die Tatsache, daß für Schopenhauer die „Ätiologie" als „relative" Erkenntnis im Gegensatz zur Philosophie als unbedingte Erkenntnis steht (op. cit., I, 184) für Nietzsches Gegenposition in MA relevant. Und anderseits paßt zu Nietzsches anti-schopenhauerischer und anti-idealistischer Betonung der Materie auch das Lob des Materialisten Epikur im weiteren Verlauf von MA (vgl. etwa unten Seite 437). — Daß Nietzsches Position in MA aber nicht als eine dogmatisch materialistische aufzufassen ist, ergibt sich u. a. aus seiner, — eben doch von Schopenhauer und Kant her bestimmten — Auffassung der Welt als Vorstellung und seiner wiederholten Ablehnung jeder Spekulation über das, was die Welt an sich sei. (Vgl. etwa Apho 9, 10, 16, 29).

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hat, daß keine Wunderursprünge von oben her angenommen werden sollen, liegt im antimetaphysischen Ansatz. Ginge man von ,oben' aus, also etwa von dem Vernünftigen oder dem Guten sdiledithin, so ergäbe sich gar die Ansidit der Welt des Werdens als Abfall von der Welt des Seins. Daß aber die reduktive Tendenz nicht als problematisch anerkannt wird, mag auch daraus zu erklären sein, daß Nietzsche in bewußt polemischer Wendung gegen seine eigene frühere, ästhetisch-metaphysische Phase zunächst in MA vornehmlich die Absicht hatte, den Versuch einer „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten" (ΜΑ I, 3) zu unternehmen. Die Aufgabe, die Nietzsche sich stellt, ist jedoch, nicht nur f ü r „einzelne Fälle" (15) und auch nicht bloß für die Moral zu erweisen, daß unsere Begriffe und Empfindungen im Irrtum sind, wenn sie, an Stelle von chemischen oder psychisch-physischen Veränderungen und Transformationen im Medium der Zeit, unverbundene Gegensätze postulieren. Was ihm vorschwebt, ist eine allumfassende genetische Lehre, und die Forderung nach dieser liegt dem letzten Abschnitt des Aphorismus zugrunde, obschon die „Chemie", von der es hier heißt, daß sie „alles" sei, „was wir brauchen" (16), explicite nur auf spezifische Kulturerrungenschaften bezogen wird. Denn diese gehören für Nietzsche wohl zur Spitze der Pyramide menschlicher Vorstellungs- und Empfindungswelt, weshalb ihre Analyse auch die der sie tragenden, primitiveren,,niedrigeren' und grundlegenden Vorstellungs- und Empfindungsphänomene — und damit auch all dessen was außerhalb der engen Kammer des Bewußtseins (76, 380) liegt — voraussetzt und miteinschließt. Wenn also die neue Anschauungsweise weder ein selbstloses Handeln als ethisches Verhalten noch ein „völlig interesseloses Anschauen" (15) im ästhetischen Bereich anerkennt, sondern nur Grade der Sublimierung des primitiven psychischen Grundelements gelten läßt (das seinerseits aufgrund von regelmäßigen Wirkungen an Organismen aus biochemischen und physikalischen Gesetzen abzuleiten wäre) 10 , so muß sie auch im Falle der vorher angeführten Beispiele von höher gewerteten Phäno10

Vgl. IV 2,501 f. Das Beispiel, das hier gegeben wird, knüpft an die Ableitung der höheren Moral aus dem „Trieb" des Einzelnen, sich zu erhalten, an. Auch das Wort „Trieb" ist „nur eine Bequemlichkeit". „Warum überhaupt einen Erhaltungstrieb annehmen? Unter zahllosen unzweckmäßigen Bildungen kamen lebensfähige, /orilebensfähige vor; es sind millionenjahrelange Anpassungen der einzelnen menschlichen Organe nöthig gewesen, bis endlich der jetzige Körper regelmäßig entstehen konnte und bis jene Thatsadien regelmäßig sich zeigen, welche man gewöhnlich dem Erhalt(ungs)trieb zuschreibt. Im Grunde geht es dabei jetzt ebenso nothwendig, nach diemischen Gesetzen, zu, wie beim Wasserfalle mechanisch. Der Finger des Klavierspielers hat keinen „Trieb" die richtigen Tasten zu treffen, sondern nur die Gewohnheit. Uberhaupt ist das Wort Trieb nur eine Bequemlichkeit und wird überall dort angewendet, wo regelmäßige Wirkungen an Organismen noch nicht auf ihre chemischen und medianischen Gesetze zurückgeführt sind." (IV 2, 501—502). Drastisch verdeutlicht Nietzsches Ansicht die in IV 4, 439 angeführte Variante: Überhaupt „giebt es keine Triebe; eine volle Blase verursacht Druck Schmerz, erinnert an sich, aber einen Urinirtrieb giebt es nicht." — Vgl. auch die Kritik an den von den Philosophen als unveränderlich postulierten „Instinkten" des gegenwärtigen Menschen in Apho 2 (17); und unten Seite 32.

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menen analog verfahren. Sie muß das Primat des Vernunftlosen, des Toten, der Unlogik, des begehrlichen Wollens, des Egoismus und der Irrtümer statuieren und beweisen. Solche Auffassungen und ihre Problematik haben Nietzsche, besonders im Spätwerk und den zugehörigen, unter dem Titel „Der Wille zur Macht" veröffentlichten Nachlaßfragmenten, immer wieder beschäftigt. Schon in MA geht Nietzsche daran, zu zeigen, daß „jenes Stück Welt, welches wir kennen — ich meine unsere menschliche Vernunft —, nicht allzu vernünftig ist", um daraus zu schließen, „daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit sein kann" (ΜΑ II, 167). Die Vernunft ist „nur ein Werkzeug" (76, 101), ein „Hilfsorgan" (83, 55), dem Menschen zugleich notwendig (78, 394) und gefährlich (83, 55). Zwar: die physiologisch-psychologische Nötigung einer Auslegung im Sinne der Vernunft wird als Existenzbedingung des Menschen anerkannt; nicht aber der Anspruch auf die Gültigkeit dieses Verfahrens. Und indem Nietzsche der Welt die Vernunftlosigkeit zurückerstattet, ist ihm, als befreie er sie von einer Knechtschaft und als befreie er den Menschen, der nun bewußt als Schaffender auftreten kann. So sagt Zarathustra: „«Von Ohngefähr» — das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück" (75, 183). Denn die Vernunft ist, — audi und gerade in der Form von „Naturgesetzen"11, — Ausdruck des menschlichen Vermögens, sich die Welt zurechtzulegen, ihr Vernunft zu unterschieben, oder zu geben. Analoges wäre aber auch für die Entstehung des Empfindenden, Organischen aus dem Toten, Unorganischen anzuführen, das „uns ganz und gar" „bedingt" (83, 55). So spricht der spätere Nietzsche von der „grundfalschen Wertschätzung der empfindenden Welt gegen die tote", verursacht durch unsere Parteilidikeit, weil wir ja die empfindende Welt sind. Und doch gehe mit der „Empfindung die Oberflächlichkeit, der Betrug los". „Was hat Schmerz und Lust mit dem wirklichen Vorgange zu schaffen! — Es ist ein Nebenher, welches nicht in die Tiefe dringt!" Hingegen sei, umgekehrt als wir meinen, die tote Welt die wahre: „Ewig bewegt und ohne Irrtum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft!" (83, 56). Ja, „es ist ein Fest, aus dieser Welt in die ,tote Welt' überzugehen — und die größte Begierde der Erkenntnis geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze [sie!] entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug gibt" (83, 56). Aber Nietzsche fragt auch: „Ist dies Selbstverneinung der Empfindung, im Intellekt?" „Der Sinn der Wahrheit ist: die Empfindung als die äußerliche Seite des Daseins zu verstehen, als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer" (83, 56). „Laßt uns die Rückkehr ins Empfindungslose nicht als einen Rüdegang denken. Wir werden ganz wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten. Wir versöhnen uns so mit dem Wirklichen, d. h. mit der toten Welt." „Vom Leben erlöst zu sein und wieder tote Natur werden, kann als Fest empfunden werden — von Sterben wollenden. Die Natur lieben! Das 11

Siehe Ohler, 334 (Natur-Gesetze).

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Tote wieder verehren! Es ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutterschoß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unvernunft und Sdimerz sind bloß bei der sogenannt zweckmäßigen Welt, im Lebendigen" (83, 57). Und endlich — um hier auf weitere Belege aus dem Spätwerk zu verzichten — heißt es überhaupt: „Die Dinge also, welche wir bisher am höchsten geschätzt haben als das „Wahre", „Gute", „Vernünftige", „Schöne", erweisen sich als Einzelfälle der umgekehrten Mächte, — ich zeige mit dem Finger auf diese ungeheure, perspektivistische Fälschung, vermöge deren die Spezies Mensch sidi selber durchsetzt" (83, 284 f.). Wir wollen den Eindruck, den wir bisher von Nietzsches ,reduktiver' Tendenz gewonnen haben, zusammenfassen. Uns schien der 1. Aphorismus im Grunde nicht nur eine Psychologie im geläufigen Sinn des Wortes zu fordern, sondern eine allumfassende genetische Disziplin, die sämtliche Vorstellungen und Empfindungen, inklusive alle Erfahrung, welche sich auf sogenannt konkrete Dinge bezieht, ja alles was überhaupt unsere Welt ausmacht, als auseinander hervorgehende Phänomene auffaßt, wobei aber den .niedrigeren' Phänomenen insofern der Vorrang zukäme, als die »höheren* aus ihnen abzuleiten sind. Audi ergab sich, daß Nietzsche diesen Reduktionismus offenbar in Anlehnung an zeitgenössische Naturwissenschaft konzipiert und im Sinn dieser Naturwissenschaft anwenden will. Für die Phase von MA wäre als Beispiel die Ableitung ,höherer' psychischer Phänomene aus dem .Egoismus' zu nennen; jedoch gilt auch dieses .niedrige' Grundelement nicht als das Letzte, da von dessen Reduktion auf biochemische, mechanische, physikalische Gesetze — zumindest als künftiges Ziel — die Rede ist. Für den späteren Nietzsche dürfte im Rahmen dieser wissenschaftlichen Weise der Interpretation als Grundelement das Konzept der physikalischen .Energie' oder der Begriff der Kraft gelten, so daß Kraft, bzw. Energie, und Wille zur Macht dasselbe wären, d. h. daß Nietzsche die ihrem Wesen nach .expansive' Energie oder Kraft als .Wille zur Macht' definierte12. Dabei ließe sich nun wiederum fragen, ob, da alle Phänomene als Manifestationen, als Wandlungsformen des Grundelements auszulegen wären, dieses Grundelement selbst im metaphysischen Sinn, als ,An-sich', aufzufassen sei, oder vielmehr als Grundelement nur innerhalb einer Auslegung der ,Welt als Vorstellung', bzw. innerhalb einer möglichen Vital-Perspektive zu gelten habe; oder auch, ob derlei Fragen im Sinne des späten Nietzsche nicht mehr zulässig wären, — was uns aber hier nicht weiter angeht. Unsere bisherige Charakteristik der reduktiven Tendenz reicht jedoch noch nicht aus. Denn namentlich in Hinblick auf Nietzsches spätere Werke will uns scheinen, als wäre die ,Reduktion' der höheren Phänomene auf die niedrigeren, wie sie der 1. Aphorismus verlangt, auch schon in Richtung auf eine umkehrende Umwertung konzipiert, — wie denn Nietzsche selbst ΜΑ I in seiner späteren Vorrede 12

Vgl. etwa 78, 421; und 78, 693: „Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr".

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(1886) als Vorstufe zu der Umwertung der Werte aufgefaßt hat (vgl. ΜΑ I , 3 f., 7, 10 ff.). Die für die reduktive Tendenz aus den späteren Phasen angeführten Beispiele stellten sich alle zugleich auch als Umwertung dar. Jedoch schon in MA selbst wird ζ. B. der Egoismus nicht bloß als Grundelement .entlarvt' sondern zugleich rehabilitiert; beginnt die in der Morgenröte zu Tage tretende Umdeutung des Wertverhältnisses von gut und böse; setzt, anläßlich der Reduktion von ,Wahrheit' auf ,Irrtum', auch die Umwertung des Irrtums ein. Da sich aber zu dem Thema der Umwertung ein Gutteil der mittleren Aphorismenbücher und das gesamte Spätwerk anführen ließen, so könnte man nun auch wohl fragen, ob nicht die Methode der .wissenschaftlichen' Reduktion für Nietzsche ein Mittel zum Zweck der Destruktion der bestehenden Werthierarchien und zur Umwertung aller Werte sei; ob es nicht der Wille zur Umwertung war, der Nietzsche — zunächst vielleicht unbewußt, später bewußt — zu dieser Methode inspirierte und ihn bei ihrer Anwendung leitete. Wir bleiben auf diese Frage die Antwort schuldig; nicht nur weil sie im Kontext von MA schwer zu geben wäre, sondern weil wir uns von der Unterscheidung zwischen .Mittel' und .Zweck' nicht dazu verleiten lassen wollen, die Argumente Nietzsches als bloßen Vorwand für eine Absidit zu entwerten, die allerdings im Spätwerk dominant wird. Wir begnügen uns also damit, die Verflechtung von ,Reduktion' und .Umwertung' festgestellt zu haben. Endlich scheint uns aber auch, als sollte das Resultat der Reduktion die Auflösung der Gegensätze sein, d. h. der Erweis, daß die auseinander hervorgehenden Phänomene eben nur aufgrund einer perspektivistischen Illusion als Gegensätze gelten, — und als bringe deshalb Nietzsches Reduktionismus auch schon das Mittel zu seiner Selbstaufhebung mit sich. Bedeuten Nietzsches Ableitungen scheinbarer Gegensätze auseinander nicht, daß im Grunde beide Glieder des jeweiligen Gegensatzpaares eben nur einen Anschein bezeichnen? Charakteristisch ist zwar zunächst die .reduktive' Auffassung des vorgeblich Höheren als Spezialfall des ihm scheinbar entgegengesetzten Niedrigeren; des weiteren aber die Aufhebung des so definierten Höheren und Niedrigeren. E. g., das Vernünftige, wie es uns in der Welt erscheint, ist zunächst zwar als Sonderfall des mächtigeren, umfassenderen Vernunftlosen darzustellen; sodann aber ist zu zeigen, daß und wie wir den Gegensatz von Vernunft und Vernunftlosigkeit in die Phänomene hineinlegen oder hineininterpretieren. Das Organische, Empfindende gilt als Sonderfall des Unorganischen, des Toten; aber des weiteren gilt, daß der Gegensatz selbst sich aus unserer Perspektivistik als Schein gibt: „der Gegenatz .organisch—unorganisch' g e h ö r t . . . in die Erscheinungswelt'' {83, 74), „Lebendiges und Totes . . . beide Begriffe [sind] falsch" (83, 66). Wenn aber „beide Begriffe" — ebenso wie die andern, oben angeführten Gegensatzbegriffe — falsch sind, so ist damit auch die Reduktion in Frage gestellt, so befinden wir uns nun wohl jenseits der Reduktionen, — und zwar im Bereich einer Optik, welche die einander widerstrebenden Ansichten in ihrer perspektivischen Bedingtheit übersieht.

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Studie zum 1. Aphorismus

3.

Perspektivismus

Von diesem Ansatz des Perspektivismus her lassen sich weitere Möglichkeiten des Nietzscheschen Denkens skizzieren. Wir gehen nochmals von der Position des 1. Aphorismus aus und fragen: Was bedeutet die These von der Entstehung der scheinbaren Gegensätze auseinander unter der Voraussetzung des Perspektivismus? Die Behauptung: das Organische sei aus dem Unorganischen, das Vernünftige aus dem Vernunftlosen, das Logische aus dem Unlogischen, das interesselose Anschauen aus dem begehrlichen Wollen, das Leben für andere aus dem Egoismus, die Wahrheit aus dem Irrtum entstanden — gilt, insofern wir sie auf die im Rahmen menschlicher Perspektiven konzipierte Entstehungsgeschichte menschlich-allzumenschlicher Perspektivistik beziehen. Und damit stimmt auch die in MA immer wieder betonte Auffassung überein, daß wir von einem An-sich nichts wissen. Die Überzeugung, daß nur Welt als Vorstellung möglicher Gegenstand der möglichen Erkenntnis sei, mag den Perspektivismus geradezu zu fordern scheinen, oder doch das Ermächtigungsgesetz zu dieser Betrachtungsweise liefern. Was Nietzsche fordert, ist also, — unter der Voraussetzung des Perspektivismus, — eine, — ihrerseits perspektivisch bedingte — Herleitung unserer .höheren' phänomenalen Welt der Vorstellung (i. e. der Begriffe und Empfindungen) aus den ihr zugrundeliegenden ,niedrigeren' Stufen der Vorstellung. Eine derartige Perspektivistik der vielfältigen, sich auseinander entwickelnden Perspektiven soll ihrerseits eine Erweiterung und Wandlung der menschlichen Perspektive mit sich bringen. Anders gesagt: die menschliche Perspektive soll ebendadurch verändert werden, daß der Mensch als Erkennender seiner eigenen, empfindenden, imaginierenden, vorstellenden Tätigkeit auf die Schliche kommt und ihre Bedingtheit begreift. Und dieser Aufgabe ist MA im Grunde gewidmet. Die Wissenschaft selbst ist potenzierter Perspektivismus. Sie stellt, — wie der spätere, Nietzsche sagt, — nicht ,die Wahrheit' fest, sondern durch die Wissenschaft stellt der Mensch, — „welcher eine Fülle von optischen Irrtümern und Beschränktheiten aus sich gebiert oder auseinander ableitet", — sich selber fest (83, 42). Und mag diese Ansicht sich auch in MA oft verhüllt oder nur im Ansatz und im Widerstreit mit anderen Möglichkeiten der Auslegung darstellen, so ist doch die Bewegung in Richtung auf diese Ansicht — und überhaupt: auf einen entschiedenen Perspektivismus hin — für MA so wesentlich, daß wir hier zur Verdeutlichung dieser Tendenz Aussagen des späteren Nietzsche heranziehen wollen, die allerdings nicht nur deutlicher sondern auch radikaler sind als die in MA skizzierten Positionen. Daß unsere perspektivistische Welt der Sinne (Auge, Getast, Gehör) etwa im Vergleich zu einem feineren Sinnesapparat, bzw. vom Standpunkt der Wissenschaft aus, als „sehr falsch" erscheint (78, 413), versteht sich. „Die Physiker sind jetzt mit allen Metaphysikern darüber einmütig, daß wir in einer Welt der Täuschung leben" (83, 66). Ebensowenig wie Seele oder Individuum lassen sich aber Begriffe

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wie materielles Atom, Lebendiges-Totes, Substanz, Zahl, Zeit, Raum, Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, Subjekt und Objekt etc. halten, außer als Hilfskonstruktionen für das Denken. „Das Perspektivische der Welt geht so tief, als heute unser .Verständnis' der Welt' — und des Denkens — „reicht" (83, 66). Das einzig Gegebene ist die „Scheinbarkeit der Dinge", das einzig Mögliche die „Darstellung dieser Perspektivität" (83, 67). Und in ähnlichem Sinne heißt es: Der Wert der Welt liegt in unserer Interpretation", in perspektivischen Schätzungen, „vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten . . . Jede Erhöhung des Menschen [bringt] die Überwindung engerer Interpretationen mit s i d i . . . , jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung . . . [tut] neue Perspektiven [auf] . . . und [heißt] an neue Horizonte glauben . . . Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d. h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdeutung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist ,im Flusse' als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn — es gibt keine .Wahrheit' " (78, 418). Was wir erkennen können, sind also allein Perspektiven und das Perspektivische aller Perspektiven, wobei es „von jedem unserer Grundtriebe aus . . . eine verschiedene perspektivische Abschätzung alles Geschehens und Erlebens" gibt (83, 97). Anders gesagt: alles Geschehen hat „interpretativen Charakter", ist Auslese, Zusammenfassung von Erscheinungen durch ein interpretierendes Wesen (83, 94). Die „Welt der .Phänomene' ist die zuredit gemachte Welt, die wir als real empfinden. Die .Realität' liegt in dem beständigen Wiederkommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisierten Charakter..." Der „Gegensatz dieser Phänomenal-Weit ist nicht .die wahre Welt', sondern die formlos-unformulierbare Welt des Sensationen-Chaos, — also eine andere Art Phänomenal-Weit, eine für uns .unerkennbare'... Fragen, wie die Dinge ,an sich' sein mögen, ganz abgesehen von unsrer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge gibtf Die ,Dingtheit' ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist, ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu schaffen — und ob nicht dies Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht Das, was ,Dinge setzt', allein real ist; und ob nicht die .Wirkung der äußeren Welt auf uns' auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte i s t . . . Die anderen .Wesen' agieren auf uns; unsre zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmadiung und Überwältigung von deren Aktionen: eine Art Defensiv-Maßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, daß es nur Subjekte gibt, — daß .Objekt' nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt i s t . . . ein modus des Subjekts" (78, 388 f.). Endlich noch eine Stelle zur Illustration und Erläuterung der radikalsten Fassung des Perspektivismus: IS

Vgl. Apho 29.

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„Ein ,Ding an sich' ebenso verkehrt wie ein ,Sinn an sich', eine ,Bedeutung an sich'. Es gibt keinen ,Tatbestand an sich', sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann. Das ,was ist das?' ist eine Sinn-Setzung von etwas anderem aus gesehen. Die ,Essenz', die ,Wesenheit' ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zugrunde liegt immer ,was ist das für mich}' (für uns, für alles, was lebt, usw.). Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm alle Wesen ihr ,was ist das?' gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen, mit seinen eignen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen fehlte, so ist das Ding immer noch nidit ,definiert'. Kurz: das Wesen eines Dings ist auch nur eine Meinung über das ,Ding'. Oder vielmehr: das ,es gilt' ist das eigentliche ,es ist', das einzige ,das ist'. Man darf nicht fragen: ,wer interpretiert denn?' sondern das Interpretieren selbst als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ,Sein', sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt. Die Entstehung der ,Dinge' ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Empfindenden. Der Begriff ,Ding' selbst ebenso als alle Eigenschaften. — Selbst ,das Subjekt' ist ein solches Geschaffenes, ein ,Ding' wie alle andern: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Denken selbst." (78, 381 f.). Wir sprachen zunächst von Nietzsches ,Heraklitismus'. Dieser läßt sich anscheinend vereinen mit einer, — an den zeitgenössischen Naturwissenschaften orientierten — Methode der Reduktion, welche ,höhere' aus ,niedrigeren' Formen ableitet und zu einer Auffassung tendiert, die alles als Manifestation und Wandlungen einer im physikalischen Sinn konzipierten ,Energie', bzw. ,Kraft' interpretiert. Nun scheint sich hingegen alles in ein Netzwerk von einander widerspiegelnden, widerstreitenden, transzendierenden Perspektiven, bzw. in ein Vielerlei von .Subjekten' oder Modi der Subjektivität aufzulösen, — oder aber: in Kraftzentren, die allein als Perspektiven-schaffende Aktivität faßbar sind, womit eine Annäherung an einen extremen Idealismus oder Intellektualismus, an eine Art von Monadologie gegeben wäre. Der späte Nietzsche spricht von der „Grundfrage: ob das Perspektivische zum Wesen gehört" (83, 108); anderseits aber von dem „notwendigen Perspektivismus vermöge dessen jedes Kraftzentrum — und nicht nur der Mensch — von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet..." (78, 430). In der Vorstellung von Perspektiven setzenden ,Kraftzentren', bzw. von den, in ihrem Widerstreit und ihrer ständigen Wandlung die Kraftzentren überhaupt erst definierenden Perspektiven' scheinen beide Auffassungen vom Willen zur Macht sich vereinen zu wollen: Die (aus der Naturwissenschaft stammende) einer Reduktion auf expansive Kraft (Energie) und die (aus dem Idealismus abgeleitete) des Inter-

I. Grundtendenzen

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pretierens, d. h. des Perspektiven-Setzens, der im weitesten Sinne verstandenen (bewußten und unbewußten) Vorstellungs-Tätigkeit als Form, Wesensattribut, Wesen des Willens zur Macht. Man könnte daher versucht sein, Nietzsches späteren jHeraklitismus' (Werden als Wille zur Macht) gewissermaßen durch die Fusion zwischen naturwissenschaftlichem Reduktionismus' (Lehre von den Wandlungen der Energie oder Kraft) und ,idealistischem', bzw. .intellektualistischem' Perspektivismus (dynamisierter Monadologie) ein wenig näher zu bestimmen.

4.

Zusammenfassung

Damit wären wir anscheinend doch wieder bei einer Metaphysik des Werdens gelandet, wenn man unter Metaphysik nicht nur die Jenseits-Metaphysiken verstehen darf, die gewissermaßen andere (Uber-, Hinter-, Unter-) Welten als An-sich postulieren, sondern jede Aussage über das ,Wesen' der Welt, das von Nietzsche offenbar als ein Werden, etwa als .Dynamik der Perspektiven schaffenden Energetik des Willens zur Macht', definiert wird. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß zumindest zwei Möglichkeiten bestehen — und von Nietzsche auch ergriffen werden, — diese ,Metaphysik' zu relativieren, sie ihrerseits nur als Perspektive gelten zu lassen und zu empfehlen. Man kann den Heraklitismus als metaphysisches Credo oder als phänomenale Aussage (e. g. als Annäherung an die im Grunde unformulierbare „Welt des Sensationen-Chaos") 14 auffassen. Und ebenso kann der wissenschaftliche Reduktionismus als Glaube an die Energie als Wesen der Dinge aufgefaßt werden, oder als Hypothese, als jene Perspektive auf die Welt als Vorstellung, welche sich als die umfassendste, ökonomischeste etc. empfiehlt. Nietzsches Perspektivismus imponiert zunächst als eine anti-metaphysische, relativierende Strategie, welche nur Welt als Vorstellung auffächern will; kann aber ebenfalls zur .Metaphysik' tendieren, insofern und insoweit das PerspektivenSetzen zum Wesen aller Dinge gemacht oder mitgezählt wird (also die Frage, ob das .Perspektivische' zum ,Wesen* gehört15, bejaht wird). Jedoch darf nicht vergessen werden, daß selbst diese ,Metaphysik' des Perspektivismus wieder relativiert, gewissermaßen in Klammern gesetzt werden kann, als eine sich empfehlende .Perspektive'. Und das Gleiche gilt nun auch bezüglich aller möglichen Kombinationen oder Fusionen von Heraklitismus—Reduktionismus—Perspektivismus. Der Hinweis auf diese Möglichkeiten ist aber um so relevanter, da Nietzsche Philosophie nicht als bloße Bemühung um Erkenntnis sondern als Wille zur Wertsetzung auffaßt, die — (dem Spätwerk zufolge) — im positiven Fall als schöpferische Gesetzgebung im Dienst der Steigerung des Lebens steht, im negativen Fall dem Niedergang dient; wodurch nun wiederum jede Aussage relativiert, — e. g. wie 14 15

78, 388. Siehe oben, S. 17. 83, 108. Siehe oben, S. 18.

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Studie zum 1. Aphorismus

die Hypothese von der ,ewigen Wiederkehr* als Ausdruck, Symptom, Prüfstein der .Vitalität' gewertet — wird; anderseits die Frage sich aufdrängt, ob nicht in dem Glauben an das Kriterium der Vitalität selbst und in dem Glauben an die Schicksale der Vitalkraft eine Art von Metaphysik, ein Bekenntnis zu dem was schlechthin als gültig zu gelten habe, zum Ausdruck kommt. Wir wollen hier unseren Exkurs abbrechen. Die Frage, inwieweit Nietzsche audi in M A als Wertender, als Gesetzgeber auftritt, wird noch zu erörtern sein. Zunächst soll uns genügen, ,Heraklitismus', .Reduktionismus', und ,Perspektivismus' als Tendenzen oder Denkmöglichkeiten Nietzsches festgestellt zu haben. Es versteht sich, daß diese Feststellung an der Oberfläche bleibt, e. g. innerhalb des .Reduktionismus' weitere Reihen zu entwickeln wären: da man ζ. B. statt .Energie' als letzte Gegebenheit aufzufassen, vielmehr den Körper als letzte Gegebenheit statuieren und alles in eine Art von Physiologismus — eine Leibzeichensprache — übersetzen könnte, — eine Möglichkeit, die f ü r Nietzsche relevant ist. Ferner ist auch zu betonen, daß die Feststellung der Tendenzen durchaus keiner Lösung der von Nietzsches aufgeworfenen Problemen gleichkommt. Wie hätte man sich, um nur ein fast beliebiges Beispiel zu geben, innerhalb von Nietzsches Perspektivismus, in dem sich Denken gegen Denken kehrt, alle Wahrheit zu einer Art von notwendiger Lüge wird, die Erkenntnis vorzustellen? O d e r : wie ließe sich, wenn es wirklich keine Erkenntnis gibt, die Erkenntnis, daß Erkenntnis unmöglich sei, behaupten? Oder: wie steht es etwa mit der Erkenntnis von der Entwicklung der Dinge aus ihren scheinbaren Gegensätzen, wenn es keine Gegensätze, ja keine Dinge gibt, wenn dies alles nur Perspektiven des Werdens sind, das Werden aber, — wenn anders es nicht selber wiederum nur Perspektive sein sollte, — nicht erkennbar ist, da die auf Fiktionen des Seins (das vereinzelte Ding, Identität, Logik, Zahl) aufgebaute Erkenntnis und das Werden einander ausschließen (vgl. etwa 78, 354 f.)? Als eine letzte Möglichkeit f ü r das Verständnis von Nietzsches Auffassung ergibt sich vielleicht, daß —, um dies hier noch einmal zu wiederholen, — Nietzsches Leidenschaft f ü r die Wahrheit-Suche sich selber ,aufhebt', sich als Willen zur Umfälschung des Werdenden in das Seiende durchschaut, sich dabei im eigenen Feuer verzehrt, und zugleich transzendiert, um als Leidenschaft f ü r das Schaffen von dem, was jetzt allein noch unter Wahrheit zu verstehen ist, wiederaufzuerstehen: nämlich als Bejahung des aktiven Vermögens dazu, immer mächtigere, zwingendere, umfassendere Perspektiven zu setzen. „.Wahrheit' i s t . . nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen f ü r einen Prozeß abgibt, mehr noch f ü r einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende h a t : Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, — nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort f ü r den ,Willen zur Macht'" (78, 377). Wir werden, — ohne uns im Mindesten dazu zu zwingen, die jeweiligen Gedankenverbindungen Nietzsches auf die hier hervorgehobenen Tendenzen zu be-

II. Engere Fassung des Themas

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ziehen, — im Folgenden Gelegenheit haben, Heraklitismus, Reduktionismus, Perspektivismus audi in -weiteren Aphorismen von MA als wirksam zu erkennen. Keineswegs aber ist vorauszusetzen, daß diese drei Tendenzen audbi in der Phase von MA so etwas wie ein System bilden. — Die Auffassung der Welt als Werden (der Heraklitismus) ist jederzeit bei Nietzsche als Intuition vorhanden. In der Phase von MA steht diese Intuition aber im Hintergrund seines Denkens, ohne daß sich immer klar entscheiden ließe, ob diese letztmögliche oder erahnbare Auslegung allein auf die ,Welt als Vorstellung' zu beziehen ist, obschon sich ebendies konsequenterweise aus der im 1. Hauptstück betonten These der Unerkennbarkeit des An-sich ergeben müßte. — Der .Perspektivismus' scheint sich für MA aus ebenjener These, bzw. aus der Auffassung, daß uns allein die in Begriffen und Empfindungen sich darstellende ,Welt als Vorstellung' zugänglich ist, zu ergeben, insbesondere wenn man hinzufügt, daß diese ,Welt als Vorstellung' geworden und im Werden ist. Der Perspektivismus liegt mithin als Maxime der in MA geübten historisch-genetischen Kritik an den menschlichen Illusionen und Irrtümern insofern zugrunde als diese Kritik im Sinne der Skepsis keine endgültige positive Erkenntnis der Wahrheit zu bieten vorgibt, sondern nur Erkenntnis der Erkenntnis, d. h. Einsicht in die notwendige Irrtümlichkeit der menschlich-allzumenschlich bedingten Perspektiven. — Im Vordergrund steht aber für MA die provokatorische These, daß alles ,Höhere', ,Sublimierte' aus einem .niedrigeren' Grundelement entstanden sei, mithin der Reduktionismus, und zwar vor allem als Psychologismus des .Moralisten', der sich genötigt findet, alle höheren Prätentionen der Menschen in das scheinbar primitivere Idiom des Egoismus und Egozentrismus zurückzuübersetzen.

II. ENGERE FASSUNG DES THEMAS

Mag die Forderung nach einer „Chemie der Begriffe und Empfindungen" sich auch zu der Forderung erweitern lassen, alles Menschliche Allzumenschliche und damit alles was wir auch nur erahnen, zu umfassen; der Akzent liegt in Μ A I auf den im Endparagraphen von Aphorismus 1 angegebenen Themenkreisen. Arbeitet das erste Hauptstück den Begriff dieser Chemie überhaupt heraus, indem er ihn auf unsere Vorstellungen von ersten und letzten Dingen bezieht, so skizzieren, in der von Nietzsche genannten Reihenfolge, das zweite, dritte und vierte Hauptstück „eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen"; das fünfte bis achte Hauptstück aber die Chemie „aller jener Regungen, welche wir im Groß- und Kleinverkehr der Kultur und Gesellschaft . . . an uns erleben" (16). Das 5. Hauptstück bietet nämlich eine Reihe über die „Anzeichen höherer und niederer Kulturzumal in Hinblick auf die Entwicklung des freien Geistes, die

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Studie zum 1. Aphorismus

aus den niederen zu den höheren Formen führt. Dem folgt als 6. Hauptstück ein Abschnitt über den Menschen, zumal den freien Geist, im Verkehr mit andern; ferner, als Sonderfall des Verkehrs im Kleinen, eine Reihe über „Weib und Kind." in Hinblick auf das Verhältnis des Freigeists zur Familie und auf seinen Verkehr mit Frauen (7. Hauptstück); und endlich ein Blick auf den Groß-Verkehr im Staat und auf das Verhältnis des Freigeists zum Staat (8. Hauptstück). Das 9. und letzte Hauptstück aber analysiert jene Regungen, welche wir „in der Einsamkeit an uns erleben" (16), in der der Freigeist trachtet aus der Verstellung zu sich selbst zu finden, sich aus dem Irrtum zu befreien. Durchaus erweisen sich, dabei die Formen der Täuschung—und Selbsttäuschung — als die das Gegebene gebende Macht: So ist etwa die Moral „Notlüge" (Μ A I, 57); so wird mit Nachdruck die Unwahrheit aller Religion betont (ΜΑ I, 102); so wird die Kunst als Illusion behandelt und gewürdigt, und allem „Poetenvolk" die „Lust an der Lüge" nachgeredinet (ΜΑ I, 140). Überhaupt erweist sich, daß die Kultur an die im gemeinsamen Glauben verfestigten und Instinkt gewordenen Irrtümer, als an ihr stabiles Element gebunden ist, wenn auch der Fortschritt, die Veredlung der Kultur, durch die „abartenden Naturen" (ΜA I, 184) erfolgt, welche — als Freigeister, als ,Entartete' — diese Gewißheit im Irrtum erschüttern, und so zu Umbildungen reizen. Und ebenso stellt sich der Verkehr der Menschen miteinander dar als durchaus bedingt durch die Verstellung, die Lüge — sei sie bewußt oder unbewußt; — denn das zur Schau getragene Motiv steht im Verhältnis der Umkehr zu der wahren Motivierung (vgl. etwa ΜA I, 236 ff.); und die Sphäre von „Weib und Kind" erweist sich, nach mancher Spiegelfechterei, als die zwar Leben tragende aber der Erkenntnis feindliche (siehe etwa ΜA I, 277 f.), wie denn auch Ähnliches vom Staat gilt, vor allem von der Politik, deren sich der Freigeist als einer Sphäre der „großen Al-fresco-Dummheiten" enthält, denn sein „Ernst liegt anderswo" 18 . Das Thema des letzten Abschnittes aber ist die Selbsterkenntnis, der Versuch der Aufhebung der Selbstverstellung, die Bemühung zu jener Wahrheit des Selbstseins zu kommen, die uns durch uns selbst, vor allem durch die zu Überzeugungen verfestigten Meinungen verstellt ist; und also der Versuch, durch Einsicht in die eigenen Irrtümer — als „edle Verräter aller Dinge" durch die Vernichtung aller Überzeugungen, denen man dennoch Gerechtigkeit widerfahren läßt (ΜΑ I, 355) — die Bewegung des freien, rastlos lebendigen Geistes zu leben, die, wenn sie auch nicht die Wahrheit erfährt, doch eine Befreiung von Gebundenheit im Irrtum — und zugleich auch eine Sublimierung des Irrtums — darstellt. Der Abschluß des ersten Aphorismus ergibt sich aus dem, dem Buch vorangestellten Ergebnis, daß audi in der Domäne der höher gewerteten Dinge, nämlich des höheren Lebens der Menschheit in Selbstbesinnung, gesellschaftlichem Verkehr, Kultur, in Kunst, Religion und Moral „die herrlichsten Farben aus niedrigen, 111

ΜΑ I, 280; siehe audi MA I, 310, und das, den Unzeitgemäßen {71, 200) entlehnte Ceterum censeo: „öffentliche Meinungen — private Faulheiten" (ΜΑ I, 311).

II. Engere Fassung des Themas

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ja verachteten Stoffen gewonnen sind" (16). Diese Einsicht aber, welche gewissermaßen das Um und Auf des Freigeists ist, — und als Metapher von jener „Chemie", die zu Nietzsches Zeit aus dem Urin die Anilinfarben gewann, den ganzen Aphorismus beherrscht", — widerstrebt den Menschen. In der späteren Umarbeitung des ersten Aphorismus fragt Nietzsche: „Wer hat Lust und Muth genug, solchen Untersuchungen zu folgen? [ . . . ] Jetzt, wo es vielleicht zur Höhe der erreichten Vermensdilichung selbst gehört, daß der Mensch einen Widerstand fühlt gegen die Geschichte seiner Anfänge, daß er kein Auge haben will gegen alle Art pudenda origo" ( / V 4, 165*)? Bezüglich jenes Denkens in „groben" und „viereckigen Gegenüberstellungen" (IV 4, 164 f.*), welches die religiöse und metaphysische Epoche beherrscht, bemerkt Nietzsche aber auch schon in den Notizen aus der Epoche von MA: „Dieselbe Manier zu denken, welche noch jetzt die große Masse bestimmt, ja audi den gebildeten Einzelnen, falls er sich nicht sehr besinnt, hat den sämmtlichen Phänomenen der Cultur zum Fundamente gedient"; aber wer will von dieser „partie honteuse" hören, welche „die ungeheuersten und herrlichsten Folgen nach sich gezogen" hat; wer will anerkennen, daß „auch die C u l t u r . . . ein pudendum zum Geburtsschooß [hat], wie der Mensch" 18 ! Da also die Menschen sich als Menschen fühlen und achten, indem sie sich die einzige, ihnen überhaupt zugängliche Wahrheit, nämlich die Erkenntnis ihrer Gebundenheit im Irrtum, aus dem Sinn schlagen und die „Fragen über Herkunft und Anfänge" (16) als Gefährdung ihres Menschtums ablehnen, mithin nichts vom Menschlich-Allzumenschlichen ihrer höheren Regungen wissen wollen, fragt es sich noch, ob man „nicht fast entmenscht sein [muß], um den entgegengesetzten H a n g in sich zu spüren" (16), oder deutlicher: „um in der umgekehrten Richtung [ . . . ] sehen, suchen, entdecken zu wollen" (7V 4,165*). Nietzsche meinte, — kurz nach dem Erscheinen von ΜΑ I —, es liege eine, wohl von niemandem verstandene „Ironie" in dieser Frage: „Muß man nicht entmenscht sein?" (IV 3, 420). Warum wohl? Weil Nietzsche sich mit dieser Wendung den Vorwurf selber aneignete, den ihm seine Freunde machten, als er sich aus einem kunstbegeisterten, deutsch-gesinnten .Idealisten', bzw. einem Jünger Schopenhauers und Wagners, in einen französisch-rationalistisch gesinnten Skeptiker, einen ,Voltairianer', oder gar in einen kalten Positivisten zu verwandeln schien? Oder liegt die Ironie darin, daß Einer, der sich dem Menschlich-Allzumenschlichen mit Verständnis nähern will, fast entmenscht sein muß, oder doch als unmenschlich gilt, indes in 17 18

Ich verdanke den Hinweis darauf Professor Hans Eichner (University of Toronto). IV 2, 500. — Für alles groß Gewordene gilt die These „pudenda origo" ( / V 4, 165*). Zwar „der Mensch hat die Neigung, für das Herkömmliche, wenn er Gründe sucht, immer die tiefsten Gründe anzugeben. Denn er spürt die ungeheuren segensreichen Folgen, so sucht er nach einer tiefen weisheitsvollen Absicht in der Seele derer, welche das Herkommen pflanzten. — Aber es steht umgekehrt; die Entstehung Gottes, der Ehe ist flach und dumm, das Fundament des Herkommens ist intellektuell sehr niedrig anzusetzen." (IV 2, 449).

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Studie zum 1. Aphorismus

Wahrheit die Metaphysik sich, — wie Nietzsche meint, — vom Menschlichen entfernte, und ein höheres Menschentum sich nur auf dem Wege der ,entmenschten' Betrachtungsweise und deren Ziel, wieder gute Nachbarschaft zu den nächsten Dingen zu gewinnen, erreichen läßt? Audi damit ist die Relevanz und Ironie der Wendung nicht erschöpft. Denn mit ihr erhebt sich zugleich die Frage nach dem Verhältnis des freien, um der Erkenntnis willen lebenden Menschen zu seiner Einsicht, daß Leben Im-Irrtum-befangen-sein heißt, — eine Frage mit der das erste Hauptstück abschließt. Und endlich steht im weiteren Hintergrund des Werks eine Überzeugung, die allerdings in MA noch nicht explicite verkündet wird: Denn Nietzsche zufolge bringt die historische Betrachtungsweise als furchtbarstes und fruchtbarstes Resultat das Wissen um die Härte, Illusionslosigkeit, Grausamkeit, ja — von unserer allzumensdilichen Warte aus gesehen, — um die Unmenschlichkeit mit sich, die zu jeder Steigerung des Menschen nötig ist 1 '. Wir haben zunächst bei der Analyse des ersten Aphorismus sehr weit ausgeholt, um seinen maximalen Geltungsbereich anzudeuten. Den engeren Interessenkreis, der diesem Text zugrundeliegt, umschreibt die Vorstufe des Aphorismus in den Notizen vom Frühling-Sommer 1877 ( I V 4, 164), wo lediglich von der „Chemie der moralischen, ästhetischen, religiösen Welt" und der reduktiven Ableitung ihrer „kostbarsten Dinge aus niedrigen verachteten Dingen" die Rede ist; das „Problem der Entstehung aus Gegensätzen" sowie dessen Lösung durch die These der Sublimierung — vornehmlich im Sinne der Subtrahierung oder Verflüchtigung mancher niedriger Ingredienzien — also eindeutig auf das Menschlich-Allzumenschliche der höchst bewerteten Kulturerrungenschaften (Moral, Kunst, Religion) bezogen wird*0. Dem Wortlaut nach wird, wie schon bemerkt, auch in der endgültigen Fassung des Aphorismus bloß eine Chemie des Kulturlebens ausdrücklich gefordert (vgl. 16). Jedoch gehört es zu der Eigentümlichkeit des vorliegenden Werks, daß es zwar den Hauptakzent auf die skeptische Analyse und Kritik spezifischer Kulturerrungenschaften verlegt, zugleich aber als Stadium auf dem Wege zu einer Umdeutung und Umwertung des Universums menschlicher Erfahrung überhaupt aufzufassen ist. Um aber den Zusammenhang zwischen dem engeren und dem weiteren Interessenbereich abschließend zu verdeutlichen, wollen wir nochmals die Umarbeitung aus den 80er Jahren heranziehen: Hier heißt es, die neue anti-metaphysische Philo" 10

Vgl. dazu IV 1, 171 (5 [ 1 9 4 ] ) , bzw. unten (Studie zum 2. Aphorismus), Seite 45 f. Das W o r t .Sublimierung* und die Auffassung der kulturellen Leistungen und Erfahrungen als Produkte der Sublimierung eines psychischen Grundelements, — e. g. der Libido und/oder der Aggression, — wurde in Freuds Lehre aufgenommen. In anderem Sinn verwendet Schopenhauer, der ja alle Phänomene als Modifikationen eines Grundelements — nämlich des .Willens' — auffaßt, das gleiche W o r t : So wenn nach Absterben sinnlicher Genußfähigkeit das Geld oder das Dasein in der fremden Meinung zu Ersatzobjekten einer unzerstörbaren Gier werden (also keine Verneinung des Willens zustandekommt): „ — dann hat sich im Geiz, oder in der Ehrsucht, der Wille sublimirt und vergeistigt, dadurch aber sich in die letzte Festung geworfen, in welcher nur noch der Tod ihn belagert. Der Zwedt. des Daseyns ist verfehlt." (Schopenhauer, op. cit., II, 1453).

II. Engere Fassung des Themas

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sophie — die „radikalste, die es bisher gegeben hat", die „an ein ,Αη-sidi' überhaupt nicht glaubt und folglich ebensowohl dem Begriffe .Sein' als dem Begriffe .Erscheinung' das Bürgerrecht verweigert", — führe zu der Ansicht, daß die „Fragestellung" — nämlich: bezüglich der Entstehung der Gegensätze auseinander •— „falsch" sei, da es „jene Gegensätze gar nicht giebt", „an welche die bisherige Philosophie . . v e r f ü h r t durch die Sprache und die in ihr gebietende N ü t z l i c h k e i t . . . der Vergröberungen und Vereinfachungen" geglaubt habe, weshalb es vorerst einer Chemie der Grundbegriffe bedürfe, die voraussetze, daß diese „geworden und noch werdend" seien. Um mit Gegenüberstellungen „wie ,egoistisch' und ,unegoistisdi', Begierde und Geistigkeit, ,lebendig' und ,todt', .Wahrheit' und ,Irrthum', ein für alle Mal fertig zu werden, bedarf es einer mikroskopischen Psychologie ebensosehr als einer Geübtheit in aller Art historischer Perspektiven-Optik, wie eine solche bisher noch nicht da war und nicht einmal erlaubt war. Philosophie, so wie ich sie will und verstehe, hatte bisher das Gewissen gegen sich: die moralischen, religiösen und ästhetischen Imperative sagten Nein zu einer Methodik der Forschung, welche hier verlangt wird. Man muß sich vorerst von diesen Imperativen gelöst haben: man muß, wider sein Gewissen, sein Gewissen selbst secirt haben . . . " Denn was es zu begreifen gelte, sei die „Historie der Begriffe und der Begriffs-Verwandlung unter der Tyrannei der Werthgefühle" (ZV 4, 164 f.*). Das Hindernis, das sich der genetischen, anti-metaphysischen Betrachtungsweise entgegenstellt, ist also der Widerstand, der von den ästhetischen, religiösen (bzw. metaphysischen) und moralischen Imperativen im Sinne des Schönen, des Wahren und Göttlich-Absoluten und — vor allem — des Guten ausgeht, die sich der Herrleitung des ,Hohen' aus dem ,Niedrigen', ja aller relativierenden und genetischen Betrachtung widersetzen, weshalb die Kritik und Uberwindung der Vorurteile im Sinne statischer, absoluter Postulate in diesem, spezifisch kulturellen Bereich, der das höhere Menschtum und seine Wertgefühle konstituiert, als die entscheidende Aufgabe zu gelten haben. Denn wenn dieser Widerstand überwunden ist, dann fallen auch die andern, unter der Tyrannei der Wertgefühle verfestigten und gewissermaßen nur subsidiären, als absolut gelten-wollenden Begriffe, ja alle Ansprüche auf irgendwelche dem Fluß des Werdens und der verändernden und veränderbaren Perspektivistik entzogenen Fiktionen des Absoluten, und geben den Blick für die „eigentliche Philosophie des Werdens" frei. Und ebendeshalb hat die Enthüllung des Menschlich-Allzumenschlichen unserer gesamten Welterfahrung mit der Aufdeckung des Menschlich-Allzumenschlichen in den metaphysischen Vorstellungen von ersten und letzen Dingen, sowie in Moral, Religion und Kunst einzusetzen, wie dies dem Aufbau von ΜΑ I entspricht.

STUDIE ZUM 2. APHORISMUS

2. ErbfehlerderPhilosophen. — Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, daß sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben ans Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen „der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein siihres Maß der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr als ein Zeugnis über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraums. Mangel an historisdiem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, daß der Mensch geworden ist, daß auch das Erkenntnisvermögen geworden ist; während einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnisvermögen sich herausspinnen lassen. — Nun ist alles W esentliche der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen 4000 Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben. Da sieht aber der Philosoph „Instinkte" am gegenwärtigen Menschen und nimmt an, daß diese zu den unveränderlichen Tatsachen des Menschen gehören und insofern einen Schlüssel zum Verständnis der Welt überhaupt abgeben können: die ganze Teleologie ist darauf gebaut, daß man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es gibt keine ewigen Tatsachen: so wie es keine absoluten Wahrheiten gibt. — Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nötig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.

I. Der Mangel an historischem Sinn

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I. DER MANGEL AN HISTORISCHEM SINN

1.

Illustrationen

Der zweite Aphorismus bezeichnet den Mangel an jenem historischen Sinn, der die — im 1. Aphorismus geforderte — genetische Wissenschaft und historisierende Philosophie auszeichnet, als „Erbfehler" der Philosophen. Wort und Begriff sind, gemäß dem Nietzsche eigenen Verfahren, als Analogie und Umkehrung zu dem metaphysisch-religiösen Begriff und Wort Erbsünde aufzufassen und spielen auf diese an. Die Erbsünde gilt als verursacht durch den Genuß vom überirdischen Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Der Erbfehler der Philosophen rührt, nach Nietzsche, daher, daß sie gewissermaßen immer noch an die Erbsünde glauben. Immer noch halten sie an der Fiktion einer überzeitlichen, metaphysischen Erkenntnis „des Menschen" fest, zumal an der vermeintlichen Erkenntnis der auf diesen ewigen Menschen bezogenen, absoluten, konstanten, moralischen Qualitäten, Gegensätze, Werturteile, — statt die Früchte vom Baum der geschichtlichen, bloß irdischen Erkenntnis zu pflücken, die lehren, daß Gut und Böse variabel, geworden und keine wahren Gegensätze sind, daß es „den Menschen" als aeterna Veritas oder konstante Größe ebensowenig gibt wie andere vorgeblich „ewige Tatsachen" oder „absolute Wahrheiten" (17). Wiederum ist zur Verdeutlichung des Texts die Umarbeitung aus den 80er Jahren 1 heranzuziehen. Sie lautet im Manuskript: „Bisher litten die Philosophen allesammt an dem gleichen Gebrechen, — sie dachten unhistorisch, widerhistorisch. Sie giengen vom Menschen aus, den [der Zufall] ihre Zeit und Umgebung ihnen darbot, [vor allem von sich] am liebsten sogar von sich und von sich allein; sie glaubten schon durch eine Selbst-Analysis zum Ziel zu kommen, zu einer Kenntniß „des Menschen". Ihre eigenen Werthgefühle (oder die ihrer Kaste, Rasse, Religion, Gesundheit) galt ihnen als unbedingtes Werthmaß; nichts war ihnen fremder und widerlicher als jene Selbstentsagung des eigentlich wissenschaftlichen Gewissens: als welches in einer wohlwollenden Verachtung der Person, jeder Person, jeder Personal-Perspektive seine Freiheit genießt. Diese Philosophen waren vorallererst Personen; jede sogar empfand bei sich „ich bin die Person selber", gleichsam die aeterna veritas vom Menschen, „Mensch an sich" [; was ich von mir weiß]. Aus dieser unhistorischen 1

Zur Datierung der letzten Umarbeitung ( — als Zwischenstufe erscheint die Version in He 1 (IV 4, 165 f.*) —) vgl. Fn. 1 zur Studie zum 1. Aphorismus. Die oben (innerhalb des Zitats) in eckige Klammern gesetzten Worte bezeichnen hier ausnahmsweise Nietzsches Streichungen.

Studie zum 2. Aphorismus

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O p t i k , die sie gegen sich selber übten, ist die größte Z a h l ihrer I r r t h ü m e r abzuleiten, — v o r allem der G r u n d i r r t h u m , überall das Seiende zu suchen, überall Seiendes vorauszusetzen, überall Wechsel, Wandel, Widerspruch mit Geringschätzung zu behandeln. [ D e r Philosoph als Ziel der Dinge, die Teleologie] Selbst unter dem Druck einer [ . . ] v o n der Historie beherrschten

C u l t u r (— wie es die deutsche

C u l t u r an der W e n d e des J a h r h u n d e r t s w a r ) [ . . ] w i r d sich der typische Philosoph mindestens noch als Ziel des ganzen Werdens, auf welches alle Dinge v o n Anbeginn ihre Richtung nehmen, präsentieren: dies [ . . ] w a r das Schauspiel, welches seiner Zeit Hegel d e m erstaunten E u r o p a b o t " ( / V 4,166

f.*).

D i e f ü r den Aphorismus wichtigste U m k e h r s t r u k t u r ergibt sich daraus, d a ß Nietzsche die entgegengesetzte Tendenz verfolgen will wie alle bisherige Philosophie, insofern diese nichts d a v o n wissen wollte, d a ß der Mensch samt seinem Erkenntnisvermögen u n d seiner gesamten Lebens- u n d W e l t e r f a h r u n g geworden und „noch völlig im Werden"

(29) ist. U n d d a m i t widerspricht Nietzsche seinem eigenen

f r ü h e r e n Antihistorismus in der zweiten Unzeitgemäßen

Betrachtung,

wie übrigens

auch die späte Fassung — , siehe den (charakteristischerweise v o n Nietzsche durchgestrichenen) selbstkritischen Zusatz „ [ w a s ich v o n mir w e i ß ] " , — sich noch mit dem eigenen, naiv egozentrischen H a n g zur .Verewigung' des eigenen Ich auseinandersetzt. Z u d e m w i r d das Verhalten der bisherigen Philosophen als in sich widerspruchsvoll dargestellt. G e r a d e sie, die im Sinne der, das W e r d e n verleugnenden Metaphysik den Menschen schlechthin betrachten wollen, verabsolutieren ephemere Eigenschaft e n des „gegenwärtigen Menschen" (16). I n d e m sie sich u n d ihresgleichen als den Mensdien a n sich ausgeben, unterliegen sie, unkritisch-ahnungslos, der menschlich allzumenschlichen Egozentrik von subjektiven, individuellen u n d kollektiven L o k a l Perspektiven. D i e vorgeblich universalen, zeitlosen W a h r h e i t e n erweisen sich als beschränkte, zeitbedingte Vorurteile. W e n n aber auch „alle P h i l o s o p h e n . . . v o m gegenwärtigen Menschen ausgehen u n d durch eine Analyse desselben ans Ziel zu k o m m e n m e i n e n " , — daher aber nur „Zeugnis [geben] über den Menschen eines sehr beschränkten

Zeitraums" (16) „und vielleicht eines noch beschränkteren [ . . ]

E r d - W i n k e l s " , e. g. über die „Gestaltung des europäischen Menschen"

(/V

4,

166*), — so w e r d e n in d e m vorliegenden T e x t u n d den späteren V a r i a n t e n doch Unterschiede hinsichtlich der G r a d e u n d Formen der Selbsttäuschung angedeutet. So gilt Manchen „als feste Form, v o n der m a n ausgehen müsse", „ s o g a r . . . die allerjüngste Gestaltung des Menschen", „wie eine solche u n t e r dem Eindruck bestimmter Religionen, j a " u n t e r der zeitlich noch begrenzteren W i r k u n g „bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist" (16). — D i e A n w e n d u n g auf das Christentum, i m besonderen auf den Protestantismus, als Macht, welche sowohl die Perspektiven philosophischer Betrachter wie auch die Erscheinungsformen des Menschen, die ihre O b j e k t e sind, bestimmt, ließe sich reichlich in ihrer Steigerung bis z u r gellenden Polemik des Spätwerks belegen. „ U n t e r Deutschen", heißt es später etwa, „versteht

I. Der Mangel an historischem Sinn

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man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist Großvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihr peccatum originale" (77, 198). Audi gilt ja, schon dem 2. Aphorismus zufolge, daß alle bisherige Philosophie und ihr Erbfehler auf das, in den historisch bedingten Religionen verankerte, antihistorische Vorurteil der metaphysischen Betrachtungsweise zurückzuführen ist. Ebenso ließen sich einzelne Denker anführen: e. g. Schleiermacher, dessen Auffassung des ewig-menschlichen religiösen Gefühls als einer jener vom „gegenwärtigen Menschen" abgeleiteten „Instinkte" (17) gelten könnte; oder auch die Gesamtrichtung des deutschen Idealismus, und nicht nur diese: „Fichte, Schelling, Hegel, Feuerbach, Strauß — das stinkt alles nadi Theologen und Kirchenvätern" (82, 239); „Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher . . . [und ebenso] Kant und Leibniz; es sind alles bloße Schleiermadier" (77, 395 f.). Die späteren Formulierungen entsprechen einer heftigeren Polemik. Auf die Optik der deutschen Idealisten zielt aber audi ΜΑ I ab. Und wenn nun zum Einfluß der Religion noch der von politischen Ereignissen hinzugerechnet wird, so dürfte man z . B . audi an Aspekte der „von Staats wegen geförderten und auf Staatszwecke es absehenden" Hegelsdien Philosophie denken, „deren Apotheose des Staats" in einer, Nietzsche nach wie vor verhaßten „Unterordnung" des Einzelnen und aller Bildungsbestrebungen „unter Staatszwecke" des aufstrebenden Preußen „ihren Gipfel erreicht" (71, 461), da Hegel die Unterordnung zugunsten des Staates dem Menschen schlechthin als dessen höchste Bestimmung zuschreibt. Auch könnte Nietzsche das Beispiel des Einwirkens der französischen Revolution, der napoleonischen Ära und insbesondere der Befreiungskriege auf die Philosophie Fidites vorschweben, der zugleich, — nämlich: im nächsten Satz unseres Aphorismus, — als Repräsentant jener extremen Idealisten gelten darf, die „sogar die ganze Welt aus . . [dem] Erkenntnisvermögen sich herausspinnen lassen" (16 f.), als sei dieses der Veränderung unterworfene Produkt einer langen Entwicklungsgeschichte eine absolute Konstante. Im zweiten Abschnitt des Aphorismus wird die Widersprüchlichkeit einer Interpretation, die auf den Menschen an sich abzielt und dabei rezente Züge als die ewigen auffaßt, nochmals betont und zwar durch die These, „daß alles Wesentliche der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen" ist (17). Denn diese „ungeheuren Entwicklungsstrecken der Menschheit" (26), die über unseren Werdegang Aufschluß geben könnten, liegen für uns im Dunkel und werden von den Philosophen ignoriert. Hingegen beziehen diese ihr Menschenbild auf jene, uns ungefähr bekannten vier Jahrtausende, in denen sich allerdings „der Mensch nicht viel mehr verändert haben" mag (17). Wird aber damit dem Gegner nicht doch etwas mehr als die Winkelperspektive seiner Gegenwart, nämlich immerhin ein Bewußtsein der geschichtlichen Epoche konzediert? Oder will Nietzsche nur daran erinnern, daß auch die „sogenännte Welt-

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Studie zum 2. Aphorismus

geschichte"2 nur ein „lächerlich kleiner Ausschnitt des menschlichen Daseins" und „im Grunde" nur „ein Lärm um die letzten Neuigkeiten" ist (73, 23 f.)? Allerdings scheint Nietzsche nun ein Geschichtsbewußtsein vorauszusetzen, aber nur um zu betonen, daß auch dieses den Erbfehler der Philosophie nicht hat korrigieren können, da eben die geringfügige Veränderung des Menschen innerhalb der geschichtlichen Epoche es den Philosophen ermöglicht hat, an der Fiktion des ewigen Menschen festzuhalten. Ein MißVerständnis wäre es aber, wenn man aus Nietzsches Betonung der Bedeutung vorgeschichtlicher Epochen darauf schließen wollte, daß er die Kenntnis der uns zugänglicheren Geschichte für überflüssig hält. Vielmehr meint er, daß es ihrer ebenso wie der Kunde von zurückgebliebenen Völkern „in Verbindung mit der Thiergeschichte" (IV 2, 506) bedarf, um die Selbstbeobachtung und die Betrachtung der Gegenwart zu ergänzen, damit die Menschheit sich ihres Entwicklungsgangs möglichst bewußt werde und auch die in uns nur noch unbewußt weiterwirkenden, von der modernen Vernunft nicht mehr anerkannten, aber immer noch mitspielenden, archaischen Motive in ihr Selbstverständnis einbeziehe. Was Nietzsche will und was er kritisiert, läßt sich wiederum am besten an dem Beispiel der Erklärung des ,Moralischen' — des für Nietzsche wichtigsten Anwendungsbereichs der historischen Methode — verdeutlichen: Ausgehend von dem jüngsten Stand der moralischen Empfindung, der die Verleugnung des Egoismus verlangt, stellt man, meint Nietzsche, „egoistisch und unegoistisch wie unmoralisch und moralisch" einander gegenüber, vergißt dabei, daß unser moralisches Gefühl die jüngste Phase einer durch „zahlreiche Stufen, durch Einflüsse von Philosophie und Metaphysik, von Christentum" bedingten Entwicklung darstellt, welche sich daher „durchaus n i c h t . . . [dazu] benutzen [läßt], um den Ursprung des Moralischen zu erklären"; und übersieht obendrein die Möglichkeit, daß „unegoistisches Handeln zwar ein uns geläufiger Begriff", aber vielleicht nur eine scheinbare Tatsache sein könnte, daß sich das Mitleid vielleicht auf den Egoismus zurückführen läßt, „ebenso wie es wahrscheinlich keine Thaten der Bosheit an sich, des Schädigens ohne Grund gibt". „Das Reich des Moralischen ist vor allem das Reich des Sittlichen gewesen, man nannte aber den „guten Menschen" durchaus nicht zu allen Zeiten den, welcher die Sitte unegoistiscber Handlungen, das Mitleiden und dergleichen hatte, sondern vielmehr den, welcher überhaupt den Sitten folgte. Ihm stand der böse Mensch, der ohne Sitte (der unsittliche) gegenüber." (IV 2, 534) s . Woher kommt es jedoch, daß gerade die Philosophen sich derlei Erwägungen verschlossen haben? Charakteristisch für das Verhalten der Philosophen, meint Nietzsche, war, daß sie, um „Maximen" zu machen und „Allgemeines" vom Menschen auszusagen, alles mißachteten, was dazu geeignet ist, eine Aussage zu relativieren, e. g. sie auf bestimmte Epochen oder Gesellschaftsklassen zu beschränken (IV 2, 506), mithin auch die Evidenz der in unserem Kenntnisbereich liegenden Ge2 5

So schon 70,129. Diese Überlegungen führen direkt zu dem Ansatz der

Morgenröte.

I. Der Mangel an historischem Sinn

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schichte verfälschten. Der in Analogie zu unserem Text „Eine Erbsünde der Philosophen" betitelte 5. Aphorismus der VM statuiert: „Die Philosophen haben zu allen Zeiten die Sätze der Menschenprüfer (Moralisten) sich angeeignet und

verdorben

dadurch, daß sie dieselben unbedingt nahmen und das als notwendig beweisen wollten, was von jenen nur als ungefährer Fingerzeig oder gar als land- oder stadtsässige Wahrheit eines Jahrzehends gemeint w a r . . . " Und zu dieser These liefern die „berühmten Lehren Schopenhauers", vor allem die Verallgemeinerung des „Willens", das Exempel. In ähnlicher Absicht heißt es anderwärts: „So verweist Schopenhauer, um zu zeigen, daß das Leben einen moralischen metaphysischen Zweck habe, darauf, daß am Ende des Lebens man sich um seine moralischen Qualitäten bewußt werde — als ob ein solches Gefühl, wenn es jetzt wirklich allgemein existirte, irgend etwas anderes beweisen könnte als daß durdi bestimmte Meinungen und Glaubenssätze die Menschen sich gewöhnt haben, in der Nähe des Todes an ihre Sünden zu denken: das heißt: eine solche Thatsache, wie sie Schopenhauer hinstellt, beweist, daß gewisse metaphysische Vorstellungen existiren und existirt haben, nicht aber, daß sie wahr sind. Nun kommt dazu, daß es eine zeitlich sehr begrenzte Thatsache ist und daß ζ. B. im Alterthum man sehr oft, ohne an Sünden zu denken, starb". Wobei allerdings auch noch gilt, daß selbst wenn Schopenhauers Beobachtung auf „alle Perioden der Menschheit und für jeden Menschen" zuträfe, sie doch nichts für den behaupteten metaphysisch-moralischen Zweck des Lebens bewiese ( / V 2, 506). Von besonderer Bedeutung für Nietzsches Polemik ist bei all dem die These, daß die ahistorische Betrachtungsweise die Basis zu einer metaphysischen Teleologie liefert. Im Drudemanuskript des 2. Aphorismus hieß es: „Da sieht aber der Philosoph „Instincte" am gegenwärtigen Menschen und macht darauf Schlüsse über das Wesen der Welt (wie Schopenhauer)" (IV 4, 167). Der Philosoph irrt: 1. indem er gegenwärtig wirksame Tendenzen, Bedürfnisse, Motive für ewig-menschlich hält; 2. indem er aus der scheinbaren Zweckmäßigkeit dieser Phänomene auf eine ihnen entsprechende ewige Einrichtung der Welt schließt. E. g. er glaubt, daß der Mensch an sich ein metaphysisches Bedürfnis habe (statt ein derartiges Bedürfnis an manchen Menschen der Gegenwart festzustellen); und er meint ferner, daß diesem ewigen metaphysischen Bedürfnis eine dieses Bedürfnis befriedigende metaphysische Sphäre entsprechen müsse4. Nietzsche deutet an, daß der Philosoph schon unbesonnen verfahren mag, wenn er etwa manche (e. g. psychische) Mechanismen, welche er an sich oder seinen Zeit4

Zur Diskussion des von Schopenhauer statuierten metaphysischen Bedürfnisses, vgl. unten, Seite 110, 170, 184, 323· ff., etc.; sowie den Kommentar zu Apho 27. — Wiederum in anderer Hinsicht gilt Schopenhauers Lehre Nietzsche als „eine verkappte Teleologie . . . eines bösen und blinden Wesens" (82, 226). Vgl. ferner auch Schopenhauers Meinung, daß „der Instinkt" (der Tiere) „die beste Erläuterung" zur „Teleologie" (der Natur) hergebe (op. cit. I, 230), sowie das 26. Kapitel („Zur Teleologie") im 2. Teil der Welt als Wille und Vorstellung, u. a. m.

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Studie zum 2. Aphorismus

genossen beobachtet, sogleich zu ,Instinkten' erhebt; mögen doch — um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen — derlei Mechanismen zum .Instinktiven' selbst des gegenwärtigen Menschen nur insofern gehören, als sie ihm, — wie etwa dem Virtuosen seine Technik, — innerhalb eines sehr beschränkten Zeitraums und unter dem Eindruck spezieller Anforderungen eingedrillt und zur Gewohnheit geworden sind, so daß sie nur eine kleine Weile lang, ohne Bewußtsein zu erfordern, selbsttätig wirken. Jedoch weder diese Überlegung noch die, — oben angeführte, — auch für die Annahme von Instinkten relevante Kritik an dem Begriff der „Triebe"5 ist hier entscheidend; spricht doch Nietzsche selbst, allerdings in einer ihm akzeptablen Bedeutung dieser Termini, ebenso wie von Trieben, häufig audi von Instinkten*. Entscheidend ist vielmehr, daß, selbst wenn man die bloße Feststellung der von den Teleologen postulierten Instinkte konzedierte, damit für die Teleologie nichts gewonnen wäre. Denn die Tatsache, daß diese Instinkte zielgerichtet sind und als zweckmäßig erscheinen, ohne von einem Zweckbewußtsein geleitet zu werden, berechtigt durchaus nicht zu der Annahme, daß sie „einen Schlüssel zum Verständnis der Welt überhaupt abgeben können" (17). In einer relativ frühen, — von Bäumler 1872 datierten — Notiz meint Nietzsche, die „entsetzliche Konsequenz des Darwinismus"7, sei die Inkonstanz aller von uns verehrten und für ewig gehaltenen Qualitäten. „Mit den Instinkten kommt man keinen Schritt weiter, um die Zweckmäßigkeit zu erklären. Denn eben diese Instinkte sind bereits das Erzeugnis endlos lang fortgesetzter Prozesse" (82, 64). Zu Unrecht glaubt also der metaphysisch gesinnte Teleologe an unveränderliche Instinkte, zu Unredit an ein unveränderliches Wesen der Welt, und doppelt zu Unredit daran, daß unveränderliche Instinkte und unveränderliches Wesen der Welt so aufeinander abgestimmt sind, daß man aus den Instinkten das Wesen der Welt und das Wesen des Menschen ablesen könne. Denn einerseits sind die festgestellten Instinkte häufig nur die des Menschen der Gegenwart oder der letzten vier Jahrtausende und keinesfalls sind sie die eines ewigen Menschen, „zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben"; und anderseits ist audi die Welt, sind auch die Zielpunkte, auf welche sich die Instinkte beziehen, im Fluß. „Alles . . ist geworden" (17). Der Satz, daß es „keine ewigen Tatsachen" gibt, ist das Korrelat zu dem Satz, daß es keinen ewigen Mensdien gibt. Der Mensch als Maß, womit wir messen, ist veränderlich (vgl. 44), ebenso wie das, was mit diesem Maß gemessen werden soll, „weshalb es audi keine ewigen Wahrheiten gibt" (IV 4,166*). 5 6

7

Vgl. Studie zum 1. Aphorismus, Fußnote 10; oben, Seite 12. Vgl. Öehler („Trieb", „Instinkt") und insbesondere die Definition: „Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urteil (Geschmack in seiner untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht. Es hat sein Wachstum für sich und folglich auch seinen nach außen stoßenden Tätigkeitssinn* (83, 49). „den ich übrigens für wahr halte" (82, 64).

I. Der Mangel an historischem Sinn

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Der letzte Abschnitt des 2. Aphorismus enthält als Anspielung überdies auch schon, was die Umarbeitung der 80er Jahre nur verdeutlicht: nämlich eine Kritik an der spezifischen Geschichtsteleologie Hegels (und also nicht bloß an — im engeren Sinne — politisch bedingten Aspekten seiner Lehre). D. h. der Aphorismus wendet sich zuletzt gegen eine Philosophie, die zwar, — wie Nietzsche sie auffaßt, — an einem ahistorischen Prinzip (einem ewigen, i. e. überzeitlichen, metaphysischen Wesen und An-sich, an der „Idee", an einem „Zwecke.., den ein Weltgeist zu erfüllen habe" (83, 317)) festhält, so daß man von ihr behaupten kann, sie mißbraudie die Historie; die ferner das historische Werden einschränkt, da ihr als dessen Ziel, — wie Nietzsche meint, — der gegenwärtige Mensch, ja der gegenwärtige Philosoph gilt 8 ; — die aber keineswegs in derselben Weise unhistorisch ist wie jene Spekulationen, welche, nach Art der Schopenhauerschen Lehre*, von einer historischen Entwicklung des Menschen überhaupt absehen. In der Umarbeitung der 80er Jahre wird ebendies hervorgehoben. Denn wenn da behauptet wird, daß „selbst unter dem Druck" des historischen Bildungsideals und Kulturbewußtseins der Philosoph sich „mindestens noch" seinen, — von der imponierenden Absurdität dieses Schauspiels erstaunten — Zeitgenossen als telos des Werdens präsentiere (IV 4,167*), so erscheint Hegels Philosophie gewissermaßen als der letzte Versuch, das alte metaphysische Vorurteil in eine Epoche hinüberzuretten, die schon von dem alles relativierenden, alles in den Fluß der Entwicklung auflösenden Historismus ergriffen ist. Die weitere Steigerung dieser Relativierung und Historisierung zeichnet jedoch unser eigenes „Zeitalter der Vergleichung" (Apho 23) aus, das über jenes limitierte Geschichtsbewußtsein noch hinausgeht und radikal auf alle statisch-metaphysischen Atavismen verzichten muß. Zugleich liegt auch hier ein generelleres Argument zugrunde, das sich nicht bloß gegen Hegel richtet, sondern, im Sinne von Burckhardt10, gegen Hegel als den. eklatantesten Vertreter der bisherigen „Geschichtsphilosophie" überhaupt. Für diese gehören zwar die von ihr postulierten Abläufe sowie deren angebliche Richtung und prätendiertes Ziel zum integralen Bestand philosophischer Reflexion. Jedoch von dem „historischen Sinn", der sich hier betätigt, besagt schon eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1873, es schwebe ihm ein „Endzweck" vor, er sei nur „verkappte Theologie" (83, 317), wie ja auch Burckhardt bezüglich des Produkts; dieses Denkens bemerkt, Hegel gebe „seine Betrachtung als eine Theodizee" aus. Damit berühren wir nun wieder die unserem Aphorismus implicite Auffassung; des Erbfehlers der Philosophen als Nachwirkung des religiös-metaphysischen Glaubens an Sündenfall und Erbsünde. Denn aus diesem entwickelt sich auch der Glaube: 8 Siehe oben, Seite 28. • Vgl. oben, Seite 6; ferner zur Abwertung der Geschichte bei Schopenhauer auch, op. cit.» I, 253 f. 10 Vgl. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (mit Nachwort und Anmerkun-' gen von Rudolf Marx) (Alfred Kroener Verlag: Leipzig; ohne Datum;KroenersTaschenausgabe Band 55), Seite 4 f. Hinfort zitiert als BuWB.

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Studie zum 2. Aphorismus

an einen Heilsplan, demgemäß sich das Schicksal des Menschengeschlechts in der gefallenen, zeitlichen (i. e. historischen) Welt abspielt, wobei man an die von Burckhardt nur vorsichtig im Zusammenhang mit der westlichen Gesdiichtsphilosophie erwähnte, — im Sinne Nietzsches aber wohl als Vorbild derselben aufzufassende, — religiöse Geschichtsübersicht Augustins denken mag, welche die Menschengeschichte, als Schauplatz des Kampfes zwischen der civitas dei und der civitas terrena oder diaboli, auf metaphysische Mächte und auf den göttlichen Ratschluß zurückführt. Die „Historie" als „verkappte christliche Theodicee" ist aber schon dem früheren Nietzsche auch darum ein Ärgernis, weil sie „als Opiat gegen alles Umwälzende und Erneuernde gedient hat", hingegen Geschichte „mit mehr Gerechtigkeit und Inbrunst des Mitgefühlts geschrieben" zu einem „furchtbaren Werkzeug der Revolution" würde (IV 1, 17, 306). Im Gegensatz zu den Meisten, die aus der Geschichte nur den Glauben beziehen wollen, „daß alles sehr gut sei, so wie es nun einmal gekommen ist" (IV 1, 306), — wie sie ja auch aus der Philosophie „nichts andres lernen wollen als die Dinge ungefähr zu verstehen, um sich dann in sie zu schicken" (7V 1, 306), — hält Nietzsche nämlidi in dem hier zitierten Abschnitt aus der Bayreuther Festschrift den „Ruhesüchtigen und Trägen" die Aufgabe entgegen, „mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen" (IV 1, 17). — N u n könnte man einwenden: diese Meinung sei wohl nur f ü r die Betrachtung über Wagner charakteristisch, wo sie sich mit dem Ausblick auf eine künftige, quasi klassenlose Volksgemeinschaft, fast auf einen nationalen Sozialismus verbinde (um am Ende doch der — Wagnerschen — Hoffnung auf Eindämmung der Revolution „in das Bette des ruhig fließenden Stromes der Menschheit" Ausdruck zu geben (vgl. IV 1, 76; IV 4,155)). Jedoch so wenig die, — übrigens vieldeutig-nebulose, — politische Ideologie dieser Betrachtung manchen, — audi nicht gerade präzisen, — politischen Apercus von Μ Α entsprechen mag: die Opposition gegen den Quietismus, nämlich gegen die Neigung, sich in einen, angeblich gottgewollten oder sonstwie von höherer Macht verfügten Gang der Geschichte zu schicken, bleibt für Nietzsche bezeichnend. Und also führt von dieser Polemik gegen die quasi-theologische, quietistische Geschichtsauffassung ein direkter Weg zu den aktivistischen ,Aufklärungsaphorismen' des Ersten Hauptstücks 11 , sowie zu den, auf zukünftige Gestaltung (Erziehung, Züchtung) der Menschheit bezogenen Forderungen des Spätwerks 18 . 11 12

Siehe unten, Seite 240 f. Daß mit diesem Hinweis das Thema nicht erledigt, sondern nur eben erst angedeutet ist, versteht sich. Denn Nietzsche weiß ja sehr wohl, daß aus dem Glauben an ein Fatum und aus dem amor fati (siehe Oehler, „Fatum, Fatalismus„Amor fati", „Schicksal") sehr verschiedene Haltungen sich ergeben mögen (vgl. etwa auch Μ Α II, 153 f.); kann doch, zum Beispiel, wie die Historie lehrt, der Glaube an ein — von Gott, Weltgeist, immanentem ,Gesetz' der Geschichte — determiniertes Fatum (eines Volkes, einer Rasse, einer Klasse oder der Menschheit überhaupt) sehr wohl auch als Stimulans zur Umwälzung oder zur Veränderung des Veränderbaren dienen. Es wäre daher weiter nach jenen

I. Der Mangel an historisdiem Sinn

2. Personalperspektive,

Egozentrik

und

35

Selbstbescheidung

Die Spielarten und Modifikationen innerhalb der gemeinsamen ahistorischen Tendenz, wie wir sie hier unter Hinweis auf Nietzsches Auffassungen des deutschen Idealismus, der metaphysischen Teleologie, der Geschichtsphilosophie Hegels etc. zu skizzieren versuchten, lassen sich im Zusammenhang mit dem Text des 2. Aphorismus erschließen, aber gewiß nicht aus diesem Text ablesen. Audi das Themengeflecht und die Problematik, die sich aus der Beschränktheit aller bisherigen philosophischen Menschenbetrachtung, d. h. aus dem Befund der .Personalperspektive' und der Egozentrik ergeben, werden, — so wichtig und charakteristisch der Nachweis des sublimierten Egoismus in allen Kulturerscheinungen im Zusammenhang von MA ist, — in der ursprünglichen Fassung unseres Textes nicht weiter verfolgt. Radikaler verfährt hierin die Umarbeitung der 80er Jahre13. Und auch im ersten Hauptstüdt des Jenseits, das von den „Vorurteilen der Philosophen" handelt, bleibt Nietzsche nicht bei der bloßen These des 2. Aphorismus von MA stehn, sondern unternimmt es, mittels polemischer Charakterisierungen und Analysen einer Reihe von divergierenden Philosophien, zu demonstrieren, wie die Philosophen unter der Prätention auf unpersönliche Wahrheit oft von „Froschperspektiven" und allemal von sich, von ihren persönlichen und zeitbedingten Problemen ausgehen (76, 9 ff.), was übrigens nahelegt, daß, ebenso wie der erste Aphorismus von MA auch der zweite, zumindest was einen seiner Hauptgedanken angeht, im Jenseits verarbeitet wurde. Aus dem Befund der Personalperspektivistik aller bisherigen Philosophie ergibt sich aber audi die Frage nach der Bedingtheit jeder Sicht. Die Auskunft lautet wohl zunächst: Man müsse sich, um möglichst wenig lokal und zeitbeschränkt zu denken, ein möglichst umfassendes historisches Bewußtsein aneignen. Und dazu sei nicht nur nötig, — wie Goethe und nach ihm der gebildete Deutsche einer von der Historie beherrschten Kultur (IV 4,167*) forderte, — sich von „dreitausend Jahren" Rechenschaft zu geben14, sondern bedürfe es auch der Kenntnis der archaischen VorGründen zu fragen, mit denen Nietzsche die offenen sowie die verkappten (säkularisierten) Theodizeen (e. g. den liberalen und/oder sozialistischen Fortschrittsglauben) auch dann ablehnt, wenn diese Ideologien nidit zum Quietismus führen. — I m Zusammenhang mit dem Ersten Haupstück aber, wäre wohl zu erörtern, wie sich .die ,aktivistische' Haltung mit der, zu Ende der Reihe empfohlenen, kontemplativen Gesinnung des Freigeists vereinen lasse, obschon man sich zunächst mit dem Bescheid begnügen mag, daß der schöpferische Einsatz für die relative (Verbesserung' der Welt nicht notwendig in Widerspruch steht zu der alles in sich begreifenden und audi die eigenen Zielsetzungen überspielenden — .kontemplativen' — Uberzeugung von der Bedingtheit und Beschränktheit jeder Parteinahme und Einsicht. 13 14

Siehe oben, Seite 2 7 f. So ist — vielleicht mit Anspielung auf Goethes W o r t (siehe Divan, Buch des Unmuthes) — audi im Druckmanuskript des 2. Apha nodi vom Menschen der letzten „drei Jahrtausende" die Rede (IV 4, 167).

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Studie zum 2. Aphorismus

geschichte und endlich der Bewußtmachung der eigenen, historisch-sozio-psychischen Bedingtheit, um gewissermaßen auch die Relativität und Subjektivität des eigenen Kalküls noch in dieses einzubeziehen. Jedoch auch diese Antwort reicht nicht aus. Denn, — da sowohl das Erkenntnisvermögen wie alles, was sich diesem bietet, im Fluß ist, mithin jede Erkenntnisperspektive .relativ', e. g. sozio-psydio-physiologisch, raum-zeitlidi etc. bedingt und beschränkt ist, — gerät man anscheinend zuletzt doch wiederum auf den PanPerspektivismus, mithin zum Verzicht auf ,die' Wahrheit, oder zur Leugnung ihrer Möglichkeit, bzw. zu der Auffassung des späten Nietzsche, daß alle .Wahrheiten* oder ,Erkenntnisse' zu einem Genre von — wohl lebensnotwendigen — Fiktionen gehören 15 . Damit wird nun das Streben nach möglichst umfassenden Perspektiven nicht aufgegeben ( — vielmehr wird die Spannweite einer schöpferischen Perspektive zu einem Kriterium ihres ,Wahrheitsgrades' — ) , zugleich aber qua ErkenntnisStreben doch subordiniert, oder — wenn man so will — in einer Weise um-definiert, daß dieses Streben als ancilla oder Funktion einer übergeordneten Instanz — nämlich: der Vitalität — , bzw. als Ausdruck einer Kraft erscheint, die quasi jenseits von wahr und unwahr ist; obschon man auch sagen kann: Das Streben nach Erkenntnis (nach .Wahrheit') — nach umfassenderen Vitalperspektiven — sei gar nichts anderes als eben der Ausdruck der Vitalkraft, nämlich des Willens zur Macht1®. — 15

18

Es versteht sidi, daß derlei Feststellungen hier und im Folgenden nidit als Thesen zum .Wahrheitsproblem' gemeint sind, sondern lediglich als Andeutungen von möglichen Gedankenbahnen, die innerhalb des Bereichs von Nietzsches Hypothesen liegen. Damit sind wir, — nicht zufällig, da ja immer wieder gezeigt werden soll, wie die Problemstellungen von MA zu denen des Spätwerks hinführen, — wiederum bei — schon mehrfach berührten — ,letzten Fragen' Nietzsches. E. g.: Wie läßt sich der Glaube an das Werden als Wirklichkeit mit einem aus ebendiesem Glauben ableitbaren, radikalskeptischen Pan-Perspektivismus vereinen, der jede Ansicht, — mithin auch den heraklitistischen Glauben an den Fluß des Werdens — als perspektivistische Illusion auffassen müßte? Und ferner: Wie lassen sich die Vital-Ideale und Entwicklungsziele des späteren Nietzsche in Anbetracht sowohl des Heraklitismus wie des Pan-Perspektivismus legitimieren? Allein durch schöpferische Willkür? — Oder bedürfen diese Ideale und Ziele des Heraklitismus und des skeptischen Pan-Perspektivismus als Vorstufen und Voraussetzungen, wie man etwa in einer Demokratie des Notstands zur Ermächtigung diktatorischer Erlasse bedarf? — Was sich im Spätwerk darstellt, ist Subordinierung, oder besser: Redefinition des Erkenntnis-Strebens aus der Perspektive der Kunst und des Künstlers, d. h. des Schöpferischen (mithin die Auffassung des Erkenntnis-Strebens als Kunst-Trieb, als ein Wille zum Zurecht-Machen und Schaffen), sowie die Betrachtung der Kunst unter der Perspektive des Lebens (siehe die Vorrede zur GdT; 70, 32). Anders gesagt: was im Spätwerk wiederum —, wie im Frühwerk, — vorherrscht, ist der Glaube daran, daß die Hauptsache nicht etwa die Erkenntnis der .Wahrheit' sei, sondern Erziehung, Bildung, Züchtung, Hervorbringung von Wesen, in deren Lebens-Stil schöpferische Kultur und intensive Vitalität kulminieren. — Dabei sollte man aber nicht übersehen, daß auch im mittleren Werk der Erkenntnis-Trieb als Mittel zur Steigerung des Menschen von Nietzsche (wie einst von Lessing) viel höher eingeschätzt wird als jeder mögliche (und doch nur vorgebliche) Besitz der Wahrheit; und daß anderseits Nietzsche audi im Spätwerk diesen Erkenntnis-Trieb nicht bloß entwertet sondern ihn, wie gesagt, als ein Symptom der — aufsteigenden oder dekadenten — Vitalität, bzw. als Manifestation des Willens zur Macht auffaßt.

I. Der Mangel an historischem Sinn

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Ebenso wie aus dem Befund der Personalperspektive, ergeben sich aus dem der Egozentrik Verbindungslinien, die vom 2. Aphorismus zum Spätwerk führen. Zunächst sieht man nur den Widerspruch zwischen der offenbar alles historisierenden, alles relativierenden Skepsis und scheinbar anti-egozentrischen Gesinnung von MA und den späteren, anscheinend sub specie aeterni aufgestellten, unbedingten Postulaten im Sinne eines zuhöchst gesteigerten ,Egoismus'. Aber auch der spätere Nietzsche meint ja nicht, daß menschlich-allzumenschliche Befangenheit in Illusionen den Einzelnen zu dem von ihm geforderten Über-Egoismus qualifiziere; sondern daß zu diesem im Grunde nur der von Illusionen befreite Über-Mensch befähigt sei. Was der späte Nietzsche bejaht, ist nicht die Egozentrik derer, die zwar eine außerhalb ihrer selbst gegebene Stütze suchen, dabei aber ihre eigenen Bedürfnisse, Vorurteile, Gedanken auf ein präsumptives Wesen der Dinge projizieren, um sich mit diesem zu verwechseln. Sondern er bejaht die Egozentrik von Geschöpfen, die stark genug, keiner Stützen außerhalb ihrer selbst zu bedürfen; und stark genug, keine Selbsttäuschung zu betreiben, indem sie ihren Willen mit einem ewigen verwechseln und vermengen; im Einklang mit dem von ihnen, — ohne Fiktion einer transzendenten Bestimmung — gewollten, schöpferischen Werk und Dasein leben. Die Polemik von MA gilt aber nun auch nicht diesem höheren, ja nicht einmal dem bloßen und reinen Egoismus, sondern der egozentrischen Selbsttäuschung, weldie das Menschlich-Allzumensdiliche, — d. h. das egoistische „Grundelement" (Apho 1) — nicht zu reinigen und zu steigern im Stande ist. Eben weil die Modifikationen dieses Grundelements in ihrer Beschränktheit und niedrigen Befangenheit, aber auch in ihrer Potentialität nicht als geworden und veränderbar erkannt, sondern verleugnet werden, kommt es zur Verabsolutierung einer bloßen Entwicklungsphase. Und ebendiese Verabsolutierung hemmt nun die weitere Bewegung über die Phase hinaus, da diese als An-sich der condition humaine, oder als von überzeitlichen Mächten verhängt, als dem Wesen der Dinge zugehörig interpretiert wird. Objekt von Nietzsches Kritik sind Egoismus und Egozentrik der Menschen gerade dort, wo sie sich verleugnen und so tun, als wären sie das Gegenteil ihrer selbst. Und also kann man mit einiger Übertreibung sagen, was Nietzsche den Philosophen vorwerfe, sei eigentlich nicht, daß sie von sich selber reden, wenn sie vom Menschen an sich erzählen, sondern vielmehr: daß sie vom Menschen an sich erzählen, wenn sie von sich selber reden. «·

*

*

Soviel zu der — freilich immer problematischen — Möglichkeit einer .Harmonisierung' von Nietzsches Denken in unterschiedlichen Phasen seiner Entwicklung. Schon der Fassung des 2. Aphorismus von MA liegt jedenfalls die skeptische Wendung gegen die von den allzumenschlichen Philosophen betriebene Verabsolutierung ihrer philosophischen Egos zugrunde. Und schon in ΜΑ I wird dieses Thema auch in positiver Richtung variiert. In diesem Sinne heißt es: „Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntnis ausrecken, sich selber noch so objektiv vorkommen; zuletzt

38

Studie z u m 2. Aphorismus

trägt er doch nichts davon als seine eigne Biographie" (ΜA 1,317). Und ferner — in ΜΑ II —: „auch unter den Händen der größten Maler-Denker sind immer nur Bilder und Bildchen aus einem Leben nämlich aus ihrem Leben entstanden — und nichts anderes ist audi nur möglich. Im Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein „das" spiegeln" (ΜA II, 19). Charakteristischer für MA — und auch für die späteren Werke — ist allerdings, daß der Befund der Personalperspektive zum Argument einer verdächtigenden Psychologie wird; die Analyse sich mit einem Ressentiment verbindet und dem Zweck der Kritik, der Selbstbefreiung, der polemischen Erledigung des psychologisch durchschauten Objekts dient; was sich ζ. B. an manchen Aussagen Nietzsches über Schopenhauer illustrieren läßt. So klingt etwa die Feststellung „jede Philosophie" sei »Philosophie eines Lebensalters" noch völlig neutral. Eine gewisse Spitze verrät schon der Satz: „Das Lebensalter, in dem ein Philosoph seine Lehre fand, klingt aus ihr heraus, er kann es nicht verhüten, so erhaben er sich auch über Zeit und Stunde fühlen mag". Deutlicher wird die polemische Absicht aber erst in der Anwendung auf Schopenhauer, von dem es nun heißt, seine Philosophie sei „das Spiegelbild der hitzigen und schwermütigen Jugend." und ebendarum „keine Denkweise für ältere Menschen" (ΜΑ II, 124 f. (Aph. 271)). Später lautet das Urteil, Schopenhauer gehöre überhaupt zu denen, „welche von ihrem Temperament nie loskamen und ihm den geistigsten, größten, allgemeinsten, ja unter Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wußten" (73, 284) gilt bei ihm doch „der Unterleib des Universums" als „Wurzel der Dinge" (82, 226): Denn „ ,Die Welt als Wille und Vorstellung' " das heißt „ins Enge und Persönliche, ins Schopenhauersche zurückübersetzt: ,Die Welt als Geschlechtstrieb und Beschaulichkeit' " (82, 240); was wiederum darauf hindeutet, daß bei Schopenhauer sowohl die Sexualität wie auch „ein Ekel, ein Satthaben" philosophieren (82, 243), ist doch „der Schopenhauersche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals .., welches den christlichen Theismus geschaffen hat" (78, 17 f.). Auch in anderer Hinsicht ist Schopenhauer ein repräsentatives Objekt der in MA geübten Kritik an den Verschleierungen und Beschönigungen der Egozentrik. Scheint Schopenhauer nicht gewissermaßen als Genie philosophieren zu wollen, d. h. als begnadete, inspirierte Persönlichkeit? Dem rebellischen Freigeist von MA sind aber die gewissermaßen aufgeblähten und aufgedonnerten Ichs der Genies und die Verehrung, die ihnen gezollt wird, ein Ärgernis17. Trotz und wegen der zugleich sehr deutlichen Nachwirkung jenes Kultes, dem der Wagnerianer jüngst noch gehuldigt hatte, und ungeachtet der Tatsache, daß in MA selbst ein höheres, ja geniales Menschentum angestrebt wird, opponiert Nietzsche nun der — sehr deutschen — „Geniereligion" 18 und verspottet, auch in der Morgenröte, die Anmaßung 17

18

Zur Kritik am Genie und dessen Verehrern vgl. etwa ΜΑ I, 145 f., 148 ff., 190; ΜΑ II, 73, 94 [Aph. 191]. Vgl. Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Person-

I. Der Mangel an historischem Sinn

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von Dichtern und Denkern, die, wie etwa „der große Fichte", „mit großem Munde" „die Wahrheit" verkünden wollen {73, 234). Jedoch auch in einem weitern Sinn wollten wohl manche Idealisten als geniale Egozentriker philosophieren 10 , insofern sie nämlich die Wahrheit aus dem eigenen Wesen, aus der Introspektion, aus der Tiefe der Selbsterfahrung geschöpft zu haben meinten. Und wiederum kommt hier für Nietzsche vor allem Schopenhauer in Betracht, dessen Lehre, — als Manifestation einer mitreißenden Persönlichkeit, eines anspruchsvoll großen Ich, — den Anspruch des Philosophen geltend macht, er habe aus sich selbst die Offenbarung des Wesens aller Dinge empfangen. Zwar: Schopenhauers Doktrin ist auch eine Variation über das Kantische Thema der Welt als Vorstellung. Insoweit sie aber mehr sein will: nämlich Metaphysik des An-sidi (i. e. des Willens), beruht sie allerdings auf dem Glauben an die Selbstbetrachtung als Quell der absoluten Wahrheitserfahrung. Das „wirklich Reale", meint Sdiopenhauer, „findet [der Wille]" „unmittelbar nur in seinem Innern" {op. cit., I, 438). Die „empirische Anschauung" umfaßt bloß die „durch das principium individuationis [i. e. Zeit und Raum] vermittelte Erscheinung" der Welt und des eigenen Daseins, wie dieses „von außen sich darstellt." Hingegen „ein unmittelbares Innewerden seiner selbst als des Dinges an sich" allein dem Menschen zuteil wird, der „in sein eigenes Inneres sich versenkt und sich bewußt wird, Alles in Allem und eigentlich das allein wirkliche Wesen zu sein, welches, zur Zugabe, sidi in den andern, ihm von außen gegebenen, nochmals, wie im Spiegel, erblickt" {op. cit. V, 237 f.) 20 . „Der Willensakt, aus welchem die Welt entspringt, ist unser eigener" (op.cit., II, 1462), der Mensch ist „nicht das Werk eines andern, sondern seines eigenen Willens {op. cit., I, 532), er ist „sein eigenes Werk vor aller Erkenntniß" {op. cit., I, 391). Jedoch die Befähigung zur metaphysischen Durchdringung des eigenen Wesens und damit endlich zur tiefsten Erfahrung sowie zur partiellen oder zeitweiligen Selbstüberwindung des individuierten (egoistischen) Willens, ja zur Annäherung an das Ziel der Selbstüberwindung des Willens überhaupt, kennzeichnet, nach Schopenhauer, das Genie. Allerdings: auch hier überschneiden und durchkreuzen sich die Linien, die Schopenhauer und Nietzsche verbinden und trennen. Nietzsches Polemik gegen die unbewußte, gewissermaßen naive Falschmünzerei des egozentrischen ,Genies' mündet, — wie oben angedeutet, — zumal im Spätwerk in der Apotheose einer

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Itdikeitsideal (Wien: Braumüller, 1918). Vgl. George Santayana, Egotism in German Philosophy (1916) ( N e w York: Scribner, 1940). U n d audi zur Welt der Erscheinung ist im Grunde das Selbstbewußtsein der Schlüssel: „Was die Welt sei, läßt sich verstehen: sie ist Erscheinung, und wir können unmittelbar aus uns selbst, vermöge des wohlzerlegten Selbstbewußtseyns, das darin Erscheinende erkennen: dann aber läßt sich, mittelst dieses Schlüssels zum Wesen der Welt, die ganze Erscheinung, ihrem Zusammenhang nach, entziffern; wie ich glaube dies geleistet zu haben" {op. cit., II, 1457). Zu diesem Ausgehen v o m Selbstbewußtsein und der Erklärung der äußeren Gegebenheiten aus dem Selbstbewußtsein, vgl. auch op. cit., II, 1458 f.

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Studie zum 2. Aphorismus

gesteigerten, bewußten, über-menschlichen Egozentrik. Schopenhauers ,egozentrische' Selbstbetraditung mündet hingegen in einer Apotheose der Verleugnung und Überwindung jeglicher Egozentrik. Was aber Nietzsches Position im ersten Hauptstück von M A angeht, so wird auch er hier noch einen Idealtypus aufstellen, der sich auf Grund seiner Welt-, Selbst- und Lebenserfahrung in einer annähernden Loslösung von allen Bindungen des Daseins vollendet, mithin das egoistische Grundelement soweit als möglich zu sublimieren, zu verflüchtigen trachtet, und also dem Schopenhauersdien Ideal der Verneinung des Willens noch näher stehen mag als er vielleicht selbst wahrhaben will. Jedoch ist zumindest der Weg, auf dem die Verflüchtigung der Egozentrik erreicht werden soll, auch in MA ein anderer als bei Schopenhauer. U n d auch die „Bescheidung" (17), oder „Bescheidenheit" (IV 4, 166"), mit deren Empfehlung der zweite Aphorismus schließt, ergibt sich jedenfalls nicht, wie die von Schopenhauer empfohlene Verneinung des Willens, im Hinblick auf einen mystisch-metaphysischen Akt solipsistischer Selbstaufhebung, sondern aus der, auf Grund der Historie befestigten Erkenntnis, „daß wir nicht unsere eigenen Werke sind" (ΜΑ I , 330). Zieht man, unter Vernachlässigung der weiteren mitschwingenden Bedeutungen, die vordergründige Aussage des zweiten Aphorismus in Betracht, so gibt er sich selbst bescheiden genug. Er läßt am Ende, vielleicht auch deshalb weil die Geschichtsbetrachtung immerhin mit der Annahme von bekannten Größeil arbeiten muß, den Menschen der letzten vier Jahrtausende als relativ konstante Größe gelten. Er fordert eine relativistische — ihrer Relativität bewußte und sich in dieser Relativität bescheidene — Betrachungsweise, da man lernen muß, im Fluß über den Fluß nachzudenken 81 . Das historische Philosophieren begnügt sich mit der Darstellung der Relation zwischen dem vielfach bedingten und veränderlichen Menschen als dem noch nicht festgestellten Tier (76, 74) und seiner von ihm bedingten, ihn bedingenden und ihm entsprechenden Welterfahrung. Der gegen seine eignen kritischen Bedenken argumentierende Wagnerianer von einst wollte noch rechtfertigen, daß das Genie Wagner sich als Ziel der Entwicklung betrachtete 22 . In der späten Überarbeitung unseres Textes wird mit einer ähnlichen, nun im satirischen Sinn gebrauchten Wendung dem vorgeblichen Genie Hegel die Anmaßung seiner Geschichtsphilosophie vorgeworfen. Gegenteil dieser Anmaßung ist aber die Bescheidung, die Bescheidenheit als „Tugend des Historikers" ( / V 4, 166*). In ihrer „Sdoätzung der unscheinbaren Wahrheiten" (Apho 3) erweist sie sich als die Umkehrung der absolutistischen Prätentionen aller bisherigen Philosophen, welche von sich aus den Menschen bestimmen zu können glaubten. Damit dürfte die Betrachtung des Problemkreises des 2. Aphorismus als abgeschlossen gelten. Zugleich ist daran zu erinnern, daß Nietzsches Denken sich nie mit 11

So Bert Brecht, Gesammelte » Vgl. IV 1, 267 f.

Werke (London: Malik Verlag, 1938), Bd. 1, 90.

II. Zum Thema Nietzsche und Burckhardt

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„rein geistigen Problemen" begnügen will", sondern von Menschenbildern ausgehend Menschenbilder entwirft24. Die positiven Menschenbilder der Unzeitgemäßen Betrachtungen trugen die Namen Wagner und Schopenhauer. Der Typus des Freigeists, wie ihn MA in Kontraposition zu dem Wagnerianer Nietzsche und in kritischer Auseinandersetzung mit Schopenhauer entwickelt, verrät die positive Einwirkung Jacob Burckhardts, der — im Gegensatz zu den andern, von „allgemeinen Flausen" beherrschten Geschichtsschreibern ( / V I, 132) — dem Autor als der Einzige gilt, der die wahre Tugend des Historikers besitzt. Es lohnt daher, dem Verhältnis zwischen Nietzsche und Burckhardt nachzugehen, um zu erfahren was der Philosoph an dem Historiker bewundert und worin er sich von ihm unterscheidet.

II. DIE TUGEND DES HISTORIKERS: ZUM THEMA NIETZSCHE UND BURCKHARDT. Das Thema Nietzsche und Burckhardt provoziert zur Parteilichkeit25; vielleicht auch deshalb, weil es sich ohne Parteilichkeit auf keinen bequemen Nenner bringen läßt. In dem persönlichen Verhältnis, das ihm so viel mehr bedeutet hat als Burckhardt, erscheint der ,vaterlose' Nietzsche, zumal nach seinem Bruch mit Wagner, wie ein Sohn, der um einen Vater wirbt. Die von einem sublimierten, 23

„Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich weiß nicht, was rein geistige Probleme sind." „Alle die Wahrheiten sind für midi blutige Wahrheiten .." (82, 335). „ . . . ich rede nur von erlebten Dingen und präsentiere nicht nur Kopfvorgänge." (82, 384). " E. g. den apollinischen und den dionysischen Künstler, den sokratisdien Menschen; den Bildungsphilister; den letzten Menschen, die höheren Menschen, den Ubermenschen; u. a. m. 25 Pro-Nietzsche und anti-Burckhardt ist Edgar Salins Jakob Burckhardt und Nietzsche (zweite erw. Auflage; Lambert und Schneider: Heidelberg, 1948); anti-Nietzsche und pro-Burckhardt Alfred von Martins Nietzsche und Burckhardt. Zwei geistige Welten im Dialog (dritte und verm. Auflage: Ernst Reinhardt: Basel, 1945). Vgl. hingegen auch Erich Hellers Essay über „Burckhardt und Nietzsche" (in: Enterbter Geist, Suhrkamp, 1954). — Eine Zusammenstellung der „Akten über das Problem ,Burckhardt und Nietzsche' . . . , soweit sie für [Burckhardts] . . ,Griechische Kulturgeschichte' in Betracht kommen", findet sich in Felix Stähelins Einleitung zu diesem Werk (Jacob Burckhardt, Gesamtausgabe, 8. Bd.; Griechische Kulturgeschichte, 1. Bd., hsg. von F. Stähelin; Deutsche Verlags Anstalt: Stuttgart, Berlin und Leipzig, 1930; XXIII—XXIX). Wichtiger als die Griechisehe Kulturgeschichte war für uns die Zusammenfassung von Burckhardts Ansichten, die als Konzept einer im Winter 1868 und im Winter 1870/71 gehaltenen Vorlesung „Über Studium der Geschichte" von Burckhardt abgefaßt, zuerst von Jakob Oeri, 1905, unter dem Titel We/tgescfo'c&f/tcfee Betrachtungen aus dem Nadilaß herausgegeben wurde. — Es versteht sich, daß unser Exkurs nicht mehr enthält als eben einige Bemerkungen zu einem nicht leicht zu erschöpfenden Thema.

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Studie zum 2. Aphorismus

pädagogischen Eros und Agon getragene Beziehung zu dem älteren Mann2" reicht von seiner Wagnerianischen Phase zu Anfang der Basler Jahre, in deren Verlauf die Beiden miteinander als Kollegen an der Universität verkehren, bis zu Nietzsches Zusammenbrach. In ihr kommt zum Ausdruck, was der historisierende Philosoph mit dem Kulturhistoriker gemein hat; worin sie einander ergänzen; und was den imiher radikaler Denkenden von Burckhardt trennt, der in der Betrachtung und Darstellung der geschichtlichen Phänomene sein Genüge zu finden sucht. Beschränken wir uns zunächst auf das offensichtlich für MA Relevante. In dem entscheidenden Prozeß der Abwendung von dem schöpferischen Kunst-Tyrannen und Kunst-Gott Wagner-Wotan war der „kühle Historiker", — wie Wagner ihn nannte (NB I I I , 169), — für Nietzsche offenbar eine Stütze. Die Eintragung: „Die sich Zurückhaltenden, aus Desperation, wie Jacob Burckhardt" (IV 1, 263), die freilich die Gesamthaltung Burckhardts zu seiner Zeit und zu dem Los der Menschen Aa^akterisieren könnte, bezieht sich, nach Oehler 27 , im besonderen auf Burckhardts Vor-behalt gegen Wagner. — Und auch für den anderen Ablösungsprozeß von Schopenhauer, und also für die Wendung gegen „alle Philosophen" (16), — die Nietzsche allerdings um der Philosophie, d. h. um der Radikalität des Denkens willen vollzieht, und die ihn seiner Philosophie nicht etwa entfremdet, sondern näher bringt, — ist Burckhardt von Bedeutung, der sich, wie Nietzsche bemerkt, »alles Philosophische . . . höchst energisch vom Leibe hält" 28 . Damit sind wir bei einem Widerspruch: Denn etwa zwei Jahre vorher berichtet Nietzsche als Hörer von Burckhardts Kolleg, dieser lese „in Schopenhauer's Geist" (NEj U t 207); und weiß sich in dem Bekenntnis zu Schopenhauer mit Burckhardt einig, der auch später, als Nietzsche nicht mehr an Schopenhauer glaubt, an diesem Bekenntnis festhält. Aber gerade dadurch mag Burckhardt, so sonderbar das klingt, daz u geeignet gewesen sein, Nietzsche beim Übergang zu einer weniger spekulativen, historischen Einstellung zu helfen. Und der Widerspruch erklärt sich vielleicht, angesichts Burckhardts adogmatischer, ambivalenter, skeptischer und bewundernder Einstellung zur Philosophie und deren kühner Behandlung der ersten und. letzten Dinge, zumal da er die Philosophie, unter Beteuerung seiner intellektuellen Inkompetenz, jedenfalls bei der eigenen Arbeit verabschiedet als eine für den bloßen, der Empirie verhafteten Historiker allzu hohe Instanz (vgl. etwa BhWb, 4 f.). Gerade diese .Bescheidung' ist es nun, die dem Autor von MA als Tugend gilt. 26

Vgl. in diesem Zusammenhang auch was Nietzsche selbst über den, — wie er meint, von deinen Freunden Rohde und Burckhardt mit Absicht verschwiegenen, — sublimiert pädeiastischen, pädagogischen Eros bei den Griechen sagt, sowie den Hinweis auf das positive geistige Verhältnis hervorragender älterer Männer zu seinen Schriften (Brief an E. Rohde, Sasel, 23. Mai 1 8 7 6 ; Brief an Hippolyte Taine, Sils-Maria, 4. Juli 1 8 8 7 ; NB II 5 2 4 f.; IN Β III, 199 ff.).

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), „nicht mehr wie gewöhnlich in Bezug auf alle Handlungen, sondern selbst in Bezug auf die Empfindungen" ( / V 4, 444). — Weiteres zum Thema und zur Ableitung der Lehre von der Freiheit des Willens in ΜΑ II, 172—175. Vgl. auch 77, 114 ff.; 83, 289. Vgl. ΜA I, 69, dort allerdings in etwas anderem Sinn. Vgl. auch IV 3, 453: „Die Willensfreien, eine wundervolle Illusion, wodurch der Mensch

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Aphorismus 18

Glaube an Willensfreiheit auf dem Glauben an gleiche Dinge beruht, aus „der Periode der niederen Organismen" (32) hergeleitet. Damit sind die Voraussetzungen für die abschließend antimetaphysische Pointe der Umkehr gegeben: Denn insofern „alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat", ist sie „die Wissenschaft", „welche von den Grundirrtümern der Menschheit handelt", „als wären es Grundwahrheiten" (32). Hier klingt nun das Wort „Wissenschaft" im Gegensatz zu der kurz vorhergehenden Stelle an, wo von der „durch höchste Wissenschaft ausgebildeten Erfahrung" (32) die Rede war, weldie nämlich die Grundwahrheit (i. e., daß es keine gleichen Dinge gibt) lehrt. Dennoch ist die Ironie, die in der Bezeichnung der Metaphysik als „Wissenschaft" von den als Grundwahrheiten aufgefaßten Grundirrtümern liegt, nicht nur gegen die Metaphysik als Gegensatz der echten Wissenschaft gerichtet. Denn der folgende Aphorismus setzt die kritischen Kehren, — i. e. die Besinnung des Intellekts auf seine eigenen Irrtümer — fort, und zwar in den Bereich auch der scheinbar nicht-metaphysischen, am weitesten vorgetriebenen, exakten Wissenschaft, womit die kritische Besinnung auf die Irrtümer zu einem vorläufigen Absdiluß kommt.

sich zu einem höheren Wesen gemacht hat; der höchste Adel am Guten wie am Schlechten bemerkbar."

A P H O R I S M U S 19 Die Zahl. — Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein „Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, daß es Etwas gebe, das vielfad] vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt. — Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, konsequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenscbaft liehen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen: aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander; man kann auf ihnen fortbauen — bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines „Dinges" oder stofflichen „Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Prozedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von alters her verknotet ist. — Wenn Kant sagt, „der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", so ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum), welcher aber die Auf summierung einer Menge von Irrtümern des Verstandes ist. — Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Mensdoen-Welt.

Schon der 18. Aphorismus führte zu einer Besinnung auf die einer exakten Disziplin zugrundeliegenden Irrtümer, indem er sich nicht nur gegen die Metaphysik wandte, sondern audi auf die, schon im 11. Aphorismus aufgestellte Behauptung einging, daß die Logik „auf Voraussetzungen" beruhe, — „z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der Zeit", — denen „nichts in der wirklichen Welt entspricht" (23). Und „ebenso", — hieß es im 11. Aphorismus, — „steht es mit der

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Aphorismus 19

Mathematik" (23). Audi der 19. Aphorismus knüpft an Aphorismus 11 an, insofern er die Zahl als mathematische Fiktion behandelt. Bevor wir uns diesem Aphorismus zuwenden, sei aber nochmals in vereinfachter Form an den Gesamtzusammenhang erinnert. Als „Chemie der Begriffe und Empfindungen" (Apho 1) hat die Erkenntnis der Erkenntnis, hat die Wissenschaft von der „Entstehungsgeschichte des Denkens" zu erweisen, daß alles Menschliche, alles war wir Welt nennen, — inklusive alle Setzungen des Intellekts, — die „Natur", die „Welt der Vorstellung", aber auch alle positiven Erkenntnisse der Wissenschaft, — das „Resultat" von „Irrtümern und Phantasien" sind (29 f.), auf Irrtümern des Verstandes beruhen und sich nur auf diese beziehen. Die gegen sich selbst gewandte Kehre der Erkenntnis erhellt also auf dem Wege einer genetischen Darstellung (i. e. der Geschichte des Denkens und Empfindens) das Werden und den Zusammenhang sowie die Irrtümlichkeit jener Illusionen, die unsere Welt ausmachen, wodurch sie uns auf Augenblicke eine schwebende Überlegenheit über diese Irrtümer verschafft1, aber nicht so, daß wir nun das An-sich erkennen, sondern so, daß wir seine Unerkennbarkeit einsehen und damit seine Irrelevanz für uns2. Aphorismus 19 behandelt die Zahl, sowie Zeit- und Raum-Empfindungen und -Begriffe als falsche Größen, unter denen wir auch und gerade in den exakten Naturwissenschaften die Natur zu begreifen genötigt sind. Der wissenschaftliche Begriff der Natur ist zwar anwendbar auf die „Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum". Er ist aber auch nur „Aufsummierung . . von Irrtümern des Verstandes" (33 f.), wie sein Objekt „Resultat.. von Irrtümern und Phantasien" (30) ist, — und also auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung wäre, auf die Welt an sich, unanwendbar. Auch die Naturwissenschaften sind Systeme des Irrtums. Damit ist aber eine weitere Umkehr vollzogen, welche gerade jene, die metaphysischen Irrtümern auflösende, rationalisierte Empirie ihrerseits als dem Irrtum verhaftet erweist. Im einzelnen stellt sich die in dem Aphorismus vollzogene Gedankenbewegung folgendermaßen dar. Auch die „Gesetze der Zahlen" sind „Erfindung"3, mithin das Gegenteil von einem gefundenen, dem Wesen der Welt inhärierenden Gesetz, und zwar Erfindung, beruhend auf dem, das Denken überhaupt fundierenden, „ursprünglich schon herrschenden Irrtum", daß es „gleiche Dinge" gibt, während es in Wahrheit kein „Ding", kein isolierbares Etwas gibt, das vielfach vorkommt (33). 1 2 3

Vgl. 30, 47 f.; und 83, 2 7 7 : „Uber den Schätzungen schweben: einziger T r o s t " . Siehe Apho 9, 21 f.; Apho 16, 3 0 ; Apho 29, 43. So auch später: „Die Abzählbarkeit gewisser Vorgänge" beweist durchaus keine „absoluten Wahrheiten". „Es ist immer nur eine Zahl im Verhältnis zum Menschen, zu irgendeinem fest gewordenen Hang oder Maß im Menschen. Die Zahl selber ist durch und durch unsre Erfindung." (83, 72). Anders gefaßt: „Die Zahl als perspektivische F o r m " (78, 342).

Kommentar

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Das Einmalige ist nicht zählbar. Mithin sind die Zahlen, ist die Arithmetik Fiktion. Und überhaupt gilt für die Mathematik, die ebenso wie die Logik auf der Voraussetzung gleicher Dinge, Einheiten, Maße beruht, daß sie nichts ist als „Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre, . . . angewandte Logik" (77, 96). Denn auch „unsere Annahme, daß es Körper, Flächen, Formen gibt, ist erst die Folge unserer Annahme, daß es Substanzen und Dinge, Beharrendes gibt". Und „so gewiß unsere Begriffe Erdichtungen sind, so sind es auch die Gestalten der Mathematik" (e. g. Fläche, Kreis, Linie) (83, 34)4. „Falsch" sind aber auch „unsere Empfindungen von Raum und Zeit", „denn sie führen, konsequent geprüft, auf logische Widersprüche" (33), wie sie etwa Kant in der Kritik der reinen Vernunft (Transzendentale

Dialektik)

im Zusammenhang mit

der „Ersten Antinomie" darstellt5. Damit fällt jeder absolute Wahrheitsanspruch der Physik wie der Naturwissenschaft überhaupt. Jedoch die „falschen Größen", die sowohl der wissenschaftlichen Methode (e. g. dem Rechnen) als auch dem festzustellenden Phänomen, — wie es sich unter der Ägis unserer Zeit und Raumerfahrung darstellt, — inhärieren, sind „wenigstens konstant" (33). So scheint sich die „Strenge" und „Sicherheit" der wissenschaftlichen Resultate „in ihrem Zusammenhange miteinander" (33) nicht daraus zu ergeben, daß die exakte Wissenschaft auf Wahrheit beruht, sondern aus der Konstanz der falschen Größen, mit denen wir rechnen. Das bedeutet aber offenbar nicht, daß Nietzsche den Wert der wissenschaftlichen Einsicht oder den Fortschritt in den Wissenschaften leugnet. Offenbar vermag die Wissenschaft sehr wohl unsere Welt der Erfahrung zu erschließen, wobei sie die „Aufgabe verfolgt . . . , alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen", also dem irrtümlichen Glauben an „gleiche Dinge" entgegenarbeitet. Da aber der Glaube an Dinge sowohl in unserer Empfindungsweise wie in unserer Denkmethode zu fest verankert ist und die Wissenschaft anscheinend nicht anders kann 4

5

Vgl. audi 83, 75: „.. der Mathematik wird beständig im wirklichen Geschehen widersprochen, widerlebt"; und die ebenfalls spätere Zusammenfassung der aus der Leugnung identischer Fälle entwickelten Kritik an Mathematik, Mechanik, Logik, Sprache: „So wie Mathematik und Mechanik lange Zeiten als Wissenschaften mit absoluter Gültigkeit betrachtet wurden und erst jetzt der Verdacht sich zu entschleiern wagt, daß sie nichts . . sind als angewandte Logik auf die bestimmte unbeweisliche Annahme hin, daß es .identische Fälle' gibt — Logik selber aber eine konsequente Zeichenschrift auf Grund der durchgeführten Voraussetzung, daß es identische Fälle gibt —: so galt ehemals auch das Wort [i. e. eine ebenfalls für scheinbar Gleiches, Konstantes etc. geprägte Bezeichnung] schon als Erkenntnis eines Dings, und noch jetzt sind die grammatischen Funktionen die bestgeglaubten Dinge, vor denen man sich nicht genug hüten kann" (83, 67). „Noch jetzt ist die eigentliche Kritik der Begriffe oder (wie ich es einst bezeichnete) eine wirkliche .Entstehungsgeschichte des Denkens' von den meisten Philosophen nicht einmal geahnt" (S3, 68). Thesis: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach in Grenzen eingeschlossen." Antithesis: „Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Räume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raums unendlich." Kritik der reinen Vernunft (Leipzig: Insel, 1913; Bd. 3, 340 ff. („Erste Antinomie").

200

Aphorismus 19

als Bewegung (Werden) mit Hilfe fiktiver Konstanten beschreiben, sieht sie sich dort, wo sie an ihre Grenzen und damit zu ihren umfassendsten Hypothesen oder Grenzbegriffen kommt, wie im Falle „der Atomlehre", auch wieder genötigt, eine Fiktion im Sinne ihrer irrtümlichen Grundannahmen, ein „Ding", ein stoffliches „Substrat" zu postulieren (33) und damit in Widerspruch zu ihren eigenen Resultaten zu geraten, e. g. das Atom zumindest als etwas Ding- oder Substanzartiges aufzufassen, die Atome als „konstante Ursachen" der Bewegung anzusetzen, zur Bewegung noch das Bewegende, den Urheber der Bewegung hinzuzudenken, mithin die falsche Unterscheidung zwischen dem „Sitz der treibenden Kraft und ihr selber" (78, 423) wieder einzuführen*. Denn an dem jeweiligen Ende der Wissenschaft treten die Wissenschaft fundierenden Irrtümer notwendig wieder zu Tage. Es versteht sich, daß dieser durch den Glauben an Dinge, Identitäten etc. gegebene „Zirkel" (33) wieder eine Umkehr-Struktur darstellt. Auch ist evident, daß Nietzsche in Hinblick auf die allgemeinen Begriffe und deren mögliche Verknüpfung, also in Hinblick auf die bloßen Prinzipien möglicher Erfahrung mit Kant übereinstimmen kann, wenn dieser am Ende des 36. Paragraphen seiner Prolegomena sagt: „der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor"1. Auffällig ist aber der ausdrückliche, — obzwar auch im Kantischen Sinne korrekte — Hinweis, das sei in Hinsicht auf den „Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind mit ihr zu verbinden" (33). Könnte es denn, da Wissenschaft, nach Nietzsche, „die Nachahmung der Natur in Begriffen" ist (ΜΑ I, 54; vgl. 123) eine andere wissenschaftliche Begriffswelt geben, die nicht bloß „die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern des Verstandes" wäre (33 f.)? Und problematisch bleibt ferner, wie es denn geschieht, daß die Wissenschaft überhaupt darauf kommt, alles in Bewegung aufzulösen. Soll man hier annehmen, die Wissenschaft, obsdhon gezwungen, immer mit „einigen falschen Größen" (33) zu rechnen, habe außerdem doch auch die Tendenz sich mit Hilfe dieser falschen Größen der Wahrheit, nämlich dem absoluten und allerdings in seiner Absolutheit unerkennbaren Fluß anzunähern? Hieß es nicht auch in Aphorismus 18, „die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung" (32) lehre, daß es keine gleichen Dinge gebe? Oder ist diese — ihrerseits auch wieder metaphysische5? — Annahme unnötig, weil ja die Erfahrung selbst, obschon sie sich bei strenger Prüfung als Fluß erweist, auch 6

7

Im Spätwerk wird, wie schon erwähnt (siehe oben, Seite 188), die im 19. Apho geübte Kritik erheblich erweitert bis zur Kritik an dem Begriff der Kausalität überhaupt. „Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten läßt; das ist ein Tun-Tun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen, ,die Kraft bewegt, die Kraft verursacht' und dergleichen, — unsre ganze Wissenschaft steht noch . . unter der Verführung der Spräche und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die S u b jekte' nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleidien das Kantische ,Ding an sidi')" (76, 273). Vgl. auch 78, 374 f. Nietzsche läßt (vgl. 33) das „a priori" beiseite.

Kommentar

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nur Welt als Vorstellung und Empfindung, also Welt des Irrtums ist? So wäre die (Natur)-Wissenschaft die Erforschung jener im Fluß befindlichen (gewordenen und werdenden) Welt der irrtümlichen Vorstellungen und Empfindungen, die uns Natur heißt; und zwar die Erforschung dieser fließenden (und ,falschen') Erscheinungswelt unter Zuhilfenahme von statischen, auf dem Gleichheitsglauben beruhenden Fiktionen. Mit dieser Umkehr des gängigen .Positivismus' ist aber die Kehre des Intellekts gegen sich selbst zunächst zu Ende geführt, da der Intellekt nun auch die bisher höchste, die wissenschaftliche Phase in ihrer Irrtumsbedingtheit durchschaut hat. *

*

*

Im Zusammenhang unserer, vornehmlich gegen die Metaphysik gerichteten Reihe mögen die hier von Nietzsche gegebenen Andeutungen einer Kritik der Wissenschaft genügen. Anderseits werden im vorliegenden Aphorismus Fragen aufgegriffen und offengelassen, die für das Spätwerk — zumal den Versuch Perspektivismus, Interpretation der Welt als Wille zur Macht und Postulat einer neuen Wertskala zu vereinen — von Bedeutung sind8. In einer schon im Zusammenhang mit dem 1. Aphorismus angeführten Notiz des späten Nietzsche (78, 388 f.)· werden vier Aspekte oder Stufen der Weltauffassung angedeutet. Die erste bietet ein zwecks Mitteilung fest gemachtes, vereinfachtes Schema: »Das Material der Sinne vom Verstand zurechtgemacht, reduziert auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht, subsumiert unter Verwandtes. Also: die Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam logisiert". — Die zweite ist die — ebenfalls zurechtgemachte — Welt der Phänomene, „die wir als real empfinden". Auch diese ,Realität' — sie „liegt in dem beständigen Wiederkommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge", „im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können", — hat einen „logisierten Charakter". (Immerhin besteht zwischen den zwei Schichten etwa der Unterschied, der zwischen einer rationalen Aussage und einer von den Sinnen selbst geordneten Impression, bzw. zwischen einem ,rationalen' Bericht über eine Erfahrung und dieser (normierten) Erfahrung selbst besteht). — Die dritte Stufe ist „der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt", nicht weil sie ,die wahre Welt' ist, sondern als „formlos-unformulierbare Welt des Sensationen-Chaos, — [als] . . eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns (Unerkennbare' ". — Die vierte bietet eine panperspektivistische Hypothese bezüglich des Charakters unserer und aller möglichen Welt, also eine Hypothese über die ,wahre Welt', wenn auch in Camouflage. Zwar wird (wie in MA) die Frage nach dem An-sidh der Dinge abgewiesen, da wir, wenn wir von unserer Sinnen8

9

Das Thema von Nietzsches Kritik an der Wissenschaft wäre auch für die Phase von MA, und audi in Hinblick auf Nietzsches naturwissenschaftliche Spekulationen weiter zu verfolgen, e. g. in Hinblick auf das bei K. Schiedita und A. Anders (F. Nietzsche, Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann, 1962) besprochenen Material. Vgl. oben, Seite 17.

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Aphorismus 19

Rezeptivität und Verstandes-Aktivität absehen, nicht wissen können, ob es Dinge gibt. Zugelassen wird aber nun die Frage, „ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine . . . scheinbare Welt zu schaffen — und ob nicht dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht Das, was ,Dinge' setzt, allein real ist". Und also wird als Möglidikeit eine Welt des Subjekts, von in Subjekt-Perspektiven sich manifestierenden Kraftzentren zugelassen, in der „ ,Objekt' nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist", was immerhin einer Objektivierung der multiplen, perspektivischen Welten gleichzukommen scheint und jedenfalls der anti-metaphysischen Metaphysik des ,Willens zur Macht' als kosmisches, Perspektiven schaffendes Prinzip entspricht. In der Phase von MA bleibt die vierte Stufe im Grunde offen. Es wird offengelassen, ob es ein An-sich gibt, bzw. was es mit der Frage nach dem An-sich auf sidi hat. Die Möglichkeit, daß die Wissenschaft die f ü r uns negativen Qualitäten des An-sidi doch irgendwie erweisen könnte, wird erwogen; gewiß auch der mutmaßlich absolute, uns aber unerkennbare Fluß. Jedoch läßt sich anderseits dieser Fluß fast ebenso als das umfassendste Datum der Phänomenal-Welt (dritte Stufe) auffassen, die uns als Sensationen-Chaos gegeben und zugleich unerkennbar ist. Seine Auffassung der Wissenschaft aber entwickelt Nietzsche wohl schon in der Phase von MA in Hinblick auf die drei ersten Stufen, nämlich den Bau der Begriffe (erste .fiktivste' Stufe), die von uns als real anerkannte VorstellungsEmpfindungswelt (zweite Stufe) und das Sensationen-Chaos (dritte Stufe). Dabei ist zur ersten Stufe zu bemerken, daß f ü r Nietzsche die Grundirrtümer des Intellekts zugleich Bedingung der Erkenntnis sind: „Damit es irgend einen Grund von Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine unwirkliche Welt des Irrtums entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes, an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden 10 , — ja zuletzt kann der Grundirrtum eingesehen werden, worauf alles beruht (weil sich Gegensätze denken lassen), — doch kann dieser Irrtum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrtum eingerichtet'' (83, 46). Das abstrakte, rational-logische, mathematische, begriffliche Geflecht und Gerüst der Wissenschaft ist eine zur Erkenntnis notwendige Fiktion, ein imaginäres Netz, in dem Erfahrungswelt f ü r das Bewußtsein eingefangen wird. In diesem Sinn hält Nietzsche an der, noch von idealistischen Voraussetzungen ausgehenden Wissenschaftskritik seiner ersten philosophischen Epoche fest: „Alles Wunderbare .., das wir . . an den Naturgesetzen anstaunen, . . liegt . . in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellungen . . . , [die] 10

Vgl. die Anwendung dieses Gedankens auf unser Bewußtsein von Zeit, Bewegung, Kausalität, Raum, Zahl in 78, 35·5; 83, 72 f.

Kommentar

203

wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit [produzieren], mit der die Spinne spinnt." Wir sind gezwungen, „alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen: denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen.. Alle Gesetzmäßigkeit, die uns im Sternenlauf und im diemischen Prozeß . . imponiert, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so daß wir damit uns selber imponieren . D e r „Bau der Begriffe" aber ist hinwiederum eine „Nachahmung der Zeit-, Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern" (71, 617). Nun ließe sich gegen die Wissenschaft als Bau der Begriffe (Erste Stufe) einwenden, sie liefere eine potenzierte Fiktion, indem sie die ebenfalls schon zurechtgemachte, von uns als gängige .Realität' akzeptierte Phänomenalwelt der Vorstellungen und Empfindungen (Zweite Stufe) noch einmal schematisiere. Diese Abwertung der Wissenschaft entspräche aber audi nur einem Aspekt von Nietzsches multivalenter Einschätzung der Wissenschaft, die wiederum auch das Begriffsnetz und den durdi Begrifflichkeit (Logisierung, Mathematisierung) erhöhten Bewußtseinsgrad rechtfertigt, insofern die Verfeinerung der Begriffe und der Systematik Verwendung findet in einer genaueren Durchdringung und Kritik der als Realität anerkannten Vorstellungs- und Empfindungswelt (Zweite Stufe) und dergestalt sich der — dunkelsten und vielleicht auch reichsten Welt des Sensationen-Chaos (Dritte Stufe) erkennend annähert11. Daß die begrifflichen Vorstellungen, die auf der 2. Stufe, i. e. der uns jeweils als Realität geltenden Sphäre, angewendet werden, irrtümlich sind, versteht sich (e. g. in Hinblick auf die in der Spradie verfestigte Erkenntnis-Stufe). Ebenso steht es aber audi mit den, im 19. Aphorismus angeführten Raum- und Zeit-Empfindungen, bzw. mit den uns geläufig gewordenen Empfindungen überhaupt, wobei für Nietzsdies Auffassung der Empfindung axiomatisch ist, daß diese „unter Beihülfe des Intellects zu Stande kommt" (IV 2, 485). „Wie ganz irrtümlich ist die Empfindung! Allen unseren Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Urteile zugrunde, — einverleibte Meinungen über bestimmte Ursadien und Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser ,Iche usw. Alles ist aber falsdi! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, sobald wir praktisch handeln, müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der Empfindungsurteile stellen! Das ist die Stufe der Erkenntnis, welche noch viel älter ist als die Stufe der Sprachempfindung — meist tierisch!" (83, 37). Und also ist etwa „unsere ,Außenwelt'.. ein Phantasieprodukt, wobei frühere Phantasien als gewohnte, eingeübte Tätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden" (83, 36), etc. Die Wissenschaft ist aber durchaus nicht nur, was, einer Äußerung Nietzsches 11

Ich berücksichtige allerdings hier nur Nietzsches Einschätzung der Wissenschaft als Erkenntnismittel, lasse hingegen seine — ebenfalls komplexe und ambivalente — Einschätzung der Erkenntnis als solche, — e. g. seine Polemik gegen die Erweiterung des Bewußtseins auf Kosten der Instinkte, etc., — beiseite.

204

Aphorismus 19

zufolge, die Logik sein soll, nämlich „Erleichterung" und bloßes „Ausdrucksmittel" (78, 368) etwa zur Fixierung dieser sogenannten jeweiligen ,Realität', sondern kann über diese hinaus die Erhellung der uns gegebenen Sinnenwelt durchführen und so unsere Erfahrung bereichern. Bezüglich der Wissenschaft als gesteigerte Empirie heißt es etwa in der Götzendämmerung·. Die Sinne (und also das was uns als Sensationenchaos der dritten Stufe gegeben ist) „lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugnis machen [e. g. was als begriffliche Vorstellung aber audi als Empfindung, die schon auf dem Boden des Urteils entwickelt ist, zu Tage tritt], das legt erst die Lüge hinein, so zum Beispiel die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der D a u e r . . . Die .Vernunft' ist die Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht . . . Die .scheinbare' Welt ist die einzige... Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben ,das Zeugnis der Sinne anzunehmen, — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten" (77, 95). Und als Erhellung der Sinnenwelt gilt Nietzsche nun etwa auch die Physik: „Die Wissenschaft ist darauf aus, dieselben

Phänomene

durch

verschiedene

Sinne

zu

interpretieren und alle auf den deutlichsten Sinn, den optischen, zu reduzieren. So lernen wir die Sinne kennen, — der dunklere wird durch den helleren erleuchtet. — Die Bewegung von Molekülen sind eine Konsequenz des Gesichtssinnes und des Tastsinns. — Wir verfeinern die Sinne, — wir erklären nichts. Hinter jedem ,Wollen',,Fühlen', setzen wir einen Bewegungsprozeß voraus, der für das Auge dasselbe wäre (83, 119)". Und in Hinblick auf dieses Ziel der Erkundung der primär gegebenen menschlichen Erfahrungswelt in einem Grade, der die als Realität akzeptierte zweite Stufe bei weitem transzendiert, kommt auch die Mathematik zu Ehren: „Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, soweit dies nur irgend möglich ist; nicht im Glauben, daß wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntnis" (74,173). Man darf also sagen, daß es zumindest einer Tendenz Nietzsches entspricht, die Wissenschaft um so mehr gelten zu lassen, je mehr sie sich der dritten Stufe — dem ,Sensationenchaos' — erkennend annähert, wobei sie selbstverständlich — im Sinne des späten Nietzsche — nicht vom Geist (dem Bereich vereinfachender Abstraktion) auszugehen hat, sondern „vom Leib", um diesen „als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt" (78, 366). Und auch in MA dürfte Nietzsches Behauptung, durch die Wissenschaft komme der Mensch „dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntnis" „näher" (42) doch wohl so aufzufassen sein, daß der Mensch sich durch die 18

Vgl. auch 83, 286, wo Mechanik — polemisch — auf Tyrannei des Auges und des Getastes reduziert wird; sowie 78, 384: „die physische Erklärung" ist „Verbildlichung der W e l t . . aus Empfindung und Denken".

Kommentar

205

Wissenschaft die Kenntnis der ihm gegebenen .wirklichen' Erfahrungswelt verschaffe, nicht aber Erkenntnis des An-sich, das von der Welt noch dabliebe, wenn man den Menschenkopf abschnitte (21); obsdion sich auch Bemerkungen anführen ließen, in denen die entsinnlichende Macht der Wissenschaft, — die etwa Farben, Töne, Körpergestalt in ihrer Weltinterpretation auslöscht, — quasi als Annäherung an das für uns völlige leere An-sich aufgefaßt wird. Freilich konstituieren am Ende auch die Data der dritten Stufe (i. e. des Sensationenchaos) nicht ,die Wahrheit'. „Der Irrtum" — namentlich im Ansetzen von Konstanten — bleibt „die Voraussetzung des Erkennens", mit der wir „den wahren Tatbestand" verfälschen müssen, um überhaupt von irgendetwas zu wissen. „Aber es gibt doch so ein Vorstellen, und unter den Vorstellungen wieder eine Menge Grade des Falschen". Und die „Aufgabe der Wissenschaft" ist ebendies: „Die Grade des Falschen festzustellen und die Notwendigkeit des Grundirrtums als der Lebensbedingung des vorstellenden Seinsa (83, 27). Endlich, um auf den 19. Aphorismus zurückzukommen, löst sich, unter Annahme der Stufen der Welterfahrung, audi der scheinbare Widerspruch, daß Wissenschaft, die mit falschen (fiktiven) Größen sowie mit falschen Raum- und Zeitempfindungen arbeiten muß, dennoch mit den Empfindungen in Widerspruch gerät (73, 207) und imstande ist, die als .Realität' verfestigte Empfindungs- und Vorstellungswelt in Richtung auf den Erfahrungsbereich totaler Bewegung zu durchbrechen, allerdings ohne sich völlig von den in der logico-mathematischen Fiktion und von den in der Empfindungswelt verfestigten Irrtümern befreien zu können. Es versteht sich, daß mit derlei Bemerkungen das Problem der Wissenschaft, wie es sich schon dem Freigeist von MA darstellen muß, bei weitem nicht erledigt ist. Wenn dort, wo die Mathematik angewendet wird, am Ende „dasselbe" geschieht, „wie bei den ,Mittel- und Zwedt'erklärungen", da auch hier, „das Wirkliche erst zurechtgemacht und vereinfacht (gefälscht)" wird (83, 281): inwiefern ist dann die mathematisch-mechanische Fälschung — und sei sie auch die heute „redlichste", illusionsloseste (83, 102), die in der Gegenwart das gute Gewissen für sich hat (83, 308), — noch dazu geeignet gegen die teleologischen Fälschungen ausgespielt zu werden, wie dies auch der späte Nietzsche noch zu tun bereit ist (e. g. 83, 103), obsdion beide Interpretationsformen im Spätwerk mitunter auch als gleichgeordnet erscheinen (78, 384)? Immer wieder fragen wir uns: Wie lassen sidi überhaupt, unter der Voraussetzung, daß alle Erkenntnis Täuschung und Fälschung ist (78, 419; 83, 73); ja daß es im Grunde keine Erkenntnis gibt (78, 416, 419); die Grade der Fälschung unterscheiden? Und wenn die mathematisch-mechanistische Auslegung nicht das letzte Wort hat (78, 419) und neben den quantitativen qualitative Interpretationen als ebenso berechtigte Spielarten bestehen (vgl. 78, 385, wo aber auch im Gegensinne Qualität auf Quantität reduziert' wird), so fragt sich, welche Auffassung die weiteste, als Voraussetzung zu einer neuen Wertskala tauglichste Perspektive ergäbe. Derlei Fragen aber, obsdion sie sich aus den in MA bezogenen

206

Aphorismus 19

Positionen entwickeln lassen, sind für den Freigeist von ΜΑ I anscheinend nodi nicht an der Tagesordnung. Sie werden explicite im späteren Werk gestellt. Wohl richtet auch der Freigeist von MA seine Skepsis durchaus sdion gegen die Wissenschaft — als die bisher höchste, kritischeste Form der Erkenntnis. Offenbar ist er aber nicht bereit zu dem Versuch, sich von dieser Skepsis sogleich noch weitertragen zu lassen oder sie gar als Stimulans zu empfinden, das zur Überwindung anstachelt. Als Versuch einer Überwindung der Skepsis stellt sich — in vielen Fragmenten — die Spätphilosophie (des ,Willens zur Macht') auch insofern dar, als Nietzsche nun auch versucht, eine kosmische physische Ordnung zu skizzieren (e. g.: begrenzte und gestaltete Kraft in ewiger Zeit, der Raum als Substrat dieser Kraft (78, 370 f.), deren Permutationen in ewiger Wiederkehr sich ereignen). Zunächst aber trachtet Nietzsche, als Freigeist von MA, sich mit der Skepsis abzufinden. Zunächst macht er Halt. Genug, daß er sich von der Metaphysik befreit hat. Wenn sich auch, gerade in Hinblick auf die Wissenschaft, welche das Mittel zur Überwindung der Metaphysik abgegeben hat, neue, noch unabsehbare Reihen von Fragen und der Ausblick ins Nichts ergeben, so empfiehlt sich wohl auch deshalb für den auf der höchsten Stufe der Leiter Stehenden seinen unsicheren Standort wieder zu verlassen und „einige Sprossen zurück" (34) zu treten, wie dies der nächste Aphorismus — allerdings mit anderer Begründung — fordert.

π. DIE KULTUR IM ZEITALTER DER VERGLEICHUNG UND IN DER EPOCHE DER WISSENSCHAFT

APHORISMUS 20

Einige Sprossen zurück. — Die eine, gewiß sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensd) über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nötig: er muß die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muß erkennen, wie die größte Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. — In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer mehrere, welche an das negative Ziel (daß jede positive Metaphysik Irrtum ist) gelangt sind, aber noch wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sieb von der Metaphysik zu befreien und mit Überlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, not tut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.

Das Hauptthema des Ersten Hauptstüdes ist die Wendung des Intellekts gegen seine eigenen — metaphysischen — Irrtümer, seine gegen sich selbst gerichtete kritische Umkehr. Der 20. Aphorismus verlangt aber als Phase in dieser Gesamtbewegung eine Umkehr der Umkehr. Die Vorstufe des Texts lautet: „Metaphysik: einige Sprossen zurück, nur der erkennende Mensch soll immer über die Leiter hinausschauen, wir sind als volle Menschen nidit nur Erkenntnis" (IV 2, 480). Nachdem der Erkennende die Irrtümer des Aberglaubens sowie der Religion und — selbstkritisch — „mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit" audi noch die Metaphysik überwunden hat, soll er nun, umgekehrt, in „rückläufiger Bewegung" (34) dieses Überwundene als einen Schatz und als das Agens der größten Förderung der Menschheit erkennen. Ein später Rückblick auf MA faßt zusammen: „Die .Überwindung der Metaphysik' . . (Aph. 20), galt mir als erreidit; und zugleich stellte ich die Forderung, für diese überwundenen Metaphysiken . . . einen großen, dankbaren Sinn festzuhalten" (82, 406).

210

Aphorismus 20

Bislang wurde Kritik der Irrtümer getrieben; nun beginnt ein neuer Abschnitt, in dem die Umfunktionierung der tradierten Lebenswerte in der non-metaphysischen Lage ins Auge gefaßt wird, bis endlich die Erkenntnis, daß nur der Irrtum dem Leben Wert verleiht, — ein Motiv, das freilich schon vorher anklang, — zum Haupt- und Endproblem der Reihe wird. Die Umkehrstruktur dieses Programms ist evident: „Das negative Ziel", — die Einsicht, „daß jede positive Metaphysik Irrtum ist"1, — soll mit der Einsicht, was die Menschheit ebendieser Metaphysik und der metaphysischen Phase verdankt, verbunden werden. Statt im Rückblick auf die Metaphysik herabzusehen, tut es im Gegenteil not, „wie im Hippodrom . . um das Ende der Bahn herumzubiegen" (34). Selbstverständlich erwirbt der Freigeist sich, nach Nietzsche, das Recht auf die rückläufige Bewegung nur durch die Erledigung des antimetaphysischen Pensums. Daran ist nicht zu rütteln. „Wer den Trieb zur Reinlichkeit auch im Geistigen hat, wird es nur eine Zeit lang in den Religionen aushalten und sich dann in eine Metaphysik flüchten; später wird er sich von Stufe zu Stufe audi der Metaphysik entschlagen" (/V 2, 427). Zugleich meint Nietzsche aber von dieser — seiner eigenen — Entwicklung, die ihm als paradigmatisch für den modernen Menschen gilt: „Es ist das Glück unseres Zeitalters, daß man noch eine Zeitlang in einer Religion aufwachsen kann und, in der Musik, einen ganz echten Zugang zur Kunst hat; das wird späteren Zeiten nicht mehr so gut zu Theil werden. Mit Hülfe dieser persönlichen Erfahrungen kann man ungeheure Strecken der Menschheit erst verstehen: was wichtig ist, weil alle unsere Cultur auf diesen Strecken ruht. Man muß Religion und Kunst verstehen — sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaus sehen können; bleibt man darin, so versteht man sie nicht. Ebenso ist die Metaphysik eine Stufe, auf der man gestanden haben muß. Ebenso die Historie und das Relativische. Man muß in großen Schritten den Gang der Menschheit als Individuum nachgehen und über das bisherige Ziel hinauskommen" (IV 2, 559). Und nun gilt ihm Weisheit, die eben „nicht nur Erkenntnis" (IV 2, 480) ist, als das eigene Ziel, das er im Laufe eines langen Lebens, nämlich im 60. Lebensjahr, erreichen will (IV 2, 559)2. Man mag dennoch fragen, wozu, nach mühseliger Emanzipation, die Rüdsbesinnung dienen soll und was wir denn eigentlich der Metaphysik zu verdanken haben. Eine Antwort darauf deutet der weitere Verlauf der oben zitierten Bemerkung über die geistige Reinlichkeit an, der alles Metaphysische Ekel bereite. Denn „es ist wahrscheinlich, daß der Trieb zur Reinlichkeit im Moralischen eher einen entgegengesetzten [d. h. zur Metaphysik hinführenden] Weg einschlagen wird: dafür ist dieser Trieb immer mit der Unreinheit des Denkens verbunden und macht dieses vielleicht immer unreinlicher" (IV 2, 427). Daraus ergibt sich offenbar 1

1

Jede positive Metaphysik: denn eine negative Metaphysik, nämlich die des unerkennbaren An-sich will Nietzsche nidit ausschließen. Vgl. den 292. Aphorismus von ΜΑ I, zu dem das hier Zitierte (/V 2, 559 (23 [60]) als Vorstufe zu gelten hat.

Kommentar

211

ein Problem: wie nämlich Moralität und Wahrhaftigkeit miteinander zu vereinen seien3. Wenn aber für den Menschen Sittlichkeit und ein verfeinertes Seelenleben Werte darstellen — und Nietzsche ist durchaus dieser Meinung, — so hat er Ursache der Metaphysik dafür dankbar zu sein, daß wir „complexe Stimmungen und Empfindungen, welche zu den hödisten Errungenschaften der menschlichen Natur gehören" als „die Resultate langer Herrschaft der Metaphysik in uns" haben (/V 2, 517). Ja, in der Periode von MA meint Nietzsche überhaupt, die metaphysischen Vorstellungen eines Menschen seien „Zeugnisse für seine höhere Natur, edlere Bedürfnisse": insofern sollte man von ihnen „im würdigsten Tone" reden (/V 2, 521)4, (was im Spätwerk bekanntlich durchaus nicht der Fall ist). In summa: „Die sittliche Reinheit der Menschen ist durch einige falsche Vorstellungen mehr gefördert worden als es die Weisheit zu thun vermöchte. Daß ein Gott das Gute wolle, daß der Leib zu besiegen sei, um die Seele frei zu machen, daß Verantwortlichkeit für alle Handlungen und Gedanken existiere, das hat die Menschheit hochgehoben und verfeinert" (IV 2, 560). Und nicht „nur der Glaube an Gott, auch der Glaube an tugendhafte Menschen, Handlungen, die Schätzung .unegoistischer' Triebe, also auch Irrthümer auf psychologischem Gebiet haben der Menschheit vorwärts geholfen. Es ist ein großer Unterschied, ob einer die Helden Plutarchs mit Begeisterung nachahmt oder anzweifelnd analysiert. Der Glaube an das Gute hat die Menschen besser gemacht: wie eine Überzeugung vom Gegentheil die Menschen schwächer mißtrauischer usw. macht" (IV 2, 514)5. Und endlich gehört in die Gegenrechnung zugunsten der religiös-metaphysischen Vorstellungen auch die Feststellung, daß die „Poesie" auf diesen beruht', wie die Kunst überhaupt, die bekanntlich, nach Nietzsches Auffassung, die Empfindungen der Religion übernimmt. Nietzsche selbst teilt in der Phase von MA das elegische Gefühl von Schillers Klage um die „Götter Griechenlands", ein Gedicht, das als „Etappe auf dem Wege der Enttäuschung" (/V 3, 378) bezeichnet wird. Und auch darum fragt Nietzsche sich, wie es allerdings der geforderten rückläufigen Bewegung und der ihr gemäßeren, freieren Einstellung zu der überwundenen Epoche entspricht: „Warum läßt man Metaphysik und Religion nicht als Spiel der Erwachsenen gelten?" (IV 3, 378). „Warum sollte man nicht metaphysisch spielen dürfen? und ganz enorme Kraft des Schaffens darauf verwenden?" (IV 3, 377), — eine Frage, die auch dem späteren Nietzsche gemäß sein mag, da er sich ebendies Spiel zuletzt gestattet. 3

Siehe dazu unten Seite 447, 454. Audi diese Verallgemeinerung entwickelt Nietzsche aus der Auseinandersetzung mit Schopenhauer, dem verehrten geistigen Vater-Bild: „Würdige Beurteilung eines Metaphysikers wie Schopenhauer als Zeugnis für den Menschen (aber einen unwissenschaftlichen)" (IV 2, 471). 5 Das Zitat gehört einer Vorstufe des 36. Aphorismus von ΜΑ I an und schließt mit dem ebenda gegen die psychologische Verdäditigungs- und Verkleinerungskunst der Moralisten' (LaRochefoucauld, Ree) geäußerten Bedenken. • So in der ersten Fassung des 20. Aphorismus: IV 4, 171. 4

212

Aphorismus 20

Im Sinne des 1. Hauptstücks hat die rückläufige Bewegung nicht bloß eine Dankesschuld abzutragen. Hier wäre vielmehr die oben angeführte These des 251. Aphorismus von M A I zu rekapitulieren, daß der Mensdi weiterhin NichtWissenschaft braucht und umsomehr brauchen wird, wenn einmal die Entwicklung der jetzt noch im reizvollen Stadium der Neu-Entdeckungen befindlichen Wissenschaft im Wesentlichen abgeschlossen ist, die Wissenschaft durch sich selbst den Menschen immer weniger Freude bereitet, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik, Religion, Kunst aber immer mehr Freude nimmt, mithin die geistige Quelle, welcher „die Menschheit fast ihr gesamtes Menschentum verdankt", verarmt (ΜΑ I, 205). Und also statuiert Nietzsche, wie schon bemerkt7, als Forderung der Gesundheit für jede höhere Kultur ein „Doppelgehirn" für Nicht-Wissenschaft (Illusionen, Leidenschaft) als Kraftquelle und für Wissenschaft als Regulator. Ebendieser Ökonomie und doppelten Versorgung soll die rückläufige Besinnung dienen. *

*

*

Zum Absdiluß der Hinweis darauf, daß der Aphorismus, — übereinstimmend mit der These von der Entwicklung scheinbarer Gegensätze auseinander (Apho 1), — das bei Nietzsche, auch als Aspekt des .Flusses* vielfach variierte Thema des Selbstwiderspruchs und der Selbstüberwindung als geistig-physisches Entwicklungsprinzip, also als eine existentielle Umkehr-Struktur behandelt8. Menschliche Entwicklung erfolgt in kontradiktorischen Bewegungen. Der Irrtum eines Menschen war ihm einst so nötig, wie jetzt die Überwindung dieses Irrtums, — die neue .Wahrheit', — die dazu bestimmt ist, sich künftig als Irrtum zu erweisen: „denn du bist immer ein anderer" (74, 205). Und so wie die Schlange, die sich nicht häuten kann, zugrundegeht, so hören auch die Geister, die man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln, auf, Geist zu sein (73, 322)'. In MA heißt es, der Freigeist müsse „dort lieben lernen, wo er bisher haßte: und umgekehrt" (ΜΑ I, 274), um durch den „Wechsel von Liebe und Haß" endlich „frei in seinem Urteil über das 7

Siehe oben, Seite 75 f. Der Selbstwiderspruch -wird beim frühen Nietzsche aufgefaßt als zugehörig dem Wesen der Welt (Urwiderspruch im Ur-Einen; 70, 76), des Menschen (der Fleisdi gewordenen Dissonanz; 70, 189 f.), des Genies, i. e. des leibhaften und beseelten Widerspruchs (73, 205). — In dynamischer Projektion entspricht dem Selbstwidersprudi Zarathustras Botschaft der Selbstüberwindung als Tendenz aller Wesen (sie alle schufen bisher „etwas über sich hinaus"; 75, 8), des Mensdien (als „etwas, das überwunden werden soll"; 75, 8), des Lebens selbst (das spricht: „Siehe idi bin das, was sich immer selber überwinden muß"; 75, 124). Und schöpferischer Selbstwiderspruch, Selbstzerstörung und Selbsttranszendenz gelten als Wesen des Willens zur Macht. Vgl. dazu und zu dem Folgenden: Dialectics and Nihilism, op. cit.; Seite 13>8—146 (Fußnoten 63—67). • Diesem thematischen Komplex verbinden sich Nietzsches Qual und Stolz: „Ich muß weg über hundert Stufen, . . . Und niemand möchte Stufe sein" (74, 18). „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt" (76, 236). Ebenso das Selbstgefühl des Ringers, der zu oft sidi selbst bezwungen (76, 235), die Erfahrung des Geistes als einer sado-masochistischen Macht, die sich vom eignen Blut nährt (Leben, das selber ins Leben schneidet . . . ; 75, 112), die Verzweiflung des Erkennenden, des Geistes, an sidi selbst als dem „Selbstkenner! Selbsthenker!" (77, 542).

8

Kommentar

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Leben" zu werden und reif für einen Zustand jenseits von Liebe und Haß (ΜA I, 231). So gehen die freien Geister „von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Verräter aller Dinge, die überhaupt verraten werden können" (ΜΑ I, 355; vgl. 346 ff.). Auch die späteren Vorreden zu MA betonen das Prinzip der Selbstüberwindung: „Man s o l l . . . nur von dem reden, was man überwunden hat" (ΜA II, 3)10. Und in Erweiterung von Nietzsches Überzeugung, daß er, da er sich vorher erlaubt hatte, in der Öffentlichkeit zu sprechen, nun auch verpflichtet sei, sich öffentlich zu widersprechen (IV 2, 466), formuliert Nietzsche nun das generelle Denk- und Kompositionsprinzip des Widerspruchs sowie der „Umkehrung gewohnter Wertsdiätzungen und geschätzter Gewohnheiten" und ihrer Demaskierung als „mensdilich-allzumenschlich" (MA I, 3), zu der allerdings auch die Einsicht gehört, daß man — bzw. „das Leben" — „von der Täuschung" lebt (ΜΑ 1,3—5) und also, unter anderm, auch von den metaphysischen Irrtümern. Im 20. Aphorismus wird die philosophische Metaphysik als Überwindung der Religion, die Skepsis als Überwindung der Metaphysik, die empfohlene rückläufige Bewegung aber gewissermaßen als Überwindung der Überwindung der Metaphysik aufgefaßt, zu der es selbst die vorgeschrittensten Geister noch nicht gebracht haben11. Charakteristisch für die Aphorismenreihe ist aber auch, daß die Bilder, welche diese als positiv dargestellte Entwicklung veranschaulichen sollen, zugleich etwas bestürzend und entmutigend wirken. Wohin führt diese „Leiter", von der man nicht zu sagen wüßte, woran sie lehnt, und nur weiß, daß sie in Grundirrtümern, über die sie sich erhebt, verankert ist? Auf ihren obersten skeptischen Sprossen kann man sich auf die Dauer nicht halten. „ . . . man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen" (34). I. e. die Erkenntnis kann über die letzte Sprosse hinaus, aber nicht der ganze Mensch, sofern er eben nicht nur Schauender, Erkennender, sondern Fühlender, des Rückhalts bedürftiger, der Schwerkraft verhafteter Körper ist. Ein Ziel aber, dem mit der bewußten Regression, — dem Zurücksteigen auf niedrigere, gesichertere Sprossen, — gedient wäre, — e. g. eine Utopie, die etwa der später geforderten Steigerung zum Übermenschen entspräche, — ist hier nicht recht ersichtlich. Und ebenso mag der Leser sich fragen, ob die Kehre an dem prekären Ende des Hippodroms nicht doch wieder nur zurück an den Anfang der Rennbahn führe.

10 11

„Meine Sdiriflen reden nur von meinen Überwindungen" (ΜΑ II, 3). In der Druckfassung meint Nietzsche, es seien „noch wenige, weldie einige Sprossen rückwärts steigen" (34), in der ersten Fassung der Reinschrift: „ . . bin idi vielleicht der erste, welcher bis an das negative Ziel und nun wieder rückwärts gelangt ist" (IV 4, 71).

A P H O R I S M U S 21

Mutmaßlicher Sieg der Skepsis. — Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunkt gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Dies kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, daß die Menschen einmal in dieser Beziehung im ganzen und allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluß einer solchen Gesinnung, gestaltenf Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, daß die Menschheit ein Mißtrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Mißtrauen hat, so gibt es im ganzen und großen dieselben Folgen, wie wenn sie direkt widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte. Die historische Frage in betreff einer unmetaphysiscben Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die selbe.

Schon Aphorismus 21 gehört zu der im Vorhergehenden geforderten Umkehr. Denn statt wie bisher die metaphysischen Irrtümer weiter zu bekämpfen, charakterisiert Nietzsche nun eine Lage, in der die Skepsis gegen die Metaphysik allgemein wird, um weiter zu fragen, wie sich unter Voraussetzung einer solchen Skepsis, die Gesinnung des Menschen in bezug auf die uns einzig bekannte Welt gestalten könnte. Als „Ausgangspunkt" (34) der Skepsis gilt zunächst die Überzeugung, daß es keine metaphysische Welt gibt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen unbrauchbar sind. Sodann wird die Skepsis insofern perfektioniert, als sie nicht als dogmatische Leugnung sondern als Ablehnung der Frage nach einer metaphysischen Welt, bzw. nach der Möglichkeit eines wissenschaftlichen Beweises einer solchen Welt aufgefaßt wird, und zwar im Sinne jener in ΜΑ II empfohlenen „Gleichgültigkeit" bezüglich dessen, „was die Wissenschaft über die ersten und letzten Dinge einmal endgültig feststellen wird". Haben wir doch, wie es dort heißt, um unsere menschlichen Angelegenheiten fruchtbar zu gestalten, die Sicherheiten um alleräußerste Horizonte so wenig nötig „als die Ameise sie nötig hat, um eine gute Ameise

Kommentar

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zu sein" 1 , und ist es dodi „selbst für die größten Liebhaber der Erkenntnis.. nützlicher wenn um alles Erforschbare und der Vernunft Zugängliche ein umnebelter trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des Undurchdringlichen, Ewig-Flüssigen und Unbestimmbaren. Gerade durch die Vergleichung mit dem Reich des Dunkels am Rande der Wissens-Erde steigt die helle und nahe, nächste Welt des Wissens stets im Werte" (ΜΑ II, 177 f.). Endlich aber wird die Skepsis umgekehrt, nämlich unter der Annahme, daß der wissenschaftliche Beweis einer metaphysischen Welt möglich sei, sich also entgegen dem „skeptischen Ausgangspunkt" (34) eine metaphysische Welt statuieren ließe, daß aber deren Beweis so „schwierig" wäre, „daß die Menschheit ein Mißtrauen gegen ihn" nicht mehr loswürde (35). Schien es zuerst, als sollte die Menschheit in allem, was Metaphysik angeht, skeptisch werden, weil es eine metaphysische Welt nicht gibt, wurde sodann, die zu erwartende und empfohlene Gleichgültigkeit aus der Indifferenz, — dem Weder-Ja-Noch-Nein, — in bezug auf alle metaphysischen Fragen hergeleitet; so wird nun die Möglichkeit erwogen, daß die Skepsis gegen alle Metaphysik nicht aus dem wissenschaftlichen' Mißtrauen gegen eine Fiktion, sondern aus einem unwissenschaftlichen Mißtrauen gegen einen „wissenschaßlichen Beweis" (35) hervorgeht. Soviel zur Umkehrstruktur des Aphorismus. Die Weise, in der Nietzsche nun seine eigene antimetaphysische Haltung relativiert, entspricht übrigens der im 20. Aphorismus geforderten rückläufigen Bewegung, zumal der mit dieser Wendung verbundenen, freieren Einstellung gegen die überwundene Phase des Denkens. Das Geltenlassen der drei Möglichkeiten antimetaphysischer Gesinnung ist selbst Ausdruck einer skeptisch-adogmatischen Freizügigkeit, die dem, gegen jede Einschränkung reizbaren Freigeist auch deshalb lieber sein dürfte als eine apodiktische Negation, weil sie ihm nichts — nicht einmal die Metaphysik — verbietet; anderseits aber auch symptomatisch dafür sein mag, daß Nietzsche sich eine Entscheidung über das rein wissenschaftlich-theoretische Problem des An-sich in der Phase von MA nicht zutraut. Jedoch weder die Leugnung des An-sich oder die Ablehnung der Frage danach, noch die Annahme eines wissenschaftlichen Beweises „irgend einer metaphysischen Welt" (35) tangiert die Grundhaltung, die nun nicht mehr als Errungenschaft höchster Besonnenheit (vgl. 34), sondern als charakteristisch f ü r das unmittelbar bevorstehende „gegen Metaphysik" gerichtete Zeitalter (IV 2, 476) aufgefaßt wird. Sind doch schon jetzt, wie Nietzsche später meint, „in Europa alle gescheuten Leute Skeptiker, ob sie es sagen oder nicht" (83, 430). Denn selbst wenn es feststünde, daß es ein Ding an sich gibt, so wäre es für uns „bedeutungsleer" (30) und nichts als jenes 1

Allerdings ein beklemmender Vergleich, da er an Möglichkeiten eines künftigen Ameisenstaates, bzw. an die widerwärtigen, verächtlichen Gemeinschaften der langlebig-zähen, insektenartigen letzten Menschen gemahnt, die später im Zarathustra mit Erdflöhen verglichen werden (75, 14 f.).

Aphorismus 21

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uns Unzugängliche, das von der Welt übrigbliebe, wenn man den „Menschenkopf" „abgeschnitten hätte" (21). In diesem Punkt ist Nietzsdies Ansicht also durchaus doktrinär; und man könnte behaupten, der ganze Aphorismus diene nur dem Zweck, die künftige Bedeutungslosigkeit der Metaphysik mit H i l f e einer Art von Dialektik vorzubringen, welche lediglich rhetorisches Mittel dazu sei, die Aussage emphatischer zu machen. M a g die Frage nach dem Vorhandensein einer metaphysischen Welt — etwa durch einen radikalen Perspektivismus — negativ entschieden oder als falsche Frage abgelehnt werden; oder umgekehrt, als „rein wissenschaftliches Problem" (21) im positiven Sinne beantwortet werden: — in jedem Fall wird die Metaphysik nicht Lebensmadit sein, wird der künftigen Menschheit eine „unmetaphysische Gesinnung" (35) eignen. Die „historische" Frage, wie eine so gestimmte Menschheit sich die Welt einrichten wird, bleibt die gleiche (35). Die historische Philosophie aber, die bisher mit dem Abbau (der zersetzenden Analyse) eines archaischen Erbes zum N u t z e n der Gegenwart befaßt war, wendet sich nun umgekehrt dem Problem zu, wie eine unmetaphysische skeptische Gesinnung sich als solche — und zwar mit H i l f e des archaischen Erbes — zum Nutzen der Zukunft aufbauen lasse. Der Glaube an die Wünschbarkeit einer menschlichen Kultur wird dabei offenbar von Nietzsches Skepsis nicht angegriffen.

STUDIE ZUM 22. APHORISMUS

22. Unglaube an das „monumentum aere perennius". — Ein wesentlicher Nachteil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, daß das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit ins Auge faßt und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt, und deshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine jahrhundertelange gleichmäßige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, daß in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genötigt sei; der einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. — Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken? In der Tat braucht sie den Zweifel und das Mißtrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heißt alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so groß werden (zum Beispiel in der Diätetik der Gesundheit), daß man sich daraufhin entschließt, „ewige" Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der Kontrast unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langatmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äußere Entwicklungen, als daß er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und ein für allemal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle.

1. Paraphrase Wird eine skeptisch-unmetaphysische Gesinnung, die sich des menschlich-allzumenschlichen Charakters unserer Erfahrungswelt bewußt ist, dazu imstande sei, eine neue Epoche der Kultur zu zeitigen? Es ist nötig, sich — im Zuge der rückläufigen

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Studie zum 22. Aphorismus

Bewegung — über den Verlust im Klaren zu werden, der sich aus dem Wegfall der religiös-metaphysischen Vorstellungen ergibt, denen die Menschheit bisher ihre „größte Förderung" (34) verdankte. Ein soldier Verlust wird an einem charakteristischen „Nachteil" (35) der Skepsis erläutert. Die „metaphysischen Ansichten" erhielten die Menschen in dem „Glauben, daß in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei" (36). Sie vermochten daher im Menschen das Vertrauen, den Menschheit fördernden Antrieb und die Fähigkeit dazu zu entwickeln, „an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen" und diese ohne Rücksicht auf individuelle Kurzlebigkeit jahrhundertelang zu pflegen (35). So meinte der Einzelne, der eine Kirche oder ein Kloster stiftete, etwas für das ewige Fortleben und Heil seiner Seele zu tun (36); so bildeten Künstler, so bauten Ardiitekten und Handwerker an den Kathedralen. „Wenn die Menschen nicht für Götter Häuser gebaut hätten, so läge die Architektur noch in der Wiege. Die Aufgaben, welche der Mensch sich aufgrund falscher Annahmen stellte (ζ. B. Seele loslösbar vom Leibe), haben zu den höchsten Culturformen Anlaß gegeben. Die .Wahrheiten* vermögen solche Motive nicht zu geben" (IV 2, 561). So wäre die Antwort auf die oben gestellte Frage, daß die anti-metaphysische Skepsis solche, die Menschheit fördernden Antriebe nicht hergibt, da sie das Interesse des Individuums auf seine ephemere, kurzlebige Existenz einschränkt („es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt" (35)). Anderseits aber muß man sich im Zuge der rückläufigen Besinnung auch fragen, ob etwa die moderne, antimetaphysische Macht der „Wissenschaft", die allerdings selbst „Unglauben an das ,monumentum aere perennius'" (35) gezeitigt hat, diesen Unglauben nicht auch wieder besiegen könnte. Anders gesagt: Man muß sich fragen, wie man den, auf metaphysischem Boden entwickelten, die Menschheit fördernden Impuls des Einzelnen, der — scheinbar ,selbstlos', in Wahrheit einem sublimierten Egoismus gehorchend (e. g. um des ewigen Heils der eigenen Seele willen) an überdauernden Institutionen bauen will, — umfunktionieren kann, um ihn auf dem Boden der Wissenschaftlichkeit ebenfalls gedeihen zu machen. Hier wird nun die Möglichkeit erwogen, daß die Wissenschaft selbst mit der Zeit eine genügend große Summe von „alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten" ausfindig macht, so daß „man sich daraufhin entschließt, ,ewige' Werke zu gründen" (36). Hieße das aber nicht, das Prinzip der Entwicklung der scheinbaren Gegensätze auseinander (Apho 1) zu weit treiben wollen? Denn Wissenschaft als strenge Erkenntnis braucht nicht nur „den Zweifel und das Mißtrauen als treuesten Bundesgenossen" (36), sondern anerkennt, streng genommen, keinerlei ewigen Fundamente und gipfelt wohl, nach Nietzsches Auffassung, in der Auflösung aller scheinbar fixierten Gegebenheiten in Bewegung. Anderseits ist aber zu bedenken, daß Nietzsche das Wort und den Begriff Wissenschaft mehrdeutig gebraucht und in der Phase von MA die Möglichkeiten wissen-

I. Paraphrase

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schaftlicher Erkenntnis lieber offenläßt als begrenzt1. Und es ist ferner daran zu erinnern, daß, auch wenn sie über die Welt, die nicht unsere Vorstellung ist, nichts auszusagen vermag, die Wissenschaft innerhalb unserer Vorstellungswelt mit Hilfe von einigen falschen, aber konstanten Größen „Strenge und Sicherheit" im Zusammenhang ihrer Resultate erreicht, weshalb man auf diesen, — zumindest auf lange Dauer hin, — fortbauen kann (vgl. 33). So mag die hier empfohlene, hypothetische Überlegung als Akkommodation aufzufassen sein, die unter Ausschluß der Frage nach ersten und letzten Dingen, eine — im strengen Sinne zwar auch bloß illusionäre, jedoch für das kommende Zeitalter mögliche und ersprießliche — Perspektive entwirft. Und auch in diesem Sinne würde der Aphorismus zu der Bewegung der Rückbesinnung gehören, die von der reinen Erkenntnis um „einige Sprossen zurück" führt {Apho 20) und die Frage stellt, wie man sich in der neuen Welt einigermaßen einrichten könnte. Das Wort ,Wissenschaft' wäre also hier in einem praktisch-empirischen, exoterischen Sinne und als Bezeichnung einer Institution aufzufassen; nicht aber als strenge Erkenntnis der Erkenntnis, — dergemäß Wissenschaft auch und gerade Kritik ihres eigenen Fiktionalismus zu betreiben und mithin auch die Gültigkeit aller ihrer Ergebnisse durch eine umfassende Skepsis zu relativieren hätte, statt dazu zu encouragieren,,ewige' Werke auf der Basis dieser Ergebnisse zu begründen. Auch der Verfasser der Vröhlidien Wissenschaft anerkennt das »tiefe und gründliche Glück", welches darin liegt, „daß die Wissenschaft Dinge ermittelt, die standhalten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittlungen abgeben: — es könnte ja anders sein!" (74, 71). Und auch der spätere Nietzsche empfiehlt die Verwertung des Glaubens an die Wissenschaft — als kulturpolitisches Rezept, wobei nun die exoterische Auffassung des Wissenschaftsbegriffs deutlich in den Vordergrund tritt: Denn im Bereich der Wissenschaft seien „die jasagenden Typen" der Gegenwart zu finden, die im übrigen ein „nihilistisches Abzeichen" trägt, weshalb man „das ungeheure Faktum begreifen [müsse], daß ein gutes Gewissen der Wissenschaft besteht" (83, 307 f.), ohne sich deshalb zu verhehlen, daß die Wissenschaft nur „den Fluß [zeigt], aber nicht das Ziel", das sie nur „Voraussetzungen [gibt], denen das neue Ziel [hier wohl: der Übermensch] entsprechen muß" (83, 454). Wir kehren zu dem 22. Aphorismus zurück. Die hier in Erwägung gezogenen, quasi,ewigen' Werke auf dem Boden der Wissenschaft, bezögen sich freilich nicht auf das Absolute und könnten, da es keine absoluten Tatsachen und mithin auch keine absoluten Wahrheiten gibt (17), auch nicht wahrhaft ewig sein (was allerdings auch für die .ewigen' Werke der metaphysischen Epochen galt). Sie bezögen sich vielmehr auf das, was dem Menschen frommt, auf seinen way of living, etwa auf die „Diätetik der Gesundheit" (36), die Nahrung und das Regime, die seiner Entwicklung am zuträglichsten sind. Und in diesem Sinne heißt es auch in der Morgenröte: Noch fehlen Ärzte, „für welche das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück 1

Vgl. die im 21. Apho erwähnte Möglichkeit eines wissenschaftlichen Beweises einer metaphysischen Welt.

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Studie zum 22. Aphorismus

ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muß . . . ; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und höheren Schulen" {73,173). Der im 22. Aphorismus durch den Hinweis auf die Diätetik angedeutete Gedanke und die ausdrückliche Wendung zu dem Menschen als Körper, als physischem (nicht-metaphysischem) Wesen — steht in engster Verbindung mit Nietzsches späteren Empfehlungen zur systematischen Züchtung des gesunden und übergesunden Einzelnen, der am Ende die Grenze dessen übersteigen soll, was uns jetzt als Wesen und Adel des Mensdien gilt (vgl. etwa 75, 224 f., 263). So ist in dem unscheinbaren Aphorismus viel von der späteren, unter Aufbietung stärkster Orchestrierung entwickelten Heilslehre Nietzsches enthalten, nämlich die radikale Negation religiöser, metaphysischer Fundamente und der ebenso radikale Versuch, die Tugenden und Leistungen der religiös-metaphysischen Phase innerhalb eines neuen Koordinatensystems irdischer Vitalität wieder zu erreichen, zu intensivieren, zu überbieten. Die Zeit für eine solche Neugründung wird aber hier noch nicht für gekommen erachtet. Vielmehr lebt der Mensch jetzt im Gefühl der Antithese, des „Kontrastes" zwischen (relativer) Statik als Lebensgefühl „metaphysischer Zeitalter" (36), das ihm verloren gegangen ist, und ephemer dynamischer, moderner Individualexistenz. Das Ewige, ja das nur auf Lebenszeit Dauerhafte: das Haus — gilt ihm als tot, als Mausoleum, — in Umkehr der metaphysischen Ansicht, der nur das Dauerhafte, ja das Ewige als wahrhaft seiend galt. Umkehrstrukturen sind in dem Aphorismus also durch die Rückbesinnung auf einen metaphysischen Irrtum gegeben, der einen Menschheitswert — den Wert selbstloser' Arbeit oder der Hingabe an ein, das Individuum überdauerndes und überragendes Werk — hervorbrachte. Als weitere dynamische Antithese und Umkehrstruktur war auch in Betracht zu ziehen, daß Nietzsche die Gründung künftiger ,ewiger* Werke (ewig hier = langlebig) auf der Basis der Wissenschaft erhofft, die doch alles in „Bewegungen aufzulösen" hat (33); und daß, wie Nietzsche gewiß mit Absicht betont, die Gründung dieser ,ewigen* Werke gerade auf der Basis von Einsichten in einen Bereich erfolgen soll, welcher der — idealistisch-spiritualen — Metaphysik als das bloß Zeitlich-Physische und daher Ephemere galt, e. g. auf der ,Diätetik'.

2. Psychologischer Exkurs über Nietzsches

Machttraum

Soweit die Paraphrase des Aphorismus. Wie so oft bei Nietzsche erweist sich aber der unscheinbare Text und eine innerhalb dieses Textes noch unscheinbarer gemachte, in Klammern gesetzte Stelle, — hier: der quasi nur nebenbei und „zum Beispiel" eingeführte Hinweis auf die „Diätetik der Gesundheit" (36), — als aufschlußreich

II. Ü b e r Nietzsches Machttraum

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für das, was den Autor bewegt und was er vielleicht ebendarum nur gerade noch andeuten oder halb verbergen will. In späteren Rückblicken auf seine Entwicklung, — e. g. in den Vorreden von 1886 und im Ecce homo, — betonte Nietzsche den biographischen Charakter von MA*. Das Werk soll nun das für ihn, — den wahrhaft freien Geist, — entsdieidende „Ereignis" einer „großen Loslösung" (ΜΑ I, 5) dokumentieren, die ihn von allen früheren Bindungen — an den bürgerlich-akademischen Beruf, die Philologie, an Freunde und Vorbilder (Wagner, Schopenhauer) — befreite. Die Macht aber, die ihm damals „zu Hilfe" kam, meint er, sei „die Krankheit" gewesen: „Die Krankheit löste mich langsam heraus" (77, 363). Und diese wird nicht, — wie es der heute bevorzugten Diagnose entspräche, — als Folge einer, von dem Pastorensohn als Student kontrahierten syphillitischen Ansteckung bezeichnet (es ist denkbar, daß er, entsprechend einer damals häufigen Auffassung, seine Geschlechtskrankheit für eine verjährte längst überwundene Episode gehalten hat)' —, sondern als „schlimme Erbschaft von Seiten meines Vaters" (77, 363). Was immer die Ursache, er war krank gewesen (ΜA II, 6), er hatte lange „inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, acedia, Untätigkeit)" gelebt (ΜΑ I, 5) — und „von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre" war „der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entraten mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntnis" (ΜΑ , 7 f.), d. h. bis zu dem Zustand, den Nietzsche nun als seinen eigenen postulierte, obschon er jetzt — im Frühling 1886 — nach landläufigen Begriffen gewiß nicht weniger krank war als zuvor. Was immer aber von Nietzsches späterer Selbstdiagnose oder desparater Selbstmaskerade zu halten sein mag, seine retrospektive Analyse wird Intentionen und Haltungen gerecht, die für die Epoche von MA wesentlich sind. Denn unter anderm will der Autor von MA wahrhaftig „Arzt und Kranker in einer Person" sein, sich „zu einem umgekehrten, unerprobten Klima der Seele" zwingen (ΜΑ II, 9), sich „eine gründliche Kur [verschreiben] gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde . . ) " (ΜΑ I, 9 f.), und also den „Weg zu einer neuen Gesundheit" (ΜΑ II, 10) finden. Und schon der Autor von MA weiß wohl, daß hier mitunter „ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er nicht ein Leidender und Entbehrender sei" (ΜΑ II, 8); und hofft, daß seine Jahre des Leidens sich als „Jahre der Genesung... [erweisen würden,] geführt durch einen zähen Willen zur Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt" (ΜΑ I, 8). 2

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Den auch Bäumler hervorhebt und aus ideologischen Gründen, nämlich um die aufklärerische, quasi-positivistische Tendenz von M A zu entwerten, überbetont. Vgl. ΜΑ II, 337. Zu Nietzsches „luetischer Infektion" vgl. etwa Richard Blunck: Friedrich Nietzsche Kindheit und Jugend (Basel: Rheinhardt, 1953), Seite 160 ff.; Karl Jaspers: Nietzsche (Berlin: De Gruyter) 1 9 5 0 ; 3. Aufl.), 92 ff.

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Studie zum 22. Aphorismus

Der spätere Nietzsche will, daß die beiden Bände von MA als persönlich-überpersönliches Erlebnis „die Geschichte einer Krankheit und Genesung" (ΜΑ II, 10) enthalten und also „eine Gesundheitslehre" (ΜΑ II, 5). Insofern aber diese Intention auch die des früheren Nietzsche ist, läßt sich vermuten, daß ihm in einer Periode, in der er immer wieder Zuständen akuten physischen Leidens (Augenleiden, Kopfschmerz, Erbrechen, usf.) unterworfen ist und seine Krankheit zum ersten Mal als die, seine bisherige Lebensform zerstörende Macht auftritt, kaum ein Thema so nahegeht wie eben die „Diätetik der Gesundheit". Ebenso verständlich ist es aber, wenn Nietzsche, da er nicht als kranker und gemäß den Bedürfnissen seiner Krankheit denkender Autor erscheinen will, dieses Thema als sein eigenes Pudendum in unserem Aphorismus nur flüchtig berührt. Und ebendarum mag er noch im Druckmanuskript einen parenthetischen Zusatz gestrichen haben, der die Diätetik der Gesundheit allzudeutlich zu erläutern schien. Dort wurde nämlich die Möglichkeit, aufgrund wissenschaftlicher Einsichten ewige Werke zu gründen, mit der, — vielleicht sehr ernst und sehr ironisch gemeinten — Bemerkung illustriert: „zum Beispiel durch Prophylaxis gegen gewisse Krankheiten auf der ganzen Erde" (IV 4, 172), was nun allerdings den Gedanken nahelegt, daß Nietzsche doch auch an seine eigene Infektion gedacht haben könnte. Eine Anspielung, ja auch den bloßen Anschein einer Anspielung darauf hätte Nietzsche aber in der Epoche von MA gewiß vermeiden wollen, selbst wenn die Vermutung zu Unrecht bestünde, daß es in Basel ein Gerede von seiner Geschlechtskrankheit oder deren angeblichen Folgen gab4. Denn was seine eigene Person angeht, beachtet Nietzsche selbst noch in seinen späteren, programmatisch enthemmteren, programmatisch schamloseren Schriften eine, den Deutschen von damals entsprechende Zurückhaltung. Und auch das verschlüsselte, verklemmt pornographische, peinlich-groteske, von Wollust, Freudenmädchen und der Verheerung durch sexuellen Exzeß ironisch predigende Gedicht „Unter Töchtern der Wüste" (77, 534—538)5, bestätigt diese Haltung. Die offenere, exhibitionistischere — oder in ihrem Exhibitionismus weniger problematische — Geste von Heine (einem Lieblingsdichter des späteren Nietzsche), der die Herkunft des eigenen Leidens nicht verschwieg, hätte Nietzsche wohl selbst dann nicht entsprochen, wenn er über seine Krankheit so Bescheid gewußt hätte, wie die Mehrzahl der Experten heute über sie Bescheid zu wissen glauben. So anstößig dies in Anbetracht seines Anspruchs auf Wahrhaftigkeit wäre, es ist denkbar, daß Nietzsche, auch wenn ihm die Wahrheit zugänglich gewesen wäre, sich lieber selbst belogen hätte. Es ist aber auch denkbar, daß Nietzsche seine Freunde und/oder seine Leser belogen hätte, auch wenn er und seine Freunde geglaubt hätten,

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Worauf ζ. B. die von Burdkhardt überlieferte Äußerung über Nietzsches Impotenz oder Sterilität schließen ließe. Ist „Wüste" hier nicht zugleich audi Nietzsches Bezeichnung für die Krankheit, die den .Wüstling* .verwüstet'?

II. Über Nietzsches Machttraum

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Bescheid zu wissen. Und zwar ist derlei audi darum denkbar, weil Nietzsche eben durchaus nicht „nur Narr! nur Dichter!" (77,532) sein wollte, sondern das unabweisliche Bedürfnis danach empfand, von seinen Zeitgenossen für voll genommen zu werden, und was mehr ist: als vorbildlich zu gelten; und weil er endlich, je kränker er wurde, nur desto entschiedener, sich und allen gegenüber den Anspruch darauf erhob, als Verkünder einer neuen, makellosen Gesundheit zu gelten. Denn nur so und nicht anders glaubte er sich sein monumentum aere perennius errichten zu sollen; und wenn die Krankheit, an der er litt, ihm — als sein eigenster, geheimer, quasi mystischer Qualenhort — auch dazu dienen mußte, Impulse zu seinem ungeheuren Anspruch zu liefern: — ihr volles, planes Eingeständnis wäre diesem Anspruch, auch und gerade vor dem Forum von Nietzsches Selbstbewußtsein, wohl nicht zuträglich gewesen. *

*

*

Ich hoffe man versteht, was diese Abschweifung soll; worauf diese hypothetischen, scheinbar so müßigen Überlegungen abzielen. Es besteht ein, an dem unscheinbaren Text des 22. Aphorismus nachweisbarer oder doch nach-spürbarer Zusammenhang zwischen Nietzsches unruhiger Sorge, seiner Angst vor Wesen und Verlauf der eigenen Krankheit, seinem qualvollen Gefühl der Schwäche, seinem dringenden Bedürfnis nach einer ,Diätetik der Gesundheit' und seinem Traum von Macht, als dessen höchster Ausdruck ihm das monumentum aere perennius gilt. Je kranker, einsamer, hilfloser Nietzsche wird, je näher er dem Zusammenbruch kommt, der der ganzen, unsäglich angestrengten und prekären psychischen Ökonomie ein Ende macht, desto ehr- und machtsüchtiger wird er, desto mehr verfällt er dem Ehrgeiz, dessen „Hauptelement" ist „zum Gefühl seiner Macht zu kommen" (82, 265). Die „Gesundheitslehre" ist nicht bloß eine Disziplin, die er sich, neben anderen Materien, — der National-Ökonomie, der Physik usw. — etwa im Sommer '75 als Pensum vornehmen will (IV 1, 205 (8 [3]). Das „Problem der Diät" verbindet sich, eben weil es für ihn mit dem Bewußtsein seiner ihn schwächenden, gefährdenden, erniedrigenden, entmachtenden Krankheit verbunden ist, mit dem Gegenbild der Ohnmacht, dem Caesar-Komplex. Er versichert sich selbst: „Die Mittel, mit denen Julius Caesar sich gegen Kränklichkeit und Kopfschmerz verteidigte: ungeheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, beständige Strapazen — das sind, ins Große gerechnet, die Erhaltungs- und SchutzMaßregeln überhaupt gegen die extreme Verletzlichkeit jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heißt" (77, 150). Im Zusammenhang mit unserem Aphorismus, — in dem es Nietzsche übrigens (wie fast immer) weniger um kollektive Aufgaben geht als um das „Individuum" (35), den hervorragenden Einzelnen, der „eine Kirche, ein Kloster stiftet" (36), — scheint mir nun, als käme die, von Angst vor der eignen Schwäche angestachelte Begierde nach Macht und Unsterblichkeit (die wohl jeder Ehrgeizige kennt) in einer Assoziationsreihe zum Ausdruck, welche das phallische Bild des Baumes und der

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Studie zum 22. Aphorismus

fruchtbaren Baumanpflanzung, die lange Geschlechterreihen überschattet mit der steinernen an Baum und Wald gemahnenden Architektonik mittelalterlicher Kirchen verbindet, um in dem Gedanken an Selbstverewigung zu gipfeln. Die Architektur, aus deren Bereich das Bild des monumentum aere perennius wohl stammt, — wir erinnern daran, daß es hieß, sie läge noch in der Wiege, wenn die Menschen nicht für Götter Häuser gebaut hätten (IV 2, 561), — gehört überhaupt zu Nietzsches Machttraum. In ihr manifestiert sich „der große Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des großen Willens, der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspiriert; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in Dem zum Ausdruck, was großen Stil hat" (77, 137 f.). Und so sieht Nietzsche ein Zeitalter der Architektur voraus, „wo man wieder für Ewigkeiten, wie die Römer, baut" (83, 366). Er schwelgt in kolossalischen Projekten: „statt Kunstwerke zu schaffen, wird man die N a t u r in großem Maße verschönern in ein paar Jahrhunderten Arbeit, um zum Beispiel die Alpen aus ihren Ansätzen und Motiven der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben" (83, 366). Und er fordert anderseits auch als Desiderata für die kommende Zeit „Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Beiseitegehens ausdrücken" (74, 184), also Kirchen und Klöster f ü r Freigeister (vgl. IV 2, 401), Bauten, wo „wir Gottlosen . . unsere Gedanken denken könnten", an Stelle der früheren von der vita religiosa bestimmten Stätten f ü r das kontemplative Leben. Denn „wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln" (74, 185). Damit ist zugleich angedeutet, daß Nietzsches architektonischer Machttraum durchaus nicht bloß im imperatorisch-monumentalen Genre konzipiert ist. Der „große Stil", der Ausdrude höchster „Macht und Sicherheit" (77, 138), dürfte vielmehr als „ein Sinn für Weniges und Langes" (82, 200) jeder aggressiven Geste entbehren, könnte sich unter völligem Verzicht auf gewaltsame Effekte, etwa auch in der Betrachtung, manifestieren, wie denn überhaupt der höchste Wille zur Madit, nach Nietzsche, dem Werden den Charakter des Seins aufprägt (78, 418), usf. Dennoch soll uns die Rücksicht auf subtile Wandlungen und Steigerungen von Nietzsches Wunschbild der Macht, in denen sich das primitive Grundelement sublimieren und verflüchtigen mag, nicht daran hindern, das krasse und simple Phänomen einer durch Angst vor der Schwäche gesteigerten Sucht nach dem Monumentalen zu verkennen. Und in diesen Zusammenhang gehört nun doch auch, als ein bei Nietzsche privilegiertes, positives Symbol der äußeren Machtentfaltung, das imperatorische Rom von Cäsar Augustus mitsamt seinem architektonischen

II. Uber Nietzsches Machttraum

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Stil der Macht als dessen literarischer Ausdruck Nietzsdie auch die Ode des Horaz „Exegi monumentum . . . " (Carmina, Lib. III, xxx) imponiert. In Anbetracht von Nietzsches Abneigung gegen die christliche Epoche und seiner Sympathie für das klassische Altertum, sowie in Anbetracht der historischen Rolle und Dauer des römischen Reichs, erübrigt es sich wohl, Gründe dafür anzuführen, warum Nietzsche, der die Befähigung zur Erneuerung des römisch-imperatorischen Machtanspruchs audi in der Gestalt Napoleons bewunderte, eine Affinität zu Rom in sich entdecken wollte. In der Morgenröte heißt es: „Man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet — ja, wenn das Reidi baute, so baute man mit dem Hintergedanken des „aere perennius" (73, 61 f.). Dieser monumentalen Ardiitektonik im eigentlichen Sinne entspricht aber, wie schon bemerkt, auch eine monumentale Ardiitektonik des Wortes, die Nietzsche für sidi begehrt: „Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach römischem Stil, nach dem „aere perennius" im Stil bei mir wiedererkennen". Und ebendiesen Stil meint der späte Nietzsdie schon „bei der ersten Berührung" mit Horaz bewundert zu haben: „Bis heute habe idi an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazisdie Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nadi redits und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen . . . Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, — eine bloße Gefühls-Geschwätzigkeit.." (77,175 f.). Die Beziehung zu Horaz, die in unserem Aphorismus nur durch ein Zitat angedeutet wird, das als Gemeinplatz den Leser kaum noch an seinen Autor denken läßt, erweist sich als relevant. Bei näherem Eingehen auf das Geflecht von Assoziationen, das dem Aphorismus zugrundeliegt, zeigt sidi, daß Nietzsche zu Horaz und dessen Stil des ,aere perennius' gewissermaßen in einem spiegelverkehrten Verhältnis steht. Als moderner Mensch, dem, wie es im 3. Aphorismus hieß, „der geistreiche Blick" mehr gilt „als der sdiönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk" (18), als „ganz moderner Mensch" — und wohl auch persönlich: als fugitivus errans, — der, wenn er sich audi ein Haus bauen wollte, dabei das Gefühl hätte, „als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle" (26), versteht er Ardiitektur nicht (ΜΑ I, 173), „weil wir nicht in der Symbolik der Linien leben" (IV 4, 200), sind die „Symbol Voluten" ihm fremd, wie auch „die größte Kunst der antiken Beredsamkeit jetzt nur undeutlich zu uns redet" (IV 4, 200). Und so fehlt ihm denn auch der Sinn für den Stil des aere perennius. In all dem ist nun Horaz sein Antipode: „Gegensatz — Horaz unter lauter ewigen festgewordenen Dingen — wir unter lauter ganz kurzen: jedes Geschlecht

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Studie zum 22. Aphorismus

soll sein eignes Feld bestellen" (IV 3, 413). Jedoch scheint sich nun innerhalb der Gegensätzlichkeit auch eine Affinität zu ergeben. Denn Nietzsches Horaz ist, anscheinend, nicht nur unter „ewigen" Dingen; er steht zugleich unter dem „ungeheuren Eindruck, den die Lehre von der Vergänglichkeit auf die Alten macht" (IV 3, 375)', und will also, diesem Eindruck entgegenarbeitend, Unvergänglichkeit für sich gewinnen. Zugleich aber ist er von den ewigen Dingen bedrückt und flieht in jenen „feierlichen Leichtsinn", den Nietzsche an ihm schätzt, obschon Nietzsdie selbst diesen Leichtsinn im Grunde als Kur gegen das umgekehrte Leiden, nämlich: gegen das Leiden an der Einsicht in die Unwahrheit aller ewigen Satzungen empfiehlt (vgl. ΜA 1,100 f.). Denn wir sind, — obschon noch unter dem ungeheuren Eindruck der angeblich ewigen Gegebenheiten (wie Religion und Metaphysik sie behaupten), — von der Vergänglichkeit aller Dinge durchdrungen und überall bestrebt, dem scheinbar Unvergänglichen seine Vergänglichkeit nachzuweisen, leiden aber zugleich an dieser Vergänglichkeit und hoffen ebendarum audi wieder auf ewige Werke. „Wir, die wir nur die ,Melancholie der Ruinen' kennen, können kaum jene ganz andersartige [römisch-antike] Melancholie der ewigen Bauten verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen mußte, wie es gehen wollte, — zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens" (73, 62). Erst damit sind die entscheidenden Faktoren angedeutet, die das Verhältnis Nietzsches zum römisch-horazischen Stil des aere perennius bestimmen. Denn Nietzsches Hoffnung läuft eben in allem darauf hinaus, als moderner Mensch, — aufgrund und trotz der umfänglichsten Erfahrung der Vergänglichkeit, welche zugleidi Projektion und Objektivation des subjektiven Erlebens der eigenen Schwäche und Hinfälligkeit ist, — sich ein monumentum aere perennius zu schaffen; auf dem modernen Ungrund, unter Voraussetzungen, die durchaus denen entgegengesetzt sind, die für die Zeitalter galten, in welchen Mythus, Religion, Metaphysik noch ewige Gegebenheiten vorspiegelten, sich selber zu verewigen. Die Bemerkungen über Horaz führen nur scheinbar von dem Thema ,Machttraum' ab. Der imperatorische Stil, Rom, die politische Sphäre überhaupt erweisen sich als Durchgangsphase. Die höchste Machtsphäre ist für Nietzsche die religiöse, die der Berührung mit dem Absoluten, göttlich Ewigen, in dem auch Horaz seine X X X . Ode verankern will. Und wenn wir heute Architektur nicht mehr verstehen, so deshalb, weil die großen alten — griechischen, christlichen — Gebäude, an denen „ursprünglich alles etwas [bedeutete]", die Sprache des Mythus, der Religion, der Metaphysik sprachen, die nicht mehr die unsere ist (ΜΑ I, 173). Aber gerade aus dem Faktum, daß wir nicht an Ewiges, Absolutes, das uns gegeben wäre, glauben, soll sich — so will es Nietzsche — die ungeheure, bodenlose Chance des Menschen ergeben, dieses Absolute, Ewige selber zu schaffen; gerade darum muß, soll, kann der Mensch, dem kein Gott eine Grenze setzt, sich selber vergotten. Zarathustra sagt: „Aber daß ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter 6

Nietzsche fügt hier ausdrücklich hinzu: „(Horaz und Antonin)".

II. Über Nietzsches Maclittraum

227

gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter" (75, 91). Und er verkündet zugleich die Gottwerdung des Menschen. Damit aber ist die höchste Steigerung von Nietzsches faustisch-überfaustischer Ruhm- und Machtsucht bezeichnet, die zweifellos durch das tägliche Bedürfnis nach einer Diätetik der Gesundheit, nach einem Bild der Vitalität, und durch die ständige Erfahrung der eigenen Krankheit und Schwäche aufs äußerste gereizt wurde. Wenn wir aber hier auf den Machttraum Nietzsches eingingen, so audi darum, weil sich im Rückblick leicht erkennen läßt, inwieweit die — audi von Mann entwickelte Parallele zwischen Nietzsche und der nationalsozialistischen Ära Deutschlands (siehe Doktor Faustus), — gerade auf den Machttraum Nietzsche zutrifft. So finden wir bei den Nazis das Bewußtsein des nationalen Krankheits- und Schwächezustands und dessen Überhöhung durch imperatorische Monumentalsudit, — den klassizistischen Kolossalstil in der Architektur, den Anspruch auf Weltherrschaft und auf das nächste Millennium der Weltgeschichte, und die Farce der Selbstvergötterung, wobei sich sowohl versteht, daß der Vulgär-Nietzscheanismus der Nazis weder Nietzsches Niveau nodi seiner Meinung gerecht wird, als audi, daß Nietzsche, gerade in dem, von seiner Individualpathologie verstärkten und mit-bestimmtem Macht-Komplex7 wesentliche Züge der späteren, von kollektiver Pathologie inspirierten nationalsozialistischen Macht-Ideologie antizipiert und bereitstellt. Für den 22. Aphorismus wie für ΜΑ I überhaupt gilt dies allerdings kaum. Zwar ließ sich hier der Versuch machen, den später voll entwickelten Macht-Komplex in einem bloß angedeuteten Assoziations-Zusammenhang aufzuspüren. Dem Text selbst aber fehlt, explicite, jede monumentale Prätention. Im Gegenteil, hier heißt es bloß: jetzt kann man nicht für ewig bauen, wie man dies einst zu können glaubte und audi in der Zukunft einmal wieder tun wird. — Was aber kann man jetzt tun — in der schwanken, unruhigen Epoche des Übergangs zwischen dem metaphysischen und dem wissenschaftlidien Zeitalter? Die Antwort darauf gibt der folgende Abschnitt über unser Zeitalter der „Vergleichung" (36).

7

dessen extrem megalomane Ausgestaltung (wie sie für die Paralyse als charakteristisch gilt) allerdings erst mit dem Ausbruch von Nietzsches Geisteskrankheit zutage tritt.

STUDIE ZUM 23. APHORISMUS 23. Zeitalter der Vergleichung. — Je weniger die Mensdien durch das Herkommen gebunden sind, um so größer wird die innere Bewegung der Motive, um so größer wiederum, dem entsprechend, die äußere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Mensdien, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen gibt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einem Ort sich und seine Nachkommen anzubinden f Für wen gibt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Kulturen. — Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, daß in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Kulturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer lokalisierten Herrschaft jeder Kultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden, sie wird die meisten — nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden — absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz — aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so groß verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, — eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volkskulturen hinaus weiß, als über die Kultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Kultur als auf verehrungswürdige Altertümer mit Dankbarkeit zurückblickt.

1. Das Zeitalter der

Vergleichung

Eine Vorstufe des 23. Aphorismus lautet: „Der Vorzug unserer Cultur ist die Vergleichung. Wir bringen die verschiedensten Erzeugnisse älterer Culturen zusammen und schätzen ab; dies gut zu machen ist unsere Aufgabe. Unsre Kraft soll sich zeigen, wie wir wählen; wir sollen Richter sein" (/V 2, 529 f.).

I. Das Zeitalter der Vergleichung

229

Immer unterscheidet Nietzsche in seiner durchaus historisch orientierten Kulturkritik, — sowie in seinen personal-historisch autobiographischen Perspektiven, — gemäß den drei Aspekten der Zeit. Die Vergangenheit, die Epoche der „älteren Culturen" (IV 2, 529), der „abgeschlossenen originalen Volkskulturen" (38), der „alten Kultur" (37) oder der „Cultur" überhaupt (IV 2, 444 (19 [76]) wurde bedingt durch den, — jeweils den Horizont der geschlossenen Gemeinschaft begrenzenden — Mythus, durch Religion, Metaphysik, Kunst. Deren Auflösung, — e. g. durch den Sokratismus der Wissenschaft, durch Rationalisierung, durch Technisierung — charakterisiert die Gegenwart·, das Zeitalter des modernen Alexandrinismus, des Stilgemischs und der Anomie, der Dekadenz und der Vergleichung, der Entnationalisierung, des nivellierenden Groß-Staats, des Demokratismus, des Sozialismus1, das Zeitalter des Untergangs und Übergangs. Für die Zukunft aber ist eine neue homogene Kultur zu postulieren. — Dem analog sieht Nietzsche sich selbst als einen Menschen, der noch an Mythus, Religion, Metaphysik, Kunst teilhat; das Schicksal der Moderne in sich erfährt und überwindet; und ein Leitbild für die Zukunft zu setzen genötigt und bestimmt ist. Was sich im Verlauf des Werks wesentlich ändert, ist, in Hinblick auf Vergangenheit und Gegenwart, nidit der Befund sondern dessen Einschätzung, und damit auch das Leitbild für die Zukunft. Im Frühwerk ist Nietzsche der — kulturlosen — Gegenwart feindlich, nimmt er Partei für die Vergangenheit und erhofft für die Zukunft die Erneuerung, die Wiedergeburt des Wesentlichen der alten — i. e. der antiken, vor allem: der griechischen — Kultur, der Metaphysik (im Zeichen Schopenhauers) sowie der Kunst — der apollinisch-dionysischen Musiktragödie — und des (deutschen) Mythus (im Zeichen Wagners). Schon Frühling-Sommer 1875, — noch vor Beendigung des Wagner-Essays (ÜB IV), — skizziert Nietzsche jedoch eine Haltung, die dem Programm von MA entspricht: „Mit dem Verschwinden des Christenthums ist auch ein guter Theil des Alterthums unverständlicher geworden, zumal die ganze religiöse Basis des Lebens. Schon deshalb ist eine Nachahmung des Alterthums eine falsche Tendenz; Betrüger oder Betrogene sind die Philologen, welche noch daran denken. Wir leben in der Periode, wo verschiedene Lebensauffassungen neben einander stehen: deshalb ist die Zeit so lehrreich, wie selten eine, deshalb so krank, weil sie an den Übeln aller Richtungen zugleich leidet" (IV 1,119 f.)2. Als Ziel erscheint nun, ebenso wie in MA, entgegen den Idealtypen der abgeschlossenen Volkskulturen (38), der übernationale „Zukunftsmensch" (IV 1, 120). Denn „was im Grunde vor sich geht" — und vor 1

2

Vgl. etwa IV 2, 505': „Der Moment, in welchem die Luftschifffahrt erfunden und eingeführt wird, ist günstig für den Socialismus, denn der verändert alle Begriffe von BodenEigenthum. Der Mensch ist überall und nirgends, er wird entwurzelt. Man muß durch Gesellschaften sich sicherstellen, in strenger gegenseitiger Verpflichtung" usw. Eine Bemerkung, die übrigens verdeutlicht, was mit dem im 23. Aphorismus erwähnten „Leiden" (37) des Zeitalters der Vergleichung gemeint ist.

230

Studie zum 23. Aphorismus

sich gehen soll, — ist „das Verschwinden des Nationalen und die Erzeugung des europäischen Menschen" (IV 2, 444) 3 . Im mittleren Werk betont Nietzsche seine Zugehörigkeit zur Gegenwart, bejaht er die kritische Emanzipation von allen Bindungen an die f ü r die Vergangenheit konstitutiven Mächte. Denn: „Alle Grundlagen der Cultur sind hinfällig geworden: also muß die Cultur zu Grunde gehen" 4 (IV 2, 444). Dabei kommt der Wissenschaft die Hauptrolle zu. Denn so zweifelhaft es ist, ob es in den letzten viertausend Jahren einen Fortschritt der Menschheit gab, so gewiß ist doch der Fortschritt der Wissenschaft, der die höchste Form der bisherigen Kultur vernichtet, so daß sie „nie wieder entstehen" kann (IV 2, 453). „Verschwinden" und „Tod der alten Cultur" (IV 2, 385, 455) durch die Wissenschaft, sowie „Fortschritt" im Zeichen der Wissenschaft, — ein Thema, das innerhalb unserer Reihe auch der 24. Aphorismus behandelt®, — bedingen die zeitgemäßen Perspektiven. Als Leitbild innerhalb der gegenwärtigen Epoche gilt der Erkennende, d. h. der sich befreiende, skeptische Geist, dessen „ f r e i geisterhafter Rundgang' dem Zweck dient, „den Menschen vom Herkömmlichen loszulösen" (IV 2, 442) und dessen Ziel doch auch sein soll, „selber eine notwendige Kette von Kultur-Ringen zu werden" (ΜΑ I, 234) und so den Weg zu einer künftigen — wiederum homogenen — übernationalen Welt-Kultur des wissenschaftlichen Zeitalters zu bahnen. Im Spätwerk ab Zarathustra) nimmt Nietzsche hingegen — in der Rolle des fordernden Propheten — Partei f ü r eine Zukunft, die sowohl die mythisch-religiöse Epoche wie auch die der emanzipierenden Skepsis und der Vergleichung überwunden haben wird, und f ü r die auch die Errungenschaften des wissenschaftlichen Zeitalters nur Voraussetzungen liefern können, indem sie Rückfälle in vorwissenschaftlidie Glauben verhindern und Züchtung ermöglichen, ohne doch das neue Ziel selber zu bestimmen, das von einem vitalen, wertschaffenden Sinn gesetzt werden muß. So sieht Nietzsche sich selbst in der Frühphase vor allem als einen, dem Alten zugekehrten, der Gegenwart feindlichen Unzeitgemäßen, als Jünger, als Verkünder der Wiederbringung einer metaphysisch-künstlerischen Gesinnung; in der mittleren Phase als Protagonisten der radikalen kritischen Erkenntnis; in der späten Phase als Verkünder eines alles Vergangene, alles Gegenwärtige menschlich-allzumenschlicher Entwicklung vernichtenden und übersteigenden, sich selber vergöttlidienden Übermenschen. Eine Zusammenfassung in groben Zügen, — die übrigens der Rede von den drei Verwandlungen des Geistes im Zarathustra entspricht, — ließe sich mithin folgendermaßen formulieren: Frühwerk (GdT, UB): Versuch des Festhaltens an der alten Kultur. Mittlere Phase (MA, Morgenröte, Fröhliche Wissenschaft): kritische Erkenntnis und Sichtung als Aufgabe des gegenwärtigen Zeitalters der Vergleichung. s 4 5

Vgl. audi IV 2, 401 (17 [49]): „der europäische Universalmensch" — als Ziel. Analog audi sdion IV 1, 159 f. Vgl. unten, Seite 242 ff.

I. Das Zeitalter der Vergleidiung

231

Spätwerk (ab Zarathustra): Versuch, die künftige Kultur zu begründen. — Dementsprechend herrschen auch verschiedene Modi des Reagierens und des Stils vor: In der ersten Phase liegt der Hauptakzent auf der Kommunikation des ästhetischen Erlebens, ist die Schreibweise suggestiv, beschwörend, zelebrierend. In der zweiten werden Phänomene erhellt und festgestellt, analysiert, seziert, reduziert: „Unsere Aufgabe [ist es], alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu inventarisieren und zu revidiren, auf Umfang und Zweckmäßigkeit zu prüfen, vieles zu verwerfen, vieles leben zu lassen" (IV 3, 451). In der dritten liegt der Akzent auf dem Werte-Setzen; die Schreibweise ist weitgehend hortatorisch oder polemisch, anpreisend oder verdammend. Es versteht sich zugleich, daß eine derartige Kontrastierung der Phasen oberflächlich und ungenau sein muß, und zwar nicht nur deshalb, weil bei Nietzsche die Schärfe des kritischen Bewußtseins — und sei es auch als Lyrismus des Erkennens — dominiert, selbst wenn er archaische Mächte heraufbeschwören will oder sich als den, von Zukunftsvisionen inspirierten Propheten stilisiert. Die Grundstruktur der — anti-dialektischen — Geburt der Tragödie ist dialektisch, was, implicite, auch die Selbstkritik — jenes: „Sie hätte singen sollen, diese «neue Seele»" — zugibt'. Und auch Zarathustras Rede suggeriert bloß eine Vision, eine Schau in Bildern, die jenseits oder diesseits der Begriffe sind; kleidet in Wahrheit aber zuallermeist, nach der Art von Allegorien, Begriffe und Argumente in Bilder ein. Anderseits treibt Nietzsche jedoch auch als Erkennender Gedankenmusik und will auch als Analytiker prophetisch künftige Wertbegriffe und Normen entwickeln. Auch das Zeitalter der Vergleichung hat seine Mission nicht nur in neutraler Erkenntnis („wir sollen Richter sein"; IV 2, 530). Und auch innerhalb unserer Aphorismenreihe ergibt sich eine gemäß den drei Zeitaspekten verlaufende Bewegung zur Zukunft hin: der Rückbesinnung auf Werte der Vergangenheit im 22. Aphorismus folgt im 23. die Darstellung der Aufgabe der Gegenwart; und nun bieten die folgenden Abschnitte einen Ausblick auf die Zukunft: die Möglichkeit des Fortschritts (37 f.), die ökumenischen Ziele der Menschheit im nächsten (20.) Jahrhundert (39)7, die Fortführung der durch Rückbesinnung bereicherten Aufklärung (Apho 26). Im Einzelnen fällt an dem 23. Aphorismus auf, wie hier die in den UB propagierte Einschätzung umgekehrt wird. Die Loslösung von dem — der alten Kultur zugehörigen — Herkommen, die dadurch ausgelöste Unruhe, die von Nietzsche auch innerhalb von MA gerügte, kulturunfähige, amerikanische Bewegtheit (vgl. ΜA I, Aph. 285), die Polyphonie der Bestrebungen — werden hier nicht, wie früher, als Friedlosigkeit und Verworrenheit der modernen Seele (71, 208), als unkräftige Vielseitigkeit und Zersplitterung des modernen Lebens (71, 309) in einer Periode der atomistischen Chaotik (71, 232 f.) angeprangert, sondern als notwendig anerkannt. 6 7

Vgl. 70, 33. Die Aphorismen 23, 24, 25 bezeichnete Nietzsche, — wie übrigens audi Apho 2, — mit dem Stichwort „Fortschritt" (IV 4, 527).

232

Studie zum 23. Aphorismus

Das Zeitalter der Vergleidiung, das sich aus dem Neben- und Ineinander alles bisher in seinen Kreis Gebundenen ergibt, bietet die Chance, alle Stilarten der Künste, alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten und Kulturen aneinander zu messen und in der Absicht zu sichten, die niedrigeren Formen zu eliminieren. Der früher befehdete Alexandrinismus, Ekletizismus und Historismus (siehe Ü B I I ) , dem die Übung in historisch-genetischer Betrachtungsweise entspricht, kommt zu Ehren. Umkehrstrukturen ergeben sich ferner auch aus der postulierten Entwicklung von metaphysisch-traditionsgebundenen Volkskulturen zum unmetaphysischen, bindungslosen Zeitalter der Vergleidiung und von diesem zu der beide Kulturen als „verehrungswürdige Altertümer" (37) hinter sich lassenden, einheitlichen, übernationalen Kultur des wissenschaftlichen Zeitalters. Und ferner steht der Aphorismus im Verhältnis der Umkehr zu Apho 22 insofern der „wesentliche Nachteil, welcher das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt" (35), sich als das auszeichnende, die Aufgabe der Epoche bestimmende Merkmal des Zeitalters der Vergleidiung erweist. Diese Aufgabe selbst aber impliziert eine Polarität oder Einheit des Widerspruchs, ist sie doch des Zeitalters „Stolz" und „Leiden" (37). Nicht nur vom früheren Standpunkt Nietzsches aus gesehen stellt der Aphorismus einen Versuch dar, die barbarischen Avantagen der eigenen Zeit zur Geltung zu bringen. In U B I hatte Nietzsche die Zivilisation des deutschen Reiches — im Gegensatz zur wahren Kultur, i. e. der „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes" — als „Barbarei" und „chaotisches Durcheinander aller Stile" (71, 7) verdammt. Nun ist es, als wollte er sich mit dem Unvermeidlichen nicht nur abfinden, sondern aus der Stillosigkeit eine Tugend machen, wobei man sich übrigens daran erinnern mag, wie sehr das Stilgemisch in den Gründerjahren zum herrschenden Stil geworden war. Und dennoch scheint dem Leser, daß er ein wenig zwischen den Zeilen lesen sollte, um zu unterscheiden, was wahrhaftig Nietzsches eigene Meinung ist und was Nietzsche in provokatorischer Wendung gegen seinen früheren — provokatorischen — Antimodernismus, seinem modernen Protagonisten, dem Freigeist, gewissermaßen als eine ideologische Phase zubilligt. So dürfte zu dieser Protagonisten-Rolle, — d. h., zu der, hier noch im Aufstreben begriffenen Ideologie des Freigeists, — wohl die Verheißung gehören, daß aus der Vergleidiung aller Stilarten und Moralen eine zugunsten der höheren Formen diskriminierende „Vermehrung des ästhetischen Gefühls" (37) und eine Stärkung des Sinnes für höhere Sittlichkeit sich ergeben werde. Hingegen ist Nietzsche in Übereinstimmung mit seinem Lehrer Burckhardt zweifellos selbst davon überzeugt, daß die Epoche wie keine andere zur historischen Würdigung und zu historischem Genuß berufen sei. Was es aber mit dieser Begabung des Zeitalters auf sich hat, ist eine Frage, die nochmals gesondert behandelt zu werden verdient 8 .

8

Zu dem Folgenden vgl. auch die Studie zu Apho 2 (Nietzsche und Burckhardt).

II. Historischer Sinn und Allempfänglidikeit

2. Historischer Sinn und

233

Allempfänglidikeit

„Dem 19. Jahrhundert i s t . . eine spezielle Befähigung zur Wertschätzung der Größen aller Zeiten und Richtungen zuzuerkennen. Denn durch den Austausch und Zusammenhang aller unserer Literaturen, durch den gesteigerten Verkehr, durch die Ausbreitung der europäischen Menschheit über alle Meere, durdi die Ausdehnung und Vertiefung aller unserer Studien hat unsere Kultur als wesentliches Kennzeichen einen hohen Grad von Allempfänglidikeit erreicht. Wir haben Gesichtspunkte für jegliches und suchen auch dem Fremdartigsten und Schrecklichsten gerecht zu werden. Die früheren Zeiten hatten einen oder wenige Gesichtspunkte, zumal nur den nationalen oder nur den religiösen. Der Islam nahm nur von sich Notiz; das Mittelalter hielt für tausend Jahre lang das ganze Altertum für dem Teufel verfallen. Jetzt dagegen ist unser geschichtliches Urteil in einer großen Generalrevision aller berühmten Individuen und Sachen der Vergangenheit begriffen; wir erst beurteilen den einzelnen von seinen Präzedentien, von seiner Zeit aus; falsche Größen sind damit gefallen und wahre neue proklamiert worden. Und dabei ist unser Entscheidungsrecht nicht vom Indifferentismus getragen, sondern eher vom Enthusiasmus für alles vergangene Große, so daß wir das Große ζ. B. auch an entgegengesetzten Religionen anerkennen. Auch das Vergangene in den Künsten und in der Poesie lebt für uns neu und anders als für unsere Vorgänger. Seit Winckelmann und seit den Humanisten vom Ende des 18. Jahrhunderts sehen wir das ganze Altertum mit andern Augen als die größten früheren Forscher und Künstler, und seit dem Wiedererwachen Shakespeares im 18. Jahrhundert hat man erst Dante und die Nibelungen kennengelernt und für poetische Größen den wahren Maßstab gewonnen, und zwar einen ökumenischen'. Einer künftigen Zeit mag es vorbehalten bleiben, auch unsere Urteile wieder zu revidieren . . ( B u W B , 212 f.). In dieser charakteristischen Passage aus Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen ist kaum ein Gedanke zu finden, den Nietzsche nicht irgendwann geteilt hätte. So werden etwa in dem Aphorismus „Glück der Zeit" die Hauptthesen der zwei ersten Abschnitte zusammengefaßt. „In Hinsicht auf die Vergangenheit genießen wir alle Kulturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schöße jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder zu unterwerfen zu können: während frühere Kulturen nur sich selber zu genießen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt

9

Wie, nadi Burckhardt, überhaupt für die Neuzeit gilt, daß „jede Bewegung" „ökumenisch" ist {BuWB, 133).

234

Studie zum 23. Aphorismus

waren, aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang" (ΜΑ II, 88). Und doch modifiziert Nietzsche die Ansichten Burckhardts. Dieser vermeidet selbst dort, wo er seine eigene Mentalität charakterisiert, das Bekenntnishafte. In defensiv pointiertem Gegensatz, auch zur philosophischen Verinnerlichung, und gemäß der ihm wohl nötigen, heilsamen, anti-egozentrischen, quasi zentrifugalen Tendenz zur objektiv-historischen Betrachtung, zur Anschauung, zur bildenden Kunst, zum Konkreten, betont er Sinnfälliges und Realitäten, — e. g. den gesteigerten Verkehr, die Ausbreitung der europäischen Menschheit über alle Meere. Nietzsche hebt schon in der Vorstufe zu dem oben zitierten Prosastück die subjektiven Bedingungen hervor, denen man, im Gegensatz zu früheren und späteren Generationen, verdankt, daß man sich „in dem denkbar glücklichsten Zeitpunkte" befindet, „um der Kultur seine Erkenntnis zu weihen". Er will durchaus die Erfahrung des Zeitalters als seine eigene erkennen und charakterisiert die eigene Entwicklung — auf dem Stand von Μ A —, indem er bezüglich der Epoche feststellt: „jede Freiheit der Erkenntnis ist erobert und abgerungen und dodi stehen wir allen Grundempfindungen, auf denen die alte Kultur ruht, noch nahe" (IV 2, 505). Und noch deutlicher autobiographisch wird der gleiche Gedanke in der — anderwärts zitierten10 — Vorstufe zum 292. Apho von ΜΑ I ausgesprochen, demzufolge der Vorzug des Zeitalters darin besteht, daß man noch eine Zeitlang in einer Religion aufwachsen und in der Musik noch einen ganz echten Zugang zur Kunst haben konnte (IV 2, 559). Kurz: Nietzsche betont den, für die im 20. Apho geforderte Rückbesinnung nötigen, nur jetzt noch möglichen Zugang zum Alten, den wohl schon das 20. Jahrhundert nicht mehr haben wird. Die Doppelzugehörigkeit zum Alten und zum Neuen aber entspricht seiner persönlichen Erfahrung. Und da es in MA heißt: „Man muß Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben — sonst kann man nicht weise werden"; ebenso aber: „man muß über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können" (ΜΑ I, 233 f.), — so gilt für Nietzsche in der Phase von MA die Doppelzugehörigkeit als Bedingung zur Erreichung seines Ziels der Weisheit und der Loslösung von aller Parteilichkeit, der Ataraxie als Schweben über allen Schätzungen. Und gerade dazu bietet, wie auch Burckhardt verkündet, die Epoche, dank ihrer Befähigung zum Historismus, Gelegenheit. Bei Burckhardt wird deutlich, wie durch den Sinn dafür, daß die Wünsche der Völker und Individuen wechseln und einander widerstreben; daß alle politischen Formen und sozialen Einrichtungen schwanken, in Übergängen, in Krisen begriffen sind; daß sich mit Verbreitung der Bildung und des Verkehrs audi Leidensbewußtsein und Ungeduld vermehren, — endlich nolens volens, statt dem Glück, die Unparteilichkeit und die reine Erkenntnis zum Ziel der Fähigen werden. Welch „wunderbares Schauspiel.., dem Geist der Menschheit erkennend nachzugehen, der über 10

Siehe oben, Seite 210.

II. Historischer Sinn und Allempfänglidikeit

235

allen diesen Erscheinungen [unserer Krisen- und Übergangsepoche] schwebend und doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut. Wer hievon eine Ahnung hätte, würde des Glückes und Unglückes völlig vergessen und in lauter Sehnsucht nach dieser Erkenntnis dahinleben" (BuWB, 270 f.). Und dennoch ist sich Burckhardt, wie Nietzsdie, der Problematik des historischen Sinnes bewußt, was sich u. a. auch darin verrät, daß er ihm eine — im Vergleich zum wahrhaft Großen, Schöpferischen — durchaus subalterne Stellung zuweist (vgl. BuWB, 69 f., 216). Die von Burckhardt betonte „Allempfänglidikeit" aber, welche uns zu jener Aufgabe befähigt, die, nach Nietzsdie, Stolz und Leiden des Zeitalters der Vergleidiung ausmacht, wird sowohl von dem frühen Nietzsche (in der 2. UB), wie audi im Spätwerk als ein pathologisches Symptom denunziert. Zwar auch der späte Nietzsdie anerkennt den historischen Sinn: „Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung, wir können nachrechnen, wie nie nachgeredinet worden ist: wir sind das Selbstbewußtsein der Historie überhaupt. Wir genießen anders, wir leiden anders: die Vergleichung eines unerhört Vielfachen ist unsre instinktivste Tätigkeit. Wir verstehen alles, wir haben kein feindseliges Gefühl mehr in uns. Ob wir selbst dabei schlecht wegkommen, unsre entgegenkommende und beinahe liebevolle Neugierde geht ungescheut auf die gefährlichsten Dinge los...,Alles ist gut' — es kostet uns Mühe, zu verneinen. Wir leiden, wenn wir einmal so unintelligent werden, Partei gegen etwas zu nehmen . . ( 7 8 , 1 5 6 f.). Nur gilt Nietzsche nun die Enthaltsamkeit von aller Parteilichkeit — die Ausschließung „aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen", — welche auch dem Übel und dem Bösen nicht widerstehen will (77, 225) — als Verweigerung einer vitalen Selektivität, mithin als lebensverneinende nihilistsche decadence. Und folglich ist jedes — buddhistische, christliche oder audi antike, e. g. epikuräisdie (und von Nietzsdie einst selbst ersehnte) Ideal der Loslösung von allen Wertschätzungen ein Produkt des Verfalls; wie audi der Gelehrte (— „im Grunde erfüllen wir Gelehrten heute am besten die Lehre Christi" (78,157 —) ein decadent ist. Denn das Unvermögen dazu, einem Reiz Widerstand zu leisten, das Reagierenmüssen, das „Offenstehn mit allen Türen" ist unvornehm, ist zumeist Symptom der Erschöpfung, des Niedergangs. Und das Gleiche gilt von dem „untertänigen Aufdem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Tatsache", von dem „allzeit sprungbereiten Sich-hinein-Setzen, Sidi-hinein-Si«rze« in andere und anderes, kurz, der berühmten modernen Objektivität" (77, 128). So wäre denn, vom Standpunkt des späten Nietzsdie aus, das Problem der Allempfänglidikeit, — als deren Symptom wir hier den historischen Sinn erkannten, — eindeutig erledigt, — wenn Nietzsche nur nicht die höchste Steigerung der Vitalität, — den dionysischen Zustand, — ebenfalls als Allempfänglidikeit definierte: „Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nickt zu reagieren (— ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die audi auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine

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Studie zum 23. Aphorismus

Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und erratenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mitteilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig". Und in diesem Sinne spricht Nietzsche denn auch von „dionysischem Histrionismus" (77, 136 f.). Gewiß war Nietzsche, der sich zuletzt, am Rande des Irreseins, sowohl als „Dionysos" wie auch als „der Gekreuzigte" bezeichnet11, sich dieser Problematik bewußt. Die Verweigerung jedes Widerstands, noch einmal: „die Instinkt-Ausschließung aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen im Gefühl" als „Folge einer extremen Leid- und Reizfähigkeit", — i. e. einer extremen ,Allempfänglichkeit' —, „welche jedes Widerstreben, Widerstreben-müssen bereits als unerträgliche Unlust... empfindet und die Seligkeit (die Lust) allein darin kennt, nicht mehr, niemandem mehr, weder dem Übel noch dem Bösen Widerstand zu leisten", daher „die Liebe als einzige, als letzte Lebens-Möglichkeit" übt, — dies ist ja, nach Nietzsche, die Erlösungslehre und Lebenspraxis des Jesus von Nazareth, eine „sublime WeiterEntwicklung des Hedonismus auf durchaus morbider Grundlage" (77, 225 f.). Und dennoch gleicht dieses sublime Dekadenzprodukt, — zu dem allerdings auch der „Instinkt-Haß gegen die Realität" gehört, — und zwar wiederum als „Folge einer extremen Leid- und Reizfähigkeit, welche überhaupt nicht mehr .berührt' werden will, weil sie jede Berührung zu tief empfindet" (77, 225), — in entscheidenden Zügen dem Ausdruck der höchsten dionysischen Vitalität. Gewiß müßte man im Sinne Nietzsches hier einwenden, daß in dem einen Fall die Lebensunfähigkeit, ja: der Haß gegen das Leben, in dem andern aber „der Überfiuß an Leben schöpferisch geworden" ist (77, 61). Jedoch ist, — abgesehen von der Problematik eines solchen Konzeptes produktiver Unfähigkeit, — diese Auskunft auch deshalb nicht schlüssig, weil sich Nietzsche selber sowohl als dekadenter wie als dionysischer Ausbund an Leid- und Reizfähigkeit, als decadent, wie auch als dionysischer Überwinder der eigenen Dekadenz vorkommt, ja dem Leser immer wieder nahelegt, die dekadente Allempfindlichkeit und widerstandslose Bejahung gewissermaßen als Vorbedingung zur dionysischen Allempfindlichkeit und Allbejahung aufzufassen. So führt die eingehendere Betrachtung des Hauptmerkmals des Zeitalters der Vergleichung auf ein Grundproblem von Nietzsche, das schon in der GdT durch die Vieldeutigkeit des dort beschriebenen dionysischen Phänomens bezeichnet wird, welches sowohl zur vitalen Ekstase anstachelt als auch der lethargisch-pessimistischen Lebensverneinung zustrebt, zugleich aber auch zur Betätigung, Erlösung und Befriedung seines eignen zerstörend-schaffenden Orgiasmus die apollinische, gestaltende Macht aus sich gebiert. Jedoch mag es sich hier empfehlen, einmal von Nietzsches eigener Terminologie abzusehen, da etwa seine Begriffe von Dionysik 11

Vgl. Schlechta III, 1350.

II. Historischer Sinn und Allempfänglidikeit

237

und Dekadenz, jeweils die ganze Skala von sich auseinander entwickelnden Gegensätzen und Selbstwidersprüchen umschließen, um das Problem versuchsweise auf einen einfachen, ja banalen Nenner zu bringen. Denn offenbar läßt es sich u. a. auf ein individualpsychologisches persönliches Dilemma reduzieren, wenn dieses sich auch wieder zum Problem der Epoche, ja zum Problem der Menschheit, erweitern läßt. Nietzsche muß sich, — je länger desto mehr — mit seiner Sensibilität auseinandersetzen und arrangieren: Seine außerordentliche Erregbarkeit und Reizempfindlichkeit, seine Irritabilität, seine eigene Unfähigkeit dazu, nicht zu reagieren, zwingt ihn in die Vereinsamung — und wird durch Vereinsamung wiederum verstärkt, — so daß er etwa zeitweilig vor jedem angekündigten — vermutlich unzuträglichen — Besuch (ja selbst vor unerwarteten Briefen) einen Horror hat; mit der Wahl der ihm erträglichen Klimate, Landschaften, Wohngelegenheiten, der Auslese der ihm erträglichen Speise einen peniblen Kult zu treiben sich genötigt fühlt. Aber auch die produktive Weise dieser Sensibilität zu begegnen, nämlich ihre Übersetzung in Erkenntnis, ihre Sublimierung durch Vergeistigung, ist dazu angetan, die Sensibilität wiederum zu intensivieren. Denn die Vergeistigung dieser schmerzlichen, ungeschützten Offenheit, des wehrlosen Gespürs oder Spürenmüssens, der Hypersensibilität, der Allempfänglichkeit ist, — wie er selber sagt, — das was ihn vor andern Philosophen auszeichnet und was er daher zu kultivieren und zu steigern hat12 — bis zum dionysischen Rausch der Allbejahung. So ist denn diese Prozedur auch keine Therapie, da die Vergeistigung die Sensibilität aktiviert, von deren Verarbeitung sie lebt. Auf die Epoche übertragen aber ist die Allempfänglichkeit Alexandrinismus, historische Krankheit, Dekadenz und, — da das distanzierende, selektive, ausschließende und begrenzende, Hierarchien postulierende Prinzip des Wertens mit der ubiquitären Sympathie oder Anempfindung (dem haltlosen Mitschwingen und Mitleiden) unvereinbar ist, —: Anomie, Stillosigkeit, Charakterlosigkeit, ja Nihilismus, indem in der Offenheit solcher Allempfänglichkeit am Ende die einander entgegengesetzten und einander durchkreuzenden Perspektiven sich eben doch gegenseitig aufheben und zwar bis zum „Indifferentismus"13. Aber auch hier lockt die Chance des Allesempfindens, Allesverstehen bis zum Rausch der umfassendsten Erkenntnis, bis zum Orgiasmus der Empathie. Immer wieder drängen sich bei solchen Erwägungen die spätesten, extremen, pathologischen Symptome für Nietzsches Zustand der Allempfänglichkeit auf: das haltlose Mitleiden mit dem geschlagenen Pferd, dem der Wahnsinnige weinend um den Hals fällt; oder für die Euphorie der Sensibilität: die Selbstidentifizierung mit 12

18

„ . . die philosophische Sensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zu formuliren" (NB IV, 341). Eine gefährliche Möglichkeit, die selbstverständlich auch Burckhardt sieht, und, wie die oben (Seite 233) angeführte Passage andeutet, ebendarum abweist.

238

Studie zum 23. Aphorismus

allem und allen: „Ich bin Prado, ich bin auch der Vater Prado . . . [es setzt] meiner Bescheidenheit [zu], daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin", und der Wahn der Omnipotenz: „Ich gehe überall hin in meinem Studentenrock, schlage hier und da jemandem auf die Schulter und sage: siamo contend? son dio, ho ratio questa caricatura

..(Schlechta

III, 1351 f.).

Im Augenblick des Zusammenbruchs kann keine Rede mehr davon sein, daß Nietzsche sich mit seiner Sensibilität auseinandersetzt, sie einerseits als Krankheit einzudämmen und zu überwinden trachtet, anderseits als Fähigkeit zu kultivieren und zu sublimieren bemüht ist. Durchaus ist er sich aber bis dahin der für ihn und, wie er meint, für die Epoche ungeheuren Gefahr der Allempfänglidikeit als bodenloser Entgrenzung bewußt. Und dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß er diese Befähigung als notwendige Bedingung zur Heraufbeschwörung der ihr entgegengesetzten, gestaltenden Kraft deklarieren und dergestalt in eine ,positive' Sequenz einbauen will. Wie gesagt: In der GdT tritt die apollinische, — plastische, Grenzen setzende — Gestaltungsmacht nicht nur als Antipode und als Komplement der alles auflösenden Dionysik entgegen: die Dionysik selbst ist es, die sich zu ihrer eigenen Erlösung die apollinische Illusion schafft14. Und analoge Muster machen sich audi in der späten Phase geltend: Dekadenz, Nihilismus — Entgrenzung der Sensibilität und des Erkenntnisvermögens, — fordern die Gegenmacht, die dezidierteste, am strengsten und rücksichtslosesten distanzierende, wertende, mitleidlos exklusive, vornehme, autonome Gestaltungskraft und Vitalität. Die extreme Konsequenz der Dekadenz: der Nihilismus als ne plus ultra des alles Bindende lösenden Perspektivenchaos, der Desintegration jedes Wertgefühls und jedes Glaubens an tragende Werte hat sidi als formfordernde Macht zu erweisen15: Der Übermensch als ne plus ultra der reinen Selbstgestaltungskraft darf gar nicht anders gedacht werden als auf dem Ungrund völliger Bindungslosigkeit, da allein durch den Mangel an jeder als verbindlich gegebenen objektiven Struktur das selbstschöpferische Potential sich voll entfalten kann. Die Dekadenz wird so zum ,challenge' ihrer Selbstüberwindung; der negierende Nihilismus schlägt um in sein Gegenteil: die creatio ex nihilo; die Krankheit ist Stimulans der Gesundheit, und was den Menschen umbringen will, madit ihn stark, indem er es überwindet: Increscunt animi, virescit volnere virtus". Und wenn 14

15 16

Wie übrigens audi der Sokratismus der Erkenntnis die Kunst heranzwingt, da er ihrer begrenzenden Gestaltung bedarf. Vgl. dazu die Ästhetik des Nietzsdieaners Benn. Ein Lieblingsmotto Nietzsches, mit dem Lou Salomi ihr Budi Friedrich Nietzsche in seinen Werken (Wien: Konegen, 1911) eröffnete. Es versteht sich, daß in diesem Zusammenhang die ganze Lehre Nietzsches vom Genie und vom höheren Typus z u entwickeln •wäre. „Audi in der Menschheit gehen . . . die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von decadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon decadents... Die kurze Dauer der Sidiönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen vererbt sidi n i c h t . . . [Denn] der höhere

II. Historischer Sinn und Allempfänglichkeit

239

für Nietzsche diese Einheit der sidi auseinander entwickelnden Gegensätze zum Postulat wird, so spiegelt sich auch darin sein Verhältnis zu der Allempfänglidikeit und Allempfindlichkeit, welche einerseits die eigene Persönlichkeit, die Kultur, den Menschen mit dem Untergang bedroht, anderseits die notwendige Bedingung und Ermächtigung zu deren höchsten Steigerung bietet. In der f ü r die Phase von MA charakteristischen, bescheideneren Ausführung finden wir das hier besprochene Verhältnis in der Lehre von Gefahr und Chance, Leiden und Stolz des Zeitalters der Vergleichung. Die Gefahr, die im Sichverlieren an die Vielfalt widerstrebender Richtungen, im Verlust der Bindungen und des eigenen Stils, in Entgrenzung (Verlust des Mythus) und Schwächung durch Alexandrinismus, zumal durch die Krankheit des passiven, alles relativierenden Historismus legt, anerkennt Nietzsche auch in MA. Und ebendarum fiele es ihm auch jetzt schwer, die Gegenwart zu bejahen, wenn er nicht, im Gegensatz zu Burckhardt, einen kräftigen positiven Akzent auf die Zukunft verlegte und deren Gestaltung als das Ziel postulierte, dem sich endlich auch die Befähigung zu ubiquitärer Allempfänglichkeit zu subordinieren hat 17 . Man könnte sagen: Nietzsche hat diesen Zukunftsakzent auch darum nötig, weil er sich von der historisierenden, offenen, unbegrenzten Sensibilität und Einsicht in das Mensdilich-Allzumenschliche bedroht fühlt. Er bedarf gewissermaßen einer doppelten Lösung: nämlich der Bejahung des Schwebens über allen Schätzungen als seines persönlichen vorläufigen Ziels der Weisheit und der Zukunftsbejahung als Raum einer Neugestaltung. So postuliert er, um dies nochmals zu wiederholen, schon in der Urform unseres Aphorismus: daß „unsre Kraft" sich im Wählen, in der Ausübung eines Richteramtes zu erweisen habe (IV 2, 530). Und ebendarum dekretiert er, das „Glück der Zeit" bestehe nicht nur als historischer Genuß in Hinsicht auf die Vergangenheit und deren Ergründung, sondern ebenso „in Hinsicht auf die Zukunft"'. „[Denn erst jetzt] erschließt sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewußt, diese neue Aufgabe ohne Anmaßung selber in die Hände nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen wie es wolle, mögen wir

17

Typus stellt eine ungleich größere Komplexität — eine größere Summe koordinierter Elemente dar: damit wird audi die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das .Genie' ist die sublimste Maschine, die es gibt, — folglich die zerbrechlichste" (78, 461). Charakteristisch für die Beurteilung seiner Gegenwart seitens Burckhardts ist etwa BuWJÖ, 191; oder auch die Sorge: „Soll gar alles zum bloßen business werden wie in Amerika?" „Das vollständigste Programm enthält die neueste Rede Grants, welche einen Staat und eine Sprache als das notwendige Ziel einer rein erwerbenden Welt postuliert". „Der ganze Hauptentscheid kann nur aus dem Innern der Menschheit hervorgehen. Wird der als Erwerbsinn und Machtsinn ausgeprägte Optimismus weiterdauern, und wie lange? Oder wird — worauf die pessimistische Philosophie der heutigen Zeit könnte hinzuweisen scheinen — eine allgemeine Veränderung der Denkweise wie etwa im 3. und 4. Jahrhundert eintreten?" ( B ü W B , 203—205 passim).

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Studie zum 23. Aphorismus

unsre Kräfte überschätzt haben, jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will" (ΜA II, 88 f.). Und es ist Selbstkritik und Abwehr jenes Kulturpessimismus, dem auch Burckhardt verhaftet bleibt, wenn Nietzsche fortfährt: „Es gibt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem Kelche aller Dinge immer nur das Bitterste und Ärgerlichste zu saugen verstehen; — und in der Tat, alle Dinge enthalten etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese mögen über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfinden und an ihrem Bienen-Korb des Mißbehagens weiterbauen" (ΜA II, 88 f.). Soweit der zukunftsgläubige Nietzsche. Widerspricht aber diese Zukunftsbejahung nicht der anderwärts (und auch innerhalb unsrer Reihe) verkündeten Skepsis? In dieser Meinung bezeichnete Wolff 18 die Prosastücke 23—28 als Aufklärungsaphorismen, welche trotz logischer Weltverneinung eine praktische Lebensbejahung empfehlend, die Frage behandeln, wie die bedrohten Menschen mittels Vernunft und Wissenschaft1' die günstigsten Lebensbedingungen berechnen und sich in dieser Welt so gut als möglich einrichten könnten. Und in Hinblick auf den 23. Aphorismus hat Wolff wohl nicht unrecht, wenn er behauptet, daß das, auch im weiteren Verlauf der Reihe deutlich zu Tage tretende Ideal der bindungslosen Indifferenz durch eine melioristische Tendenz( im Sinne der im nächsten Prosastück behandelten „Möglichkeit des Fortschritts" (37)) überlagert wird. Anderseits aber unterscheidet eben auch der Nietzsche von MA, — ebenso wie der spätere Nietzsche, — zwischen dem, was dem Menschen, der nur erkennen will, zuteil werden kann und der Aufgabe der Kulturgestaltung als Arbeit an einer Lebensform, die den ganzen Menschen, der nicht bloß ein Erkennender ist20, angeht. Und ferner antizipiert Nietzsche auch schon in der Phase von MA, — obschon hier der Nur-Erkennen-Wollende meist die Hauptrolle spielt, — als Aufgabe der Menschheit eine Neuschöpfung der Kultur, welche gemäß dem Prinzip der Entwicklung der Gegensätze auseinander erfolgen soll. Denn nur aus der Erfahrung der Entwertung aller Bindungen und als Uberwindung dieses Leidens werden neue Wertsetzungen Zustandekommen. Von Nietzsches eigenem späteren Standpunkt aus gesehen, spricht also innerhalb unserer Reihe der Freigeist, insofern er bloß der Erkenntnis das Wort redet, noch als decadent; insofern er aber eine Neuordnung der Werte — ein Revidiren, Richten, Wählen — fordert, befindet er sich, — wenn auch noch unter der Ägis eines später subordinierten Ideals der Wissenschaftlichkeit, — schon auf dem Wege zur Umwertung. 18 19

20

Wolff, op. cit., 90 f. Vgl. IV 2, 530: „Zum Schluß: Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft!" — eine Notiz, die bestätigt, wie ernstlich Nietzsche in der Phase von MA diese — dem Mephistopheles in den Mund gelegte — Goethesche Meinung über das, was Menschen frommt (Faust I, Verse 1851 f.), beherzigt. Siehe oben, Seite 209 (/V 2, 480).

II. Historischer Sinn und Allempfänglidikeit

241

Beachtet man aber allein die in unserer Aphorismenreihe geschilderte Entwicklung, so erscheinen die in den ,Aufklärungsaphorismen' eröffneten Perspektiven als Phase in der Entwicklung des Freigeists selbst, der hier noch, aus alten Banden erlöst, von der befreienden Wirkung der Erkenntnis begeistert um „einige Sprossen" zurücktritt (34), um seinen Zuwachs an Kraft und Selbstvertrauen zu genießen, und sich in Hinblick auf die Zukunft den Entwurf zu großen Kulturleistungen zutraut, ohne zunächst die desillusionierende Wirkung zu verspüren, die eine konsequente Emanzipation von allen — menschlich-allzumenschlichen — Wünschbarkeiten zur Folge haben muß. Noch ist der Freigeist im hoffnungsvollen Stand der eben eroberten Mündigkeit und Männlichkeit. Noch überläßt er sich, — obschon er die alten Vorurteile abgelegt hat, — einer ihm wohltätigen Abhängigkeit von Wertvorstellungen, die freilich einer noch weiter verfolgten, radikaleren Skepsis auch wiederum als ,Illusionen' des ,unreinen' Denkens gelten werden.

A P H O R I S M U S 24

Möglichkeit des Fortschritts. — Wenn ein Gelehrter der alten Kultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er recht. Denn die alte Kultur hat ihre Größe und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt einen, zuzugestehn, daß sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nötig, um dies zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewußtsein beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewußt und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisd) verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. Diese neue bewußte Kultur tötet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewußtes Tier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tötet auch das Mißtrauen gegen den Fortschritt, — er ist möglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, daß der Fortschritt notwendig erfolgen müsse; aber wie könnte man leugnen, daß er möglich seif Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Kultur nidot einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort „Fortschritt" von ihren Zielen (ζ. B. abgeschlossenen originalen Volks-Kulturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität.

Die Überzeugung vom Tod der alten Kultur 1 ergibt sich bei Nietzsche zunächst nicht im Gegensatz zu seinem Beruf als Altphilologe, sondern aus der Vertiefung der Altertumsstudien selbst, als deren Ziel ihm 1875 gilt, die alte — d. h. sowohl die antike wie die christliche — Kultur als eine zu vernichtende zu beschreiben (IV 1, 160), — wie sich überhaupt das Ideal des Freigeists aus der Betrachtung zu dem Thema „Wir Philologen" entwickelt. Denn gerade die Philologen sollen zu einer „Genossenschaft" der „Vernichter" (vgl. IV 1, 124, 144) und damit auch der Selbstvernichter, der Vernichter des Philologen-Standes (/V 1, 132) werden, indem sie im Zuge der historisch-kritischen Überwindung ihrer eigenen Hoffnung auf die Wieder1

S. oben Seite 230.

Kommentar

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geburt der Antike zu dem Schluß kommen, daß an Stelle der Geschichte, die die vergangenen Bestrebungen zu verurteilen hat, „die Wissenschaft um die Zukunfl treten" muß (/V 1,160). Damit ist der Freigeist aber in bedenkliche Nähe zu einer jener,modernen Ideen' geraten, die Nietzsche in jeder Phase seines Denkens zuwider sind, nämlich: zu dem unqualifizierten Glauben an „die Zukunft als Fortschritt" (78, 52). Denn dieser Glaube scheint sich sowohl aus der für die Menschheit postulierten Zielvorstellung von einer erstrebenswerten, neuen, bewußten Kultur zu ergeben, — welche die alte Kultur „tötet" (38), — wie auch daraus, daß die gegenwärtige chaotische Periode einer Zielvorstellung offenbar bedarf, wenn sie nicht aller Kriterien, jeder Richtlinie für die ihr zugemutete Aufgabe der kritischen Selektion ermangeln soll. Der „Gelehrte der alten Kultur", i. e. Nietzsche alter ego, konnte am Ende nicht umhin, — meint Nietzsche jetzt, — dem Glauben an den Fortschritt abzuschwören, da ihn sein historischer Sinn darüber belehren mußte, daß die alte Kultur ihre Größe und Güte hinter sich hat (37), daß „ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Kultur nicht einmal denkbar" sei (38). Dagegen ließe sich allenfalls einwenden, daß Nietzsche selbst einst anders dachte, vielleicht auch jetzt mitunter noch anders denkt 2 . Denn so wenig er mit dem „unausstehlichen Stumpfsinn" — zumal der Altphilologengilde — gemein gehabt hatte, so war es doch wohl, der hier ausgesprochenen Meinung zufolge, eine „ebenso unleidliche Schwärmerei" (38) gewesen, die ihn, etwa in der GdT dazu vermocht hatte, die bevorstehende, wahre Renaissance der Antike zu verkünden. Oder richtet sich Nietzsches Polemik hier nur gegen jene Stumpfsinnigen und Enthusiasten, die an eine bloß imitative Restauration alter Kulturformen glauben wollten, wofür Nietzsche freilich immer wenig übrig hatte? Für diese Auffassung ließe sidi geltend machen, daß die ursprüngliche Version des Texts nicht von Schwärmerei, sondern von bösem Willen spricht. Denn ein solcher „böser Wille" (IV 4, 172), d.h. ein Eskapismus oder vielmehr ein verstocktes Ressentiment, das sich den Erfordernissen der Epoche nicht bloß entzieht, sondern entgegensetzt, galt Nietzsche wohl als Eigenschaft der Reaktionäre, der Ultramontanen, zumal der reaktionären — e. g. christlich-nationalen — Romantiker. Auch in diesen Kreisen wird immerhin „das Wort Fortschritt'" (38), etwa in Hinblick auf eine angeblich zu erstrebende, bodenständig völkische und gewissermaßen autarke (deutsche) Nationalkultur gebraucht3. Solche „romantische Phantastik" projiziert aber nur ein Bild des Alten, Vergangenen, — die schon jetzt abgetanen „abgeschlossenen originalen Volkskulturen" (38), — in die Zukunft; was einer fiktiven Umkehrung der Gegebenheiten gleichkommt, nämlich der Vorspiegelung des Nicht-mehr als Noch-nicht. Und da das Bild des .Originalen' (Volksmäßi1 3

Vgl. audi MA I, 174; IV 4, 200 [Wiedergeburt des beseelteren Altertums]. Allerdings: auch an dieser Tendenz hatte Nietzsche (vgl. das Ende der GdT) als Wagnerianer teil.

244

Aphorismus 24

gen) bloß der Tradition entlehnt ist, versteht sich, — Nietzsche deutet das aus dem Muster der Umkehr abgeleitete, antithetische Apercu bloß an, wohl um den einigermaßen banalen Effekt zu vermeiden, —: daß die Verehrer des Originalen ohne eigene Originalität sind. Für die Ablehnung des Nationalen, quasi Autodithonen zugunsten des Übernationalen, Europäischen ließen sich in der Phase von MA viele Belege anführen 4 : „Man soll gar nicht mehr hinhören, wenn Menschen über die verlorne Volksthümlidikeit klagen (in Tracht Sitten Rechtsbegriffen Dialecten Dichtungsformen usw.). Gerade um diesen Preis erhebt man sich ja zum Ober-Nationalen, zu allgemeinen Zielen der Menschheit, zum gründlichen Wissen, zum Verstehen und Genießen des Vergangnen, nicht Einheimischen. — Kurz, damit eben hört man auf, Barbar zu sein" (7V 2, 538). Wird so aber auch der Glaube an einen .Fortschritt' im Sinne reaktionärer, romantisdb-nationalistischer Tendenzen als absurd und schädlich abgewiesen, so besteht doch die Frage weiter, inwiefern es überhaupt einen Fortschritt gab oder gibt, bzw. was überhaupt von dem Glauben an Möglichkeit oder Notwendigkeit des Fortschritts zu halten sei. In Hinsicht auf die alte Kultur ist Nietzsche der Meinung, daß sie „als Ganzes angeschaut ein unbewußtes Tier- und Pflanzenleben geführt hat", daß „die Menschen sich früher unbewußt und zufällig entwickelten" (38); und bejaht wohl die Berechtigung einer quasi organologischen Auffassung von deren Wachstum, Reife, Verfall (wie sie etwa der Darstellung der griechischen Kulturgeschichte in der GdT zugrundeliegt), mögen auch günstige oder ungünstige Zufälle, Krankheiten, Katastrophen, — ebenso wie im Falle der eigentlichen biologischen Wesen, — den Normal-Verlauf der unbewußten Entwicklung (und damit des Fortschritts') solcher Gebilde durdikreuzen, steigern, beschleunigen5. Implizit ist aber auch Nietzsches Meinung, daß der Gesinnung solcher unbewußt-organisdien Kulturen, die ja religiös-metaphysisch fundiert sind, sofern sie überhaupt eine Fortschritts-Ideologie entwickeln, nur der Glaube an eine immanente oder von höherer Macht verfügte Bestimmung, von Ewigkeit her geplante Vorsehung, usw. kurz: der Glaube an die Notwendigkeit des Fortschritts gemäß wäre, welcher der wahrhaft modernen Gesinnung widerspricht. 4

5

Man vergleiche zum Folgenden auch den 215. Aphorismus von WS (ΜΑ II, 275 f.). Siehe auch oben, Seite 229 f. Auch die Bemerkung: „Ich glaube nicht mehr an die ,naturgemäße Entwicklung' der Griechen: sie waren viel zu begabt, um in jener schrittweisen Manier allmählich zu sein" (7V 1 , 1 8 4 ; vgl. MA I, 213) — mag dieser Auffassung nicht widersprechen, so entschieden sie auch dem etwa seit Winckelmann traditionellen Bild der paradigmatisch gesunden Lebensgeschichte griechischer Kultur widerspricht. Denn audi die Schnelle der Vorwärtsund Abwärts-Bewegung der Griechen (ΜΑ I, 213) gilt Nietzsche nicht als Folge eines bewußten Planens, — eines Entwicklungsprogramms, — sondern als eines Temperaments, einer genialisierenden,,zufälligen' Konstellation, vielleicht auch als Folge .pathologischer' Einflüsse, etcetera. — Was sich an Nietzsches Auffassung des Griechentums feststellen läßt, ist dessen Annäherung an Nietzsches Selbstbildnis.

Kommentar

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Der echte Gelehrte — und Liebhaber — der alten Kultur übersieht diese Verhältnisse. Bei Sonnenuntergang einer Epoche hält er die Erinnerung an ihren Verlauf mit dankbarem Sinne fest (vgl. dazu ΜA I, Aph. 223). Er weiß zugleich, daß er, als einer der Abschied nimmt, mit seinem Scheideblick, dank der Distanz des Betrachtenden, selbst schon jenseits des ungeteilten Lebens dieser Epoche steht: bedeutet doch der ubiquitäre historische Sinn, die relativierende, genetische Optik, selbst schon die Auflösung des verabsolutierenden, fiktiv-metaphysischen Fundaments, des begrenzenden mythischen Horizonts, des unbewußten ,Tier- und Pflanzenlebens' der alten Welt. Die ihm gemäße Ideologie ist ein Kulturpessimismus — e. g. Burdkhardtscher Prägung, — wie ihn Nietzsche eben erst für sich zu überwinden bemüht ist. Ferner hat der zeitgenössische Gelehrte der alten Kultur (— wie Nietzsche selbst —) auch darum ein gutes Recht dazu, Fortschrittsgläubige zu meiden und zu verachten, weil er von seinem historischen Standpunkt aus, zwar Fortschritt (d. h. die positive Entfaltung eines Entwicklungspotentials) innerhalb einer Kulturepoche anerkennen mag, jedoch keinen Anlaß dazu hat, einen Fortschritt von einer Epoche zur andern zu statuieren. Vielmehr wird ihm evident sein, daß jeder Kulturkreis seine ihm inhärenten Kriterien entwickelt und, wie jede Jahreszeit, seine eignen Früchte trägt (vgl. ΜA I, Aphorismen 239 u. 236): Die Früchte der Religionen und der Kunst werden, so wie einst, im Zeitalter der Wissenschaft nicht gedeihen". Und was die Lebensgefühle, — e. g. nomadischer Hirtenstämme oder neuzeitlicher Städtebewohner, — betrifft, so lassen sich diese aufgrund eines Lust-Unlustkalküls nicht wertend gegeneinander verrechnen. Überhaupt wird der Gelehrte der alten Kultur, da er nichts mehr zu hoffen hat, keine neue Wertperspektive zur Herrschaft bringen will, und auch seine eigene Vorliebe für das Alte ohne Zukunftserwartung hegt, sich wohl mehr und mehr daran gewöhnen, die einzelnen Epochen nach Art in sich geschlossener Lebewesen zu betrachten, von denen eines nicht besser ist als das andere. Wer selbst als Partei innerhalb einer Epochenperspektive steht, für den wird es auch in Hinblick auf die gesamte Geschichte, auch bei Vergleichung verschiedener Kulturkreise, Fortschritte und Rückschritte geben, nämlich Entwicklungen, die ihm zur Verwirklichung seiner Leitbilder beigetragen zu haben oder diesen abträglich gewesen zu sein scheinen. Wer sich aber dem Schwebezustand über den Epochenperspektiven annähert, für den gibt es keinen universalhistorischen Fortschritt, da es keine Universal-Kriterien zur Einschätzung der Summe historischer Veränderungen gibt. Damit löst sich das Bild des desillusionierten Gelehrten der alten Kultur auf in die — für MA weitgehend normative — Vorstellung oder Fiktion — einer parteilosen Erkenntnis — und nähert sich zugleich nun doch einem totalen, am Ende gar entmenschten, dem Leben feindlichen, ja unmöglichen Indifferentismus, dessen Problematik ich hier aber nicht weiter verfolgen will. Den Fortschritt an sich, nämlich abgesehen von historisch bedingten Leit-, Wert-, Zielvorstellungen kann es aber • Manches dieser Art wird via Nietzsche von Spengler übernommen und elaboriert.

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Aphorismus 24

audi für den Gelehrten der neuen Kultur nicht geben. Dennoch ist dessen Verhältnis zu der Idee des Fortschritts ein anderes. Eine Notiz aus dem Nachlaß der Spätzeit lautet: „Fortschritt. — Daß wir uns nidit täuschen! Die Zeit läuft vorwärts, — wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, — daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung i s t . . . Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788 . . . Die ,Menschheit' avanciert nicht, sie existiert nicht einmal. Der Gesamt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine dicadence-Bewegung i s t ? . . . Daß die deutsche Reformation eine Rekrudeszenz der christlichen Barbarei i s t ? . . . Daß die [französische] Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört h a t ? . . . Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Tier: der Kultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Korsen; der Chinese ist ein wohlgeratnerer Typus, nämlich dauerfähiger, als der Europäer..." (78, 65). Die Vehemenz dieser Polemik entspricht der Haltung von MA keineswegs. Was ihr aber entspricht, ist die — als eine, der neuen Epoche gemäße Gesinnung statuierte — Auffassung der Gesdiidite als „Experimentier-Werkstätte" 7 , und damit die Ablehnung des Glaubens an einen notwendigen Fortschritt. Und einer solchen Geschichtsauffassung entspricht seinerseits das Postulat neuer Ziel- und Wertvorstellungen, da sidi ja nur in Hinblick auf diese entscheiden läßt, welches Experiment als mißraten, welches als gelungen, was als Rückschritt, was als Fortschritt zu gelten hat. Der Gelehrte der neuen Kultur durchschaut die (pseudo-),moderne' deterministische Fortschrittsideologie als verkapptes (säkularisiertes) Relikt der metaphysischen Epoche und als Hemmnis des möglichen Fortschritts im Sinne wahrer Moderne. „Erzogen wird jeder Mensch, durch die Umstände, Gesellen, Eltern, Geschwister, Ereignisse der Zeit, des Ortes: aber das ist alles Erziehung des Zufalls und vielfältig geeignet, ihn recht unglücklich zu entwickeln. Über diese Erziehung durch den Zufall ist aber die Menschheit im Ganzen noch nicht hinausgekommen: gehindert durch die metaphysische Vorstellung (an welcher selbst Lessings scharfer Geist stumpf wurde)8, daß ein Gott die Erziehung der Menschheit in die Hand genommen habe und daß wir seine Wege nicht völlig begreifen können. Von nun an hat die Erziehung sich ökumenische Ziele zu stecken und den Zufall selbst im Schicksal von Völkern auszuschließen: — die Aufgabe ist so groß, daß eine ganz neue Gattung von Erziehern, ein neues Gebilde aus Ärzten Lehrern Priestern Naturforschern Künstlern der alten Kultur" entstehen muß (7V 2, 532): dies ist meine neue Aussicht!" (IV 4, 445). 7 8

Die übrigens später u. a. in Ernst Jüngers Arbeiten Vgl. Lessings Erziehung des Mensdjengeschlechts.

entwickelt und verbreitet wurde.

Kommentar

247

Damit sind wir bei der positiven Botschaft des 24. Aphorismus angelangt: „Die Menschen können mit Bewußtsein beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewußt und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte des Menschen überhaupt gegeneinander abwägen und einsetzen" (38). Worin sonst sollte auch die gemeinschaftliche Bemühung der gegenwärtigen Epoche bestehen, wenn nicht in bewußter Förderung eines Fortschritts im Einklang mit den Erkenntnissen der Wissenschaft, — welche sich nicht auf ein Absolutes, sondern auf die menschliche Wohlfahrt, die „Diätetik der Gesundheit" (36), die Gestaltung menschlicher Entwicklung beziehen! Gerade weil es absolute Wahrheiten nicht gibt, hat man sich jetzt auf Einsichten zu beziehen, welche der adequateren Verwaltung der menschlichen Existenz dienen. So irrational, so „voreilig und fast unsinnig" (38) also der Glaube an die Notwendigkeit des Fortschritts für den Gelehrten der neuen Kultur wäre, so notwendig gehört doch der Glaube an die Möglichkeit des Fortschritts als ein Leitprinzip zur Ideologie der bewußt im Sinne der Wissenschaft planenden Kulturepoche. Muß der Gelehrte der alten Kultur dem Fortschrittsglauben und dem Willen zum Fortschritt abschwören, so muß umgekehrt der Gelehrte der neuen Kultur den Willen zum Fortschritt bejahen, nicht weil er Vertrauen auf eine unbewußte, dem Zufall oder irgendeiner Fügung (Gott, Vorsehung, Naturgesetz, ,Geschichte') überlassene Entwicklung hätte, wie es jene war, welche die alte Kultur hervorbrachte; sondern weil er in dem Vertrauen auf die Möglichkeit des bewußten Entwerfens und Realisierens von Existenzplänen das Wesentliche der gegenwärtigen Kulturbewegung in ihrer Richtung auf eine neue Kulturepoche hin sieht. Allerdings: wenn einst der neue Gedanke der Planung und Züchtung, — den der spätere Nietzsche bis zur Forderung nach dem,Untergang' des Menschen und der Hervorbringung des Übermenschen steigert, — sich zu realisieren begänne, so müßte sich auch die Perspektive wiederum verändern. So müßte statt bewußter Planung wieder eine Instinkt und unbewußt gewordene, und ebendarum vollendete, keiner Absicht mehr bedürftige Existenzform als Leitbild gelten; und erreichte vollkommene Gegenwart den, — einer Übergangsphase, einem Noch-nicht gemäßen, — bewußten Willen zum Fortschritt ausschließen. Die Darstellung dieser Utopie aber gehört dem Spätwerk an.

A P H O R I S M U S 25

Privatund Welt-Moral. — Seitdem der Glaube aufgehört hat, daß ein Gott die Schicksale der Welt im Großen leite und, trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kants, verlangt vom einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein jeder ohne weiteres wüßte, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswert seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, daß die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht läßt es ein zukünftiger Uberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswert erscheinen, daß alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit spezielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. — Jedenfalls muß, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewußte Gesamtregierung zugrunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Kultur, als wissenschaftlicher Maßstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhunderts.

Am Anfang des Aphorismus steht die Antithese zwischen metaphysischem Glauben an den notwendigen Fortschritt und rationalem Planen des möglichen Fortschritts1, aus der nun die Konsequenz gezogen wird. Weil keine übermenschliche Macht alles zum Besten lenkt, müssen die Mensdien für ihr eigenes Heil sorgen, sich selber universale, die Erde umspannende Ziele stellen (38). Die von Nietzsche zitierte, salbungsvolle Formulierung im Kirchenstil: „wie Gott die Schicksale der Welt im Großen leite und trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit sie doch herrlich hinausführe" (38), ironisiert den alten Glauben2. Denn: „Geschichte kennen heißt jetzt: zu erkennen, 1 a

Siehe Apho 24 und Kommentar. Vgl. zum Folgenden audi IV 1, 112 (3 [75]). Audi hier steht, wie im 25. Apho, Ablehnung der „Vorsehung" im Zusammenhang mit der Bejahung bewußter Gestaltung: zunächst der Herstellung von Kunstwerken und endlich der „Erzeugung von besseren Mensdien", als „Aufgabe der Zukunft".

Kommentar

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wie es alle Menschen sich zu leicht gemacht haben, welche an eine Vorsehung glauben. Es giebt keine." (7V 1, 120 [5 [16] ]). Hingegen ist der im Verlauf des Aphorismus dreimal verwendete, ekklesiastisdie Terminus „ökumenisch" 3 wohl im Sinne der geforderten „rückläufigen Bewegung" (34) gewählt, welche Gesinnungen der religiösen Epodie, die der Menschheit einst (e. g. zur Gründung ,ewiger Werke' (36) förderlich waren) umfunktionieren will: Bisher wollte die Kirche ökumenische Ziele verfolgen, der Papst als ökumenischer Bischof gelten. N u n wird, — gemäß dem Umkehrungsprinzip, — ein ökumenischer Atheismus gefordert. Welche Folgerungen ergeben sich aus all dem hinsichtlich des wünschenswerten Handelns des Menschen? Hätte die „ältere Moral" (38) mit der Voraussetzung redit, „daß die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse" (39), so bedürfte es kaum des Entwurfes weltumspannender Entwicklungsziele und der Planung des möglichen Fortschritts zur Harmonie. Die Privatmoral wäre zugleich auch „Weltmoral" (38). Denn jeder Einzelne wüßte „bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre" (39) und brauchte nur dem moralischen Gesetz in ihm zu folgen, das f ü r alle als das gleiche galt, da man glaubte, es repräsentiere eine allem zugrundeliegende absolute Forderung, der jeder in gleicher Weise verpflichtet sei. Nietzsche lehnt dieses Gleichheitsprinzip in der Moral ab. In dem 25. Aphorismus bezieht er sich dabei ausdrücklich nur auf die Kantische Moral; könnte sich freilich ebensowohl etwa auf die Humanitätsmoral der Klassik, e. g. der Goetheschen Iphigenie beziehen 4 . In Notizen zu dem gleichen Themenkreis wird auch die christliche Moral angegriffen und dieser, ebenso wie dem Moralbegriff Kants, provokatorisch die vom Handel gefördete Moralität entgegengesetzt (vgl. IV 4,449). Jedoch auch letztere hält an der Fiktion identischer Forderungen fest und steht im Gegensatz zu dem von Nietzsche, in Hinblick auf ökumenische Ziele geforderten Pluralismus der Moralen. Das Christentum verlangt die Liebe zum Mitmenschen „um Gottes Willen", hat aber durch seine durchweg gewaltsame und blutige Geschichte bewiesen, wie wenig „geforderte Liebe überhaupt" und namentlich eine „Liebe dieser indirekten Art, wie die christliche Nächstenliebe" vermag. Jedoch auch die „Kantische Aufforderung ,thue das was du willst daß dir gethan werde'" (— wohl eine absichtliche Banalisierung des kategorischen Imperativs —) ergibt nur „eine kleinbürgerliche PrivatAchtbarkeit der Sitte und steht im Gegensatz zu ökumenischen Zwecken: von deren Existenz.. [Kant] nicht einmal einen Begriff hat" (IV 2, 556 f.). Hingegen drückt sich, — wie Nietzsche später sagt, — in der „Tatsache des Kredits, des ganzen Welthandels, der Verkehrsmittel" nicht bloß „ein ungeheures s 4

Allerdings gebraucht ihn auch Burckhardt und zwar sine ira, s. oben, Seite 233. Ebenda heißt es von der Stimme der „Wahrheit und der Menschlichkeit": „Es hört sie jeder, / Geboren unter jedem Himmel, dem / Des Lebens Quelle durch den Busen rein / Und ungehindert fließt" (Verse 1939—1942).

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mildes Vertrauen auf den Menschen" aus (78, 53), sondern der Handel ist eine Macht, die, obschon aus Gewinnsucht, die Menschheit moralisch umgestaltet: „alle Art Geschäftsmänner und Habsüchtige, alles, was Kredit geben und in Anspruch nehmen muß, . . [hat] es nötig.., auf gleichen Charakter und gleichen Wertbegriff zu dringen: der Welt-Handel und -Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich gleichsam die Tugend" (78, 219) 5 . Und auch in der Phase von MA meint Nietzsche: „Jetzt ist es der Handelsstand, welcher ein völliges Zurücksinken in die Barbarei verhindert" (IV 2, 445). Voraussetzung ist hier allerdings, daß die alte Kultur nicht mehr lebendig wirksam sei, nicht aber, daß die Handelskultur als solche einen höheren Stand erreicht hätte als die alte Kultur in der Epoche ihrer Entfaltung. Welthandel und -Austausch erweisen sich — in der .hochkapitalistisch-imperialistischen' Phase — u. a. als inter- und übernationale, (dem Nationalismus vielfach entgegenwirkende, .europäische', .westliche') Macht, die de facto (in Industrialisierung, Technologie, Mitteln der Kommunikation, etc.) weltumspannende Tendenzen entwickelt, eine internationale ,Moralität' mit sich bringt, welche Gesinnung, Verhalten, Tun und Lassen der Menschen im täglichen Verkehr weitgehend bestimmt und dergestalt umfassender und eingreifender zu wirken scheint als die idealen Forderungen. Daher behauptet Nietzsche: „wenn man an die höhere Nützlichkeit, an ökumenische Zwecke bei dem Wort Moral" denkt, so sei „im Handel mehr Moralität enthalten" (/V 2, 556) als in der Kantischen Vorschrift oder „im christlichen Wandel" (IV 2, 556; IV 4, 449). Und dieser Hinweis auf die moralische Überlegenheit der Handelsgesinnung ist Nietzsche wohl auch darum willkommen, weil es sich für ihn von selbst versteht, daß der Handel auf unsublimiert egoistischen Motiven beruht und er darauf bedacht ist, den Egoismus, selbst in der — gemäß Nietzsches Auffassung — gemeinsten Daseinsform, die es bisher gegeben hat, i. e. der „sogenannten industriellen K u l t u r . . in ihrer jetzigen Gestalt" (74, 67) zu Ungunsten der .Selbstlosigkeit' anzupreisen. „So zu handeln, daß die Menschheit usw.: Da müßte man das Vorteilhafte übersehen können. Wer sagt daß überhaupt für das Ganze eine Art Handeln zuträglich sei? Die Geschichte sagt das Gegenteil. Man ist dem Egoismus viel mehr verpflichtet" (/V 2, 475). Dem gegenwärtigen Leser dürfte sich hier die Frage aufdrängen, ob Nietzsche in MA als Parteigänger und Fürsprecher des Kapitalismus und des im Sinne des Kapitalismus gelenkten Staates auftritt. In Anbetracht des 8. Hauptstücks von MA läßt sich gewiß behaupten, daß es nicht Nietzsches deklarierte Absicht war, diese Rolle zu übernehmen, wobei selbstverständlich die Frage offen bleibt, in5

Allerdings wird dieser Gedanke hier im Sinne des späten Nietzsche erweitert: Ebenso wie der Welthandel macht es „der Staat und jede Herrschaft in Hinsicht auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit der Kräfte zu arbeiten. — Insgleichen die Priesterschafl." (78, 219).

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•wieweit Nietzsches Gedankengänge — e. g. seine, in ihrer Intensität fluktuierende, aber immer beträchtliche Aversion gegen einen demokratischen Sozialismus, seine anti-revolutionäre Gesinnung, sein apolitisch-elitärer Intellektualismus, seine Freigeisterei, sein Aristokratismus der ,Wohlgeratenen', sein Individualismus, aber audi seine gelegentlichen Verherrlichungen der Gewalttätigkeit und seine Utopien der politischen Machtentfaltung, etcetera — sich als verkappte, oder unbewußte Ideologie' des ,Kapitalismus' bzw. einer bestimmten — .imperialistischen' — Phase des Kapitalismus auffassen lassen'. Der Freigeist von MA will „so wenig Staat wie möglich" (ΜΑ I, 303), verurteilt die nationale wie die sozialistische Partei (ΜΑ I, 309), enthält sich der Politik im Zeitalter der demagogischen, auf die Massen abzielenden Parteien als der Sphäre der „großen Al-fresco-Dummheiten" (ΜΑ I, 279). Seinem Ideal entsprechen die „höheren Menschen", welche die „Taten der höheren Kultur" tun und also weder persönliche noch kollektive politische Machtentfaltung (ΜΑ I, 309 f.), weder persönlicher noch kollektiver Reichtum. Was den manifesten Gehalt von Nietzsches Schriften überhaupt angeht, so ist jedenfalls mit einigem Recht behauptet worden, daß ihm, ob er einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Kultur anhängt, oder eine Utopie gesteigerter Vitalität verkündet, der Staat recht wenig imponiert (obschon dies auf den späten Nietzsdie nicht durchaus zutrifft), noch weniger aber die, — auch dem kulturgläubigen Burckhardt odiose, — Erwerbsgier. Der gesteigerte, sublimierte Egoismus, den Nietzsche in MA und in seinen späteren Werken hochhält, ist jedenfalls nicht der Egoismus des Kapitalisten', selbst wenn Nietzsche diesen gegen Ideale ausspielt, die er für idealistische Fiktionen hält. So fertigt Nietzsche ζ. B. die auch für Deutschland im 19. Jahrhundert bedeutende Free Trade Kontroverse verächtlich ab: „Bei den Schutzzöllnern und Freihändlern handelt es sich um den Vortheil von Privatpersonen, welche sich einen Saum von Wissenschaft und Vaterlandsliebe angelogen haben" (/V 2, 412). „Freihändler sind Verbrecher Staatsmänner usw." (IV 2, 408). Und ebenso wird im 25. Aphorismus die Theorie vom Freihandel — zusammen mit Kantianismus (und implicite: mit dem Christentum) — verworfen, zwar nicht weil sie den Egoismus verbrämt, sondern weil auch diese Theorie, wie gesagt, eine Moral für alle empfiehlt, und behauptet, daß, wenn alle den gleichen Motiven (hier des Erwerbs) folgten, sich daraus eine allgemeine Harmonie der Interessen zum Besten des Ganzen ergeben müßte; weil auch hier die falsche Gleichung zwischen Privatmoral und Weltmoral statuiert wird, anders gesagt: weil auch diese Theorie einer Herdenmoral das Wort redet. Was Nietzsche hingegen will, ist eine Auffassung

' Vgl. Georg Lukacs' Polemik gegen Nietzsdie (in Die Zerstörung der Vernunft, Aufbau Verlag: Berlin, 1955; Seite 244—317), die es sich allerdings zu leicht macht, da sie das zu interpretierende Objekt von vornherein nur in jener Verzerrung darstellt, die der Absicht des Interpreten entgegenkommt. Siehe unten, Seite 258—261, 284—287.

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der Moral, die der Planung einer differenzierten Entwicklung der Menschen in Übereinstimmung mit kulturellen Zielen und der Kenntnis der Bedingungen der Kultur (39) entspräche. Darüber hinaus aber entspricht auch seinem Vorurteil und seiner Vorliebe eine aristokratische Moral. Wiederum verdeutlicht die Polemik der Spätphase eine, f ü r Nietzsche überhaupt charakteristische Auffassung jener Moral, die er mit Handel, Demokratie und Massengesellschaft verbindet: „Gegen John Stuart Mill. — Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt, „was dem einen recht ist, ist dem andern billig"; „was du nicht willst usw., das füg' auch keinem andern zu"; welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint f ü r etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste Wert einer Handlung einfach annuliert (Das, was durch nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann —). Die „Gegenseitigkeit" ist eine große Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von einem andern getan werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich geben darf (— außer in der ausgewähltesten Sphäre der ,meinesgleichen', inter pares —), daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges tut, — diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an .Gleichheit' und /o/g/ic& Ausgleichbarkeit und ,Gegenseitigkeit' glaubt" (78, 622 f.). Was haben aber nun diese Ausführungen mit unsrem, wie gesagt: ausdrücklich nur gegen Kant gerichteten Aphorismus zu tun, in dem vom Christentum gar nicht, von der Theorie des Freihandels und der Handelsmentalität nur flüchtig die Rede ist? Wesentlich scheint mir, daß die aufklärerisch fortschrittliche Gesinnung, die Nietzsche hier als eine der Zukunft entsprechende Perspektive skizziert, sich auf der Linie seiner späteren anti-egalitären Thesen bewegt. Denn durchaus soll sie nicht im Sinne jener liberalistischen Tendenz wirken, welche allen Menschen gleiche Rechte und Pflichten in Bezug auf ein identisches moralisches Gesetz zuerkennt, mithin Gleichheit vor diesem Gesetz fordert. Vielmehr wird die egalitäre ,moderne' Tendenz (die Nietzsche in Wahrheit als Ausläufer der christlich-metaphysischen Epoche gilt) der älteren Aufklärung — nämlich Kant — zugeschrieben und andeutungsweise, — gemäß der Auffassung, daß die moralischen Satzungen aus dem „Gesellschaftsnutzen" entstanden sind ( Μ Α II, 199), — auch der Theorie und der (kapitalistischen) Epoche des Freihandels (39) zugeordnet, die eine, der Vorstellung von dem Austausch gleichwertiger Leistungen analoge Moral durchsetzte. Aus der Umkehrung der alten Vorstellung von einer homogenen, allverbindlichen Privat- und Weltmoral ergeben sich f ü r Nietzsche anscheinend zwei einander entgegengesetzte Auffassungen der Moral, die er nur insofern miteinander zu

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harmonisieren im Stande ist, als er sie am Ende wieder einem allgemein verbindlichen Prinzip, nämlich dem Nutzen für die Entwicklung menschlicher Kultur, subsumiert. Für den Freigeist, für das, in der Übergangsepoche der Vergleichung experimentierende, „reife Individuum" ( Μ Α I, 84), welches infolge seiner Entwicklung zum „Gesetzgeber der Meinungen" (ΜA I, 83) geworden ist, sowie für den Einzelnen, der in einer späteren Epoche den höheren, anzustrebenden Typus repräsentieren wird, gilt die Individualmoral. Denn im Gegensatz zu der früheren Auffassung, der „das Unpersönliche" „als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung" galt, sehen wir jetzt ein, „daß gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am größten ist: so daß gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht." „Aus sich eine ganze Person machen und in allem, was man tut, deren höchstes Wohl ins Auge fassen — das bringt weiter als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zugunsten anderer. Wir alle leiden freilich noch immer an der allzu geringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet... Man h a t . . unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staat, der Wissenschaft, dem Hilfsbedürftigen zum Opfer angeboten . . . Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eignen höchsten Vorteil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vorteil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen" (ΜΑ I, 84). Und in demselben Sinn bekennt Nietzsche auch: „Nichts im Kopfe als eine persönliche Moral: und mir ein Recht dazu zu schaffen ist der Sinn aller meiner historischen Fragen über Moral" (82, 376). Ganz anders lautet aber, was im 25. Aphorismus hinsichtlich der Zukunft der Moral als Vermutung ausgesprochen wird. Zwar auch hier wird betont, daß das Metaphysikum, der alte Irrtum, als gäbe es ein allgemeines moralisches Gesetz, abzutun sei und es daher „vielleicht" in der Zukunft „durchaus nicht wünschenswert erscheinen [werde], daß alle Menschen gleich handeln" (39). Auch hier wird der bisherigen Vorstellung von einem als absolut, für alle verbindlich und invariabel geltenden Moralgesetz umgekehrt. Und so ließe sich die zur Ideologie des .möglichen Fortschritts' zugehörige, experimentierende Moral samt ihren sich wandelnden, für verschiedene Menschen und Stadien der Menschheitsentwicklung verschiedene Forderungen, welche sich nicht auf ein universales Weltgesetz berufen und den Menschen nicht als Stimme des Gewissens immanent sind, mit dem Individualismus in der Moral allenfalls vereinen. Jedoch liegt auf der Hand, daß hier eben nicht der Einzelne, sondern die von der Wissenschaft zu ermittelnde Kenntnis der Bedingungen der Kultur die Ziele der Menschheitszüchtung und mithin die jeweils zu fordernden und zu fördernden Lebenshaltungen bestimmt. Und angesichts des Hinweises auf eine künftige „bewußte Gesamtregierung" der Menschheit können wir uns kaum

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des Eindrucks erwehren, daß nun an Stelle des moralischen Individualismus vielmehr dessen Gegenteil, nämlich totale Planung empfohlen wird. „Für ganze Strecken der Menschheit [werden] spezielle, . . sogar böse Aufgaben zu stellen sein" (39). Wer stellt diese Aufgaben, wenn nicht die wissenschaftlich ausgebildeten Kulturexperten? Man erinnert sich daran, wie der spätere Nietzsche die Überzeugung von der Notwendigkeit verschiedener Moralen, in Hinblick auf Herdenund Herrenmoral (vgl. aber auch ΜA I, 59 f.) und in Erwägungen über das ,Böse* als Entwicklungswert ausgebaut hat. Allerdings nicht unbedingt im Geiste von MA. Denn in MA wird zumindest in Hinblick auf die bevorstehende Entwicklungsphase — umgekehrt als in der GdT (70, 117) — das Handeln „nur aus Instinkt" im Sinne des Sokratismus und des aufklärerischen aude safere als untauglich abgelehnt. Gelten doch die Instinkte selbst nur als Resultanten unserer Irrtümer und als Gewordenheiten; gibt es doch hier keine transrationale Instanz, die Wert und Gültigkeit der Instinkte gewährleisten könnte. Der spätere Nietzsche aber wird zugunsten der Entwicklung von Instinkten des „starken Menschen" „mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit" (78, 611), — die Akzente wieder anders und — unter Hinweis auf die GdT (77, 88), — entschieden aristokratisch setzen, — nicht im Glauben an die ,Wahrheit' der Instinkte, sondern in Bejahung vitaler Illusion. Jedoch beeindruckt uns diese Differenz, die sich überdies beheben läßt, wenn man annimmt, es sollte einer Phase bewußter Indoktrinierung und Inokulation eine weitere der völligen Einverleibung und Instinktwerdung der neuen Gesinnungen folgen, hier weniger als die Kontinuität von Nietzsches Entwicklungs- und Züchtungsutopie. Der spätere Nietzsche (vgl. den „Willen zur Macht") hat versucht, die „gesetzgeberischen Moralen" als „das Hauptmittel" der Menschengestaltung (78, 637) darzustellen und auf eine Rangordnung zu beziehen, die von den Sklaven bis zu den Regierenden, von diesen bis zu den großen, den höchsten Menschen und darüber hinaus bis zum Ubermenschen reicht. U n d dieser Hierarchie entsprechend sollte sich auch das Maß an Freiheit bis zu völlig autonomer, moralisch-amoralischer Selbstgestaltung und Selbstverantwortlichkeit steigern. Die hierarchische Pyramide der Gesellschaft erscheint so als Postament, dessen die Utopie des Super-Individualismus zur Bestätigung exklusiver Einzigartigkeit bedarf. Die Unfreiheit der Vielzuvielen dient der Freiheit der Allerwenigsten als Folie. Derlei findet sich in MA nicht. Aber audi der 25. Aphorismus setzt f ü r die Zukunft eine Rangordnung voraus, da eben nicht alles f ü r alle zu gelten hat, die Aufgaben und Lebenshaltungen jeweils im Sinne einer planenden Verwaltung der Welt f ü r untereinander ungleiche Menschen unterschiedlich gestaltet und wohl auch durch herrschende Eliten (womöglich die „großen Geister" (39)) gestellt werden; anderseits aber wohl auch denen, die dazu fähig sind, Raum gegeben werden soll, sich das Recht auf ihre Privatmoral (38) zu schaffen. Eine Notiz aus dem Nachlaß (Oktober—Dezember 1876) beweist, wie nahe Nietzsche schon

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in der Phase von MA den späteren Spekulationen steht: „Zukunft in einigen Jahrhunderten. Ökonomie der Erde, Aussterbenlassen von schlechten Racen, Züditung besserer7, eine Sprache. Ganz neue Bedingungen für den Menschen, sogar für ein höheres Wesen?" {IV 2,445). Und audi der Nietzsche der Aufklärungsaphorismen kennt die Differenzierung zwischen neuer und alter Aufklärung8, mag er sich audi nur auf dem Wege zu der späteren, krassen Antithese befinden, die ein Entwurf aus den achtziger Jahren zusammenfaßt: „Die neue Aufklärung — die alte war im Sinne der demokratischen Herde: Gleidimachung aller. Die neue will den herrschenden Naturen den Weg zeigen; — inwiefern ihnen (wie dem Staate) alles erlaubt ist, was den Herdenwesen nicht freisteht" (83, 282; vgl. 299 f.). Damit scheint allerdings, zumindest für die Spätphase, die Frage nach Nietzsches politischer Einstellung im Sinne totalitärer' Bestrebungen entschieden zu sein. Nur fragt sich auch hier noch, welcher Art die .herrschenden Naturen' sein sollten, denen alles erlaubt ist. Denn Nietzsdies Idealvorstellung gemäß, geht der Weg zu dem mächtigsten Menschen über die höheren Menschen und die Selbstüberwindung des Menschen (vgl. ζ. B. 83, 300); und Nietzsches politische und pseudopolitische Konzepte schwanken offenbar zwischen einer aggressiven Metaphorik, — dergemäß etwa die Verherrlichung der ,Macht' oder des ,Krieges' im übertragenen Sinne zu verstehen wäre, e. g. im Sinne eines politisch friedfertigen, bzw. apolitischen, allem Staatswesen abgeneigten Individualismus, — und extremen, bis zu brutaler Phantastik gesteigerten, autoritären Herrschaftsvisionen. Man ist im Hinblick auf Nietzsche den Politiker immer wieder versucht zu behaupten: sein Ernst liegt anderswo. Und dennoch ist auch das nur eine Halbwahrheit, und Nietzsches Verwendbarkeit für konkret totalitäre Ideologien ist kein Zufall. Vielmehr scheint es mir fast ebenso töricht oder verlogen, die Verbindung zwischen Nietzsche und den Faschisten, Nazis, Falangisten zu leugnen wie etwa die Verbindung zwischen Marx und Stalinismus. Einer späteren Epoche wird Nietzsche, dessen politische Gedanken um so schwerer zu präzisieren sind als er sie oft selbst nicht präzisierte, aber vielleicht nicht so sehr als unbewußter Ideologe des imperialistischen Kapitalismus imponieren, sondern vielmehr als Repräsentant einer zunächst desorientierten, de facto abhängigen, zugleich rebellischen und ihrer potentiellen Macht bewußten Intellektuellenschicht, die im Verlauf der neueren Geschichte immer deutlicher als ein eigener ,Stand' hervortritt. 7

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D a ß Nietzsche unter guter und schlechter Rasse nicht dasselbe verstand wie die Nazis, erhellt aus seinem Lob der europäischen Mischrasse — samt Apologie der Juden — im 475. Aphorismus von ΜΑ I ; wobei allerdings audi wieder hinsichtlich der Juden Nietzsches ausgeprägte Ambivalenz in Betracht zu ziehen wäre, gelten ihm doch gerade die Juden u. a. auch als „das schlechteste Volk der E r d e " (e. g. 83, 327). Auch nähert sich, wie der frühe, so auch der späte (zugleich anti-antisemitische, alle Deutschtümelei, ja alles ,Deutsche' perhorreszierende) Nietzsche mitunter einem die ,Arier 1 auszeichnenden Rassismus (siehe Genealogie, vgl. GdT). Siehe die Studie zum 26. Aphorismus, unten, Seite 2 9 6 — 2 9 9 sowie die Unterscheidung zwischen echter, antirevolutionärer Aufklärung und dem optimistisch revolutionären Geist Rousseaus (unten, Seite 284).

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Übrigens will ich nicht leugnen, daß Nietzsche der Politiker für mich eine Peinlichkeit ersten Ranges bedeutet. Welche Kriterien gelten ihm als relevant für die Auswahl der von ihm geforderten Eliten? Und wie denkt er sich ihr Wirken, — da er ζ. B. den Sozialismus als Erben des Despotismus und — ebenso wie den Cäsarismus — als Staatsterrorismus fürchtet (ΜΑ I, 301 f.) und ihm auch später, wie gesagt, als höchste Machtentfaltung gerade nicht die staatliche gilt, obschon er anderseits auch wieder im Zuge seines Individualismus für den Cäsarismus selbst Sympathie hegt? Oder schwankt sein Konzept nur insofern er eben einmal den Standpunkt dessen einnimmt, der nicht beherrscht werden will, ein ander Mal aber den Standpunkt des Herrschenden? Nietzsches Kulturkritik und selbst Nietzsches experimentierendes Durchdenken kultureller Zukunftsziele sind Resultate einer im Grunde apolitischen Bildung und Erfahrung, die ihn bei dem Versuch, Politik als Mittel und Weg zur Erreichung ebendieser kulturellen Ziele zu diskutieren, im Stich läßt. Er selbst ist jedenfalls durchaus nicht im Stande dazu, jene Politik zu antizipieren, die einer umfassenden Kenntnis der Bedingungen der Kultur (39) entspräche. Im Gegensatz zu manchen späteren Schriften gesteht Nietzsche dies im 25. Aphorismus von MA audi indirekt ein. Wohl gerade weil die anzustrebende Kultur durchaus nicht mehr dem unbewußten Tier- und Pflanzenleben (38) gleichen wird, und daher die Gefahr ihrer Selbstzerstörung durch willkürliche Disproportionierung besteht, würde die Menschheit, — so meint er, — sich jetzt durch den voreiligen Versuch einer bewußten Gesamtregierung ihrer selbst nur zugrunderichten. Denn es fehlt vorläufig nicht bloß die politische Kunst des Realisierens künftiger Menschheitsziele, diese Ziele selbst sind noch nicht erkannt. Es gilt die Vorbedingung des möglichen Fortschritts, ebenjene Kenntnis der Bedingungen der Kultur als wissenschaftlichen Maßstab für ökumenische Ziele (39) zu gewinnen. Und auch diese Leistung mutet Nietzsche sich hier nicht selber zu, sondern er sieht in der Bemühung um sie die „ungeheure Aufgabe der großen Geister des nächsten [i. e. des 20.] Jahrhunderts" (39). Damit ist das Verhältnis zwischen den tentativen Zukunftsprojekten in MA und den späteren prophetischen Dekreten einigermaßen umschrieben. Zuletzt bedenke man aber auch, inwiefern die Polemik gegen die „ältere Moral" (38) Nietzsche zu immer anspruchsvolleren Postulaten vorantreiben mußte. Die Ablehnung des Gleichheitsprinzips in der Moral ergibt sich aus Nietzsches Grundprinzip. Die seiner Intuition des Werdens gemäße Leugnung der Identität überhaupt negiert auch im Bereich der Moral ein universales Gesetz, ja auch einen als solchen konstanten moralischen Sinn. Wie könnte es eine „absolute Moral" geben, da es keine „gleichen Handlungen" gibt (74, 223; 73, 125)! „Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, alles ist im Flusse" (MA /, 98). Wenn dies aber einmal erkannt wird, fragt es sich, welche Instanz künftig mit dem Anspruch auf Gefolgschaft auftreten kann. Wie wird sich, ange-

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sidits der Unverbindlidikeit moralischer Satzungen, künftig irgendein Ziel postulieren und verwirklichen lassen? Immer dringlicher fühlt Nietzsche, der Anhänger der Kultur, sich von dem Skeptiker Nietzsche genötigt, selber „die ungeheure Aufgabe" zu übernehmen, die hier noch, — als könnte sie Normen liefern, — einer künftigen Wissenschaft und künftigen großen Geistern überlassen bleibt. Und immer mehr drängt die These, daß es ein schlechthin gültiges moralisches Gesetz nicht gibt, Nietzsche wohl dazu, die Macht als einziges Kriterium anzuerkennen, wodurch nun freilich die Philosophie Nietzsches wiederum als Ideologie des Imperialismus erscheint, zugleich aber auch wiederum zu bedenken ist, daß die höchste Machtentfaltung auch für den Nietzsche der Spätphase nicht die im engeren Sinne politische ist, sondern eher die des Philosophen und geistigen Gesetzgebers. Dieser, — der allerdings in Verbindung mit einer herrschenden Kaste als „deren höchste Vergeistigung" (78, 650) erscheint, — weiß, „daß das Schicksal der Menschheit am Geraten ihres höchsten Typus liegt" (78, 654). Und endlich soll die höchste Macht durch die reine Existenz dieses Typus, nämlich des Dasein und Welt rechtfertigenden Uber-Menschen verwirklicht werden. Auf einen Zuwachs von Macht — nämlich über die Erde und für die Menschheit als Gestalterin ihres eigenen Schicksals und zumal ihrer eigenen kulturellen Steigerung — hat es aber, — in einer noch vergleichsweise .liberalen' Form, — auch der 25. Aphorismus abgesehen.

NACHTRÄGE ZU DEM THEMENKREIS DES 25. APHORISMUS

In Anerkennung der von dem voranstehenden Kommentar durchaus nicht erledigten Problematik der hier aufgeworfenen Themen, seien nodi zwei Nachträge eingefügt, die zwar ebenfalls keine Lösungen anbieten, jedoch vielleicht zu einer befriedigenderen Auseinandersetzung, zumal mit den politischen Aspekten Nietzsches anregen könnten, da man, um Nietzsche auch von dieser — wie mir scheint: angreifbarsten, schwächsten — Seite her gerecht zu werden, ihn weder nach dem Rezept eines Vulgärmarxismus .ideologisieren', noch, — unter Vernachlässigung mancher unbequemer Texte, — im Sinne eines unverbindlichen Liberalismus verharmlosen soll. 1. Zu Nietzsches

Antisozialismus

Die Polemik von Georg Lukacs faßt Nietzsches Denken als Pendant zur Ära Bismarcks sowie als Anticipation sowohl des deutschen Faschismus (Nationalsozialismus) wie der Ära des amerikanischen Imperialismus auf; und zwar so, daß dabei das Meiste, was an Nietzsches Gedanken bedenkenswert bleibt, unter den Tisch fällt. Eine an sich legitime Betrachtungsweise — denn Nietzsche ist u. a. eine Zeiterscheinung und war ein Idol der Nazis — wird hier zur ancilla eines intellektuellen Eskapismus, der es dem Nietzsche-Leser erlaubt, oder vielmehr: der den Nietzsche-Leser dazu zwingen will, sich davon zu dispensieren, die im Text selbst erörterten Fragestellungen ernst zu nehmen. Man erledigt ein Argument nicht dadurch, daß man es als Symptom eines sozio-historischen Kontexts auffaßt und seine Funktion innerhalb des Kontexts charakterisiert, und zwar auch dann nicht, wenn man die Frage nach seinen Entstehungsbedingungen und nach dem cui bono richtig beantwortet hat (was bei Lukacs nicht der Fall ist). Vorbedingung der intellektuellen Auseinandersetzung bleibt, daß man das Gedachte selbst durchdenkt. Das kann man aber nicht, wenn man von vornherein besser zu wissen meint, was ein Autor sagt als der Autor selbst es weiß, mithin seinen Argumenten in einem fort, da man ja seine ,wahren' Motive zu kennen meint, ganz andere Begründungen gibt als die vom Autor selber vorgebrachten. Dies sollte man wissen, selbst wenn man als Ideologe Ideologien-Analyse treibt. Nun fragt sich aber auch abgesehen von Lukacs, ob die Voraussetzung, daß Nietzsches Antisozialismus die dominante Perspektive, die Haupttendenz und das

I. Nietzsches Antisozialismus

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wesentliche Kriterium Nietzsches sei, eine adequate Darstellung, Ableitung und Beurteilung von Nietzsches Gedankengewebe ermöglicht. Das sind drei verschiedene Fragen, von denen uns vor allem die Frage nach der Darstellung angeht. Nietzsches Gedankengewebe läßt sich, da alles mit allem wohl irgendwie' zusammenhängt, von verschiedenen Enden her wenigstens teilweise aufdröseln. Eine absolut und einzig richtige Darstellung gibt es dabei, — obschon es absolut falsche Darstellungen gibt, — weder im Falle Nietzsches noch für irgendein darzustellendes Objekt. Jedoch gibt es mehr oder minder adequate Darstellungen eines Denkgewebes, je nachdem ob die in den Texten selbst hervorgehobenen Thesen samt den zugehörigen Begründungen ohne Verzerrung und Verfälschung reproduziert werden oder nidit. Als Maßstab hat dabei der manifeste Gehalt der Texte zu gelten, dem die Darstellung Gerechtigkeit widerfahren lassen muß. Da aber im manifesten Gehalt der Nietzsche-Texte die antisozialistische Gesinnung nicht nur eine relativ geringe, subordinierte, periphere Rolle spielt, sondern sich Nietzsches Antisozialismus, gemäß seiner eigenen Auffassung, als Konsequenz aus seinen anderen polemischen Positionen (e. g. gegen Religion, Metaphysik, Idealismus) ergibt (insofern er ζ. B. den Sozialismus als Ausläufer der christlichen Tradition auffaßt), sich aber umgekehrt die andern polemischen Positionen, e. g. gegen Metaphysik, Idealismus, Religion, — gemäß Nietzsches eigener Auffassung, — nicht als Konsequenz aus seiner Polemik gegen den areligiösen, sich für unmetaphysisch haltenden, anti-idealistischen Sozialismus ergeben, so scheint zunächst unter der Dominanz der antisozialistischen Perspektive eine sachgerechte, adequate Darstellung von Nietzsches Gedankengewebe (zu der, um dies nochmals zu sagen, auch Nietzsches Begründungen seiner Positionen, auch und gerade Nietzsches Argumente gehören) nicht recht zustande kommen zu wollen. Wer Nietzsches Gedanken in ihrem Zusammenhang durchdenken will, wird dies unter der Voraussetzung, daß Nietzsches Leitidee der Antisozialismus sei, zumeist nur in so geringem Maße zuwegebringen, daß der Antisozialismus sich als Prinzip einer im Sinne des manifesten Gedankengewebes unternommenen Darstellung, — zu der wir hier eine Vorarbeit liefern wollen, — offenbar nicht empfiehlt. Prinzipiell anders steht es, wenn man nach der latenten Tendenz oder dem latenten Bündel von Tendenzen, nach den halb verborgenen, bzw. unbewußten Motiven und nach gesellschaftlichen Faktoren fragt, also nicht nach Nietzsches Thesen oder nach ihren Begründungen per se, sondern nach ,Ursachen' oder Kräften, bewußten oder unbewußten Erfahrungen, welche diese Thesen und Begründungen veranlaßten, bedingten, mit-hervorbrachten. Jeder Gedanke, jedes Gedankengewebe ist u. a. auch Symptom psycho-physio-soziologischer Bedingungen. Die Ableitung von Nietzsches Gedankenwelt aus einer individuell und kollektiv spätbürgerlichen, defensiv antisozialistischen Tendenz scheint mir eine allerdings in Wahrheit viel komplexere sozio-historische und zugleich individualpsychologische (und physiologische) Bedingtheit zu simplifizieren. Jedoch wenn man einmal die Frage stellt: warum denkt Nietzsche so wie er denkt; also nach Ursachen oder Bedingungen für

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Zum Themenkreis des 25. Aphorismus

Nietzsches Denken fragt; so hat man keine Berechtigung, den Anteil sozio-ökonomischer Faktoren und sozio-politischer Ideologien zu leugnen, die Nietzsches Denken nicht minder geprägt und beeinflußt haben sollten als etwa das seiner Schwester, seiner Freunde und Studienkollegen, usf. Und ferner ist in der Tat offensichtlich, daß die antisozialistische Tendenz zu den relativ konstanten Beständen sogar von Nietzsches bewußter Gesinnung gehört. Es wäre daher von Interesse, die mutmaßliche Einwirkung der antisozialistischen Tendenz auf Nietzsches Denken zu ermitteln, wobei man selbstverständlich auch dazu berechtigt wäre, Hypothesen bezüglich der Motivation seines Denkens aufzustellen, die zu den Begründungen, welche Nietzsche selbst für seine Position anführt, im Widerspruch stehen, vorausgesetzt, daß man sich über dies Verfahren im Klaren ist und es auch andern klar macht. Denn ebenso wie etwa der Psychoanalytiker unter Umständen mit Recht darauf hinweist, daß die von seinen Patienten angeführten Begründungen eines Verhaltens ganz andere sind als die eigentlichen oder stärkeren, im Verborgenen wirkenden Motive, so kann und muß unter Umständen auch der Sozio-Analytiker verfahren. N u r muß man sich vergegenwärtigen, daß eine partielle Ätiologie, daß Ableitung aus kausativen sozioökonomischen Faktoren und ideologischen Tendenzen etwas anderes soll und leistet als eine Darstellung von Nietzsches Gedanken oder eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Gedanken. So ergibt sich endlich die Frage nach der Beurteilung von Nietzsches Thesen und Begründungen seiner Thesen in Hinblick auf seine anti-sozialistische Tendenz. Dabei wäre zunächst zu fragen, ob Nietzsches Auffassung des Sozialismus als totale Gleichmacherei die richtige ist oder nicht. Wenn nicht, so wären damit allerdings Nietzsches relativ unbeträchtlichen expliziten Ausfälle gegen den Sozialismus entwertet, nicht aber die Polemik gegen das, was er unter Sozialismus versteht. Wenn Nietzsche aber den Sozialismus richtig versteht, so müßte man sich wohl fragen, ob seine Einwände berechtigt sind oder nicht, statt sie als bloße Symptome zu behandeln. Uberhaupt muß man sich ständig vergegenwärtigen, daß die mutmaßliche Herkunft eines Gedankens und seine mutmaßliche Funktion in einem gesellschaftlichen Kontext die Frage nach Gültigkeit oder Ungültigkeit, richtig oder unrichtig, wahr, unwahr nicht erledigt. Die Marxisten allerdings leben zumeist intellektuell davon, daß sie die drei angeführten Fragestellungen vermischen. Sie meinen, die Herkunft eines Gedankens und die Intention, mit der er vorgebracht wird, beweise etwas für seinen Wert oder Unwert (worin sie übrigens — bei aller Differenz bezüglich der für wünschenswert gehaltenen Herkunft und Intention — mit dem späten Nietzsche übereinstimmen). Die Vermengung der Darstellung eines Gedankengewebes mit dessen reduktiver Deutung und der Mißbrauch des reduktiven Befundes als Argument kennzeichnet ihre Methode. Sie verzerren das, was erst zu analysieren wäre, indem sie in der Darstellung nur jene Momente hervorheben, die sich für die Reduktion auf das, was sie als eigentliches Motiv voraussetzen, als bequem erweisen; und argumentieren dann.

I. Nietzsches Antisozialismus

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daß die — sdion von vornherein verzerrte — Aussage falsch sei, weil sie von einem Motiv, das sie ablehnen, inspiriert wurde. Der Marxist gewöhnt sich so daran, statt auf die Begründung einer These einzugehen, auf deren — im Sinne seiner Ideologie — mutmaßliche Ursachen und/oder zugrundeliegenden Intentionen zu rekurrieren und auf diese dann als Argumente für oder gegen die These hinzuweisen. E. g. er meint, eine Ansicht sei gut und wahr oder falsch und schlecht, weil sie einer, im Sinne des Sozialismus wirkenden oder einer antisozialistischen Tendenz gemäß ist. Am schädlichsten scheint mir dabei die Neigung der Marxisten, Argumente, die ihnen zuwider sind, zu entwerten, indem sie dieselben als Symptome behandeln. Denn dies eben führt zu einem — vom ideologischen Dogma geförderten, gerechtfertigten, geforderten — Eskapismus des Denkens. Es kommt zu keiner echten Konfrontation mehr. Insofern dient also auch der Marxismus — ebenso übrigens die, unter Voraussetzung einer anderen Kausalhypothese, zur Ideologie erhobene Psychoanalyse — der Verdummung der Intellektuellen. Da wir aber in einer Zeit leben, in der der Marxismus eine entscheidende Rolle spielt und spielen muß, — insofern die Dominanz des free enterprise als Mentalität und als Prinzip der Wirtschaft und Politik untragbar geworden ist, — so hat man alle Ursache diese Gefährdung der Intelligenz ernst zu nehmen. Man muß daher u. a. wieder mit dem Anfang anfangen: nämlich mit dem Versuch der Darstellung des manifesten Gedankenzusammenhangs, um zuerst einmal dem nachdenken zu lernen, was im Text steht. Dies ist die Vorbereitung einerseits zur multiplen genetischen Deutung (Symptomatologie, Ätiologie), anderseits zu einer von dieser unabhängigen Auseinandersetzung. Unsere Arbeit hat im Großen und Ganzen hauptsächlich den Zweck, eine Vorbereitung vorzubereiten. Zugleich ist zuzugeben, daß die vorangehenden Argumente die Problematik von Nietzsches antisozialistischer Tendenz nicht erledigen. Und so wenig man auch von Nietzsche auf diesem Wege gewinnen mag: es läßt sich am Ende nicht bestreiten, daß, wenn man unter Sozialismus im Sinne Nietzsches eine radikale Nivellierung (Gleichmacherei) verstehen will, Nietzsches Opposition gegen jegliche These, welche Gleichheit von Menschen, Erfahrungen, Dingen statuiert, als ein konträrer allgemeiner Nenner seiner Gedankenwelt imponiert. Wenn Sozialismus vom Glauben an Gleichheit inspiriert ist (wie Nietzsche will), so ist allerdings Nietzsche von dem entgegengesetzten Glauben an Ungleichheit, ins Positive gewendet: an Werden, an den herakliteischen Fluß inspiriert. Und von dieser Antithese aus läßt sich auch Nietzsches Gedankenwelt als eine, von einem, im weitesten Sinne gefaßten .Antisozialismus' bedingte auffassen, obschon die Polemik gegen den Sozialismus gewiß nicht Nietzsches primäres Anliegen ist. (Vgl. dazu die weiteren Bemerkungen in dem Abschnitt über Nietzsches antirevolutionäre und antirousseauistische Gesinnung (unten Seite 284—287; sowie die Einschränkung auf Seite 289). Eine gründlichere Behandlung des Themas hätte freilich auch auf die Perspektive einzugehen, die sich aus Nietzsches Behauptung ergibt, das sozialistische Ideal sei das „Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt" (78,66; unten, Seite 336).)

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Zum Themenkreis des 25. Aphorismus

2. 2 » Nietzsches

Konzept

der

Vornehmheit

Was gilt Nietzsdie als vornehm? Die Frage der Vornehmheit hat Nietzsche je länger je mehr präokkupiert und unterliegt einer ständig sich steigernden Dialektik. Wie Nietzsche den d£cadent in sich überwinden will, so wohl auch die unvornehme Gesinnung. Und ebenso wie die im Bewußtsein der Krankheit provozierte Sucht nach Gesundheit sich in jener Euphorie der Gesundheit befriedigt, mit der sich sein Zarathustra ankündigt, so auch die — übrigens Nietzsdie zufolge: unvornehme — Sudit nach der Vornehmheit. Denn dieser Sudit verfällt Nietzsche zuletzt bis zur grotesken Affektation aristokratischer Allüren, hält er sich doch als Mensch und Obermensdi und Gott zugleich auch f ü r Vittorio Emmanuele, geboren in dem Palazzo Carignano (Schlechta III, 1351), usw. Und so scheint mir denn, daß, ebenso wie die hektische Utopie der Gesundheit, auch die der Vornehmheit im Spätwerk immer wieder die Tendenz verrät, ins Monströse, Pathologische und BarbarischBestialische umzuschlagen. Man sollte, wie gesagt, sine ira über Nietzsches Auffassung der Vornehmheit schreiben, zumal ja f ü r ihn zuguterletzt nichts anderes mehr Gültigkeit haben konnte als eben Vornehmheit und Gesundheit, d. h. Kriterien der gesteigerten und veredelten Vitalität. Aber wie sah es zuletzt aus, dies Denkbild des leibhaftigen, maximal enthemmten (dionysischen), sich selber ständig transzendierenden (d. h. aufbauenden und zerstörenden) Willens zur Macht, der sich, im Bewußtsein überströmender Fülle selbst (apollinisch) bändigt und bezwingt, um sich sowohl in höchsten schöpferischen Kulturleistungen wie in vollkommener Übung und Entladung triebhafter Energie als gottmenschliche Daseinsform zu erweisen, die sich und dazu noch die versklavten Viel-zu-Vielen rechtfertigt? Ich bekenne ein Widerstreben dagegen, mir Nietzsches Wunschbild vorzustellen. Und darauf könnte ein Nietzscheaner wohl erwidern: ein derartiges Widerstreben sei seinerseits Symptom einer unvornehmen und krankhaften, aus dem Ressentiment der Schwäche gegen die Macht, aus der schlechten Rasse, aus der Dekadenz, aus der nihilistischen Verneinung des sich entfaltenden, aufsteigenden Lebens entwickelten Gesinnung, die im Gegensatz zu der aus Macht und Lebensfülle destillierten Perspektive, speziell auf das Christentum zurückzuführen sei, genauer: auf die Nachwirkung der „Christlichkeit als Schlußfolgerung des Judentums". Was negiert die Herde? „Was enthält das Gegensatz-Ideal? — Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, der Übermut, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis —; das vornehme Ideal wird negiert: Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, der .zukünftige' Mensch" (78,157). Angesichts meiner mangelnden Objektivität rücke ich an dieser Stelle eine Zusammenfassung von Nietzsches Auffassung ein, die mir neutral und vernünftig vor-

II. Nietzsches Konzept der Vornehmheit

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kommt, obschon ihr Verfasser ebenfalls ein Gegner dieser Auffassung war: „Im Lauf der Geschichte — dies ist [Nietzsches] . . grundlegendes Motiv — insbesondere seit dem Christentum, hat die Majorität, die naturgemäß aus den Schwachen, Mittelmäßigen, Unbedeutenden besteht, die äußere und innere Herrschaft über die Minorität der Starken, Vornehmen, Eigenartigen erlangt. Teils als Folge und Ausdruck, teils als Ursache davon sind die ursprünglich moralischen Werte völlig umgewandelt worden. Es war, wie die Sprachgeschichte zeigt, ursprünglich ,gut', zu siegen, zu herrschen, seine Kraft und Vollkommenheit erfolgreich, wenn auch auf Kosten anderer, zu entfalten; der Schlechte war der Unterliegende, der Schwächliche, der Unvornehme. Diesen Wertgegensatz haben die demokratisch-altruistischen Tendenzen, wie sie am klarsten im Christentum herrschen, umgeprägt: gut ist jetzt der Selbstlose, der auf das Sich-Durchsetzen verzichtet, der für andere, für die Schwachen, Armen, Untenstehenden, lebt; ja diese selbst, die Leidenden, Entbehrenden, Zukurzgekommenen, sind die eigentlich .Guten', die Seligen, derer das Himmelreich ist. Und die begreifliche Folge davon ist, daß selbst die Starken, die von Natur Befehlenden, die innerlich und äußerlich Unabhängigen sich nicht mehr natürlich und unbefangen, sondern nur noch mit schlechtem Gewissen ausleben — vor dem sie sich retten, indem sie sich selbst als Ausführer höherer Befehle gebärden, der Autoritäten, des Rechts, der Verfassung oder gar Gottes; so heucheln die, welche herrschen, die Tugend derer, welche dienen. Diese Wendung der sittlichen Interessen nach unten, diese Wandlung der sittlichen Würde: daß sie nicht mehr der Steigerung des Lebens, seiner Fülle, Schönheit, Eigenart zukommt, sondern dem Verzicht zugunsten des Schwächeren, der Hingabe des Höheren an den Tieferen — muß unabwendlich eine Herabstimmung, Vermittelmäßigung des allgemeinen menschlichen Typus zur Folge haben. Das Herdentier Mensch ist dadurch, daß es sich selbst, nämlich die Majorität, die Unterdrückten, die Zurückgebliebenen, zum Sollensinhalt der höheren und höchsten Exemplare gemacht hat, zum Sieger über diese geworden. Während der gesunde Lebensinstinkt auf Wachstum, Häufung von Kräften, Willen zur Macht geht, während nur der Gehorsam gegen diese Antriebe der Gattung ins Höhere entwickeln kann, sind durch die Umbiegung der Ideale nach unten die Instinkte und Kräfte verstümmelt worden, die die Gattung nach oben treiben. Die christlichen, altruistisch-demokratischen Wertbegriffe wollen den Starken zum Diener des Schwachen, den Gesunden zum Diener des Kranken, den Hohen zum Diener des Niederen machen; und in dem Maße, in dem dies gelingt, verkümmern die Führenden auf das Niveau der Masse, und alle scheinbare Sittlichkeit der G ü t e , . . Hingabe, Entsagung bringt eine immer tiefere Heruntersetzung des Typus Mensch und seiner oberen, aufwärts gehenden Werte mit sich. Der Angelpunkt in dieser Gedanken Verkettung ist dies: das Christentum bedeutet die religiöse Weihe des sinkenden, verfallenden Lebens" (Georg Simmel: Schopenhauer und Nietzsche; München, 1923; 144 f.). Übrigens: Nietzsche selbst anerkennt auch in seiner Spätphase durchaus die Kul-

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Zum Themenkreis des 25. Aphorismus

tur fördernde, ja das Leben selbst steigernde Macht jener, seiner Ansicht nach, negierenden, der positiven Vitalität entgegengesetzten Tendenz der allzumenschlichen Menschen. Die Entwicklung des Intellekts selbst, zumal des kritischen Geistes, wäre ja ohne das Ressentiment der Schwädie und des ins Leben sdineidenden, unter dem Zwang der Ohnmacht invertierten Sadismus der Erkenntnis, samt den daraus folgenden und wiederum die Menschen verfeinernden Idealbildungen, — e. g. des Aufklärers, des Wissenschaftlers, des Freigeists, — für Nietzsche nicht denkbar. Und überhaupt ließe sidi audi aus den Gegensatzpaaren Herren- und Herdenmoral, vornehm: unvornehm, antik (griechisch, römisch, heidnisch): christlich (judäisch, protestantisch, demokratisch, sozialistisch) usf. wiederum eine subtile Dialektik entwickeln; und ist auch von Nietzsche entwickelt worden. Zugleich aber hält der spätere Nietzsche an Machtsprüchen und Machtvisionen fest, in denen sich ebendas vollzieht, was er Wagner vorwirft, nämlich Raffinement in Brutalität umschlägt, die Empfehlung der vornehmen Kultur für die herrschenden Wenigen sich zugleich als Glorifizierung ihrer Barbarei nach außen und, — angesichts der bevorstehenden ökumenischen Weltgestaltung, — vor allem: nach unten erweist. Die Vornehmen, „dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sidi beweisen, — sie sind nach außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedung in den Frieden der Gemeinschaft gibt, sie treten in die Unschuld des Raubtier-Gewissens zuriick, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Obermute und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht s e i . . . Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen: es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück: — römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger — in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff .Barbar' auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus ihrer höchsten Kultur verrät sich ein Bewußtsein davon und ein Stolz selbst darauf" (76, 268). Was soll in Anbetracht solcher Hymnen auf den furor teutonicus, — denn daß Nietzsche es durchaus nicht nur auf eine, übrigens kaum zu bestreitende historische Anmerkung, sondern auf die zeitgenössischen Deutschen abgesehen hat, gibt er ebenda zu verstehen (76, 268 f.), — was soll da die absichtliche Dummheit, gutwillige Verlogenheit oder Apologetenblindheit liberaler Nietzsche-Interpreten! Freilich

II. Nietzsches Konzept der Vornehmheit

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gibt Nietzsche zu: die andern, unvornehmen Träger der Reaktions- und Ressentiments-Instinkte seien die Werkzeuge der Kultur gewesen; aber er besteht auch darauf, daß sie nicht die Träger der Kultur waren und sind, da vielmehr diese Nachkommen des Sklaventums, — „aller vorarischen Bevölkerung insonderheit", — „den Rückgang der Menschheit" darstellen (76, 269 f.). Allerdings: die blonde Bestie ist nicht Nietzsches Ziel, obschon er behauptet, es sei ihm die berechtigte Furcht vor dieser Bestie, die er zugleich bewundern darf, hundertmal lieber als der ekelhafte Anblick der Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten, Heillos-Mittelmäßigen, Zahmen, Müden, in denen er das eigentliche Verhängnis Europas sieht (76, 269 ff.). Aber seine „furchtbare und entzückende" Losung bleibt das Vorrecht der Wenigsten und als Wegweiser gilt ihm „Napoleon, diese Synthesis von Unmensch und Übermensch .(76, 281). Das antike Rom unterlag im Kampf gegen Judäa, als das Christentum siegte; führte seinen Gegenschlag in der Renaissance; „aber sofort triumphierte" wiederum Judäa, dank der englischen und deutschen Reformation, und siegte entscheidender noch einmal mit der Französischen Revolution über das klassische Ideal und über „die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten französischen Jahrhunderts" (76, 280 f.). Sollte man aber „das Auflodern des alten Brandes" jetzt nicht „aus allen Kräften" wünschen, wollen, fördern? (76, 282). Darüber, daß man dies soll, läßt Nietzsche jedenfalls hier, in der Genealogie, kaum einen Zweifel, und auch nidit darüber, warum man das soll: nämlich damit Rom siege und Judäa verrecke, und so die HerrenMoral, die vornehme Moral („die isländische Saga ist beinahe deren wichtigste Urkunde"; 77, 45), das vornehme Menschentum noch einmal triumphiere. — Und derlei soll mit Faschismus, mit Nationalsozialismus nichts zu schaffen haben? Soll sich vielmehr mit dem Liberalismus vertragen, da doch „Wir, die wir eines andren Glaubens sind", „die demokratische Bewegung nicht bloß als eine VerkleinerungsForm der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Versklavungsform des Menschen . . . , als seine Vermittelmäßigung und Wert-Erniedrigung" perhorreszieren (76, 115)? Mag wer will und kann diesem Konzept der Vornehmheit Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mir will scheinen, daß die innere Logik von Nietzsches Kritik an der Moral des Ressentiments, die Tatsache, daß der leidenschaftliche Spürsinn und verzehrende Argwohn, der überall Ressentiment als unermüdlich produktive Macht, als eine millionenköpfige, sich immer erneuernde, sidi immer wandelnde Hydra oder Seuche am Werk sieht, — selbst ein Produkt des sich gegen sich selber kehrenden Ressentiments, und also zugleich ein Akt der Gerechtigkeit sei; daß diese Apologie der vornehmen Gesinnung so offensichtlich von einer selbstquälerischen, ungerechten, maßlosen, verantwortungslosen, distanzlosen, vor Schwäche geifernden Rachsucht durchsetzt ist und verzerrt wird, daß sie sich selber richtet. Das heißt nicht, daß ich dieser in unzähligen Einzelheiten, — auch bezüglich der Opfer und der Bedingungen der Kultur, — frappanten Polemik alle Berechti-

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Z u m Themenkreis des 25. Aphorismus

gung absprechen will. Zweifellos besteht das von Nietzsche erkannte Problem der Kultur, der Steigerung des Menschen, der Vornehmheit, wenn man so will, u. a. auch darin, daß die Zivilisierung und Kultivierung nicht durch Repression, Ausrottung, Schwächung der vitalen Antriebe erfolgen soll und auf die Dauer auch nicht erfolgen kann, daß der höhere Mensch nicht der ,Kastrat' ist. Ist es denn unwahr, was Nietzsche über das zeitweilig auftretende Unbehagen in der Kultur und über das Bedürfnis nach Entladung, nach Befreiung von der Last der Versagungen behauptet? Daß beim Einzelnen wie in einer Gemeinschaft Vitalität — und damit Potential der Leidenschaften, Stärke der Triebe und Affekte — kaum denkbar ist ohne die Möglichkeit der .Wildnis'? Nur daß das Bedürfnis nach lösender Regression nicht auf die Vornehmen beschränkt ist und Nietzsche dieses, — allerdings immer zu bedenkende Problem der Bedingungen der Kultur und damit allerdings auch der Vornehmheit, der edlen Vitalität, — nicht befriedigend dadurch löst, wenn er den Angehörigen einer Herrenkaste gewissermaßen empfiehlt, sich durch Vergewaltigungen und Mord an den niedrigeren Rassen und Klassen gelegentlich zu erfrischen. Hat Nietzsche nicht recht, daß es Verblendung oder Hypokrisie wäre, die in jeder je bestehenden oder audi nur erdenklichen — e. g. sozialistischen' — Gesellschaftsordnung notwendige Differenzierung, Graduierung, ,Eliten-Bildung' zugunsten einer totalen Vermassung, Versklavung, Mechanisierung, Nivellierung, eines alle Unterschiede der Leistung, der Qualität, des menschlichen Ranges verleugnenden egalitären Prinzips zu diffamieren? Aber welche Logik zwingt uns, dem Umkehrprinzip Nietzsches beizupflichten, der aus der Ablehnung einer — als Gegensatz postulierten — extrem egalitären Gesinnung die Notwendigkeit einer extrem hierarchischen folgert: eines Klassen- oder Kastensystems, das die Mehrzahl der Menschen zu Sklaven macht, um den Wenigsten die Möglichkeit zu geben — auf der Basis der Distanzgefühle — ihr Potential zu entfalten? Ich verkenne nicht, daß Nietzsche ebenjene Einsicht in die, wie er meint, für die Steigerung des Menschen notwendige Inhumanität als eine traumatische Erfahrung galt, die ihn entsetzte. Ich verkenne auch nicht, daß ihn, der im Zeitalter der bürgerlichen Sekurität lebte, die Mittelmäßigkeit, die Verharmlosung, die Entschärfung der Existenzbedingungen, auch Intellektualisierung, Verzärtelung, Verfeinerung usw. als die größere Gefahr vorkommen durfte; wie ja die von Sade und ,romantischer Agonie' inspirierte dicadence-Bewegung mit ihren Phantasien von ruchlos-schönen Renaissance-Exzessen und sadistischer Vitalität u. a. ein Protest gegen das Philisterium, die Rationalisierung, Industrialisierung, Verfremdung, Mechanisierung, Vermassung usw. war. Man braucht nur etwa Stefan Zweigs elegische Schilderung der ,Welt von Gestern' zu lesen um zu begreifen, wie leicht man damals auf den Gedanken kommen konnte, die Bestie im Menschen sei in Gefahr. Hingegen sind wir, — bin ich — in diesem Punkt allergisch, zumal aufgrund der zum Teil im Namen Nietzsches unternommenen und in dieser Hinsicht erfolgreichen Versuche, der Bestie

II. Nietzsches Konzept der Vornehmheit

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wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Und diese Erfahrungen prädisponieren nun wieder zu einem Vorurteil in der umgekehrten Richtung und madien einen geneigt dazu, bloß abwehrend auf die ,blonde Bestie' zu reagieren. Was sonst sollte unsereinem zur blonden Bestie einfallen als die KZs und eine Mentalität, angesichts derer einem die Antithese von harmlos dummem Herdenvieh und vornehmen Raubtieren sehr willkürlich vorkommt, da man deren Synthese, die bestialisierte Mediokrität, in aller nur wünsdibaren N ä h e erfahren hat?! Die Roßkur, die Nietzsche im Spätwerk versucht war, sich und der Menschheit zu verschreiben, scheint mir so falsch, daß mir der mit dem Hammer (und durchaus nicht nur mit der Stimmgabel) Philosophierende oft nicht weniger peinlich wird als ihm peinlich w a r „die Eingeweide einer mißratenen Seele [zu] riechen" (76, 270). Wenn aber im Zusammenhang dieses Kommentars ein derartiges Bekenntnis überhaupt zu rechtfertigen ist, so nur als Hinweis darauf, daß ebenjener Widerstand und Widerwille, mich daran hindert, den Zusammenhang annähernd darzustellen, der hinsichtlich des Konzepts der Vornehmheit zwischen den gemäßigteren Positionen von M A und den extremen des Spätwerks besteht, die freilich vielfach ,nur' radikalisieren, was schon vorher bei Nietzsche zu finden ist, wodurch sich aber auch wesentliche Unterschiede ergeben. So werden ζ. B. ebenjene Gegensätze, — e. g. vornehm: barbarisch, — aufgehoben oder .transzendiert', auf die Nietzsche in der Phase von MA durchaus Wert legt. Man kann sagen, daß der spätere Nietzsche in seinem Kulturideal nur umfassender wird; daß er das Gesamtpotential des Menschen von seinen primitivsten bis zu seinen sublimiertesten Tendenzen nur befreien und steigern will. Jedoch verliert durch diese Grenzerweiterung das Ideal an Kontur. Die Polaritäten des klassischen Bildungsideals, von denen Nietzsche ausgeht, werden solange mit Energie geladen, bis es zu einer Explosion kommt. Der Übermensch ist Bestie und Gott, überströmend in seiner Güte, ein Monster in seiner Grausamkeit usf. U n d ebenso kann man auch sagen, daß Nietzsche nur das Konzept des Individualismus steigert. Am Ende jedoch, — scheint mir, — ragt der Eine, der,Einzelnste' in seinem gottgleichen Vorrang, das kein inter pares mehr gestattet, ins Leere, von seiner Vornehmheit grenzenlos isoliert.

STUDIE ZUM 26. APHORISMUS

26. Die Reaktion als Fortschritt. — Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und. fortreißende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, daß die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, daß etwas an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luthers Reformation dafür, daß in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja die gesamte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauers Metaphysik, daß auch jetzt der wissenschaftliche Geist nod) nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Sdiopenhauers Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe ni0

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Schopenhauer ist, wie Nietzsche durch ein Zitat belegen will, Kant dankbar für die „qualitas occulta" des kategorischen Imperativs, dafür „daß es ein Unbegreifliches gibt, daß dieser Jammer des Verstandes und seiner Begriffe begrenzt, bedingt, endlich, trüglich ist" (73, 129). Vgl. dazu im Spätwerk etwa 78, 260. Vgl. dazu Μ A I, 169 und Nietzsches Auffassung der neueren Musik als Gegenrenaissance in ΜA 1,174, sowie zur Einschätzung des „Ubergewichts der Musik in den Romantikern von 1830 und 1840" beim späten Nietzsche: 78, 78, 566. „Unsre ganze Musik" wird hier als dέcadence aufgefaßt und zwar als „Reaktions-Bewegung gegen die Klassizität", gipfelnd in der Romantik. Die nach Nietzsches Auffassung reaktionären Aspekte Schopenhauers werden auch durch die lapidare Aufzählung der Nachwirkungen seiner Lehre betont (Vgl. zu dem Folgenden: IV 3, J81 f.; IV 4, 467): Die Lehre gerät in die Hände der „Ultramontanen"; sie führt dazu, daß „reinlichste Wissenschaft mit Spiritismus beschmutzt" wird, leistet „Geistergeschichten" und „Wundergläubigen wie F Wcagner>" Vorschub [Vgl. dazu etwa auch Schopenhauers Versuch über Geistersehn, op. cit., IV, 273 ff.], sowie überhaupt einer Philosophie des Unbewußten, die „alles Begriffene ins Unbegreifliche" umprägt. Sie bestärkt den Kult des Genies und der Inspiration bei Wagner, so daß alles Erkannte — im Namen der Intuition und des Instinkts — abgelehnt wird; führt zu Ausbeutung des .Willens'", zur Beschwörung seiner „unbezwinglidien" Gewalt, e. g. zu einer Glorifizierung der Leidenschaften, zumal als „Effektmittel" der Dichter. Sie fördert den auf der Bühne zum Dogma erhobenen Irrtum, „daß Mitleid den Intellekt vertrete", verleitet dazu, „die Wissenschaft über die Achsel" anzusehen und in der Wissenschaft selbst der Metaphysik Raum zu geben. So konnte in „Gwinner's Biographie" „Schopenhauer als Vorhalle zum Christenthum" gelten und ein „allgemeines Frommwerden" mit-bewirken, wobei allerdings die „allgemeine Verehrung Schopenhauers nur „am Vergänglichen seiner Lehre" anknüpfte und sie entstellte. Vgl. dazu den 99. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft über „Die Anhänger Schopenhauers" (74, 113 ff.), e.g.: „Schopenhauerisch ist der Versuch Wagners, das Christentum als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger Annäherung an katholischchristliche Formeln und Empfindungen, ein buddhistisches Zeitalter vorzubereiten" (74, 116). Ferner auch 74, 264 f. — Daß übrigens Nietzsche bei seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauer in ΜΑ I ebenfalls an dessen Nachwirkung denkt, geht u. a. daraus hervor, daß eine Variante zum 26. Aphorismus ausdrücklich den zeitgenössischen Modephilosophen Hartmann erwähnt: „Audi in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauers Metaphysik [(und nach ihm Hartmann's Gespensterspuk am lichten Berliner Tage)], daß auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist" (39 f.; IV 4,173). Vgl. auch den Hinweis auf Mainländers Interpretation der Sdiopenhauerschen Philosophie als Religionsersatz (IV 4, 173) und ΜA II, 15.

IV. Schopenhauer

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Jedoch gilt auch f ü r Nietzsches Versuch der Überwindung Schopenhauers, daß dieser sich durch eine bloße Anführung der Kontrapositionen, audi wenn sie gründlicher und vollständiger wäre, ebensowenig charakterisieren ließe, wie Nietzsches Auseinandersetzung mit den Gegenaufklärern überhaupt. Gewiß, Nietzsche meint, der romantisch-restaurative Kult des Gefühls und des anti-rationalen Glaubens sei abgetan, — ein Irrtum von 1880, über den man sich, wie Thomas Mann nach etwa 50 Jahren, audi heute und morgen wieder wird wundern können. Er sagt: „Atmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen!" Aber entscheidend ist, was nun, in dem uns leitenden Aphorismus der Morgenröte folgt, nämlich die Beschreibung einer Verwandlung der .reaktiven' Bestrebungen in ihr Gegenteil: „ . . . gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer der Absicht ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden, — die Historie, das Verständnis des Urspruögs und der Entwicklung, die Mitempfindung f ü r das Vergangne, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntnis, nachdem sie alle eine Zeitlang hilfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen — unbekümmert darum, daß es eine .große Revolution* und wiederum eine ,große Reaktion' gegen dieselbe gegeben hat, ja daß es beides noch gibt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft großen Flut, in welcher wir treiben und treiben wollen!" (73,166 f.). Damit sind wir wieder bei unserem Hauptthema der ,Reaktion als Fortschritt', zu dem, wie Thomas Mann meint, im Sinne Nietzsches nicht nur die Umfunktionierung der .reaktionären' protestantischen Reformation, sondern auch die des Christentums überhaupt gehört, das als Gegenschlag zur antiken Kultur f ü r Nietzsche einen Rüdkfall, ja eine reakionäre Katastrophe bedeutete, zugleich aber, — wie fast jede decadence-Be wegung — einen Gewinn oder doch die Chance eines Gewinns f ü r Vergeistigung, Vertiefung, Verfeinerung, Erweiterung der menschlichen Psyche, wenn nur die Überwindung, — mit dem späten Nietzsche zu reden: die Nutzbarmachung der Krankheit f ü r die höhere Gesundheit gelingt. U n d zweifellos meint Nietzsche in der Phase von M A und Morgenröte auch was Mann meint, wenn er von der vorbildlichen „Besonnenheit" spricht, mit der Nietzsche die Vorteile zu erwägen gibt, die wir aus dem Wirken solcher Geister ziehen mögen, welche wie Schopenhauer „die aufklärerische Betrachtungsart aus genial-rückschlägigem Erleben korrigiert" haben 92 ; und eine neue aufklärerische Gesinnung empfiehlt, deren „revolutionärer Wille" nicht mehr, wie die ältere Aufklärung, sich dem Arationalen und Irrationalen verschließt, sondern von „Mächten des Seelenuntersten, der Leidenschaftsdynamik, dem » ! Mann, op. cit., 369.

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Studie z u m 26. Aphorismus

Unbewußten", „dem Chthonisdien, der Nacht, dem Tode, dem Dämonischen", vom Archaisch-Primitiven und Sakralen, von „heiliger Vergangenheit und Todesfruchtbarkeit" weiß (op. cit., 371) und durch sie hindurchgegangen ist, wenn auch „diese dunkle Welt" den neuen Aufklärerwillen „nicht um ihrer selbst willen lockt,.. er sie nicht um scheinfrommer, sdieinreligiöser Erhaltung willen, kurz aus reaktionärem Instinkt zu seiner Sache macht, sondern als ein Erkennender und ein Befreier in ihre mit Greueln und Schätzen gefüllten Verliese dringt" (op. cit., 374). Das soll im Kontext von Manns Essay an Freuds Devise — Wo Es war, soll Ich sein — gemahnen. Und gewiß läßt sich Thomas Manns antifaschistischer NeoHumanismus, der von Tiefe, Tod, Vergangenheit weiß, zum Teil, — wenn auch nicht gerade hinsichtlich seiner sozial-demokratischen Tendenz, — aus Nietzsches Aufklärertum, aus der nicht zufällig hier zitierten Gesinnung des Freigeists von MA und Morgenröte ableiten. Zugleich widerstrebt aber auch der intellektuelle Radikalismus Nietzsches der Grundgesinnung von Thomas Mann, nämlich dessen intellektueller Konzilianz und der kulturpolitisch-engagierten Rhetorik des Vermittlers zwischen .Irrationalismus' und ,Aufklärung'. Zweifellos hat, gemäß der Aussage des Freigeists von MA, die Schopenhauersche Philosophie, kraft ihrer rückläufigen Bewegung, eine metaphysisch-religiöse Erfahrungswelt zugänglich gemacht, die ohne sie, infolge der Schwächung des eigentlichen traditionellen Christentums nicht mehr zugänglich gewesen wäre. Und analoge Erwägungen gelten auch für andere Bestrebungen der Gegenaufklärung. Zugleich verhilft aber die Reaktion selbst dazu, jene Annäherungsweisen an das archaische Alte zu entwickeln, die in der Folge zu seiner Überwindung dienen. Man muß sich daher auch Rechenschaft darüber geben, inwiefern innerhalb eines Phänomens, das sich zunächst als Reaktion darstellt, schon Ansätze und Kräfte des Fortschritts im Sinn der Aufklärung wirken. Deutlich stellt sich dieser Prozeß dar in dem, um der Adoration des Vergangenen willen geförderten, pietätvoll-historischen, antiquarisch-konservativen Sinn, der, um das Gemüt mit Ehrfurcht und Frömmigkeit zu erfüllen, einem Kult der Ahnen sich widmet und so die Entwicklung nach rückwärts in das Dunkel des Ursprungs verfolgt. Denn ebendieser Sinn verwandelt sich unversehens in ein kritisches Verständnis, in die desillusionierende genetisch-historische Methode, bis schließlich einer Sache historisch gerecht werden heißt: ihren Werdegang erkennend durchschauen. Da aber Schopenhauer, obschon Nietzsche seine Auffassung der Genialität auch mit der Bewußtmachung der Vergangenheit in Zusammenhang bringt93, dem romantischen Historisieren keinen bewußten Vorschub leistet, vielmehr die „Mitempfindung für 83

„Wenn Genialität, nach Schopenhauers Beobachtung, in der zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntnis des gesamten historischen G e w o r d e n s e i n s . . . ein Streben nach Genialität der Menschheit im Ganzen erkennen zu sein. Die vollendet gedachte Historie wäre kosmisches Selbstbewußtsein" (ΜΑ II, 92).

IV. Schopenhauer

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das Vergangne" (73, 166) in einem ganz andern Sinne exemplifiziert, nämlich dadurch, daß in seiner Lehre Manches, was schon als vergangen galt, eine Wiederauferstehung erfährt und einen neuen Anspruch stellen will, so fragt sich noch, wie man sich einen analogen Prozeß in Hinblick auf Schopenhauer vorzustellen hätte. Der 26. Aphorismus besagt, daß Schopenhauer das Christentum und seine asiatischen Verwandten (e. g. den Buddhismus) durch seine Lehre noch einmal zugänglich gemacht hat, in die aber viel Wissenschaft hineinklingt (40). Ist damit nicht zugleich angedeutet, daß Schopenhauers Standpunkt außerhalb des Christentums liegt und den Betrachter einer Befangenheit enthebt, die auch und gerade durch ein mattes Gewohnheits-Christentum noch gegeben wäre? Mit Schopenhauer stehen wir dem Christentum gegenüber. Und auch bevor er sich von Schopenhauer lossagt, gilt für Nietzsche: „uns leitet kein Vorurtheil zu Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehen es noch", und ebendarum ist „jetzt.. die beste Zeit es zu erkennen" (/V 1, 120). Mit Recht hat Mann die zwei Nietzsche-Aphorismen zum Thema ,Reaktion als Fortschritt' in einem Essay über Freud zitiert. Der Prozeß der Bewußtmachung des Unbewußten, der hier geschildert wird, ist dem, den die psychoanalytische Therapie dem Patienten zumutet, analog. Noch einmal sollen wir — aber mit offenen Augen, mit wachsendem Bewußtsein innerer Distanz — das archaische Syndrom, — nämlich: das Christentum, — durchexerzieren, nachempfinden, nacherleben, um uns dadurch von ihm zu befreien und zwar gründlicher als je zuvor, e. g. mit geschärftem Sinn dafür, was etwa auch an der älteren Aufklärung (ihrem Deismus, ihrer Moral) noch christliches religiöses Relikt war. Anders gesagt: Ebenjene Übersetzung des Archaischen mit Hilfe der Wissenschaftlichkeit, d. h. mit Hilfe einer versachlichenden Betrachtungsweise, die es unserem Verständnis überhaupt erst zugänglich macht, ermöglicht uns und zwingt uns endlich, das archaische Relikt in uns selbst anzuerkennen, zu überwinden,,aufzuheben'. Die auf die metaphysisch-religiöse Gesinnung um ihrer Rettung willen angewandte Wissenschaftlichkeit wendet sich endlich gegen ihr Objekt94. Ein analoger Prozeß wäre für die Schopenhauersche Auffassung der Moral zu statuieren, in die ebenfalls ,viel Wissenschaft', — d. h. im Sinne Nietzsches: der Wissenschaft gemäße, rational-empirische Besinnung hineinklingt. Diese besteht in Schopenhauers entschiedenem Determinismus, seiner dem Rationalismus gemäßen Anerkennung der „Willens-Unfreiheit und -Unverantwortlichkeit" des Menschen in seinem Handeln und seinem In-der-Welt-sein, ist doch, nach Schopenhauer, „die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der menschlichen Handlungen . . . die Grenzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den andern scheidet" (ΜΑ II, 27; vgl. ΜA I, 55 ff.). Die wissenschaftliche Gesinnung Schopenhauers bekundet sich aber auch gewissermaßen nach der Seite der Empirie, der Lebenserfahrung hin, — in seinem 64

Allerdings ist damit nur ein Aspekt des Auflösungsprozesses bezeichnet.

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Studie zum 26. Aphorismus

„harten Tatsachen-Sinn", seinem „guten Willen zur Helligkeit und Vernunft" (74, 113), seiner Redlichkeit, die der verlogenen idealistischen Verschleierung und optimistischen Verleugnung des Übels und des Bösen feind, sich ohne Illusionen Rechenschaft von der Welt geben will. Wiederum sei hier an eine ähnliche Auffassung aus dem Jugendwerk Nietzsches erinnert, wo die späte, desillusionierte, .faustische' Phase der sokratisdien Wissenschaft beschrieben wird, die sich konsequent nun audi gegen sich selber, — nämlich gegen den Meliorismus eines naiven Sokratismus, kehrt, um einem dionysischen Pessimismus Raum zu schaffen' 5 . U n d audi eine analoge Auffassung des späten Nietzsche wurde schon zitiert, der seiner Epoche überhaupt ebenjene Betrachtungsweise zugutehält, mag sie auch, da sie desillusionierend wirkt, zunächst noch jene „Verdüsterung" und „pessimistische Färbung" annehmen, die „notwendig im Gefolge der Aufklärung" kommt (78, 65). Im „Willen zur Macht" meint Nietzsche: „es gibt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal [i. e. in der Zukunft] seine unbedingte Natürlichkeit, d. h. seine Unmoralität einzugestehen, ohne Erbitterung·, im Gegenteil, stark genug dazu, diesen Anblick allein nodi auszuhalten". Und damit ist nun selbstverständlich nicht gemeint, daß der Mensch sich der ,guten' „ , N a t u r ' . . von der bei Rousseau [die Rede ist] angenähert" habe, sondern daß er dem amoralischen Geschmack des späten 17. Jahrhunderts näher kommt (78, 88) und daß er vielleicht irgendwann seine wahre ,Natur', zu der er nie am Anfang, sondern immer nur „nach langem Kampfe" kommen kann, erreichen wird, indem er endlich wagt, „unmoralisch zu sein wie die N a t u r " (78, 87). Aber stellt f ü r Nietzsche, und zwar schon in der Phase von MA, nicht auch Schopenhauers Lehre, insofern sie nämlich hinsichtlich der uns einzig gegebenen Welt die Allmacht eines ,bösen', blinden Triebes (i. e. des Willens) verkündet, einen wesentlichen Schritt auf dem Wege zur Anerkennung der durchgehenden animalischen Bedingtheit des Menschen, mithin zur Überwindung der moralischen Menschen- und Weltauffassung sowie der zuletzt auf den moralischen Wertungen beruhenden metaphysisch-religiösen Fehlinterpretation dar"? Eine Notiz vom Sommer 1878 lautet: „Das creatürliche Leben, das wild genießt, an sich reißt, an seinem Übermaße satt wird und nach Verwandlung begehrt — gleich bei Schopenhauer und Wagner. „ [Der gegenwärtigen] Zeit entsprechend bei Beiden: keine Lüge und Convention, keine Sitte und Sittlichkeit mehr thatsächlich — ungeheures Eingeständnis, daß der 85 M

Siehe GdT und Vorwort, Seite XIV. Daß der Glaube an eine andere bessere, höhere Welt (der Götter, des Jenseits, des Ansich, usw.) auf dem Moralismus beruht, deutet schon der erste Aphorismus des 1. Hauptstüdes an, in dem davon die Rede ist, daß man die Entstehung scheinbarer Gegensätze auseinander leugnete, da man „für die höher gewerteten Dinge einen Wunder-Ursprung" annahm (15).

IV. Schopenhauer

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wildeste Egoismus da ist — Ehrlichkeit — Berauschung, nicht Milderung' (IV 3, 407). — Eine andere Notiz: „Schopenhauer verherrlicht im Grunde doch den Willen (das Allmächtige, dem alles dient)" (IV 3, 404). Aber damit tritt etwas anderes zutage als bloße Wissenschaftlichkeit, nämlich jene dionysische Gesinnung, die schon in der GdT dem .buddhistisch' verneinenden Pessimismus opponiert, die beim späten Nietzsche als Bejahung der Vitalität, der moralinfreien virtü, des Willens zur Macht, einer jenseits von Gut und Böse zu erringenden Unschuld des Menschen im Umgang mit seiner ,Natur' wird, bzw., — um in den Grenzen von Μ Α zu bleiben: — die Bejahung des ,Egoismus', den der Freigeist von MA sich nicht nur eingestehen und als das Grundelement (Apho 1) anerkennen, sondern rechtfertigen will, obschon er dessen ,wildesten' Manifestationen noch keineswegs jene Sympathie bekundet, die der spätere Nietzsdie hervorkehrt. Was folgt aber daraus f ü r Nietzsches Einschätzung Schopenhauers? Die Auskunft, daß Nietzsdie sich selbst widerspricht, ist zu bequem, da er Schopenhauer, — wie sich selbst, — als Dividuum behandelt, die Widersprüchlichkeit und Gegenwendigkeit mithin Schopenhauer zuspricht. So gäbe es also einen reaktionären' — halb christlichen, halb deutschen, der Moral und Metaphysik verhafteten Schopenhauer und den anderen — den Voltairianer und Europäer, den freien .Moralisten' und Atheisten? Aber audi das ist, zumindest in Anbetracht der Schopenhauer-Interpretation des späten Nietzsche eine Vereinfachung und Vergröberung. Denn der späte Nietzsche meint offenbar, — analog der Auffassung des faustischen Sokratismus in der GdT, — daß ebenjene Tendenz, die in ihrer quasi naiveren, archaischeren Gestalt jetzt als ,Reaktion' wirkt, gewissermaßen aus sich heraus, als konsequente Radikalisierung ihrer selbst eine Steigerungsform entwickelt, in der sie sich gegen sich selber kehrt, womit sie zugleich schon einer anderen, positiven Kraft dient; obschon im Großen und Ganzen, oder im Endeffekt, bei Schopenhauer die reaktionäre Tendenz als solche noch einmal die Oberhand gewinnt und so die beiden andern Mächte noch einigermaßen in ihren Bann zwingt. Schopenhauer stellt in der Auffassung des späten Nietzsche nur eine unvollständige Wendung dar, er bringt es gewissermaßen nur bis zur Hälfte oder zu drei Viertel jener .Schleife', die zunächst Rückbewegung zum Alten, doch schon dazu bestimmt ist, dieses,aufzuheben' und der neuen Gesinnung zu dienen, um zur Gänze von dem siegreichen Nachfolger, Fortsetzer, Uberwinder Schopenhauers, nämlich von Nietzsche durchgeführt zu werden. U n d doch hat auch Schopenhauer an dem Wesen und Geheimnis der Wende teil, Ende und Anfang zugleich zu sein. Anders gesagt: Nietzsche will Wirbel und Wendep u n k t sein und die Vorwärts-Bewegung in und nach der Wende darstellen. Schopenhauer aber faßt er als Vorläufer auf, der zwar den Ansatz zu der richtigen Bewegung, — zum reculer pour mieux sauter, — findet, dem aber der Sprung nicht gelingt. Wir sprachen von drei Mächten oder drei Tendenzen, die sich in Nietzsches Schopenhauer unterscheiden lassen: J. Die manifest reaktionäre Tendenz ist die

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Studie zum 26. Aphorismus

moralische und die metaphysische Gesinnung (letztere als direkter Nachschößling der religiösen Mentalität), mit der Schopenhauer — wie Rousseau — der christlichen Bewegung angehört. 2. Aus dieser hat sich aber als Konsequenz und Antithese, als Steigerungsform und Gegensatz die — von dem radikalen Willen zur illusionslosen Erkenntnis beherrschte — wissenschaftliche Gesinnung entwickelt, zu der sowohl eine streng deterministische Auffassung wie auch die intellektuelle Redlichkeit, die Tugend der radikalen Wahrhaftigkeit gehört. N u n ist allerdings richtig, daß diese Gesinnung dem Ideal des Freigeists von M A entspricht, wohingegen der späte Nietzsche zwar diese Tugend voraussetzt, sie aber zugleich als Asketismus der Erkenntnis, — als letztes, nihilistisches dέcadence-Produkt der christlichen Bewegung, die endlich ihren essentiellen Nihilismus gegen sich selber kehrt, — überwunden haben will. Jedoch ist, trotz dieses sehr wichtigen Unterschieds, festzuhalten, daß Nietzsche auch in der Phase von MA schon die Ableitung des Erkenntnisideals aus der diristlichen Gesinnung anerkennt, gilt ihm doch „der Sinn für Wahrheit", obschon er das irrtümliche („unlogische") Fundament der Moral aufdeckt, und zumal die christliche, alles menschliche Handeln verleumdende und vergiftende Vorstellung der Sündhaftigkeit aufhebt, selber als „eine der höchsten und mächtigsten Effloreszenzen dieses moralischen Sinnes" (IV 2, 555). 3. Die dritte Macht aber, die, nach der Auffassung des späten Nietzsche, den beiden andern, das Leben — sei es im Namen der Moral und des metaphysischen oder religiösen Jenseits, oder aber im Namen der Wissenschaft und der reinen Erkenntnis — negierenden Mächten entgegentritt, ist die der vitalen amoralischen Bejahung, die den Willen vergöttlicht (78, 660). Und von dieser Macht ist ja offenbar audi schon in der Phase von MA die Rede, wenn Nietzsche in Umkehr von Schopenhauers eigener Lehre feststellen will, daß Schopenhauer im Grunde doch den wildesten Egoismus und den Willen überhaupt verherrliche97, obschon diese Bemerkung zur Zeit von MA noch nicht als ein Bekenntnis Nietzsches zum amoralischen Vitalismus aufgefaßt werden muß, sondern im Sinn einer Kritik verstanden werden mag; ersehnt doch der Freigeist, der unter der Dominanz des Erkenntnisideals steht, selbst noch die Ataraxie und hält die — durch Christentum, La Rouchefoucauld, die Moral überhaupt — betriebene Verdächtigung der Motive menschlichen Handelns mitunter f ü r ein nützliches Mittel dazu, den Menschen nicht nur besser zu machen98, sondern ebendadurch auch seine Befreiung „von dem allzuheftigen Wollen" zu fördern (IV 2, 415). Insofern aber Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer zur Zeit von MA schwieriger zu fixieren ist, als im Spätwerk, mag es sich empfehlen, zunächst das Endstadium seiner Schopenhauer-Interpretation zu Rate zu ziehen, und erst dann die f ü r MA notwendigen Korrekturen oder Einschränkungen in Erinnerung zu bringen. Er glaube nicht, meint Nietzsche in dem späten, fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, daß Schopenhauer „mit seinem Pessimismus, das heißt mit dem Pro97

Siehe oben, Seite 332 f. »» Vgl. IV 2, 514 (23· [41]), 560 (23 [161]), 561 (23 [167]).

IV. Schopenhauer

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blem vom Wert des Daseins, gerade ein Deutscher gewesen sein müßte". „Der Sieg des wissenschaftlichen Atheismus" sei vielmehr „ein gesamteuropäisches Ereignis". „Schopenhauer war als Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben 8 0 ... Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, Greifliches, Undiskutierbares; er verlor jedesmal seine Philosophenbesonnenheit und geriet in Entrüstung, wenn er jemanden hier zögern und Umschweife machen sah. An dieser Stelle liegt seine ganze ReditschafFenheit: der unbedingte redliche Atheismus ist eben die Voraussetzung seiner Problemstellung, als ein endlich und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens, als der folgenreichste Akt einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlüsse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet... Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis100. Die Natur ansehen, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit, — mit dieser Strenge, wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung. Indem wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stoßen und ihren ,Sinnc wie eine Falschmünzerei verurteilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die Schopenhauerische Frage zu uns: Hat denn das Dasein überhaupt einen Sinnf — jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle ihre Tiefen hinein gehört zu werden. Was Schopenhauer selbst auf diese Frage geantwortet hat, war — man vergebe es mir — etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moralperspektiven, welchen mit dem Glauben an Gott der Glaube gekündigt war... Aber er hat die Frage gestellt -- als ein guter Europäer, wie gesagt, und nicht als Deutscher" (74, 262—264). Gemäß der Selbstinterpretation des späten Nietzsche soll nun diese Auffassung Schopenhauers auch für die Phase von MA gelten: „Gegen 1876 hatte ich den Schrekken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinaus wollte [nämlich u. a. auf ,christliche' Lebensverneinung, auf Absage an das moralinfreie, siegfriedhafte Vitalitätsideal; vgl. 82, 397 f . ] . . Um 90

100

„ . . seine Feindschaft gegen Hegel [der gewissermaßen den Versuch dazu machte, noch eine historische Theodizee zu entwerfen] hatte hier ihren Hintergrund" (74, 263). Vgl. Genealogie (76, 408—410).

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Studie zum 26. Aphorismus

dieselbe Zeit schien ich mir w i e . . eingekerkert in meine Philologie und Lebenstätigkeit [einen „Notbehelf meines Lebens", einen die beste eigene Kraft verneinenden, zufälligen B e r u f ] . . . Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte, als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furditbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten: — dafür hatte idi die Formel,dionysisch' in den Händen. Daß ein ,Αη-sich der Dinge' notwendig gut, selig, wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation des ,Αη-sichs' als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand er nicht, diesen Willen zu vergöttlichen: er blieb im moralischchristlichen Ideal hängen. Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft der christlichen Werte, daß er, nachdem ihm das Ding an sich nicht mehr .Gott' war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich sehen mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens, selbst des Gott-sein-könnens geben kann" (78, 660). Zwar: die hier angestrebte Vergöttlichung mag nun wiederum Goethes Vergöttlichung der Natur analog sein, die in dem oben zitierten Aphorismus der Morgenröte101 verworfen wird. Und es wäre zumindest denkbar, daß der späte Nietzsche einem — allerdings amoralischen — Pantheismus zustrebt, obschon zumindest für die, von ihm am nadihaltigsten betonte Perspektive gilt, daß .Göttlichkeit' nicht einfadi dem hypothetisdien Wesen der Dinge, nicht der ,Natur' und keiner Fiktion des An-sich zugesprochen werden soll, sondern dem zu züchtenden und also im Menschen oder vielmehr im Ubermensdien zur Wirkung gelangenden, höchsten Willen zur Madit, der selbstherrlich und schöpferisch die Selbstvergöttlichung und Vergöttlichung des Seienden zuwegebringt. Was immer aber auch für die Auslegung der Heilslehre des späten Nietzsche gelten mag, die Einschätzung der .progressiven' und der .reaktionären' Aspekte von Schopenhauers Lehre bleibt dieselbe. „Statt des .Naturmenschen' Rousseaus hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom,Menschen' entdeckt — es hat dazu den Mut g e h a b t . . . Im ganzen ist damit dem christlichen Begriff .Mensch' eine Wiederherstellung zuteil geworden [da das wahrere Bild zunächst die Auffassung der menschlichen Sündhaftigkeit, der gefallenen Natur bestätigte]. Wozu man nicht den Mut gehabt, das ist, gerade diesen .Mensdi an sich' gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantiert zu sehen. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachstums der Kultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidentum, insgleichen gegen den Renaissance-Begriff der virtü. So hat man den Schlüssel nicht zur Kultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des .guten Menschen' (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim sozialistischen Ideal (d. h. dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt). 101

Siehe oben, Seite 322, 326.

IV. Schopenhauer

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Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung durch Goethe und Napoleon. Auch Sdiopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert [rekurriert dabei aber nicht auf dessen amoralisch-aristokratische Tradition sondern auf dessen christliche Komponente], — er ist ein moderner Pascal, mit Pascalschen Werturteilen ohne Christentum. Schopenhauer war [im Gegensatz zu Goethe und Napoleon] nicht stark genug zu einem neuen Ja" (78, 666). Schopenhauer war nicht stark genug. Zugleich ist aber seine Lehre — wie der romantische Pessimismus überhaupt — bezeichnend f ü r den Zustand, in dem allein eine Umwertung der Werte möglich wird als „ein mutiges Bewußt-werden und Ja-sagen zu Dem, was erreicht ist, — ein Losmachen von dem Schlendrian alter Wertschätzungen, die uns entwürdigen im besten und stärksten, was wir erreicht haben". Denn damit Umwertung möglich wird, „müssen die spontanen Bewegungen alle da sein, die neuen, zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht bewußt geworden" Anders gesagt: „Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht alles schon bereit liegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwertung von Werten wird nur erreicht, wenn eine Spannung von Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen, da ist, welche an den alten Werten leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen" (78, 661). Damit ist der Punkt bezeichnet, an dem der späte Nietzsche Schopenhauer fortsetzen und zugleich überwinden will. Zugleich meint Nietzsche aber auch, daß er es in der Tiefe erlebter Verneinung — in der Erfahrung des Abgrunds, des letzten Neinsagens — und damit in der Intensivierung der Gegensätze weiter gebracht hätte als Schopenhauer, daß Schopenhauer „zwar viel guten Willen zum Pessimismus gehabt hat, aber auch einen viel besseren Widerwillen: den [i. e. den amoralisch bejahenden Willen zum .Willen'] hat er nicht genug zu Worte kommen lassen, dank jenem dummen Genie-Aberglauben, den er von den Romantikern 101 gelernt hatte und dank seiner Eitelkeit, welche ihn zwang, auf einer Philosophie sitzen zu bleiben, die aus seinem 26. Lebensjahre stammte und auch zu diesem Lebensalter gehört — wie wir alle recht aus dem Grunde wissen, nicht wahr, meine Freunde?" (82, 396)10». Die obigen Belege zu Nietzsches später Schopenhauer-Interpretation wurden hier so ausgiebig zitiert, um die Grundstruktur zu verdeutlichen, auf die sich die meisten Äußerungen Nietzsches über Schopenhauer beziehen lassen. Wenn Nietzsche ζ. B. Schopenhauer einerseits auf Inder und Romantik, anderseits auf Voltaire zurückführt (78, 66), so bedeutet dies zugleich, daß er ihm einen Fehler vorrechnet, da der vertiefte Pessimismus (78, 324), wie Nietzsche ihn versteht, vielmehr Voltairsche Skepsis — den Geist der Aufklärung — mit Klassik und Renaissance 102 103

Der Terminus wird hier wiederum im engeren Sinn verwendet. Daß Schopenhauer sich, nath Ansicht des späten Nietzsche, gerade seiner Stärken schämt, geht audi aus 78, 197 hervor.

Studie zum 26. Aphorismus

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kombinieren soll. Und auch die manifesten Widersprüche lassen sich nun auflösen: Wir haben gehört, daß Schopenhauers Willensphilosophie den dummen Teufel zum Gott der Welt zu machen scheint104. Aber lobt Nietzsche nicht dieselbe Willensphilosophie, wenn er etwa 1875 notiert: „Die Dummheit des Willens ist der größte Gedanke Schopenhauers, wenn man Gedanken nach der Macht beurtheilt" (IV 1, 122)? Diese Bemerkungen sind aber miteinander vereinbar. Denn Nietzsche lehnt zwar die Vermoralisierung der Natur, als sei sie Ausdruck des zu verneinenden ,Bösen', ab; er anerkennt aber Schopenhauer, insofern dieser die Welt durchaus nicht als Schöpfung eines guten, weisen Gottes gelten läßt. Denn: „Etwas Dummes wird niemand Gott nennen" (IV 1, 122). So mag es von Nutzen sein, anzudeuten, inwiefern sich Nietzsches Bemerkungen über Schopenhauer in der Phase von MA und Morgenröte dem angegebenen Schema fügen; oder — was auf das Gleiche hinausläuft, — inwiefern Nietzsche auch in dieser Phase versucht, den, seiner Ansicht nach von Schopenhauer repräsentierten, konträren Tendenzen — nämlich der .reaktionären* Tendenz, der wissenschaftlich-wahrhaftigen, kritischen Tendenz und der ,vitalistischen' Tendenz — Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dabei versteht sich, daß der Freigeist eben noch nicht der Bejahende (i. e. der ,Vitalist') im Sinne des späten Nietzsche ist, daß mithin der Hauptakzent auf die im Namen der Erkenntnis geübte Entmythologisierung, auf die Befreiung Schopenhauerscher Einsichten vom Primat der moralisch-metaphysischen Vorurteile fallen muß. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür in MA ist, wie schon angedeutet, die Auseinandersetzung mit Schopenhauers Auffassung von der moralischen Verantwortlichkeit. Der Determinist in Schopenhauer lehnt, wie wir wissen, für die Sphäre des operari den „Irrtum von der Freiheit des Willens" ab und müßte somit auch den auf ihm beruhenden „Irrtum von der Verantwortlichkeit" ablehnen. Jedoch, weil „gewisse Handlungen Unmut", i. e. ein vielleicht durchaus unvernünftiges „Schuldbewußtsein" „nach sich ziehen", meint er, — als der im Bann der Moral befangene Metaphysiker, — schließen zu dürfen, es müsse doch „eine Verantwortlichkeit geben" und erfindet jene Fabel von der intelligiblen Freiheit, wonach zwar alles Handeln mit Notwendigkeit verläuft, der Mensch also keine Freiheit hat, „so oder so zu handeln", er jedoch im metaphysischen, jenseits der Sphäre der strengen Kausalität situierten „esse", welches „die Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit" ist, die Freiheit hat oder gehabt hat, „so oder so zu sein". Obschon es also Schopenhauer sonnenklar sein müßte, daß „niemand für seine Taten, niemand für sein Wesen [verantwortlich]" ist, scheut selbst er, der dieser Einsicht so nahe kommt, vor ihr zurück, indem er die unfreien Taten vom angeblich freien Wesen trennt; — und zwar, weil auch er sich „vor den Folgen" dieser Einsicht fürchtet, weil er noch nicht den Mut zur Uberwindung der Moral hat (ΜΑ I, 54—56 ( ). Und ebendarum muß man, — um auch 104

ΜΑ II, 15; oben, Seite 326.

IV. Schopenhauer

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dies hier zu wiederholen, — Schopenhauer erst „das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik . . . abziehen, um ein wirkliches Moralisten-Genie darunter zu entdecken" (ΜA II, 27), nämlich ebenjenen deterministisch gesinnten Beobachter, dem „viel wirkliche Welt und Teufelei der Welt sichtbar geworden" war, und dem (womit nun audi schon der Vitalismus des späten Nietzsche antizipiert wird) auch der Sinn f ü r die „Schönheit" dieser Teufelei nicht abging, so daß er von ihr „ebenso grob als begeistert" sprechen konnte (73, 158). Wie nahe kam Schopenhauer doch schon dem „Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral" (ΜΑ II, 27), wie nahe der Entdeckung, daß die Moral eine „Notlüge" ist (ΜΑ I, 57). Und doch widerspricht er sich selbst, dank jenem „Vorurteil, welches er mit den moralischen Menschen (nicht mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht: ,der letzte und wahre Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß notwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns' — was eben durchaus nicht .notwendig' ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen Notwendigkeit der menschlichen H a n d l u n g e n . . . eben abgelehnt wird" (ΜΑ II, 27). Schon in M A hält Nietzsche diese Inkonsequenz, aus der sich im Grunde all das ergibt, was der spätere Nietzsche an Schopenhauer auszusetzen hat, f ü r das Entscheidende. Denn zwischen denen, die an die quasi religiöse Bedeutung der Moral glauben und denen, die daran nicht glauben, würde eine Kluft entstehen „von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit, die [u. a. von Wagner (vgl. IV 4, 261)] so beklagte Kluft zwischen Gebildet und Ungebildet, wie sie jetzt existiert, kaum einen Begriff gibt", vorausgesetzt daß, „noch mandie Hintertüre", wie sie nicht nur Schopenhauer offenlassen wollte, als nutzlos erkannt werde, denn „keine führt ins Freie, in die Luft des freien Willens" (ΜΑ II, 27). Indem Nietzsche sich aber in dieser Weise mit Schopenhauer auseinandersetzt, meint er auch schon dem Christentum einen Teil jener Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die der 26. Aphorismus fordert. Denn es sind letzte Widerstände des Christentums, — das Nietzsche schon zur Zeit von M A nicht als Lehre Christi auffaßt 1 0 5 , — die sich Nietzsches Sehnsuchtsziel widersetzen, nämlich: der Be105

Übrigens darf aber aus Nietzsches scharfer Unterscheidung zwischen Christentum und Lehre Christi nicht —, wie etwa bei Lessing, der ja in seiner „Religion Christi" eine ähnliche Unterscheidung macht, — geschlossen werden, daß Nietzsche zwar gegen das Christentum, aber für Christus Partei ergreife. Denn in dem im Folgenden angeführten Aphorismus von ΜΑ II (siehe unten S. 354) scheint er dies zwar zu tun — und ist dazu audi insofern berechtigt, als auch der Freigeist von MA noch jene maximale Loslösung von allen richtenden Urteilen anstrebt, die Nietzsche als Kern der Lehre Christi gilt — ; jedoch ist weder das freigeisterhafte Schweben über den Wertungen noch gar die spätere Bejahung der amoralischen, — im Vernichten und Schaffen rücksichtslos selbstherrlichen — Vitalität mit Nietzsches Auffassung von Christus z u vereinen, da dieser ihm zwar in der Epoche von M A mitunter als der im sublimsten Sinne moralische, als der gute Mensch schlechthin gilt (siehe unten S. 447—449), hingegen der freie Geist der Er-

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freiung von Schuld und Schuldgefühl, wie sie der Freigeist von MA von der wissenschaftlichen Erkenntnis erhofft. Der Erkenntnis der moralischen Unverantwortlichkeit kann „nidit lange mehr widerstrebt werden, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen. — So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: .also kein Mensch verantwortlich? Und alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muß doch der Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den einzelnen, die arme Welle im notwendigen Wellenspiel des Werdens anzuklagen und zu riditen — nun denn: so sei das Wellenspiel selbst, das Werden, der Sünder: hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurteilt, gebüßt und gesühnt werden; so sei Gott der Sünder und der Mensd) sein Erlöser: so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurteilung und Selbstmord; so werde der Missetäter zum eigenen Riditer, der Richter zum eigenen Henker'. — Dieses auf den Kopf gestellte Christentum — was ist es denn sonst? — ist der letzte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit — ein schauerliches Ding, wenn es mehr wäre als eine logische Grimasse, mehr als eine häßlidie Gebärde des unterliegenden Gedankens — etwa der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüditigen Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert: ,Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt*. — Der Irrtum steckt nidit nur im Gefühl ,idi bin verantwortlich', sondern ebenso in jenem Gegensatz ,idi bin es nidit, aber irgendwer muß es doch sein'. — Dies ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, .richtet nicht!', und der letzte Unterschied zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, daß die ersten gerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen" (ΜΑ II, 28). Gilt also schon in der Phase von MA, daß die Einstellung zur Moral die Geister, — e. g. den nach Gerechtigkeit strebenden .Moralisten' und den richtenden MoralMenschen, — tiefer unterscheiden soll als alles andere, so versteht sich, daß ebendiese Unterscheidung auch weitere Aspekte von Nietzsches Schopenhauer-Kritik beeinflußt. Dazu nur noch einen Hinweis, der unsere Untersuchung, inwieweit Schopenhauer für Nietzsche zu der deutschen Gegenbewegung gegen die Aufklärung gehört, abschließen mag. Schopenhauer, so heißt es schon in der Phase von MA, philosophierte „über die Deutschen weg" (ΜΑ II, 80), und dies sonderbarerweise in einem Aphorismus, der den Deutschen vorwirft, daß sie „das Gute und das Mitleid" verwechseln und in eins zusammenwerfen, worin „das Wesentliche der deutschen Sentimentalität" bestehe (ΜΑ II, 79). Aber gilt dies nicht auch kennende sein will; in der Spätphase aber Christus als vollkommener decadent aufgefaßt wird (e. g. 77, 227). Eine andere Frage ist allerdings, — wie sdion erwähnt, — ob nicht die Vereinigung von Dionysus und dem 'Gekreuzigten' Nietzsche knapp von seinem Zusammenbruch als letztes, jedodi, soviel ich sehe, nirgends ausdrücklich ausgesprochenes Ziel vorschwebte.

IV. Schopenhauer

341

von Schopenhauers Mitleidsmoral? Was Nietzsche den Deutschen übel nimmt, ist, daß sie, als Reaktionäre, immer wieder den Fortschritt zu einer Überwindung der alten Kultur, der im Banne metaphysisch-religiöser und moralischer Vorstellungen entwickelten ,Volkskulturen' verhindert oder doch sehr verzögert haben. Und so richtet sich die These des „guten Europäers" von MA109: Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen (ΜA II, 142 f.) gerade audi gegen diese Tendenz. Nietzsche hat nämlich nicht nur die historische Situation im Auge, in der Europa eins werden will (76, 193), sondern er meint überhaupt, es sei notwendig, die jeweils gegebene kulturelle Tradition und die in ihr gegebene Sittlichkeit der Sitte zu transzendieren und so den eigenen Horizont zu erweitern; die „Wendung zum UndeutsAen" sei „immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen" (ΜΑ II, 142 f.). Aber wenn sich auch Schopenhauer, nach Nietzsches Meinung, als internationaler, europäischer Schriftsteller und ,Moralist' ausgezeichnet haben mag, bestätigt er doch in Hinblick auf sein Festhalten an Metaphysik und Moral die These, daß die Deutschen Verzögerer par excellence seien. So müßten wir also nochmals fragen, inwiefern Schopenhauer über die Deutschen weg philosophierte, wenn wir nicht zumindest einen Teil der Antwort schon gehört hätten. Schopenhauer hat, — nach der schon zitierten Äußerung des späten Nietzsche, — als der erste unbeugsame Atheist unter den deutsdien Philosophen teil an dem Sieg jenes wissenschaftlichen Atheismus, der ein europäisches Ereignis ist und dessen Sieg audi die Überwindung der Moral (des Glaubens an die Willensfreiheit, an die Verantwortlichkeit, an Sünde, Schuld, Sühne, etc.) ankündigt. Die Deutschen sind noch keineswegs Pessimisten, sind noch viel tiefer in alten Vorurteilen befangen als Sdiopenhauer, und also philosophierte Schopenhauer, — insofern er Atheist und durch seine Lehre vom blinden Willen Negierer der moralischen Weltordnung war, — über die Deutsdien weg, und zwar als guter Europäer und als guter Deutscher, da gut deutsch sein sich entdeutschen heißt. Darüber hinaus aber, — und damit folgen wir einer weiteren Umkehr, ja einer erstaunlichen Volte Nietzsches, — glaubt oder hofft Nietzsche, daß es sich überhaupt als der letzte Sinn der deutschen Philosophie „als Ganzes" erweisen werde, durch die „gründlichste Art Romantik und Heimweh.. nach dem Besten, was jemals war" (78, 284) Europa selbst via Christentum (inklusive die „Kirchenväter"), zur Erneuerung einer griechischen Geistes- und Lebensform zu führen. In diesem Versuch, an das Griechentum anzuknüpfen, — nämlidi gegen die PöbelIdeale der ,modernen Ideen' eine übernationale, vornehme, von Metaphysik und christlicher Moral befreite, antike Geistes- und Lebensform zu erreichen, — behauptet Nietzsche „liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!" (78, 285 f.)

1M

Vgl. ζ. Β. ΜΑ

I,

304; ΜΑ

II, II,

220.

342

Studie zum 26. Aphorismus

Allerdings: man könnte einwenden, diese Behauptung, — mag sie sich audi — wenn man vom Wagnerianertum und der mit diesem gegebenen Benebelung durch nationalistische Prätentionen absieht, — mit manchen Hoffnungen des Frühwerks, e. g. der GdT, vertragen, — gelte nicht für den Freigeist von MA und Morgenröte. Jedoch erweist sich, daß audi dessen Hoffnung, zumindest was die Moral angeht, die gleiche ist. Denn wenn er auch nicht glauben will, „daß Schopenhauer mit Recht sagt, es sei der einzige Vorzug der Deutschen vor andern Völkern, daß es unter ihnen mehr Atheisten gebe als anderwärts, — . . das weiß ich: wenn der Deutsdie in den Zustand gerät, wo er großer Dinge fähig ist, so erhebt er sich allemal über die MoralΓ (73, 184; vgl. 74, 152). So ließe sidi denn auch in Beziehung auf Schopenhauer nadiweisen, daß Nietzsche ihn mitunter als deutsdh im schlechten Sinne oder aber als undeutsdi, bzw. als deutsch (i. e. ,entdeutsdit', oberdeutsch', .europäisch') im guten Sinne bezeichnet, je nachdem er Schopenhauer als Denker und als Persönlichkeit betrachtet, die noch im moralisch-metaphysischen Irrtum befangen bleibt oder als einen Protagonisten, der gerade, indem er die rückläufige Bewegung vollzieht, auch schon über sie hinausweist und der gründlichen Verneinung und ,Aufhebung' von Metaphysik und Moral den Weg bereitet. In einem seiner späteren Rückblicke auf MA, — nämlich in der Genealogie, — meint Nietzsche, was ihm damals am Herzen gelegen habe, sei der „Wert der Moral" gewesen: — „und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buches sich wendet ( — denn auch jenes Buch war eine Streitschrift'). Es handelte sich insonderheit um den Wert des ,Unegoistischen', der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die ,Werte an sich' übrigblieben, aufgrund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, nein sagte. Aber gerade gegen diese Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer gewordene Skepsis! Gerade hier sah ich die große Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung — wohin doch? ins Nichts? —, gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben selbst sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordenen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum — Nihilismus?" (76, 244). Im Kontext von Nietzsches ambivalentem oder multivalentem Verhältnis zu Schopenhauer kommt dem Themenkreis Moral und Metaphysik eine so wesentliche Bedeutung zu, daß wir, — obschon das Kapitel Nietzsche und Schopenhauer damit nicht erledigt ist — auf weitere Einzelaspekte näher einzugehen, ver-

IV. Schopenhauer

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ziehten. Im Ganzen bietet auch und gerade diese Beziehung ein Beispiel für eine vielfach abgestufte Skala der konträren Emotionen, Einschätzungen, Gesinnungen, die bei jeder intimen Beziehung Nietzsches zutage tritt, so daß innige Zuneigung und feindselige Distanzierung, Übereinstimmung und Gegnerschaft, Liebe und H a ß oft ineinander übergehen oder sich ineinander verflechten. Und dies gilt gerade f ü r die Periode von MA und Morgenröte, in der sich Nietzsche, wie etwa aus den Briefen des Jahres 1876 hervorgeht, — über die „allmählich entstandene", ihm „fast plötzlich ins Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauers Lehre" durchaus im Klaren ist; versichert er doch Cosima Wagner, er sei über alles „Dogmatische" an Schopenhauer schon früher hinweg gewesen, nämlich 1874, als er seine Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher geschrieben hatte und ihm nur noch „am Menschen" Schopenhauer gelegen war (IV 4, 26)107. Gewiß: Μ Α steht im Zeichen einer polemischen Auseinandersetzung mit Schopenhauer. Aber Nietzsche meint auch jetzt noch, „daß es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen" (IV 4, 31 f.)108. Daher gilt: indem das Dividuum Nietzsche mit dem Dividuum Schopenhauer kämpft, identifiziert er sich zugleich mit ihm, kämpft er zugleich mit sich selbst. Entscheidend ist, daß er Schopenhauer als Dividuum auffaßt (73, 268; vgl. 74, 113 f.); daß er das Widersprüchliche an Schopenhauer selbst sehen will, statt mit Schopenhauer im Wesen der Welt. Anscheinend entwickelt sich diese Auffassung Schopenhauers bei Nietzsche im Zusammenhang mit Gedanken über die Griechen und durch Anknüpfung an einen Gedanken Schopenhauers, der nämlich „das weite Auseinandertreten des Willens und des Intellektes" als Charakteristikum des Genies angibt, in dem der helle Intellekt sich von der Versklavung an den Willen emanzipiert, und so dessen Nichtigkeit und Misere einsieht, was auch zur Folge hat, daß das Genie für die Anforderung der vom Willen bestimmten Lebensangelegenheiten einigermaßen untauglich wird, zu Melancholie, zur Hypersensibilität, zu Extremen neigt, einen kindlichen Charakter bewahrt, usf. (Vgl. IV 1, 137 ff. [5 (75—84)]; IV 4, 372). Nimmt man nun aber zu dieser Genie-Lehre eine einigermaßen banale Bemerkung des Schopenhauer-Gegners Duehring hinzu, dessen sich Nietzsche zur Auseinandersetzung mit seinem großen Lehrer bediente (vgl. IV 1, 205 ff.), nämlich die von Nietzsche zunächst unter Protest notierte Feststellung Duehrings, daß sich bei Schopenhauer „ein derber Lebensrealismus bisweilen mit idealistischen Grundansichten" paare (7V 1, 252), so kommt man der neuen Einstellung Nietzsches zu Schopenhauer schon näher. Denn Nietzsche will nun in Schopenhauer selbst den Konflikt zwischen dem Willen und dem, allen Willen negieren-wollenden Metaphysiker und Intellekt, zwischen dem Lebensrealismus des ,Moralisten' und dem 107 Vgl. d a 2 u auch Äußerungen des späten Nietzsche, e. g. IV 4, 246 f. 108 Vgl. audi IV 3, 403: „Ich rathe jedem sich vor gleichen Pfaden [Wagner und Schopenhauer] nicht zu fürchten."

344

Studie zum 26. Aphorismus

Idealismus des Moralmetaphysikers konstatieren, bis er endlich gerade in der Disharmonie zwischen Leben und Erkenntnis Schopenhauers Großmütigkeit anerkennt, da dieser als Erkennender, als „Gegner seiner selbst" (73, 143) „sich selber und sein Leben unverzagt oftmals beschämt, oftmals mit erhabenem Spotte und lächelnd — zum Opfer bringt" (73, 268). Wenn Nietzsche aber die Disharmonie und Widersprüchlichkeit in Schopenhauer selbst hineinverlegt und Schopenhauer mit sich selbst kämpfen läßt, so bedeutet dies zugleich, daß er die Unhaltbarkeit der intellektuellen Harmonisierungsversuche anerkennt. Hatte er einst an Schopenhauer im Großen „gegen das Einzelne" festgehalten, so will er jetzt an Schopenhauer im Einzelnen gegen das große Ganze festhalten (82, 144); und das heißt eben wiederum: er will den Konflikt im Menschen anerkennen, statt ihn mit Hilfe einer metaphysischen Konstruktion — und sei es auch die vom Urwiderspruch im Urwesen — zu verschleiern. Und da er Schopenhauer als Dividuum sieht, sieht er auch sich selbst als Dividuum. Anders gesagt: da er bereit ist, den Konflikt in sich selbst anzuerkennen, sieht er ihn auch in Schopenhauer, und indem er mit dem Dividuum Schopenhauer abrechnet, redinet er mit sich selber ab. Wenn das aber so ist, dann hätte man das Recht, die Positionen Nietzsches im Haß-und-Liebeskampf mit Schopenhauer auf Nietzsches Haß-und-Liebeskampf mit sich selbst zu beziehen. „Ich hatte mich mit Schopenhauer auseinanderzusetzen", d. h. ich hatte mich mit mir selbst — inklusive der Philosophie meiner zwanziger Jahre — auseinanderzusetzen: — negativ mit dem Hang zu Moral, Religion, Glaube an Vorsehung, Metaphysik, metaphysisch-moralische Offenbarung in der Kunst, Verneinung des ,Willens', Pessimismus; kritisch mit jenem sublimiert asketischen Trotz gegen sich selbst (/V 4, 190), einem Hochmut, der Unsterblichkeit und daher die dauerhafte, womöglich ,ewige' Wahrheit, daher Erkenntnis will (ΜΑ II, 23 (VM Aph. 26); IV 4, 259), kurz: mit dem Erkenntnisideal; bejahend mit dem Willen zum Freiblick des .Moralisten' usf. „Die höchste Aufgabe am Schluß", nämlich: „Wagner und Schopenhauer öffentlich zu danken und sie gleichsam gegen sich Partei nehmen zu machen" (IV 3, 395 (30 [85]) erwiese sich also als identisch mit der Aufgabe, der eigenen Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sich selber öffentlich zu dem, was an der eigenen früheren Position standhält, zu bekennen und zugleich, sich selber öffentlich zu widersprechen. F.aßt man aber den polemischen Teil von Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer als Selbstkritik auf, so erscheint die Polemik hier, — wie in allen Streitschriften Nietzsches, — gewissermaßen als harmloser selbst in ihren Extremen, da auch die härteste, rücksichtsloseste, ja ungerechteste Selbstkritik fast als verdienstlich gilt, wie denn auch Nietzsches Streit gegen Christentum, Moral etc., dadurch, daß man den Streit als Versuch einer Selbstüberwindung auffaßt, entschärft wird. Man hat gelernt die Selbstanschuldigungen großer Geister, — e. g. die Selbstbezichtigungen und Selbsterniedrigungen bußfertiger Seelen, — nicht wörtlich zu nehmen. Gehört nicht auch die Polemik Nietzsches gegen Schopenhauer, gehören

V. Gerechtigkeit

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nicht fast alle Polemiken dieses sonderbaren, .umgekehrten* Heiligen in das gleiche Genre der ,Pönitenz'? Und machen diese Polemiken nicht einen wesentlichen, ja den wesentlichsten Teil von Nietzsches Selbstdarstellung aus? Zwar Nietzsche polemisiert gegen Schopenhauers Selbstprojektionen. Aber diese Kritik bezieht sich immer weniger auf das Faktum der Selbstprojektion als solche, und immer mehr auf die Jugendlichkeit, die Entwiddungslosigkeit, also darauf, daß Schopenhauer bei seinem Jugendbildnis stehen bleibt, daß sein Geist, — dessen Unabhängigkeit, Mut, Selbständigkeit Nietzsche bewundert (77, 501), — keine Geschichte hat (73, 277; auch 82, 240). Und ist nicht gerade Nietzsche davon überzeugt, daß von jeder Philosophie am Ende nur die Spiegelung der Persönlichkeit, nur das philosophische Selbstporträt übrigbleibt10'? Zweifellos wäre eine Nietzsche-Interpretation denkbar, in der gerade die radikalsten Hiebe Nietzsches nur als Selbstgeißelung und ihre Spuren nur als Züge der Selbstdarstellung gewertet würden. Und doch erwiese man wiederum den Gedanken Nietzsches einen zweifelhaften Dienst, wenn man sie nur ästhetisch als Valeurs eines — gewollten und ungewollten — Selbstportraits oder bloß als Symptome behandelte.

V. GERECHTIGKEIT Was idealisiert, was ersehnt Nietzsche am innigsten in jeder Phase seines Denkens? Das, was ihm am meisten fehlt. Im Frühwerk: Künstlertum; im Spätwerk: Gesundheit; in der Phase seiner kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den Vorbildern seiner Jugend: die gerechte Erkenntnis dessen, was er selbst war und ist, was ihn geprägt und gebunden hat und was ihn belastet, kurz das, was auch der 26. Aphorismus hervorhebt: Gerechtigkeit. So heißt es in den Entwürfen zu den retrospektiven Vorreden zu MA: „Es geschah spat, daß ich dahinter kam, was mir eigentlich noch ganz und gar fehle: nämlich die Gerechtigkeit. ,Was ist Gerechtigkeit? Und ist sie möglich? Und wenn sie nicht möglich sein sollte, wie wäre da das Leben auszuhaken?' — solchermaßen fragte ich midi unablässig. Es beängstigte mich tief, überall, wo ich bei mir selber nachgrub, nur Leidenschaften, nur Winkelperspektiven, nur die Unbedenklichkeit dessen zu finden, dem schon die Vorbedingungen zur Gerechtigkeit fehlen: aber wo war die Besonnenheit? — nämlich Besonnenheit aus umfänglicher Einsicht. Was ich mir allein zugestand, das war der Mut und eine gewisse Härte, welche die Frucht langer Selbstbeherrschung ist. In der Tat gehörte schon Mut und Härte dazu, sich so vieles und noch dazu so spät einzugestehn" (82,403). 10

» Vgl. dazu auch ΜΑ II, 124; 76, 12; 78, 284; und Nietzsches Gedicht »Arthur Schopenhauer« (77, 501).

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Studie zum 26. Aphorismus

Hier hätte nun eine umfassende Untersuchung einzusetzen, die, um dem Thema einigermaßen Genüge zu tun, das Gesamtwerk Nietzsches einbeziehen müßte, da sich die Frage nach der Gerechtigkeit weder von Nietzsches Auffassung des Christentums oder von seiner Frage nach dem Wesen der Moral überhaupt, nodi von seiner Frage nach Wesen und Möglichkeit der Erkenntnis trennen läßt. Wenn wir also hier — da Nietzsche im 26. Aphorismus, mithin im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit Schopenhauer, mit sich selbst und vor allem mit dem Christentum von einem großen Erfolge der Gerechtigkeit (40) spricht, — auf Nietzsches Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und auf seinen Zweifel daran, ob Gerechtigkeit möglich sei, eingehen, so müssen wir uns mit einigen Hinweisen begnügen. Schon in der zweiten U B wird der Gerechte, der „sich an einer unmöglichen Tugend tragisch verzehrt" als „das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch" bezeichnet: „denn Wahrheit will er, dodi nicht nur als kalte folgenlose Erkenntnis, sondern als die ordnende und strafende Richterin, W a h r h e i t . . . als Weltgericht". Und schon hier wird zugleich „jenes Streben nach Wahrheit, das seine Wurzel in der Gerechtigkeit" hat, mithin der edelste Kern des Wahrheit-Strebens ist, unterschieden von Antrieben anderer Art, — e. g. Neugier, Flucht vor der Langeweile, Mißgunst, Eitelkeit, Spieltrieb, — die u. a. die „Gelehrten- und Forscher-Kohorten" motivieren, so wie auch hier schon unterschieden wird zwischen der „blinden Begierde, Richter zu sein", — die dem Fanatiker eignet, — und der Urteilskraft, die allein zu richten befugt ist. Vor allem aber trachtet Nietzsche hier Gerechtigkeit von der lauen ,Objektivität* und dem Virtuosentum der im Grunde teilnahmslosen, sich wissenschaftlich dünkenden Historiker zu unterscheiden (71,143

ff.).

Im Finale von Μ Α I heißt es: „wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer [der Leidenschaft] durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knien, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen" (ΜΑ I, 355). Und wiederum wird, wie in der 2. U B — unter veränderten, dem Ideal der wissenschaftlichen Objektivität günstigen Akzenten — der Versuch gemacht, die wahre Gerechtigkeit von den Pseudoformen scharf zu trennen. Wir fassen zunächst die positiven Aspekte ins Auge. Die „Genialität.. der Gerechtigkeit" geht „mit herzlichem Unwillen allem aus dem Wege . . , was das Urteil über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der gungenuo,

Überzeu-

denn sie will jedem, sei es ein Belebtes oder Totes, Wirkliches oder Ge-

dachtes, das Seine geben — und dazu muß sie es rein erkennen . . . und geht um jedes Ding mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen .Überzeugung' (wie Männer sie nennen: — bei Weibern heißt sie ,Glaube'), geben, was der Überzeugung ist — um der Wahrheit willen" (ΜA I, 354 f.). Gerechtigkeit erweist sich also als Ziel des sich emanzipierenden, aus alten Ab110

„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen"; ΜA I, 312.

V. Gerechtigkeit

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hängigkeiten sich lösenden, skeptischen Freigeists. Und was er für sich selber wünscht, das wünscht er audi seiner Nation: Statt als das Volk „der unbedingten Gefühle" auf eine fatale Weise dem Hang zu „unbedingten Huldigungen", zumal einem lächerlichen Personenkult nachzugeben, sollen die Deutschen lernen, „Redlichkeit gegen sich selber" zu üben und „aus einem Volk der bitterbösen, blinden Feindseligkeit ein Volk der bedingten Zustimmung und der wohlwollenden Gegnerschaft" zu werden (73, 142—144 passim). Es ist bezeichnend, daß Nietzsche diese Einsicht in Hinblick auf Schopenhauer und Wagner, denen er selber allzu unbedingt gehuldigt zu haben meint, entwickelt; und daß überdies die Emanzipation von Schopenhauer im Sinne des Gerechtigkeitsideals zugleich als eine imitatio Schopenhauers dargestellt wird, da diesen selbst, die zur Gerechtigkeit nötige, nachahmenswerte, unter Deutschen einzigartige Unabhängigkeit („weder über den Dingen, noch auf den Knien vor den Dingen") auszeichnete (73, 143). Und ferner bedeutet überhaupt für Nietzsche nun, dem Meister gerecht zu werden, ihm so weit folgen, bis man selbst so unabhängig dasteht wie der Meister und keinen Meister mehr nötig hat. Was Nietzsche an Schopenhauer — von nun an — rühmt, ist vor allem dies: daß Schopenhauer niemandem Untertan war (77, 501), „ein auf sich gestellter G e i s t . . . , ein Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht [wie der Künstler Richard Wagner] erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet" (76, 340). Hingegen lehnt er Schopenhauers „admirari id est philosophari" (73, 183) nun auch von seinem Gerechtigkeitsideal her ab, denn, wie es anderwärts heißt: „man ist auch ungerecht, wenn man die großen Männer zu groß findet und die Dinge in der Welt zu tief", wenn man, um „dem Leben die tiefste Bedeutung" zu geben, die Welt — wie Schopenhauer und alle Metaphysiker — mit Fabeln „umspinnt". Mag auch die „Kraft" oft in dem allzuscharfen Akzentuieren, dem Übertreiben der Farben sich zeigen, „die Kraft in der Mäßigung ist die höhere, Gerechtigkeit ist schwerer als Hingebung und Liebe" (82, 266). Gerechtigkeit üben bedeutet also auch, sich von dem Objekt der Verehrung — dem Meister, der Lehre — freimachen, bis man unabhängig ist, dem Meister frei gegenübersteht, ja sich über ihn und seine Lehre erhebt; kurz: das bislang Verehrte und den bis dahin Verehrten überwindet. Nietzsche sagt: „Ich bin peinlich gerecht, weil es die Distanz erhält" (82, 331). Und ferner: „Die eigentlich gerechten Menschen sind unbeschenkbar: sie geben alles zurück [i. e. jedem das Seine]. Weshalb sie den Liebenden ein Greuel sind" (83, 204). Aber ist der Wille zur Gerechtigkeit nicht noch mehr als Wille zur Unabhängigkeit, nämlich Wille zu Macht und Übermacht? In unserem 26. Aphorismus will Nietzsche offenbar Schopenhauer selbst Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem er anerkennt, „daß es jetzt niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauers Beihilfe dem Christentum und seinen orientalischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen" (40). Jedoch in der Vorstufe (IV 4, 172) schrieb Nietzsche das Gegenteil, nämlich: er

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Studie zum 26. Aphorismus

glaube, daß ebendies jetzt „Jemandem" — und wer sollte das sein, wenn nicht Nietzsche selbst? — audi „ohne Schopenhauer" möglich sein werde, — eine Formulierung, in der sich f ü r den Geschmack des Autors von MA der ehrgeizige Wille zur überwindenden Gerechtigkeit wohl allzudeutlich verriet. Wir kommen auf diesen gewissermaßen verdächtigen Aspekt der Gerechtigkeit noch zu sprechen, verfolgen aber zunächst ihre weiteren idealen Züge, die Nietzsche übrigens ebenfalls in Hinblick auf Schopenhauer entwickelt. Die Gerechtigkeit ist jenseits der Leidenschaft. So heißt es auch von dem „Schopenhauer des Lebens, nicht dem der Philosophie", er wolle — im Gegensatz zu Wagner, welcher „Brand des Herzens" neben dem „Brand der Begierde" wünsche, — „Kühle der Begierde neben der Kühle des Herzens" (IV 3, 408). Allerdings: die Gerechtigkeit gerät damit, wie schon erwähnt, in Gegensatz zur Liebe, die aber mit Unrecht zuungunsten der Gerechtigkeit gelobt wird. Denn die Liebe ist zwar „angenehmer" aber „ersichtlich dümmer" als die Gerechtigkeit (ΜΑ I, 73), da sie sich ohne Unterscheidung über alle und alles ergießt, und also gewissermaßen der Subordination unter die Gerechtigkeit bedarf, weshalb wohl Zarathustra auch eine Gerechtigkeit wünscht, „welche Liebe mit sehenden Augen ist" (75, 73). So erweist sich die Gerechtigkeit im Sinn des späten Nietzsche „als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise, aus den Wertschätzungen heraus", und also als „höchster Repräsentant des Lebens selber" (82, 251), — eine Ansicht, die auch in dem bescheideneren Rahmen von MA gilt, da sie ebenjene Funktion bezeichnet, in der laut Aphorismus 23 die Aufgabe des Zeitalters der Vergleichung besteht, das die disparaten Elemente der Gegenwart in Hinblick auf die ,Wertschätzungen' des künftigen, wissenschaftlichen Zeitalters zu sichten hat. Die Gerechtigkeit ist, allerdings unter Voraussetzungen von Wertperspektiven, die facult£ maltrise und eigentliche Tugend des Herrschers (76, 304 ff.), des herrschenden, die Rangordnung bestimmenden Geistes: „Gerechtsein ist immer ein positives Verhalten" und „wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief- als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden" (76, 305 f.). Und ebendiese Vorstellung von Gerechtigkeit schwebt Nietzsche auch schon in MA vor, wenn er — übrigens entgegen dem revolutionären Anspruch der Sozialisten — statuiert: „allmähliche U m schaffungen des Sinnes tun not, die Gerechtigkeit muß in allen größer werden, der gewalttätige Instinkt schwächer" (ΜΑ I, 288), wobei allerdings diese eindeutige Absage an die Gewalttätigkeit der späten Phase kaum entspricht. Was der späte Nietzsche will, ist Gerechtigkeit „als Funktion einer weit umherschauenden Macht, welche über die kleineren Perspektiven von Gut und Böse hinaussieht, also einen weiteren Horizont des Vorteils hat — die Absicht, etwas zu erhalten, das mehr ist als diese und jene Person" (83, 259). Eine von Entwicklungszielen bestimmte Wertperspektive entwirft Nietzsche aber auch in MA, obschon noch zögernd und ohne den Konflikt mit seinem eigenen umfassenden Zweifel (der allerdings auch

V. Gerechtigkeit

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in der Spätphase nicht gelöst ist) zu verleugnen. Denn wenn er sich etwa in der Phase von MA und Morgenröte seiner Gerechtigkeit gegen verschiedene Kulturen rühmt (IV 2, 469 (21 [45]), den historischen Sinn als eine Gegenkraft gegen die U n gerechtigkeit bezeichnet (83, 131), oder — wenig später — eine neue Gerechtigkeit fordert, die auch das Recht des Bösen, des Abnormen, des Verbrechens usf. anerkennt (74,189; 82, 266), so meint er ja, mit dieser erweiternden Besinnung einer Befreiung, Veredlung, Steigerung des menschlichen Potentials, d. h. einem möglichen Fortschritt in Richtung auf eine wünschenswerte Neugestaltung der Kultur zu dienen, mithin den Prozeß zu fördern, dessen Darstellung unsere Studie gewidmet ist, — womit allerdings nicht bestritten wird, daß Nietzsche anderwärts sowohl diese Fortschrittsperspektive sowie die Möglichkeit der Gerechtigkeit selbst wiederum bezweifelt. Insofern aber Nietzsche Gerechtigkeit anerkennt und als Tugend verherrlicht, erweist sie sich, — so hart, kühl, distant sie in ihrer Wirkung erscheint, — durchaus nicht als ein Produkt der Indifferenz, sondern wiederum als eine, in der Selbstüberwindung sich beweisende höhere Intensität des Lebens. Hier ist zu unterscheiden zwischen der leidenschaftlosen Tugend selbst und dem, der ihr dient, der aus Leidenschaft f ü r die Gerechtigkeit alle anderen Leidenschaften bezwingt. Der Gerechte ist „Glut und Kohle" (75, 10) u l . Er wird gerecht, indem er Gerechtigkeit an und gegen sich selber übt; indem er auf dem „Opferaltare der Gerechtigkeit" (ΜΑ I, 355) das hingibt, was ihm das Liebste ist, wofür er Leidenschaft empfindet, was er verehrt 118 . Das „Feuer" der Leidenschaft macht „ungerecht", im Sinne der „Göttin" der Gerechtigkeit „unrein": „beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Buße und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren will" (ΜΑ I, 355). U n d mit ähnlichem Pathos sagt Nietzsche, wohl wiederum im Rückblick auf die Wende von M A : „Die Gerechtigkeit trat vor mich hin: da zerbrach ich meine Götzen und schämte mich. Einer Buße unterwarf ich mich und zwang mein Auge dorthin zu sehen, wohin es ungern sah: und Liebe dorthin zu tragen" (82, 363). Soviel zu Nietzsches Lob der Gerechtigkeit. Aber ist das, was er, kraft seiner .reaktiven' Sensibilität und Irritabilität, die ihn als Beobachter, Polemiker, Analytiker auszeichnet, gegen die Gerechtigkeit vorbringt, nicht noch überzeugender? Man versteht jedenfalls auch Nietzsches positive Auffassung der Gerechtigkeit besser, wenn man weiß, wogegen sie sich richtet, von welcher, seiner Meinung nach falschen und in Hinblick auf ihre Motive, sowie auf ihre Urteilssprüche höchst ungerechten .Gerechtigkeit' er sich und die Menschen befreien will. Ungerecht ist nämlich, gemäß Nietzsches Meinung in MA, die richtende oder strafende Gerechtigkeit, die von der falschen Voraussetzung ausgeht, daß der 111 llä

Vgl. dasselbe Bild („verglühn und verkohlen") auch im 637. Aph. von ΜΑ I. Was die von Nietzsche in Hinsicht auf Rousseau und Schopenhauer gerühmte Großmut des Erkennenden ausmacht: nämlidi die Bereitschaft, die Irrmmsverflochtenheit des eigenen Lebens, den Widerspruch zwischen Gelebtem und als wahr Erkanntem, um der Erkenntnis willen sich und andern einzugestehen (73, 26S), erscheint in gesteigerter Form als Tugend des Gerechten.

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Studie zum 26. Aphorismus

Mensch f ü r seine Handlungen und sein Wesen verantwortlich sei, mithin Strafe oder Belohnung .verdiene'. U n d an dieser Auffassung hält im Großen und Ganzen auch der späte Nietzsche fest, denn die Tatsache, daß er etwa im positiven Sinne von dem richtenden Auge des Gerechten spricht113, ist zunächst nur als einer jener scheinbaren Widersprüche zu werten, die bei Nietzsche so häufig sind, da er sich der Vieldeutigkeit des sprachlichen Ausdrucks bedient und ihm an nichts weniger gelegen ist als an einer quasi wissenschaftlichen widerspruchslosen Terminologie. Insofern nämlich das Richten zu den Funktionen zählt, die nötig sind, um eine Rangordnung zu bestimmen und zu befestigen, um zu werten, auszuwählen und auszumerzen, mithin in das Kapitel ,Zucht und Züchtung' gehört, — hat Nietzsche dagegen im Prinzip so wenig einzuwenden wie gegen Strafen (und Belohnung) als Mittel, um Motive für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen zu schaffen, oder gegen Strafe als Schutzmaßnahme. Was er ablehnt, ist das Konzept der moralischen Schuld sowie überhaupt jede Möglichkeit einer moralisch richtenden Zurechnung. Und in diesem Sinne, nämlich angesichts der vom Richtenden verleugneten Unverantwortlichkeit des Menschen, — der in seinen Handlungen und seinem Wesen determiniert und also notwendig das ist, was er ist, — gilt, daß „richten . . soviel [ist] als ungerecht sein" (ΜΑ I, 56), daß „gerecht sein wollen" und „Richter sein wollen (ΜΑ II, 28) im Verhältnis des Gegensatzes und der Umkehrung zueinander stehen. Die Konsequenzen, die Nietzsche zunächst in M A aus dieser Gesinnung zieht, sind übrigens alles andere als radikal und zeichnen sich — wohl absichtlich, nämlich: deutsch-idealistischer,Tiefe' opponierend — durch Hinwendung zu einem utilitaristischen Kalkül aus: „Die belohnende Gerechtigkeit. — Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese nämlich darin besteht, daß man jedem das Seine gibt. Denn der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung f ü r ihn und andere, um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht dem, welcher am Ziele ist . . Weder Strafe noch Lohn sind etwas, das einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne daß er sie mit Gerechtigkeit zu beanspruchen hätte. Man muß ebenso sagen, ,der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist', als man gesagt hat, ,der Weise bestraft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde'. Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern 113

Siehe oben, Seite 348 (76, 306).

V. Gerechtigkeit

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Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt derselbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit" (ΜΑ I, 94 f.). Was Nietzsche aber schon in der Phase von MA intensiver beschäftigt als die Frage nach der Möglichkeit eines neuen Systems der Strafen und Belohnungen, ist die Frage danach, welche Mentalität die alte richtende ,Gerechtigkeit' inspiriert. Deren Analyse entnimmt er, soviel idi sehe, Dührings Werth des Lebens (1865), einem Buch, das er im Sommer 1875 ausführlich exzerpiert hat (IV 1, 207—257). Denn nach Dührings Auffassung, wie Nietzsche sie versteht, ist „das Rechtsgefühl . . ein Ressentiment", es „gehört mit der Rache zusammen: audi die Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit geht auf das Rachegefühl zurück. Gerechtigkeit besteht in der Wiederver(letzung)geltung [i. e. in der Wiedervergeltung der Verletzung], der Verletzung muß eine Gegenverletzung entsprechen: talio" [e. g. im Sinne des ,Aug um Auge, Zahn um Zahn'] (7V 1, 252). Anders gesagt: der Begriff des Rechts entspringt in den Leidenden, die dadurch, daß sie sich rächen, zu „Lehrmeistern des Rechts für Alle" werden (/V 1, 226). Erst der Vergeltungstrieb (/V 1, 217), das Bedürfnis und die Notwendigkeit, sich zu rächen (IV 1, 228), hat den Begriff des Unredits geschaffen und so ist audi Gerechtigkeit Rächung des Unrechts (IV 1,227) oder, wie Nietzsche hier selbst sagt: „im Grunde Radiegefühl" (IV 1,256). Allerdings: gegen ebendiese Herleitung der Gerechtigkeit aus dem Ressentiment der Verletzten, i. e. der Schwachen, wendet sidi Nietzsche, und zwar wohl am heftigsten in der Genealogie: Der „Ursprung der Gerechtigkeit", meint er hier, sei nämlich durchaus nicht auf dem Boden des Ressentiments zu suchen. Dieses gedeihe freilich „am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten" (wie Dühring), die ebendarum — gleich den Christen — danach trachten, „die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen — wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre — und mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesamt nachträglich zu Ehren zu bringen" (76, 304 f.). Zwar sollte man auch den biologischen Wert der reaktiven Affekte (Haß, Neid, Mißgunst, Argwohn, Ranküne, Rache) anerkennen, aber diese „wissenschaftliche Billigkeit" erweise sich ihrerseits bloß als eine Nuance des Ressentiments, da sie der Feindschaft und Voreingenommenheit Platz macht, sobald es gilt, die viel höher einzuschätzenden aktiven Affekte (wie „Herrschsucht, Habsucht und dergleichen") wissenschaftlich zu würdigen. Dem Satz Dührings aber, „daß die Heimat der Gerechtigkeit auf dem Boden des reaktiven Gefühls zu suchen sei", müsse man „mit schroffer Umkehrung" den Satz entgegenstellen: „der letzte Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird, ist der Boden des reaktiven Gefühls!" (76, 305). Der aktive, aggressive Mensch — der Stärkere, Mutigere, Vornehmere — hat immer „das freiere Auge [und] das bessere Gewissen auf seiner Seite gehabt", — und war auch der Gerechtigkeit immer näher als der reaktive Mensch, der immer falsch, immer subjektiv abschätzt und dem überdies die Erfindung des schlechten Gewissens zu verdanken sei. „Historisch betrachtet, stellt das Recht auf E r d e n . . . den Kampf gerade wider die

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Studie zum 26. Aphorismus

reaktiven Gefühle vor" (76, 306). Es sind die aktiven, aggressiven Mächte, die dem reaktiven Pathos Einhalt gebieten, einen Vergleich erzwingen und, vor allem, Gesetze aufstellen, -womit das Umgekehrte von dem erreicht ist, was Rachsucht will, nämlich „eine immer unpersönlichere Abschätzung der Tat". So sind Rechtszustände entstanden innerhalb einer von den Mächtigen geschaffenen Sphäre, die allerdings „insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert" und der eigentliche Lebenswille auf Macht, i. e. auf die Schaffung von immer größeren Macht-Einheiten aus ist, „immer nur Ausnahmezustände sein dürfen" (76, 307 f.). So der späte Nietzsche, der aber mit Recht a u f M A zurückverweist (76,243), wird doch schon hier die Hypothese von der „doppelten Vorgeschichte von Gut und Böse (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven)" (76, 243; vgl. ΜA I, 59) im Sinne der Herrenmoral aufgestellt, die allein eine positive Sittlichkeit zu schaffen imstande ist (siehe ΜA I, 60), und die Gerechtigkeit aus dem Verhandeln zwischen „ungefähr g/etcfc Mächtigen" abgeleitet (ΜΑ 1, 81), wobei für uns nicht die Hypothese selbst von Interesse ist, sondern die allerdings bloß angedeutete Subordinierung der Rache (des reaktiven Affekts) unter das Interesse an der Sicherung der Macht: „ . . wo es keine deutlich erkennbare Übergewalt gibt und ein Kampf zu erfolglosem gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke, sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausdies ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den andern zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr schätzt als der andere. Man gibt jedem, was er haben will, als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung ungefähr gleicher Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. — Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunkt einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück114, also auf den Egoismus jener Überlegung: ,wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel doch nicht erreichen?' " (ΜΑ I, 81 f.). Und so wird auch das „Recljt des Schwächeren" auf seine Nützlichkeit zurückgeführt: „Das Recht geht ursprünglich so weit, als einer dem andern wertvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar, und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur)" (ΜΑ I, 82 f.). Wir überlassen es andern zu entscheiden, inwieweit mit diesen und ähnlichen genetischen Hypothesen auch wirklich eine klare Differenz zu Dührings Auffassung gegeben ist. Gewiß ist aber, daß Nietzsche schon in MA, indem er einerseits das Gleichgewicht zwischen Mächtigen, — inter pares115, — als „Basis der Gerechtigkeit" 114

115

Diese Auffassung widerspricht aber wohl der späteren vom Primat des Willens zur Macht. Vgl. dazu auch 78, 631; 76, 301.

V. Gerechtigkeit

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auffaßt (und in diesem Sinne auch das jus talionis interpretiert (AM II, 184)), anderseits aber den „Unterdrückten, Machtlosen" in ihrem primitiven Zustand überhaupt die Befähigung zur Bildung eines höheren Gemeinwesens abspricht (da hier nur Angst, Mißtrauen, Mißgunst usw. walte; e. g. ΜA I, 60), den Unterschied zwischen jener wahren, aus der Kraft entsprungenen und sublimierten Gerechtigkeit und der andern, aus Verfeinerung des Ressentiments der Schwäche entstandenen Pseudogerechtigkeit machen will, und die sublimierte Form der letzteren als die richtende oder strafende Gerechtigkeit, i. e. als verkleidetes Ressentiment, auffaßt. Dazu noch eine weitere Bemerkung. Die aus dem Bereich der Mächtigen abgeleitete Gerechtigkeit, stellt ein Maß auf, — sei es im Verkehr zwischen Gleichstarken, sei es innerhalb eines Herrschaftsbereiches, in dem Recht und Berechtigung nach dem Maß der Herrschenden bemessen wird (vgl. 83, 262). So entwickelt sich als wesentliches Merkmal der Gerechtigkeit der Sinn für Rangordnung, der jedem das Seine geben will, aber, in Anerkennung der Ungleichheit der Menschen, durchaus nicht allen das Gleiche. Gerade auf diese „ausbündigste Ungerechtigkeit", bei der „die höchsten Menschen zu kurz kommen", zielt aber, — unter der Devise „Gleiches Recht für alle", — die aus dem Ressentiment der Schwachen, d. h. der Masse, der Meisten, abgeleitete .Gerechtigkeit' ab. Und ebendiese „Gerechtigkeit" ist es, die bisher „am besten gelobt" wurde: denn „sie hat das Lob der meisten — derer, die gleiches Recht nicht haben durften!" {83, 193). Es gibt also offenbar eine Gerechtigkeit der Kraft und eine — unwahre, falsche — Gerechtigkeit als Deckmantel der Schwäche ( Μ Α II, 37). Zu dieser gehört die Pseudo-Gerechtigkeit aus Feigheit und Lauheit (zu der auch der ubiquitäre, ohne eigenes Maß sich verzettelnde, alexandrinische Historismus zu zählen ist), aus Ermüdung {75, 101, 107), aus dem Wunsch nach defensiver Sicherung und Verkleinerungssucht, aus Neid und Mißgunst derer, denen die Macht fehlt {75, 108), aus dem Wunsch zu nivellieren, zu sich und dem Gemeinen herunterzuziehen, was über einem ist, aus Begehrlichkeit (dem Wunsch nach Macht) und manifester Rachsucht, — wie nach Nietzsches Auffassung im Fall der Sozialisten {ΜΑ I, 287). Es gibt die .Gerechtigkeit' des Fanatikers, der im Stolz über seine Handvoll Gerechtigkeit sich die Berechtigung zu wilden Freveltaten vindizieren will. Und fast bei allen diesen Varianten spielt das Ressentiment mit, und „wenn sie sagen: ,ich bin gerecht', so klingt es immer gleich wie: ,ich bin gerächt' " (75, 101). Wer oder was ist aber für Nietzsche der umfassende Repräsentant jener das Leben selbst nivellierenden Gerechtigkeit der Schwäche, der Dekadenz, die, der vornehmen Vitalität widerstrebend, ihre Rachsucht an mächtigen Lebensimpulsen befriedigen will? Das Christentum samt seinen Vor- und Ausläufern, bzw. wenn man noch umfassender alle historischen Manifestationen einer nihilistischen und also gegen das Leben selbst reaktiven und reaktionären Kulturbewegung bezeichnen will: das Christentum „und seine asiatischen Verwandten" {Apho 26).

354

Studie zum 26. Aphorismus Es genügt hier, nur auf die für Nietzsche entscheidende christliche Bewegung

einzugehen. Diese gilt ihm als massierte, d. h. durch Masse zur Macht selbst über die Starken gelangte Schwäche; und so hat das Christentum als Ideologie des Ressentiments die nivellierende sowie die strafende Gerechtigkeit oder richtende Pseudogerechtigkeit zu ihrem Prinzip, ja in der Projektion der ewigen göttlichen Gerechtigkeit zum Prinzip des Universums erhoben. Das Christentum hat, — im Gegensatz zur heidnischen Antike, — „Unglück und S c h u l d . . . auf eine Waage gesetzt", so daß selbst die Größe der Schuld nach der Größe des Unglücks bemessen wird. „Erst im Christentum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe", so daß der Unglückliche sich auch noch schuldig, sich „bei allem Übel-ergehen" auch noch „moralisch verwerflich und verworfen fühlt" (73, 69 f.). Das Christentum hat aus der Welt eine Strafanstalt, aus dem Menschenleben ein Strafgericht gemacht. Das Christentum hat, im äußersten Gegensatz zu der wahren, dank ihrer Einsicht in die Unverantwortlichkeit des Menschen, nicht-richtenden Gerechtigkeit die Allverantwortlichkeit postuliert. Zwar gibt es auch einen extremen Punkt, an dem sich die Gegensätze berühren und dieser wird, nach Nietzsches Auffassung, durch den einzigen Christen — durch Christus selbst — bezeichnet. Denn ebenso wie es möglich wäre, unsere „weltliche Gerechtigkeit" mit der wahren Gerechtigkeit — „der Lehre von der völligen U n verantwortlichkeit und Unschuld jedermanns" — „aus den Angeln zu heben", so wurde schon ein Versuch in gleicher Richtung . . gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung jedermanns" gemacht. „Der Stifter des Christentums" wollte „die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen . . Denn er verstand alle Schuld als ,Sünde', das heißt als Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt er jedermann im größten Maßstab und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen sein: so urteilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurteilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurteilung der Motive nur einen einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder wie er sich ausdrückte: G o t t ) " (ΜΑ II, 216 f.). Und doch wird hier, — wie in Nietzsches Christus-Interpretation überhaupt, — die sublimste Form des äußersten Ressentiments gegen das Leben selbst und damit die äußerste Ungerechtigkeit gegen das Leben charakterisiert, mag diese auch gemäß Nietzsches dialektischem Prinzip in engster Nähe zu der vollendeten Bejahung und Allgerechtigkeit geraten. Gerade weil aber die historische christliche Bewegung Nietzsche als Ausdruck der Ungerechtigkeit selbst gilt, gilt ihm wohl auch das Vermögen, dem Christentum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht nur, wie es im 26. Aphorismus bescheidenerweise heißt, als „großer Erfolg der Gerechtigkeit" sondern als deren höchster Triumph.

(40),

V. Gerechtigkeit

355

Wir erinnern daran, daß Nietzsche in dem oben zitierten Aphorismus über die allen .Überzeugungen' abgeneigte Gerechtigkeit, deren höchste Steigerung darin sieht, daß sie selbst ihrer Gegnerin — dem ,Glauben' — um der Wahrheit willen das Ihre gibt und also Gerechtigkeit 'widerfahren läßt (ΜA I, 354 f.). Zu einer ähnlichen Übung der Gerechtigkeit, e. g. bei der Einschätzung religiöser Verfolgungen in andern, hinsichtlich des Instinktes der Gerechtigkeit noch weniger entwickelten Epochen, mithin zur Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit, fordert audi der mit dem Titel „Richtet nicht" bezeichnete Aphorismus 101 von ΜΑ I auf. Und endlich sei hier auch nochmals daran erinnert, daß nach Nietzsches späterer Meinung, „der letzte Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird, . . der Boden des reaktiven Gefühls" ist (76, 305). . Das Christentum, — um dies zu wiederholen, — repräsentiert für Nietzsche die Ungerechtigkeit und zwar nicht nur wie etwa jeder Glaube, sondern, — da das Christentum durchaus auf dem Boden des reaktiven Gefühls steht, da das Christentum und seine asiatischen Verwandten die mächtigste Ressentiments- und Reaktionsbewegung gegen das aufsteigende Leben selbst darstellen, — die Ungerechtigkeit gegen das Leben schlechthin. Und wenn also Gerechtigkeit ihre letzten Eroberungen auf dem Boden des reaktiven Gefühls zu machen hat und ihren letzten Sieg feiert, indem sie dem Glauben gerecht wird, so erweist sie sich, um auch dies nochmals zu zitieren, als höchster Repräsentant des Lebens selber (82, 251), wenn sie dem Christentum Gerechtigkeit widerfahren läßt und es somit überwindet und aufhebt. So läßt sich also auch der 26. Aphorismus, welcher das Programm, aus der Reaktion einen Fortschritt zu machen entwirft, als Andeutung von Nietzsches enormer Ambition auffassen, als Anti-Christ die Entwicklung der letzten zweitausend Jahre aufzuheben und umzukehren und darüber hinaus als Prophet des neuen Milleniums die Befreiung des aufsteigenden Lebens zur großen, die nihilistische Dekadenz überwindende Gesundheit zu verkünden. Kaum hat man aber den kleinen Aphorismus ins Grandios-Hybride stilisiert, so melden sich auch Zweifel an. Zwar der Nietzsche von MA ist ja auf dem Wege zu ebenjenen grandiosen Projekten, die, nicht zuletzt zwecks Selbstrettung und Selbsterlösung, im Spätwerk verkündet werden. Warum sollten sich also die Ansätze, — die flüchtig und noch unter Vorbehalten notierten Tentativen — nicht schon früher erkennen lassen? Nur muß man sich auch eingestehen, daß Nietzsche, wenn er in der Phase von MA schon all das gewußt und gemeint hätte, was er später aus den Ansätzen und Tentativen entwickelte, dies wohl selbst in MA auch gesagt hätte. Und ist nicht überdies audi das Spätwerk weniger eindeutig als es zunächst den Anschein haben mag? Verfälscht man nicht die Vieldeutigkeit seiner Texte, wenn man Nietzsche auf eine allzu stimmige Ordnung ausrichtet? Wie steht es z . B . mit den soeben diskutierten Gedanken Nietzsches über die Gerechtigkeit? Ist nicht, Nietzsche zufolge116, gerade die historisch kritische Erkennt119

Siehe UB II oder audi Thomas Manns Essay über .Nietzsche im Lidite unserer Erfah-

356

Studie zum 26. Aphorismus

nis einer Religion bei aller .Gerechtigkeit' ein mörderisches Unterfangen, da sie ζ. B. Christentum in Wissen um Christentum auflöst, da eine Religion -wissenschaftlich erkennen soviel heißt wie sie umbringen? Übt Nietzsche nicht gerade, indem er dem Christentum die es erledigende Gerechtigkeit widerfahren lassen will, Rache am Christentum und damit asketische Rache auch an sich selbst? Und weiß er nicht sehr wohl, daß er dies tut, da er ja selber sagt, daß sich die vom Christentum hochgezüchteten Ressentiments des Schuldgefühls, die Beiditvater-Feinheit des Gewissens am Ende als Wahrhaftigkeit gegen das Christentum selbst kehrt117? So müßte es also auch eine anerkennenswerte Gereditigkeit aus sublimierter Rachsucht geben. In der Tat ist Nietzsches Auffassung der Gerechtigkeit, — wie des Erkenntnisstrebens überhaupt, — komplexer, widersprüchlicher, differenzierter als oben dargestellt werden konnte. Im Anschluß an Dühring sagt Nietzsche (1875): „Selbsterkenntnis entspringt aus Gereditigkeit gegen sich; und Gerechtigkeit ist im Grunde Rachegefühl. Hat jemand genug an sich gelitten, sidi selbst genug verletzt, in Sündhaftigkeit — so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu spüren", dessen Resultat eindringende Selbstbetrachtung und folglidi Selbstverachtung ist (/V 1, 256). Jedoch an diesem Gedanken hält er, — wenn er auch dem Bewußtsein der „Sündhaftigkeit" keine Berechtigung mehr zuerkennt, — auch weiterhin fest, so daß auch im .Willen zur Macht' von „Gerechtigkeit als Entwicklung des Rachetriebes'' {78,185) die Rede ist und der Erkenntnistrieb selbst ihm als eine Form der sublimierten und invertierten Grausamkeit erscheint. Wie steht es aber in diesem Falle mit der Untersdieidung zwischen der falschen, rachsüchtigen und der wahren, dem Leben positiv dienenden, aus der Macht entwickelten Gerechtigkeit? Offenbar so, wie es auch mit dem Verhältnis zwischen Reaktion und Fortschritt, zwischen den reaktiven und den aktiven Tendenzen, zwischen Krankheit und Gesundheit, Dekadenz und Vitalität steht. Die an sich als schädigende, der Lebensentfaltung feindlich geltende Tendenz trägt im Endeffekt zu Bereicherung und Steigerung der an sich als Positivum geltenden Tendenz bei, indem sie in ihren Dienst gestellt wird, d. h. Krankheit als Stimulans der Gesundheit verwertet wird, Reaktion in den Dienst am Fortschritt verwandelt wird, die sublimierte Rachsucht, die allerdings in der Erkenntnis und im selbstquälerischen Hang zur Gerechtigkeit weiterwirkt, am Ende unter die Dominanz der positiven Vitalität gezwungen wird. Die falsche, rachsüchtige, Leben verneinende Pseudogerechtigkeit unterscheidet sich also in Wahrheit von der vitalen, echten, lebensgerechten Gerechtigkeit nicht wie reines Gift von reinem Tonicum, sondern wie eine Mischung, in der die sdiädigenden Ingredienzien überwiegen von einer, in der unter Zuhilfenahme von ,Gift' das Heilmittel, das Antitoxin zusammengebraut worden ist. Und in ebendiesem Sinne sagt Nietzsche (gegen Dühring?): „Seine Seele jauchzt im Verborgenen darob, daß Rache 117

rung', op. cit., Band 3, S. 31. Siehe oben, Seite 335.

V. Gereditigkeit

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nodi in aller Gereditigkeit geübt wird: und die meine darob, daß noch in aller Rache ein Funken vom Amboß der Gereditigkeit abspringt" (83, 204). Wenn aber so die Frage nach dem Anteil der Radisucht und des Ressentiments an der — positiven — Gereditigkeit als lösbar erscheint, so gehört ihre Lösung doch wohl dem späteren Nietzsche an, nicht aber dem Autor von ΜΑ I, der zwar den Unterschied zwischen der rachsüchtigen, falschen, richtenden Gerechtigkeit und der höher sublimierten, nicht-richtenden, wahren Gerechtigkeit postuliert, aber im Großen und Ganzen noch nicht jenen wert-setzenden Vitalismus entwickelt hat, der die Rangordnungen bestimmt, sondern bei einem Ideal der Erkenntnis und Gereditigkeit innehält, das zwar dem Leben nicht feindlich sein, das Leben nicht richten will, aber losgelöst ist von allen Schätzungen und gewissermaßen in einem Vakuum sdiwebt. Der späte Nietzsche versucht, von der Verneinung der sidi selber aufhebenden Instanz, — e. g. Christentum, Moral, Anspruch auf reine Erkenntnis, — zu einer neuen, bejahenden, schöpferischen Perspektive zu gelangen. Zu diesem Versuch sind aber in MA nur Ansätze da, was übrigens für den, der gegen den späteren ,positiven' Entwurf Nietzsches seine Vorbehalte hat, mit zu dem Reiz dieses Werks gehören dürfte. Und damit ist nun auch das letzte Problem gegeben, auf das ich eingehen will, um, nadidem ich hier die Linien, die von dem 26. Aphorismus zu späteren Gedankenentwicklungen führen, ausführlich verfolgt habe, die Perspektive wieder auf den Horizont des 1. Hauptstücks zu beschränken: Gibt es Gerechtigkeit überhaupt? Ist — für Nietzsche — Gereditigkeit möglich? Gewiß: in der sich selbst deifizierenden schöpferischen Willkür des späten Nietzsche, — der selbstverständlich die Fiktion einer Gerechtigkeit ,an sich' als unsinnig verwirft (76, 308), — dürfte oder sollte auch das keine Frage, kein Problem sein, obschon mir scheint, als ob dennoch auch für ihn, so laut er sich auf seine- Werte setzende, gesetzgeberische Eigenmächtigkeit beruft, diese Frage und mit ihr die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis bestehen bleibt: — „Jedem das Seine geben: das wäre die Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen" (83, 204). „,Gerechtigkeit, Mäßigung': in Wahrheit sind es Utopien" (82, 339). — Für den skeptischen Freigeist von MA aber ist kaum eine Frage dringlicher und unlösbarer118. Zwar unter Voraussetzung einer Entwicklung zur wissenschaftlichen Kultur hin, sind Schätzungen, ist Gerechtigkeit im Sinne dieser Schätzungen ebenso möglich wie der Fortschritt im Sinne dieser Schätzungen möglich ist. Jedoch, — so fragt der, wenn man will, noch naivere, in Nachwirkungen der Gläubigkeit befangene Autor von MA, — stehen nicht am Ende auch diese Schätzungen nur im Zeichen von Fiktionen? Das Bekenntnis zu der Perspektive des Zeitalters der Vergleichung ist für den Freigeist von MA auch nur eine Tentative, ein Sich-Abfinden angesichts der Unerkennbarkeit des An-sidi, der Unerreichbarkeit des Ideals der reinen Erkenntnis, in deren Dienst dieser immer noch vom Hunger 118

Siehe oben, Seite 345 f.

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Studie zum 26. Aphorismus

nach dem Absoluten Geplagte sich abmüht. Und erweist sich nicht ebenso wie das Streben nach reiner Erkenntnis audi das Streben nach Gerechtigkeit als Hang zu einer Chimäre? Wie sollte es, da es keine ewige Gerechtigkeit gibt (ΜA I, 66) und die Menschheit im Ganzen keine Ziele hat (46), im Leben gerecht zugehen? Wie sollte es uns, die wir „von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen" sind, (45) möglich sein, gerecht zu werden? Mit diesen, den letzten Abschnitt des 1. Hauptstüdks beherrschenden Fragen, die der Freigeist nicht mehr als Protagonist seiner Epoche, sondern gewissermaßen im Dialog mit sich allein stellt, werden die historischen Perspektiven und das Zukunftspathos relativiert, ja fast wieder zurückgenommen, so daß auch in dieser Hinsicht der 26. Aphorismus wie die ,Aufklärungsaphorismen' überhaupt einen skizzenhaften Charakter annehmen: — so als werde hier dem Freigeist eine mögliche und angemessene Rolle vorgesdilagen, gewissermaßen ein Engagement in einem — durchaus zu bejahenden — historischen Theaterstück, das aber in Hinblick auf die ungelösten ,ersten und letzten Dinge' nach denen zu fragen der Freigeist von MA trotz aller antimetaphysischer Gesinnung am Ende doch genötigt ist, auch nur eine provisorische Veranstaltung darstellt, obschon es vermutlich kein menschlich-allzumenschliches Rollenspiel gibt, das weniger provisorisch wäre.

APHORISMUS 27

Ersatz der Religion. — Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt. In der Tat bedarf es in der geistigen Ökonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Übergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer gefährlicher Sprung, etwas, das zu widerraten ist. Insofern hat man mit jener Anempfehlung recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, daß die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man schwächen und ausrotten. Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennot, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil, — alles Vorstellungen, welche nur aus Irrtümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nützen, daß sie jene Bedürfnisse auch befriedigt oder daß sie dieselben beseitigt; denn es sind angelernte, zeitlich begrenzte Bedürfnisse, welche auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen. Hier ist, um einen Übergang zu machen, die Kunst viel eher zu benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüt zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen.

Wir erinnern zunächst an einige, für die Position des 27. Aphorismus relevante Gedankenlinien: Der im 1. Hauptstück empfohlene Fortschritt steht unter der Dominanz des Bewußtseins als historisch-kritische Einsicht in die Irrtümer der Menschheit, als Gerechtigkeit gegen die Förderungen und die bleibenden Werte, welche die Menschheit diesen verdankt, sowie als Einsicht in die Bedürfnisse der Menschn und die Bedingungen der Kultur (39). Der durch „rückläufige Bewegung" (Apho 20) zu leistende Anteil an den archaischen Empfindungs- und Betrachtungsweisen soll nicht deren Erledigung ausschließen, vielmehr durch Bewußtmachung und kritische Besinnung ihre Aufhebung', d. h. ihre Verwertung in gewandelter, sublimierter Form und in verändertem (wissenschaftlichem) Kontext, aber auch die Aussdieidung ihrer, im Sinne des Neuen nicht mehr haltbaren, unnützen Elemente ermöglichen. Diese kritische Erhellung und dieses, ins Licht des Bewußtseins gehobene,

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Aphorismus 27

gewissermaßen experimentierende Wiederholen und Wieder-Erleben archaischer (regressiver) Inhalte und Formen ist, obschon viel umfassender konzipiert, analog dem sokratischen Schema, das später im Rahmen der Psychoanalyse als Therapie mittels Selbstergründung angestrebt wurde. Der 26. Aphorismus behandelte den regressiven Aspekt des möglichen Fortschritts, nämlich den Rückschritt als Dienst am Fortschritt. Nun wird ein weiterer Aspekt ebendieses Fortschritts erörtert: das „Schwächen" und „Ausrotten" der bisher durch Religion befriedigten Bedürfnisse (41), im besonderen des verkappt religiösen, metaphysischen Bedürfnisses. Wir hörten im 26. Aphorismus, daß Schopenhauer eine „vergangene Phase" (39) heraufbeschwörte; der Wert jener Auferstehung aber nicht daran lag, daß sich die modernen Menschen zu christlichen Archaismen bekehrten, sondern im Gegenteil dazu befähigt wurden, dem Christentum und seinen asiatischen Verwandten eine erledigende „Gerechtigkeit" widerfahren zu lassen. Diese „Beihilfe" aber, die Schopenhauer zu leisten vermochte, hätte von dem Boden des zwar „noch vorhandenen", aber hoffnungslos geschwächten Christentums aus nicht geleistet werden können. Die Erklärung dafür liegt in dem Satz: „Viel Wissenschaft klingt in . . [Schopenhauers] Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte .metaphysische Bedürfnis'" (40). Denn indem Schopenhauer an das moderne wissenschaftliche Element anknüpfte, ja es teilweise in seine Lehre aufnahm, gelang ihm, was dem verkümmerten Rest von bloßem Christentum nicht gelingen konnte: nämlich eine Brücke zu den archaischen Empfindungs- und Anschauungsweisen zu schlagen, die den Menschen des Übergangszeitalters, — des Zeitalters der „Vergleichung", der Koexistenz „verschiedener Weltbetrachtungen, Sitten, Kulturen" (36 f.), — noch gangbar war. In Fortsetzung der Polemik gegen Schopenhauer beschäftigt sich nun der 27. Aphorismus mit solchen Übergangsgebilden, zumal mit der metaphysischen Philosophie als „Ersatz der Religion" und mit deren endlicher Auflösung. Zunächst verlangt die geforderte rückläufige Bewegung die Anerkennung der historischen und psychologischen Berechtigung solcher „überleitenden Gedankenkreise". Der „Sprung" aus der Religion in die Wissenschaft ist zu gewaltsam und zu gefährlich, weshalb sich einer metaphysischen Philosophie als einem Mischgebilde, das dazu dient, die früher von der Religion gestillten Bedürfnisse zu befriedigen, doch noch „etwas Gutes" (40) nachsagen läßt. Damit sind wir offenbar bei dem Grundgedanken, aus dem sich der Aphorismus entwickelt hat. Die erste in IV 2 überlieferte Fassung (Ende 1876 — Sommer 1877) lautet: „Aus einem metaphysisched Zeitalter in ein realistisches [ + ] ist ein tödtlicher S Ubergänge [ + ]" (/V 2, 473 (21 [74]) 1 . In Anbetracht von Nietzsches terminologischer Sorglosigkeit, — oder seiner Tendenz, die Termini selbst dem Fluß der 1

Das Zeichen + bedeutet Lücke im Manuskript; die spitze Klammer: Ergänzung des Herausgebers.

Kommentar

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Entwicklung gemäß zu verwenden und ebendarum in Schwebe zu halten, — ist hier unter dem „metaphysischen Zeitalter" auch das religiöse zu verstehen; indessen eine mit Wissenschaft amalgamierte Metaphysik ebenso wie die Kunst zu den „Übergängen" gehört oder gehören kann, die in das realistische, bzw. von der Wissenschaft beherrschte Zeitalter führen sollen. Eine spätere Notiz (Frühling—Sommer 1877) faßt nun innerhalb der Reihe Religion — philosophische Metaphysik — Kunst — Realistik und Wissenschaft die Mittelglieder ins Auge: „Übergang von Religion zu Kunst mit .unreinem Denken', .unlogische Stellung zur Welt' [e. g. vermittels einer Metaphysik, wie Schopenhauer sie lieferte]. Dann der Richter*. Palliative. Erleichterungsmittel des Lebens, Kunst usw." (IV 2, 480). Daß aber die Kunst nicht die letzte Stufe bezeichnet, ist audi durch die folgende Notiz zu belegen: „Moral Religion Kunst Zuletzt? Weise werden" (IV 2, 480). Und auch in früheren Notizen (Oktober—Dezember 1876) wird die Unzulänglichkeit der Kunst als Endziel auf dem Wege der geistigen Befreiung betont: „Als Ersatz der Religion kann die Kunst nicht gelten: denn für den, welcher vollendet hat, ist sie überflüssig, für den, welcher im Kampf ist, kein Ersatz der Religion. — Vielleicht ist ihre Stellung so, wie sie Mainländer nimmt, eine Beihülfe der Erkenntniß, sie läßt den Frieden und den großen Erfolg der Erkenntnis von ferne wie blaue Berge sehen. Ersatz der Religion ist nidit die Kunst, sondern die Erkenntnis" (IV 2, 450). Wir erinnern uns: Schon in den Notizen zu dem Wagner-Essay taucht, — halb verhüllt, — die Vorstellung von dem stärksten freiesten Geist auf, der als Erkennender und Weiser das Erbe Wagners, des Dichters am Schluß aller Religion (IV 1, 280) antritt und dem wohl ein Zustand in dem wir weder Religion noch Kunst bedürften, entspräche, obschon von ebendiesem Zustand der Weisheit damals — im Sommer 1875 — bloß angedeutet wird, er sei zwar „vielleicht keine Unmöglichkeit, aber wir können ihn uns noch nicht einmal imaginieren", weshalb uns „im Zeitalter der untergehenden Religionen" eine Periode der Kunst so nötig sei wie nie zuvor (IV 1, 282 f.). *

*

*

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Rolle der „überleitenden Gedankenkreise" in der hier erörterten „geistigen Ökonomie" (40): „Wir haben uns freigemacht von vielen Vorstellungen — Gott, ewiges Leben vergeltende jenseitige und diesseitige Gerechtigkeit, Sünde Erlöser Erlösungsbedürftigkeit — ; eine Art vorübergehender Krankheit verlangt einen Ersatz an die leeren Stellen hin, die Haut schaudert etwas vor Frost, weil sie früher hier bekleidet war. D a giebt es Philosophien,

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Aphorismus 27

welche gleichsam Übergangsclimata darstellen, für die, welche die frische Höhenluft noch nicht direct vertragen. — Vergleiche, wie die griechischen Philosophensekten als Ubergangsklimata dienen: die alte Polis und deren Bildung wirkt noch in ihnen nach: wozu soll aber übergegangen werden? — es ist wohl nicht gefunden. Oder war es der Sophist, der volle Freigeist?" (IV 2, 538). Hier klingt nun die — vorläufige — Antwort Nietzsches an, die der 27. Aphorismus nur deutlicher ausspricht: Die Menschen haben sich im Verlauf ihrer geistigen Emanzipation von religiös-metaphysischen Bedürfnissen freigemacht. Es hat sich erwiesen, daß diese Bedürfnisse „nicht unwandelbar", sondern angelernt und zeitlich begrenzt sind, daß sie sich „schwächen" und sogar „ausrotten" lassen; daß sie allesamt — wie etwa „die christliche Seelennot, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil" (41), ja wie das „verdummende Zwischenspiel des Christenthums" (IV 1, 284) überhaupt, — „nur aus Irrtümern der Vernunft herrühren" und „auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen" (41). Zudem entspricht der zunehmenden Zivilisierung und Sicherung der physischen Lebensbedingungen, — wie sie Nietzsches Zeitalter der bürgerlichen Sekurität auszeichnete, — die zunehmende Gleichgültigkeit gegen erste und letzte Dinge. Denn „bei einem weniger gewaltsamen Charakter des socialen Lebens verlieren die letzten Entscheidungen (über sogenannte ewige Fragen) ihre Wichtigkeit. Man bedenke, wie selten schon jetzt ein Mensch mit ihnen zu thun hat" (IV 3, 437). Was folgt daraus? Offenbar, daß man, nachdem man die temporäre Notwendigkeit und Nützlichkeit der überleitenden Gedankenkreise eingesehen hat, „endlich" (41) auch zu der umgekehrten Einsicht in ihrer Entbehrlichkeit kommen soll. Für den, der auf einer höheren Stufe der Emanzipation angelangt ist, gilt also, daß man einer Philosophie, welche die metaphysischen Bedürfnisse befriedigt, statt sie zu beseitigen (41), durchaus nichts Gutes nachsagt, wenn man, „wie Ph. Mainländer es von Schopenhauers Philosophie thut" (/V 4, 173), „sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt" (40). Religiöse Phantastik und wissenschaftliche Erkenntnis haben am Ende nichts miteinander zu schaffen. Wenn eine Philosophie sich dazu eignet, die ehedem von religiöser Phantastik erregten und gestillten Bedürfnisse zu befriedigen, so dürfte diese Tatsache wohl gar als Indiz gegen den Erkenntniswert dieser Philosophie gelten2. Denn indem sie an überalteter Gewöhnung haftet, hindert eine solche Philosophie den nunmehr möglichen weiteren Fortschritt von der religiösen zur wissenschaftlichen Phase. Der 27. Aphorismus setzt also die Auseinandersetzung mit Schopenhauer auch insofern fort, als er sich gegen dessen Auffassung des metaphysischen Bedürfnisses als ewig menschliche Gegebenheit wendet. Nietzsches Ansicht stellt sich als eine polemische Umkehrung der Schopenhauerschen Lehre dar. „Das metaphysische Bedürfnis", so lautet ein späterer Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, „ist nicht der 2

Vgl. dazu audi Apho 10; IV 2, 535 (23 [99]); ΜA 1,101 ff.

Kommentar

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Ursprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschößling derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung einer .anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt' gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung des religiösen Wahns eine unbehagliche Leere und Entbehrung — und nun wächst aus diesem Gefühl wieder eine ,andere Welt' heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nidit mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer ,anderen Welt* überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfnis, sondern ein Irrtum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellekts" (74, 154 f.). Und ebendarum weil der metaphysische Irrtum nicht aus einem Bedürfnis hervorgeht, sondern vielmehr umgekehrt das metaphysische Bedürfnis auf dem metaphysischen Irrtum aufgebaut ist, läßt sich dieses Bedürfnis audi zunichte machen. ζ * * Immerhin: die Menschen des Zeitalters der Vergleidiung bedürfen noch mancher Stützen und Brücken. Nach Ansicht des Freigeists von MA nimmt auf der, f ü r die gegenwärtige Epoche entworfenen Stufenleiter der künstlerische Mensch die eigentliche Mitte zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Menschen ein (IV 2, 552 (23 [145])). Das bedeutet nicht, daß die Kunst notwendig der Erkenntnis näher steht als die Metaphysik oder die Religion. Vielmehr hätte eine unbestochene Ästhetik den „großen Werth des unreinen Denkens" f ü r die Kunst sowie die Verschleierung der Realitäten durch die künstlerisch wirksamen Mittel (e. g. durch das Metrum oder durch eine auf den Effekt bedachte, distanzierende, selektive Perspektive) zu betonen (vgl. IV 2, 592 (17 [1]). Und ferner, um hier nur kurz in Erinnerung zu bringen, was anderwärts ausführlich besprochen wurde 3 : Die „Kunst conservirt, verknüpft frühere und jetzige Anschauungen", sie übernimmt die durch die Religion erhöhten Gefühle (7V 2, 571 f.; ΜΑ I, 138) und gerade um den Wahrheitssinn, die Wahrhaftigkeit des Künstlers ist es bei all dem schlecht bestellt 1 . Warum ist dennoch Kunst geeigneter, „einen Übergang zu machen", als die metaphysische Philosophie? Die Kunst vermag emotionale Bedürfnisse zu befriedigen — „das mit Empfindungen überladne Gemüt" zu erleichtern, — während sie doch viel weniger als die metaphysische Philosophie die falschen „Vorstellungen" unterhält (41) 5 , und dies wohl auch deshalb, weil die Kunst als Spiel mit Fiktionen wirkt und keinen Anspruch auf strenge Erkenntnis erhebt. 3 4

5

Vgl. die Studie zum 3. Aphorismus, sowie den Kommentar zu Aphorismus 13. Vgl. die für den gegenwärtigen Zusammenhang relevanten Ausführungen des 4. Hauptstücks in Hinblick auf Kunst und Wahrheit (ΜΑ I, 135 f.); Kunst als Totenbeschwörerin, Brücke zu fernen Zeiten oder abgestorbenen Religionen und Kulturen (ΜΑ I, 136 f.); als Macht, welche die metaphysische Saite zum Miterklingen bringt (ΜΑ I, 139); sowie als eine — allerdings nur momentane, palliativische — Erleichterung des Lebens (MA 7,137). Hier wird wieder die zu Anfang der Reihe eingeführte Zweiteilung in „Vorstellungen" und „Empfindungen" (16) hervorgehoben. Mit diesen, i. e. der Geschichte der moralischen Empfindungen, befaßt sich das 2. Hauptstück. Hingegen polemisiert das 1. Haupt-

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Aphorismus 27 Vergleicht m a n die frühere Fassung des 27. Aphorismus mit der endgültigen, so

ergibt sich zunächst, d a ß Nietzsche erst bei der Ü b e r a r b e i t u n g die Überlegenheit der K u n s t als „überleitendes Mittel" ( I V 4, 173) m i t aller Deutlichkeit hervorhebt, indem er nun sagt, d a ß sie „viel eher" (41) als die metaphysische Philosophie zu diesem Zweck zu gebraudien sei. Bedeutender aber u n d noch entschiedener im Sinne des Freigeists w i r k t die Pointe, die an Stelle des f r ü h e r e n Abschlusses des Aphorismus tritt. Die frühere Fassung Schloß mit d e m S a t z : „ U n d ü b e r h a u p t , u m ein Goethisches Wort, mit kleiner Veränderung, a n z u w e n d e n : ,wer Wissenschaft u n d K u n s t besitzt, der braucht nicht R e l i g i o n ' " ( / V 4,173).

D a s ist n u n seinerseits schon eine freigeistige

,Ver-eindeutigung' von Goethes ,zahmem' X e n i o n : „ W e r Wissenschaft u n d K u n s t besitzt, / H a t auch Religion; / Wer jene beiden nicht besitzt, / D e r h a b e Religion" (Zahme

Xenien

I X ) . D e n n die, w o h l a u d i zu Nietzsdies Zeit geläufige D e u t u n g

dieser Verse versichert dem Leser, d a ß G o e t h e n u r meinte, die „religiöse Gesinnung, d. h. ruhige Verehrung des Unerforsdilichen u n d des S c h ö n e n . . [sei] eine n o t wendige Folge eines der Wissenschaft u n d der K u n s t ernst gewidmeten Lebens; [hingegen] wer ohne den G e n u ß dieser G ü t e r . . , [dahinlebe], seinen T r o s t in der t r a d i tionellen Religion suchen" müsse*. Jedoch, w e n n das so ist, d a n n wollte Nietzsche die „kleine V e r ä n d e r u n g " wohl auch b e w u ß t als ironische Spitze gegen Goethe verstanden wissen. I m m e r mehr h a t Nietzsche ja a n Goethes Religiosität u n d Gottesglauben als einem „Dichter-Erschleidinis" (77, 485) A n s t o ß genommen. I m m e r wieder polemisierte er ja ebendarum auch gegen Goethes Faust. D e n n Goethes K o n z e p t der faustischen Rebellion w i r d im Gegensatz zu der nach Nietzsdies Auffassung überlegenen Konzeption von Byrons Manfred

d u r d i eine quasi theologische, meta-

physische, religiöse Pseudo-Harmonisierung entschärft. U n d es ist w o h l ebendiese, durch Respekt v o r Konvenienz u n d K o n v e n t i o n , d u r d i konziliante H a l b h e i t , Scheu v o r tragischer Konsequenz, Befangenheit in christlichen Velleitäten beeinträchtigte, ja am Ende halb verleugnete Goethesdie Freigeisterei, die Nietzsche zu denken gibt, w e n n er 1877 als eine Gedankenreihe n o t i e r t : „ W e r Religion u n d K u n s t — Goethe

M a n f r e d : Eckermann R i e m e r — " (ZV 2, 484 (22 [54]) 7 .

Nochmals: es ist k a u m zu bezweifeln, d a ß die etwas gewaltsame K o r r e k t u r v o n Goethes Xenion, — jenes „der braucht nicht Religion", — f ü r Nietzsche eine Wen-

β

7

stück, — wie audi der 27. Aphorismus, — aufgrund einer historisierenden Betrachtungsweise vornehmlich gegen die metaphysischen Vorstellungen von ersten und letzten Dingen. So bleibt es bei dem bloßen Hinweis darauf, daß die Kunst die Aufgabe übernehmen könnte, das Gemüt von der Überlast archaischer „Empfindungen" (41) einigermaßen zu befreien, was später, e. g. durch die qualifizierte Anerkennung der kathartisdien Wirkung (AM /, 167 f.), illustriert wird (vgl. audi MA I, 137). So Eduard von der Hellen in Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 4, S. 308. Ähnlich audi Trunz: „Ebenso [wie die Wissensckafi] ist die Kunst für . . [Goethe] ein religiöser Weg. Darum hat derjenige, welcher Wissenschafi und Kunst besitzt, eine Beziehung zum Göttlichen" (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, Seite 680). Vgl. zu diesem Thema die Studie zum 34. Aphorismus, unten S. 469.

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dung gegen Goethe oder vielmehr über Goethes,Halbheit' hinaus bedeutet. Und dennoch genügt nun auch diese Wendung dem konsequenten Freigeist nicht, da sie noch den Anschein bestehen läßt, als seien Kunst und Wissenschaft gleichermaßen und im gleichen Rang als wahrer Ersatz der Religion (40) zu werten, während er doch darauf bestehen will, daß nicht nur alle Religion entbehrlich sei, sondern daß in der gegenwärtigen Phase audi die Kunst der Wissenschaft subordiniert werden muß. In dem Abschluß der letzten Fassung wird die Spur des eigenen, in Wahrheit weiter fortbestehenden Konflikts getilgt. Insofern der 27. Aphorismus zunächst die metaphysische Philosophie als überleitenden Gedankenkreis würdigt oder doch zu würdigen scheint, dann aber nidit den Nutzen, sondern den Nachteil einer solchen Philosophie f ü r eben jenen Zweck der Überleitung zwischen den Gegensätzen betont, tritt die Umkehrstruktur des Prosastücks offen zutage. Aber auch die Kunst soll vom Standpunkt dessen, der um der Erkenntnis willen lebt, bloß als Übergangsphänomen — quasi als harmloseres Mischgebilde — gewertet werden. „Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen" {ΜΑ I, 181). Und gerade weil diese Umkehrung seines eigenen früheren Glaubens Nietzsche so schwer fällt, mag er es vorgezogen haben, unter Vermeidung jeden Anscheins einer inneren Anstrengung, — jeder pathetischen, ironischen oder dialektischen Emphase, — das, was ihm als Härte, ja als Selbstopfer und als eine bittere, gegen ihn selbst gerichtete Spitze imponierte, zunächst so auszusprechen als sei es bloß eine Feststellung, die sich, ohne Aufhebens, fast von selber versteht: „Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen" (41). Ist damit aber die Frage nach dem, was die Religion ersetzen oder vielmehr ablösen soll, durch eine formale Antwort erledigt, so erhebt sich nun umso dringlicher die Frage danach, worin die „wirklich befreiende" Perspektive dieser philosophischen Wissenschaft besteht. U n d ebendiese, lange hintangehaltene Frage, die nun keinen weiteren Aufschub mehr gestatten will, beherrscht den letzten Abschnitt und Akt des 1. Hauptstücks, der mit dem 28. Aphorismus anhebt. Dabei sollte sich freilich von selbst verstehen, daß eine derartige Einteilung in ,Akte* nicht pedantisch genau zu nehmen ist. Wir geben vielmehr gerne zu, daß der folgende 28. Abschnitt sich ebensogut als Endpunkt der Aufklärungsaphorismen auffassen ließe (vgl. Vorwort, Seite X X I X ) , wie man ihn anderseits an den Anfang der Krisis des Freigeists stellen kann. Denn eines f ü h r t eben zum anderen; und aus der .positiven' Ideologie des Freigeists ergibt sich die Konfrontation mit dem eigenen Zweifel und der eigenen geistigen N o t .

ΠΙ. DIE N O T DES ERKENNENDEN

APHORISMUS 28

VerrufeneWorte. — Weg mit den bis zum Überdruß verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlaß, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tage mehr: nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nötig. Denn weshalb in aller Welt sollte jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu verteidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben muß, falls er selber das Gute und Vollkommene ist, — welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nötig? — Es fehlt aber auch jeder Anlaß zu einem pessimistischen Glaubensbekenntnis, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advokaten Gottes, den Theologen oder den theologisierenden Philosophen, ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung kräftig aufzustellen: daß das Böse regiere, daß die Unlust größer sei als die Lust, daß die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen — außer den Theologen? — Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, daß die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und daß diese Begriffe „gut" und „böse" nur in bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen.

Die „wirklich befreiende" (41) Perspektive der philosophischen Wissenschaft soll leisten, was schon Apho 1 von der genetischen Analyse der Vorstellungen und Empfindungen forderte: Befreiung von den „Gegensätzen" und deren Auflösung (15); und zwar insbesondere von den Gegensätzen der pessimistischen und der optimistischen, der „schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung" (42). Bezüglich der Umkehr-Strukturen ergibt sich: Optimismus und Pessimismus scheinen im Verhältnis der Umkehr zueinander zu stehen; stellen aber in Wahrheit nur antithetische Spiegelungen oder polare Phasen innerhalb der Sphäre archaischer Illusion dar, — obschon oder gerade weil die pessimistische Metaphysik (i. e. Schopenhauers) als Gegensatz zur Theologie auftritt und doch der „Ersatz der Religion" sein will (vgl. Apho. 27). Als Gegensatz zu beiden Gegensätzen, als wahre Umkehr, gilt hingegen die philosophisch-wissenschaftliche Unparteilichkeit, welche die beider-

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Aphorismus 28

seitige Befangenheit überwindet, mithin ein Weder-Noch, eine Indifferenz, von der sich freilich immer noch, wie am Anfang der Reihe fragen ließe, ob man nicht „entmenscht" sein müßte (16), um sie zu verwirklichen. Das Grundmotiv des Aphorismus deutet die Vorstufe (IV 2, 472 (21 [70]) an: „Opt Pess nichts [ — ] " . Der Optimismus empfahl sich einst als Mittel, „um einen Gott zu verteidigen, welcher die beste der Welten geschaffen haben muß, falls er selber das Gute und Vollkommene ist" (41), e. g. als Leibniz'sche Theodicee. Jedoch ist dieses Motiv hinfällig geworden. Im Druckmanuskript hieß es: Welcher Denkende „glaubt aber an einen Gott"? (IV 4, 173). Dem Stil der Wissenschaft gemäßer ist die Formulierung „Gott" sei „ganz überflüssig" (IV1,164); i. e. eine unnütze Hypothese. Und es versteht sich, daß diese gegen „Theologen" und „theologisierende Philosophen" (42) ausgesprochene Meinung sich ebenso gegen alle richtet, die, — statt eines persönlichen Gottes, — dem Universum ein schlechthin gutes, vollkommenes, allmächtiges metaphysisches Prinzip zugrundelegen. Der „Anlaß zu einem pessimistischen Glaubensbekenntnis" aber, behauptet Nietzsche, sei nur f ü r diejenigen gegeben, die ein Interesse daran haben, „den Advokaten Gottes" „ärgerlich zu werden" und darum als „Gegenbehauptung" ein metaphysisch-böses Prinzip postulieren. Parallel zu der im vorhergehenden Abschnitt erhobenen rhetorischen Frage: „welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nötig?", heißt es hier nun: „Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen — außer den Theologen?" (41 f.). Und das besagt zugleich, daß auch die Antitheologie des metaphysischen Pessimismus nur eine verkappte Sorte von Theologie ist und daher, wie alle Theologie, der zu überwindenden Stufe der Irrtümer angehört. *

*

*

Soweit scheint der Aphorismus unproblematisch. Dennoch melden sich Bedenken. Die hier gegebene Ableitung der pessimistischen Metaphysik ist nicht die einzige, die Nietzsche in der Periode von MA in Erwägung zieht. Eine Notiz vom September '76 lautet: „Es giebt viel mehr Behagen als Unbehagen, in der Welt. Practisch ist der Optimismus in der Herrschaft; — der theoretische Pessimismus entsteht aus der Betrachtung: wie schlecht und absurd der Grund unseres Behagens ist; er wundert sich über die geringe Besonnenheit und Vernunft in diesem Behagen; er würde das fortwährende Unbehagen begreiflich finden" ( / V 2, 414). Wenn das aber so ist, dann bedürfte es, — selbst wenn bloß der intellektuelle „Anlaß zu einem pessimistischen Glaubensbekenntnis" (41) in Frage stünde, — kaum noch des besonderen antitheologischen Motivs, das der 28. Aphorismus hervorhebt. Was ferner die pessimistische Stimmung angeht, so macht Nietzsche ab Μ Α f ü r diese gerne physiologische Faktoren verantwortlich: Der Pessimismus ist uns von ehemaligen Hungerleidern her vererbt worden (ΜΑ II, 259); ist Nachwirkung eines großen Diätfehlers (74, 145). Und endlich erinnern wir uns, daß es bei dem späteren Nietzsche Versuche gibt, die pessimistischen Phänomene aus dem Zusam-

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menwirken einer Reihe von Faktoren zu erklären. E. g.: „Ursachen für die Η eraufkunft des Pessimismus: 1. daß die mächtigsten und zukunftsvollsten Triebe des Lebens bisher verleumdet sind, so daß das Leben einen Fluch über sich hat; 2. daß die wachsende Tapferkeit und Redlichkeit und das kühnere Mißtrauen des Menschen die Unablösbarkeit dieser Instinkte vom Leben begreift und dem Leben sich entgegengewendet; 3. daß nur die Mittelmäßigsten, die jenen Konflikt gar nicht fühlen, gedeihen, die höhere Art mißrät und als Gebilde der Entartung gegen sich einnimmt, — daß, andrerseits, das Mittelmäßige, sich als Ziel und Sinn gebend, indigniert (daß niemand ein Wozu? mehr beantworten kann —); 4. daß die Verkleinerung, die Schmerzfähigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig zunimmt, — daß die Vergegenwärtigung dieses ganzen Treibens, der sogenannten „Zivilisation", immer leichter wird, daß der einzelne angesichts dieser ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft." Und ferner: „Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, — nicht der Welt und des Daseins." (78, 27; vgl. zur Analyse der Ursachen des Pessimismus audi 83, 295). Bei einem Vergleich mit derartigen Auseinandersetzungen, fällt einem nun an dem 28. Aphorismus die provokatorische Nonchalance, die Attitüde des Leichtnehmens im Abtun von Alternativen auf, mit denen Nietzsche selbst sich doch offenbar immer wieder auseinandersetzen mußte. Beschäftigt die Frage nach Lebensbejahung und -Verneinung ihn nicht in allen Phasen seines Denkens? Man denke an die Rolle, welche die Polemik gegen den sokratischen Optimismus der Logik und Wissenschaft in der GdT spielt. Zwar eine optimistische Theodicee oder Metaphysik kommt für den frühen Nietzsche nicht in Frage. Und auch wenn der späte Nietzsche eine heroische Lebensbejahung fordert, glaubt er kein metaphysisch ,gutes' Prinzip, kein An-sidi der besten Welt gelten lassen zu müssen. Der Pessimismus aber ist nicht nur im Frühwerk, — da Nietzsche sich selbst zu einer pessimistischen Metaphysik bekennt, — sondern auch nach MA, — etwa in der Fröhlichen Wissenschaft, — ein Hauptthema Nietzsches. Und dies gilt, — dem späteren Nietzsche zufolge, — am Ende auch für MA, dessen freigeistiger Protagonist sich in Wahrheit nicht dadurch auszeichnet, daß er dem Pessimismus keine Beachtung schenkt, sondern vielmehr durch den Versuch, den eigenen Hang zum Pessimismus durch Empfehlung der Indifferenz zu überwinden. Die späte Vorrede zu ΜΑ I spricht von der Phase der ,Rekonvaleszenz*, in der dieses Werk entstand als eine der „gründlichen Kur gegen allen Pessimismus" (ΜΑ I, 9 f.). Und wenn die gleichfalls retrospektive Vorrede zu ΜΑ II diesem Pauschalurteil widerspricht, stellt sie doch nur die Revision und Differenzierung der gleichen Diagnose dar, und zwar durch die Unterscheidung zwischen dem — abzulehnenden, aber auch der ausführlichen Würdigung und Polemik werten — romantischen Pessimismus und dem — zu bejahenden — dionysischen Pessimismus der Stärke, zu welchem er, Nietzsche, in jener Epoche allerdings noch nicht fähig gewesen sei (MAII, 11; vgl. 74, 286 f.). Gewiß kommt auch hier der Pessimismus als metaphysische Weltanschauung, als Aus-

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Aphorismus 28

sage über eine Beschaffenheit der Welt an sich, nicht in Betracht; wohl aber geht es darum, ein schöpferisches Verhältnis zum Dasein zu gewinnen, das einer Überwindung der pessimistischen Haltung und einer „verherrlichenden Weltbetrachtung" gleichkommt, wie sie in unserem Aphorismus (42) als Optimismus abgelehnt wird. Man könnte freilich einwenden, daß derlei Bedenken nur dazu geeignet seien, Nietzsches sehr einfache Position im 28. Aphorismus zu verunklären. Denn hier wolle Nietzsche eben bloß die Überlegenheit des Freigeists kennzeichnen, der in keine metaphysische Falle mehr geht. Hier wolle er nur seine Ablehnung jeglicher Metaphysik durdi die Ablehnung ihrer so beliebten optimistischen oder pessimistischen Varianten illustrieren, wobei nur die Berechtigung beider Alternativen als intellektuelle, theoretische Positionen in Frage stünde — und bestritten werde, weil beiden Alternativen ein unreines Denken entspricht. Dennoch scheint mir, daß Nietzsche, wenn er nur dies hätte sagen wollen, sich die selbstverständliche Deduktion von der Irrtümlichkeit aller Metaphysik auf die Irrtümlichkeit spezifischer Metaphysiken hätte ersparen können und jedenfalls auf die menschlich-allzumenschlichen Motive der metaphysischen Optimisten und Pessimisten nicht hätte einzugehen brauchen. Auch hier, im 28. Aphorismus, bekämpft Nietzsche ja nicht bloße Theoreme; audi hier, — wie in den zwei vorhergehenden und den folgenden Aphorismen, — setzt Nietzsche sich mit Schopenhauer auseinander, wie denn Überwindung der Metaphysik für den Autor von MA vor allem Selbstbefreiung von dessen Lehre bedeutet, „daß das Böse regiere, daß die Unlust größer sei als die Lust, daß die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei" (42). Und wenn Nietzsche indirekt zu verstehen gibt, daß auch er der Lehre Schopenhauers einst anhing, um „den Advokaten Gottes . . ärgerlich zu werden" (41 f.), so liegt die Vermutung nahe, daß der 28. Aphorismus vor allem der Absicht Nietzsches dient, sein eigenes früheres Credo mit einer provokatorisch-ironischen Geste abzufertigen. Audi diese Auskunft wird aber nur einem Aspekt der hier berührten Problematik gerecht. Denn einerseits mag, ganz abgesehen von aller provokatorischen Absicht, die Selbstanalyse des Pastorensohns, — seine psychologische Einsicht in die eigene, noch unfreie antitheologische Rebellion seiner Jugendjahre, — durchaus richtig sein. Anderseits aber ist zu bezweifeln, ob die Polemik gegen diesen pessimistischen Antitheologismus wirklich dazu geeignet ist, jene Haltung zu bestätigen, die sie als selbstverständlich statuiert: nämlich die nunmehr erreichte vollendete Indifferenz gegen alle expliziten und verkappten Theologen. Dient nicht am Ende auch Nietzsches Attitüde der Gleichgültigkeit einem polemischen Interesse und Affekt? Will er den „Advokaten Gottes" nicht nur um so ärgerlicher werden, indem er behauptet, es sei längst nicht mehr der Mühe wert, sich auch nur um sie zu kümmern? Und scheint ihm selbst im Rückblick auf die Phase von MA nicht ebendies der Fall zu sein, da er sich ebenda, „theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes" (ΜA 1, 3) bezeichnet?

Kommentar

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Zwar könnte auch dieser scheinbare Selbstwiderspruch sidi rechtfertigen lassen. Der Freund von Overbeck, dessen Angriff auf die Christlichkeit der Theologie (1873) Nietzsche zu schätzen wußte1, war sich des Unterschieds zwischen Theologie und Glaube bewußt, und also darüber im Klaren, daß es etwas anderes ist, ob man gegen die Theologen, — die bloßen Advokaten Gottes, welche nur Verachtung verdienen mochten, — auftritt, oder gegen den Glauben selbst und dessen Inbegriff. Jedenfalls ist aber der im 28. Aphorismus enthaltene Hinweis darauf, daß das pessimistisdie Credo auf eine negative Abhängigkeit von der religiösen Sphäre zurückzuführen sei, nicht willkürlich, — wie es zunächst den Anschein haben mag, — sondern bezeichnet das in diesem Zusammenhang für Nietzsche zentrale Motiv. Als eine einigermaßen illusorische oder doch übereilte Geste erweist sich hingegen Nietzsches Anspruch auf die — ab MA so oft als fait accompli behandelte — totale Selbstbefreiung von der quasi-religiösen Anti-Religiosität, die ihm in Wahrheit nie vollends gelingt. Denn fast in einem Atem mit der freigeistigen Unabhängigkeitserklärung wird Nietzsche sich genötigt finden, nun auch in dem anti-religiösen, anti-metaphysischen, anti-pessimistisdien und anti-optimistischen Credo dieses nach Erkenntnis strebenden Freigeists das verkappt religiöse und moralisch-metaphysische Interesse aufzuspüren. Und endlich werden sich audi im Zuge dieser Selbstüberwindung des Freigeists — gerade in den späten und spätesten Phasen von Nietzsches Denken — die quasi-religiösen und metaphysischen Ansprüche wiederum durchzusetzen wissen. * s* Bedenken wir aber nun noch einmal, statt über den Text des 28. Aphorismus hinauszugehen, seinen Stellenwert, seine Funktion innerhalb des ersten Hauptstücks. Worum geht es in dem Finale dieser Aphorismenreihe? Um ein Problem, — vielmehr, um endlich der Wahrheit die Ehre zu geben — um das Dilemma, das Nietzsche zumindest von den 70er Jahren an bis zu seinem Zusammenbruch in allen Epochen seines Denkens und seiner Existenz zutiefst bewegt hat, nämlich um Wahl und Widerstreit zwischen Bejahung und Verneinung des Daseins. Mag Nietzsche die Frage auch verleugnen, immer wieder fragt es in ihm: Wie ist es möglich, das Dasein nicht zu verneinen, es zu rechtfertigen, es zu bejahen? Und angesichts dieser Frage mag ihm nun eine Stimmung als erstrebenswert gelten, die den Protagonisten aus der Bedrängnis durch die einander widerstreitenden Stimmen — durch den Kampf zwischen .schimpfenden' und .verherrlichenden* Quälgeistern — in den Frieden einer Indifferenz entläßt, welche zugleich der unbestochenen Erkenntnis am günstigsten ist. So kann der Freigeist, der sich ohne Mühe beider Arten der Weltbetrachtung entschlägt (42), als Ideal erscheinen. Zu dieser vertieften Auffassung des Problems Optimismus: Pessimismus bildet aber der 28. Aphorismus wohl nur das Vorspiel. Andernfalls ließe sich für den Autor von MA das Dilemma kaum so obenhin, mit der Geste scheinbarer Oberflächlichkeit und Unbekümmertheit er1

Vgl. Schlechta III, 1089, 1091 f., 1096; auch IV 1, 361.

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Aphorismus 28

ledigen lassen, als wäre es nur eines jener intellektuellen Scheinprobleme, denen man, etwa nach Art der Neopositivisten, kurzen Prozeß machen kann. In der Tat: der präludierende Charakter des Aphorismus wird bestätigt und gerechtfertigt durch die Tatsache, daß Nietzsche hier zunächst nur mit „verrufenen Worten" (41) zu tun haben will; sidi scheinbar nur gegen klidiierte Ismen wendet, mit denen am Ende sein eigenstes Anliegen gar nicht zu fassen wäre. Das Prosastück stellt sich, von Anfang an, als eine — .unzeitgemäße' und daher der Epoche dienende — Polemik gegen die zeitgenössisch-modischen „Schwätzer" dar, die, — man denke etwa an David Strauss oder E. von Hartmann, — ständig mit „Optimismus und Pessimismus" operieren und ebendadurch diese Begriffe zu „bis zum Überdruck verbrauchten Wörtern" (41) erniedrigt haben. Allerdings erweist sich zugleich — und audi das ist für Nietzsches Mentalität bezeichnend, — daß seine Auseinandersetzung mit dem entwerteten — und von ihm selbst doch immer wieder in Umlauf gebrachten — Gegensatzpaar offenbar dem Werk eines Zeitgenossen verpflichtet ist, der, nach Nietzsdies Ansicht, selbst zu den modischen Schwätzern gehört. Nietzsche hat Eugen Duehrings Buch Der Werth des Lebens im Sinne einer heroischen Lebensauffassung (1865) im Sommer '75 ausführlich zusammengefaßt und kritisiert (IV1, 207—257). Ausdrücklich wirft er dabei dem Autor seine im Wesentlichen vollständige „Übereinstimmung mit dem Geiste der Zeit" vor; und rügt, — analog der an D. F. Strauss geübten, polemischen Stilanalyse (vgl. 71,78—93), — Duehrings philiströse Spradibarbarei, e. g. „verdorbne Manier der Kürze", „Mangel an Höhe und Haltung", das Unlogische seiner Sprache (jedoch „keineswegs das Unlogische der enthusiastischen Reflexion, vielmehr eine Vereinigung von Unsauberkeit (Schlumperei), Nüchternheit und Mangel an Übung im Stil)" (ZV 1, 207). Wenn aber Duehrings Werk heute in Manchem den peinlichen Eindruck einer üblen, unfreiwilligen Karikatur von Nietzsche macht, so deshalb, weil hier in Wahrheit manche von Nietzsches Meinungen und Einstellungen antizipiert werden und einem dabei deutlich wird, wie nahe Nietzsche schon von vornherein jenen Verfallsprodukten steht, die später in seinem Namen verbreitet wurden. Den Notizen zu Duehring entstammt Aphorismus 32 (als ergänzende Korrektur einer aus Duehring übernommenen Ansicht), sowie der — im wesentlichen gegen Duehring gerichtete — Aphorismus 332. Für den 28. Aphorismus ist, — trotz der im Grunde konträren Meinung, — die Zusammenfassung der Duehringschen Ansichten über Optimismus und Pessimismus wichtig, wobei sich Nietzsche allerdings im Sommer '75 noch mit dem Pessimismus zu identifizieren scheint3; vor allem aber, im Anschluß daran, der aus der Lektüre Duehrings gewonnene Satz: „Im Felde der praktischen [i. e. moralischen] Urtheile und Werthe giebt es kein reines Ortheil, keine reine Erkenntniß" (IV 1, 208), sowie die These: „ . . . für den gar nicht 2 5

Siehe unten, S. 402 f., 426 f. Siehe den Vermerk „Ego" in IV 1, 208.

Kommentar Strebenden

giebt es keine Werthe,

375

für den rein Erkennenden fehlt alles Gute und

Böse, alles Zustimmen und Verwerfen" ( / V 1, 209) 4 . Diese Feststellungen, — die audi für Aphorismus 29 und die folgenden, — v o n entscheidender Bedeutung sind, stimmen durchaus mit dem Ergebnis des 28. Aphorismus überein. Unter Wahrung der rhetorisch assertorischen Geste, die keiner Begründung zu bedürfen vorgibt 5 , heißt es hier: es liege „auf der Hand, daß die Welt nicht gut und nicht böse" sei. Jedoch die als Erfahrungstatsache ausgegebene Behauptung ist getragen von der Überzeugung, daß wir von dem ,Αη-sich' der Welt nichts wissen. Und ebendarum weil die Welt für uns kein Wesen — und auch nidit die Schöpfung eines Wesens — ist, dürfen wir ihr auch keine moralisdien Prädikate beilegen. N u r Menschen, nur moralische Wesen können gut oder böse sein. Aber auch diese Möglidikeit wird in Frage gestellt, da die Begriffe gut und böse „vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind" (42), eine Andeutung, die sich wohl vor allem darauf bezieht, daß, nach Nietzsches Meinung, die Voraussetzung der Willensfreiheit, die unseren moralischen Urteilen zugrundeliegt, auf einem Irrtum beruht. 4

5

Das Thema Nietzsche und Dühring wäre weiter zu verfolgen. Dazu nur einige Bemerkungen: Das Spätwerk hebt sehr deutlich Nietzsches Widerwillen gegen den oberflächlichen „Mischmasch-Philosophen", den „Berliner Rache-Apostel", das „Moral-Großmaul" unter den Antisemiten hervor. Mag Dühring auch ein „geschickter und wohlunterrichteter Gelehrter" sein, er gilt dem späten Nietzsche als eine von Neid und Ressentiment zerfressene „kleinliche Seele", die „überall Korruption" wittert und dabei die „andere Gefahr des Zeitalters": „die große Mittelmäßigkeit" nicht bloß übersieht, sondern ihr, etwa durch Verkündigung einer leBensfeindlichen „Kommunisten-Schablone", — i. e. einer souveränen, allgemeinen, egalitären, gegen jeden Kampf gerichteten Rechtsordnung, — Vorschub leistet (76, 120, 308, 367; 78, 532; 83, 390; vgl. audi 76, 406) . . — Eine andere Frage ist, was Nietzsche Dühring verdankt. Bedeutend ist für ihn, wie schon bemerkt (s. oben, S. 356), die Auseinandersetzung mit der Auffassung der „Gerechtigkeit als Entwicklung des Rachetriebes" (78, 185; vgl. IV 1, 217, 226 f., 252 ff., 256); bzw. für MA: mit der Auffassung des Ursprungs der Gerechtigkeit aus dem Grundsatz „gleiches Recht nur bei gleicher Macht" (IV 1, 226; vgl. ΜΑ I, 81). Berührungspunkte bezeichnen ferner: das Nietzsches Spätphase gemäße Urteil, Schaffen stehe höher als Erkennen (IV I, 235); die — schon in der Phase von MA eingeleitete — Polemik gegen die Perhorreszierung der Sexualität (7V 1, 236); ferner überhaupt der Glaube an den Primat des Lebens vor Erkenntnis und Moral (IV 1, 236); sowie auch Dührings positive Einschätzung der Illusionen und Affekte, auf die — im Zusammenhang von MA — hinzuweisen sein wird (siehe unten, S. 380, 398 f.). — Im Kontext von MA ist vor allem Dührings Rolle als Gegengewicht oder Gegengift zu Schopenhauer (den Dühring bekämpft) in Betracht zu ziehen. Im Sommer 1875 nimmt Nietzsche sich vor, „Dühring als den Versuch einer Beseitigung Schopenhauers durchzustudieren und zu sehen, was ich an Schopenhauer habe, was nicht. Hinterdrein noch einmal Schopenhauer zu lesen" (IV 1, 205). Was für den 28. Apho gilt, gilt also für MA überhaupt: Nietzsche benützt Dühring als Beihilfe in dem Prozeß der Loslösung von der pessimistischen Metaphysik. Der stilistischen Realisierung dieser für den 28. Aphorismus charakteristischen Geste dienen u. a. der anfängliche Ausruf („Weg m i t . . . " ) , die rhetorischen Fragen („Denn weshalb ..", „welcher Denkende h a t . . ? " „Wer aber kümmert sich j e t z t . . . ? " ) , sowie Ironie und Drastik („nur die Schwätzer", „so unumgänglich nötig", „weshalb in aller Welt", „den Advokaten Gottes").

376

Aphorismus 28

Gerade auf dieser, quasi nebenbei vorgebrachten und mit einem Vielleicht versehenen Vermutung liegt aber für Nietzsche wohl der Hauptakzent des Interesses. Damit soll nicht gesagt sein, daß die eben zitierte, abschließende Gedankenreihe von dem Thema des 28. Aphorismus abschweift. Ausdrücklich ist auch hier von der Irrtümlichkeit der optimistischen und der pessimistischen Metaphysik die Rede. Jedoch erweitert Nietzsche nun den Kreis der Betrachtung. Nicht nur ist in Hinsicht auf die „Welt" die Meinung, daß sie gut oder böse, „geschweige denn die beste oder die schlechteste" (42) sei, als moralisierender Anthropomorphismus zu verwerfen. Auch in Hinsicht auf die Menschen mag eine moralisierende Betrachtungsweise unberechtigt sein. Wenn aber einmal die Berechtigung dieser Betrachtungsweise überhaupt in Zweifel gezogen wird, so liegt auch der Gedanke nahe, daß Optimismus und Pessimismus, ja daß alle Metaphysik, Theologie, Religion am Ende in den moralischen Fehlurteilen, in den scheinbar absoluten Wertgegensätzen zwischen gut und böse begründet seien'. Und also wäre reine Erkenntnis Befreiung von moralischen Werturteilen nicht nur hinsichtlich des unerkennbaren An-sich und audi nicht nur hinsichtlich eines phänomenalen Bereichs, der sich noch von dem eigentlich Menschlichen irgendwie abgrenzen ließe, sondern auch und gerade hinsichtlich der menschlich-allzumenschlichen Existenz. Es versteht sich, daß Nietzsche derlei Gedanken hier nicht entwickelt. Anderseits aber ist kein Zweifel, daß ihn der Wunsch, der moralischen Betrachtung zu entkommen, seit je, — e. g. auch in der GdT, — beschäftigt. Und wenn er sich bei der Lektüre Dührings bewußt zu werden meint, daß reine Erkenntnis im strengen Sinne amoralisch sei; so bedurfte es doch für ihn solcher Lektüre nicht, um etwa bewundernd zu notieren, daß die „Weisheit" der griechischen Institutionen „in dem Mangel an einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiß" liege ( / V 1, 155). Hinter der Polemik gegen Optimismus und Pessimismus steht also auch der antimoralische Affekt. Genauer: hinter der Auseinandersetzung mit diesen Betrachtungsweisen steht die Auseinandersetzung mit der Moral, wie denn auch das Dilemma Daseinsbejahung vs. Daseinsverneinung für Nietzsche unablösbar mit dem Kampf gegen das Schuldgefühl und um die Selbstbefreiung — die Befreiung zu dem sein Selbst bejahenden Bewußtsein der Unschuld — verknüpft ist. Schon in der Phase von MA will Nietzsche, daß es auch im menschlichen Bereich ,gut' und ,böse' eigentlich nicht gebe. So heißt es etwa in IV 2, 467 (21 [31]) „das Egoistische" gelte „in den meisten Fällen mit Unrecht" „als böse": „denn daß es schädigt, giebt ihm nicht diesen Character. Es will sich erhalten, [hat den] Character der Nothwehr (selber Emotion der Nerven zu haben kann Bedürfniß sein)." Und gegen Schopenhauer notiert er: „Ohne Bedürfnis schädigen und mit Absicht ist Unsinn"; oder, — um eine andere Stelle zu zitieren — : „Die bösen Handlungen" beruhen „auf Irrthümern,.. ζ. B. Rache auf dem Glauben an Verantwortlichkeit.." ' Vgl. Apho 1, (15) und Studie zum 1. Aphorismus, oben, S. 5.

Kommentar

377

(IV 2, 473 (21 [72]). „Alle bösen Eigenschaften gehen auf den Erhaltungstrieb des Einzelnen zurück, der doch gewiß nicht böse ist" (IV 2, 473). Und diese und ähnliche Überlegungen werden dann im 2. Hauptstück, e. g. in den Aphorismen 99 (Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen), 102 (,Der Mensch handelt immer gut') und 104 (Notwehr) voll entwickelt. Die antimoralischen Moralia oder Beobachtungen über Moral konvergieren mit der uns schon bekannten prinzipiellen These: „Auf die reine Erkenntnis der Dinge läßt sich keine Ethik gründen" (IV 2, 408). Aber auch an dieser Notiz, — wie in dem „vielleicht" des 28. Aphorismus (42), — ist zugleich noch Nietzsches Schwanken zu bemerken. Eine andere Fassung des eben zitierten Satzes schränkt ein: „keine der bisherigen Ethiken" (IV 2, 426 (18 [58]) ließe sich auf die reine Erkenntnis gründen. Und anderseits heißt es einmal: „da" — nämlich: in der reinen Erkenntnis — „muß man sein wie die Natur: weder gut noch böse" (IV 2, 408), während anderwärts anscheinend die viel weitgehendere Konsequenz gezogen wird, daß die moralische Indifferenz nicht nur für den Erkenntnisakt erforderlich sei, sondern gewissermaßen als Maxime menschlicher Haltung zu gelten habe. Denn aus der reinen Erkenntnis „folgt allein dies, daß man sein muß, wie die Natur, weder gut noch böse. Die Forderung, gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen" (IV 2,426 (18 [58]). Als Zusammenfassung sei hier noch eine Stelle angeführt, die weitere Perspektiven andeutet und zumal — schon für die Phase von MA — die nicht bloß antimetaphysische, sondern spezifisch antichristliche Tendenz des von der Erkenntnis geforderten Amoralismus hervorhebt. „Das Christentum sagt ,es giebt keine Tugenden, sondern Sünden.' Damit wird alles menschliche Handeln verleumdet und vergiftet, auch das Zutrauen auf Menschen erschüttert. Nun sekundirt ihm noch die Philosophie in der Weise La Rochefoucauld's, sie führt die gerühmten menschlichen Tugenden auf geringe und unedle Beweggründe zurück. Da ist es eine wahre Erlösung zu lernen, daß es an sich weder gute noch böse Handlungen giebt, daß in gleichem Sinne wie der Satz des Christenthums auch der entgegengesetzte des Alterthums aufgestellt werden kann ,es giebt keine Sünden, sondern nur Tugenden' d. h. Handlungen nach dem Gesichtspunkte des Guten (nur daß das Urtheil über gut verschieden ist). Jeder handelt nach dem ihm Vortheilhaften, keiner ist freiwillig böse d. h. sich schädigend. Es ist ein großer Fortschritt zu lernen, daß alles Menschliche nichts mit dem Ding an sich zu thun hat, sondern Meinung ist, in das Bereich des sehr veränderlichen Intellekts gehört" (IV 2, 555 f.). Allerdings ist hier, bzw. angesichts der analogen, den 28. Apho beschließenden Forderung nach Enthaltsamkeit von schimpfender und verherrlichender Weltbetrachtung (42), sogleich auch die Gegenrechnung bezüglich dessen zu machen, was wir der moralisch wertenden Fehlinterpretation sowie überhaupt dem „im Fundamente" und Wesen „der Cultur" begründeten „unreinen Denken" (IV 2, 455) verdanken. Davon wird im 29. Aphorismus die Rede sein.

APHORISMUS 29

Vom

Dufte

der

Blüten

berauscht.

man, hat einen immer stärkeren

Tiefgang,

— Das Schiff der Menschheit, je mehr es belastet

wird;

meint

man glaubt,

tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je weiter seine fernung von den anderen

Tieren wird, — je mehr er als das Genie unter den

erscheint, — um so näher werde er dem wirklichen kenntnis kommen:

dies tut er auch wirklich

dies noch mehr durch seine Religionen der Welt, aber durchaus nicht der

Tieren

Wesen der Welt und deren

durch die Wissenschaft,

aber er

Ermeint

und Künste zu tun. Diese sind zwar eine

Wurzel

der

Welt

näher,

je

Ent-

Blüte

als der Stengel

ist:

man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen,

obschon

dies fast jedermann

erfinde-

risch gemacht,

glaubt.

Der

Irrtum

hat den Menschen so tief, zart,

eine solche Blüte, wie Religionen

reine Erkennen

wäre dazu außerstande

gewesen.

hüllte, würde uns allen die unangenehmste Ding an sich, sondern tief, wundervoll, einer Philosophie einer praktischen

der logischen Weltbejahung

machen.

(als Irrtum)

im Schöße

Weltverneinung: ebensogut

herauszutreiben.

Das

Wer uns das Wesen der Welt

Enttäuschung

die Welt als Vorstellung

Glück und Unglück

und Künste,

tragend.

ent-

Nicht die Welt als

ist so

bedeutungsreich,

Dies Resultat welche

übrigens

wie mit deren Gegenteile

führt sich

vereinigen

zu mit läßt.

In Bewegung auf das denouement der Reihe hin wiederholt der 29. Aphorismus wesentliche Motive der Freigeist-Dramatik, nicht nur um das Argument bezüglich Unwert und Wert vorwissenschaftlicher Irrtümer und sublimer Selbsttäuschungen zusammenzufassen, sondern ebenso zum Zweck der Evokation und wirksamen Mitteilung des verhaltenen, herben Pathos der neuen Gesinnung. Zwar: dem Kontext diskursiver Prosa angemessen, dominiert das intellektuelle Argument. Und von den Passagen, die dazu geeignet wären, die vom Dufte

der Blüten

Berauschten

zu er-

freuen, distanziert sich der Autor. Da er in einer, von Richard Wagner verübelten — Wendung gegen den Geniekult vom Menschen „als Genie unter den Tieren" spricht1, scheint er das Hochgefühl der Menschheit zunächst nur ironisieren zu wollen. Und doch bekundet er im Verlauf des Prosastücks, wie wert ihm ihr Blütenrausch bleibt. 1

Übrigens hieß es ursprünglich: „der Mensch ist das Genie unter den Tieren" (IV 4, 173); hingegen die endgültige Fassung dem Menschen nur zugesteht, daß er als Genie unter den Tieren erscheine.

Kommentar

379

Bei manchen modernen Autoren, — etwa bei Brecht, — meint man die Wirksamkeit von ,Stimmung' evozierenden Mitteln werde durch deren Subordinierung, Dämpfung, Verfremdung, durch eine scheinbare Unterdrückung des Affekts, e. g. der Sentimentalität', erst recht gesteigert. Gilt dies nicht auch für Nietzsches Prosastück? Für die quasi-musikalische Komposition — etwa die, als variierter Refrain wiederholten, enkomiastischen Attribute: „tiefer . . . zarter . . . höher", „so tief, zart, erfinderisch" „so bedeutungsreich, tief, wundervoll", und ebenso für die halb dichterische Metaphorik, etwa die Bilder-Rede vom „Schiff der Menschheit" und von der Welten-Pflanze? 2 In Wahrheit entsteht aber die charakteristisdie Stimmung selbst durch den Kontrapunkt zwischen ostentativ sachlicher' Härte und der halb verleugneten E m phase des Gefühls, zwischen Ironie und Sentimentalität, zwischen unerbittlicher' Erkenntnis und .elegischem' Affekt. Und dieser Lyrismus der Ambivalenz und der Desillusionierung ließe sich, wie fast alles ,Moderne', in seiner Entwicklung in der 2

Von Verfremdungseffekten abgesehen, ist für Nietzsches Rhetorik und rhetorische Poesie (vgl. Zarathustra, Dionysos-Dithyramben), sowie für seinen Emotionalstil überhaupt, bezeichnend, daß er zur Erwartung der Vereinbarkeit (,organischen' Stimmigkeit, Homogeneität) seiner Metaphern verleitet, diese Erwartung aber durch eine Tendenz zur disjunktiven, nur-expressiven Metaphorik gewissermaßen enttäuscht. Eine konsequente bildliche Anwendung der Metaphern des 29. Aphorismus ist nicht ratsam: Durch Religion, Kunst, Wissenschaft sich immer mehr von den Tieren entfernend, kommt das Schijj der Menschheit der Wurzel der Welt näher: und zwar durch Wissenschaft, nicht aber durch Kunst und Religion; denn diese — der Wurzel der Welt nicht näher als dem Stengel — sind eine vom Irrtum der Menseben herausgetriebene Blüte der Welt, welche Glück und Unglück im Schöße tragend, mit ihrem Dufte die Menschheit berauscht. — Homogene Metaphorik (Bilder-Rede), vgl. ζ. B. Goethes Heidenröslein, ist an sich nichts besseres, sondern nur etwas anderes als disjunktive Metaphorik, die der Willkür, sei es des Intellekts oder der Phantasie, weiteren Spielraum gewährt. Man denke an die von dem älteren Goethe gerühmte Dichtungsweise „des Orientalen", dem „bei allem alles einfällt", so daß er „das Fernste", „Unverträgliche" „über's Kreuz" verknüpft und die „seltsamsten Bezüge" schafft (West-östlicher Divan; Noten und Abhandlungen; Jub. Ausg., V, 213, 219). Bei Nietzsche besteht, wie gesagt, die Neigung dazu, das halbwegs konsequente Ausmalen eines Bildes (e. g. Wurzel, Stengel, Blüte der Welt) mit Aneinanderreihung einander fremder Bildbereiche (e. g. Schiff und Pflanze) zu verquicken (vgl. dazu und dagegen aber auch das Gedicht „Zwischen Raubvögeln"; 77, 539—542). Damit ist aber zugleich eine Affinität zu den mixed metaphors und überhaupt zu dem sprachlichen Mischmasch gegeben, den Nietzsche in UB I als Sprachbarbarei des leichtgeschürzten Magisters, D. F. Strauß, anprangerte. Auch hier entwickeln sich die scheinbaren Gegensätze auseinander. Nietzsche bekämpft, was er überwinden will. Wie mit der Polemik des Super-Feuilletonisten und -Journalisten Karl Kraus gegen den Wiener Journalistenstil, verhält es sich auch mit Nietzsches Polemik gegen den ,beschwingten' Gelehrtenstil. Die Stilkunst der GdT ist dessen Steigerung, Verklärung, Apotheose. Und auch die Stilkünste des späteren Nietzsche vermögen das Grundelement nur zu sublimieren und zu verflüchtigen, nicht zu verleugnen. Das Beste was Nietzsche geschrieben hat ist eine Akademiker-Prosa, in der seine intellektuelle Sensibilität unverstellt zum Ausdruck kommt. Zu dieser gehören auch die Bilder, die Metaphern, bei denen das wahre tertium comparationis immer im Gedanken zu finden ist; mag sich vorn Gedanken her mitunter auch eine höhere Einheit der Bilder vermuten lassen, wie etwa, im Fall des 29. Aphorismus, das Bild des bateau ivre.

380

Aphorismus 29

europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts nachweisen, e.g. in Byrons Childe Harold, Manfred.*, Don Juan, bei Heine (Geständnisse, Romanzero, aber audi schon im Frühwerk), bei Flaubert (L'£.ducation Sentimentale, Un cceur simple, Bouvard et Pecuchet), oder bei Jacobsen, dessen Niels Lyhne man sich als idealen Leser von Μ Α vorstellen könnte; bis bei Thomas Mann zu den Exempla die Theorie mitgeliefert wird. Denn was variiert und kommentiert Mann so oft, wie die Stimmung der sehenden, absprechenden, verachtenden Liebe4, in denen enttäuschende Erkenntnis die sehnsüchtige Zuneigung zu den von süßer Torheit, Irrtum, vitalem Willen und Wahn hervorgetriebenen Blüten und Blütenträumen nicht zerstört, sondern nur schmerzlich zu steigern scheint! Im Grunde wissen wir längst, daß, Nietzsche zufolge, unsere Welt „Welt als Vorstellung" und also Welt „als Irrtum" ist (43). Aber erst jetzt wird dieses gedankliche Leitmotiv voll orchestriert und liefert die Klimax der Gedankenkette. Das eigentliche, „das persönliche Ergebnis", so heißt es in einem Rückblick Nietzsches aus den 80er Jahren, „war damals (M. Allzum. Aph. 29), wie ich es bezeichnete, die logische Weltverneinung: nämlich das Urteil, daß die Welt, die uns überhaupt etwas angeht, falsch sei. ,Nicht die Welt als Ding an sich — diese ist leer, sinnleer und eines homerischen Gelächters würdig! —, sondern die Welt als Irrtum ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schöße tragend': so dekretierte idh damals" (82, 405 f.) 5 . Diese Klimax ist zugleich eine Umkehr, eine Peripetie: Denn was sich hier darstellt, ist Selbsterfüllung des Intellekts im Akt der Selbstvernichtung. Die wahrhaft befreiende Wissenschaft besteht in der Selbstaufhebung der Wissenschaft: Die Logik gipfelt zugleich und schlägt um in einer Selbstaufhebung der Logik. Die gegen Irrtümer der Vorstellung gerichtete Erkenntnis gipfelt darin, daß sie alle Vorstellung als Irrtum erfaßt. Die radikale Konsequenz im Verfolgen der intellektuellen Skepsis muß sich endlich auch gegen die intellektuelle Skepsis wenden und deren Einstellung als illusorische Perspektive zersetzen, wie auch die Gesinnung des skeptischen Freigeists endlich der freigeistigen Kritik verfallen muß. Das besagt aber wiederum nur, daß die Skepsis sich in der Selbstvernichtung erfüllt, — mag ® Vgl. dazu den Aphorismus über Manfreds „Sorrow is knowledge" (MA I, 100 f.). 4 Zu der verachtenden Liebe als der reinsten, vgl. aber audi Nietzsche, e. g. IV 1, 256. s Vgl. dazu auch in Nietzsches Zusammenfassung von Dührings Wert des Lebens die Verherrlichung der schöpferischen, dem Leben Wert verleihenden, eine Traumwelt schaffenden Gewalt des Gefühls, die sich in Illusionen, — e. g. bezüglich der Ewigkeit der ersten Liebe, — manifestiert: „Wollen wir bedauern, daß es ursprünglich unvermeidliche Irrthümer giebt?" Allerdings beantwortet Nietzsche im Sommer 1875 diese rhetorische Frage im Gegensinne mit einem parenthetischen („Ich denke!") (/V 1, 234). Die Fruchtbarkeit des Irrtums wird auch anderwärts in dieser Zusammenfassung betont: „Ist der Irrtum wirklich an sich ein Übel? . . . Vorurtheile können uns ebenso gut glücklich als unglücklich machen . . . Manchen beseligenden Wahn könnte man für werthvoller als die Wahrheit halten . . ( I V 1, 246 f.). Angesichts solcher Passagen meint man förmlich zu sehen, wie sich ein überaus entwicklungs- und steigerungsfähiger Gedanke aus sehr bescheidenen Anfängen in den Niederungen der Banalität emporzuarbeiten vermag.

Kommentar

381

Nietzsche auch erst im weiteren Verlauf seiner Freigeisterei und skeptischen ,Loslösung' die äußersten nihilistischen Konsequenzen seiner „fröhlichen Wissenschaft" ziehen (was gerade an Hand des so benannten Werks darzustellen wäre), hingegen er in MA bezüglich solcher Folgerungen noch eine gewisse Enthaltsamkeit übt. Immerhin hat man sich darüber im Klaren zu sein, was auch hier schon in der Philosophie der logischen Weltverneinung mit-gedacht werden muß. Daß von dieser behauptet wird, sie verhalte sich indifferent zu praktischer Weltbejahung wie zu deren Gegenteil (43), mag zunächst dahingestellt bleiben. Denn insofern sich das 1. Hauptstück vornehmlich mit der intellektuellen Kritik an den Irrtümern der Vorstellung befaßt, kann die durch intellektuelle Bewegung vollzogene Aufhebung dieser Irrümer, — d. h. die Selbstaufhebung der intellektuellen Strukturen, — freilich zunächst nichts anderes tangieren als die intellektuelle Sphäre. Innerhalb dieser gilt aber durchaus, daß die „logische Weltverneinung" auch logische Verneinung der Logik, oder vielmehr: Verneinung der Erkenntnis durch die Erkenntnis bedeutet. Denn aus den vorhergehenden Aphorismen ergibt sich, daß, so wie Nietzsche das Wort Logik gebraucht, nämlich u. a. als Synonym für wissenschaftliche Erkenntnis, nicht bloß der Prozeß der Logik im engeren Sinne, sondern alle Erkenntnis als eine sich ständig transzendierende und in der Selbsttranszendenz sich zugleich selbst vernichtende intellektuelle Bewegung gilt. In ihrer radikal konsequenten Form wäre Nietzsches These: daß nichts über die Selbstvernichtung der Erkenntnis hinaus führt, da es das ,Αη-sidi' einer .wahren Welt' für uns nicht gibt und einem solchen An-sidi auch keine Rechnung zu tragen ist, andernfalls uns außer einem Wissen von dem was ,für uns' ist auch noch ein Wissen gegeben wäre von dem, was ,nicht für uns' ist. Im Gegensatz zu der von Lessing repräsentierten Auffassung der in Selbsttranszendenz sich vernichtenden und regenerierenden Dialektik, fehlt hier, was bei Lessing die ganze göttliche Wahrheit ist, nämlich das Element, das diese Bewegung vom Jenseits-der-Dialektik her sanktionieren, ihr eine Richtung geben oder verbürgen könnte. Es gibt hier im intellektuellen Bereich durchaus nichts als die, sich in Selbsttranszendenz selbst verzehrende menschlich allzumenscbliche Dialektik ohne außer-, über-, unterhalb, kurz: ohne Halt». *

*

*

® Vgl. dazu das im Verlauf des Kommentars Besprochene, e. g.: es gibt keine ewigen Tatsachen, keine absoluten Wahrheiten (17); alle Philosophie war bisher Apologie der (Nützlichkeit der) Erkenntnis, tyrannisiert von der Logik und dem der Logik immanenten Optimismus (20); die Sprache (vornehmlidistes Mittel der Erkenntnis) beruht auf Irrtum; die Logik auf Voraussetzungen (e. g. der Identität)), denen in der wirklichen Welt nichts entspricht, die Mathematik auf Fiktionen (Gerade, Kreis, usw.) (22 f.), das Denken überhaupt auf dem Substanz-Irrtum, auf einem Glauben,, der auf der Empfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften basierend, seinerseits das Fundament für das Urteil abgibt (31), als Glaube an gleiche und isolierte Fakta die Illusion des freien Willens begründet (32), sowie den Irrtum, auf dem sich die Gesetze; der Zahlen aufbauen, den die moderne Wissenschaft, die uns belehrt, daß alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen

382

Aphorismus 2 9

Von hier aus, nämlidi von der Philosophie der logischen Weltverneinung, der Vollendung der Erkenntnis in der Vernichtung der Erkenntnis und noch allgemeiner: von der Struktur her, die Selbstvernichtung als Selbstbejahung, Selbstbejahung und Selbstvollendung unter dem Aspekt der Selbstvernichtung zu sehen tendiert, ergibt sich auch ein Ausblick auf die spätere Phase Nietzsches, in welcher, — um dies hier nochmals zu rekapitulieren, — der Umschlag aus der radikalen Negativität in die radikale Positivität, aus skeptisch-dionysischer All-Verneinung in hymnisch-dionysische All-Bejahung erfolgen soll, und zwar als Umschlag aus der Selbstverneinung der .Wahrheit' in die Selbstbejahung der Illusion, in welcher der Satz „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt" (75, 303; 76, 398; 83, 503) den Nihilismus festhält und .aufhebt* als das zur Umkehr in die illusionsbejahende Positivität ermächtigende Element. Allein aus dem .Untergang' des Menschen soll die Geburt des Übermenschen erfolgen. Allein die Tatsache, daß die ewige Wiederkehr des Gleichen an sidb als sinnlos erscheint, macht den Gedanken der Wiederkehr dazu geeignet, den Prüfstein der Positivität abzugeben, den für die Sinn schaffende Kraft. Es geht nicht darum, den der ewigen Wiederkehr des Gleichen ,an sich' innewohnenden Sinn zu entdecken. Ein Metaphysikum dieser Art gibt es nicht. Wohl aber geht es darum, angesichts der Erkenntnis — und darüber hinaus: im totalen, nicht bloß .intellektuellen' Erlebnis — dieser ewigen Sinnlosigkeit, die Sinn gebende, schöpferische Kraft zu bewähren, aus dem fortwährenden Erkennen und Erleben dieser Sinnlosigkeit die höchste Bejahungskraft zu gewinnen, — ein Postulat, das wiederum in Einklang mit der im ersten Aphorismus des 1. Hauptstücks entwickelten Ansicht steht, daß die scheinbaren Gegensätze sich auseinander entwickeln, bzw., wie dies in der GdT ausgeführt wurde, im Grunde Aspekte Ein-und-desselben sind7. Die Einsicht in die Sinnlosigkeit der ewigen Wiederkehr ist mithin analog der Philosophie der logischen Weltverneinung. Und ebenso wie der Gedanke der sinnlosen Wiederkehr soll audi die logische Weltverneinung sich sowohl mit praktischer Weltverneinung wie mit praktischer Weltbejahung vereinbaren lassen. In Nietzsches Spätphase aber hat sich das absolute J a als ständiges Übertönen des absoluten Nein, oder als ständige Geburt aus diesem zu erweisen, da Mensch und Welt nichts sind als Wille zur Macht und dieser nichts anderes ist als das Prinzip der sich ständig im Kreislauf ewiger Wiederkehr perpetuierenden, sich immer in Selbstbehauptung und Selbsttranszendenz behauptenden Bewegung des Werdens. Was ist die „Umkehr", von der im Ecce homo die Rede ist? „Die Hervorbringung eines äußersten Ja aus einem äußersten Nein und eines höchsten Leichtsinns aus einer tiefsten Schwermut". Da hier nun Gipfel und Abgrund eins sind8, so ergibt

7

8

aufzulösen sei und daß unsere Empfindungen von Raum und Zeit falsdi sind, dennoch nicht entbehren kann, wie denn überhaupt unser Begriff der Natur nichts anderes ist als die Summierung einer „Menge von Irrtümern des Verstandes" (33 f.). Vgl. dazu auch Karl Loewith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Verlag Die Runde, Berlin: 1935), 56 ff. Siehe Loewith, op. cit., 58.

Kommentar

383

sich freilich auch eine enge Beziehung zum frühen Nietzsche der GdT. Denn in der ersten wie in der dritten Phase wird die dialektische Spannung als Gesamtzustand des menschlichen, des organischen Lebens, des Werdens überhaupt aufgefaßt. Hingegen ist für die mittlere Periode (von MA bis zur Fröhlichen Wissenschaft) die Prädominanz der intellektuellen Dialektik charakteristisch. Die Überzeugung, daß sich die höchste Lust ständig am höchsten Schmerz entzündet, gilt also vor allem für die erste und die dritte Phase. In der GdT liegt der Welt das metaphysisch-dionysische Ur-Eine zugrunde als Urschmerz, in und an dem sich Ur-Lust entfacht. In der Spätphase, in der es kein metaphysisches Jenseits gibt, herrscht die Dionysik des All-Diesseits. Diese zeichnet den Übermenschen aus, dessen sdiöpferisdie Lust mit dem Stachel der extremen Unlust spielt. Und eben diese Dionysik des All-Diesseits stellt sich als Wiederkehr im Bild des Kosmos und als Physis des Kosmos dar, ebenso wie sie sich als das alldurchwaltende Prinzip jener Physis, nämlich als der Wille zur Macht darstellt. Und wenn Nietzsche den Anspruch auf Gültigkeit, auf ,Wahrheit' im Namen dieses Prinzips und jenes Denkbildes erhebt, so vielleicht nur darum, weil ,Wille zur Macht' und .ewige Wiederkehr' der dionysischen Perspektive des Übermenschen gemäß sind, oder weil die Dreieinigkeit: Wille zur Macht, Übermensch, Wiederkehr ihm als geistiger, inkarnierter, kosmischer Ausdruck alldiesseitiger Dionysik gilt. Zugleich erweist sich aber auch die Einheit der Denkphasen Nietzsches. In jeweils unterschiedlich, ja gegensätzlich akzentuierten Perspektiven stellt sich das gleiche, intellektuelle und emotionale, der Welt der .Vorstellungen' wie der Welt der Empfindungen' zugehörige, dialektische Erlebnis dar, und zwar durchwegs als Bewegung von Perspektive zu Perspektive, oder, um dies im Sinne des späteren Nietzsche zu formulieren: als autonomer — göttlicher wie audi vitioser — Zirkel von Perspektiven, die sich in Selbsttranszendenz und Selbst-Auflösung manifestieren. *

*

x

Wir schränken nach dieser Rekapitulation der Zusammenhänge zwischen dem Hauptergebnis des 1. Hauptstücks und der Spätphilosophie, den Kreis der Betrachtung wiederum auf die vorliegende Aphorismenreihe ein. Aphorismus 28 forderte, daß man sich der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung enthalte (42). Aphorismus 29 wendet sich zunächst gegen eine verherrlichende, Aphorismus 30 gegen eine pessimistisch-negierende Betrachtungsweise. Ebenso wie mit den „tiefen" Gedanken, — die als metaphysische der Wahrheit sehr fern sind (28), — steht es, unserem Aphorismus zufolge, mit den zarten und tiefen Gefühlen. Denn im Gegensatz zu der den Menschen als menschlich allzumenschlich abwertenden Sicht, ermöglichen diese Gefühle und jene Gedanken ihm eine hohe Selbsteinschätzung, als sei er ein von den „anderen Tieren" (42) durchaus getrenntes Wesen. Die Empfindungen sind tief geworden, aber nicht immer gewesen, ihren „höchsten Steigerungen entspricht kein realer Grund, sie sind Imaginationen", weshalb

384

Aphorismus 29

audi unser Gefühl der „Empörung" bei einer naturalistisch historischen Erklärung unsrer tiefsten Erschütterungen durchaus nicht deren metaphysische Tiefe usw. beweist (IV 2, 518; IV 4, 442). „Man ist auch ungerecht, wenn man die großen Männer zu groß findet und die Dinge in der Welt zu tief. Wer dem Leben die tiefste Bedeutung geben will, umspinnt die Welt mit Fabeln; wir sind alle noch tief hinein verstrickt, so freisinnig wir uns auch vorkommen mögen. Es giebt eine starke Neigung, uralt angeboren, die Abstände zu übertreiben, die Farben zu stark aufzutragen, das Glänzende als das Wahrscheinlichere zu nehmen. Die Kraft zeigt sich vornehmlich in diesem allzuscharfen Accentuiren; aber die Kraft der Mäßigung ist die höhere, Gerechtigkeit ist schwerer als Hingebung und Liebe" (IV 2, 546 f.). Zwar: die „unsern höchsten und stärksten Stimmungen" entsprechende „Natur- und Menschenerklärung" ist eine „metaphysische" (IV 2, 507). Und doch wurde der Glaube, der uns annehmen läßt, daß die uns „verborgene", „viel bedeutungsleerere" Welt die bedeutungsvollere sei als die uns bekannte, nur von Not und Irrtum geschaffen (IV 2, 476). Die Religionen sind in Wahrheit „Narkosen" und unter Umständen „reine Gifte" (/V 1,134 (5 [61]). „Der Irrthum hat die Dichter zu Dichtern gemacht. Der Irrthum hat die Schätzung der Dichter so hoch gemacht. Der Irrthum ließ dann wieder die Philosophen sich höher erheben" (IV 3, 405). Würde es aber „ohne alle diese erhabenen Irrthümer" nicht „thierisch" „um die Menschen aussehen" (/V 2, 507)? Hier wäre nun alles wiederum anzuführen, was sich zum „Lob des Irrthums" (/V 2, 464) sagen ließe: E. g.: um zum „Über-Tier" zu werden, bedurfte der Mensch der Irrtümer, die „in den Annahmen der Moral liegen". „Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden" (MA / , 57). Und was hülfe uns die Wahrheit, die am Ende mit einer „schönen Frau" nur dies gemeinsam hat, daß „beide [mehr] beglücken.., wenn sie begehrt, als wenn sie besessen werden" (/V 2, 438)? Ist die Wahrheit gar eine „Circe", die, nachdem „der Irrtum.. aus Tieren Menschen gemacht" hat, nun dazu im Stande wäre, „aus dem Menschen wieder ein Tier zu machen?" (ΜΑ I, 318 (Aph. 519)). Ist die Wahrheit nicht, — wie gerade auch der späte Nietzsche mitunter behauptet, — häßlich, — ein häßliches altes Weib9? Es versteht sich, dennoch, daß derlei Einwände und Bedenken gegen den Wert der Wahrheit selbst bei dem späteren Nietzsche und gar bei dem Freier der Wahrheit, dem Freigeist von MA, mit zu dem ambivalenten Pathos einer Leidenschaft für die Wahrheit gehören. Im 29. Aphorismus des 1. Hauptstücks bleibt die Forderung bestehen, daß wir uns zu den desillusionierenden, häßlichen Wahrheiten der Wissenschaft zu bekennen haben. Im Gegensatz zu der GdT, wo von dem dionysischen Rausch angenommen wurde, daß er in das Wesen der Welt und zu tiefer Wahrheitserfahrung führe, ist hier nur von dem Rausch des Irrtums die Rede, der die Trunkenen der Realität entfremdet. Und wäre nicht selbst die — allerdings kaum denk• 74, 295, 3 1 0 ; 78, 413, 554.

Kommentar

385

bare, ja undenkbare — Enthüllung des Wesens der Welt, obschon sie „uns allen die unangenehmste Enttäuschung" bereiten würde (43), für den Freigeist dem Beharren im Irrtum vorzuziehen? Offenbar steht Nietzsche oder der Freigeist hier in einem Konflikt mit sich selbst. Im 29. Aphorismus wird behauptet, der Mensch komme „durch die Wissenschaft" „dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntnis" näher (42). Wenn aber damit der Wissenschaft die Fähigkeit positiver Annäherung an das metaphysische An-sidi der Dinge zugesprochen würde — i. e. an das, „was von der Welt noch da wäre wenn man [den Menschenkopf] . . abgeschnitten hätte" (21), — so wäre diese Behauptung inkonsequent. Nietzsche hätte dann selbst hier, wo er die Philosophie der logisdien Weltverneinung postuliert, radikale Folgerungen, die sidi aus seiner Position ergeben, vermieden und verschleiert. Und diese Möglichkeit der Auslegung ist wirklich nicht völlig von der Hand zu weisen, obschon sie nicht die einzige ist. Wir wurden belehrt, daß der Intellekt, — auch der wissenschaftliche, — „seine irrtümlichen Grundauffassungen in die Dinge" hineingetragen hat (29) und hineintragen muß. Damit hätte aber der Intellekt ebenfalls zur Bestärkung des Menschen im Rausch des Tiefdenkens und zu seiner allzuhohen Selbsteinschätzung beigetragen. Jedoch zum Wesen und zur Entwicklungsgeschichte des Intellekts und der Wissenschaft gehört audi die kritische Wendung gegen die eigenen Vorstufen: In einem allerdings „sehr späten" Stadium (29) kommt der menschliche Intellekt aufgrund einer genetischen Analyse der Vorstellungen und Empfindungen (Apho 1) zur Besinnung. Genauer: in diesem Stadium besteht Wissenschaft im strengen Sinne in nichts anderem mehr als in ebenjener kritisch verstehenden Wendung gegen die eigenen Voraussetzungen sowie gegen das Ensemble der Irrtümer, welche die menschliche Vorstellungs- und Empfindungswelt überhaupt konstituieren. Und nun erst kommt die Wissenschaft als die sich selbst und alle menschliche Erfahrung ernüchternde Macht auf die Gegenseite der „Religionen und Künste", nun erst kommt sie, allerdings im Gegensatz zu Religionen und Künsten, „der Wurzel", dem „wirklichen Wesen" — nicht des An-Sidi, sondern der mensdilidi-allzumensdilidi konzipierten Welt immer „näher", womit sie sich zugleich von den Mächten, die den Menschen „so tief, zart, erfinderisch gemacht" haben (42), immer weiter entfernt. Kurz: die Behauptung, die Wissenschaft erschließe das wirkliche Wesen der Welt und deren Erkenntnis ließe sich auch dahingehend auslegen, daß diese Erschließung in nichts anderem bestünde als in der Einsicht in unsere Irrtümer und deren Genese. Nietzsche sagt: Der Irrtum habe den Menschen befähigt, „eine solche Blüte, wie Religionen und Künste, herauszutreiben", „das reine Erkennen wäre dazu außerstande gewesen" (42). Schöpferisch, Wert und Welt für uns schaffend sind überhaupt nur die Formen des unreinen Denkens (inklusive die noch vom Irrtum berauschten, noch nicht selbstkritischen Erfindungen der Wissenschaft); indes „strenge Wissenschaft" nichts anderes leisten kann als eine gewisse Loslösung von „dieser Welt der Vorstellung", glücklicherweise aber auch dies nur in „geringem Maße" (30).

386

Aphorismus 29

Aphorismus 29 wendet sich also insofern gegen eine verherrlichende, der Welt Wert verleihende Betrachtungsweise als eine solche nur Illusionen schafft. Umgekehrt ist das reine Erkennen, ist die wahre Wissenschaft alles andere als verherrlichend. Denn: „Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns allen die unangenehmste Enttäuschung machen" ( 4 2 f . ) ; und „jeder Glaube an Wert und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken" (45). Auch hier empfiehlt es sich aber wiederum daran festzuhalten, daß das reine Erkennen durchaus kein anderes erkennbares Objekt als den Irrtum (i. e. „die Welt als Vorstellung"; 43) hat. Denn audi die These, daß uns die Enthüllung des Wesens der Welt Enttäuschung bereiten würde, besagt, wenn sie auf das Wesen der Vorstellungswelt bezogen wird, nur, daß diese sich zu unserer Enttäuschung als Irrtum erweisen müßte. Wenn man den verhüllten Konditionalsatz aber auf das Wesen der Welt als Ding an sich beziehen will, — was jedenfalls audi eine Interpretationsmöglidikeit ist, — so hat er Sinn nur als Setzung eines hypothetischen und absurden Falls, müßte also besagen: . Denn was Nietzsche im Rahmen

unserer Aphorismusreihe

als

ein

„rein

wissenschaftliches

Problem"

gelten läßt, ist lediglich die Frage nach der Möglichkeit einer metaphysischen Welt oder Welt an sich. Jedoch, selbst wenn sich beweisen ließe, daß es eine solche Welt jenseits unserer Erkenntnis und Anschauung gibt, so ließe sich von ihr nichts Weiteres aussagen, als daß sie für uns völlig unerkennbar und daher völlig irrelevant ist (vgl. 21 f.). Fällt aber die „Welt als Ding an sich" als Erkenntnisobjekt weg, so bleibt dem reinen Erkennen als einziges Objekt, einzige Aufgabe, einzig mögliches Resultat, die Erhellung der irrtümlichen Vorstellungswelt, der Erweis des Irrtums als Irrtum. Das reine Erkennen gipfelt daher im radikalen Skeptizismus, als dessen Held auch in Μ Α I I Pyrrhon auftritt, der Lehrer „des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen alles und jedes", denn das Mißtrauen „ist der einzige Weg zur Wahrheit" (ΜΑ II, 273) 1 0 . Daß die „wirklich befreiende philosophische Wissenschaft" (41) = Skepsis im Gegensatz zur verherrlichenden Weltbetrachtung steht, darf als erwiesen gelten. Sollte nun aber noch gefragt werden, warum die Ablehnung der metaphysischen Betrachtungsweise nicht radikaler im Sinne eines,Positivismus' erfolgt, so wäre dazu zu sagen, daß diese Vermeidung einer dezidierten Leugnung des Dinges an sich nicht notwendig daher rührt, daß Nietzsche, wie Wolff meint, „den Gedanken einer metaphysischen Welt" noch nicht „völlig zu verwerfen wagt" 1 1 . Denn es ist der adogmatischen Skepsis vielleicht besser damit gedient, wenn sie jene „Methoden der Er10

11

Vgl. dazu die spätere Se/£>iidarstellung in der Vorrede zu Μ A I : „In der Tat, ich selbst glaube nicht, daß jemals jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehen hat" usf. {ΜΑ I, 3). Wolff, op. cit., 83.

Kommentar

387

kenntnis", welche die metaphysische Annahme relevant gemacht, — nämlich der metaphysischen „Möglichkeit" einen Anschein von Wert, einen wesentlichen Bezug auf Lust und Unlust des Menschen gegeben haben, bloß „widerlegt" (21), somit diese metaphysische Möglichkeit völlig kaltstellt und die metaphysischen wie die religiösen Bedürfnisse schwächt und endlich ausrottet (vgl. 40 f.), statt dogmatisch' positivistisch zu verfahren. Daß diese Auslegungsmöglichkeit im Sinne Nietzsches ist, wird auch durch den 211. Aphorismus von WS nahegelegt, in welchem der Autor empfiehlt, Vorstellungen, die „man endgültig beseitigen will", „achtungsvoll aufs Eis [zu] legen", statt ihre gänzliche Vernichtung zu betreiben, was nämlich die unerwünschte „Wiederauferstehung am dritten Tage" heraufzubeschwören geeignet sei (ΜA II, 272). Skepsis hat einem Dogma nicht mit dem Gegendogma zu begegnen, sondern dogmatische Festigkeit durch Zweifel aufzulösen, also den Gegensatz im Sinne der Indifferenz zu bilden. Was bisher verfolgt wurde, ist aber nur die Bewegung der Skepsis als Loslösung von allen Perspektiven, welche dem Wesen der Welt vornehmlich positive — berauschende, erhebende — Werte andichten. So bliebe also doch noch eine andere Möglichkeit offen, diese Skepsis mißzuverstehen, sie nicht als Aufhebung sowohl der schimpfenden wie der verherrlichenden Betrachtung zu begreifen, sondern „logische Weltverneinung"

(43) zugleich als verneinende, schimpfende Weltbetrachtung auf-

zufassen. Der folgende Aphorismus will daher verdeutlichen, daß die Skepsis audi zu einer pessimistischen Auffassung (im Sinne von Aphorismus 28) keineswegs berechtigt; verbindet aber diese Abschirmung der Skepsis gegen eine pessimistische Freigeisterei zugleich mit der weiteren Illustration der skeptischen Indifferenz nach beiden Seiten hin. Erst dann, nämlich im 31. Aphorismus, geht Nietzsche auf die Frage ein, was denn die losgelöste Skepsis überhaupt für die praktische Einstellung zur Welt zu leisten vermag.

APHORISMUS 30

Schlechte Gewohnheiten im Schließen. — Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese: eine Sacke existiert, also hat sie ein Recht. Hier •wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmäßigkeit, aus der Zweckmäßigkeit auf die Rechtmäßigkeit geschlossen. Sodann: eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädikat beglückend, gut, im Sinne des nützlichen, bei und versieht nun die Ursache mit demselben Prädikat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art zu schließen nur allzu häufig kennenlernt und an ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im allgemeinen natürlich ebenso sehr Irrschlüsse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine Meinung macht Not, beunruhigt, also ist sie wahr.

Der 30. Aphorismus gibt sidi, — im Kontrast zu dem vorhergehenden, — als prosaisch trockene, fast banale Feststellung und Kritik „schlechter Gewohnheiten im Schließen". Von den Trugschlüssen werden zunächst als „die gewöhnlichsten" diejenigen behandelt, die von einer bejahenden Gesinnung inspiriert sind. Aus der Existenz einer Sadie, — bzw. aus ihrer „Lebensfähigkeit", — wird geschlossen, daß sie einem Zweck dient; und auf diese teleologische Fiktion baut man das moralische Vorurteil auf, daß diese zweckmäßige Existenz eine rechtmäßige sei. Wird in dieser Verkettung das an sich Indifferente (das bloße Vorhandensein von etwas) in einen Wertzusammenhang aufgenommen und „bedeutungsreich" gemacht, so zeigt das nächste Beispiel den umgekehrten Weg, also nicht den Schluß von der richtigen aber wertfreien Feststellung („eine Sache existiert") auf das unrichtige aber werthaltige Urteil (nämlich der „Rechtmäßigkeit dieser Sache"), sondern den Fehlschluß von der Werthaltigkeit einer „beglückenden" Meinung auf ihre Richtigkeit: „Eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr" (43). Daß man der Wirkung einer Meinung das Prädikat „beglückend" beilegt und diese Wirkung „gut, im Sinne des Nützlichen", findet, beanstandet Nietzsche nicht. (Er hat selbst im 29. Aphorismus auf beglückende und

Kommentar

389

nützliche Wirkungen von Meinungen hingewiesen, welche „eine solche Blüte, wie Religionen und Künste, herauszutreiben" imstande waren). Irrtümlich, meint er, sei aber der Schluß, daß die beglückende und im Sinne des Nützlichen gute Wirkung einer Meinung auch ihre intellektuelle Güte „im Sinne des Logisch-Gültigen" (43) etabliere. Standen schon diese beiden Beispiele zueinander in einem Umkehr-Verhältnis, so unternimmt Nietzsche es nun, die „Umkehrung" ebendieser Beispielsätze zu formulieren. Die des ersten Schlusses — „Eine Sache existiert", hat „Lebensfähigkeit", „also hat sie ein Recht", — lautet: Eine Sache ist nicht lebensfähig, „kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht". Die Umkehrung des zweiten Schlusses — „eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre" — lautet: „eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch" (43). Der Freigeist, heißt es, kenne diese Art von Fehlschlüssen nur zu gut und habe unter ihren Folgen zu leiden. Das bedarf kaum der Erläuterung: Seine Meinungen verletzen, sie wenden sich gegen alles aus Gewohnheit Akzeptierte; im gegenwärtigen Kontext vor allem gegen die — scheinbar oder wirklich — beglückenden Irrtümer der Religion, der Metaphysik, der dichterisch-künstlerischen Weltanschauungen. Sie werden daher nicht nur andern Unlust bereiten, sondern auch dem Freigeist selbst, insofern er, — wie Nietzsche in der Phase von MA, — gegen seine eigenen früheren Denkgewohnheiten und Neigungen ankämpft und dabei noch sehr wohl einen Zustand kennt, in welchem auch er sich am „Dufte der Blüten" berauschen will (42), oder „die Kunst .. dem Denker das Herz schwer [macht]" ( Μ Α I, 139). Seine Feinde, seine Freunde, er selbst werden versucht sein, ein Denken wie das seine, — e. g. die logische Weltverneinung (43), die entmenschte Chemie der Vorstellungen und Empfindungen (16), — zu verwerfen, weil es aufregt und quält. Und ebenso wird der Freigeist von sich und von andern zu hören bekommen, eine Sache wie die seine oder auch ein Wesen seiner Art könne sich nicht durchsetzen, sei nicht lebensfähig, und sei daher im Unrecht. Der sidi befreiende Geist hat Ursadie, sich mit entschiedenem Aufwand seiner Kraft gegen die Fehlschlüsse der .positiv' Gesinnten, die das Gegebene glorifizieren, die Annehmlichkeit, die Konvenienz, den Erfolg zum Kriterium der Wahrheit machen wollen, zur Wehr zu setzen. Die Spießer meinen, — wie der 30. Aphorismus wohl zu verstehen gibt, — was sich durchsetzt, sei im Recht, was zugrundegeht, im Unrecht; was angenehm zu hören sei, sei wahr, und was beunruhigt, unwahr. Dabei wendet sich, — im gegenwärtigen Kontext und wohl auch anderwärts in den Aufzeichnungen aus der Periode von MA, — Nietzsche vor allem gegen die schon oben angeführten Irrsdilüsse von den Wirkungen auf die Ursachen1, nämlich 1

Diese entsprechen dem zweiten Typus der im 30. Aphorismus angeführten Schlüsse. Es fehlt allerdings auch nidit an Einwänden gegen den ersten Typus, i. e. den Sdiluß von der Existenz (Lebensfähigkeit) einer Sache auf ihren Wert. Z.B.: „Alles Bleibende ergreift, macht Sehnsucht — so sehr verwechseln wir das Bleibende und das Gute"

390

Aphorismus 30

gegen die falsche Tendenz der Menschen, „den Ursachen dieselben Prädikate [beizulegen] . . wie den Wirkungen" ( / V 2, 4 0 7 (17 [ 8 9 ] ) , e. g. „große Wirkungen auf große Ursachen" zurückzuführen (7V 2, 5 2 2 (23 [ 7 0 ] ) 2 , und zumal gegen die Ungerechtigkeit, die darin liegt „eine Lehre . . nach ihren Wirkungen"

zu schätzen (IV

1,

117 (3 [ 4 8 ] ) , gegen den populären Glauben, daß das Beglückende einer Meinung ein Beweis für ihre Wahrheit sei (IV 2, 4 4 9 (19 [ 9 4 ] ) . Und im gleichen Sinn argumentiert er offenbar auch, wenn er meint, daß der Schluß von dem metaphysischen Bedürfnis auf ein metaphysisches Jenseits, das diesem Bedürfnis als Ursache zugrundeliege, zu Unrecht besteht, da das Bedürfnis nichts „über eine diesem Bedürfnis entsprechende Realität" beweist (IV

2, 4 4 6 (19 [85])®. Wenn er aber ebenda

behauptet, dieses Bedürfnis und diese Bedürftigkeit sollte „im Gegentheil" die Annahme einer metaphysischen Realität verdächtig machen und entkräften, so dürfte man sich fragen, ob er nicht selbst einem Vorurteil gehorcht, wenn auch dem umgekehrten, nämlich dem Glauben daran, daß die Wirklichkeit, oder die Wahrheit, es immer nur darauf abgesehen habe, unsere Wunsch-Vorstellungen zu enttäuschen 4 . Allerdings: ein derartiges Bedenken würde, gerade in diesem Zusammenhang, Nietzsches eigener Meinung zuwiderlaufen. Im Prinzip stimmt er jedoch mit dem Vorbehalt gegen die tendenziöse Anti-Tendenz, die dem Freigeist zur zweiten N a t u r wird, überein. Denn eben weil der Freigeist den Fehlschlüssen der gebundenen Geister und der herrschenden Meinung überhaupt in einem fort Widerpart halten muß,

2

3

4

(IV 2, 496 (22 [116])). Das Beispiel ist auch darum interessant, weil es zeigt, wie sich die Auslegung der Fehlschlüsse audi nach einer anderen, in unserem Kommentar vernachlässigten Seite hin verfolgen ließe, nämlich in Hinblick auf ihre Verankerung im längst spontan gewordenen Gefühlsleben. Gegen diesen „sehr gewöhnlichen Fehlschluß" führt Nietzsche unter dem Titel „Große Wirkungen falsch abgeleitet" als Argument an: „Erstens können es kleine Ursachen sein, welche aber eine lange Zeit wirken. Dann kann das Object, auf welches gewirkt wird, wie ein vergrößernder Spiegel sein: ein schlechter Dichter kann große Wirkung thun, weil das Publikum gerade ihm homogen ist, ζ. B. Uhland unter seinen schwäbischen Landsleuten" (IV 2, 522). Dabei ist auch charakteristisch, daß sich das Argument auf eine Pseudogröße des positiv gesinnten deutschen Philisteriums bezieht. Vgl. dazu auch IV 2, 541: „Dankbar gegen die Folgen. — Manche metaphysische und historische Hypothesen werden nur deshalb so stark vertheidigt, weil man dankbar gegen ihre Folgen ist." Zwar ist Nietzsches Argument hier komplexer, da er, unter Voraussetzung der Schopenhauersdien Lehre, derzufolge nur einer vom Willen befreiten Einsicht die Offenbarung der metaphysischen Wahrheit zuteil werden könnte, gegen Schopenhauer darauf hinweist, daß das metaphysische Bedürfnis, — eben „weil wir hier bedürftig sind", — die „Sprache des Willens" führe. Dennoch scheint mir, daß sich in dem Satz: „Ein Gott wäre anzunehmen, wenn er beweisbar wäre, ohne daß ein Bedürfnis ihn uns nöthig erscheinen ließe" (IV 2, 446), das ,negative' Vorurteil des Freigeists kundgibt. — Der Glaube daran, daß die Wirklichkeit unsere Wunschvorstellungen verläßlich enttäusche, ist übrigens bei modernen Intellektuellen häufig zu finden, e. g. in Freuds Polemik gegen die Religion als Illusion (i. e. Die Zukunft einer Illusion), wo er so unverhohlen ausgesprochen wird, daß man den Eindruck gewinnt, der Psychologe sei sich durchaus nicht dessen bewußt, wie sehr sein pessimistisches Vorurteil gegen die Realität seiner Prätention auf eine unparteilich wissenschaftliche Gesinnung widerspricht.

Kommentar

391

unterliegt er — und damit sind wir bei der Pointe des 30. Aphorismus — oft „der Verführung", es nun einfach umgekehrt wie die andern zu treiben, und der herrschenden Meinung „entgegengesetzte" Schlüsse zu ziehen, welche „natürlich ebensosehr Irrschlüsse sind", und etwa zu meinen: „Eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine Meinung macht Not, beunruhigt, also ist sie wahr" (43). *

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*

Es lohnt, dieser Tendenz des Freigeists nachzudenken. Manifestiert sie sich bloß als — besten- oder schlimmstenfalls ,mephistophelischer' — Widerspruchsgeist, der die gängigen Meinungen umkehren will? Erscheint sie auf höherer Stufe nidit als der Wille, um keinen Preis den gängigen Lügen und Illusionen der ,Positiven' zu verfallen? Sie hat das in der Moderne gefeierte Pathos der outsider, der Einzelgänger, der rat& für sich. Sie gehört wesentlich zu der modernen Mythologie des Rebellen, zur GeschiAte von Camus' homme revoke. Und nun ließe sich wiederum eine europäisdie Tradition verfolgen, die freilich auch die im Zusammenhang mit dem 29. Aphorismus erwähnten Pathetiker der Ambivalenz und Desillusionierung5 miteinschließt. Nur erweist sich, — selbst wenn man von faustischen Vorfahren, von Renaissance-Vorbildern, von früheren Skeptikern, protestierenden Bilderstürmern, esprits forts, etc. absieht, — diese Tradition als allzu umfassend. Denn zumindest seit dem 18. Jahrhundert scheint, — zusammen mit der Verbreitung des positiven Philisteriums, der bürgerlichen establishment, des Kapitalismus, — die Befähigung zu der Verneinung des Bestehenden, sei es im Denken, Fühlen oder Tun, nur immer entschiedener Anerkennung zu fordern als sine qua non und Kriterium, endlich als Wesen der Genialität, des höheren Menschentums, des fortschreitenden Menschengeists, usf. Beispiele dafür, — etwa Rousseaus Polemik gegen die Zivilisation, das prometheische und das Werthersche Rebellentum des Gefühls, der ,Alleszermalmer' Kant, Danton und die französische Revolution, Napoleon, — ließen sich, ohne daß man auf underground Literatur (e. g. de Sade) rekurrieren müßte, beliebig auch für die relativ frühen Stadien anführen. Spätestens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wird allenthalben die in Frage stehende Tendenz zu einem Dogma, einer Mode, einem Lebens-Stil erhoben und schafft sich selbst, bewußt, ihre historisch mythischen Antezedentien. Ein von Camus zitierter Ausspruch Bjelinskis faßt schon diese Tradition zusammen: „Die Verneinung ist mein Gott . . Meine Helden sind Zerstörer des Alten: Luther, Voltaire, die Enzyklopädisten, die Terroristen, Byron im ,Cain'."· Und es erübrigt sidi nun noch weitere Belege anzuführen. Denn man kann sagen, daß im Verlauf der Moderne für den typischen modernen Intellektuellen, aber auch für den modernen Künstler und den modernen — d. h. revolutionären — Täter alles „Affirmative' immer verdächtiger wird, sein Gewissen ihm zu schaffen macht, wenn er sich nicht wenigstens einreden kann, er sei in der Opposition. 5 8

Siehe oben, Seite 379 f. Albert Camus: Der Mensch in der Revolte (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1964), 165.

392

Aphorismus 30

Es versteht sich, daß Nietzsche, der früh von einer Gesellschaft der Vernichter träumt 7 und später den Nihilismus verkündet, an dieser Tradition wesentlich teilhat und sie mitbestimmt (wenn auch keineswegs im Sinne einer kollektiven, sondern im Sinne einer individualistischen Rebellion). Gilt ihm nicht jeder Befreier als Vernichter? Nietzsche will die negierende Tendenz radikalisieren. Zwar, wir erinnern uns, daß er den Wunsch, den theologisierenden Advokaten Gottes ein Ärgernis zu geben, als Motiv jedes pessimistischen Credos entlarven und ankreiden will (41 f.). Jedoch auch diese Absicht dient ja der Meinung, daß ebendieses Motiv der Rebellion antiquiert, eine Form negativer Abhängigkeit und also nicht radikal genug sei. Die Steigerungsform des gleichen Impulses, der in ihm immer mächtiger fortwirkt, anerkennt er aber durchaus audi weiterhin, da er sich rühmt — jenseits eines bloß antitheologischen Impulses — den Anwalt des Teufels, den Feind und Vorforderer Gottes zu spielen und zwar gerade in Hinblick darauf, daß seine Schriften eine beständige Aufforderung zur „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten" enthalten (ΜA I, 3)8, also aufgrund des hier in Rede stehenden Prinzips des rebellischen Widerspruchs. Indem Nietzsche die negierende Tendenz radikalisiert, trachtet er aber zugleich — und auch das hat er mit den führenden Repräsentanten unserer Tradition gemein — sie aufzuheben. Aus der Perspektive des Spätwerks gesehen, soll die radikale Verneinung nur die eine Phase der Umkehr darstellen, um als solche die andere der schöpferischen Bewegung, der bejahenden Umwertung aller Werte zu provozieren, die nun als positives Korrelat der Negation gilt. In der Neinsagerei des Freigeists, selbst in seinem irrtümlichen Vorurteil und seiner Vorliebe für Erfahrungen und Meinungen, die Not bereiten, beunruhigen, wehtun, nein-tun, manifestiert sich, — gemäß Nietzsches eigener Erfahrung, — jedenfalls ein wesentliches Merkmal aller Erkenntnistätigkeit: Zarathustra lehrt: „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet: an der eigenen Qual mehrt es sich das eigne Wissen". „Und des Geistes Glück ist dies: gesalbt zu sein und durch Tränen geweiht zum Opfertier" {75, 112; vgl. auch 75, 277). Schon in MA ist Nietzsche sich seines Hanges dazu, seine eigenen Gedanken zu widerlegen {ΜΑ II, 290 {Aph. 249)), seiner eigenen Voreingenommenheit gegen sich und für jeden Tadel {ΜΑ II, 293; Aph. 262), bewußt. Ist nicht der Denker sein eigener Feind? Hat er nicht oft „für das Schönste", das [ihn] . . nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick — weil es [ihn] . . nicht halten konnte" {74, 206)? „Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen? Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt, / Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?" {76, 235). Mag moderne Wissen7

8

Siehe IV1,124 (5 [29]). — Sonderbar berührt in diesem Zusammenhange auch, daß eine lyrisch-summarische Zusammenfassung von Jugenderinnerungen Nietzsches unvermittelt mit dem Namen „Ravaillac" — es ist der Name des Mörders von Henri IV — abschließt (vgl. IV1, 270). Übrigens eine Formulierung, die das Verfahren der Umkehrung nicht nur ausspricht, sondern zugleich durch einen Chiasmus stilistisch suggeriert.

Kommentar

393

schaft als „beste Bundesgenossin des asketischen Ideals" (76, 403) verdammt, Erkenntnis als „eine Form des Asketismus" (77, 272) gepriesen werden: — die Askese der Erkenntnis als Sadismus (vgl. 82, 252), vor allem als „gegen sich selbst gewendete Grausamkeit" (76, 156) und mithin als Masochismus; das Motiv: „Selbstkenner! Selbsthenker!" (77, 540) steht mit oder ohne Hoffnung auf die übermenschliche Transzendenz des hier ausgesprochenen Dilemmas im Mittelpunkt von Nietzsches Erfahrung. *

*

*

Zwar dieses auch für unsere Reihe zentrale Thema wird in dem prosaischen 30. Aphorismus nur angedeutet, mag dieser Aphorismus auch die Selbst-Transzendenz durch denkerisdie Selbstnegation und also jene Bewegung, von der eben die Rede war, durch seine vielfachen Umkehrstrukturen darstellen. Wir fassen die Betrachtung dieser Strukturen noch einmal zusammen, da sie den Aufbau des Aphorismus bestimmen, dessen Skelett sich in der Vorstufe (U II 5) deutlich abbildet. Die „gewöhnlichen" Trugschlüsse — „eine Sache existiert: also hat sie ein Recht. — eine Meinung beglückt: also ist sie die wahre" (IV 4, 173) — samt ihrer „Umkehrung" (43) („eine Sache kann sich nicht durchsetzen: also war sie im Unrecht, — eine Meinung quält, regt auf: also ist sie falsch" (/V 4, 173) — werden mit den ungewöhnlicheren, „entgegengesetzten" Trugschlüssen des Freigeists („eine Sadie kann sich nicht durchsetzen: also war sie gut. — eine Meinung macht Noth, beunruhigt: also ist sie wahr"; IV 4, 173) konfrontiert. Dabei ergeben sich aber Umkehr-Strukturen schon zwischen den zwei ersten, affirmativen Trugschlußformen, des weiteren zwischen diesen affirmativen und den negativen Formen der gewöhnlichen' Trugschlüsse und den umgekehrten, d. h. entgegengesetzten, Trugschlüssen des Freigeists. Und endlich dient der gesamte Aphorismus einer Umkehr, da nämlich die pessimistischen Fehlschlüsse des Freigeists, die aus Umkehr der optimistischen entstanden sind, in der höheren Freigeisterei wiederum aufgegeben werden sollen®. Der Freigeist, der sich zu pessimistischen Fehlschlüssen (dem Glauben daran, daß die Lebensunfähigkeit ein Argument für die Güte einer Sache, die Schmerzlichkeit einer Meinung ein Argument für ihre Wahrheit sei) verführen läßt, hat sich in Abhängigkeit begeben, hat seine Freiheit verloren. N u n muß er sich durch eine doppelte Umkehr sowohl aus den pessimistischen wie aus den optimistischen • Im Ansdiluß an diese Zusammenfassung wäre die Problematik und Berechtigung einer .Methode der Analogie' zu diskutieren, wie sie meinem Versuch die Umkehr-Strukturen nachzuweisen, zugrundeliegt. Daß .Umkehr' oder .Umkehrung' ein Wort, eine Metapher für vielerlei ist (e. g. für bedeutungsgleiche Verneinungsformen einer Aussage; für Antithesen; für Überwindung zweier Positionen durch ein Weder-Noch; oder für Annäherungen an derlei dialektische Beziehungen) muß zugegeben werden. Es scheint mir aber, daß ebendiese metaphorische Qualität und eine gewisse Ungenauigkeit der Kontur durchaus nötig sind, wenn man im Unterschiedlichen das Analoge aufspüren und die zueinander gehörigen, miteinander durch ein Gemeinsames verbundenen Aspekte eines Phänomens (oder einer Konfiguration von Phänomenen) bezeichnen will.

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Aphorismus 30

Fehlschlüssen lösen, um aufzusteigen in jene losgelöste Sphäre der skeptischen Indifferenz, die sich zu den beiden einander entgegengesetzten Sphären als das Entgegengesetzte verhält. Es ist das Schicksal der Denkenden, daß sie, was ihnen längst selbstverständlich war, vergessen und mühselig wieder-erlernen müssen: Weder die Tatsache, daß eine Sache sich durchsetzt und erhält, noch, daß sie dies nicht vermag, besagt etwas über ihre Güte oder Rechtmäßigkeit; weder das Beglückende noch das Quälende einer Meinung hat etwas mit ihrer Wahrheit oder Unwahrheit zu schaffen. Aber was mehr ist: Meint Nietzsche nicht, daß alle Werturteile wie gut und böse, rechtmäßig—unrechtmäßig, beglückend—quälend nur der Welt als Irrtum (i. e. als Vorstellung) angehören, mit der es die reine Erkenntnis zwar als Objekt zu tun hat, jedodi nur um ihren illusorischen Charakter zu durchschauen? Für die reine Erkenntnis hätte die Welt wohl weder Wert noch Unwert, sie wäre nicht gut und nicht böse (42), sie trüge weder Glück noch Unglück im Schöße (43). Hier erhebt sich aber nun noch dringlicher die lange hintangehaltene, schon zu Ende des 29. Aphorismus aufgeworfene Frage, wie sich der Freigeist als der Erkennende zur Welt des Irrtums zu verhalten habe. Der summarische Bescheid, „die Philosophie der logischen Weltverneinung"

lasse sich ebenso gut mit praktischer

Weltbejahung wie mit deren Gegenteil vereinigen (43), reicht nicht aus. Wie soll es überhaupt zu einer Vereinigung kommen zwischen dem allein im Irrtum sein Glück und Unglück, seinen Bedeutungsreichtum, seine Tiefe, sein ihm relevantes Erleben realisierenden Menschen und dem im gleichen Menschen hausenden, gewissermaßen entmenschten, all dieses Erleben als Irrtum durchschauenden Freigeist? Ebendiese Verbindung oder Koexistenz faßt der nächste Aphorismus ins Auge 10 . 10

Als Nachtrag sei hier kurz auf Aspekte der im 30. Aphorismus geübten Kritik an den Fehlschlüssen hingewiesen, die in unserem Kommentar nicht berücksichtigt wurden: 1. Diese Kritik ist für den ,Intellektualismus' von M A bezeichnend (der allerdings, — vgl. Apho 31, — durch die entgegengesetzte Tendenz qualifiziert wird). Das falsche, schlechte Schließen, heißt es anderwärts, war in älteren (mythologisierenden, abergläubischen, religiösen) Epochen die Regel (ΜΑ I, Aph. 271), so wie es auch heute noch im täglichen Betrieb, im Welttreiben, in der Politik die Regel ist (Μ A II, 2 7 7 ) ; und ferner — gegen Schopenhauer — : „Der größte Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, daß sie richtig schließen lernen" ( Μ Α I, 220). Audi über den Bereich von MA hinaus ist Nietzsches Kritik an den Fehlschlüssen relevant, da von ihr aus eine Gedankenentwicklung bis zur radikalen Kritik und Auflösung des Kausalitätsbegriffs (zugunsten des ungeteilten Flusses des Geschehens) führt. Wollte man diese Entwicklung verfolgen, so könnte man etwa ausgehen von der oben (Seite 390) zitierten Meinung Nietzsches, daß es falsdi sei, den Ursachen dieselben (Wert-)Prädikate beizulegen wie den Wirkungen. Einen weiteren Schritt bezeichnet der Satz aus der Morgenröte: „Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen" {73, 185). Und von diesem Ansatz her ergäben sich dann auch Zugänge zu der These, daß man sich immer noch den freien Willen als Ursache von jeder Wirkung vorstelle {78, 447), daß dem Konzept von Ursache und Wirkung die falschen Vorstellungen von Tun und Täter zugrundeliegen, i. e. von einem hinter dem Geschehen vorhandenen, dem ,Ich' analogen Täter und dem Geschehen als seinem Tun {83, 90 f.).

A P H O R I S M U S 31

Das Unlogischenotwendig. — Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für den Menschen nötig ist, und daß aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in allem, was dem Leben Wert verleiht, daß man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, daß die Natur des Mensthen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen.

Der 30. Aphorismus präsentierte sich zunächst als intellektuell pointierter dialektischer Angriff auf das Unlogische (i. e. auf die Fehlschlüsse) . Der 31. Aphorismus präsentiert sich, umgekehrt, als dessen Verteidigung, und zwar mit einer emphatischen Geste, die allerdings in der End-Fassung weniger auffällig und weniger eindeutig ist als in dem frühen Entwurf 17 [2]. In diesem — er beginnt mit dem Satz: „Zu der unbesiegbaren Nothwendigkeit des menschlichen Daseins gehört das Unlogische: daher kommt vieles Sehr Gutel" — bringt Nietzsche sein Hauptargument in drei Ausrufesätzen vor, um dem hierauf folgenden Ergebnis, daß der Mensch zeitweilig „wieder der Natur d. h. seiner unlogischen Urstellung zu den Dingen" bedürfe, nochmals hinzuzufügen: „Daher rühren seine besten Triebe" (IV 2, 392). Was ist aber unter dem Unlogischen, oder vielmehr — was ist unter dem Logischen zu verstehen? Wir wollen uns dem 31. Aphorismus auf einem Umweg nähern, indem wir zunächst versuchen, uns noch einmal Rechenschaft zu geben, welche Gegenmacht es vermochte, den Freigeist seiner „Natur" dermaßen zu entfremden, daß er sich auf sie erst besinnen muß. Wir erinnern uns daran, daß wir zu unterscheiden hatten zwischen der Logik, die ihrem Wesen nach Optimismus ist (20) und jener der „logischen Weltverneinung", (43), die sich als un-optimistisdi erweist (41 f.), zwischen Logik als Irrtum und Logik als sine qua non befreiender Wissenschaft und reinen Erkennens, zwischen Logik, die in ihren Voraussetzungen naiv befangen bleibt und jener höheren Stufe der Disziplin,

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Aphorismus 31

auf der sie sich kritisch gegen sich selber (e. g. das Identitätsprinzip) kehrt; und ferner überhaupt, da Nietzsche Logik oder das Logische als Synonym für Wissenschaft und Erkenntnis gebraucht, zwischen den niedrigeren Stufen und jener höheren und höchsten ,Erkenntnis der Erkenntnis', die sich bewußt auf und gegen das Erkennen selbst richtet, mithin von allem übrigen Erkennen zu trennen sein mag 1 , obschon sie ihrerseits, als kritisch-genetische Analyse, alles übrige Erkennen miteinschließt und in sich aufhebt. Wir stellten wiederholt fest: Die strenge Erkenntnis der Erkenntnis hat offenbar keine andere Aufgabe als alles übrige Erkennen, i. e. die gesamte Vorstellungswelt, ebenso wie die ihr selber zugrundeliegenden Setzungen zwingend als Irrtum (bzw. als Fiktionen) nachzuweisen; und allein in der Fähigkeit dies zu leisten, begründet sich ihr Anspruch auf Gültigkeit. Die Erkenntnis der Erkenntnis ist demnach in der Lage des Kreters, der behauptet, daß alle Kreter lügen. Die große Ausnahme, die letzte, die einzige Wahrheit, die Nietzsche dem Menschen zuzugestehen scheint, ist, daß er erkennen kann, daß und wie alle Menschen sich belügen. Sie hat mithin selbst die Struktur der Umkehr als Einheit des Selbstwiderspruchs. Die bekannte Auskunft, der radikale Skeptizismus gewähre dem gründlichen Denker keine permanente Unterkunft; die Auffassung der Skepsis als Ubergang, Rast am Wege, oder Augenblick der Erschöpfung scheint sich auch hier zu bewähren, da Nietzsche zugibt, daß die Erkenntnis der Notwendigkeit des „Unlogischen" „einen Denker in Verzweiflung bringen" könne (43). Oder könnte der Denker sich mit der Uberzeugung begnügen, daß die Erkenntnis ihre eigenen Setzungen selbst aufheben, als gegenwendig sidi selbst transzendierende Bewegung sich selber verzehren müsse, und daß diese Einsicht, die selber bloß Ausdruck jenes Bewegungsvollzuges wäre, nicht weiter zu bezweifeln sei? Auch der spätere Nietzsche definiert ja „Erkenntnis" als ein „Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander" (78,356). Setzt aber ein derartiges Messen, insofern es berechtigt sein will, nicht den Glauben des Erkennenwollenden voraus, daß der eine Irrtum sich weiter von der Wahrheit entferne als der andre? Was aber berechtigt zu dieser Annahme, wenn die Erkenntnis der Erkenntnis ihrerseits nur auf den Befund der Irrtümlichkeit einzuschränken ist, also ohne Ahnung von positiver Wahrheit bleiben muß? Wenn aber, — wie Wolff meint, —* Nietzsche in der Phase von MA doch noch annimmt, daß sich aus der Lösung von der tradierten, im Menschen selbst verfestigten Vorstellungs-Irrtumswelt eine frei schwebende, ahnende, annähernde Einsicht in das wahre Wesen der Welt ergibt, würde er dann nicht eine Spielart der mit Nachdruck verworfenen metaphysischen Überzeugungen bei der Hintertür wieder einlassen? Oder bleiben derartige Überlegungen immer noch in dem alten Gegensatz zwischen Welt als Ding an sich und Welt als Vorstellung und also in dem Anschein 1 Zu dieser „Dualität der Erkenntnis" vgl. Wolff, op. cit., 94 ff. * Wolff, op. cit., 95 ff.

Kommentar

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absoluter Gegensätze befangen? Das im 1. Aphorismus angegebene Grundthema der Reihe lautet: „Wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen", e. g. Logik aus Unlogik, Wahrheit aus Irrtümern? Eine Grundthese der Reihe lautet ebenda, daß solche Gegensätze, „außer in der gewohnten Ubertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung, „keine Gegensätze" seien, sich vielmehr durch Sublimierung auseinander entwickeln (15). Sollten wir also, statt von Wahrheit und Unwahrheit zu reden, nur Grade der Wahrscheinlichkeit anerkennen, da die Frucht vom Baum der Erkenntnis nur „Wahrscheinlichkeit" nicht aber Wahrheit ist?' Und wären die höchsten Grade und Stufen der Wahrscheinlidikeit diejenigen, von denen aus sich die früheren Grade und Stufen der Wahrscheinlichkeit begreifen ließen als Irrtümer, die sich notwendig auseinander entwickeln, hingegen die späteren, jüngeren Stufen und Grade sich von den früheren aus nicht durchschauen und erhellen ließen? Dürfte mithin die umfassendste Erhellung der Irrtümer den höchsten Grad von Wahrscheinlidikeit beansprudien, ohne sich aber deshalb der .Wahrheit' des An-sich audi nur um ein Iota anzunähern? Allerdings: auch dieses Gespinst des autonomen Relativismus scheint in der Luft zu hängen. Steht es mit dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit nicht ebenso wie mit dem der Wahrheit? Wenn Wahrheit nur „die Stellung gewisser Irrtümer zu anderen Irrtümern" bezeichnet; — und zwar aufgrund von vitalen Bedürfnissen organischer Lebewesen {83,101),

warum sollte dies nicht auch für die Wahrscheinlidikeit gelten?

Und wenn die älteren, tiefer einverleibten Irrtümer uns als wahr gelten, da wir ohne sie nicht zu leben wissen {83,101);

müßten sie uns nicht auch als wahrscheinlich impo-

nieren? Damit hätten aber gerade die ältesten Irrtümer Anspruch auf den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit und ihre sublimierten, späteren Formen würden nur denjenigen als wahrscheinlich imponieren, die eine entsprechende Triebentwicklung durchgemacht hätten, so daß am Ende, — zumal es hier keine Garantie der ,HöherEntwicklung' gibt, — auch keine Progression in der ,Sublimierung' der Irrtümer zu statuieren ist, — wie denn der spätere Nietzsche audi nichts anderes annimmt als einen Kreislauf, indem sich in der Gestalt aller Entwicklungsformen audi alle perspektivischen Wertschätzungen und Auffassungen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit wiederholen müßten, über deren Gültigkeit aber auch konsequenterweise nur ein Glaube an eine als mächtig und vornehm dekretierte vitale Substanz, an ein entscheiden könnte, — wenn Nietzsche eben nicht doch auch festhielte an einer im Grunde nie aufgegebenen metaphysischen Überzeugung bezüglich der wahren Welt und ihrer Physis, als welche ihm die des — allerdings nicht sagbaren, nicht logisch formulierbaren — Werdens gilt. Es ist dennoch wahrscheinlich, daß sich Nietzsche im 1. Hauptstück, gemäß der im 1. Aphorismus aufgestellten These, mit der oben erwähnten Vorstellung einer progressiven Sublimierung der Grundirrtümer zufrieden gibt, von deren Gipfel aus ' Diese These eröffnet das Buch „Der Wanderer und sein Schatten" (ΜΑ II, 167).

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Aphorismus 31

sich die primitiveren Stufen erhellen lassen, ohne daß diese Erhellung mehr oder anderes wäre als Aufklärung über unsere menschlidi-allzumenschlidie Welt als Vorstellung. Unter dieser — allerdings nicht begründeten — Voraussetzung wäre audi den scheinbaren Widersprüchen ihre Bedeutung genommen. Sie dürften als Akkomodationen an die allzu starren Fiktionen der Sprache gelten. Anderseits ergibt sich aus der Tatsache, daß eine Richtung der Bewegung, nämlich zunehmende Verflüchtigung der vital interessierten ,Impulse', als unumgänglich für die Gewinnung höherer Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsgrade gilt, ein Dilemma, wenn nicht für das Denken überhaupt, so doch gewiß f ü r den Denker. Denn je mehr dieser eine hochgradige Sublimierung der vitalen Grundelemente, — der Begierden, des Egoismus, der Illusionen, der Interessen, — erreicht, desto mehr werden ihm alle Perspektiven, die dem Leben Wert verleihen, als Irrtümer durchsichtig, und desto mehr wird er sich aus der Vitalsphäre lösen, wodurch ihm endlich der Impuls zum Leben selbst abhanden zu kommen droht. *

*



Damit sind wir nun wieder bei der Frage, die den 31. Aphorismus beherrscht. Schon die im 20. Aphorismus geforderte Rückbesinnung belehrte den Denker, daß die größte Förderung der Menschheit von den archaischen Stadien des Denkens herrühre (34); und das Resultat seines eigenen losgelösten Denkens war die Erkenntnis, daß nur die Welt als Irrtum für den Menschen bedeutungsreich sei (43). Wir wissen längst, „daß das Unlogische für den Mensdien nötig" ist, „daß aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht" (43 f.). Erst jetzt aber heißt es, diese Erkenntnis könne den Denker in Verzweiflung bringen. Nietzsche begleitet den Freigeist auf einem immer weiter führenden Weg. Schien es vorher (39—41) noch möglich, Güter der überwundenen Stadien in das neue Stadium hinüberzuretten und umzufunktionieren, so ergibt sich nun, daß, bei zunehmender Autonomie und zunehmendem Radikalismus der denkerischen Emanzipation, sich immer weniger vitale Schätze und Tröstungen konservieren lassen. Wollte man das denkerisch überwundene Unlogische aus Leidenschaften, Sprache, Kunst, Religion, ja aus allem, was dem Leben Wert verleiht, entfernen, so müßte man „diese schönen Dinge" „heillos" beschädigen (44). Da nun das Logische selbst nur aus verflüchtigender Sublimierung des Unlogischen entsteht {Apbo 1), ist es freilich bloß Naivität, — nämlich Symptom einer noch unvollständigen Einsicht, eines noch unreinen Erkennens, — wenn man glaubt, die Natur des Menschen lasse sich in eine rein logische verwandeln. Aber würden nicht selbst die möglichen Grade der „Annäherung an dieses Ziel" (44) ein unerträgliches Opfer an vitalen Illusionen fordern 4 ? 4

Wiederum ergibt sich — wie in den zu Apho 29 angeführten Stellen (s. oben, 380) — ein Zusammenhang mit der einigermaßen trivialen Rehabilitation vitaler Affekte in der Zusammenfassung von Dührings Wert des Lebens·. „Das Spiel der Affekte macht alle Lebensäußerungen bis zur Produktion der abstraktesten Ideen begreiflich.

Kommentar

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Der Aphorismus ist von der Antithese zwischen den Wert verleihenden Lebensgütern und der Erkenntnis beherrscht. Hatte der Freigeist zuvor Ursache, sich auf seinem Weg zur Loslösung Mut zuzusprechen (vgl. Apho 17), so muß er sich nun, bei annähernd erreichter Denkhöhe und Loslösung von den vitalen Illusionen die erneute Erfahrung ihrer lebensnotwendigen Funktion als Heilmittel verschreiben. „Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen" (44). Aus der Umkehrbewegung der Rückbesinnung (Apho 20) wird hier die Umkehr des ganzen Menschen, der als nötig geforderte temporäre Umschlag und Rückfall in die Irrtumswelt, die Empfehlung der Regression als nötige Erfrischung. Die gegen die eigene negierende Tendenz gerichtete Selbstkritik des Freigeists im 30. Aphorismus wird also hier fortgesetzt und zum Eingeständnis eines ungelösten Konflikts erweitert. Schon zu Anfang des 31. Aphorismus erweist sich ja dies verkehrte Verhältnis des Denkers zur Welt, den, was diese den Mensdien wert macht, — nämlich: das Unlogische, der Irrtum, — in Verzweiflung bringt. Auch das Ende des Texts gilt dieser seiner unnatürlichen, umgekehrten Stellung, um deren Umkehr: die zeitweilige Selbstaufgabe zwecks Wiedererlangung der Grundstellung des Menschen, zu verlangen, zugleich also wiederum der ambivalenten Behandlung des Themas, das im Zusammenhang mit dem vorhergehenden Aphorismus besprochen wurde5, jedoch erst vom späten Nietzsche, — etwa in der Genealogie („Was bedeute» asketische Ideale?"), — in radikaler Weise und mit extremer Polemik vorgetragen wird, nämlich dem Asketismus des Erkennenden. Haben wir aber damit nicht schon zugegeben, daß unsere Auslegung innerhalb des Kontexts von MA eine allzu radikale ist, und also Nietzsches Ansicht verzerrt? Im 31. Aphorismus wendet Nietzsche sich ja gegen den Glauben, die Natur des Menschen könnte in eine „rein logische verwandelt" werden (44). Diejenigen, die diesem Irrtum anhängen, bezeichnet er mit einer ironischen Wendung als „allzu naive" Menschen. Denn ebendiese im Schillerschen Sinne sentimentalischen (i. e. unnaiven) Intellektuellen, die nichts als Intellektuelle sein wollen, sind in Wahrheit noch naiv, weil sie die allen Menschen unabdingliche Befangenheit im Naiven, Irrtümlich-Natürlichen nicht durchschauen, diese Befangenheit vielmehr verleugnen wollen, wodurch sie aber gerade nur ihre eigne naive Befangenheit, nämlich ihre Un-

5

Die Leidenschaften gehören zum Leben, man darf sie nicht als Störer des Glücks verdächtig machen. Das Dasein wird eine öde Wüste ohne Liebe und H a ß . Die Mensdien wollen die gleichmäßige Ruhe gar nicht, sie suchen Erregung und Aufregung. Sie fordern Lust und Schmerz gleichsam heraus. Nichts Großes wird ohne Leidenschaft vollbracht, sagt Aristoteles. Das Leben selbst ist jenes Große, welches nicht ohne Leidenschaft vollbracht wird" ( / V 1, 214). Vgl. auch / V 1, 2 4 7 : „Die Natur . . bedarf . . zeitweilig der Irrthümer"; und ferner Nietzsches eigene Anmerkung zu Dühring: „Ich wünsche untersucht, was die Menschheit den Einbildungen, dem unreinen Denken verdankt, ja ob ein höheres Leben möglich ist, nachdem nur erst die Skepsis hier zur H e r r schaft kommt, ζ. B. ist Kunst noch möglich?" ( / V 1, 223 f.). Siehe oben S. 392.

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Aphorismus 31

f ähigkeit zur Erkenntnis der Erkenntnis, i. e. zur Erkenntnis der allzumenschlichen Befangenheit im Irrtum, beweisen. Und nur einen solchen naiven Anti-Naiven, — nur den Denker, der (wie es in einer Vorstufe heißt) „alle Menschen zu Denkern machen möchte" (/V 4, 173), und zwar zu nichts als Denkern, — sollte wohl die Erkenntnis der Notwendigkeit des Unlogischen „in Verzweiflung bringen können" (43). Am Ende ist der Intellektuellen Not ein psychologisch mensdilich-allzumenschliches Drama. „Kunst Religion usw." geben den Menschen reichlich Gelegenheit, ihre unlogische Natur auszuleben. Mag aber auch die Wissenschaft „dem, welcher sie fördert, Lust" bereiten, so bereitet sie dodi dem „sehr wenig" Lust, der nur ihre „Resultate empfängt". Und also geschieht es, daß der Intellektuelle, je ausgebreiteter, umfänglicher, konsolidierter und weniger abenteuerlich die Wissenschaft wird, keine oder doch eine zu geringe Möglichkeit zur vitalen Entladung seiner ,Natur' hat: „Wir müssen das Reich der Unwahrheit in uns halten: dies ist die Tragödie" (IV 2,470 (21 [53])). Die Lösung dieser Schwierigkeit sieht Nietzsche schon in ΜΑ I in dem „Doppelgehirn", das eine höhere Kultur dem Menschen geben muß, „einmal um Wissenschaft, sodann um Nichtwissenschaft zu empfinden", denn in diesem Bereich liegt die „Kraftquelle", in jenem „der Regulator" (ΜA I, 205 f.). Dennodi mag dieser Kompromiß für den radikalen Freigeist, den Menschen, der allein um der Erkenntnis willen zu leben begehrt, keine Lösung bedeuten, sondern ihm nur die Hoffnungslosigkeit seiner Erkenntnisleidenschaft bestätigen. Und ebendieser unentwegte Freigeist und sein vorerst unlösbarer Konflikt wird in den folgenden Aphorismen bis zu jener letzten Wende verfolgt, an der sich statt des Tragödienschlusses eine gelassenere Lebenshaltung als Weisheit empfiehlt.

A P H O R I S M U S 32

Ungerechtsein notwendig. — Alle Urteile über denWert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urteils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlid) sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, daß jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist, und zwar dies mit voller Notwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so daß wir ein logisches Recht zu einer Gesamtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maß, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Größe, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müßten wir uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgend einer Sadie zu uns gereiht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, daß man gar nicht urteilen sollte; wenn man aber nur leben könnte ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! — denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu etwas oder von etwas weg, ohne ein Gefühl davon, daß man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles, existiert beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und können dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.

Im Rahmen des 1. Hauptstüdes führt Aphorismus 32 die Tragödie des Denkers, dessen Absurdität und Qual mit seinem Heroismus der Erkenntnis eng verflochten sind, nodi einen Schritt weiter. Daß nicht nur „die unlogische Grundstellung" (Apho 31), sondern auch das „Ungerechtsein" „notwendig" ist (44), ergab sich im Grunde schon aus dem Vorhergehenden (e. g. Apho 29). Jetzt heißt es summarisch: „Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht" (44). Damit stellt Nietzsche das Ergebnis des folgenden Arguments zwecks größerer Eindringlichkeit als zu beweisende These an den Anfang1. 1

In der ersten Fassung (IV 1, 211 f.) steht diese These als Zusammenfassung der Vorhergegangenen am Anfang des zweiten Abschnitts, der, obschon nicht mehr als solcher hervorgehoben, in der Endfassung mit den Worten „Vielleicht wird aus alldem folgen . .

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Aphorismus 32

Die Unreinheit des Urteils wird folgendermaßen begründet: 1. Die Kenntnis des vorliegenden Materials — d. h. des Lebens — ist immer unvollständig. 2. Aus diesem unvollständigen Material werden unverläßliche Summen gezogen, wird „z. B. eine falsche Verallgemeinerung gemacht.. (die Summe unserer Erfahrungen kann nie zu einem Urtheil über das Leben berechtigen).." (/V 1, 211 f.). 3. „Jedes einzelne Stück des Materials" ist seinerseits „Resultat unreinen Erkennens", „und zwar ganz nothwendig: keine Erfahrung ζ. B. über einen Freund kann vollständig sein, so daß wir ein logisches Recht zu einer Gesamtschätzung hätten. Alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein" (/V 1, 212). Endlidi ist 4. „das Maß, womit wir messen, unser Wesen", eine „Stimmungen und Schwankungen" (44) unterworfene Variable (vgl. audi Apho 2); wir müßten aber „uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen" (44). Nietzsches Argument erstreckt sich hier also nicht bloß auf Pauschalurteile über den "Wert des Lebens (e. g. Optimismus, Pessimismus), sondern auf Werturteile überhaupt, und legt die Folgerung nahe, daß der Erkennende leben sollte, ohne zu urteilen . . . Nur daß man, ohne zu urteilen, nicht leben kann! — Ebendiese Umkehr macht die Struktur des Aphorismus aus. Ohne Abneigung und Zuneigung, welche im Menschen notwendig mit einer Schätzung zusammenhängen, kann der Mensch als Mensch nicht bestehen: „Ein Trieb zu etwas oder von etwas weg, ohne ein Gefühl davon, daß man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles existiert beim Menschen nicht" (45). Dieser Gedanke, wie der 32. Aphorismus überhaupt, entstammt Nietzsches Notizen zu Dührings Wert des Lebens. Aus der Zusammenfassung von Dührings Ansichten wären hier nochmals die zu Apho 28 angeführte Sätze bezüglich der praktischen Urteile und Werte, sowie bezüglich der Wertfreiheit reiner Erkenntnis zu zitieren®. Ferner: „Jede bejahende Werthschätzung ist ein Zustreben, jede Verneinung ein Entgegenstreben. Jedes praktische Urtheil läuft auf Zuneigung oder Abneigung zurück... Das Urtheil über den Werth des Lebens ist, kurz gesagt, eine Gemüthsbewegung — entweder Lebensdrang oder Lebensüberdruß" (/V 1, 209 f.). Und — ebenfalls der Zusammenfassung entnommen — : „ . . . aus den vielen einzelnen Werthschätzungen resultiert als Summe die jedesmalige Ansicht vom Werth des Lebens. Bei keiner Werthschätzung handelt es sich um reine Erkenntniß, alle sind Gemüths-Affektion [und] . . ihre Summe ist auch nichts als eine Gemüths-AfTektion: das Urtheil über den Werth des Lebens kann nie reine Erkenntniß sein" (/V 1, 211).

2

(44) beginnt. [Der Hinweis auf die erste Fassung in IV 1, 211 f. [9 (1)] fehlt in den Anmerkungen zum 32. Aphorismus (vgl. IV 4, 173); hingegen der ebenda gegebene Hinweis auf 9 [1], 254 ff., i. e. die Vorstufe des 33. Aphorismus, in die nächste Zeile gehört. Daß es sich um einen Druckfehler handelt, geht audi daraus hervor, daß in den Anmerkungen zu 9 [1] (IV 1, 211 f.) der richtige Hinweis („vgl. Μ A 32") steht (siehe IV 4, 388).] IV1, 208 f. Siehe oben, S. 374 f.

Kommentar

403

Hier aber setzt nun Nietzsches Korrektur ein: „Ich will doch hinzufügen, daß es riditiger noch wäre, alle solche Urtheile unreine Erkenntnisse zu nennen" (IV1,211); worauf die Urfassung des 32. Aphorismus folgt. Nietzsche verlegt also — gegenüber Dühring — den Akzent von der „Gemüths-Affektion" auf die Mangelhaftigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens. So heißt es auch etwa später: „Liebe und Haß nicht ursprüngliche Kräfte. — Hinter dem Hassen liegt das Fürchten, hinter dem Lieben das Bedürfen. Hinter Fürchten und Bedürfniß liegt Erfahrung (Urtheilen und Gedächtniß). Der Intellekt scheint älter zu sein als die Empfindung" (IV 2, 566) 3 . Aus der Einsicht in die intellektuelle Unreinheit der Werturteile und in ihre Lebensnotwendigkeit ergibt sich das verzweifelte Resultat: „Wir sind von vornherein unlogische und daher auch ungerechte Wesen und können dies erkennen! Das ist eine der ungeheuersten Disharmonien des Daseins!" (IV 1, 212). An dieses Ergebnis schließt sich aber in den (von Nietzsche selbst stammenden) Notizen zu Dühring aus dem Sommer 1875 ein weiteres Argument an, das sich sehr wohl noch als Verteidigung des Pessimismus anführen ließe: „Wir tragen doch ein Maaß in uns, womit wir hier das Dasein messen und das ganz unverrückbar ist: es wird wohl der Satz der Identität sein. Wiederum ist dieses Maaß gerade die einzige Harmonie, weldie wir kennen. Uns scheint es so, daß die disharmonische Welt existiert, jene Harmonie im Satz der Identität aber nichts als eine Theorie, eine Vorstellung ist. Kann man sich aber das Sich-Widersprechende als wirklich denken? Die sogenannte Wirklichkeits-Philosophie [i. e. Dührings] empfiehlt sich durch dies Wort dem populären Vorurtheil über Wirklich und Nichtwirklich. Aber wenn ζ. B. feststünde, daß ohne den Begriff einer harmonischen Wirklichkeit gar nicht die Dinge geschätzt werden könnten, nicht einmal falsch, so ist ja das Urtheilen, Werthe-bestimmen selbst nichts andres als Messen der .wirklichen' Welt an einer, die uns für wirklidier gilt. Also: die Unterscheidung zweier Welten, von denen die eine die schlechtere ist, die unwirklichere im Vergleich zu einer wirklicheren besseren, die These somit des Pessimismus ist die Thatsache, welche allem Werthschätzen vorausliegt; sie liegt in der Constitution des urtheilenden Verstandes, der von der Identität als der ihm zugänglichen Welt ausgeht. Die Entstehung des Verstandes und seine Constitution ist nicht aus dem praktischen Verhalten zu den Dingen abzuleiten, der Verstand ist keine Herausbildung des Gemüths. Sondern alles Zu- und Abneigen setzt schon den Verstand voraus und in ihm den Satz des Widerspruchs; ohne Logisches auch keine Empfindung, keine Stimmung, keine Vorstellung" (IV 1, 212 f.). s

Vgl. dazu IV 2, 496: „Bewußtes Empfinden ist Empfindung der Empfindung, ebenso bewußtes Urtheilen enthält das Urtheil daß geurtheilt wird. Der Intellekt ohne diese Verdoppelung ist uns unbekannt, natürlich. (Es ergiebt sich, daß ,Empfindung' in dem ersten Stadium empfindungslos ist. Erst der Verdoppelung kommt der Name zu. Bei der Verdoppelung ist das Gedächtnis wirksam.) Fühlen ohne daß es durch das Gehirn gegangen ist: was ist das? — Lust und Schmerz reichen nur so weit als es Gehirn giebt."

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Aphorismus 32

Diese Überlegungen sind offenbar noch weit entfernt von jener Geste, mit der Nietzsche im 28. Aphorismus das pessimistische Glaubensbekenntnis abfertigen zu wollen schien; da er vielmehr die These des Pessimismus hier der „Constitution des urtheilenden Verstandes" zuordnet und dieser Priorität, selbst vor Empfindungen, Stimmung, Vorstellung, zuerkennt. In Wahrheit setzt sich aber Nietzsche ja immer wieder — vor, in und nach MA — mit dem Pessimismus der Erkenntnis und des Erkennenden, bzw. mit dessen Verzweiflung an der Welt, an der Erkenntnis, am Menschen auseinander; wie auch der Pessimismus — später: der Nihilismus — immer wieder in anderer Gestalt und mit anderen Argumenten auftritt. Im gegenwärtigen Zusammenhang erscheinen drei Möglichkeiten als relevant: 1. das .Logische', bzw. unser Logisches, — die vom,Geist', bzw. von unserer Erkenntnis, statuierte harmonische, .wirklichere' Welt der Ideen ist die wahre; die sogenannt .wirkliche' Welt der Erfahrung genügt oder entspricht ihr nicht; und ist daher zu entwerten, radikaler: ist ein zu verneinender Schein. Zur Charakteristik dieser Auffassung heißt es beim frühen Nietzsche: „Der Pessimismus ist die Folge der Erkenntnis vom absolut Unlogischen der Weltordnung: stärkster Idealismus wirft sich in Kampf gegen das Unlogische mit der Fahne eines abstrakten Begriffes, ζ. B. Wahrheit, Sittlichkeit usw. Sein Triumph [ist die] Leugnung des Unlogischen als eines Scheinbaren, nicht Wesentlichen: Das ,Wirkliche' ist eine ιδέα" (82, 32). Sdion der frühe Nietzsche sucht sich dieser Auffassung, zumal durch die ästhetische Rechtfertigung der Welt, immer wieder zu entziehen; und glaubt auch als Metaphysiker nicht an ein logisches Metaphysikum. 2. Die von unserer Logik (unserer Erkenntnis, unserem Geist) postulierte logischharmonische Sphäre ist eine Fiktion. Wirklich ist, — um die oben angeführte Notiz zu Dühring zu zitieren, — allein „das Sich-Widersprechende", das sich allerdings nicht „denken" läßt. Auch in dieser Auffassung werden beide Sphären festgehalten. Ebenso wie man unter Voraussetzung der allein wesentlichen geistigen Sphäre der anderen, illusorischen bedarf, um den .Idealismus' an ihr zu bewähren, so bedarf es nun des illusorischen logischen Fiktionalismus, — der Fiktionen der Erkenntnis, Wahrheit, usf., — um das alogisch Wirkliche überhaupt, — wenn auch nur e contrario, — zu Bewußtsein zu bringen. Verzweifelt der Jünger der Erkenntnis im ersten Fall an der ,Welt', so verzweifelt er im zweiten Fall an der Erkenntnis, an dem Idol .Wahrheit'; weshalb er, — wie der spätere Nietzsche, — wohl auch über das Erkenntnis-Ideal hinaus ein Wunschbild schöpferischer Vitalität anstreben mag. 3. Sowohl dem .Logischen', der Erkenntnis, usf., wie der .Welt' (dem ,Leben') sei ihr Recht zugestanden. Jedoch auch in diesem Fall erweist sich, daß unsere ,Logik' nicht ausreicht, um Welt und Leben gerecht zu werden. Nun muß der nach Erkenntnis Strebende an sidi selber verzweifeln, da er einsieht, daß der Mensch ein unlogisches und daher ungerechtes Wesen ist, — es sei denn, daß er aus der Resignation in diesen Zustand das Motiv zur Weisheit, d. h. zu einer weisen Lebenshaltung gewinnen kann: Hat doch „die Annahme von der gründlichen Ungerechtigkeit jedes Han-

Kommentar

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delns [und] jedes Urtheilens .. großen Einfluß darauf, daß der Mensch sich von dem allzuheftigen [und immer illusorischen] Wollen befreie" (IV 2, 415)\ Die dritte Alternative liegt in MA am nächsten, was nicht bedeutet, daß die anderen aus dem Bereich von Nietzsches Denkmöglichkeiten je ausgeschlossen sind. Ob der ,Welt', der ,Logik' oder dem ,Menschen' die Schuld gegeben wird, der radikal nach Wahrheit Strebende hat in allen diesen Fällen Ursache zu verzweifeln, einmal weil er in einer Welt der Lüge lebt, in der er gewissermaßen nichts zu suchen hat; das andere Mal, weil sein Erkenntnisideal illusorisch ist, er also einem falschen Götzen dient; das dritte Mal, weil er als Mensch unfähig dazu ist, der Welt oder dem Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn wir aber hier die Verzweiflung des Wahrheitsuchers betont haben, so deshalb, weil sich Nietzsche in der Phase von MA der Tröstung durch das Verführerische, das im Unlogischen liegt (82, 159), anders und entschiedener als in frühen und späteren Epodien zu verschließen gesonnen ist; und weil ttn Kontext des 32. Aphorismus der Akzent auf der Tragödie des Erkennen·Wollenden liegt. Wiederum ist zu fragen: Wie soll sich, — wenn das MißVerhältnis zwischen Erkennen und Leben eine der „größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins" (45) ist, — die „Philosophie der logischen Weltverneinung", sei es mit praktischer Weltbejahung, sei es mit praktischer Weltverneinung vereinigen lassen (vgl. 43)? Denn obschon nun in Hinblick auf die Ungerechtigkeit aller Werturteile über das Leben für den Erkennenden keinerlei Berechtigung mehr besteht, das Leben positiv oder negativ zu werten, so scheint er sich dodi überhaupt in einem Unverhältnis zum Leben zu befinden. Zwar als Erkennen-Wollender hat er ein Motiv, weiterzuleben, nämlich: um weiter zu erkennen; aber er hat dieses Motiv auch wiederum nicht, da er weiß, daß sich Leben mit Erkenntnis und Gerechtigkeit nicht in Einklang bringen läßt. So ließe sich die Indifferenz des Erkennenden, welche das Leben als Befangenheit in Unwahrheit und Ungerechtigkeit durchschaut hat, auch wohl als ein Zustand bezeichnen, der sich als nahezu perfekte Losgelöstheit weder mit praktischer Weltbejahung noch mit praktischer Weltverneinung vereinigen läßt. Ist der wahrhaft Erkennen-Wollende dem Leben zugeneigt? Ist er dem Leben abgeneigt? Müßte er sich nicht vielmehr als der dem Leben entfremdete Wanderer beständig um den Nullpunkt bewegen? Das entspräche Nietzsches Lebenserfahrung in der Phase von MA. So liegt der Gedanke nahe, daß auch diese Philosophie „das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mimoires" (76,12) ist.

4

Vgl. zu diesem Versuch, die Intensität des Wollens zu brechen auch IV 2, 484 (22 [52]): „Wollen ist in jedem Falle eine Selbsttäuschung" usw.

STUDIE ZUM 33. APHORISMUS APHORISMUS 33 Der Irrtum über das Leben zum Leben notwendig. — JederGlaube an Wert und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, daß das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegrenzte Teile desselben ins Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Wert des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei übersieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen ins Auge faßt, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten läßt und sie in betreff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im ganzen etwas hoffen und insofern an den Wert des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Wert des Daseins, aber gerade dadurch, daß sich jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Außerpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Wert des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, daß er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der große Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, daß er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Los und Leiden teilnimmt. Wer dagegen wirklich daran teilnehmen könnte, müßte am Werte des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesamtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, — denn die Mensdiheit hat im ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweif elung. Sieht er bei allem, was er tut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als

I. Über Nietzsches Schreib- und Denkstil

407

Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüte von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. — Wer ist aber desselben fähig? Gewiß nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu. trösten.

1. Exkurs über Nietzsches Schreib- und

Denkstil

Wir meinten a. a. O.1, daß Nietzsches Schreibweise sich aus einem, im 19. Jahrhundert weit verbreiteten, gewissermaßen beschwingten Gelehrtenstil entwickle und diesen steigere. Das sollte nicht dahingehend mißverstanden werden, als ließe sich mit dieser Meinung auch das jeweilige Produkt einer solchen Entwicklung und Steigerung ausreichend charakterisieren. Mit Recht rühmte sich Nietzsche seiner Meisterschaft über „viele Möglichkeiten des Stils" (77, 342). Und gerade das Auffälligste an Nietzsches Stil sind seine bewußten Stilisierungen, e. g. des Frühwerks im Sinne Schopenhauers, dessen Schule auch der spätere Nietzsche nicht verleugnet; seiner Aphorismenbücher im Sinne einer — von Nietzsche selbst hervorgehobenen — französischen und europäischen Tradition; des Zarathustra in Form einer feierlichen Parodie auf den Stil von Luthers Übersetzung der Bibel, usf. Fragen wir aber nun weiter nach einer, in ihrer Wandlungsfähigkeit verwandten Artistik, so will uns Nietzsches Denk- und Schreibstil an Wagners Kompositionen erinnern. Ich will diesem Eindruck ohne Anspruch auf Systematik nachgehen. Erweckten Nietzsches Schriften nicht in einem akademischen Kontext — zunächst der Altertumskunde (man denke an den Streit um die ,Zukunftsphilologie' der GdT), dann unter den Philosophen, — einen ähnlichen Eindruck wie Wagners Gesamtkunstwerke im Bereich der Musik und der Oper? Oder auch wie Heines feuilletonistische Prosa im Bereich der .Dichtung'? Anhänger und Propagandisten meinten jeweils, das sei mehr als Dichtung, respektive Musik und Oper, respektive Philologie oder Philosophie. Hingegen empfanden andere — und nicht nur Puristen — die schließlich für das späte 19. Jahrhundert überhaupt charakteristische Annäherung an das Potpourri, an die Mischung der Stile und ihre Auflösung. Nietzsche selbst ist sich dieser Gefahr sehr bewußt. Er tadelt etwa an Heine, daß dieser als Virtuose alle Stilarten durcheinanderwerfe und die Hanswurstjacke liebe (IV 1, 357); oder er rügt an Wagner die „ehrgeizigste Combination aller Mittel" (IV 3, 352), die Schauspieler-Begabung (77, 357), die Stil-Auflösung und damit „Verzichtleistung auf Stil überhaupt" (78, 562). Und dem entspricht — in anderer Sphäre — allerdings auch die Polemik gegen gelehrte Sprachbarbarei, gegen die Vermischung der Stilarten zum Stil der Stillosigkeit in der Satire auf den Bildungsphilister, D. F. Strauss (ÜB I). Offenbar geht es für Nietzsche in allen diesen Fällen um Symptome des Verfalls, der decadence, an der er selber teilzuhaben, deren 1

Siehe oben S. 379.

408

Studie zum 33. Aphorismus

Macht er an sich selbst erfahren zu haben meint, deren Überwindung aber audi durdi die Befähigung zur Meisterung, zur Subordinierung, zur Synthese der Stile bewiesen werden könnte. Und diese wäre dann das Gegenteil des Potpourri und der Stilauflösung, obschon sie aus dieser als Gegensatz hervorgegangen wäre wie die wiedergewonnene höhere Gesundheit aus der Krankheit; wobei man — wie der frühe und späte Nietzsche hinsichtlich Wagners — sich offenbar uneinig darüber sein mag, ob man es jeweils mit einer .dekadenten' (e. g. zugleich raffinierten und sensationalistischen, primitivistischen und überladnen) Kombinatorik oder einer dionysischvitalen Synthese zu tun habe. Ein weites Feld! Man kennt die Argumente für die, — oft als klassisch und gesund bezeidinete — Reinheit und Scheidung der Stile, Genres, Formen und gegen deren dekadente Vermischung. Aber man kennt auch die Argumente für die Synthesis und gegen die, — oft als steril, künstlich, byzantinisch-akademisch, lebensfern, epigonal empfundene, — strenge Trennung der Stile, Genres, Formen. Der Streit tangiert im Grunde alles: die Lyrik und das Feuilleton, den Roman, das Drama, die Oper und das Gesamtkunstwerk sowie den Stil der Wissenschaft und der Fachidioten. Warum ζ. B. die Sdieidung des Denkers vom Dichter, des Gedidits von der Musik, der bildenden Kunst von der Kunst der Bewegung? Ist die Forderung der Gesundheit nicht vielmehr ,the whole man must move together'? Ist die Spezialisierung, die selbst innerhalb der einzelnen Stile, Genres, Formen immer weiter um sich greift, nicht zumindest ebenso Symptom der decadence, Ausdruck und Ursadie der .babylonischen' Sprachverwirrung, in der die Spezialisten sich miteinander nicht mehr verständigen können und ebenso das in sich vielfach spezialisierte Dividuum sich selber nicht mehr begreift? Der eine Spradiverderber ist — nach Ansicht des jüngeren (nicht des späteren) Nietzsche — der „Farceur" Heine mit seinem „electrischen Farbenspiel", der andere aber der „factor" Hegel, der ebenfalls das „Gefühl für die einheitliche Farbe des Stils" zerstört, indem er alles in „niditswürdiges Grau" — doch wohl einer in sidi homogenen abstrakten Terminologie — verwandelt ( / V 1, 357). Dem Problem ist also durch eine Gegenüberstellung von Monotonie und Buntscheckigkeit am wenigsten beizukommen, da beide nur Möglichkeiten manieristisdier Dekadenz darstellen. Zwar „der große Stil will einen starken Grundwillen und verabsdieut am meisten die Zerfahrenheit". Aber er ist zugleich „Tanz", Beherrschung des Differenzierten, meistert die „leichte Entwicklung aus einer Phase in die andere" jenseits der „groben Konsequenz und Hartnäckigkeit", die doch ansonsten „Dauerhaftigkeit" verleiht; und so ist in ihm vereint, was sich „am schwersten vereinigt:

Ein Wille, Stärke des Grundgefühls

und Wandel der Bewegungen (Verwandlungen)" {82, 202). Es wäre der Mühe wert, diesem Thema bei Nietzsche, sowohl in Hinblick auf seine Lehre vom großen Stil, wie auch in Hinsicht auf seine eigene schriftstellerische Praxis, weiter nachzugehen als wir hier Gelegenheit haben. Was aber den Eindruck der Affinität zwischen Nietzsches und Wagners Kompositionen angeht, so scheint

I. Über Nietzsches Schreib- und Denkstil

409

dieser zwar zunächst vor allem von ekstatisch opulenten Passagen des Frühwerks, e. g. der bewußt Wagnerianischen GdT bestätigt zu werden, dann audi von weihevollen, posaunenden und krassen Effekten des späten Nietzsche; endlich aber in allen Phasen von Nietzsches Werk durch eine nervöse Sensibilität samt Begabung und Zwang zu artikulierter Resonanz, welche uns schon vorhin an ein Instrument erinnerte, das leicht und allzuleicht auf die geringste Berührung hin anspricht. Und von dieser Befähigung, auf jeden Reiz zu reagieren, bzw. von diesem „physiologischen Unvermögen", von dieser „Unfähigkeit, nicht zu reagieren" (77, 128, 136) ist bei Nietzsche selbst oft genug die Rede, sei es daß diese Irritabilität als krankhafte Dekadenz erscheint oder umgekehrt als Symptom der bis ins Hysterische gesteigerten, dionysischen, überschwänglichen, gesunden Vitalität (, die der spätere Nietzsche freilich Wagner abspricht). Ist aber damit das Wesentliche tertium comparationis bezeichnet? Diese moderne Sensibilität und Nervosität, die konsequent ins Intellektuelle — nicht bloß .Gelehrte' sondern Philosophische zu übertragen, Nietzsche den Mut und die Fähigkeit besaß: — Er sagt selbst noch 1888: „mein Muth [ist] wieder gewachsen . . ,das Unglaubliche' zu thun und die philosophische Sensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zu formuliren" 8 , — diese moderne Sensibilität findet sich nicht nur bei Wagner, sondern bei Heine und vor Heine bei manchen deutschen Romantikern, sowie bei den von Nietzsche unter dem Begriff der Spätromantik und dicadence zusammengefaßten französischen Dichtern, Romanciers, Malern, Kritikern, Historikern, usf. in vielerlei Varianten, Schattierungen, Ausdrucksformen. Und im Vergleich zu manchen dieser Sensiblen wirkt Wagner als zwar nicht minder .erregbar' aber als weniger differenziert So wäre zumindest ein zweites Kriterium in Betracht zu ziehen, nämlich jene für Nietzsche wie für Wagner charakteristische, in der Gegenrichtung wirkende, die Sensibilität tyrannisierende Bestrebung. Beide trachten danach, die zum nervös histrionischen Exzeß, ja zur Anarchie tendierende Sensibilität jeweils — sich selbst zu Trotz — einer einheitlichen, bewußt vereinfachenden Absicht, einem diktatorischen Grundwillen zu subordinieren, wovon die für jedes einzelne Werk charakteristischen bewußten Stilisierungen', bzw. bei Nietzsche auch die personae, die ,Masken', zeugen; — mag auch bei Wagner der Wille sich viel lauter und absoluter gebärden als zumal bei dem Aphoristiker Nietzsche der mittleren Phase, der vielmehr den Anschein einer nahezu schrankenlosen Freizügigkeit erwecken will. Und doch gehört auch dieses weitere Kriterium, wie sich von selbst verstehen sollte, einem weitverbreiteten Typus der Epoche an (vgl. ihre Romanciers) und reicht daher nicht aus, die spezifische Affinität zwischen Nietzsche und Wagner zu kennzeichnen. So könnte man von dem bisher erreichten Standpunkt nur etwa behaupten, 1 5

NB IV, 347 (An P. Gast, Nizza, 6. I, 1888). Man denke bei Wagner ζ. B. an die Edda- oder die altdeutsch Nürnbergisdie Hans-SadisManier, und Uberhaupt an seine Kunst des pastiche.

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Studie zum 33. Aphorismus

daß Nietzsche in Wagner eben einem repräsentativen Ausdruckskünstler und Gestalter der modernen ,Hypersensibilität' und des nicht weniger modernen, von ebendieser Sensibilität geforderten, monomanen Willens begegnete, um sich ebendadurch seiner eigenen Möglichkeiten bewußt zu werden. Selbst wenn man sich aber mit diesen zwei Kriterien, oder mit diesem DoppelKriterium begnügen wollte, fragt es sich noch, ob es überhaupt angeht, eine Verwandtschaft zwischen Nietzsches und Wagners Kunst für die Aphorismenbücher von MA zu statuieren, bei deren Abfassung Nietzsche sich ja seines Gegensatzes zu dem Geschmack der Wagnerianer bewußt wurde und sich, wenn man ihm glauben darf, an französischen Moralisten und ihrer „Kunst der Sentenzenschleiferei" (ΜΑ I, 50) schulte. Wäre es im Rahmen unserer Studien nicht vielmehr angebracht, die scheinbar so jähe Stilwandlung vom Wagnerianer der Bayreuther Festschrift zum Aphoristiker von MA darzustellen? Gewiß: diese Wandlung sollte dargestellt werden. Die Untersuchung, bzw. die Zusammenfassung der vorhandenen Untersuchungen zu dieser Wandlung fehlt hier und sollte, so langwierig sie ausfallen müßte, auch darum nicht fehlen, da sich nicht leicht entscheiden läßt, was Nietzsche als Stilist von den, von ihm angeführten Franzosen, e. g. von La Rochefoucauld und den Moralisten des 17. Jahrhunderts aber audi von Montaigne, von Voltaire, von Stendhal, von SainteBeuve etc. — gelernt hat 4 , was allenfalls auf die Rechnung von Deutschen, — Lessing, Lichtenberg, Heine, Schopenhauer, — zu setzen wäre; was schon längst vor der neuen Selbststilisierung an ,Aphoristik' in Nietzsches Notizheften vorhanden war; und ferner: was eigentlich, das ebenso häufig wie widersprüchlich charakterisierte Wesen von Nietzsches Aphoristik ausmacht. Nietzsche selbst betont jedenfalls — in einer Art von unveröffentlichter Publikumsbeschimpfung — sehr ausdrücklich den Kontrast zwischen dem „etwas hochtrabenden und unsicheren Gang" seiner — von gewissen Lesern leider noch immer vorgezogenen — „früheren Schriften" und dem, was er jetzt anstrebe, nämlich „möglichste Bestimmtheit der Bezeichnung und Geschmeidigkeit aller Bewegung, vorsichtigste Mäßigung im Gebrauch aller pathetischen und ironischen Kunstmittel", um endlich jene hinter ihm zurückgebliebenen Leser mit einem pathetisch-ironischen Tadel zu verabschieden: „Sind wir uns doch allmählich in so vielen und großen Bestrebungen so unähnlich, so fremd geworden, daß ich bei dieser Gelegenheit, wo ich noch einmal zu ihnen reden muß, nur von der harmlosesten aller Differenzen, der Stil-Differenz, reden möchte" (IV 3, 392 f. (30 [72])). 1

Vgl. im Namenregister (IV 4) audi die Hinweise auf Chamfort, Diderot, Fontenelle, Helvetius, Labruyere, Pascal, Rivarol, Vauvenargues; ferner die bibliographischen Hinweise in der Nietzsche-Bibliography (Chapel-Hill: North Carolina Press, 1968), e. g. Bianqui, Krökel, Wilhelm, et al.; bei Peter Pütz: Friedrich Nietzsche (Stuttgart: Metzler, 1967); und bei W. D. Williams: Nietzsche and the French (op. cit.; [Index]), usw.

I. Ober Nietzsches Schreib- und Denkstil

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Dennoch scheint mir, daß es in dem vorliegenden Fall berechtigt wäre, gegen eine goldene Regel der Interpretation zu verstoßen, indem man, statt, wie es diese verlangt, zunächst und vor allem, dem, was ins Auge springt, Genüge zu tun, einer halb verborgenen, von wechselnden, vordergründigen Stilzügen unabhängigen und ebendarum perännierenden Bewegung nachgeht, nämlich ebenjener in Hinblick auf Nietzsches Affinität zu Wagner festgestellten Polarität von zentrifugaler Sensibilität' und zentripetalem ,Willen'. Aber verstößt man damit auch nur gegen die Regel? Zumindest die eine Komponente, — die, versteht sich, bei Nietzsdie ins Zerebrale übersetzte, den Intellekt ,emotionalisierende' (.erotisierende', ,aggressivierende') Sensibilität bestimmt ja geradezu das, was an den Aphorismenbüchern am allermeisten auffällt. Denn was immer die Komposition in Form von Aphorismen bei Nietzsche und für Nietzsdie sonst noch bedeuten mag, sie emanzipiert die Sensibilität doch wohl von dem — wie gesagt bei Wagner, anders als bei Nietzsche, immer vordringlichen, — auf seinem Prärogativ insistierenden Willen zur Vereinheitlichung, Vereinfachung und Einsinnigkeit, der ins rein Intellektuelle übertragen als der Wille zum System oder als Systemzwang erscheint5. Oder wirft der Aphoristiker Nietzsche nur einen ihm selbst halb fremden, aufoktroyierten Willen ab: die beengende Nötigung zu Wagnerianischer Gesinnung, zur Schopenhauerschen Lehre, zur sdiulgerechten, systematischen Methode der Altphilologie? Der Übergang zur aphoristischen Form und also zum freieren Spielraum der intellektuellen Sensibilität fällt jedenfalls zusammen mit der Auflehnung gegen Wagner wie gegen Schopenhauer und gegen die Akademie; scheint Emanzipation von deren Willen zu bedeuten; und wirkt darüber hinaus als eine Geste der Emanzipation und Auflehnung gegen jegliches Dogma überhaupt, — was nun wiederum der Skepsis und ihrer Freiheit entspricht. Wenn aber die Aphorismen von MA nur diese radikale Befreiung bestätigten, so wäre das Doppelkriterium, mit dem wir die Vermutung einer inneren Verwandtschaft zwischen Nietzsche und Wagner begründeten, nicht haltbar, und zwar nicht etwa deshalb weil sich Nietzsche nun gegen Wagner wendet, — was an sich der Affinität nicht widerspräche, — sondern weil Nietzsche in MA zwar seine intellektuelle Sensibilität bewiese, nicht aber den dieser Sensibilität entgegengesetzten ,Willen'. Wie steht es also mit unserer These? Widerspricht sie nicht dem Eindruck, den Nietzsche besonders in den Aphorismenbüchern der mittleren Phase bei seinen Lesern erweckt? Entsprechend der außerordentlichen „Vielheit innerer Zustände" mag es bei Nietzsche nicht nur, wie er selber behauptet, „die vielfachste Kunst des Stils" geben (77, 342), sondern ebenso, diese Multiplizität bis in die kleinsten 5

„Der Wille zum System: bei einem Philosophen . . . sein Wille, sich dümmer zu stellen als er ist — dümmer, das heißt: stärker, einfacher, gebietender, ungebildeter, kommandierender, tyrannischer . . „ I c h bin nicht borniert genug zu einem System — und nicht einmal zu meinem System . . ( 8 2 , 377 f.).

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Studie zum 33. Aphorismus

Einheiten seines Werkes fortsetzend, einen unabsehbaren Pluralismus der Perspektiven, der sidi am freiesten in Fragmenten spiegelt, in Aphorismen darstellt, die ja seit je, oder doch seit Friedrich Schlegel, als die dem freien, vollen Chaos gerechte Splitterform gelten. Und dieser Auffassung analog ware auch die vielleicht geläufigere Meinung, daß man Nietzsches Werk als Dokument eines intellektuellen Impressionismus aufzufassen habe (wobei übrigens die Einschätzung dieses Phänomens in Lob oder Tadel auch davon abhinge, wie der Beurteiler selbst die Chancen des Intellekts beurteilt). Nur daß, — wenn der emanzipierte Nietzsche wirklich ein so unentwegter Impressionist des Intellekts gewesen wäre, — die Idiosynkratik und Exklusivität dieses Impressionismus, — e. g. der antireligiöse Affekt, — zu denken geben müßte, geschweige denn die Predigten Zarathustras und der unverkennbare Ansatz zur Systematik im weiteren Verlauf des Spätwerks. Und also scheint uns, daß sich doch Einiges zugunsten unserer These sagen ließe. Denn ebenso wie man Wagner verkennt, wenn man in ihm nur den großen Vereinfacher, den Athleten und Theatraliker des forcierten Willens sieht und nicht auch die feine, innige, flackernde, rast- und haltlose Erregbarkeit spürt, die des Tyrannen, ja des demagogischen Hypnotiseurs bedarf, ihn herbeizwingt, weil sie ihn nötig hat; so verkennt man Nietzsche, wenn man ihn nur nach der Seite der offenen, intellektuellen Sensibilität hin versteht, die er mitunter gerade dann zur Schau trägt, wenn er am hartnäckigsten seinen Willen verfolgt, was z. B. in MA und im 1. Hauptstück der Fall ist, wo die skeptische ,Offenheit' selbst zum Mittel des Willens zur Selbstbefreiung wird, aber auch anderwärts in den Aphorismenbüchern und in dem Gesamtwerk, das ja nicht zufällig in der Offenbarung des Willens zur Macht als Um und Auf aller Nietzscheschen Dinge kulminiert. So könnte man nun, auf den leitenden .Willen' Nietzsches aufmerksam gemacht, versucht sein zu leugnen, daß es in Nietzsches zur Veröffentlichung bestimmten Schriften je auch nur die anhaltende Bemühung darum gebe, eine Sache offen und ,naiv', nämlich um ihrer selbst willen und ohne eine weitere bewußte Absicht, darzustellen. Immer will Nietzsche etwas. Die GdT will den Griechen, Wagner, der Kunst und Schopenhauer gegen die Epoche dienen. Die UB sind zugegebenermaßen Streitschrift und höhere Propaganda. MA und Fröhliche Wissenschaft sprechen u. a. — nicht ,objektiv', sondern mit ambivalenter Leidenschaft — in Sachen des Freigeists; die Morgenröte eröffnet den, in Genealogie und Jenseits weitergeführten Feldzug gegen die Moral; der Zarathustra will ein neues Evangelium verkünden, der Antichrist das alte Dis-Evangelium zuschanden machen; und dazu kommt noch die Polemik gegen Wagner und am Ende der panegyrische Ecce Homo, Nietzsches euphorische hommage ä Nietzsche. Und ferner könnte man wohl geltend machen, daß Nietzsche selbst den Anschein der desinteressierten Betrachtung vermeidet — und diese oft genug als ein Symptom der Schwäche und Charakterlosigkeit verschmäht; daß er selbst, als

I. Über Nietzsches Schreib- und Denkstil

413

Einer, der immer ein Interesse verfolgt, und auf alles im Sinne dieses Interesses ,anspricht', nun auch den Leser für seine Sache zu interessieren und auf diese hin anzusprechen bemüht ist; ihn nie in Ruhe läßt; vielmehr immer auch etwas vom Leser will. Und ebendies macht seine Schriften interessant und qualvoll, fesselnd und lästig, spannend und penetrant. Mag der angesprochene ideale Leser zunächst für Nietzsche auch nur Nietzsche selber gewesen sein; — in einem fort trachtet er diesen Leser zur Stellungnahme zu zwingen, ihn aufzurütteln, aus der Balance zu bringen, zu bewegen, mitzureißen, zu erschüttern, zu überwältigen, und ruft ihm zu: Du mußt dich ändern! Du mußt immer ein Anderer werden! — Gerade dies scheint uns ein wesentliches Merkmal Nietzsches unter den Philosophen zu sein. Nietzsche gehört — wie Marx und Kierkegaard, (und es geht hier gar nicht um Qualität, .Niveau', Berechtigung) — zur litterature engagee, auch dort wo er durch Skepsis auflösen, loslösen, befreien will. Was hat der am Ende mit der .Offenheit' des echten Impressionisten zu schaffen! Und also wäre es mehr als wunderlich, wenn Nietzsche diese Wirkung erzielte, ohne daß sich sein .Wille', auch auf anderer Stufe, e. g. als Konsequenz in Entwurf, Gestaltung, Stilisierung seiner Werke nachweisen ließe. Damit wären wir nun bei dem andern Extrem der Auffassung angelangt; aber auch dieses wird in seiner Einseitigkeit der Spannung zwischen den einander widerstrebenden und im Kampf miteinander verflochtenen Mächten der .Sensibilität' und des führenden .Willens' nicht gerecht. Und also begnügen wir uns damit, ebendiese Spannung festgestellt zu haben. *

*

*

Läßt sich diese Spannung aber nicht auch im Detail, etwa im 1. Hauptstück, weiter belegen? Und sollte es, falls der Eindruck der Affinität zwischen Nietzsches und Wagners Kompositionen berechtigt ist, nicht auch möglich sein, ihn durdi Beobachtungen am Text zu bestätigen? Es erübrigt sich, die Freiheit und Beweglichkeit von Nietzsches intellektuellem Spürsinn hier umständlich zu belegen. Man bedenke etwa, wie vielerlei Gegenstände — e. g. Geschichte, Analyse der Gegenwart, Zukunftsprognose, Kunst, Moral, Metaphysik, die Wissenschaften, Sprache, Traum und Kultur und Logik, usf. — in unseren 34 Aphorismen miteinander in Berührung gebracht und verglichen werden. Wie schnell ändert sich oft die Szenerie, selbst innerhalb eines Abschnitts; und was die Verbindung der Prosastücke untereinander angeht, so haben wir uns zwar bemüht, sie nadizuweisen, — und ebendamit den Hauptteil dieser Arbeit daran verwendet, einen halb verborgenen kompositorischen Grundwillen aufzudecken; — jedoch versteht sich, daß das Sprunghafte, ja die Vermeidung eines kontinuierlich fortlaufenden Textes, in dem Stück um Stück explicite ineinander verzahnt wären, auch für das 1. Hauptstück charakteristisch ist.

Studie zum 33. Aphorismus

414

Anderseits aber, mag man angesichts der Aphorismenbücher mit Nietzsche fragen: „Sind es Aphorismen?" (82, 3 3 5 ) ' . Ist es Zufall, wenn Burckhardt sich in seinen Briefen auf Paragraphen

von Nietzsches Werken bezieht (e. g., NB III,

183)? Das

Schema der Gestaltung, — das, wie gesagt, als eine Manifestation des Grundwillens im T e x t aufzufassen ist, — folgt im 1. Hauptstück einer einfachen großen Linie: der Entwicklung des Freigeists vom kämpf- und entdeckungsfreudigen zum tragischen, bzw. zum entsagenden Anti-Illusionismus. Und auch von Abschnitt zu Abschnitt glaubten wir eine leitende Absicht zu erkennen, wofür als Beispiel im Kontext der letzten Aphorismen die Wendung vom theoretischen Anti-Illusionismus zu dessen praktischen Konsequenzen hinzuzufügen wäre. Vereinheitlichend wirkt

ferner

die Tatsache, daß das in mancher Hinsicht so frei und lose gefügte Gewebe zum Großteil aus wenigen, vielfach variierten, oft wiederholten gedanklichen .Leitmotiven' hergestellt wird, die mit wechselnder, gegen Ende gesteigerter Orchestrierung vorgeführt werden, wodurch das Ganze an Oberzeugungskraft gewinnt, aber auch ( — was allerdings noch mehr für frühe und spätere Texte Nietzsches gilt — ) eine penetranter, barbarischer, gewissermaßen Ohren betäubender rhetorischer Effekt erzielt wird und die äußerste Bewegtheit zugleich monoton wirkt. Damit ergibt sich wiederum eine Ähnlichkeit mit Wagner, die man zugegebenermaßen in dem 1. Hauptstück und bei dem mittleren Nietzsche überhaupt erst aufspüren muß, und die sich überdies auch nicht auf Wagner beschränkt oder gar sich eindeutig auf dessen Einfluß zurückführen ließe. Denn der Eindruck von Ein-

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Man vergleiche aber damit wiederum 77, 174: „Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als Erster unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der .Ewigkeit'; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt, — was jeder andre in einem Buche nicht s a g t . . . " — Ferner: die Ablehnung der „Tartüfferie der Wissenschafllicbkeit" in bezug auf die „Darlegung wenn sie nicht der Genesis der Gedanken entspricht"; im Anspruch auf „Methoden", wo diese noch nicht an der Zeit, in einer bestimmten Entwicklungsphase einer Wissenschaft noch gar nicht möglich sind; endlich in dem Anspruch auf „Objektivität", i. e. „kalte Unpersönlichkeit", namentlich im Fall von — immer persönlichen — Wertschätzungen: „Man soll die Tatsache wie uns unsre Gedanken gekommen sind, nicht verhehlen und verderben. Die tiefsten und unerschöpftesten Bücher werden wohl immer etwas von dem aphoristischen und plötzlichen Charakter von Pascals Pensies haben. Die treibenden Kräfte und Wertschätzungen sind lange unter der Oberfläche; was hervorkommt, ist Wirkung" (78, 290). — Dies sind anscheinend Argumente für die Aphoristik und gegen den dialektischen Zusammenhang. Anderseits aber heißt es bei Nietzsche nicht nur, daß der einzelne Aphorismus der kunstvollen Auslegung bedürfe, e. g. in Form einer Abhandlung (76, 248), sondern auch: „In Aphorismenbüchern gleich den meinigen sind zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedankenketten" (82, 378). — Es versteht sich, daß sich die Fragen nach Ursachen, Wesen, Funktion von Nietzsches Aphoristik nicht mit einer einfachen Antwort erledigen lassen, sondern vielerlei Antworten hervorzurufen geeignet sind, deren Spektrum weit reicht, e. g. von der Auskunft Nietzsches Krankheit (Augenleiden, Kopfschmerz, usf.) hätten ihn zu dieser Form halbwegs genötigt, bis zu der .metaphysischen' Erklärung, daß sich der Fluß des Werdens nur in Momenten, in Momentanaufnahmen wechselnder Perspektivistik suggerieren lasse (vgl. audi Nietzsches eigene Einwände gegen seine Aphorismenwerke in NB IV, 75 (unten, Fußnote 13).

I. Über Nietzsches Schreib- und Denkstil

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förmigkeit bei gesteigerter Bewegung ist weitgehend für die Moderne charakteristisch und legt den Gedanken an eine Lage nahe, in der es, — um einen Aphorismus von Kafkas zu variieren, —7 zwar vielleicht ein Wunschziel gibt oder zu geben scheint, jedoch keinen dahin führenden glaubhaften Weg, und vielleicht auch darum eine unerschöpfliche Fülle von Bewegungsmöglichkeiten. Die Steigerung vom 31. Aphorismus: Das Unlogische notwendig zum 32.: Ungerechtsein notwendig, zum 33.: Der Irrtum über das Leben zum Leben notwendig, kurz: das Finale, das sich in Wahrheit bis zur Mitte des 34. Aphorismus erstreckt, wirkt durchaus rhetorisch. Zwar weitere Überlegungen, sowie die Wirkung der zweiten Hälfte des 34. Aphorismus, wo Zur Beruhigung, in Form einer Coda, fast unvermittelt, eine erstaunliche, letzte Wendung der Reihe einsetzt, mögen diesen Eindruck modifizieren. Zunächst aber wirkt der letzte ,Satz' im Sinne der — bei Nietzsche auch im Schriftbild so beliebten — Emphasis, und alles scheint bloß auf Entfaltung und Dramatisierung des längst Bekannten abzuzielen. Wer wüßte bei dem 33. Aphorismus angelangt, nicht schon, daß, Nietzsche zufolge, „jeder Glaube an Wert und Würdigkeit des Lebens . . auf unreinem Denken [beruht]" (45); bedarf es doch kaum eines Schrittes, um von der vorher behaupteten Hinfälligkeit der Werturteile auf die Hinfälligkeit des Glaubens zu kommen, der, wie jeder Glaube eben auf Werturteilen beruht! Und so dürfte im Grunde auch von der gleichen „Verzweiflung" des Freigeists im 31. Aphorismus (43), dann, indirekt, nämlich: als Einsicht in die unauflösbare Disharmonie des Daseins in dem folgenden Abschnitt (45) und wieder, wörtlich, im 33. und 34. Aphorismus (46, 47) die Rede sein. Ehe wir aber die pathetische Gedankenentwicklung im 33. Aphorismus weiter verfolgen, sei noch darauf hingewiesen, daß sich auch aufgrund von Nietzsches eigenen Erwägungen eine Beziehung zu Stil und Darstellung des Pathos durch Musik und Musikdrama ergeben. Beginn und Vorstufe der Entwicklung des Pathos im Bereich der Musik glaubte Nietzsche, in seiner Bayreuther Festschrift, vor allem beim späten Beethoven zu finden; ihre Vollendung aber in Wagners Gesamtkunstwerken { 7 1 , 369 ff.). Bei dem Aphoristiker von MA, der von Wagner abgerückt ist, dürfte sich dann allerdings noch fragen lassen, ob seine ins Intellektualistische übertragene Kunst des Pathos nicht vielmehr der — seiner früheren Meinung nach — von Beethoven repräsentierten, quasi fragmentarischen Technik pathetischer Darstellung entspricht. Dazu einige Erklärungen: Was ist hier unter Stil und Darstellung des Pathos zu verstehen? Im gegenwärtigen Kontext: Stil der Passion, der Leidenschaft, bzw. leidenschaftlicher Stil und Darstellung der Passion, der bewegten Leidenschaft, der leidenschaftlichen Bewegung, und zwar zunächst im Gegensatz zu Stil und 7

„Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern" {Hodozeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß; S. Fisdier-Sdiocken: Ν . Y., 1953), 42.

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Studie zum 33. Aphorismus

Darstellung des ,Ethos', die einen bestimmten Charakter oder charakteristischen, andauernden Zustand, eine bestimmte Haltung, Gestimmtheit, eine in sich beruhende Stimmung suggerieren. Die Unterscheidung zwischen Pathos und Ethos ist in der klassischen Rhetorik begründet®. Beide Stil-Begriffe stehen, jedenfalls an der hier zu zitierenden Stelle, bei Nietzsche im Gegensatz zu dem Begriff eines nurintellektuellen Stils, der annähernd dem reinen Denken entspricht. „Die verschiedenen Stilarten [sind]: A. Stil des Intellekts (unmetrisch) oder „der gefühllose Stil". B. Stil des Willens 1. des 2. des ήθος πάθος

(entweder Prosa oder Poesiemetrisch oder halbrhythmisch) oder der Stil des unreinen Denkens." (IV1, 361) Es versteht sich, daß die Stilarten des hier, wohl noch im Schopenhauerschen Sinne verstandenen „Willens", im Vergleich zu dem Stil der Wissenschaft, zur Kunst hin tendieren, die in Anbetracht des „großen Werthes", den das „unreine Denken" für sie hat (IV 2, 392), eben audi den Stil dieses Denkens durchaus nicht entbehren kann (vgl. IV 1, 405 (17 [79])), ist es doch ihre Aufgabe, den „Anblick des Lebens" dadurch „erträglich zu machen", „daß sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt" (ΜΑ 1,139). Zugleich ergibt sich aber auch, daß der Stil des Ethos zu dem des Intellekts oder der Wissenschaft in näherer Beziehung steht als der Stil des Pathos. „Der Stil des Intellekts entsteht spät, immer auf Grundlage des Ethos-Stils. Aber zuerst meist poetisch (das Bild des Individuums bestimmt ihn, der Priester der Seher mit ήθος später schlicht-alltäglich (nach dem Vorbild des vornehmen Mannes, der einfach und gewählt spricht). Die Ernüchterung der Denkart muß sich nun überall zeigen, ebenso der Haß gegen das unreine Denken" (IV 1, 361). Damit ist offenbar, — auch ohne ausdrückliche Erinnerung an eine klassische Tradition, die Apollo und Ethos, Dionysos und Pathos verbindet, — ein Schema gegeben, welches dem der GdT analog ist: dem Sokratismus der Wissenschaft (bzw. der Logik), der sich als Antagonist aus dem apollinischen Kunst-Trieb entwickelt, — in den dieser Kunst-Trieb sich verpuppt hat (70, 122), — entspricht der Stil des Intellekts, der sich aus dem quasi-apollinischen Ethos entwickelt. Der Stil des Pathos entspricht nicht bloß der Tragödie®, sondern dem dionysischen Prinzip überhaupt. Bei diesen Analogien ist allerdings zu bedenken, daß nun die den antagonistischen Kunsttrieben verwandten Stilarten und die entgegengesetzte, dem dialektisdi-ana• Vgl. Aristoteles, Rhetorik (Buch III); Wilhelm Süß: Ethos (Teubner: 1910). Die nähere Bestimmung dieser Unterscheidung im Rahmen von Nietzsches altphilologisdien Studien geht über meinen Horizont. • Vgl. zu dieser, uns aufgrund der Tradition fast selbstverständlichen Beziehung ζ. B. die allegorische Personifizierung der Tragödie als ,Pathos' in Goethes Was wir bringen (Lauchstädt) (Jub. Ausg. IX, 414).

I. Über Nietzsches Schreib- und Denkstil

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lytisdien Intellekt entsprechende Darstellungsweise ihre Rollen auch innerhalb der Rhetorik spielen, anderseits aber auch innerhalb der, nach Auffassung des frühen Nietzsche, in ihrem Wesen .dionysischen* Musik10. Ferner versteht sich, daß die Akzente der Wertung nun nicht mehr so zu setzen sind wie früher, da Nietzsche jetzt nicht mehr als Partisan der Kunst gegen die Wissenschaft auftritt). So entwickelt sich ζ. B. in der Musik, nach Auffassung Nietzsches in der Bayreuther Festschrift und den zugehörigen Notizen, der Stil des Pathos innerhalb der Formen, welche der Vorherrschaft des Ethos entsprechen. „Die vor-Wagnerische Musik hatte einen episch-lyrischen Charakter" (IV 1, 272). D.h. sie eignete sich zur Zeichnung von jeweils konstanten Charakterzügen und Charakteren. Vor allem aber, — dies ist ihr wesentliches Merkmal, — zur Darstellung von in sich homogenen Stimmungen. Sie war im ganzen „Stimmungsmusik" (IV 4, 393) innerhalb „enger Grenzen; sie bezog sich auf bleibende Zustände des Menschen, auf das, was die Griechen Ethos nennen, und hatte mit Beethoven eben erst begonnen, die Sprache des Pathos, des leidenschaftlichen Wollens, der dramatischen Vorgänge im Innern des Menschen zu finden" (71, 368 f.). Die Musik des Ethos wollte zunächst nur jeweils eine, e. g. gefaßte, heitere, andächtige Stimmung mitteilen. Durch eine „auffallende Gleichartigkeit der Form und durch die längere Andauer dieser Gleichartigkeit [wollte man] den Zuhörer zur Deutung dieser Musik nötigen und endlich in die gleiche Stimmung versetzen. Allen solchen Bildern von Stimmungen und Zuständen waren einzelne Formen notwendig; andre wurden durch Konvention in ihnen üblich" (71, 369). „Die Gesamt/orwi eines Stimmungsbildes bekam gewisse Gesetze von Anfang und Schluß; Vermeidung von Langeweile und Monotonie bestimmte die Länge" (IV 1, 272 (11 [15]). — Einen Schritt weiter ging man, als man den Reiz der Kontrastwirkungen entdeckte und „die Bilder entgegengesetzter Stimmungen nacheinander entwarf" (71, 369), und wiederum einen Schritt weiter, als man diese Kontrastwirkungen auch innerhalb desselben Tonstücks durch einen „Contrast des Ethos" (IV 1, 272), „zum Beispiel durch das Widerstreben eines männlichen und eines weiblichen Themas" zu erzielen sich erlaubte (71, 369). Jedoch „dies alles sind noch rohe und uranfängliche Stufen der Musik. Die Furcht vor der Leidenschaft gibt die einen, die vor der Langeweile die andern Gesetze; alle Vertiefungen und Ausschreitungen des Gefühls werden als ,unethisch' empfunden" (71, 369). Zwar durch die Kunst des Ethos, die meistens nur unterhalten und höchstens rühren will, — weshalb die Stimmungen nicht zu tief oder zu flach, die Kontraste nicht zu kühn sein dürfen, — wurden eine Menge symbolischer Formen für alle Arten von Stimmungen erfunden (IV 1, 272). Nachdem aber diese Kunst „dieselben gewöhnlichen Zustände und Stimmungen in hundertfacher Wiederholung dargestellt hatte, geriet sie, trotz der wunderbarsten Erfindsamkeit 10

Ähnliche Erwägungen gelten allerdings auch wiederum für die Trias dionysisdi-apollinisdi-sokratisch und ihre Rolle in der GdT.

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Studie zum 33. Aphorismus

ihrer Meister, endlich in Erschöpfung" (71, 369). „Und nun geschah etwas Neues·. man bekam die willkürliche Contrastierung satt und überhaupt die Stimmung, das ήθος und seine Gegensätze; während man auf der anderen Seite immer raffinirter wurde in seltenen Stimmungen, in der Zeichnung abnormer Charaktere (blasirter, kindlicher, greisenhafter, nationaler). Beethoven erfand die Sprache der Leidenschaft", er gab dem bisher Verbotenen Ausdruck. Damit „war die Form der Stimmungsmusik unmöglich: nicht mehr ein idyllischer See war jetzt zu malen. Ein innerer dramatischer Vorgang — denn jede Leidenschaft hat einen dramatischen Verlauf — erzwang sidi seine Form" (IV 1, 272). Dem widersetzte sich aber „das überlieferte Schema der Stimmungsmusik" (71, 370), „das wie ein steifes Gesetz die Leidenschaft einschnürte" (IV 1, 272) und „beinahe mit der Miene der Moralität wider ein Aufkommen der Unmoralität" redete (71, 370). So schien sich Beethoven die widerspruchsvolle Aufgabe gestellt zu haben, „das Pathos mit den Mitteln [oder: in der Art (IV 1, 272)] des Ethos sich aussprechen zu lassen" (71, 370). „Für das Pathos ist die große Form nöthig, um den großen geschwungenen Bogen jeder Leidenschaft wiederzugeben; die Symphonie wurde von Beethoven dafür erkannt, doch noch mit Anlehnung an die Contraste der Zustände" (IV 1, 272 f.). In seinen größten und spätesten Werken fand Beethoven aber „wirklich ein neues Mittel: er nahm einzelne P u n k t e . . . [der] Flugbahn [der Leidenschaft] heraus und deutet sie mit der größten Bestimmtheit an, um aus ihnen dann die ganze Linie durch den Zuhörer erraten zu lassen. Äußerlich betrachtet, nahm sich die neue Form aus wie die Zusammenstellung mehrerer Tonstücke, von denen ein jedes einzelne scheinbar einen beharrenden Zustand, in Wahrheit aber einen Augenblick im dramatischen Verlauf der Leidenschaft darstellte" (71, 370). Ein Beispiel dafür ist Beethovens I X . Symphonie: Der erste Satz gibt „den Gesammtton und -Wurf der Leidenschaft und ihres Ganges"; der zweite ist Ruhe auf der Reise, „Selbstbesinnung der Leidenschaft und Selbstgericht" und „Vision einer ewigen Ruhe". Der dritte Satz „ein Moment aus der höchsten Flugbahn der Leidenschaft . . . , unruhig, kometenhaft", stellt ihre „Rastlosigkeit" dar, ihr „quälendes Vorwärtsziehen, ohne Hoffen und Lieben". „Und nun der vierte Satz: herzzerschmetternder Aufschrei: die Seele trägt ihre Last nicht mehr", erkennt „ihren Fluch: ihr Alleinsein, ihr Losgelöstsein" . . . „Da hört sie, die einsame Seele, eine Menschenstimme, die zu ihr wie zu allen Einzelnen redet und zwar als zu Freunden spricht und zur Freude der Vielsamkeit a u f f o r d e r t . . . Und nun stürmt das Lied von der Leidenschaft für das Menschliche überhaupt herein", dessen Flug aber „nie so hoch gewesen wäre, wenn nicht die Leidenschaft des nächtlich fortstürmenden einzelnen Vereinsamten so groß gewesen wäre. Es knüpft sich die Mitleidenschaft an die Leidenschaft des Einzelnen an nicht als Contrast, sondern als Wirkung aus jener Ursache" (IV 1, 273 f.). Die Nachfolger Beethovens, die — wie Schubert, Schumann, Mendelssohn — „nur Ethos" hatten (IV 1, 273), verstanden die Sprache des Beethovenschen Pathos

I. Über Nietzsches Schreib- und Denkstil

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nicht, das sie als Symphoniker nachstammelten; die Folge der Teile wurde willkürlich. „Die Erfindung der großen Form der Leidenschaft führte durch ein Mißverständnis auf den Einzelsatz mit beliebigem Inhalte zurück, und die Spannung der Teile gegeneinander hörte ganz auf" (71, 370). Erst durch Wagner wird der musikalische Stil des Pathos weiterentwickelt, wird die Musik, „von allen Befangenheiten und Ansprüchen der älteren Musik der Zustände" befreit, zum „tönenden Prozesse des Gefühls und der Leidenschaft" ( 7 i , 371). „Alle frühere Musik scheint, an der Wagnerischen gemessen, steif oder ängstlich, als ob man sie nicht von allen Seiten ansehn dürfe und sie sich schäme. Wagner ergreift jeden Grad und jede Farbe des Gefühls mit der größten Festigkeit und Bestimmtheit; er nimmt die zarteste, entlegenste und mildeste Regung, ohne Angst sie zu verlieren, in die Hand, und hält sie wie etwas Hart- und Festgewordenes, wenn auch jedermann sonst in ihr einen unangreifbaren Schmetterling sehen sollte. Seine Musik ist niemals unbestimmt, stimmungshaft; alles, was durch sie redet, Mensch oder Natur, hat eine streng individualisierte Leidenschaft; Sturm und Feuer nehmen bei ihm die zwingende Gewalt eines persönlichen Willens an. Uber allen den tönenden Individuen und dem Kampfe ihrer Leidenschaften, über dem ganzen Strudel von Gegensätzen schwebt, mit höchster Besonnenheit, ein übermächtiger symphonischer Verstand, welcher aus dem Kriege fortwährend die Eintracht gebiert: Wagners Musik als Ganzes ist ein Abbild der Welt, so wie diese v o n . . [Heraklit] verstanden wurde, als eine Harmonie, welche der Streit aus sich zeugt, als die Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft" (71, 371 f.). Wagner „erfindet . . die Darstellung der verflochtenen Leidenschaften" (IV 1, 274), oder, wie es anderwärts heißt, „die vielköpfige Leidenschaft". Was er darstellt „ist der seelische Vorgang in einer Gruppe von Personen, die er zugleich empfindet" (/V 1, 269(11[8]). Ebendarum braucht er zur „Verdeutlichung der inneren bewegten Welt des Gemüths" (IV 1, 269) das „sichtbare Drama", „Wort und Gebärde" (IV 1, 274). „Im Drama ist seine Leidenschaft langathmig und hat ihre Bogengestalt, ansteigend, rasch absteigend" (IV 1, 268 (11 [7]). Wie die Analyse jedes einzelnen Aktes seiner Dramen beweist, versteht Wagner es, „aus einer Mehrzahl von Leidenschaften, welche nach verschiedenen Richtungen hin laufen, die große Linie einer Gesamtleidenschaft zu berechnen", indem er „nebeneinander die Einzelgeschichte verschiedener Individuen und eine Gesamtgeschichte aller erzählt. Wir spüren es schon zu Anfang, daß wir widerstrebende einzelne Strömungen, aber auch, über alle mächtig, einen Strom mit Einer gewaltigen Richtung vor uns haben: dieser Strom bewegt sich zuerst unruhig, über verborgene Felszacken hinweg, die Flut scheint mitunter auseinander zu reißen, nach verschiedenen Richtungen hin zu wollen. Allmählich bemerken wir, daß die innere Gesamtbewegung gewaltiger, fortreißender geworden ist; die zuckende Unruhe ist in die Ruhe der breiten furchtbaren Bewegung nach einem noch unbekannten Ziele übergegangen; und plötzlich, am

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Studie zum 33. Aphorismus

Schluß, stürzt der Strom herunter in die Tiefe (71, 372), — prachtvoll und mächtig" (IV 1, 269), — „mit einer dämonischen Lust an Abgrund und Brandung" (71, 372), welche nichts anderes ist als „Lust an der Leidenschaft" (IV 1, 269 (11 [7]). Wir haben diese Beschreibungen so ausgiebig zitiert, weil sie sich fast ebenso auf Nietzsches Pathos wie auf das Pathos Beethovens und Wagners beziehen. Gewiß: Nietzsche wird Wagner, — den er schon in dem oben angeführten Abschnitt der Festschrift (wenn auch in panegyrischem Ton und mit der Versicherung Wagner trage, ebenso wie Demosthenes „nichts Epideiktisches an sich" (71, 373)) mit einem Volksredner, mit Demosthenes vergleicht, — in der Phase von MA als einen Rhetoriker angreifen. Er meint nun — und damit wird unsere dritte Stilart, nämlich die des Intellekts ins Musikalische übertragen — „auch in der Musik" gebe es „eine Logik und eine Rhetorik als Stilgegensätze", und Wagner werde, „wenn er ein Thema behandelt", zum Rhetor, der „auf alle Weise den Mangel" an musikalischer „Erfindung in der Dialectik" maskiere (IV 3, 355). Jedoch es wäre vorschnell aus dieser Absage an Wagners Stil zu schließen, daß Nietzsche damit seinen alten, schon in der GdT im Denkbild des musiktreibenden Sokrates verschlüsselten Wunsch, der Erbe, Nachfolger, Überwinder Wagners zu werden, aufgegeben habe. Vielmehr scheint er dieses Ziel gerade dadurch zu verfolgen, daß er gewissermaßen Intellekt und Pathos vereint und also zum Pathetiker der Erkenntnis wird. Ebendies deuten ja auch die Notizen zur Bayreuther Festschrift an: Analog dem Pathetiker Wagner und seinem Thema: der Geschichte der Religion als Tragödie, könnte es den Denker am Schluß aller Religion und damit des Glaubens an jeden von den Göttern oder von Gott gegebenen Wert und Unwert der Welt und des Daseins geben: den Starken, den rein auf sich selbst Gestellten, der Gott und den Göttern ein Ende macht, Siegfried-Nietzsche, dem der alte, zum Sterben reife Gott, Wotan-Wagner sein Reich vermachen will und muß 11 . Das Thema dieses Denkers aber wäre nicht nur die Geschichte der Götter, der Religion, der religiösen (bzw. metaphysischen) Erkenntnis als Tragödie. Denn da er allen Glauben, alles Für-wahrhalten zu Ende denkt und damit auch zum Erkennen der notwendigen Irrtümlichkeit jeglicher Erkenntnis kommt, — also zur Einsicht, daß auch der Glaube a n , Wahrheit* noch Glaube, noch Religion war, — so wäre sein Thema vielmehr: die Geschichte der Erkenntnis überhaupt als Tragödie, bzw. die Tragödie des Erkennenden — und deren Überwindung. Wir sind am Ende unserer Betrachtung angelangt. Man wird bei Nietzsche Vieles und Vielerlei finden, gewiß auch Passagen und Aphorismen im Stil des Ethos. So scheint mir, innerhalb unserer Reihe, der 29. Aphorismus eine Stimmung zu vermitteln, obsdion es in MA selbst bessere Beispiele gibt (e. g. Aphorismus 109). Auch wirken manche Notizen als reine Stimmungsbilder, obschon sie in Wahrheit zugleich 11

Vgl. IV 1, 278 f., 280, 282 f., 318; und unten, Seite 439 f.

I. Ober Nietzsches Schreib- und Denkstil

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— eingekleidete — Argumente enthalten". Audi wird man bei Nietzsche, und besonders im 1. Hauptstück, den Stil des Intellekts nicht erst suchen müssen; ist doch das ganze Werk nicht nur auf die Dominanz des Intellekts hin stilisiert, sondern alles was in MA aufgenommen wird, gehört tatsächlich in die Domäne des Intellekts, wird als These, Feststellung, Argument usf. entwickelt, so daß es fast überflüssig ist auf Abschnitte (e. g. den 30. Aphorismus) hinzuweisen, in denen die Textur des Textes den Anforderungen des gefühllosen Stils nahezu völlig entspricht. Und dennoch dient zugleich alles in Nietzsches Werk der Darstellung — und also audi dem Stil — des Pathos. Auch bei Nietzsche gibt es die Gruppe und den Kontrapunkt zugleich empfundener Personen, Individuen, Stimmen, die im Dividuum zu Worte kommen und sich dodi jeweils zum Ausdruck einer dominanten Leidenschaft vereinen. Für das 1. Hauptstück gilt jedenfalls, daß Nietzsche den Bogen einer soldien Leidenschaft, die Kurve des Pathos nachzeidinen will, wobei er sich allerdings nicht einer Technik bedient, welche den Gang der Leidenschaft von Anfang und Anstieg bis zur Höhe und zum Fall kontinuierlich entwickelt, sondern nur fragmentarisch — und wie er angesichts seiner Aphorismenwerke auch einmal selber meinte: in unvollkommener Weise13 — Momente dieser Leidenschaft darstellt, aus denen sich ihre Laufbahn ablesen läßt. Zugleich sind aber diese Momente so zahlreich und so rasch vorübergehend, daß man noch darüber streiten könnte, inwieweit Nietzsches Verfahren sich jenem nähert, das er in der Beethovenschen Musik zu erkennen meint, oder seiner Auffassung der Wagnerschen Pathetik entspricht. Wesentlich ist, daß die Darstellung des Pathos, — die sich ebendarum mit der Darstellung des Intellekts vereinen läßt, weil Nietzsche das Pathos, i. e. die Leidenschaft der Erkenntnis darstellt, — zugleich auf den pathetischen, den tragischen oder Tragik überwindenden Helden konzentriert ist, d . h . im Fall des 1. Hauptstücks und der mittleren Aphorismenwerke: auf Pathos, Leidenschaft, Tragödie, bzw. Überwindung der Tragödie des Erkennenden, i. e. des Freigeists (später aber: des höheren, des höchsten Menschen und des Übermenschen), der als ein ins Intellektuelle übertragener Siegfried Lust und Schmerz seines Schicksals erfährt. Und nun will uns scheinen: Am Schicksal dieser, Möglichkeiten des Daseins repräsentierenden Protagonisten sei dem ,Menschkünder' Nietzsche am Ende mehr gelegen als an irgendeiner Einsicht. Dies aber würde bedeuten, daß Nietzsches überwiegendes Interesse der Darstellung des Pathos dieser Protagonisten gilt. Auch hier empfiehlt es sich jedoch, die Spannung als solche anzuerkennen: Denn 11

E. g. IV 2, 529 (23' [83]); siehe unten S. 462.

1S

Hier übt Nietzsche durchaus Selbstkritik an sich als „Aphorismus-Menschen", der „den Zusammenhang und das Bedärfniß des Zusammenhanges" nur „ahnen" lassen kann, statt „die höheren Stilgesetze wieder offenbar zu machen, deren Beseitigung die Schwäche der neueren Künstler fast zum Princip erhoben hat" (NB IV, 75; An P. Gast, Sils-Maria, Ende August 1881).

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Studie zum 33. Aphorismus

wenn Nietzsche gegen das Erkennen selbst gleichgültig wäre, statt, wie dies tatsächlich der Fall ist, selber die Leidenschaft der Erkenntnis zu teilen, so könnte er diese auch nicht in ihrem Verlauf darstellen, obschon die Tatsache, daß er sie darstellen kann, zugleich audi verraten mag, daß seine Anteilnahme zwischen der Suche und dem Sucher, oder zwischen Ziel des Strebens und der Gymnastik, der Ästhetik, der sich selbst genügenden Dynamik des Strebens geteilt ist, was freilich audi daher rühren mag, daß er, — in der skeptischen Phase, — an ein Objekt, an ein endgültiges Ziel der Suche im Grunde nidit mehr zu glauben vermag und sich daher gewissermaßen an das Pathos der Suche halten muß. Hingegen mögen sich zuletzt, i. e. bei dem späten Nietzsche, seine beiden Interessen als Formen ein und desselben erweisen, nämlich als Interesse an der Darstellung der ,herakliteisdien' Bewegung, die alles ist. Denn selbst da Nietzsche nidit mehr den Freigeist und seine Erkenntnisleidenschaft darstellen will, sondern das Universum als Wille zur Macht, stellt er zugleich das Pathos leidenschaftlicher Bewegung als Um und Auf aller Dinge dar.

2.

Kommentar

Der 33. Aphorismus scheint als Ausdruck der Verzweiflung die Katastrophe, den tragischen Untergang des Freigeists vorzubereiten. Wir stellten wiederholt fest, daß seine Hauptthesen, e. g. daß jeder Glaube an den Wert des Lebens auf unreinem Denken beruhe, — sich im Grunde schon aus dem Vorhergehenden, zumal aus der Hinfälligkeit der Werturteile ergaben14. Dennoch gerät die Masse wiederum in Bewegung, da sidi als Konsequenz der Entwicklung des Freigeists nun die Verlockung durchsetzt, dem Erkenntnisekel nachzugeben, sich von der als illusorisch durchschauten Menschenwelt abzuwenden und dem unvermeidlichen Irrleben das Nichts vorzuziehen. Die Freuden der Erkenntnis, wie sie das — der Erstausgabe von ΜΑ I als Motto vorangestellte — Wort von Descartes verherrlichte (IV 2, (3)), gelten hier offenbar nicht mehr als Gegenargument. Zwar: Nietzsche hatte schon früher behauptet, Sokrates habe, da er „lieber sterben . . [wollte] als alt und schwach im 14

Der Glaube ist „ein Fiir-wahr-halten" (78, 17; vgl. auch den Imperativ des einen Glauben Lehrenden: „Halte dies nur für w a h r . . du wirst sehen, wie gut dies tut" (ΜΑ I, 187). Der Glaube unterscheidet sich aber von — eigenen, expliziten, begründeten, einzelnen — Urteilen insofern er „Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe" ist (ΜΑ I, 187). Der Glaube ist oder wird automatisch. Er gilt Nietzsche als verfestigtes Gebilde nicht nur von Vorstellungen, sondern ebenso von Empfindungen, und zwar aufgrund des unreinen Denkens. — Ferner werden die, im Verlauf des 33. Aphorismus angeführten Weisen positiver Bewertung des Lebens wiederum, wie im 32. Aphorismus, deshalb zurückgewiesen, weil sie auf unvollständigem Material beruhen; und ebenso geht Nietzsche audi hier auf die schon in und vor dem 32. Aphorismus nachdrücklich betonte Disharmonie zwischen Erkenntnis des Irrtums und Einsicht in seine Lebensnotwendigkeit ein.

II. Kommentar

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Geiste werden", seinen Tod herbeigezwungen; und ebendann gebe sich ein „Vorgang des Bewußtseins" zu erkennen, „aus dem später die Instinkte des theoretischen Menschen entstanden" seien (IV 1, 141 (5 [93]); vgl. auch GdT; 70, 119). Jedoch fehlte es im Fall des Sokrates offenbar nicht an einem persönlichen Motiv zur praktischen Lebensverneinung, das für Nietzsches Freigeist nicht anzuführen ist. Und ferner hatte Sokrates, der Überlieferung zufolge, noch ein weiteres Motiv, da er sich vom Tod den £ingang in die Wahrheit erhoffte, indes für Nietzsches Freigeist jede — und sei es audi nur als Möglichkeit anerkannte — Hoffnung auf jenseitige Erleuchtung wegfällt, vielmehr die Wahrheitsuche an das einzige, diesseitige Leben gebunden ist, das ihm nun dennoch als wertlos gilt. Und also scheinen erst in diesem Typus die lebenverneinenden Instinkte des theoretischen Menschen sich rein darzustellen: als höchster, ja absurder Radikalismus des Erkennenden. Wir wollen das Argument im Einzelnen verfolgen: In Umkehr der üblichen, wohl vom Christentum bestimmten Vorstellung, die dem Gläubigen Selbstlosigkeit und stärkstes Mitgefühl zuspricht, behauptet Nietzsche, daß Glaube an Wert und Würdigkeit des Lebens „allein dadurch möglich sei", daß das „Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist" (womit Nietzsche übrigens nun doch wieder in enge Nähe zu Schopenhauers Pessimismus gerät). Auch die „selteneren Menschen, welche überhaupt über sich hinausdenken" investieren ihr Mitgefühl selektiv, fassen nur „abgegrenzte Teile" des „allgemeinen Lebens" (also ein unvollständiges Material) ins Auge. Sie gründen ihren Glauben entweder auf bewundernde, hoffnungsvolle Betrachtung der wenigen, höheren Menschen — der „hohen Begabungen" und der „reinen" oder „reichen" Seelen15, — vernachlässigen also die Vielen; oder auf die Beobachtung der höheren, „weniger egoistischen" Triebe der Spezies, wobei sie die „andern Triebe" beiseite lassen (45). Die Vernachlässigung des „allgemeinen Lebens" (45) der Menschheit im Ganzen erfolgt also in beiden Fällen — quasi im Dienst der Illusionsbedürftigkeit — aufgrund des unreinen Denkens und des Mangels an Empathie. Von vorneherein wird hier angenommen, daß dem Glauben an das Leben eine Nötigung zugrundeliege, die Menschheit in Hinblick auf ihr Ziel (oder ihre Ziele) zu rechtfertigen. Nietzsches Angriff wendet sich zunächst gegen seinen eigenen früheren Glauben an das Genie; hatte er doch unermüdlich verkündet, das Genie sei Zielpunkt und letzte Absicht der Natur (70, 208), die Spitze und das Ziel der Menschheit (70, 199), welches nur „in ihren höchsten Exemplaren" liegen könne (71, 177); die Vorbereitung des Genies sei die höchste Kulturtendenz, die Erzeugung einzelner großer Menschen die Aufgabe aller (71, 250; 70, 199) — also: des .allgemeinen Lebens der Menschheit'; — die Würde des Menschen bestehe allein darin, Werkzeug 15

Die spätere Lesart in He 1 , — i. e. „reiche" statt „reine" Seelen (IV 4, 173*), — mag der Absicht entsprechen, den Anschein zu vermeiden, als seien unter den höheren Menschen die moralischen Menschen zu verstehen.

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Studie zum 33. Aphorismus

des Genius zu sein (70, 223), die Hoffnung der Menschheit allein in der Züchtung bedeutender Menschen (IV 1, 119; vgl. auch IV 1, 121), usf. Wenn aber Nietzsche nun auch anderwärts in MA (e. g. MA 1, 145—147, 293) im Zuge einer Polemik, die sich gegen Sdiopenhauer (vgl. Musarion VIII, 414), vor allem aber gegen Wagner richtet, mit seiner ehemaligen „Religion" (vgl. IV 1,122) als „Aberglauben" abrechnet (MA I, 148—150), so ist zugleich nochmals daran zu erinnern, daß er selber diese Genie-Religion nie völlig aufgibt (sie vielmehr später zum Evangelium des Übermenschen steigert). Nietzsche wendet sich ferner im 33. Aphorismus gegen den Versuch, der Menschheit im Ganzen, — und nicht nur als Mittel zur Erzeugung des Genies, — Wert und Ziel zuzuerkennen, wozu er sich auch bisweilen — e. g. als Panegyriker der Bayreuther Gemeinschaftsutopie — hatte hinreißen lassen. Damals, in der Festschrift, hieß es: „Und wenn die ganze Menschheit einmal sterben muß — wer dürfte daran zweifeln! — so ist ihr als höchste Aufgabe f ü r alle kommende Zeit das Ziel gestellt, so ins Eine und Gemeinsame zusammenzuwachsen, daß sie als ein Ganzes ihrem bevorstehenden Untergange mit einer tragischen Gesinnung entgegengehe; in dieser höchsten Aufgabe liegt alle Veredelung der Menschen eingeschlossen; aus dem endgültigen Abweisen derselben ergäbe sich das trübste Bild, welches sich ein Menschenfreund vor die Seele stellen könnte. So empfinde ich es! Es gibt nur Eine Hoffnung und Eine Gewähr für die Zukunft des Menschlichen: sie liegt darin, daß die tragische Gesinnung nicht absterbe. Es würde ein Wehegeschrei sondergleichen über die Erde erschallen müssen, wenn die Menschen sie einmal völlig verlieren sollten; und wiederum gibt es keine beseligendere Lust, als das zu wissen, was wir wissen — wie der tragische Gedanke wieder hinein in die Welt geboren ist. Denn diese Lust ist eine völlig überpersönliche und allgemeine, ein Jubel der Menschheit über den verbürgten Zusammenhang und Fortgang des Menschlichen überhaupt" (71, 327 f.). Hier aber besteht gemäß Nietzsches jetziger Position, das „unreine Denken" darin, daß der Gläubige nur die höheren Regungen, eben jene tragische Gesinnung, ins Auge faßt und die Menschen „in betreff der anderen Triebe entschuldigt" (45). Zugleich gilt jedoch auch in Hinsicht auf das — bei Nietzsche relativ seltene — Bekenntnis zu dem expliziten Glauben an kollektive Menschheitsziele, daß dieser Glaube sich durch solche Argumente nicht zum Schweigen bringen läßt, e. g. auch nach MA im 45, Aphorismus der Morgenröte wieder auftaucht, wo, — analog der Untergangsvision der tragisch gestimmten Menschheit in der Festschrift, — das Bild einer künftigen Menschheit entworfen wird, die sich um der Erkenntnis willen selbst zum Opfer bringt. Im 33. Aphorismus aber wird festgestellt, daß die allermeisten Menschen weder der Hoffnung auf die höheren Regungen noch des Geniekults, noch überhaupt der Fähigkeit über sich hinaus zu denken, sonderlich bedürfen, vielmehr, — wie es in der Urfassung heißt, — „umgekehrt" „der Mensch gerade dann das Leben erträgt und an den Werth des Leben glaubt, wenn er sich allein will und behauptet, nicht aus sich

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heraus tritt: so daß alles Außerpersönliche nur wie ein schwacher Schatten bemerkbar ist. Also darin ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen thätigen Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursadie davon, daß er so wenig an den anderen Wesen theil nimmt, ist der große Mangel an Phantasie, so daß er sidi nicht in andre Wesen hineindenken" (IV1, 255), — oder, gemäß der späteren Fassung, — „hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Los und Leiden teilnimmt" (46). Kurz: seine Lebensbejahung beruht auf Beschränktheit und Befangenheit im Privat-Egoismus. Daraus ergeben sidi weitere Kehren. Während nämlich dem „alltäglichen" Menschen alles Außerpersönliche „gar nicht" oder kaum bemerkbar ist, verhält sich der Denker umgekehrt. Je reiner er denkt, desto mehr wird ihm alles Persönliche zum schwadien Schatten, desto mehr hat er seinen Privategoismus sublimiert. Kann er auch seinen Menschenkopf nicht abschneiden (21) und über die Welt an sidi nichts aussagen, so muß er doch Menschenwelt .überpersönlich' sehen. Das Denken ist umso reiner, je weitgehender es sich von Urteilen, die aufgrund eines individuellen Triebes „zu etwas oder von etwas weg" (45) gefällt werden, zu emanzipieren im Stande ist. Wenn nun aber der Denker sein Denken mit seinem Empfinden und Leben in Einklang bringen wollte, — und diese Spannung ist es, die Nietzsche hier bewegt, — so müßte er auch so mitzufühlen und mitzuleben imstande sein, daß seinem höchstsublimierten Über-Egoismus nur mehr am „allgemeinen Leben und Leiden der Menschheit" (45) gelegen wäre. Dieser Gedankengang, der allerdings im Aphorismus nicht ausdrücklich ausgeführt wird, berechtigt Nietzsche dazu, den Denker, der den Versuch umfassender Betrachtung unternimmt, in einen entschiedenen Gegensatz zum gewöhnlichen Egozentrismus der Menschen zu bringen. Und hier erscheint nun als Ideal des Freigeists das Ziel, nicht nur die Vorstellungen, sondern auch die Empfindungen bis zur Loslösung vom egozentrischen Perspektivismus zu sublimieren, mithin die höchste Stufe der Befreiung von allen wunschbedingten Illusionen, — den höchsten Grad des Bewußtseins, — mit einem „liebevollen Herzen" (/V 1, 255) zu vereinen1'. Jedodi erweist sidi, daß gerade der zum höchsten Glauben an das Leben allein Befähigte allen Glauben an die Menschheit und an sich selbst verneinen müßte". „Wer . . [sidi in andre Wesen hineindenken] kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln... Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche gegen das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele. Folglich kann in Betrachtung des Ganzen der Mensch, selbst wenn er dessen fähig wäre, nicht seinen Trost und Halt finden: sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei allem was er thut auf die letzte Ziellosigle 17

Zur weiteren Diskussion dieser Idealvorstellung vgl. unten, Seite 446—453. Wir zitieren hier die Urfassung, der in der Druckfassung die Passage von „Wer dagegen wirklich [i. e. an dem allgemeinen Los und Leiden der Menschheit] teilnehmen könnte . bis zu „ist ein Gefühl über alle Gefühle" (46) entspricht.

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keit der Menschheit, so bekommt sein Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Ich glaube, das ist mit nichts zu vergleichen, sich als Menschheit ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Knospe von der Natur vergeudet sehen" (/V 1, 255). In der Urfassung wird hier angedeutet, daß für den Einzelnen und im einzelnen alles Geschehen notwendig war und ist („Es war alles nothwendig und ist es in uns" (IV 1, 255)). Für den in sich und in den vitalen Irrtümern einer beschränkt egoistischen Perspektive Befangenen besteht keine Nötigung zur Verzweiflung. Wohl aber für den Sehenden, den Erkennenden! „Nur daß wir das Spektaculum sehen sollen!", hieß es daher ursprünglich: „Da hört eigentlich alles auf" (/V 1, 255). Spricht hier ein früherer, pessimistischer Nietzsche? Der Text stammt aus Nietzsches eigener Schlußbetrachtung zu Dühring, also aus dem Sommer 1875, ist daher zunächst Auseinandersetzung mit Dührings Werk und richtet sich gegen Dührings Glauben an den Wert des Lebens im Großen und Ganzen. Dühring, — wir folgen durchwegs Nietzsches Zusammenfassung, — gibt zu: „Bei dem Einzelnen kann durch furchtbare Schicksale das Zutrauen zum Leben ganz gestört werden." Dagegen betont Nietzsche: „Die Furchtbarkeit des allgemeinen Schicksals ist gewiß größer als jedes individuelle'" (IV 1, 249). Dühring behauptet: „Wäre die Menschheit ein bewußtes Ganze, sie würde vom Leiden des einzelnen Gliedes nicht viel Aufhebens machen". Dagegen meint Nietzsche, es sei „umgekehrt": „Man denke nur an Zahnschmerz usw. beim Menschen"; und fragt sich, ob „jenes Gesamtbewußtsein" nicht als „ein immerfort leidendes zu imaginieren" sei (/V 1, 250). Dühring sagt: „Soweit es möglich ist Affektionen zu haben, deren Schwerpunkt in andere Wesen fällt, läßt sich die individuelle Empfindung zum allgemeinen Mitgefühl steigern: und daraus ist das individuelle Schicksal zu bewältigen und zu versöhnen." Nietzsche hingegen: „wie!? weil man an so viel andern und größern Leiden theilnehmen lernt! der schwerere Schmerz überwältigt den geringeren!" (IV 1, 250). Dühring: „Die Erkenntnis ist es, die die Lebenserfahrungen zu einem einheitlichen Bewußtsein vereinigt und, indem sie über das individuelle Leben hinausträgt, das allgemeine Schicksal ergreift und in ihm die Noth des Augenblicks verklingen macht. So wird sie zur Philosophie und führt zum Glauben an den Werth des Daseins." Nietzsche fragt: „Muß sie das wirklich? Die Erkenntnis des allgemeinen Schicksals — könnte sie nicht nur deshalb die gegenwärtige und individuelle Noth ,verklingen machen', weil es so viel gewaltiger lastet und schmerzt, also nur als der intensivere Schmerz gegen den viel kleineren stumpf macht? Ist nicht der Glaube an den Unwerth des Daseins ein Narkotikon gegen das Individuelle, so gut als der Glaube an den Werth?" (IV 1, 223). Bei Dühring gelten „die sympathischen Affekte" (Mitgefühl) als Vermittler zwischen individuellem Bewußtsein und Schicksal der Welt; soll der Gedanke der Solidarität den Einzelnen, durch das Bewußtsein an dem ihn übersteigenden Ganzen teilzuhaben mit seinem individuellen Schicksal versöhnen. Dagegen macht Nietzsche

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geltend: „ . . kein Mensch kann das Schicksal der Menschheit ganz empfinden, es ist ein sehr vages Übergreifen aus dem Individuellen ins Allgemeine, welches hier Versöhnung bringt. Ein stärkeres würde das Individuum ganz niederwerfen. Die Engigkeit von Kopf und H e r z macht das Dasein erträglich!" (IV 1, 250). Und ebenso wie die Urfassung des 33. Aphorismus die Möglichkeit, daß man „sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt" (IV 1, 255), offenbar bloß als Ausrede vor der Verzweiflung am Wert des Lebens gelten läßt, bzw. als eine gegen die Reinheit des Denkens verstoßende Zuflucht zum Metaphysischen (7V 2, 405 (17 [78]), so lehnt Nietzsche audi Dührings Hinweis darauf ab, daß „die Betrachtung einer Welt, deren Bedeutung über das menschliche Schicksal unendlich hinausreicht" „das Gemüth zu philosophischer Ruhe zu stimmen" vermöge: — „Was wissen wir denn von einer ,Bedeutung'! in solchem Falle, f ü r wen bedeutet sie noch etwas!" (IV 1, 251). Als charakteristisch für diese Auseinandersetzung mit Dühring erscheint, daß Nietzsche sich zwar als Pessimist gegen Dühring wendet, sich aber zugleich von dem metaphysischen Pessimismus Schopenhauers distanziert. Die Überzeugung, daß sich dem Erkennenden kein Wert des Lebens oder Ziel der Menschheit erschließt; die Gewißheit, daß Mitgefühl mit dem Los der Menschheit überwiegend Mit leiden wäre, und die Auffassung des Mitleidens als Gefahr, weisen auf den späteren Nietzsche hin, und stimmen zugleich mit MA überein, als dem Werk, in dem sowohl die Skepsis wie die defensive Polemik gegen Mitleid (Mitleiden) einsetzt 18 . Dagegen scheint sich die positive Kehrseite nur eben erst anzudeuten, nämlich als schwacher Ansatz zu der — in M A weitergeführten — Umwertung von Egoismus-Egozentrismus, die zuletzt, in der Forderung nach schöpferischer Sinngebung, i. e. einer positiven Reaktion auf die Erkenntnis der Wert- und Sinnlosigkeit, gipfeln wird. So stellt denn auch der 33. Aphorismus einen ,reinen', von keinem metaphysischen Trost zu beirrenden Pessimismus dar. Dem widerspricht aber anderseits nicht, daß, — so sonderbar dies zunächst klingen mag, — die hier charakterisierte Haltung der radikalen Desillusionierung sich aus der Schopenhauerschen Auffassung des Genies entwickelt hat, als dessen Merkmal das „weite Auseinandertreten des Willens und des Intellekts" zu gelten hat, da nämlich „der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekte er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt" (IV 1, 137). Vergegenwärtigt man sich nämlich, daß der ,Wille' wesentlich Selbstsucht (Egoismus) ist, daß sich ferner der Trieb zur Wissenschaft durch „den geringeren Grad des Egoismus oder die weitere Spannung desselben" als „ein SichVerlieren in die Dinge" und als „eine über das Individuum ausgedehnte Selbstsucht" darstellt (IV 1, 174), und daß auf dem höchsten Grade des Erkenntnistriebes das 18

Die Gefahr des Mitleidens kennt audi der frühe Nietzsche sehr wohl (vgl. 70, 212), zumal es ja hier nicht um das ästhetische Mitleiden mit dem Helden einer Tragödie geht, von dem Nietzsche in der GdT meinte, es rette uns gewissermaßen vor dem Urleiden der Welt (70,169), sondern um Erfahrung des Leidens selbst. — Zur Polemik gegen das Mitleid in MA vgl. ΜA I, 60 ff., 92 f., 142, 240, 249; ΜΑ II, 38, 127, 156, 202 f., 208.

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egoistische Grundelement sidi völlig ,sublimieren', das heißt: verflüchtigen sollte, so ergibt sich, daß audi die „Askese" des Erkennenden und seine „unegoistische Aufopferung" seiner selbst „unter die allgemeine Betrachtung des Selbstmords" fällt (vgl. IV 2, 384). Die Problematik dieser Askese und Selbstopferung, zumal der invertierten Rachsucht, der „Grausamkeit" des rücksichtslosen Denkens (IV 2, 411 (18 [6]), die der radikale Denker gegen sich selber kehrt, seine Erlösung von Todesfurcht durch Todesverlangen ( / V 2, 412 (18 [10]), die Lust an Vernichtung und am Untergang seiner selbst wie der Menschheit — wird damit allerdings nur angedeutet . . . *

*

*

Wir halten fest: Im letzten Akt des 1. Hauptstücks scheint das Ideal des Erkennenden, sich selbst zum Tode zu verurteilen; scheint sein Glaube, ihn zu einer Umkehr zu zwingen, die den Protagonisten von der Höhe des Wunschbildes in den Abgrund der Negation stürzt. Nidit was der als Idealtypus ins Auge gefaßte Freigeist will, nicht die in seinem Sinne bislang erhobene Forderung nach Auflösung der Irrtümer, sondern nur „der Irrtum über das Leben fist] zum Leben notwendig" (45). Und wäre damit nidit, zusammen mit dem Glauben an Wert und Würdigkeit des Lebens, auch der Glaube an die Wahrheit selbst erschüttert? Es versteht sich, daß f ü r Nietzsche das Thema: Wert des Lebens durch den 33. Aphorismus nicht erledigt wird. Die Frage nach dem tragenden Glauben als Frage nach dem sinngebenden Ziel des Menschen bleibt Nietzsches Grundproblem. Durchwegs steht er in antithetischer Spannung zwischen Bejahung und Verneinung des Daseins, so daß weder die frühen Phasen nodi M A sich auf positive oder negative Entscheidungen festlegen lassen. Zudem setzt Nietzsche ja die Unvermeidlichkeit, sowohl der Formen unreiner Erkenntnis wie audi der Formen (relativ) reiner Erkenntnis, der Werturteile wie der neutralisierten — wissenschaftlichen — Feststellungen voraus, da er von der notwendigen Spannung zwischen Erkennen und Werten, dem notwendigen Kampf zwischen Wissenschaft und Weisheit überzeugt ist. Davon mehr im Zusammenhang mit dem 34. Aphorismus. Hier ist zu betonen: Die Perspektive des radikalen Protagonisten der Erkenntnis, der darüber verzweifelt, daß sich der Glaube an das Leben mit seiner Leidenschaft nicht vereinen läßt, mag ein Maximum an tödlicher Konsequenz darstellen. Keineswegs ist diese Perspektive die einzige, die in MA nun anerkannt wird. Und so finden sich, — wie wir in Hinblidk auf unsere Reihe feststellen konnten, — andere, vitalere oder mensdilich-allzumensdilichere Perspektiven, von denen aus, — in Widerspruch zu der Leugnung eines Ziels im 33. Aphorismus, — entschieden Menschheits-Ziele statuiert werden (mögen diese auch nur provisorische sein), — wobei dann offenbar so gut wie alles, was eben verworfen wurde, seine Auferstehung feiert. So soll gerade die Erkenntnis, die doch im 33. Aphorismus in Verzweiflung gipfelte oder umschlug, am Ende des 2. Hauptstücks als leitende Macht die Verwand-

II. Kommentar

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lung einer moralischen in eine weise Menschheit bewirken, die nun als Ziel der Entwicklung gilt: „Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, alles ist im Flusse, es ist wahr: — aber alles ist auch im Strome: nadi einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrtümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluß der wachsenden Erkenntnis wird sie schwächer werden: Eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Überschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf demselben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den Weisen, unschuldigen (unschuld-bewußten) Menschen ebenso regelmäßig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewußten Menschen — das heißt die notwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem — hervorbringt" (ΜΑ I, 98). Hier führt also die Sublimierung, ganz im Sinne des 1. Aphorismus des Ersten Hauptstücks, über die scheinbaren Gegensätze hinaus zu einer höheren Entwicklungsstufe statt in die Verzweiflung. Jedoch auch damit scheint keineswegs eine endgültige Entscheidung erreicht zu sein, bringt uns doch einer der folgenden Aphorismen des 3. Hauptstücks („Gram ist Erkenntnis") wiederum die „Tragödie" des Erkennenden zu Bewußtsein, welcher, gerade infolge seiner höheren Entwicklung zur strengen „Methode der Wahrheit", — die ihrerseits ein Produkt seiner Zartheit, Reizbarkeit, Leidensfähigkeit ist, — ebenjene Trostmittel nötig hat, die er sich selbst als Erkennender verbieten muß (ΜΑ 1,100 f.). Lassen sich diese Widersprüche auflösen? Durchläuft der Freigeist von MA immer wieder die gleichen Stufen und Perspektiven, um auf der höchsten immer wieder zu erfahren, daß das Dasein ziel- und wertlos ist und einzusehen, daß sich Dasein und Erkenntnis im Grunde nicht vereinen lassen, — oder um gerade erst aufgrund dieser Erfahrung und Einsicht zum Weisen zu werden, der nun dennoch dem Zielund Wertlosen sein Ziel setzt und Wert verleiht? Spricht Nietzsche — oder sein Freigeist? — nicht auch in MA von einem „eigentlichen Ziele" der Menschheit, dem sie „in der mittleren Zeit ihrer Existenz" vielleicht am nächsten komme, da sie noch der „Erzeugung des Genius" fähig sei, hingegen sie später dazu „zu matt" werden könnte (vgl. ΜA I, 191 ff.)? Es müßte uns nicht bekümmern, wenn im Frühling — Sommer 1875, die „Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann", statuiert wird (IV 1, 167 (5 [180]). Aber auch in den unmittelbar zu M A I gehörigen Notizen vom Winter 1876—77 ist von dem „höchsten Intellect" die Rede, auf den die Menschheit warte, da nur er „den Werth oder Unwerth des Lebens endgültig festsetzen" könne. Und ebendiese Einschätzung, sowie die Bestimmung des Grundes, „weshalb . . [die Menschheit] da ist" wird hier als das — „vielleicht" „wichtigste" — »Ziel der Menschheit" bezeichnet (IV 2, 461 (20 [12]). Und setzte nicht ebenso alles, was Nietzsche von dem möglichen Fortschritt der Kultur über das metaphysisch-religiöse Stadium

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Studie zum 33. Aphorismus

hinaus im 1. Hauptstück behauptet — und was er von der „Erdregierung der Menschen im großen" fordert (ΜΑ I, 210), — den Willen zu Wert und Ziel voraus? Wir lassen die Widersprüche vorläufig auf sich beruhen. Die Überzeugung, daß der kritische, sich befreiende Geist und der schaffende, Gesetze gebende Geist sich miteinander im Philosophen auseinanderzusetzen und zu vereinen haben, wird deutlicher als in MA im Frühwerk Nietzsches ausgesprochen. Der späte Nietzsche macht vollends klar, daß er der Menschheit, für die es „einstweilen kein . . . Ziel" gibt (73, 89), das Ziel zu schaffen trachtet, wobei sich freilidi im Ideal des Übermenschen selbst die Spannung auch wiederherstellt, indem, wie schon bemerkt, der Abgrund der Verneinung die Höhe der Bejahung fordert und so der Kampf gegen die Lockung der Selbstvernichtung, bzw. ein ekstatisches Ringen mit dem Nihilismus mitunter als höchste Lebensform verkündet wird. Damit sind wir allerdings von der Stimmung des 33. Aphorismus weit entfernt, dessen Umkehrstrukturen sich einsinnig nur immer tiefer ins taedium vitae einzubohren scheinen. Denn hier, — um dies noch einmal zusammenzufassen, — wurden zunächst zwei einander entgegengesetzte Positionen des Glaubens an das Leben entwertet, deren eine nur die höheren Menschen, diese aber in toto gelten lassen wollte, indes die andere die ganze Menschheit, jedodi nur teilweise, nämlidi hinsichtlich ihrer höheren Regung zum Glaubensobjekt zu machen trachtete. Hierauf aber wurde umgekehrt die niedrige egoistisch-egozentrische Illusionsbefangenheit als lebensbejahende Illusion bezeichnet und in weiterer Umkehr der zur höchsten Einsicht und Einfühlung in das Leben Befähigte zur Verzweiflung am Leben verdammt. Zuallerletzt jedodi wird der Aphorismus ansdieinend doch noch konzilianter. Nur ein Dichter, heißt es, wäre wohl jenes „Gefühls über alle Gefühle", i. e. der Vergeudung seiner selbst „als Menschheit", fähig. „Und Dichter wissen sich immer zu trösten" (46). Aber was ist von dieser abschließenden Pointe zu halten? Zwar gilt wohl, „daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genuße werden könne, vide tragoediam" (IV 1, 148). Jedoch vom Standpunkt dessen, der allein um der Erkenntnis willen leben will, repräsentiert die Kunst gegenüber der „wirklich befreienden philosophischen Wissenschaft" (41) ja eine relativ niedrige, vorwissenschaftliche Sonderform des unreinen Denkens, in deren Ablehnung sich gerade der Radikalismus der Erkenntnis erweist. Wir erinnern uns: Diditung verschleiert das Leben, um es angenehm zu machen. Kunst ist bestenfalls ein Übergang (41; vgl. ΜA I,181). Im Rahmen des 1. Hauptstücks galten die Dichter, die ihren Stimmungen und Zuständen bloß Ursachen unterschieben (27), im Grunde als rückwärts gewendete, dem Irrtum in besonderem Maße verhaftete Wesen (vgl. Apho 29; ΜA I, 137), wenn nicht gar — wie anderwärts in MA, — im Sinne Piatos, — als Betrüger (vgl. auch ΜA II, 25 f.). Mögen sie, indem sie mit ihrer Kunst das mit Empfindungen überladene Gemüt entladen (41) auch Erleichterer des Lebens sein und mit ihrer Fähigkeit in Illusionen zu leben, sich und andere über die MisJre des Daseins be-

II. Kommentar

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schwichtigen. Sie lindern das Leiden nur einen Augenblick lang und sdiläfern die Menschen gewissermaßen ein (vgl. ΜA I, 137). Von einer Lösung des verzweifelten Dilemmas dürfte hier also nicht die Rede sein, wenn audi im Ganzen seines Werks Nietzsches Verhältnis zu Dichtung und Kunst, — i. e. seine Bewertung der künstlerischen Illusion und des künstlerischen Schaffens, — sich durchaus nicht so summarisch abtun ließe. Im Zusammenhang des 33. Aphorismus wirkt die Wendung zum Dichter, — so scheint es uns jetzt, — als eine ironisch-melancholische Geste der Resignation, als eine bloß „palliativische" (ΜΑ I, 137) Beschwichtigung angesichts des Unauflösbaren.

STUDIE ZUM 34. APHORISMUS APHORISMUS 34 Zur Beruhigung. — Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewußt in der Unwahrheit bleiben könne? oder, wenn man dies müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen gibt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntnis kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrtümern (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebnis die Verzweiflung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge? — Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntnis wird durch das Temperament eines Menschen gegeben: ich könnte mir ebensogut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affekten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist: so daß zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflüsse der reinigenden Erkenntnis schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, daß man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehörte hierzu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Äußerungen nichts von dem knurrenden

I. Die Uberwindung der Erkenntnis-Tragödie

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Tone und der Verbissenheit an sich trüge, — jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben. Vielmehr muß ein Mensch, von dem in solchem Maße die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, daß er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne Neid und Verdruß verzichten können, ihm muß als der wünschenswerteste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen. Die Freude an diesem Zustande teilt er gern mit, und er hat vielleicht nichts anderes mitzuteilen — worin freilich eine Entbehrung, eine Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der Tat, und vielleicht ein wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen „Freiheit" hat es eine eigene Bewandtnis.

I. DIE ÜBERWINDUNG DER ERKENNTNISTRAGÖDIE

1.

Selbstbeschwichtigung

Als tröstliche Erdichtung und ästhetische Fiktion, und als solche von dem, der sich selber beschwichtigt und tröstet, mit Selbstironie erkannt und durchschaut: so mag zunächst audi der letzte Aphorismus, der „Zur Beruhigung" am Ende des 1. Hauptstücks steht, wirken. In der ersten Hälfte dieses Prosastücks wird die selbstzerstörerische Konsequenz der Freigeisterei, i. e. der Erkenntnis, noch schärfer formuliert: Ist der Umschlag der „befreienden philosophischen Wissenschaft" (41) zur Einsicht in die Ziellosigkeit des Lebens und die Lebensnotwendigkeit der Lüge nicht die „Tragödie" der hier entwickelten „Philosophie", die ja Leidenschaft für die Wahrheit ist? Und da die Wahrheit in diese Einsicht mündet, wird sie „nicht dem Leben, dem Besseren feindlich" (46)? Wird Erkenntnis, da sie audi den möglichen, begrenzten Aufschwung und Fortschritt als illusorische Bewegung im illusorischen Bereich durchschaut, nicht notwendig zu einer nihilistischen Macht, zum Instrument praktischer Welt- und Lebensverneinung (vgl. 43), vergleichbar jenem lethargischen Element, das nach Ansicht des früheren Nietzsche, als Folge dionysischer Einsicht in der indischen Kultur zum Nirvana, zum Nichts drängt (70, 165), oder in Hamlet den Antrieb zum moralischen Handeln lahmt und die Lust zum Leben abtötet (70, 81)? Kann der Erkennende, der erkannt hat, daß „der Irrtum über das Leben zum Leben notwendig" ist (45), in der Lüge verharren wollen? Hier wird die Disharmonie zwischen Leben und Erkennen aufs äußerste gesteigert, so daß das Leben des Erkennenden als die Verwirklichung eines Paradoxons erscheint. „Können" und

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Studie zum 34. Aphorismus

„müssen" stehen im Verhältnis der Umkehr. Der Erkennende, so scheint es, kann nicht, was er als Lebender muß, — da Leben in der Lüge sein bedeutet 1 . Und so fragt sich, ob f ü r ihn der Tod nicht vorzuziehen sei. Diese Konfliktsituation, in der das Denken des 1. Hauptstücks zu gipfeln sdieint, bestätigt •wiederum, daß, ungeachtet der Umschläge und Kehren, der Umkehr der Umkehr usf., die dynamisch antithetische Spannung zwischen Erkennen und Leben, die der gegenwendigen Bewegung auch im Frühwerk der GdT zugrundeliegt, im wesentlichen die gleiche bleibt 2 . Im 34. Aphorismus wird der tragische Konflikt des Erkennenden dadurch verdeutlicht, daß ein „Sollen", welches ihn zum Leben verpflichten würde, als unzulässige Fiktion abgelehnt wird. „Die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion" (47). Das Sollen setzt, wenn es auf ein Sein-oder-Nichtsein bezogen wird, ein Werturteil über das Leben voraus. Von solchen Werturteilen gilt aber, daß sie notwendig, ungerecht, ja falsch sein müssen (Apho 32), was im Besonderen audi noch von den positiven Einschätzungen, welche das Leben-Sollen zu begründen geeignet sein könnten, ausgeführt wurde (vgl. Apho 33). Überhaupt gibt es f ü r das dezidiert nicht-metaphysische Denken keine Macht, die, überhalb oder außerhalb des Lebens stehend, ein Sollen in bezug auf dieses statuieren könnte. So wenig die Welt im Ganzen als gut oder böse zu bezeichnen ist (42), so wenig auch das Leben, d. h. das I m Leben-Bleiben oder Aus-dem-Leben-Sdieiden®. Und ferner: „Niemand ist f ü r seine Taten verantwortlich, niemand f ü r sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet" (ΜA I, 56). Im Grunde gibt es angesichts der Unfreiheit des Willens überhaupt keine Schuld (IV 2, 530). Die Frage, ob f ü r den Erkennenden der Selbstmord dem Verharren in der Lüge vorzuziehen sei, ist jedenfalls keine moralische. „Es giebt nur Gründe gegen den Selbstmord individuell. Starke Medizin. Moralische Gründe gar nicht" (IV 2, 466). Im Gegensatz zum Sollen, das hier gemäß einem kategorischen Imperativ aufgefaßt und verworfen wird, nämlich als Verpflichtung zu einem interesselosen (desinteressierten) Handeln (als moralische Pflicht zu leben), werden die Motive LustUnlust, Nutzen-Schaden als die einzig wahren angegeben 4 . Lust und Unlust sind aber, Aphorismus 32 zufolge, von Neigung oder Abneigung mitbestimmt, welche als 1

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Vgl. Kafkas Aphorismen („Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg" in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, op. cit.), die zum Teil ein ähnliches Verhältnis der Verneinung der Welt als Lüge umschreiben, allerdings unter Voraussetzungen, die denen Nietzsches im Grunde wohl entgegengesetzt sind. Zur Darstellung dieser Spannung zwischen letzter Einsicht und vitaler Illusion in der GdT, vgl. Dialectics and Nihilism, op. cit., 82—112. Vgl. audi IV 2, 436 (19 [41]): „Die Ethik jeder pessimistischen Religion besteht in Ausflüchten vor dem Selbstmorde". Und das Gleiche gilt auch für die Ethik der pessimistischen Metaphysik Schopenhauers: „Die Furcht davor, dem Selbstmord unbedingt das Wort zu reden, ist das treibende Motiv" (IV 4, 426). „Die Erkenntnis kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen" (47).

I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie

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„Trieb zu etwas oder von etwas weg", als Wollen des Förderlichen und Ausweichen vor dem Schädlichen, beim Menschen nicht „ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles" existieren (45). Audi die Triebe —, auch die Lust dazu, im Leben zu verharren, oder die Unlust daran, — sind ihrerseits mit den Irrtümern, den Illusionen des unreinen Denkens und also mit „ungerechten Messungen" (47) verbunden. Insofern aber die Erkenntnis des Erkennenden darin gipfelt, daß er die Welt als Vorstellung, i. e. als Irrtum durchschaut (Apho 29), sich also von der Macht der Irrtümer, welche der Lust wie der Unlust am Leben verhaftet sind, zu befreien trachtet und ebenso die Erwägungen, die den Nutzen, wie jene, die den Schaden behaupten, als Illusionen der Vitaloptik erkennt, mögen audi diese Motive nicht entscheidend sein. Auch ist, wenn die Lust-Unlust-Motive in bezug auf das Erkennen selbst in Betracht gezogen werden, kein Uberwiegen der Lust zu statuieren. Die reinste Erkenntnis scheint als Enthüllung der Tatsache, daß „das ganze menschliche Leben.. tief in die Unwahrheit eingesenkt ist" (47), sowie der Unmöglichkeit, die absolute Wahrheit zu erkennen und der Ziel- und Sinnlosigkeit des einzelnen und des kollektiven Daseins, dazu geeignet zu sein, dem Erkennenden sowohl in Hinblick auf die Menschheit wie auch auf seine eigene Vergangenheit5, seine gegenwärtigen Motive' und seine zur Zukunft hinstrebenden Wünsche7 tiefe Unlust zu bereiten. Und endlich mag auch wohl der Kalkül, ob radikale Erkenntnis Nutzen oder Schaden stifte, infolge ebenjener Destruktion aller tragenden scheinbaren Wahrheiten (i. e. Illusionen, Hoffnungen, Ziele) negativ ausfallen, und ebenfalls subjektiv zur Verzweiflung und objektiv zu dem Urteil führen, daß alles nichtig sei, mithin zu einer „Philosophie der Zerstörung" (47), wenngleich auch diese Resultate auf unreinem Denken, nämlidi einer Enttäuschung jenes Strebens beruhen mögen, das von der Leidenschaft für Erkenntnis und Wahrheit motiviert ist. Noch deutlicher aber als unser Text wird eine spätere Variante (He1), derzufolge die „Loslösung des Freigeists sich in einer Philosophie der Auflösung Auseinanderlösung Selbstvernichtung" vollendet (IV 4, 174*). Nachdem Nietzsche so die Vereinigung der „Philosophie der logischen Weltverneinung" (43) mit der praktischen Weltverneinung dargetan hat, geht er nun daran, die umgekehrte Möglichkeit auszumalen. Und so ist es wiederum eine Umkehr, — und zwar aus der All-Verneinung in die Bejahung, — die den Aphorismus teilt und gliedert. 5

Dieser „aus tiefstem Grunde gram zu werden" (47) hat er Ursache, da er erkennt, daß seine persönliche, wie alle menschliche Vergangenheit auf archaischen Vorstellungen (Irrtümern) beruht. ' Als ein solches Motiv gibt Nietzsche die Ehre an (47), die wohl auch als Selbstbestätigung durch die im Irrtum Befangenen dem Freigeist nichts gelten dürfte. 7 Denn sowohl die Menschheit im Ganzen, wie die Einzelnen sind ziellos und gehen nur ihrer endlichen Vernichtung entgegen, wie es auch für diejenigen, deren Höchstentwicklung auf dem Weg des Erkennens zu der Einsicht in ihre Nichtigkeit führt, kein künftiges Glück zu geben scheint.

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Studie zum 34. Aphorismus

„Die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntnis", behauptet Nietzsche nun, „wird durch das Temperament eines Menschen gegeben: ich könnte mir ebenso gut wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affekten reineres Leben entstünde als das jetzige ist" (47). Die verzweifelte Indifferenz wird zur glücklichen Indifferenz. Dabei wird der gleiche Tatbestand im Verhältnis von Erkenntnis und Leben ins Auge gefaßt. Galt aber vorhin, daß die Motive des Begehrens, welche notwendig im Irrtum befangen sind, dem radikalen Wahrheits-Anspruch des Erkennenden so entschieden zuwiderlaufen, daß der Erkennende sidi selbst als Begehrenden, d. h. als Lebewesen, vernichten zu müssen glaubte, so wird jetzt umgekehrt, im Sinne des 1. Aphorismus, anstelle der unüberbrückbaren Antithese die Möglichkeit der Sublimierung betont, wobei die Gegensätze als bloße Gradunterschiede aufgefaßt werden, und ein Ausgleich für möglich gehalten und empfohlen wird. So ergäbe sich eine Vergeistigung des Lebens und zugleich eine gewisse Bescheidung der Erkenntnis, die dem Begehren nach dem Absoluten entwöhnt ist. „Zuerst" hätten „zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch K r a f t . . , aus alter vererbter Gewöhnung her", „allmählich" aber würden sie „unter dem Einflüsse der reinigenden Erkenntnis schwädier" werden (47). Wäre damit von Seiten der vitalen Substanz eine gewisse Bereitschaft, ihre Irrtümer aufzugeben, erreicht, so ergäbe sich als Akkommodation seitens des .Erkennenden', — der, obschon „fast entmenscht" (16), doch mit sich und anderen Menschen zusammenhausen muß —: „Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an vielem sich wie an einem Sdiauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte" (47). Wenn aber das Leben gerade als Schauspiel von dem losgelösten, von heftigeren Begehrungen befreiten Freigeist genossen werden soll, ist die „zur Beruhigung" vorgeschlagene Lösung oder Milderung der Dissonanz zwischen Erkenntnis und Leben wohl auf Kosten des Erkenntnisideals erfolgt. Denn jener am Leben als Schauspiel sich weidende Betrachter: — ist er noch der radikale Jünger der Erkenntnis, hat er sich nicht dem ästhetischen Zuschauer angenähert? Erweist sich das gemilderte, ermäßigte Ideal des Freigeists gar als Rückkehr zu dem früheren Bekenntnis, daß die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei? Ist Erkennen am Ende nur eine Form des ästhetischen Betrachtens und diesem zu subsumieren? Kurz nach Beendigimg von ΜΑ I notiert Nietzsche mit Bezug auf seinen Widerwillen und Kampf gegen die Illusionen: „Endlich sah ich ein, daß auch unsre Lust an der Wahrheit nur auf der Lust der Illusion ruht" (IV 3, 358 (27 [82])). Dies aber läßt sich auch als Rehabilitation der Illusion verstehen, und es könnte wohl sein, daß diese Rehabilitation schon am Ende des 1. Hauptstücks einsetzt, — nach Art der bei Nietzsdie so beliebten Schlüsse, die über den Umkreis des jeweiligen Werks oder Abschnitts auf einen weiteren, neuen Horizont der Problematik hin-

I. Die Uberwindung der Erkenntnis-Tragödie

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weisen8. Im Sinne des 1. Hauptstücks aber wäre die beschauliche Haltung, die Nietzsche etwa mit Goethe und mit Epikur assoziiert', als ein Rückzug in Richtung auf die Stufe des Künstlers aufzufassen, und wenn nicht auf die des Künstlers im engeren Sinne, so doch auf die des Künstlers im weiteren Sinne, des Lebenskünstlers, des Weisen, der sich, kraft seiner Resignation und enthaltsamen Optik, 8

Vgl. etwa den letzten Aphorismus der Morgenröte oder die beiden letzten des 4. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft. • Goethe, mit dem sich Nietzsche in MA ausführlich befaßt, wird ausdrücklich im Zusammenhang mit der im 34. Aphorismus zur Beruhigung empfohlenen Hinwendung zu einem Leben „wie in der Natur" (47) genannt als derjenige, der in der Natur das „große Mittel der Beschwichtigung" erkannte (ΜΑ I,105). Im Sinne der anempfohlenen Schwächung heftigerer Begehrungen, wird Goethes Neidlosigkeit (ΜΑ I,146; ΜΑ II, 131) hervorgehoben; ebenso seine „Vornehmheit" (ΜΑ II, 131). Unter dem Titel „Von der Erleichterung des Lebens" lobt Nietzsdie Goethes „Kunststück", das eigene Leben „nicht zu genau sehen zu wollen" und es dadurch zu idealisieren (ΜΑ I, 226 f.). Ferner: Goethe vermochte es, „friedlich und froh mit sich auch im Gedränge" fortzuleben (ΜΑ I, 345). Er stellte im Antonio des Tasso die Tugend der vorsichtigen Enthaltung dar, jene weise Mäßigung, welche sich mit skeptischen, relativistischen Positionen wohl verträgt, und die gerade vom wissenschaftlichen Geiste im Menschen gezeitigt werden muß (ΜΑ I, 350). Vergleiche auch ΜΑ II, 79 f., wo die „Goethisdie Geistigkeit im Wohl-Sein und Wohl-Wollen" im Sinne von Aphorismus 34 (48), angepriesen wird; und ΜΑ II, 84, wo Goethe u. a. genannt wird, deren Kunst, „als Überschuß einer weisen und harmonischen Lebensführung" „das Rechte" sei, „nach dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden sind". Ferner wird auch als Goethesche Maxime, in „Hinsicht auf junge Talente" angeführt, „daß man oft dem Irrtume nicht schaden dürfe, um der Wahrheit nicht zu schaden" (ΜΑ II, 128). Und es heißt: Goethe sei „nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur" (ΜΑ II, 235). — Von Epikurs Philosophie meint Nietzsche, „daß die erwachenden Wissenschaften Punkt um Punkt" an sie „angeknüpft" hätten (ΜΑ I, 73). Sowohl Epikur wie der Stoiker Epiktet werden als „leibhaft wandelnde Weisheit" bezeichnet (ΜΑ II, 109). Im Vergleich mit den Zynikern wird die Kultur der Epikuräer hervorgehoben (ΜΑ 1, 224). „Epikur, der Seelen-Beschwichtiger des späteren Altertums, hatte jene wundervolle Einsicht . . . , daß zur Beruhigung des Gemütes die Lösung der letzten und äußersten theoretischen Fragen gar nicht nötig sei" (ΜΑ II, 170). Diese Einsicht wird zur Therapie gegen die radikalen Fragen, indem sie etwa den metaphysischen Spekulationen oder dem absoluten Erkenntnisanspruch überhaupt entgegenhält: „Gesetzt es verhält sich so, so geht es uns nichts an", — eine Einstellung, die ja auch Nietzsches Position gegenüber der Möglichkeit einer metaphysischen Welt in dieser Phase entspricht. (Das Gleiche gilt von dem Epikuräisdien „es kann so sein, es kann aber auch anders sein" (ΜΑ II, 171)). Und endlich wird auch der Lebensstil Epikurs gelobt (ΜΑ II, 266); wird Epikur gefeiert als „Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophieren" (ΜΑ II, 315), in der sich gleichsam die über allen Abgründen und Kontrasten des Lebens schwebende Ruhe des währenden Augenblicks harmonisch behauptet und theoretischen Ausdruck findet. Im Falle Goethes fehlt in MA zu dem Lob auch die Gegenstimme nicht, die ihm, besonders in Hinblick auf Faust das Vermeiden des Tragischen höhnisch als Inkonsequenz aus allzu großer Konzilianz vorwirft (ΜΑ II, 233 f.). Auch wird wohl die Kehrseite der Erleichterung des Lebens durch ungenaues Sehen und Idealisieren betont, wenn es heißt, daß Goethe als Denker „die Wolke lieber umarmt, als billig ist" (ΜΑ II, 275). Hingegen gehört die Wendung gegen den Epikuräismus als eine der feinsten Verkleidungsformen des Leidens (76, 219; 77, 71), gegen Epikur als den Gegensatz eines dionysischen Griechen (77, 61) und als typischen decadent (77, 226) anscheinend einer späteren Phase Nietzsches'an. Vgl. ferner unten, Seiten 456, 460 f., 468 f., 471.

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Studie zum 34. Aphorismus

im Leben einzurichten weiß. So hätte das Problem der Erkenntnis-Tragödie nidit als gelöst, vielleicht aber als überwunden zu gelten, und der schon im 33. Aphorismus gegebene Hinweis auf die „Dichter", welche „sich immer zu trösten" wissen (46), hätte eine tiefere Bedeutung, obschon im Sinne des 1. Hauptstücks, ja im Zusammenhang von MA überhaupt, die Einwände gegen die bloß beschwichtigende Wirkung der Dichtung dennoch bestehen bleiben.

2. Ästhetische

Aspekte

Die bisher gebotene Auslegung des Texts befriedigt nicht. Sie nimmt die erstaunliche Wendung zum happy end der Weisheit, welche nach Abschluß der Erkenntnistragödie, fast als Koda einem Finale der Verzweiflung folgt, nicht ernst genug. Es ist anzunehmen, daß der Versuch, das Dilemma des Erkennenden am Ende der thematischen Entwicklung überraschend zu lösen, einer ästhetischen Absicht des Autors entspricht: „Das gute Kunstwerk der Erzählung", notiert Nietzsche (Ende 1876—Sommer 1877), „wird das Hauptmotiv so entfalten wie die Pflanze wächst, immer deutlicher sich vorbildend, bis endlidi als neu und doch geahnt die Blüthe sich erschließt. Die Kunst des Novellisten ist namentlich die, das Thema präludieren zu lassen, es symbolisch mehrermal vorwegzunehmen, die Stimmung vorzubereiten, in welcher man den Ausbruch des Gewitters anticipirt, benachbarte Töne der Hauptmelodie erklingen zu machen und so auf jede Weise die erfindende Fähigkeit des Lesers zu erregen, als ob er ein Rätsel rathen sollte; dieses aber dann so zu lösen, daß es den Leser doch noch überrascht. — Wie der Knabe spielt, so wird der Mann arbeiten, ein Schulereigniß kann alle handelnden Personen eines politisch großen Vorgangs schon deutlich erkennen lassen. — Vielleicht ist auch eine Philosophie so darzustellen, daß man die eigentliche Behauptung erst zuletzt stellt und zwar mit ungeheurem Nachdruck" (/V 2, 531 f.). Was für das einem Spiel verglichene Genre der Kunst gilt, mag also auch für die Form der Darstellung freigeistiger Entwicklung gelten. Audi besteht die Nötigung zu ästhetischer — sinnlich-künstlerischer — Gestaltung leidenschaftlicher Denkerfahrung bei einem Autor, der seine Schriften jederzeit mit seinem ganzen „Leib und Leben geschrieben" haben will und nur „blutige Wahrheiten" kennt (82, 335). Noch näher als die Analogie mit dem Verfahren des Novellisten liegt aber Nietzsche, dessen eigene Begeisterung, Hoffnung, Ambition anfänglich der Musik galt, gewiß die Vorstellung des Musizierens mit Gedanken, der auch das Ideal des Musik treibenden Sokrates in der GdT entspricht, jener Figur, in der sich Dionysos und Apollo mit dem Sokratismus der Erkenntnis vereinen sollten. Wir müssen hier noch einmal an jene Notizen aus dem für die Vorarbeit zu MA so interessanten Sommer 1875 erinnern, in dem Nietzsche sich mit einiger Mühe dazu

I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie

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bringt, die Apotheose von „Richard Wagner in Bayreuth" zu liefern und zugleich mit dem Musik-Dramatiker, der in seinem Ring die „Geschichte der Religion als Tragödie" gestaltete ( / V 1, 278) im Grunde konkurrieren will, um als Denker den Dichter-Musiker abzulösen. Der Dichter Wagner schuf im „Ring des Nibelungen . . . ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens"; denn der Mythus ist zwar ein Denken „aber nicht in Begriffen", da der Dichter „in Vorgängen" denkt. Ein Philosoph aber könnte etwas diesem dichterischen Mythus „ganz Entsprechendes zur Seite stellen, das ganz ohne Bild und Handlung wäre" (IV 1, 279) — und also, statt wie Wagner, der tragische Dichter der „Götterdämmerung" am Schluß aller Religion (IV 1, 280), wohl der Denker am Schluß der Religion sein. (Und dies noch und gerade in Umkehr Wagners, als Anti-Wagner, als Denker des „Gott ist tot" und der „Götzen-Dämmerung"). Wagner, so heißt es schon in der Epoche der Jüngerschaft, — gemäß jenem Privat-Mythus, der Nietzsches Denken noch im Ausbruch des Wahnsinns als erotisch-ehrgeizige Phantasie von TheseusWagner, Ariadne-Cosima und Nietzsche-Dionysus beherrscht, — „vermacht sein Reich an den Stärksten" (IV 1, 318) und dieser Stärkste, der in einem Liebeskampf auch als Siegfried den Wotan erlöst und besiegt, will Nietzsche schon sein, selbst als er Wagner noch verehrt. Diese aus dem Frühwerk nur zu erschließende Phantasie von Nietzsche-Siegfried, bzw. Nietzsche-Dionysus 10 , sdieint zunächst der Gesinnung des „Friedrich Freigesinnt" zu widersprechen, der, 1877, in einer Richard und Cosima Wagner zugedachten Widmung in deutschen Versen sein neues Buch — ΜΑ I — dem Segen des „Meisters" und der Gunst der „Meisterin" empfiehlt (IV 2, 490 f.). Wie sonderbar mutet es aber audi an, wenn schon vorher, im Sommer 1875, Nietzsche der Freigeist und Nietzsche der Wagnerianer neben- und nacheinander zu Wort kommen. Und doch ist der Widerspruch scheinbarer als man denkt. In den Notizen zum WagnerEssay selbst heißt es einerseits: der Künstler Wagner erinnere „an die Unmöglichkeit eines Lebens im Wissen" (/V 1, 317); anderseits aber: die Kunst sei nur „Ruhepause im Kampf", das „Glück" dieser höchsten „Weltbeglückerin" sei nur „wie ein Schatten". Zwar die Kunst sei selbst eine „höhere Stufe der Religion ohne deren gemeine Grundmotive, Betteln bei den Göttern und Abkaufen von etwas, ohne die niedrige Sucht nach Gewinn". Aber wenn sie auch „am Aussterben der Religionen" erscheint, so konserviert sie das Religiöse doch auch. „Ein Zustand der Menschen, welcher die Kunst und Religion entbehren könnte ist vielleicht keine Unmöglichkeit", obschon wir „ihn uns noch nicht einmal imaginiren" können (IV1, 282). Wenn aber Nietzsche als Ursachen unserer — hier emphatisch betonten — gegenwärtigen Kunstbedürftigkeit die Unsicherheit des Wissens, die Ungleichheit des Könnens, die Tatsache, daß noch zu viel Leiden in der Welt sei und der Gang der Dinge noch durch Macht, Gewalt und Ungerechtigkeit bestimmt werde, anführt, um endlich zu behaupten: „man 10

Vgl. audi Dialectics and Nihilism, op. cit., 116 f.; Erich Podadi, Friedrich Nietzsche und Lou Salome (Züridi-Leipzig: Niehans, [1938]), 96 f.

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Studie zum 34. Aphorismus

kann [noch] nicht einmal weise sein, so lange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer nach Weisheit gerungen hat" ( / V 1, 282 f.), so eröffnet sich denn doch ein Ausblick auf einen solchen möglichen, von Religion und Kunst befreiten, reineren Zustand — und dies mitten in der Apotheose von Bayreuth, so daß einem die Zweischneidigkeit dieser Apologie der Kunst deutlich wird. Mit der hier angedeuteten Antizipation einer Epoche, in der Wissen und Weisheit als dominante Werte zu gelten hätten und der Weise als der Nachfolger des Künstlers auftritt, sind wir aber wieder bei unserem Thema, ohne den Zusammenhang mit den ästhetischen Erwägungen, die den Ausgangspunkt dieser Betrachtung bildeten, verloren zu haben. Denn in M A wird eine Form der Kultur angestrebt, die sich über Religion und Kunst erhebt, in der die Erkenntnis den Glauben abgelöst hat und der befreite Geist Tröstung nicht eigentlich in der Kunst, sondern im Leben der Weisheit, der losgelösten freien Betrachtung aller menschlichen Dinge findet, wobei aber auch diese Weisheit die Mittel der Kunst sich aneignet und sublimiert. In Form und Inhalt stellt der Abschluß des 34. Aphorismus den Versuch einer solchen Transposition und Sublimierung künstlerischer Wirkungen und Gehalte im Medium der auf Erkenntnis basierenden, diskursiven Weisheit dar. Als ästhetisches Vorbild, scheint mir, wäre hier aber nicht eigentlich Wagner anzuführen, — dessen Musik ja nun für Nietzsche auch schon im Verdacht der Dekadenz steht 11 , — sondern Beethoven. Dessen Symphonien schreibt Nietzsche nämlich (übrigens in enger Anlehnung an Auffassungen Wagners) — die Wirkung der Erlösung zu: der Erlösung durch Befreiung von aller Schuld, durch Wiedergewinn der Unschuld und des unverstellten, innigen, freien Sinnes für die Menschheit und für die von Konvention befreite Natur 1 2 . All dem entspricht aber durchaus der Weg zur exemplarischen Schlichtheit des endlich befreiten, mit sich und anderen wie in der Natur lebenden Freigeists; und zwar auch deshalb, weil hier, — wie bei Beethoven, — die Bewegung der Befreiung aus dem Pathos des Leidens und der Leidenschaft gestaltet wird. Vor allem aber ist die Bewegung, mit der der 34. Aphorismus schließt, analog dem Ende der I X . Symphonie. Wie dort der, schon in der GdT verherrlichte, später von Nietzsche gegen die (pessimistischen?) Wagnerianer ausgespielte Hymnus an die Freude (70, 52; 82, 147) sich unvermittelt jäh über düsterstes, tragisch zerquältes Pathos erhebt, so soll auch hier, — wenn auch vergleichsweise bescheiden, noch gemäßigt, ja, um es absurd zu sagen: con sordino — der Durchbruch zur Lust, zur 11

12

Wie anderwärts erwähnt (s. oben, Seite X X I ) , ist in Μ Α I von Wagner nicht ausdrücklich die Rede, obschon Manches gegen ihn gerichtet ist (e. g. ΜΑ I, 149 f.) und Vieles ihn verärgern und verletzen mußte. Sehr deutlich wird ein mit Vorbehalt negatives Urteil in den Notizen aus dem Frühjahr 1878 ausgesprochen, die ihrerseits zum Teil Nietzsches frühere Kritik an Wagner wiederaufnehmen (vgl. etwa die Aufzeichnungen aus dem Januar 1874 (82, 9 7 — 1 1 6 ) ) . Dieses Urteil kommt ab ΜΑ I I öffentlich zur Sprache (vgl. ΜΑ II 6 6 ; auch 6 7 (Aph. 139), 68 ff. (Barockstil), 73 (Aph. 154), 76 (Aph. 166), 82). Vgl. IV 1, 347 f., 339, 3 3 8 ; besonders mit Bezug auf die Pastorale.

I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie

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Bejahung gestaltet werden, der später, nicht nur im ,Trunknen Lied', sondern, unter Aufbietung aller Mittel von Nietzsches stilistischen und intellektuellen Registern, in dem Aufschwung zum bejahenden Übermenschen aufgrund tiefster Leidenserfahrung als Erlösung und wiedergewonnene Unschuld des Werdens gefeiert wird. Man wird vielleicht einwenden, hier werde einem Genre der Schriftstellerei, das einem Notstand unzulänglicher künstlerischer Produktivität und unzulänglidier Befähigung zu einem strengen theoretischen Denken seine hybride Existenz verdanke, zu viel Ehre erwiesen. Aber diese Abwertung der Essayistik und Aphoristik, samt ihren .französischen' Meistern, soll uns, da sie nur einer schlechten Tradition der Germanistik entspricht, nicht weiter bekümmern. Hingegen wäre mit Recht daran zu erinnern, daß der bisher nur ästhetisch gedeutete und gerechtfertigte Durchbrach und Aufschwung im 34. Aphorismus sidi, gemäß der Transposition in das diskursive Medium, nicht allein als ästhetisch überzeugend zu erweisen hätte. Seine Legitimierung und Begründung aber ist, nach Nietzsches Auffassung, prinzipiell gegeben durch das höchste Vorrecht und die höchste Pflicht des Philosophen als des Absdiätzers und Gesetzgebers, der die zwei feindseligen Triebe, — das Streben nach Erkenntnis und die Nötigung, dem Leben Sinn zu verleihen, — unter ein Joch zwingt; und zwar so daß die Eindämmung des Erkenntnistriebes durdi jene höchste Lebenskunst der Weisheit sich als geglückter Ausdruck der intensivsten Spannung zwischen den beiden einander widerstrebenden Mächten erweist.

3. Weisheit

und

Wissenschaß

Hier ist nun näher einzugehen auf die, schon im Zusammenhang mit Apho 6 und 7 erwähnten Notizen über „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe" (1875; IV 1, 173 ff.), die sidi auf die Geschidite der griediisdien Philosophie, insbesondere auf die Präsokratiker im Gegensatz zum Sokratismus beziehen. Wissenschaft, meint Nietzsche hier, entsteht („NB., bevor sie Gewohnheit und Instinkt ist") 1. wenn das Vertrauen in die Güte der Götter erschüttert ist und der Mensch seinen Vorteil darin sieht, „irgend etwas als fest zu erkennen"; 2. aus dem Egoismus, der den Einzelnen „bei gewissen Beschäftigungen ζ. B. Schiffahrt" dazu antreibt, seinen Nutzen durch Wissenschaft zu fördern; 3. aus der Neugier vornehmer Leute, die Muße haben; 4. aus dem Bedürfnis des einzelnen, „im wilden Hin und H e r der Meinungen des Volkes" „ein festeres Fundament" zu gewinnen; ist also „vom Triebe, überhaupt etwas zu lernen und anzunehmen" „nur durch den geringeren Grad des Egoismus oder die weitere Spannung desselben" unterschieden und wird charakterisiert sowohl durch „ein Sich-verlieren in die Dinge", wie durch „eine über das Individuum ausgedehnte Selbstsucht" (IV 1, 173 f.).

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Studie zum 34. Aphorismus

Weisheit hingegen „zeigt sich 1. im unlogischen Verallgemeinern und zum letzten Ziele Fliegen. 2. in der Beziehung dieser Resultate auf das Leben. 3. in der unbedingten Wichtigkeit, welche man seiner Seele beilegt. Eins ist Noth [i. e. das Heil, die Rettung, oder Tröstung der eignen Seele]" (/V 1, 174). An den älteren griechischen Philosophen des „tragischen Zeitalters" (/V 1, 181) erkennt Nietzsche nun den Konflikt zwischen Wissenschaft und Weisheit, da sie, — vergleichbar dem späten, aus der Tradition einer Religion oder einer metaphysischen Deutung emanzipierten Freigeist, — sich der einzigen Lichtquelle des griechischen Lebens, des Mythus 13 , berauben, und jeder einzelne als „Individuum.. auf sich selbst stehen will", nun „letzte Erkenntnisse, Philosophie" benötigen. („Die andern Menschen brauchen langsam anwachsende Wissenschaft" (IV 1, 175)). Wir erinnern uns: „In Thaies siegt zum ersten Male der wissenschaftliche Mensch über den mythischen und wieder der weise Mensch über den wissenschaftlichen" (70, 359). Entscheidend für Nietzsches Hoffnung ist nun aber, daß er in der Folge der Präsokratiker von Thaies bis zu Empedokles und Demokrit einen Fortschritt in der für die Philosophen konstitutiven Spannung statuiert. Was erkannten Empedokles und Demokrit, die letzten dieser präsokratisdien Reihe? „Empedocles — blinde Liebe und blinder H a ß ; das tief Unvernünftige im Vernünftigsten der Welt. — Democrit — die Welt ist ganz ohne Vernunft und Trieb, zusammengeschüttelt. Alle Götter und Mythen unnütz" (IV 1,182). Mithin waren die „Griechen mit Empedocles und Democrit auf dem besten Weg die menschliche Existenz, ihre Unvernunft, ihr Leiden richtig zu taxiren"; aber „dazu sind sie nie gelangt." Und zwar: dank Sokrates und den Sokratikern! Denn „der unbefangene Blick auf die Menschen fehlt allen Sokratikern, die greulidie Abstracta ,das Gute, das Gerechte' im Kopf haben" (IV 1, 183) und dazu „die garstige Pretension auf Glück" (IV 1, 178). Und „daraus entsteht Schaden für die Wissenschaft [und] für das ethische Leben" (IV 1, 174). So ergibt sich als „Socrates' Wirkung": „1.) er zerstörte die Unbefangenheit des ethischen Unheils" (IV 1, 184) [indem er an Stelle der Instinkte und der Tradition das bewußte und logisch korrekte Handeln forderte]. „2.) [er] vernichtete die Wissenschaft" (IV 1, 184) (e. g. dadurdi daß nun die eigene Seele und die Suche nach dem Glück zum Hauptobjekt des Interesses wird). „3.) [er] hatte keinen Sinn für Kunst" (IV 1, 184) (eine Konsequenz der Tyrannisierung des Menschen durch die meliorisierende Vernünftigkeit). „4.) [Er] riß das Individuum heraus aus dem historischen Verbände" (IV 1, 13

„Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster" (/V 1, 175; ΜA I, 211).

I. Die Uberwindung der Erkenntnis-Tragödie

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184) (da das sokratisdie Ich in dem alleinigen Glauben an die Logik nicht bloß die Bindung an den Mythus sondern „alle Tradition" (7V 1, 180) abweist und völlig auf sich selbst und die Angst um sich selbst isoliert wird). „5.) [er beförderte] dialectische Rederei und Geschwätzigkeit" (IV 1, 184), (die sidi vielleicht aus der Gegenstandslosigkeit dieses Denkens ergibt, das sidi immer nur in Abstrakta und im logisdien Leerlauf defensiver Vernünftigkeit um die Glücksuche des rationalisierten, von den Instinkten und den Abenteuern der Erkenntnis abgeschnittener Ichs bewegen kann, indes die älteren Philosophen „immer ikarisdi" (IV 1, 195) dachten). Was war hier geschehen? Nietzsches Aufzeichnungen sind nicht eindeutig; aber aus der Aufstellung der Reihe von Thaies bis Demokrit (IV 1, 182 (6 [12]); 194 f. (6 [50])) geht hervor, daß der Kampf der griechischen Philosophen gegen den Mythus einen Kreis von Möglichkeiten erschöpft, und während in diesem „curiosen Irrgarien-Gang der Vernunft" (IV 1, 176) jeder sidi, — wenngleich audi „alles . . . falsch [ist]", — noch an etwas festhält, wie eben „der Mensch sidi an einen Balken klammert" (IV 1, 175), so ist es, als bliebe nadi der zerstörerischen Erkenntniswirkung der Präsokratiker dem Sokrates nur das Selbst als Halt übrig: „Socrates: da bleibt mir nichts als ich mir selbst; Angst um sich selbst wird die Seele der Philosophie" (/V 1, 182) und aus den echten Philosophen werden die bloßen „Lebensvirtuosen" (IV 1, 195). Die Entwicklung, die Nietzsche skizziert, ist komplexer als das hier Wiedergegebene. Wichtig ist, daß Sokrates eine Lösung für den Konflikt zwischen Wissenschaft und Weisheit fand, die Nietzsche zugleich nahesteht und widerstrebt, weshalb er bekennt, mit Sokrates immer wieder kämpfen zu müssen. „Socratismus ist einmal Weisheit im Ernstnehmen der Seele. zweitens Wissenschaft als Furcht und H a ß vor der unlogischen Verallgemeinerung. drittens etwas eigentümliches durch die Forderung des bewußten und logisch correcten Handelns." (IV 1, 174). Worum geht es aber hier im Zusammenhang unseres Themas? Es geht darum, daß die Griechen „ihren Philosophen und Reformator nicht gefunden" haben (7V 1, 181) und also um die Frage, was aus „Plato's Versuch, alles zu Ende zu denken und der Erlöser zu sein" (IV 1, 182) „ohne Socrates", der ihn ablenkte (IV 1, 181), geworden wäre. Es geht um eine Weise des Denkens, die sidi ohne „fanatische Abkehr" auf der Basis dessen, was den Griechen vor Sokrates als Einsicht und Erfahrung gegeben war, — „Tragödie — tiefe Auffassung der Liebe — reine Natur", — weiterentwickelt hätte. „Offenbar waren die Griechen im Begriff einen noch

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Studie zum 34. Aphorismus

höheren Typus des Menschen zu finden, als die früheren waren; da schnitt die Scheere dazwischen. Es bleibt beim tragischen Zeitalter der Griechen" ( / V 1, 181). Es geht darum, daß Nietzsche die philosophische und geistige Entwicklung durch und seit Sokrates umkehren will; daß er als der neue Plato ohne Sokrates das wahre Erbe der Präsokratiker, der besten Griechen, realisieren will. Was Nietzsche bewegt, ist die Aufgabe des damals nicht zustandegekommenen höchsten Typus des Denkers: das Vermögen dazu die freie, illusionslose — im späteren Sinne: nihilistische — Erkenntnis zu der, — nach Nietzsches Ansicht, — Empedokles und Demokrit schon auf dem Wege waren, mit einer, die Gestaltung des Lebens reformierenden Weisheit zu verbinden (wie sie ehedem etwa dem „Reformator" Empedokles vorschwebte und mißlang ( / V 1, 181)). Anders gesagt: Nietzsche will einen höchsten Typus und eine Lebensform konzipieren, die den „Contrast tief leidender Betrachtung, ihrer Erfordernisse zur Tröstung und der wissenschaftlichen Cultur" (IV 2, 471) zugleich bestehen läßt und in sich aufhebt. Und auf der Bahn dieser Ambition bewegt sich auch unser 34. Aphorismus, so wenig man zunächst geneigt sein mag, diese Ambition in der epikuräisch getönten Resignation des freien Sdiwebens über allen Schätzungen wiederzuerkennen. Dennoch ergibt sich der Zusammenhang sdion aus ebenjenen Aufzeichnungen aus dem Sommer 1875: „Der größte Verlust, der die Menschheit treffen kann", heißt es da zum Beispiel, „ist ein NichtZustandekommen der höchsten Lebenstypen. So etwas ist damals [i. e. zur Zeit des Socrates] geschehen. Eine scharfe Parallele zwischen diesem Ideal [des höchsten Lebenstypus] mit dem christlichen. Zu benutzen die Bemerkung Schopenhauers: „vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe; sie sehn ein, daß in der Welt wohl Belehrung aber nicht Glück zu finden sei und sagen endlich mit Petrarca ,altro diletto, che 'mparar non provo'. Es kann damit sogar dahin kommen, daß sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaßen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehen, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloß Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich giebt". — Parerga I 439. Damit vergleiche man die Socratiker und die Jagd nach Glück!" (/V 1, 186). Man mag sich etwas anderes von Nietzsche erwartet haben als diesen Sprung von den Griechen zu Schopenhauer. Der hier beschriebene Idealtypus ähnelt aber wiederum sehr dem des 34. Aphorismus, dem Menschen, „von dem in solchem Maße die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, daß er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen", der „auf vieles, ja fast auf alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne Neid und Verdruß" verzichtet, dem „als der wünschenswerteste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen" muß, da die Freude an diesem Zustand alles ist, was er sich und andern bieten kann (48).

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I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie

4. Entwicklung des Freigeists aus dem christlichen

Asketen

Bei alldem macht man es sich aber mit der Entwicklung des freigeistigen Ideals vielleicht immer noch zu leicht, da sich dieses offenbar, — wie die erwähnte „scharfe Parallele . . mit dem christlichen" Ideal nahelegt, — über eine dem Christentum angenäherte Stufe, jedenfalls aber in Auseinandersetzung mit diesem entwickelt, und auch in der Form, in der es im 34. Aphorismus erscheint, gemäß dem Umkehr-Prinzip, als Fortsetzung, Uberwindung, Gegensatz und Sublimierung einer als christlich bezeichneten Vorstellung von Heiligkeit und Askese gedacht ist, zu der überdies, — gemäß Apho 26, — auch noch die regressive Lehre Schopenhauers beigetragen hat. Wir erinnern daran, daß es in der Folge vom 33. zum 34. Aphorismus, sowie in dem, in zwei Hälften aufgespaltenen 34. Aphorismus selbst um das Problem geht, wie sich die aufgrund strenger Wissenschaft und Erkenntnis gewonnene Einsicht in die Irrtümlichkeit, Wert-, Ziel- und Sinnlosigkeit der menschlichen Vorstellungswelt und Existenz mit dem Wunsch und Bedürfnis nach Herzenstrost, harmonischer Lebensform, weiser Sinngebung und Gestaltung des Daseins vereinen lasse. Nun ist, Nietzsche zufolge, jedes Rezept das Leben zu ertragen", — und Weisheitslehren bieten nichts anderes als solche Rezepte, — schon an sich bestimmt durch die Rücksicht auf den Lebenszweck, mithin durch die Bereitschaft jeden einzelnen Trieb, auch den nach Erkenntnis, im Sinne des dominanten höheren Egoismus (e. g. Rücksicht auf Heil der Seele, Wohlergehen des Selbst und der Menschen, etc.) einzudämmen. Jedoch macht es einen Unterschied, wie die Motive Lust—Unlust, Nutzen—Schaden sich mit dem Sinn für Wahrheit auseinandersetzen (47), e. g., ob eine Lehre der Lebensweisheit diesen Trieb maximal oder minimal zu berücksichtigen gesonnen ist. Nietzsche aber fordert in ΜA I, dessen maximale Berücksichtigung, weshalb er sein Problem darin sieht eine Lehre zu konzipieren, nach der sich zwar leben aber um der Erkenntnis willen leben läßt, die mithin ein Leben ohne Verleugnung des Intellekts gestattet. Inwiefern liefert aber das christliche Ideal einen Beitrag zu diesem Ziel? Inwiefern kann es gar als „scharfe Parallele" jenes ersehnten, von den Griechen, infolge der sokratischen Intervention, nicht erreichten höchsten Typus des Philosophen gelten? Und inwiefern widerspricht es diesem Typus? In einem Entwurf „Uber Religion" aus der Zeit Frühling—Sommer 1875, in dem, gemäß Nietzsches Widerwillen gegen das Christentum, u. a. die Vieldeutigkeit der vom Christentum anempfohlenen Liebe als christlicher „Kunstgriff" 15 bezeichnet wird, aber auch „die christliche Liebe, auf Grund der Verachtung", sowie die „Thätigkeit des Christen im Gegensatz zu der buddhistischen Ruhe", ferner anscheinend auch die christliche 14 15

Vgl. IV 2, 384, 417. Vgl. Μ A II, 46.

446

Studie zum 34. Aphorismus

Überwindung der jüdischen „Religion der Rache und Gerechtigkeit" Anerkennung findet (sind doch „die Juden das schlechteste Volk"), des weiteren aber „eingeschmuggelte Begriffe" wie „stellvertretender Tod", das Heuchlerwesen des Priesterstaats und schließlich „das historische Christentum" als „die größte Versündigung am Verstand der Menschheit" verdächtigt und angegriffen werden (IV 1, 163 f.), steht am Ende folgendes Bekenntnis: „Entweder unter Illusionen allein leben: oder in der schwierigen Weise, ohne Hoffnung, ohne Täuschung, ohne Vorsehungen, ohne Erlösungen und Unsterblichkeiten: aber mit einem Blick erbarmungsvoller Liebe gegen sich selbst. Scheidung zweier Weltbetrachtungen, die des Alltags und die der seltensten Augenblicke des Gefühls und des Denkens. (Verachtung und Liebe, Einsicht und Gefühl gleich mächtig.) Diese Fassung der Religion fordert die Wissenschaft (als Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwäche und Ziellosigkeit der Menschen). Sie nimmt immer zu, je höher die Erkenntniß der Welt steigt. — Der Kampf mit der Notwendigkeit — das eine Princip des Lebens. Die Einsicht in das Täuschende aller Ziele und Erbarmen mit sich selbst — das andre" (/V 1,164). Von den drei Einstellungen, die hier auf zwei Protagonisten verteilt werden, kommt die erste („unter Illusionen allein leben") als gegenwärtige eigene Möglichkeit für Nietzsche kaum noch in Betracht. Sie entspricht aber, seiner Auffassung gemäß, einer höchsten historischen Form des Christentums, — dem asketischen Heiligen und Eremiten, — der später dem Zarathustra als jener fromme Einsiedler begegnet, der noch nidit weiß, daß Gott tot ist (i. e. den alten, vernunftwidrigen Illusionen die Treue bewahrt hat). Die zwei anderen Weisen haben als Fortsetzung der auch für die griechischen Philosophen statuierte Entwicklung aktiver Wissenschaft, illusionsloser Erkenntnis und entsagender Lebensgestaltung aufgrund der hödisten Liebe zu sich selbst und den Menschen zu gelten, und werden als gegenwärtige Ziele anerkannt. Die Weltbetrachtung des Alltags fordert von den Menschen des wissenschaftlichen Zeitalters „Kampf mit der Nothwendigkeit", also ein aktives Lebensprinzip, wie es sich etwa in den Aufklärungsaphorismen des 1. Hauptstücks darstellt, ist aber nicht als spezifisch christlich zu bezeichnen, wenn auch die vom Christentum, — nach Nietzsche, im Gegensatz zum Buddhismus, — geforderte tätige Menschenliebe diesem Alltagsaktivismus entgegenkommt. Als der positive Kern des entmythologisierten Christentums aber gilt Nietzsche (— versteht sich: zu jener Zeit —) die aufgrund völliger Selbst- und Menschenverachtung und radikaler Erkenntnis des Illusorischen aller Menschenziele wiedergewonnene Selbst- und Menschenliebe, mithin eine Haltung, die sich mit dem Ergebnis reiner Erkenntnis der Welt verträgt, ja von dieser fast gefordert wird. Auf weitere Texte, die diese scheinbar willkürliche Interpretation zu bestätigen geeignet sind, wird im Folgenden einzugehen sein. Zuvor aber ist auf einen Konflikt, der die Vereinbarkeit dieses christlichen Ideals mit dem Erkenntniswillen wiederum

I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie

447

in Frage stellt, hinzuweisen. In den eben angeführten Aufzeichnungen FrühlingSommer 1875 stellt Nietzsche unter dem Titel „Ziele" die These auf: „Der Werth des Lebens kann nur durch den höchsten Intellekt und das wärmste Herz gemessen werden" (IV 1, 169). Jedoch werden die höchsten Intelligenzen durchaus nicht durch das hervorgebracht, was dem Menschenherzen zunächst als „mensdhlidoe Wohlfahrt im Groben" gilt, e. g. durch „Wohlleben" oder durch den idealen Staat, „den die Socialisten träumen", welcher vielmehr „das Fundament der großen Intelligenzen", nämlich „die starke Energie" zerstört (IV 1, 169). Und ferner gilt, — was hier nicht ausgesprochen wird, — daß selbst die höchsten Ziele der wärmsten Herzen, nämlich die allverbreitete, allgemeine Menschenliebe (von der es später heißen wird, sie sei in praxi die Bevorzugung aller Leidenden, Schlechtweggekommenen und Degenerierten (78, 175)) durchaus nicht jene Zustände fördern würde, aus denen die höchsten Intelligenzen und die wärmsten Herzen selbst hervorgehen. Denn auch das wärmste Herz bedarf als Befähigung zu einer über den eigenen Nutzen und Schaden hinaus strebenden Emotion des „Mitgefühls" für das „Leben und Leiden der Menschheit" (45), das sich nur aufgrund einfühlender Phantasie (46) entwickelt, deren Intensität ihrerseits wiederum auf intensiv-bewußter Erfahrung der leidenschaftlichen und gemarterten Menschheit beruht, also eines Zustandes, den die mitleidige Menschenliebe abschaffen will, obgleich sie selbst diesem Zustand ihre Existenz verdankt. „Wir müssen wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte, daß wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden. Das Urtheil über den Werth des Daseins ist das höchste Resultat der kräftigsten Spannung im Chaos. Nun will das wärmste Herz Beseitigung jenes gewaltsamen wilden Charakters; während es doch selbst aus ihm hervorgieng! Es will Beseitigung seines Fundaments! Das heißt, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in Einer Person zusammen sein. Die höchste Intelligenz ist höher als alle Güte, auch diese ist nur etwas bei der Gesammtrechnung des Lebens Abzuschätzendes, der Weise steht darüber. Der Weise muß den Gedanken der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an der Wiedererzeugung seines Typus liegt. Mindestens kann er nicht den idealen Staat fördern. — Christus förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des großen Intellekts auf. Consequent! Sein Gegenbild würde vielleicht der Erzeugung von Christus' hinderlich sein. — Fatum tristissimum generis humani!" (IV 1, 169 f.). Nietzsche denkt dabei noch nicht im Sinne des Ideals der ,harten' Liebe, die sein Zarathustra später verkünden wird, sondern stellt, — indem er sich mit Faust, der die Offenbarung des Erdgeists nicht erträgt, identifiziert, — die Vorstellung, daß die grausamen Erfordernisse zur Erzeugung des höchsten Typus und die Forderungen der Liebe einander widersprechen, als qualvollste Erkenntnis dar 1 '. Entschei18

Vgl. IV 1,171, oben Seite 45.

448

Studie zum 34. Aphorismus

dend für das Wunschbild des höchsten Typus ist, daß für diesen, — um die Sache radikal zu formulieren, — nicht das Opfer des Intellekts, sondern das Opfer der Güte, ja der .christlichen' Liebe (wie Nietzsche sie versteht), oder allermindest deren Subordinierung, als erforderlich gilt, mithin eine entscheidende Abweichung vom ,christlichen Ideal' stattfindet. Jedoch scheint sich diese Entwicklung zu dem Denkbild des Weisen im 34. Aphorismus von ΜΑ I, wie wir sie hier aufgrund der chronologisch geordneten Notizen verfolgen, nicht geradlinig zu vollziehen. Wie kommt es zu der überraschenden positiven Wendung im Finale des 34. Aphorismus? — Was der — der Schluß-Betrachtung zu Dühring zugehörigen — Vorstufe des 33. Aphorismus, weldie mit dem Bekenntnis der Verzweiflung angesidits der Vergeudung des Einzelnen wie der Menschheit schließt, ursprünglich folgt, ist nämlich nur Variation über das oben angeführte pseudochristliche Credo17. Und erst dann folgt eine Überlegung, aus der sich vielleicht die positive Wendung im 34. Aphorismus entwickeln ließe: „Das Wehe in der Welt hat die Menschen veranlaßt, sich auf geistreiche Weise daraus noch eine Art Glück zu saugen. Die Lebensbetrachtung dessen, der vom Dasein Erkenntniß allein will, dessen der sich ergiebt und resignirt, dessen der ruht und dessen der ankämpft — überall ist auch ein wenig Glück mit aufgesproßt" (IV 1, 255). Aber wenn man auch behaupten könnte, die frohere Botschaft am Ende des 1. Hauptstücks bringe nicht mehr als die lyrisdi gesteigerte Kunde von dem am Rande des Leidens zu erntenden, spärlichen Glück der vita contemplativa, so scheint die Schluß-Betrachtung zu Dühring doch auf mehr abzuzielen. Denn von den marginalen Entschädigungen heißt es hier ausdrücklich: „Es wäre aber schrecklich zu sagen, daß mit diesem [marginalen] Glück das Leiden selbst compensirt würde. Überhaupt sollte schon gar keine Compensation möglich sein! Oder vielmehr: was heißt es hier compensiren? Man kann das Leiden nicht ungeschehen machen, dadurch daß später ein Glück folgt. Lust und Unlust können sich gar nicht aufheben«· (/V 1, 255 f.). Damit wird ein Kalkül im Sinne von Optimismus-Pessimismus abgelehnt. Als Weisheit gilt jedoch, wie gesagt, wiederum die entmythologisierte Lehre und Haltung Christi, die nun in einer, gegenüber der früheren Fassung erweiterten Auslegung dargestellt wird: „Nun will ich zuletzt mein Evangelium aufstellen. Das lautet so. Wen man verehrt, den liebt man nicht, das ist bekannt. Und der würde am reinsten lieben, der das geliebte Ding gar nicht verehren, sondern verachten müßte. Verachtung ist Sache des Kopfes. Der, welcher sich selbst ganz rein lieben könnte, — also in völlig gereinigter Selbstliebe — wäre der, welcher zugleich sich selbst verachtete. Liebe dich selber und niemanden außer dir — weil du dich allein kennen kannst; und liebe die andern, wenn du es vermagst, d. h. wenn du im Stande bist, sie völlig zu erkennen und zu verachten, wie dich selbst. 17

Siehe Seite 446.

I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie

449

Dies ist die Stellung von Christus zur Welt. Es ist die Selbstliebe aus Erbarmen, der Kern des Christenthums, ohne alle Schale und Mythologie" (IV 1, 256). Aber wir wissen ja schon, daß auch diese Gedanken, trotz des gegenteiligen Anscheins, dem Problemkreis Wissenschaft: Weisheit, Erkennen: Leben, höchster Intellekt: wärmstes Herz zugehören18. Die völlige Selbstverachtung ist Resultat reiner Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit (Ziel-, Wert-, Sinn-losigkeit); die reine Selbstliebe, die sich zur Identifikation mit den Menschen überhaupt erweitert, ist reiner Affekt des Herzens. Hier scheint das Problem, wie reine Erkenntnis und wärmstes Herz zu vereinen sei, gelöst zu sein, da das Herz an keinen Illusionen des unreinen Denkens mehr hängt, kein Wohlwollen, keine Utopie nötig hat, sondern mit der, der Erkenntnis gemäßen Verachtung, d. h. Illusionslosigkeit bezüglich aller menschlichen Bestrebungen, im Einvernehmen ist. Nietzsche fragt nun, wie aber eine solche Selbstliebe trotz Selbsterkenntnis möglich sei: „Selbsterkenntnis entspringt aus Gerechtigkeit gegen sich; und Gerechtigkeit ist im Grunde Rachegefühl. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt, in Sündhaftigkeit — so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu spüren: seine eindringende Selbstbetrachtung und deren Resultat Selbstverachtung ist das Resultat. Bei manchen Menschen selbst Askese, das heißt Rache an sidi in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. (In viel Hast und Arbeit zeigt sich derselbe Hang —)." (IV 1, 256)1". Diese Auffassung setzt wohl voraus, daß der Erkenntnistrieb aus Aggression abzuleiten sei, jedenfalls aus dem Willen des Erkennen-Wollenden, sich des Objektes zu bemächtigen, es in seine Gewalt zu bringen, oder sich seiner zu erwehren, wohl auch es zu durchschauen, zu erledigen, ja zu vernichten. Es würde zu weit führen, 18

Die Bearbeitung vom September 1876 verdeutlicht dies: „Es ist bekannt, daß Liebe und Verehrung nicht leicht in bezug auf dieselbe Person mit einander empfunden werden können. Das Schwerste und Seltenste wäre aber dies, daß höchste Liebe und der niedrigste Grad der Achtung sidi beieinander fänden; also Verachtung als Urtheil des Kopfes und Liebe als Trieb des Herzens. Und trotzdem, dieser Zustand ist möglich und durch die Geschichte bewiesen. Der, welcher sich selbst mit der reinsten Art von Liebe lieben könnte, wäre der, welcher sich zugleich selbst verachtete, und welcher zu sidi spräche: verachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich allein kennen kannst. Dies ist vielleicht die Stellung des Stifters der christlichen Religion zur Welt. Selbstliebe aus Erbarmen mit sich und seiner völligen Verächtlichkeit ist Kern des Christenthums ohne alle Sdiaale und Mythologie" (IV 2, 419). " Zur Verdeutlichung sei auch die spätere Variante vom September 1876 wiedergegeben: „Das Gefühl dieser [i. e. der eigenen] Verächtlichkeit entspringt aus Selbsterkenntniß und diese wieder aus Rachebedürfniß. Hat Jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt durch Sündhaftigkeit aller Art, so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu fühlen. Eindringende Selbstbetrachtung und zuletzt Selbstverachtung sind die natürlichen Folgen, bei manchen Menschen selbst Askese, d. h. Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. Auch darin, daß der Mensch sich mehr Mühe und Hast zumuthet, zeigt sich derselbe Hang zur Rache an sidi" (/V 2, 419).

450

Studie zum 34. Aphorismus

dieses Thema bei dem späten Nietzsche zu verfolgen (e. g. in der Auffassung des Erkenntniswillens als positive Form des Willens zur Macht im Falle der starken Naturen, als Ressentiment im Falle der Schwachen). Daß diese Auffassung audi dem frühen Nietzsche entspricht, wird durch dessen These, die Menschheit habe an der Erkenntnis ein schönes Mittel zum Untergang, nahegelegt (82, 65; vgl. auch 82, 32 ff.). Ferner: Die gegen den Erkennenden selbst gerichtete Aggression der Erkenntnis, i. e. die Selbsterkenntnis, ist eine Möglichkeit, die ihrerseits auf der Voraussetzung beruht, daß der Mensch ein Dividuum ist, da er sich sonst nicht sich selbst gegenüberstellen könnte20, und läuft jedenfalls auf eine annähernde Selbstvernichtung (in Form von Selbstverachtung) hinaus. Diese bleibt vorerst auf die negative Abschätzung (Verachtung) der als Objekt der Erkenntnis abgespaltenen Sphäre des Selbst beschränkt, kann aber bei „manchen Menschen" zum Motiv einer tätigen, nicht bloß intellektuellen Form invertierter Grausamkeit oder Selbstvernichtung führen: zur ,Ertötung' des vitalen Selbst durch Askese, als deren zeitgemäßes säkularisiertes' Äquivalent auch die Kasteiung oder Abtötung des vitalen Selbst durch Hast und Arbeit gilt (wie derlei auch, in dem von Max Weber beschriebenen Typus des Leistungsethikers, oder in Thomas Manns Leistungsethiker-Figuren dargestellt wird: e. g. in seinem Friedrich von Preußen, oder Gustav Aschenbach, die als moderne Nachfahren der eigentlichen Asketen, e. g. des Savonarola in Manns Fiorenza, aufgefaßt werden). Charakteristisch für Nietzsche und für den hier entwickelten Gedankengang von Bedeutung ist, daß er den Hang zur Selbsterkenntnis aus dem Schuldgefühl ableitet. Dieses entsteht daraus, daß im Dividuum die eine Sphäre des Selbst (das Gewissen, Freuds Super-Ego) Forderungen aufstellt, gegen die eine andere Sphäre verstößt; der Mensch sich selbst also verletzt und sich an sich selbst für diese Verletzung rächen will. Jedoch bei gründlicher Hingabe an diesen Hang scheint das Bedürfnis nach Rache am eigenen Selbst durch Selbsterkenntnis endlich Befriedigung zu finden und seinem Opfer, wenn dieses sich nur völlig unterworfen hat, auch wieder Frieden zu geben. Diese Vorstellung der Selbsterlösung nach konsumierter „Käthe an sich" (IV 1, 256), also der Entlassung des Opfers, das gebüßt hat und büßt, — eine dem Ende des 34. Aphorismus vergleichbare Begnadigung und Befreiung nach der Vernichtung des scheinbar mit tragischer Schuld beladenen, in rettungslose Verfehlung verstrickten, oder, — wie im 1. Hauptstück, — zu unheilbarem Wahn (i. e. Irrtum) verdammten Menschen, — kurz: ein fast glücklicher Ausgang nach der ErkenntnisTragödie, liegt jedenfalls auch dem weiteren Verlauf der Schluß-Betrachtung zu Dühring zugrunde: „Daß bei alldem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Gnaden-Wunder. Es ist nicht die Liebe des gierigen blinden Egoismus. Gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte zu. Aber wir selbst sind es, die einer solchen Liebe fähig sind. Es ist Selbstbegnadigung. Die Rache wird abgethan. Damit 20

Vgl. den Abschluß der hier zitierten Betrachtung (IV 1, 257), unten Seite 452.

I. Die Uberwindung der Erkenntnis-Tragödie

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auch die Selbsterkenntniß. Wir handeln wieder und leben weiter 21 . Aber alle gewöhnlichen Motive, die uns sonst leiten, erscheinen verwandelt. Hier ist der Unterschied zwischen Buddhistischem und Christlichem. Der Christ handelt aus jener Selbstliebe; und vermag er dies nidit immer, dann hat er doch ,Selbst-Mitleid'". Alles Mtleid ist, wie Menschen sind, schwach [vgl. Apho 33]. — Aber Christus verachtete sich selbst und liebte sich selbst, und die Menschen ersah er als sich gleich" (IV 1, 256 f.).

Allerdings wird man hier mit Recht einwenden können, daß diese Darstellung der Selbst-Erlösung sowie des Bedürfnisses nadi Erlösung aufgrund des Bewußtseins der Sündhaftigkeit durchaus nicht der Mentalität des sich befreienden und endlich befreiten Protagonisten von ΜΑ I entspricht. Ist doch den areligiösen Voraussetzungen des Freigeists das Konzept der Sünde fremd, weshalb audi das oben angeführte Stück religiöser Pathologie und der, infolge überspannter moralischer Forderungen und religiöser Irrtümer notwendigen Selbsttherapie des „Heiligen" in der Polemik des 3. Hauptstücks („Das religiöse Leben") verarbeitet worden ist, vornehmlich in der Reihe, die mit dem 132. Aphorismus beginnt und insbesondere im 134. Aphorismus {ΜΑ 1,121 f.). Demnach müßte sich aber das „Evangelium" Nietzsches (IV 1, 256), wie es die Betrachtung zu Dühring im Sommer 1875 formuliert, bis zur Niederschrift von M A gründlich verändert haben. Anderseits ergibt sich aus Mandiem in den oben zitierten Passagen des Evangeliums von 1875, vor allem aus dem Abschluß, denn doch eine „scharfe Parallele" zu der Problematik des Freigeists und ihrer Lösung in ΜΑ I i „Der Christ handelt und hält das Handeln für unvermeidlich: dafür tröstet er sich im Hinblick auf den Weltuntergang. Er schätzt alles irdisdie Streben nicht sehr hoch, es ist für nichts. Wenn wir nun wissen, daß es mit der Menschheit einmal vorbei sein wird, so legt sich auch der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben. Dazu kann man hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie aufzeigen: ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Was thun alle Eltern ζ. B.? — sie erzeugen ohne Verantwortung und erziehen ohne Kenntniß des zu Erziehenden — sie thun jedenfalls Unrecht und vergreifen sich in einer fremden Sphäre — aber sie müssen es thun — das gehört zur Unseligkeit der Existenz. Und so wird der Mensch bei allem, was er thut, voller Ungenüge sein und Mitleid mit sich haben. 21

22

Vgl. die Variante vom Herbst 1876: „Daß bei alledem der Mensch sich nodi liebt, erscheint dann wie ein Wunder, und gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte bei, aber der Mensdi selbst ist es, der einer solchen Liebe fähig ist in einer Art von Selbstbegnadigung, denn er kann nidit aufhören, sich zu lieben, da seine Liebe nie Sache des Kopfes sein kann. In diesem Zustande wird die Liebe Herr über das Gefühl der Rache, der Mensdi vermag wieder zu handeln und weiter zu leben" (/V 2, 419). Vgl. IV 2, 393: „Herzliches Mitleid mit sich selbst ist die höchste Empfindung, zu der es der Mensch bringen kann".

452

Studie zum 34. Aphorismus

Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären, von denen die eine auf die andre hinzublicken vermag. — Ende." (/V 1, 257)23. Hier wäre nun der Frage nadizugehen, wie sich dieses Bild des Christen in Nietzsches spätere Auffassung fügt. Auch der späte Nietzsche unterscheidet bekanntlich das historische Christentum und die Mentalität des Stifter: — des einzigen Christen. Das Christentum der Christenheit gilt ihm als Gegenteil der Mentalität Christi, nämlich als Form der in Priester-Ressentiments verankerten Dekadenz. Zugleich bekämpft er aber auch den sublimen decadent Jesus, der, schon jenseits der moralischen Ressentiments, jenseits von Gut und Böse, jenseits aller — ihm nur als scheinbar geltenden — Gegensätze, ohne jeglichen Widerstand und alles Unterscheidende übersehend, eine Lebenpraxis der non-resistance, Allbejahung und Liebe ohne Schuld- und Sündenbegriff, in einer — allerdings aus Ressentiment gegen die Realität konzipierten und sublimierten — Welt der reinen Innerlichkeit verwirklichen will (vgl. 77, 221—238 passim). Damit ist aber auch nur ein Vordergrund von Thematik skizziert, zu dem als Umkehr u. a., — ähnlich wie in Nietzsches Beziehung zu Sokrates, — auch eine Selbstidentifikation mit Jesus gehört, wie sie auch durch die Jesus zugeschriebene Leugnung der Gegensätze (und zwar auch der moralischen) angedeutet wird. Und zu dieser Identifikation sind die Voraussetzungen, wie wir sahen, auch schon vor MA gegeben. Da aber dieses immense, von Jaspers in seinen auffälligsten Zügen skizzierte Thema24 hier nicht behandelt werden kann, empfiehlt es sich, nur das begrenzte Interesse an der Entwicklung zu ΜΑ I und dem 34. Aphorismus zu berücksichtigen. In Hinblick auf diese Entwicklung ist festzustellen, daß in den Aufzeichnungen Frühling-Sommer 1877, also nach der schon zitierten Bearbeitung aus dem September 1876, die Abspaltung und Abwertung der spezifisch christlichen Problematik, — des Themas religiös-moralischer Erlösung aus der Sündhaftigkeit — stattM

u

Vgl. dazu die Bearbeitung vom September 1876: „er hält freilich dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist fast zwecklos, aber er kann nicht anders als handeln; wie der Christ der ersten Zeit sich durch den Hinblick auf den Untergang der Welt tröstet und dann endlich seiner verächtlichen, zum Handeln treibenden Natur verlustig zu gehen hofft, so kann jetzt jeder Mensch wissen, daß es mit der Menschheit jedenfalls einmal vorbei sein wird und damit muß sich der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben legen; dazu wird er immer mehr hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie ans Licht bringen; ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Er wird zum Beispiel einsehen, daß alle Eltern ihr Kind ohne Verantwortung erzeugen und ohne Kenntniß des zu Erziehenden erziehen, sodaß sie nothwendig Unrecht thun und sich an einer fremden Sphäre vergreifen. Es gehört dieß eben zur Unseligkeit der Existenz, und so wird der Mensch zuletzt bei allem, was er thut, sich voller Ungenüge fühlen und das Höchste, was er erreichen kann, wird sein: Mitleid mit sich zu haben; die Liebe und das Mitleid mit sich selber sind für die höchsten Stufen der Erschwerung des Lebens "aufgespart, als die stärksten Erleichterungsmittel" (7V 2, 419 f.). Vgl. Karl Jaspers: Nietzsche und das Christentum (F. Seifert: Hameln [1938]).

I. Die Uberwindung der Erkenntnis-Tragödie

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findet, das dann auch, 1878, — siehe ΜΑ I Aph. 134 etc., — vom Freigeist nicht als etwas aufgefaßt wird, was ihn selbst angeht, sondern als historisch-archaisches Phänomen, zugehörig der Geschichte der religiös-moralischen Pathologie. Die Aufzeichnung von 1877 lautet: „Wie ist es möglich daß einer sich in allem verachtet (sich ,sündhaft' durch und durch weiß) und doch noch liebt? Die wissenschaftliche Erklärung ist eine ganz andere als der religiöse Mensch sich giebt. Jene Liebe mißt er Gott zu: wenn er in alle möglichen Erlebnisse die Zeichen einer gütigen barmherzigen Gesinnung hineinlegt, jede getröstete Stimmung als Wirkung von dem auffaßt, also alle besseren Empfindungen einem Wesen außer sich als dem wirkenden Urheber zuschreibt, so bekommt die Liebe, mit der er sich im Grunde selber liebt, den Anschein einer göttlichen Liebe. Diese ist unverdient, schließt der Mensch weiter, ist Gnade. — Voraussetzung ist, daß der Mensch sich freiwillig fühlt und schlecht: dies nur durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen. Er legt in den einen Theil seiner Handlungen den Begriff Sünde hinein, in den andern Theil den Begriff göttlicher Gnadenwirkungen. Falsche Psychologie, Phantastik in der Ausdeutung der Motive ist Wesen des Chris ten thums." {IV 2, 479). Mag damit auch nur das Wesen des historischen Christentums und nicht jenes Kerns ohne Schale und Mythologie (IV 1, 256) gemeint sein, die Selbsterlösung des Freigeists im 34. Aphorismus steht hier nicht in Rede. Und dennoch ist diese als Transposition der ,christlichen' Erlösung in die von der Dominanz des Erkenntnisproblems bestimmte Sphäre des Freigeists aufzufassen. Dies wird schon dadurch angedeutet, daß (wie auch aus dem 17. Aphorismus zu erschließen war) das Ziel, das der „berühmte Stifter des Christentums'' dadurch erreichte, daß er „sich für den eingebornen Sohn Gottes hielt", nämlich die Entlastung von Schuld, — „das Gefühl völliger Sündelosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit", — „jetzt durch die Wissenschaft jedermann sich erwerben kann" (ΜΑ I , 133), da die Wissenschaft die Irrtümlichkeit der moralischen Vorurteile (daher auch der moralischen „Selbstverachtung") aufdeckt und zu der philosophischen Überzeugung „von der unbedingten Notwendigkeit aller Handlungen" führt (ΜA 1 , 1 2 1 ) . Ferner meint Nietzsche in der Phase von ΜΑ selbstverständlich, daß „der wissenschaftliche Mensch" oder der Erkennende nicht bloß „Weiterentwicklung des künstlerischen" (ΜA I , 181) sondern ebenso des moralisdi-religiös-metaphysischen Menschen sei (vgl. ΜA I, 97 f.). Dies mag sich zum Teil schon aus der überleitenden Funktion der Kunst selbst ergeben (vgl. Apho

27),

die das Erbe religiös-metaphysischer Errungenschaften in sich aufnimmt und, da sie „durch Jahrtausende hindurch" gelehrt hat, mit „Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen", auch uns noch lehren kann, „Lust am Dasein zu haben nnd das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmäßiger Entwicklung anzusehen" (ΜA 1, 180) 2 5 . Am Ende könnte 85

Vgl. dazu wiederum Apho 34: „Man lebt zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur" usw. (47).

454

Studie zum 34. Aphorismus

man dann sogar „die Kunst aufgeben" und dennoch würde „die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern". Jedoch nimmt Nietzsche auch unabhängig von der Mittlerfunktion der Kunst ein Fortleben sublimiert religiöser Impulse an, da man zwar „die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüts-Steigerungen und Erhebungen" (ΜΑ I, 181). In der Tat: die These, daß religiöse, metaphysische, moralische, vom Christentum inokulierte Tendenzen in dem scheinbaren Gegensatz und Antipoden des Christen, — dem nach Erkenntnis und Weisheit strebenden Freigeist, — in sublimierter Form fortbestehen und weiterentwickelt werden, ist entscheidend für Nietzsches Konzept. Im 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft wird den „zum Wagnis des Erkennenden" bereiten „freien Geistern", die wissen, daß der „alte Gott tot" ist (74, 235 f.), von einem der Ihren die Frage gestellt, »inwiefern auch wir noch fromm sind" (74,236), und dahingehend beantwortet, daß der „Wille zur Wahrheit" (— „ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht" —) „auf dem Boden der Moral" steht, „daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, — daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube, der auch der Glaube Piatos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich i s t . . . Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Lüge, — wenn Gott selbst sich als unsere längste Lüge erweist?" (74, 238 f.). Man wird vielleicht einwenden, daß diese Stelle, ebenso wie die ausschweifendere Parallelstelle und Paraphrase in der Genealogie der Moral (76, 397—401), wo den „freien, sehr freien Geistern" vorgeworfen wird, sie seien „noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit..." (76, 398), zu einer späteren Phase von Nietzsches Werk gehöre. Aber selbst dieser Einwand ist, zumindest was die unveröffentlichten Aufzeichnungen angeht, von geringem Gewicht. Zwar ist Nietzsche in der Phase von MA noch nicht gewillt, den Glauben an Wahrheit als moralistisches Metaphysikum zu entwerten. Vielmehr will er in diesem Glauben eine „Compensation" für das von der Wissenschaft aufgedeckte „unlogische Fundament der Moral" und den dadurch „vielleicht" „auf die Dauer" etwas abgeschwächten Sinn für Moral sehen. Über die entscheidende These aber ist er sich auch jetzt schon im Klaren: „.. der Sinn für Wahrheit ist selber einer der höchsten und mächtigsten Effloreszenzen .. [des] moralischen Sinnes" (IV 2, 556). So vollzieht sich also, gemäß dem Umkehr- und Sublimierungsprinzip, die .Aufhebung' des christlichen Erbes im hegelianischen Doppelsinn des Wortes vor allem durch die Wahrhaftigkeit des Freigeists, die ja zugleich sein Wesen ausmacht. Mit Recht betont daher Jaspers, Nietzsches Feindschaft gegen das „Christentum als Wirklichkeit" sei untrennbar von seiner „Bindung an das Christentum als Anspruch", von

I. Die Überwindung der Erkenntnis-Tragödie

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dem er sidi bewußt sei, daß es den moralischen Antrieb zum grenzenlosen Wahrheitswillen hervorgerufen habe, der sich nun gegen das Christentum selbst -wende. Nietzsche wolle Christentum „durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abtun", wie er sich auch als Freigeist aus Moralität gegen die bisherige Form der Moral wendet26. Die christliche Moralität sei mithin für Nietzsche die Quelle des unbedingten Wahrheitswillens, der unsere Wissenschaft trägt (Jaspers, 56), sein eigener Wahrheitsantrieb „letztes Ergebnis christlicher Moralität" (Jaspers, 66), die allerdings, nach Beseitigung der, diese Moralität und dieses Wahrheitsstreben sanktionierenden Gottheit, dazu führen muß, daß „der Selbstmord der Moral ihre eigene letzte moralische Forderung" ist und auch der Glaube an Wahrheit „durdi einen Akt der Selbstaufhebung" zugrundegeht. Aber weder diese extremen Folgerungen, noch der von Jaspers Nietzsche zugeschriebene Versuch, durch einen mystischen Zustand (Aufhebung aller Gegensätze, dionysische, zuletzt vielleicht dionysisdi-christliche „Allbejahung") eine Erfahrung der „Gegenwart der Ewigkeit" („Aufhebung aller Ziele und zugleich auch der Ziellosigkeit in dem Innewerden ewiger Wiederkehr"; Jaspers, 72—75) zu gewinnen, gehen uns hier an, da nur die Transposition der für den christlichen (religiös-moralischen) Menschen postulierten Entwicklung in Richtung auf den Freigeist von MA zu verdeutlichen war. Der als illusorisch abgelehnten Vorstellung der eigenen moralischen, schuldbeladenen .Sündhaftigkeit' entspricht also auf der Stufe des Freigeists die Erkenntnis, daß er selbst, daß der Mensch, rettungslos dem Irrtum verfallen ist, d. h. die verzweifelte Einsicht in die Ausweglosigkeit und Last des eigenen intellektuellen Schuld- und Sündenstands. Wie vollzieht sich aber nun die der moralisch-religiösen Erfahrung der Gnade oder Selbstbegnadigung analoge Bewegung des Erkennenden aus der Verzweiflung an Schuld und Schwere, und die Selbstrettung in den begnadeten, von der niederziehenden Schwerkraft gelösten Schwebezustand der intellektuellen Leichtigkeit und Befreitheit? Im Falle des Christen war die Erklärung einfach: „In Wahrheit hat die Lust an sich selber, das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde mit der notwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung den Sieg davon getragen: der Mensch liebt sich wieder" (ΜΑ I, 121), mag er die Erklärung dafür audi einer fiktiven Macht außerhalb seiner selbst zuschreiben. Es scheint aber zunächst schwierig, einen analogen Prozeß auch im Erkennenden zu statuieren, dessen Geist insofern dazu berufen ist, zum Selbst-Henker zu werden, als der Erkennende sich keine Illusionen, daher auch keinen Glauben an eine fiktive Macht, die ihn erlösen könnte, erlauben darf. Dennoch läßt sich das für den Asketen postulierte Schema auch hier anwenden. Denn die konsequente Selbsterkenntnis, obschon aus dem Wunsch nach Rache am eigenen Selbst geboren, muß endlich nidit bloß das Opfer im Dividuum vernichten, sondern audi den Rächer, da dieser zu erkennen gezwungen ist, daß 26

Vgl. Jaspers, op. cit., 9 f., 42 f.

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Studie zum Μ. Aphorismus

nicht nur alle positiven Bestrebungen der anderen, nicht Erkennen wollenden, also der Illusion verfallenen Sphären des Ichs illusorisch sind, sondern daß auch die negierende Selbstverachtung wie jede Abschätzung, jedes wertende Urteil und jede Verurteilung, eine ungerechte, illusorische sein muß. Damit aber vollendet sich die rächende Selbsterkenntnis und hebt sich zugleich selber auf. So dürfte man also was für den Religiosus galt, auch für den von der Askese der Erkenntnis zur Weisheit erlösten Freigeist gelten lassen, welchem, wie wir hörten, überdies auch durch die Kunst, die Lust am Dasein inokuliert wurde (ΜA I, 180). Denn die Weisheit, die dem enthemmten Erkenntnistrieb entgegentritt und ihn eindämmt, gilt Nietzsche in MA als sublimiertes Äquivalent des positiven Willens zum Leben, so gering er auch später all das einschätzen will, was er in MA als Selbst-Therapie des Erkennenden anpreist, e. g. die Verflüchtigung von Liebe und Haß, die Neutralisierung und Reduktion aller starken Lust-Unlust-Gefühle, die Ataraxie, das Epikuräertum des kleinen Glücks. Dem späten Nietzsche gilt derlei — im Gegensatz zu der starken, die leidenschaftlichen und grausamen Intensitäten des Lebens bejahenden Gesundheit des schöpferischen Mensdien — nicht mehr als Überwindung sondern als Symptom der decadence, oder bestenfalls als Symptom der Rekonvaleszenz". Allerdings: auch diese Abwertung des blassen Zwitters aus Erkenntnis und Lebenswillen wird schon in Positionen des frühen Nietzsdie antizipiert. Und endlich bleibt auch innerhalb des Bereichs von ΜΑ I die Selbsterlösung des Erkennenden problematisch. Wir haben die im 34. Aphorismus dargestellte Bewegung zunächst als ästhetisches Phänomen, dann im Zusammenhang von Nietzsches historischem Bewußtsein betrachtet. Die historische Perspektive ließe sich nun einigermaßen zusammenfassen: Die Reihe der Präsokratiker bezeichnet eine Entwicklung, die auf die Hervorbringung eines höchsten Typus des Erkennenden und Weisen abzielt. Diese Entwicklung wird gestört, gehemmt, verzerrt und von ihrem Ziel abgedrängt: zunächst durch Sokrates und die Sokratiker in Richtung auf Moralismus und Glücksuche, dann durch das Christentum in Richtung auf Moralismus und religiöse Illusionen. Dennoch muß sich die Kraft zur Weiterentwicklung auf dem ursprünglichen Weg auch dank und aufgrund dieser Verirrungen vollziehen, i. e. mit Hilfe der logischen Illusionen des Sokratismus und mit Hilfe der, durch das Christentum hochgezüchteten Radikalität der invertiert sadistischen Selbstkritik, Selbstverachtung und Wahrhaftigkeit. Der Freigeist Nietzsches ist gedacht als Gegensatz und Sublimierung des Sokrates sowie, vor allem, des christlichen Asketen und zwar aufgrund der präsokratischen Tradition des Erkennenden und Weisen. Im Gegensatz zu manchen Idealbildern des späten Nietzsche, ist der Freigeist von MA dem Asketismus der Erkenntnis noch eng verhaftet. Aber auch er will den höchsten Typus des Philosophen als des Vereinigers von Erkenntnis und Weisheit darstellen. 27

Vgl. audi die — allerdings mit 77, 275 f. nidit ohne weiteres vereinbaren — Stellen über das Epikuräertum in 77, 61, 226; 78, 160.

I. Die Uberwindung der Erkenntnis-Tragödie 5. Biographische

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Aspekte

Den ästhetischen und den historischen Perspektiven, in denen sich Nietzsches Lösungsversuche des Erkenntnis- und Freigeist-Dilemmas darstellen lassen, seien hier ergänzend noch einige Hünweise auf biographische Aspekte hinzugefügt. Denn es wäre zwar falsch so zu tun, ab gäbe es einerseits die von einem bürgerlichen Realismus allein als real anerkannten .Realitäten': die .wirklichen' ,eigentlichen' konkreten Erlebnisse, anderseits aber die weniger wirkliche, uneigentliche Projektion, Spiegelung und bloße Sublimierung in irrealen Gedanken; als wäre das Eigentliche im Bericht von Nietzsches Leben in Basel, seiner Enttäuschung in Bayreuth, seiner Befreiung in Sorrent zu finden, bzw. in der Beschreibung seines physischen Zustande samt Kopfschmerzen, Seh-Störungen, Magenleiden und/oder seiner psychischen Nöte, e. g. seiner Depressionen und Aufschwünge in einer Periode, in der der leidende Basler Professor um Krankenurlaub ansucht und endlich zu dem Entschluß kommt, seiner bürgerlichen Laufbahn ein Ende zu machen, um hinfort als „fugitivus errans" zu leben88. Anderseits aber ist die Erkenntnis- und Freigeist-Problematik wie Nietzsche sie sieht, Ausdruck dessen was ihm auch im engsten Umkreis widerfährt: nur daß eben auch das, was ihm dermaßen widerfährt, nicht immer die Ursache seiner ,Gedankenerlebnisse' zu sein braucht, vielmehr die Gedankenerlebnisse auch das, was ihm widerfährt, bestimmen mögen, kurz: der ,Mensch' und der ,Denker' sich nicht voneinander trennen lassen. Als ob diese Trennung je wirklich berechtigt sein könnte! Und doch hätte sie bei den meisten Intellektuellen und Kopfarbeitern, die zwischen ihrem Leben und ihrer professionellen Denktätigkeit selber sehr deutlich zu unterscheiden wissen, noch sehr viel mehr für sich als im Falle Nietzsches, der ebendeshalb „mitreden" zu dürfen meint, weil „alle die Wahrheiten" für ihn „blutige Wahrheiten" sind (82, 335). So kann man, — allerdings ohne daß sich eine klare chronologische Reihenfolge oder Entwicklung statuieren ließe, — aus Nietzsches Briefen jene Phasen des Erkenntniskampfes ablesen, die auch im 34. Aphorismus dargestellt werden, i. e. Verzweiflung — Kampf mit der Verzweiflung und erhoffte Befreiung — und Sieg über die Verzweiflung, sei es im Bewußtsein errungener Resignation oder in einer fast glücklichen Empfindung von Leichtigkeit und bejahender Freiheit. Unüberhörbar ist ein Grundton der Verzweiflung etwa in Nietzsches Klage über seine Basler Existenz, — den „Alp der Überarbeitung", vor dem er sich „leidvoll und schleimvoll" in sein Schlafzimmer zurückzieht; — über das „Dasein", mit dem ihn nur noch der Gedanke an seine Freunde „etwas . . versöhnt", das ihm aber „sonst immer sinnloser erscheint" (BAB IV, 243 f. [An Gersdorff, 16. Nov. 1875])"; — endlich im Wunsch zu sterben: „Ich lebe völlig zurückgezogen, mit 28 2

Vgl. Briefe an Peter Gast (Leipzig: Insel, 1924), 325. ' „Diese Mühe! diese Hast! Dieser naive Glaube jedes Menschen, daß um ihn die Sonne und alle Welt sich dreht! Ich strotze von Erfahrungen dieser Art und möchte ladien,

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Studie zum 34. Aphorismus

meiner Schwester und bin zufrieden, wie ein Einsiedler, der keine Wünsche mehr hat als daß es recht schön wäre, wenn es einmal aus wäre" (BAB IV, 247 (An Rohde, Basel, 8. Dez. 1875)). Jedoch selbst in diesem Brief klingt, zugleich mit der Verzweiflung, der Wille an, sich ihrer Macht — und sei es auch nur mit der Waffe des Selbstspotts — zu erwehren: „Aller Ernst und alle Leidenschaft und alles, was den Menschen an's Herz geht ist Don Quixoterie, es ist gut dies zu wissen, für einige Fälle; sonst ist es f ü r gewöhnlich besser es nicht zu wissen" (BAB IV, 246). Und anderseits klingt doch dort, wo die Resignation schon als erreicht gelten will, wiederum auch die Verzweiflung mit: „Gesundheit von Tag zu Tag jammervoll! Was soll's nur werden! — Sonst wunschlos, wahnlos! —" (BAB IV, 294 [An Gersdorff, 21. Juli, 1876]). Eindringlicher als die Verzweiflung selbst kommt jedenfalls der Entschluß zu Wort, gegen sie anzukämpfen: „Ich sah gestern als am ersten Tage des Jahres mit wirklichem Zittern in die Zukunft. Es ist schrecklich und gefährlidi zu leben — ich beneide jeden, der auf eine rechtschaffne Weise todt wird. — Im Übrigen bin idi entschlossen alt zu werden; denn sonst kann man es zu nichts bringen. Aber nicht aus Vergnügen am Leben will ich alt werden. Sie verstehen diese Entschlossenheit" (BAB IV, 136 f., [An Malwida von Meysenbug, Naumburg 2. Januar 1875]). Als Hauptmittel in diesem Kampf gegen Krankheit und Depression gilt Nietzsche jedoch nicht der Ehrgeiz, wie es, — entgegen Nietzsches Absicht und Selbsteinschätzung, — den Anschein haben könnte, sondern der Wille zur Erkenntnis, der, — wie er seiner, ihn zum Geburtstag beglückwünschenden Mutter schreibt, — an Stelle aller Wünsche, die „in's Spezielle" gehen, tritt, um alles, was den Menschen trifft, — „sei dies nun Gesundheit oder Krankheit, Regen oder Sonnenschein", — „zu nützen". Denn: „Will man Erkenntniß vom Leben haben, so kann man sie von allem und jedem ernten, da verlernt man fast das Wünschen" (BAB IV, 242 f. [An Franziska Nietzsche, Basel den 18. Oktober, 1875]). Und wenn Nietzsche, wie Malwida von Meysenbug in ihren Erinnerungen an Sorrent berichtet, dem für ihn so „leidensvollen Jahr" 1876 Dank sagt, und meint, „daß dem rechten Menschen Alles dazu dienen müsse, nach Erkenntnis zu streben, auch die Leiden" 80 , so enthält diese Aussage sein persönliches Rezept, das Leben trotz der Qualen, die es ihm bereitet, zu ertragen. So soll also der Gegner umarmt und in den Dienst eines Strebens gezwungen werden, das nicht nur der spätere Nietzsche f ü r so übermächtig hielt, daß ihm sowohl die Loslösung aus dem Lehramt wie die Krankheit selbst, welche die Loslösung rechtfertigte, mitunter bloß als Symptome seines damaligen Willens zur geistigen Selbst-Befreiung galten 31 . In charakteristischer Umkehr wird so das Tröstungsmittel der Erkenntnis in der N o t des Leidens umgedeutet: als Überdruß

30 31

wenn ich nur könnte" (Β AB IV, 244). „Nietzsche" in: Individualitäten (Berlin-Leipzig: Schuster und Löffler, 1901), 23. Vgl. 77, 362—364; NB I, 416 f. (An M. Baumgartner, 30. August, 1877).

I. Die Uberwindung der Erkenntnis-Tragödie

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der nach Befreiung verlangenden geistigen Kraft, die selbst, da sie frustriert und eingeengt ist, physisch-seelische Leiden als Symptome ihrer Repression sowie als Vorwand für ihre eigene Befreiung schafft. Beide Deutungen, — diejenige, die von der Krankheit und diejenige, die vom rebellierenden Erkenntnisdrang ausgeht — mögen zum Teil berechtigt sein. Aus den Briefen spricht, kräftig und euphorisch zugleich, die Hoffnung auf Befreiung und die Zuversicht des Fortschrittes auf ihrer Bahn. Den .Aufklärungsaphorismen' analog ist das Gefühl des ansteigenden Weges, der „durch mehrere mühsame Wissenschaften" hindurch zu einem „freien Ausblick über unsre alte Cultur" führen soll, das Bewußtsein: „dieses ruhige Vorrücken ist unsre Art von Glück, und viel mehr will ich nicht" (BAB IV, 211 (An Gersdorff, 21. Juli ), der Stolz darauf „ein geborner Bergsteiger" zu sein, die Gewißheit: ein „entschiedener Gang von Stufe zu Stufe — das ist es, was mir verbürgt nodi ziemlich weit zu kommen" (BAB IV, 219 (An Marie Baumgartner, Steinabad den 2. August 1875)). Euphorisch, an die Stimmung gemahnend, in der Nietzsche die Fahne der Aufklärung mit den drei Namen Petrarca, Erasmus, Voltaire weitertragen will (Apbo 26), ist seine Stimmung „seligen Staunens" angesichts der Schönheit von Genf, wo er ja nicht nur Voltaire seine Verehrung bekundet, sondern, am 11. April 1876 Mathilde von Trampedach, — sie hatte Longfellows Gedidxt „Excelsior" übersetzt und schien ihm plötzlich prädestiniert dazu, mit ihm den Weg zur Höhe zu gehen, — einen absurd jähen Heiratsantrag macht (als einer, „der recht herzlich nach Befreiung und Besserwerden strebt"; ΒAB IV, 265), — wofür er sich vier Tage später entschuldigt. Nun ist er entschlossen, sich und andere nicht mehr mit dem Hang, „gegen [sich] . . selbst ungerecht zu sein" zu quälen und findet „das ,gute Gewissen' wieder", seiner Befreiung zu dienen und damit auch den Menschen „einen wahren Dienst" zu tun (BAB IV, 269; An Gersdorff, Am Tage nach Charfreitag 1876). Nun glaubt er in den „vier Wochen am Genfersee" sich selbst wiedergefunden zu haben: „Das heißt . . das Vertrauen auf meine Ziele, das Verpflichtetsein auf meine Aufgaben und den Muth der Gesundheit". Und wenn auch im „Schwimmen . . gegen den Strom" mitunter „die Seele matt" wird und einen „die Welle . . bei Seite [wirft] und der ganze Körper kracht" — („Ich weiß nie, wo ich eigentlich mehr krank bin, wenn ich einmal krank bin, ob als Maschine öder als Maschinist"): — „Ich verehre, sobald ich mir wiedergegeben bin, nur Eins, . . die moralische Befreiung und Insubordination und hasse alles Matt- und Skeptischwerden. Durch die tägliche Noth sich und andre höher heben, mit der Idee der Reinheit vor den Augen immer als ein excelsior — so wünsche ich mein und meiner Freunde Leben" (BAB IV, 271 [An Romundt, am Tag nach Charfreitag 1876]). Und so verspricht er sich selbst: „Mein Glück wird sein, das zu tun, wozu mich eine innere Stimme treibt; sonst will ich nichts" (ΒAB IV, 273; An Malwida von Meysenbug, ), und bezeichnet sich als einen Menschen, „der nichts mehr wünscht als täglich irgend einen beruhigenden Glauben zu verlieren, der in dieser

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Studie zum 34. Aphorismus

täglich größeren Befreiung des Geistes [und der „,Entführung aus dem Serail* des Glaubens"] sein Glück sucht und findet. Vielleicht daß ich sogar noch mehr Freigeist sein will als ich es sein kannl" (Β AB IV, 301; An Louise Ott, Basel ). Das Lob der errungenen eigenen Freiheit und der kälteren, der Befangenheit in Philologie, Wagnerianertum, Metaphysik enthobenen Höhensphäre des befreiten Geistes, sowie seiner Schwungkraft, seiner Leichtigkeit — und seiner Einsamkeit — ließe sich vielfach belegen. Hingegen dürften Aussagen, in denen Nietzsche in der Gestalt des entsagenden und heiteren Weisen auftritt, der ihm im 34. Aphorismus als Idealbild vorschwebt, in den vor der Beendigung von ΜΑ I geschriebenen Briefen kaum zu finden sein; es sei denn, man will eine Äußerung an Reinhart von Seydlitz (Sorrent, Ende Februar 1877), dem er mit Bezug auf sich selber sagt: „Der Himmel weiß, Sie werden einen sehr «»fachen Menschen finden, welcher von sich keine große Meinung hat" (BAB IV, 334), als eine solche Selbststilisierung gelten lassen. Hingegen schreibt Nietzsche im Januar 1879, also in der Periode von ΜΑ II, an den Freund und Jünger Peter Gast: „Meine Gesundheit ist abscheulichschmerzenreich wie früher, mein Leben viel strenger und einsamer; ich selber im Ganzen lebe fast wie ein ganzer Heiliger, aber fast mit den Gesinnungen des ganzen echten Epikur — sehr seelenruhig und geduldig, und dem Leben doch mit Freude zusehend." 3 * Wie sich in diesen Zitaten die vereinzelten Motive des 34. Aphorismus verfolgen lassen, so fehlt es auch nicht an einer autobiographischen Zusammenfassung derselben in einem Brief an Gersdorff aus dem Dezember 1875. Hier legt Nietzsche, — wie schon eingangs erwähnt, — das Bekenntnis des Konflikts ab, der dem 1. Hauptstück zugrundeliegt, und zwar in einer Weise, die als Antizipation des 34. Aphorismus gelten darf, obschon Nietzsche damals noch der pessimistischen Metaphysik anhängt und „das unwandelbare Glück, in Schopenhauer und Wagner Erzieher, in den Griechen die täglichen Objekte . . [seiner] Arbeit gefunden zu haben" glaubt (BAB IV, 249). Es heißt da, verzweifelt humorig — und zugleich doch auch mit dem Anspruch auf den „schweren, alles zermalmenden Gang des Weisen" (73, 272) —, er habe sich eines „der festen Schlußworte einer Sutta": „so wandle ich einsam wie das Rhinoceros"" „aus den heiligen Büchern der Buddhaisten" schon zum Hausgebrauch angeeignet. Denn: „Die Uberzeugung von dem Unwerthe des Lebens und dem Truge aller Ziele drängt sich mir oft so stark auf, zumal wenn ich krank zu Bette liege, daß ich verlange, davon etwas mehr zu hören, aber nicht verquickt mit den jüdisch-christlichen Redensarten: gegen die ich mir irgendwann einen Ekel angegessen habe, so daß ich mich vor Ungerechtigkeit in Acht zu nehmen h a b e 3 4 . . . man soll sein Herz n i c h t . . [an das Leben] hängen, das ist klar, und doch worin kann man es aushalten, wenn man wirklich nichts mehr will·. Ich meine, das 33 33 34

Briefe an Peter Gast, op. cit., 23. Zitiert in Morgenröte (73, 272 [Apho. 469]). Audi in ΜΑ I werden am Ende des Hauptstücks über das religiöse Leben die „indischen

II. Versuch einer Zusammenfassung

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Erkennen-Wollen bleibe als letzte Region des Lebens-Willens übrig, als ein Zwischenbereich zwischen Wollen und Nichtmehrwollen, ein Stück Purgatorium, so weit wir auf das Leben unbefriedigt und verachtend zurückblicken [ ] und ein Stück Nirwana, insofern die Seele dadurch dem Zustande reinen Ansdiauens nahe kommt. Ich übe mich darin, die Hast des Erkennen-Wollens zu verlernen; daran leiden ja die Gelehrten alle und darüber entgeht ihnen die herrlidie Beruhigung aller gewonnenen Einsicht". Er aber wolle sich den seiner Seele „gleichsam verheißenden" „Gesundheitszustand" verdienen, „wo sie nur noch den Einen Trieb, das Erkennen-Wollen, übrig behalten hat und sonst von Trieben und Begehrungen frei geworden ist." (ΒAB IV, 247 f.). Und nun folgt als Analogon dem entsprechend, was der Freigeist einige Jahre später als die rechte Diätetik der Gesundheit, die bescheidene Lebensweise und das „Garten-Glück" Epikurs (/V 3, 385), — „Ein Gärtdien, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, — das was die Üppigkeit Epikurs" (AM II, 266), — empfehlen wird: „Ein einfacher Haushalt, ein ganz geregelter Tageslauf, keine aufreizende Ehrsucht oder Geselligkeitssucht, das Zusammenleben mit meiner Schwester (wodurch alles um midi herum so ganz Nietzschisch ist und sonderbar beruhigt wird) das Bewußtsein ganz ausgezeichnete liebevolle Freunde zu haben, der Besitz von 40 guten Büchern ..", allerdings inklusive des Ballasts, — zu dem wohl auch die Schwester gehört, gewiß aber Schopenhauer, Wagner, der Lehr-Beruf der Altphilologie samt „guten Schülern", — den der Freigeist von MA über Bord werfen wird.

II. VERSUCH EINER ZUSAMMENFASSUNG

Es ist bezeichnend, daß sich auch in dem für die Entstehungszeit von MA relevanten biographischen Material nur Aspekte und Phasen von Nietzsches Suchen und Experimentieren erkennen lassen, nicht aber die konsequente irreversible Entwicklung zu einer Lösung des Erkenntnis- und Freigeist-Dilemmas. Dasselbe ergibt die nun fällige Übersicht über die von Nietzsche auf höherer Stufe der Objektivierung dargestellten Motive und Überlegungen, die sich zu jeder Position des Freigeists, — e. g. für und gegen die Berechtigung seiner Verzweiflung, für und gegen alle Phasen seines Kampfes gegen diese Verzweiflung, für und gegen das von ihm ersehnte Ziel der Weisheit, — anführen lassen. Heiligen", die auf einer „Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen" stehen, in Hinblick darauf, daß die Buddhisten Erkenntnis, logische Zucht und Schulung des Denkens als „Kennzeichen der Heiligkeit" forderten, von der Polemik gegen den religiösen Asketen ausgenommen (ΜA 1,133 f.).

462

Studie zum 34. Aphorismus

„Der Mensdi wirft sich herum bald auf diese bald jene Seite, groß ist die Pein" (IV 2, 399). Die wesentlichen Argumente, welche, nach Nietzsche, den Erkennenden zur Verzweiflung bringen, bedürfen hier keiner Wiederholung. Die Skala des Affekts ist vieler Modulationen fähig. Er mag — wie bei manchen Dichtern des mal du βίέοΐβ, — als lyrischer Weltschmerz nur den melancholischen Genuß des Lebens und seiner Lust zu erhöhen scheinen: „Eine alte Stadt, Mondschein auf den Gassen, eine einsame männliche Stimme — das wirkt als ob die Vergangenheit leibhaft erschienen sei und zu uns reden wollte — das Heillose des Lebens, das Ziellose aller Bestrebungen, der Glanz von Strahlen darum, das tiefe Glück in allem Begehren und Vermissen: das ist ihr Thema" (/V 2, 529). Er mag, als dumpfe Schwermut, den Menschen dazu geneigter machen, sich „sinnlichen Vergnügungen blindlings zu überlassen," da er „das Betäubende in ihnen" oder „Emotion um jeden Preis" begehrt und also, wie „Sandio Pansa sagt", „zum Thier" wird, wenn er „sich zu sehr der Traurigkeit überläßt" (IV 2, 566). Und immer noch von Lust begleitet mag er dem neuen wie dem alten Faust Befreiung vom Bewußtsein der Vergeblichkeit seiner Wahrheitsuche versprechen, ihn, „der wie der Seekranke vom Sdiiff in erstem Morgengrauen nadi der Küste zu späht" und „weiß, daß man den Gang und die Richtung seines Sdiiffes nicht verändern kann", „mit der Sehnsucht nach dem Tode" als der Küste des Lebens, verlocken (IV 2, 566)**. Audi ist der Verzweiflungsaffekt einer frenetischen, rauschhaften, tragischpathologischen Steigerung fähig: Der die „Mithras-Hoffnung" (das Begehren nach dem Sehen der Sonne, des Lichtes, der Wahrheit) hegt, steht in Gefahr dem „Mithraswahnsinn" zu verfallen (vgl. IV 3, 365 [28 (22)]). Dieser ist das „Gegenstück" zu dem, von Nietzsche dem Kaiser Tiberius zugeschriebenen „Wahnsinn des Handeln-Könnens" (/V 3, 365 [28 (25)]), ist „Wahnsinn des Wissen-Könnens" (IV 3, 365); eine Erfahrung der Einsamkeit, der Höhe, des Berggrats und Gipfels der Bewußtheit, auf dem der Jünger und Antagonist des Sonnengottes, den ersten Strahl des aufgehenden Lichts erwartet 39 . Wenn aber die Mithromanie Euphorie des Wissensgefühls ist, so ließe sich auch behaupten, sie sei das Gegenteil der faustischen Verzweiflung, des Nichtwissen35

36

Die Parallele dazu ist die Szene in Goethes Tragödie, in der sich Faust, um seine Befreiung von der Beengung menschlicher Existenz zu erzwingen, zum Selbstmord entschließt, — obsdion Nietzsche sein eigenes Prosagedicht einer Umkehr verdankt. Bei Nietzsche ist das Leben die Meerfahrt, der Tod die Küste. Goethes Faust verspridit sich vom Tod ein metaphysisches Abenteuer: Befreiung von der an Küste und Festland gebundenen Existenz — Erlösung von der Erde, die Meerfahrt ins Ungewisse, und zu neuen Kontinenten: „Ins hohe Meer werd' idi hinausgewiesen, Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen, Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag" (Verse 699—701). Weitere Aspekte, die sich u. a. auf Nietzsches Besuch der „Grotta di Matrimonio" (bzw. „Mitromania oder Matromania") beziehen (vgl. IV 3, 365; IV 4, 462), sollen im Rahmen einer Studie über Nietzsches Memorabilia (IV [28]) behandelt werden.

II. Versuch einer Zusammenfassung

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könnens. Und in diesem Sinne spricht Nietzsche audi, indem er sich mit Mithras vergleicht, der, — ikonographischer Überlieferung entsprechend, — „den Stier, an dem Schlange und Scorpion hängen", „tödtet", von der „Kunst der Erinnerung, Bezwingung der bösen bitteren Elemente", von seinem „Kampf gegen Krankheit, Verdruß, Langeweile (IV 3, 367) und will sich „von [der] Mitromanie aus" „das Leben als Fest" ausdenken (IV 3, 366). Dennoch wollen audi hier die extremen Gegensätze sich vereinen, springt der Funke von Euphorie zu Verzweiflung, von Hybris der Allwissenheit zur Selbstverniditung aus Desperation. Hätte sich dieser jähe Umschlag nicht schon vollzogen, da der vom Wahn Ergriffene diesen plötzlidi als niditig erkennt? Nietzsche sieht aber hier die Katastrophe von der Mitromanie selbst aus: Der von der Wahrheit Erleuchtete begreift, daß sidi das dem Irrtum verhaftete Leben mit seiner Allerkenntnis nidit vereinen lasse. In den Notizen heißt es: „Wie vom Curare-Pfeil der Erkenntnis angeschossen bin ich: alles sehend". Aber was dieser Sehende zu sehen glaubt ist, daß „Wissen Erstarrung" ist und „Handeln" „unfreiwillig" „Epilepsie" (IV 3, 364 (28 [18])). So erfolgt der Absturz, audi wenn der, von der Gewißheit der Erkenntnis Verzückte sein Ziel — die Wahrheit, den Sonnengott selbst —, indem er es erblickt und durchschaut, leer und nur seines Hohnes wert findet, und sich, da er der Jünger des Wahrheit-Gottes war und bleibt, vernichten muß: „Mitromania. — Warten auf das Erscheinen des ersten Sonnenstrahls — ihn endlich sehen und — ihn verhöhnen und sich auslösdien" (IV 3, 364 (28 [17]). Die Region des Denkens und Empfindens, in der wir uns hier bewegen, — die Verquickung von hybrider Besessenheit, Euphorie, Verzweiflung, Luzidität und Wahnwitz, das katastrophale Qual- und Höhengefühl der Einsamkeit, das ans Absurde und Lächerliche streift („Zu nah ist mir der Wolken Sitz, — ich warte auf den ersten Blitz"; 77, 506) — entspricht späteren und spätesten Werken Nietzsches. Die hier herangezogenen Aufzeichnungen sind unmittelbar nach Beendigung von ΜΑ I Frühling—Sommer 1878 entstanden. Entscheidend ist aber gerade, daß die Erkenntnistragödie, als Klimax und Verklärung der Verzweiflung des Erkennenden und seiner Bereitschaft, sich selber der .Wahrheit' zum Opfer zu bringen, auch nadi der expliziten Verabschiedung solcher Pathetik für Nietzsche als Denkmöglichkeit und heroische Lösung bestehen bleibe, wie sie auch einen Aspekt darstellt, unter dem sich Nietzsches eigenes Leben als Tragödie auffassen ließe. Und da gegen die oben interpretierten Texte eingewendet werden könnte, daß sie kryptisch und daher der Willkür des Interpreten ausgesetzt seien, so soll hier als Beleg noch ein Aphorismus aus dem MA folgenden Werk, der Morgenröte, zitiert werden. „Ein Tragödien-Ausgang der Erkenntnis. — Von allen Mitteln der Erhebung sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben und gehoben haben. Und vielleicht könnte mit einem ungeheuren

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Studie zum 34. Aphorismus

Gedanken, immer noch jede andre Bestrebung niedergerungen werden, so daß ihm der Sieg über den Siegreichsten gelänge, — mit dem Gedanken der sicfc

opfernden

Menschheit. Wem aber sollte sie sich opfern? Man kann bereits darauf sdrwören, daß, wenn jemals das Sternbild dieses Gedankens am Horizonte erscheint, die Erkenntnis der Wahrheit als das einzige ungeheure Ziel übriggeblieben sein wird, dem ein solches Opfer angemessen wäre, weil ihm kein Opfer zu groß ist. Inzwischen ist das Problem noch nie aufgestellt worden, inwiefern der Menschheit, als einem Ganzen, Schritte möglich sind, die Erkenntnis zu fördern; geschweige denn, welcher Erkenntnistrieb die Menschheit so weit treiben könnte, sich selber darzubringen, um mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weisheit im Auge zu sterben. Vielleicht, wenn einmal eine Verbrüderung mit Bewohnern anderer Sterne zum Zweck der Erkenntnis hergestellt ist, und man einige Jahrtausende lang sich sein Wissen von Stern zu Stern mitgeteilt hat: vielleicht, daß dann die Begeisterung der Erkenntnis auf eine solche Flut-Höhe kommt" (73, 44 f.) 87 . Auch dies, meint Nietzsche also, sollte es geben. Wenn man jedoch die unbekannten Anforderungen und Verdienste jener Bewohner anderer Sterne beiseiteläßt, dürfte man kaum umhin können, einzuwenden, daß ein derartiges kollektives Selbstopfer in dem von allen metaphysischen Mächten befreiten All keinem erdenklichen Wesen zugutekäme. Oder sollten hier, sowie in der Parallelstelle in „Richard Wagner in Bayreuth" (71, 327 f.)®8 die tragische Gesinnung und das Selbstopfer sans cause um ihrer selbst willen als empfehlenswert gelten? Und warum das? Aus Geschmacksgründen? Wäre aber ein dermaßen ins Extreme getriebener Geschmack am tragischen Massenselbstmord nicht Symptom einer Geschmacksverirrung, eines suspekten Geschmacks an der Vision eines sadomasochistischen Exzesses? Es versteht sich, daß solche Fragen nicht etwa die Voraussetzungen Nietzsches außer Acht lassen, vielmehr einer anderen Einstellung seines Denkens, nämlich der, welche auch den Erkenntnistrieb unter der Optik des Lebens sieht, entsprechen wollen. Allerdings: auch unter dieser Optik gibt es ein „Reifsein", gibt es für den Gereiften die „Wohlthat des Todes" (IV 2, 396); und es könnte wohl sein, daß Nietzsche, der audi der Geschichte der Menschheit in organischen Analogien nachund vor-denkt, in dem oben zitierten Aphorismus der Morgenröte nur einer um viele Jahrtausende gealterten, zum Sterben reif gewordenen Menschheit die beste Art des Todes ausmalen will, wie er dies zu tun auch für den Einzelnen, für sich selbst, unternehmen will; zugleich aber auch vor „zu früher Einsicht in die Ziel- und Nutzlosigkeit" warnt (IV 2, 396). Wie immer es aber mit der künftigen Selbsttötung der Menschheit stehen möge, 57

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Mit diesem Zitat schließt auch das Buch von Karl Schledita und Anni Anders: Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens (Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Fromann Verlag; Günther Holzbog; 1962), das weiteres Material zu der Thematik des Erkenntnisproblems bei dem jungen Nietzsche verarbeitet. Siehe oben, Seite 424.

II. Versuch einer Zusammenfassung

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die Motive, die den Freigeist media in vita zur Selbstvernichtung drängen, erscheinen unter der Optik des Lebens zunächst und zumeist als hinfällig, absurd, pathologisch, kindisch. Oder ist es etwas anderes als „kindlicher Trotz", der nicht einsehen will, daß wir „immer ein Stück Schätzung von Kindheit an verlernen müssen", das Leben, wenn es „nicht den höchsten Werth hat", den die „Metaphysik" ihm zuschreibt, „gleich zum niedrigsten Preise loszuschlagen" (IV 3, 379)? Und jene „heftige Neigung zur Selbstprüfung und -Verachtung" — sollte sie nicht „auf eine allgemeine Ermüdung.. [des] Lebenswillens (oder der Nerven) zurückzuführen [sein], gegen welche [man] .. die schmerzhaftesten Reizmittel" anzuwenden, sich gezwungen fühlt (/V 2, 539)? „Askese" und „unegoistische Aufopferung" sind, — um dies hier zu wiederholen — unter der „allgemeinen Betrachtung des Selbstmords" zu behandeln (IV 2, 384), selbst dann, ja gerade dann, wenn sie denen, die das Leben „erschweren" wollen, „um hinterdrein ihre höchsten Recepte .. anzubieten", als Mittel gelten, „um das Leben zu ertragen" (/V 2, 384). Wie „jeder Mensch" braucht auch der freie Geist „seine eigenen Recepte dafür, wie das Leben zu ertragen ist und zwar wie es leicht zu erhalten oder leicht zu machen ist, nachdem es sich einmal als schwer gezeigt hat" (IV 2, 417). Und wie sich aufgrund der physischen Bedürfnisse nach Nahrung der Geschmack entwickelt hat als ein „angepaßter und auswählender Hunger", so ist auch der moralische Sinn („erst Zwang, dann Gewöhnung, dann Lust, welche wiederholt zu werden wünscht") ein gewordener und veränderlicher Geschmack, der dem Zweck der „Erhaltung des Menschen durch und gegen die Menschen" dient (IV 3, 456), nicht aber eine an sich und unabhängig von diesem Zweck zu absoluter Forderung berechtigte Instanz. Dasselbe gilt aber unter der relativierenden Optik des Lebens auch für den Sinn für Wissenschaft und Wahrheit, das moderne Derivat und Äquivalent des moralischen Sinns; geschweige denn für Weisheit, „weshalb die Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das den Mann des Geschmacks bedeutet, und Weisheit, künstlerische sowohl wie erkennende, geradezu .Geschmack' (sophia) benannten" (ΜΑ II, 80)M. „Wenn man nicht das Leben für eine gute Sache hält, die erhalten werden muß, so fehlt all unseren Bestrebungen der Wissenschaft der Sinn (der Nutzen) selbst, wozu Wahrheit?" (IV 3,372). Und wenn es „ein Zeichen von der Gesundheit der Alten" war, „daß auch ihre Moral-Philosophie diesseits der Grenze des Glücks blieb", so ist es für uns nötig, einzusehen, daß „unsere Wahrheits-Forschung.. ein Exceß" ist (IV 3, 407). Denn: „Wenn jemand die Wissenschaft zum Schaden der Menschheit fördert (— nämlich es giebt keine prästabilierte Harmonie zwischen der Förderung der Wissenschaft und der Menschheit) so kann man ihm sagen: willst du zu deinem Vergnügen die Menschheit deiner Erkenntniß opfern, so wollen wir dich dem allgemeinen Wohlbefinden opfern, hier heiligt der gute Zweck die Mittel. Wer die 39

Vgl. auch 70, 275, die etymologisdie Zuordnung der griediischen Bezeichnung des Weisen zu „sapio", „ich schmecke".

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Studie zum 34. Aphorismus

Menschheit eines Experimentes wegen vergiften wollte, würde von uns wie ein ganz gefährliches Subjekt in Banden gelegt werden; wir fordern: das Wohl der Menschheit muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse Grenzen zieht). Freilich ist da die Inquisition in der Nähe; denn das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer verfolgte. In gewissem Sinne ist also eine Inquisitions-Censur nothwendig, die Mittel freilich [meint Nietzsche] werden immer humaner werden" (IV 2, 528 f.). Diese gerade f ü r unsere Epoche dringlichsten Erwägungen stehen bei Nietzsche in enger Verbindung zu dem späteren Primat des Gedankens der Höherzüchtung des Menschen, welcher nämlidi eine — allerdings oft ins Krasse, verteufelt Inhumane — stilisierte Variante des humanistischen Bildungsideals darstellt. U n d insofern Nietzsche der Optik des Lebens Priorität zuerkennt, darf er auch sagen: „Mir liegt nur an den Motiven der Menschen: das objektive Bestehen der Erkenntniß ist mir ein Greuel. Die höchste Erkenntniß wird, wenn sich die Menschen [infolge dieser Erkenntnis] verschlechtern, weggewischt" (IV 2, 396). Wie aber, wenn gerade dies der Fall wäre; „wenn man die Wahrheit nicht mit dem Nutzen", — sei es im gröbsten oder feinsten Sinne, — „versdiwistern kann"? Dann „ist ihre Sache verloren. Weshalb sollte die Menschheit sich f ü r die Wahrheit opfern? Ja sie kann es gar nicht. Alles Wahrheitsstreben hat bis jetzt den Nutzen im Auge: die entfernte Nützlichkeit der Mathematik war es, die der Vater an seinem studirenden Sohn achtete. Man hätte einen Menschen als blödsinnig genommen, der sich mit etwas beschäftigt, bei dem nichts herauskommt, oder gar Schaden. Man hielte den f ü r gemeingefährlich, der den Menschen die Luft, die sie athmen, verdirbt." Ist aber „die Lüge" 40 (e. g. „die Religion") „nöthig, um zu leben, so ist der, welcher sie erschüttert, gemeingefährlich", denn dann „darf sie nicht erschüttert werden. Also — ist die Wahrheit möglich in Verbindung mit dem Leben? — " (7V 2, 451). Damit aber sind wir wieder bei dem Ausgangspunkt des Problemkreises angelangt, bei der Verzweiflung des Freigeists, dieses inkarnierten Versuches Leben und Erkenntnis zu vereinen, des Menschen, der, wie es im 34. Aphorismus heißt, allein um der Erkenntnis willen leben will. Zwar im Sinne des späteren Nietzsche mag das Problem nicht als unlösbar gelten: „Ob die Wahrheit euch oder mir nützt und schadet — was geht's mich an! Laßt uns Menschen schaffen, denen die Wahrheit nützt!" (83, 61). Jedoch auch das 1. Hauptstück von M A bedeutet zumindest insofern einen Lösungsversuch, als Nietzsche vom 1. Aphorismus an die Meinung verwirft, daß Erkenntnis und Irrtum, Wahrheit und Unwahrheit, Wahrheit und Lüge 40

Wie dies seiner Einsicht in die unbewußten Motivationen und das unbewußte Denken entsprechen mag, hält Nietzsche sidi nicht an die übliche Vorschrift, das Wort Lüge nur zur Bezeichnung einer absichtlich falschen Aussage zu gebrauchen (vgl. auch den Titel: „Uber Wahrheit und Lüge im außermoralisdien Sinne").

II. Versuch einer Zusammenfassung

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einander so unvermittelt ausschließen und gegenüberstehen, wie es die in der Sprache verfestigte Auffassung will. Vielmehr: wir bewegen uns mit der Behauptung einer solchen Gegensätzlichkeit zwisdien wahr und unwahr oder Erkenntnis und Irrtum noch in dem alten, von der Metaphysik geforderten Denken in absoluten Gegensätzen, die nur scheinbar unüberbrückbar sind, in Wirklichkeit sich aber auseinander entwickeln. Das religiöse und metaphysische Bedürfnis nach Offenbarung absoluter Wahrheit, welches auch das immer noch metaphysische Bedürfnis nach absoluter Erkenntnis des An-sich einschließt, kann, soll, wird sich schwächen, und endlich ausrotten lassen. Die Annäherung an das durch Wissenschaft erschlossene Wesen der Welt mag nur eine Annäherung an das Wesen unserer Menschenwelt bedeuten; oder sie mag, — da Nietzsche die Möglichkeit, daß das An-sidi, obsdion bedeutungsleer und für uns uninteressant, durch reine Erkenntnis seiner negativen Eigenschaften für uns irgendwie bestimmbar würde, in MA immer wieder auch offenhält, — wahrhaftig zu einer annähernden Erschließung des An-sich führen: In jedem Fall aber wird Erkenntnis als progressive Befreiung von den die Menschheit bindenden Schätzungen möglidi sein und bei gesundem, glücklichem Temperament (Apho 34) als Weg zur Weisheit, d. h. zur Befreiung von den Täuschungen und damit zu einem gelösteren Menschentum. Von den ersten und letzten Dingen wird diese Weisheit entweder überhaupt nichts oder nur Negatives auszusagen haben, umsomehr wird sie aber Einsicht in das Wahngewebe des Menschentums besitzen und sidi darüber in Milde und Freiheit erheben. Im Gegensatz zu der Auffassung, daß die Wendung zu harmonischer Weisheit im zweiten Teil des 34. Aphorismus nur eine den tragischen Ausgang verschleiernde Geste sei, könnte man nun behaupten, das 1. Hauptstück beschreibe nidits anderes als die Geburt des wahren Freigeists aus der überwundenen Tragödie der Erkenntnis und damit zugleich aus der Überwindung des metaphysischen Bedürfnisses und aller Metaphysik. Erst am Ende der Aphorismenreihe ist der Freigeist ganz da, als der von der Befangenheit im Menschlich-Allzumenschlichen Gelöste und ebendarum dieses Menschlich-Allzumenschliche Erkennende; als Einer, der mit sich und seinen Mitmenschen wie in der Natur lebt (Apho 34), ohne die falschen höheren Prätentionen und ebendarum als wahrer, seiner Nur-Menschlichkeit bewußter Mensch, als der um sein Nichtwissen Wissende, der sich nicht einbildet, über außermensdiliche absolute Tatsachen oder Wahrheiten zu verfügen, und ebendarum zum guten Nachbarn aller menschlichen Dinge wird, sich als Betrachter und Weiser den Zielen der Menschen, der Gestaltung ihrer Angelegenheiten und deren Verbesserung zuwenden kann. Und wenn die Richtung dieses Gestaltens, das später Nietzsches Hauptthema wird, hier noch im Unklaren bleibt, so ist dies innerhalb des Rahmens von MA kein Fehler, da ja nun erst, — nach Befreiung von dem Anspruch auf Wissenschaft über erste und letzte Dinge, — die Betrachtung unserer menschlidi-allzumenschlichen Welt zu beginnen hat, wie sie sich auch in den nächsten Kapiteln über Moral, Religion, Kultur, Weib und Kind, Staat, Verhältnis zum eigenen Selbst und weiterhin als „Lehre von

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Studie zum 34. Aphorismus

den nächsten Dingen" (Tageseinteilung, Speise, Umgang, Natur, Einsamkeit, Schlaf, Broterwerb, usf.) (IV 3, 439) im Gesamtwerk von MA entwickeln wird. Das zu diesem Prozeß gehörige Erlebnis der Befreiung von der tragischen „Emphasis" (47) hat Nietzsche in der Periode von MA immer wieder beschäftigt. So liegt es ζ. B. dem flüchtig notierten Einfall zugrunde, eine „Novelle" über einen „Selbstmörder" zu schreiben, der „beim Suchen nach dem Tode", — wohl da alle Motivierungen des Lebens und mithin auch seiner Verzweiflung von ihm abfallen, — keine Ursache mehr findet, zu sterben („des Todes wegen moriendi perdere causas"; IV 3, 387). Und die gleiche Thematik findet sich in aller wünschbaren Deutlichkeit in Nietzsches Auseinandersetzung mit Goethes Faust: vor allem mit dessen unbedingtem Begehren, das, was an sich ist, „was die Welt im Innersten zusammenhält", zu begreifen; seiner Verzweiflung darüber, „daß wir nichts wissen können", den Makrokosmos, die das All durchwirkenden Kräfte nicht zu erfassen und nicht einmal dem Geist der Erde ebenbürtig zu sein: „Durch gewisse Ansichten über die Dinge ist das Pathos der Empfindung in die Welt gekommen, nicht durch die Dinge selbst: ζ. B. alles, was Faust in der ersten Scene als Ursache seines Leidens angiebt, ist irrthümlidi, nämlich aufgrund metaphysischer Erdichtungen erst so bedeutungsschwer geworden; könnte er dies einsehen, so würde das Pathos seiner Stimmung fehlen" (/V 2, 557). Und in Ubereinstimmung mit der zuversichtlichen Notiz „Faust-Problem überwunden, mit der Metaphysik" (IV 3, 367), spielt Nietzsche wohl auch im 34. Aphorismus an auf die Klage Fausts „Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur! Wo faß ich dich unendliche Natur?" (Verse 455 f.), indem es hier, umgekehrt, von dem befreiten Geist heißt, er lebe „unter den Menschen und mit sich wie in der Natur ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an vielem sich wie an einem Schauspiel weidend" (47)41. 41

Ist damit aber das Faust-Problem für Nietzsche erledigt? Offenkundig ist zunächst die Umwertung gegenüber der GdT, — wo Faust als der von Alexandrismus und sokratischer Wissenschaft enttäuschte Mensch der Moderne gilt, dessen Sehnsucht nach der Heilung durch Kunst, Mythus, Griechentum (Helena) Nietzsches eigener Hoffnung entspricht (70, 147,150), — obschon die audi in den UB ausgesprochene Interpretation von Faust als dem, nach Leben dürstenden theoretischen Menschen (71, 382) de facto die gleiche bleibt. Jedoch auch in den folgenden Phasen seines Werks neigt Nietzsche dazu, sich mit Goethes Faust zu vergleichen, ja sich in einer Weise, die Goethes Interpretation dieser mythischen Figur der Moderne transzendieren will, mit Faust zu identifizieren (vgl. etwa 74, 103; und zum Motiv der Identifikation mit Faust den Faustus-Nietzsche Roman von Thomas Mann). Gerade diese Neigung ist aber auch die Ursache von Nietzsches Kampf mit Faust, die in MA zum Teil in Form einer, gewissermaßen zum Zweck der Abwehr und Selbsttherapie pointierten und krassen Polemik zum Ausdruck kommt. Zwar die von Nietzsche als sentimental bezeichnete Stimmung von Goethes Faust amSchluß der 1. Szene (ΜΑ II, 250), da der von Verzweiflung an der Möglichkeit der irdischen Erkenntnis zum Selbstmord Verlockte, von dieser Versuchung geheilt, sich mit dem Leben versöhnt: „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!" (Vers 784), — wird von Nietzsche, wenn auch in etwas zweideutiger Weise anerkannt (wohl auch deshalb, weil hier der Zauber der Religion bloß als rührend-infantile Reminiszenz an einen längst abgetanen Glauben der Kinderzeit zu wirken scheint). Dennoch überwiegt in ΜΑ II der tendenziöse Spott auf dieses Werk Goethes allein schon durch dessen Karikatur im 124. Aphorismus des WS

II. Versuch einer Zusammenfassung

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Überhaupt wird hier eine traditionelle, durchaus nicht auf Goethes Faust beschränkte Metaphorik umgekehrt, die der Erderoöbwere die Sehnsucht nach der schwebenden Leichtigkeit der religiösen und metaphysischen, von der Erde gelösten Sphären der Geister und himmlischen Wesen entgegensetzt. Bei Goethe wird dieser Kontrast bekanntlich von Beginn der Faust-Tragödie an in vielen Variationen durchgeführt, angefangen mit dem Gegensatz zwischen Fausts ohnmächtiger Sehnsucht danach, um Bergeshöhle mit Geistern zu schweben, und seinem irdischen Dasein in dem vollgeräumten, staubigen, dunklen Mauerloch der Studierstube bis zu dem himmlischen Ende, — der Levitation des auf und ab schwebenden Pater Ecstaticus, der aufwärts schwebenden Engel, der zu höheren Sphären schwebenden Mater gloriosa. Bei Nietzsche hingegen wird zu dem, den Menschen niederziehenden „Geist der Schwere", — der „ernst, gründlich, tief, feierlich" ist (75, 43), — hinfort die religiöse, metaphysische, moralische Sphäre gehören; indes die Bejahung der Erde und Verkündigung des „Erdenreichs" (75, 350)42, die sich als schwebende Betrachtung des Menschlich-Allzumenschlichen im 1. Hauptstück ankündigt, als das, von qualvoller Irrtumslast erleichterte, „leichte Leben" (IV 2, 417) gelten soll. In der Aphorismensammlung „Die Pflugschar" (September 1876; IV 2, 410—427), einer Vorform von MA, steht diese Vorstellung noch in engem Zusammenhang mit einem quasi-christlichen Entsagungsideal ( / V 2, 419 f.) 43 , dessen Verwandlung im Zusammenhang mit dem sich wandelnden Bild vom leichtgewordenen Leben bis zu

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(ΜΑ II, 233 f.; vgl. auch ΜΑ II, 200 (Aph. 42)). Und auf der Linie antimetaphysischer Gesinnung liegt auch das Urteil, Mephistopheles und Faust seien „zwei moralische Vorurteile gegen den Wert der Erkenntnis" (74, 161). Wenn aber Nietzsche Byron gegen Goethes Faust ausspielt (77, 323 f.), so nicht etwa deshalb, weil Faust das edite Symbol der Erkenntnistragödie ist, sondern weil er dies nicht ist, indes Byrons Manfred, von der Nichtigkeit des Wissensstrebens und zugleich von moralischem Schuldbewußtsein gequält, viel radikaler auf seiner Autonomie besteht, keiner illusorischen Gnade von oben teilhaftig wird, vielmehr in jener paradoxen Haltung des prometheischen, — wenn audi vom Sündenbewußtsein geschundenen — „Vorforderer" Gottes (vgl. ΜΑ I, (3)), — einer Haltung, die zugleich als Feindschaft gegen Gott und als Gottesleugnung empfunden wird, — allein auf sidi selbst gestellt zugrunde geht. (Und es ist wohl die Sympathie des Nietzsche von MA mit ebendieser Haltung, die ihn audi zur kritiklosen Bewunderung von Lipiners Entfesseltem Prometheus (Leipzig, 1876) überredet). Überhaupt ist es die Trübung und Verfälschung der Erkenntnistragödie (83, 415 f.) durch Goethes Konzilianz, durch seine Ausflucht in ein metaphysisches happy end (dank eines, von Nietzsche als „Diditer-Erschleichnis" bezeichneten Gottes; 74, 307), durch die „feuchten Stimmungen" (83, 415) sentimentaler Frömmigkeit, — gemäß Goethes Position „zwischen Pietismus und Griechentum" (83, 417), — sowie durch die Verflechtung der Erkenntnis-Tragödie mit der Verführung einer „kleinen Nähterin" (ΜΑ II, 233), — was Nietzsche ärgert. Wenn Nietzsche aber, trotz des Bekenntnisses tiefer Verwandtschaft mit Byrons Manfred (77, 323), audi über Manfred, wie über Faust, weit hinaus zu sein glaubt, so darum, weil er die Tragödie des Erkennenden und was dieser zugrundeliegt: die Selbstquälerei des moralischen, sich mit dem Irrglauben an seine Schuld marternden Menschen überwunden haben will (vgl. 73, 319; 74, 103; 78, 633; 83, 61, 415, 437). „Aber wir wollen auch gar nicht ins Himmelreich: Männer sind wir worden —, so wollen wir das Erdenreich" (75, 350). „Das Erdenreidi soll unser sein!" (77, 565). Siehe oben, Seite 452.

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Studie zum 34. Aphorismus

jenen Predigten führt, in denen Zarathustra — e. g. in Verbindung mit der etwas hektischen Metaphorik des Leichtsinns und des Tanzes (75, 116), der Narrheit, der „Vogelart", des Vogelflugs, des Vogel-Magens, usw. (75, 212 ff.), — höchst feierlich seine Absage an die Feierlichkeit verkündet. *

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Was macht aber den Freigeist zu dem Weisen, wie er Nietzsche in MA vorschwebt? Was erfährt er? Und was ist bei dem Versuch, die Menschheit, gemäß der Forderung des 2. Hauptstücks, „aus einer moralischen.. in eine weise Menschheit" umzuwandeln (ΜΑ 1, 97), zu gewinnen? „Die wissenschaftlichen Methoden entlasten die Welt von dem großen Pathos, sie zeigen, wie grundlos man sich in diese Höhe der Empfindung hineingearbeitet hat. Man ladit und wundert sich jetzt über einen Zank, der zwei Freunde und allmählich ganze Geschlechter rasend madit und zuletzt das Sdiick'sal der Völker bestimmt, während vielleicht der Anlaß längst vergessen ist: aber ein solcher Vorgang ist das Symbol aller großen Affekte und Leidenschaften in der Welt, welche in ihrem Ursprünge immer lächerlich klein sind." ( / V 2, 524)**. Dankbar werden alle, die „im metaphysischen Dunstkreis gelebt haben", erfahren, „wie wohl es thut in nüchterner Morgenfrisdie alle Dinge zu sehen und tiefen Athem in reiner Luft zu schöpfen" (IV 2, 537). Und endlich wird aus dem unbilligen, schuldbewußten Menschen der unschuldige (unsdiuld-bewußte), der sich aus Liebe und H a ß zum Nichtlieben, Nichthassen, Begreifen, Überschauen erhoben hat, ohne darum der kollektiven oder der eigenen Vergangenheit gram zu werden, war der Unweise doch die „notwendige Vorstufe" nicht der „Gegensatz" des Weisen (ΜΑ I, 98). Der Wechsel von Liebe und H a ß mußte vorangehen und „für eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen" bestimmen, der „frei in seinem Urteil über das Leben werden will" (ΜΑ I, 231). Der Befreite weiß, daß die Schmerzen der Loslösung von allem, was ihn bisher fesselte (Apho 34), der Mühe wert waren, daß sie „Geburtswehen" waren (ΜΑ I, 97); wie denn f ü r ihn sein eigenes früheres Leben mit seinen Irrtümern und Verstrickungen den Wert eines Werkzeugs und Mittels zur Erkenntnis gewinnt (ΜΑ I, 234), analog der historischen Entwicklung, in deren Verlauf die Irrtümer und Verirrungen der Phantasie in den überwundenen Phasen der Menschheit, denen wir so viele Schätze verdanken (Apho 20, 29), sich endlich als Mittel zur „Selbsterleuchtung und Selbsterlösung" (ΜΑ I, 98) erwiesen. Und ebenso weiß der Befreite, daß er das entlastete Leben nur der entsagenden Loslösung und der Hingabe an die Erkenntnis verdankt: daß wir, „wie die leidit lebenden Götter leben [können,] wenn wir das lebhafte Entzücken an der Wahrheit haben" (IV 2, 405); und daß man mit dieser letzten und einzigen Neigung auch die Ziellosigkeit des Daseins überwinden kann. Denn „wer weise werden will hat ein indi44

„Wie friedfertig sähe die Geschichte der Mensdiheit aus! Wie viel mehr Erkanntes würde es geben!" (IV 2, 557), — wenn nämlich die wissenschaftlichen Methoden in die Breite wirkten.

II. Versuch einer Zusammenfassung

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viduelles Ziel" (IV 2, 559), das, wie das Leben selbst, „seine Spitze im Alter" erreicht: „beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf einem Bergrücken des Lebens. Dann ist es Zeit und kein Anlaß zum Zürnen, daß der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu — deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntnis — dein letzter Laut" (ΜA I, 234 f.). Das Leben des Weisen stellt sich Nietzsche in der Phase von MA im Bilde eines „verfeinerten Heroismus" dar, wie er ihn auch an Epikur bewundert (IV 3,364). Da das Leben durch „rücksichtslose Befreiung des Geistes, welche versuchsweise einmal an allen den Vorstellungen rüttelt, welche das Leben so belastet, so unerträglich machen", „leicht und angenehm" wird, zieht man, „um die Freude dieser Entlastung zu haben, das einfachste Leben" vor, „welches uns diese Freude ermöglicht" (IV 2, 558). Man lernt, als guter Nachbar der nächsten Dinge (ΜΑ II, 178) Mäßigung und Bescheidung (wie sie auch — siehe Apha 2 — zum historischen Philosophieren nötig ist), und die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten (Apho 3)45. Man gibt sich mit der „unlogischen Grundstellung" des Menschen (Apho 31) zufrieden, übt Genügsamkeit, läßt, statt nach „Art der gebundenen Geister, irgend eine Erklärung keiner vorzuziehn", manches Unerklärte „ruhig unerklärt stehen" (IV 2, 452), lernt an sich und anderen auch die Dichterweisheit üben, Manches nur par distance und ungenau zu sehen und dergestalt zu idealisieren (ΜΑ I, 226), oder beiseitezuschieben4'. Aber auch dieser kleine Verzicht auf Erkenntnis, so scheint es, gehört nur zur geistigen Diätetik dessen, der um der Erkenntnis willen zu leben entschlossen ist, und aus ebendiesem Grunde mit dem, von dem Weisen in Apho 34 geforderten guten Temperament als „Nebenerfolg" wie von selbst belohnt wird. Denn „wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Ärger und Verdruß werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich will nichts angelegentlicher als Erkennen und das Mittel dazu, das heißt: den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen ist" (ΜΑ I, 231). Dieser Zustand aber verlangt Entsagung, Verzicht auf Begierden, auf sich und andere marternde moralische Maßstäbe und Forderungen, mithin auch die Befreiung von den Ressentiments der Unfreien, „die lange an der Kette gelegen haben" (48). Durch diese Befreiung aber wird der Weise audi die Menschen und die Welt viel harmloser finden (/V 2, 495) als der Unweise, sowie er durch die Bescheidung in einem Denken, das, statt sich mit dem „Wichtigen Wunderbaren Göttlichen" zu beschäftigen, das „Kleine Schwache Menschliche Unlogische Fehlerhafte" zum 4S

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Zur Hervorhebung der »nächsten Dinge' vgl. etwa auch IV 3, 459: „Sie haben das Gebiet der pudenda so ausgedehnt, daß ein Gespräch über Verdauung, ja über Zahnbürsten sdion für unzart gilt: und die Feineren denken folglich auch nicht über solche Dinge nach"; — eine Bemerkung, die zu Nietzsches Zeiten wohl berechtigt war, indes heute vielmehr die ersten und letzten Dinge als pudenda gelten, über welche die Feineren nidit nachdenken. Dazu die lapidare, spätere Sentenz: „Ich will, ein für allemal, vieles nicht wissen. — Die Weisheit zieht auch der Erkenntnis Grenzen" (77, 81).

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Studie zum 54. Aphorismus

Studienobjekt macht, audi „sehr viel Stolz" ablegen wird und endlich verlernen wird, „die Augenbrauen so hoch zu ziehn", da es gar nicht seine Sache ist, sich ein „Vergnügen" daraus zu machen, „das Vergnügen der Menschen zu stören" ( / V 2, 500 f.). Damit scheint aber audi die Frage: „Wie erzeugt man Menschen mit gutem Temperament?" (IV 3, 441) beantwortet zu sein, und es ist als verstünde es sich von selbst, daß, — um eine Vorform des 34. Aphorismus (vom Herbst 1877) zu zitieren, — „jene fast nervöse freigeisterische Erregbarkeit, jener Widerwille gegen die letzten Reste von Zwang und anbefohlener Mäßigung" an eine aus eigenem Willen gemäßigte, „gefestete, milde und fast frohsinnige Seele angeknüpft ist, bei der Niemand nöthig hat, gegen Tücken und plötzliche Ausbrüdie auf der Hut zu sein" (ZV 2, 580; vgl. Apho 34, Seite 48). Und überdies ist ja der „moderne Freigeist.. nicht wie seine Vorfahren aus dem Kampfe geboren, vielmehr aus dem Frieden der Auflösung, in weldie er alle geistigen Mächte der alten gebundenen Welt eingegangen sieht" (IV 2, 580). „Ohne Neid und fast bedürfnislos" geworden (ZV 2, 580), wird der Weise aber zuletzt nicht nur mit sich und andern „wie in der Natur" (47) leben; sondern er wird, da er audi gelernt hat, über sich selbst die Augen zu sdiließen (ZV 3, 365), „wie die Natur" selbst, „weder gut noch böse" sein (ZV 2, 426) 4 7 . Und endlich erscheint als Ziel, — mag die Fähigkeit zur Bewußtmachung vorausgesetzt sein oder nicht, — eine Eingewöhnung, dank derer ein über den Freigeist hinaus entwickeltes, höheres Wesen, ja eine Art Übermensch, entsteht: „Das Gehirn im Wachsen. Nur die jüngsten Theile haben ein begleitendes Bewußtsein. Die älteren arbeiten ohne diese Laterne der Controle. — Das Ziel: der Mensch eine große unbewußte Zweckthätigkeit, wie die Natur der Pflanze" (ZV 3, 444). Jedoch diese Notiz, die aus dem Juli 1879 stammt (mithin nicht zu ΜΑ I gehört), weist über die hier zu erörternde Lebenshaltung hinaus. Sie stellt offenbar das Leben um der Erkenntnis willen in den Dienst eines Ideals, das jenseits des Intellektualismus steht, das sich aus dem Erkenntnis-Streben als dessen scheinbarer Gegensatz entwickeln soll. So bedeutend aber diese Vorstellung für Nietzsdies Spätwerk wird48, wir wollen uns hier auf das für MA charakteristische Wunschbild des weisen und bewußt erkennenden Freigeists beschränken, und nun nach den Einwänden gegen dessen Wünschbarkeit fragen, insofern sie als solche von Nietzsche selbst erhoben und berücksichtigt werden. Dabei scheint es zunächst, als bereite die naheliegende Befürchtung, daß dieser 47

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Eine Forderung, die zunächst — i. e. in der „Pflugschar" (Sept. 1876), — auch aus der wertfreien Erkenntnis begründet werden soll: „Auf die reine Erkenntnis der Dinge läßt sich keine der bisherigen Ethiken gründen; aus ihr folgt allein dies, daß man sein muß, wie die Natur, weder gut noch böse. Die Forderung, gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen" (IV 2, 426). Vgl. auch die spätere Formulierung, daß jeder hohe Grad von Weisheit Freiheit von Gut und Böse in sich schließt (78, 173). Vgl. etwa 78, 308: „Man handelt nur vollkommen, sofern man instinktiv handelt. . . alles Denken, das bewußt verläuft, [ist] eine bloße Tentative . . "

II. Versuch einer Zusammenfassung

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moralisch indifferente Typus, der sich in einem Leben wie in der Natur vervollkommnet, einer regressiven Barbarisierung und Verwilderung der Sitten verfallen könnte, Nietzsche weniger Sorge als etwa die „barbarisierende Wirkung der Abstraktion und Sublimation" durch die Wissenschaft (IV 2, 556). Denn, wenn er auch, wie oben bemerkt, zugibt, daß die Vorschrift der traditionellen — religiösmetaphysisch fundierten — Moral durch den Wahrheitssinn geschwächt werden mag, so hatte doch die ältere Moral auch ihre üblen Seiten, — e. g. indem sie die Menschen durch den Glauben an ein ewiges Leben grausam machte (als Beispiel mögen die Verfolgungen, Kriege, Metzeleien im Namen der Religion gelten)"; — ist anderseits diese Moral schon in Vielem Gewohnheit geworden; und wird überdies zum Teil ersetzt und kompensiert durch den Sinn für Wahrheit und Wahrhaftigkeit selbst, — der ja als Folge und Frucht der Moralität gilt, — sowie durch die höhere Leidensfähigkeit, die geistige Verfeinerung, die überhaupt auf Entsagung aufgebaute Haltung des weisen Freigeists (vgl. auch IV 3,438 (40 [15]))®°. Gibt man sich aber damit zufrieden, so könnte man immer noch einwenden, daß der Weise wenig genieße und, was für Nietzsche schwerer wiegt, daß er wenig leistet. Zwar ließe sich nun Manches schon Erwähnte zugunsten der Wirkung des Weisen anführen51. Und ferner: Es gilt für Nietzsche als ein „Zeichen von Größe, mit geringen Gaben hoch beglücken zu können" (IV 2, 532). Die Wahrheit, — die, soweit das menschenmöglich ist, vom Weisen verkörpert wird, — ist „einflußlos wie die gehende Sonne" (7V 2, 471) und beglückt, erhält, wirkt doch für das veredelte Leben durch ihr Dasein, bringt die Menschen aus ihrer Trägheit, stört sie auf, selbst wenn sie ein Gegenstand ihres Hasses ist oder —, was die Regel zu sein scheint, — von ihnen ignoriert wird. „Der Weise spricht: Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke, Zieh' ich des Weges, Sonne bald, bald Wolke — Und immer über diesem Volke!" (74, 23) Dennoch könnte sich fragen, ob der Befreiung im Geist und in der vita contemplativa nicht die Befreiung im Handeln, im tätigen Leben folgen sollte. Nietzsche notiert selbst den Einwand: „Fünf kleine Handlungen der Freiheit wirken mehr als alle Freidenkerei" (IV 2, 405). Gesetzt das wäre so, was soll dann die überlegene Geste, mit der, am Ende des 34. Aphorismus, der Freigeist, den Anspruch auf mehr als das „furchtlose Schweben" (48) über allen menschlichen Dingen 49

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„Wird an ein ewiges Leben geglaubt, und das irdische Leben niedrig geschätzt, so ist die Schonung nidit so nöthig, also die Grausamkeit größer" (IV 3, 454). Die Notiz, übrigens analog Burdkhardt (BuWB, 53—55), stammt aus dem Jahr 1879; der Gedanke selbst ist aber audi für die Phase von ΜΑ I vorauszusetzen. In späteren Phasen wird dies wieder zweifelhaft und gilt audi nicht als wünschenswert: „Der Weise und das Tier werden sidi nähern und einen neuen Typus ergeben!" (82, 332). Es erübrigt sidi auf den Immoralismus, die blonde Bestie, usw. hinzuweisen. Siehe oben, Seite 467 f.

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Studie zum 34. Aphorismus

ablehnt? „ . . wer mehr von ihm will, den weist er, ein wenig Spott auf der Lippe, mit wohlwollendem Kopfschütteln, hin zu seinem Bruder, dem freien Mensdien der That: mit dessen .Freiheit' es freilich eine eigene Bewandtnis hat, über welche manche Geschichte zu erzählen wäre" (IV 2, 581). Aufschluß verspricht ein Aphorismus der Morgenröte: Die „Freitäter", d. h. die Mensdien, „welche durch die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen", heißen „im allgemeinen" „Verbrecher". Sie sind „im Nachteil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Taten als von Gedanken leiden". Die Tatsache, daß der Verbrecher von der modernen Gesellschaft eher bestraft wird als der Freigeist und daher de facto geringere Freiheit hat, impliziert aber noch kein Werturteil. Bedenkt man, daß die Freitäter wie die Freidenker „ihre Befriedigung suchen, und daß den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung gibt, so ist in Ansehung der Motive alles eins: und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, daß man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit — das heißt: nicht wie alle Welt urteilt" (73, 25). In Umkehr der gängigen Auffassung, sowie der oben angeführten Notiz (7V 2, 405), nimmt Nietzsche hier also an, daß die Freidenkerei auch weiter reichende Konsequenzen habe als die Freitäterei, argumentiert also, entsprechend dem späteren, — auf seine eigenen Werke zielenden, — Diktum: „Gedanken sind Handlungen" (83, 265), das sich nun allerdings nicht auf jene „vollkommene Erkenntnis" beziehen kann, von der der junge Nietzsche meint, sie „tötet das Handeln" (82, 31). Im Ganzen mag sich Nietzsche in der Periode von MA in einer, ihm selbst noch problematischen Weise zwischen den beiden angeführten Extremen bewegen, obschon die Abwehr gegen die vita activa überwiegt. Auch in der Morgenröte heißt es, daß die Täter es „in sich" nicht „aushalten" und daher nach dem „Aufgehen in einem ,Außer-sich'" „dürsten". „Und so wäre vielleicht doch der Tatendrang im Grunde Selbstflucht?" „Man erwäge doch, . . . daß vier von den Tatendurstigsten aller Zeiten Epileptiker gewesen sind (nämlich Alexander, Cäsar, Mohammed und Napoleon): so wie auch Byron diesem Leiden unterworfen war" (73, 310 f.). Der Freigeist, der dem Trug entrinnen will, bedarf des Zweifels, lebt als Denker in und dank seiner Skepsis. „Sobald ihr handeln wollt, müßt ihr die Tür zum Zweifel verschließen, — sagte ein Handelnder. — Und du fürchtest dich nicht, auf diese Weise der Betrogene zu werden? — antwortete ein Beschaulicher" (73, 291). Der Handelnde ist vergleichsweise blind, unfreier als der Freidenker, muß sich durch seine eignen Taten vom Leben fesseln lassen und sich darein verstricken; hingegen der Freigeist nur „leicht" an das aktive Leben gebunden und „kein Sklave desselben" ist. Und was noch mehr bedeutet: „Die activen Menschen verbrauchen nur die von den kontemplativen gefundenen Ideen und Hülfsmittel" (IV 2, 400).

II. Versuch einer Zusammenfassung

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Nietzsches Argumente gegen die Tätigen sind offenbar mit-bedingt von seiner .unzeitgemäßen' Geringschätzung des tätigen, auch des politischen und nationalen Lebens seiner Zeit. Die „moderne Unruhe" (ΜA I, 230), d. h. der „Wahnsinn der Bewegung", der „nach dem Westen zu . . immer größer" wird und in Amerika sein Maximum erreicht (IV 2, 402), macht, daß die höhere Kultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann und „unsere Zivilisation" „aus Mangel an Ruhe" „in eine neue Barbarei" ausläuft (ΜΑ I, 230). Gegenüber dieser „modernen Hätz" gehört „Wiederherstellung der Ruhe und Stille für das Reich des Intellektes, Beseitigung des modernen Lärms" (IV 2, 400) und Verstärkung des beschaulichen Elements zu den „notwendigen Korrekturen" (ΜA I, 230). „Hauptmangel der tätigen Menschen" ist, daß ihnen als „Gattungswesen" die „höhere" — „die individuelle" — Tätigkeit fehlt. Sie „rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik", sind „Sklaven"; „denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter". Und es sind gerade die Gelehrten, die „jetzt mit den tätigen Menschen in einer Art von hastigem Genüsse" wetteifern, sich „des otium", der edlen Muße schämen (ΜΑ 1, 229) und, da ihnen „Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt", den Freigeist „in Verruf" bringen, da sie an ihm „ihre Gründlichkeit", „ihren Ameisenfleiß" in „einem einzelnen Winkel der Wissenschaft" vermissen, während er die „ganz andere und höhere Aufgabe" hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissensdiaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Kultur zu zeigen" (ΜA I, 228). Den Vorteil seiner Zeit sieht Nietzsche, — analog der Meinung Burckhardts, — in der, dank der „Aufhellung der Welt" und der Milderung jedes „Fanatismus des Meinens" ermöglichten Freiheit zu umfassender Betrachtung, in der es sidi — „das ist der moderne Haken" — jedoch nur gut leben läßt, „wenn man eben nur begreifen, nicht mitmachen will". Denn: „Die Mitmachenden erscheinen weniger reizvoll als je; wie dumm müssen sie sein!" (IV 1, 113). Kurz: die Zeit zur Freiheit des Handelns ist noch nicht gekommen. Zwar der „Weg vom Freidenken geht nicht zum [individuellen] Freihandeln . . sondern zum regierungsweisen Umgestalten der Institutionen" (IV 2, 466). Aber bis dahin es ist noch weit, und so taudit der, audi im Sorrenter Sommer ernstlich erwogene Gedanke der „Klöster" für Freigeister auf, „um ein freundschaftliches Zusammenleben in größter Einfachheit für Menschen zu ermöglichen, welche mit der Welt sonst nichts mehr zu thun haben wollen" (IV 2, 401). Neue Möglichkeiten des Lebens erfindend und alte abwägend, wie es dem Zeitalter der Vergleichung entspricht (Apho 23), lebt der Freigeist für sich und die Zukunft der Menschen. Und in diesem Sinne warnt er auch, „namentlich die feurigen überzeugungsdurstigen Jünglinge", seine Lehren „nicht s o f o r t . . wie eine Richtschnur für das Leben zu betrachten, sondern als wohl zu erwägende Thesen, mit deren praktischer Einführung die Menschheit so lange

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•warten mag, als sie sidi gegen Zweifel und Gründe nicht hinreichend geschützt haben" (IV 2, 558)". Dennoch besteht das Problem der moralischen Loslösung im Handeln sdion in M A , wenn es auch erst später akut wird. Der oben zitierte Aphorismus der Morgenröte

will, im Zuge der Kampagne gegen die Moral, die Verbrecher exone-

rieren („Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle jene bedacht haben, welche durdi die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen"; 73, 25, vgl. auch 75, 39 f.). U n d wenn sie im großen Stil erfolgreich waren, so daß man das bestehende Sittengesetz, das sie umwarfen, „hinterher.. nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab", so kehrte sich auch die ursprüngliche Einschätzung um: „ . . die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche später gutgesprochen

worden sind!" (73, 25). Aber

schon zur Zeit von Μ Α fragt Nietzsche: „Wenn ein Mörder nicht das Böse seiner Handlung anerkennen will und sich das Redit nimmt, etwas gut zu nennen, was

51

Zu dem Thema der Distanzierung von den Bindungen an das Leben, vgl. audi den Abschnitt über Weib und Kind, der dem Freigeist Ehe- und Kinderlosigkeit empfiehlt und mit den Worten des Sokrates im Gefängnis schließt: „O Kriton, heiße doch jemanden diese Weiber da fortführen!" (ΜΑ I, 278). — Gegenüber den Forderungen des öffentlichen Lebens hält der Freigeist an dem sdion in den UB ausgesprochenen Leitsatz: „öffentliche Meinungen — private Faulheiten" fest (ΜΑ I, 311; vgl. 71,200), wie er auch an der prinzipiellen Opposition gegen den Bismarckschen Großstaat festhält. Er ist überhaupt dem Dienst am Staat fast ebenso abgeneigt wie dem revolutionären Aktivismus. Er enthält sich der Politik (ΜΑ I, 280), insbesondere der Dummheiten der Parteien, die zur Zeit allesamt demagogischen Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, haben und haben müssen (ΜΑ I, 279). Er weiß, daß „ganz andere und höhere Aufgaben gestellt sind als patria und honor" (MA I, 282; auch IV 2, 401: „Es ist ein böses Symptom, daß man von der Vaterlandsliebe und der Politik ein solches Aufheben macht. Es scheint, daß nichts Höheres da ist, was man preisen kann"). Die Staatsmänner sind ihm nur „die anscheinenden Wettermacher der Politik" (ΜΑ I, 285 f.). Die Arbeit für die Größe des Staates fordert so ungeheure Einbußen an individueller Energie und Arbeit, „daß das politische Aufblühen eines Volkes" zugleich seine „geistige Verarmung und Ermattung" „fast mit Notwendigkeit nach sich zieht". Die politische Macht ist das kulturelle Opfer nicht wert (ΜΑ I, 310 f.). Wie die Entschiedenheit des Denkens und Forschens den Freigeist im Handeln mäßig macht, seine Begehrlichkeit schwächt und seine Energie absorbiert, so lehrt sie ihn auch das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen politischen Veränderungen (ΜΑ I, 294). Er anerkennt die Notwendigkeit der Umgestaltung von Staat, Heer, Schule, Familie (ΜΑ I, 286 f.), auch der Umgestaltung der Besitzverhältnisse (ΜΑ I, 287 f.), wünscht aber bei alldem, um der kulturellen Werte willen, Vorsicht und langsame Entwicklung. Er ist gegen Revolution (ΜΑ I, 293 f.), gegen die Sozialisten (ΜΑ I, 283 f.). Der Sozialismus gilt ihm als reaktionär, da er soviel Staat als möglich will, hingegen der Freigeist sowenig Staat als möglich will (ΜΑ I, 302 f.). Er wünscht das Zugrundegehen des Staates zugunsten der Privatpersonen (ΜΑ I, 300 f.), will als guter Europäer gelten, ja „durch die Tat an der Verschmelzung der Nationen arbeiten" (ΜΑ I, 304), jedoch ohne utopische Hoffnung auf einen dauernden Frieden, da er einzusehen meint, „daß eine solche hochkultivierte und daher notwendig matte Menschheit, wie die jetzigen Europäer . . . der größten und furchtbarsten Kriege — also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei — bedarf, um nicht an den Mitteln der Kultur ihre Kultur und ihr Dasein selber einzubüßen" (ΜΑ I, 307).

II. Versuch einer Zusammenfassung

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alle Welt böse nennt, so löst er sich aus der Entwicklung der Menschen: müssen wir ihm dies Recht zugestehn? Wenn einer sogenannte schlechte Handlungen durch Loslösung von den hergebrachten Urtheilen und Aufstellung der Unverantwortlichkeit rechtfertigte, dürfen wir sagen: „nur rein theoretisch darf er so etwas aufstellen, nicht aber praktisch darnach handeln"? Oder: „als Denker hat er Recht, aber er darf nicht Böses thun". In wie weit darf sich das Individuum lösen von seiner Vergangenheit? So weit es kann? Und wenn es einsieht, daß in dieser Vergangenheit falsche Urtheile, Rücksichten auf grobe Nützlichkeit wirkten? Daß der Heiligenschein um das Gute, der Schwefelglanz um das Böse dabei verschwindet? Wenn die stärksten Motive, aus der Ehre und Schande des Mitmenschen entnommen, nicht mehr wirken, weil er die Wahrheit diesem Urtheile entgegenstellen kann?" (/V 2, 547). Entscheidend ist bei all dem, das der Freigeist zwar Befreiung von Schuld, nicht aber, — wie etwa de Sade, — Freiheit zum amoralischen Handeln und zu Verbrechen begehrt, daß es Nietzsche in MA um die „Erzeugung einer höheren Kultur" (ΜA I,281) geht, mag auch im „Wanderer und sein Schatten", dem späteren Anhang zu ΜA II (Entstehungszeit 1879), analog dem Rückblick Nietzsches aus den 80er Jahren, der Zustand des Erkennenden schon vom Tätigen aus gesehen und relativiert werden, e. g. als ein Tod mit wachen Augen, oder als eine Pause zwischen vorangegangenen und folgenden Phasen der Aktivität (ΜΑ II, 318). Daß für den späten Nietzsche die vita contemplativa in dem Sinne, wie sie dem Freigeist von MA vorschwebt, nicht mehr vorbildlich sein kann, versteht sich: Gilt ihm doch nun als Aufgabe, „die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen, und so, daß der Faden immer mächtiger wird", wobei „unsäglich viel mehr an Dem, was man ,Leib' und .Fleisch' nannte" liegt, als an dem „Rest" („Herz, Seele, Tugend, Geist") (78, 450 f.). Allerdings wird auch dann das Problem nicht einfach zugunsten des Täters gelöst, vielmehr der Unterschied zwischen den Aktiven und den Kontemplativen relativiert, da „die Kraft zur mächtigsten Realität der Vision" die „mächtigste Kraft zur Tat, zum Ungeheuer der Tat, zum Verbrechen" voraussetzen soll (77, 324) und zugleich das Reflexmäßige, Atypische der einzelnen Tat, — auch des Verbrechens, — betont wird (78, 167 f.). Immerhin heißt es nun mitunter: „Alle großen Werke und Taten, welche stehngeblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, — waren sie nicht alle im tiefsten Verstände große Unmoralitäten? ..." (78, 269). Und höher als die Philosophie, die in das Leben einen Sinn hineinlegt steht die „Ausdeutung der Tat" (d. h. durch die Tat), die nicht bloß „begriffliche Umdichtung" ist (78, 415), wie denn nun auch die Rehabilitation des Verbrechers, der sich „seine eigne Art von Tugend, — Tugend im Renaissancestile freilich, virtu, moralinfreie Tugend" — erwarb (78, 498), zum Programm wird, und Nietzsche den Menschen „der großen Liebe und der großen Verachtung" will, „den seine überflüssige K r a f t . . . mittenhinein in die Welt treibt" (82, 415).

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Für die Auslegung des 1. Hauptstücks kommt derlei aber kaum in Betracht. Denn selbst wenn den Autor von MA die Rechtfertigung des Freidenkers gegenüber dem Freitäter Bedenken macht, so ist doch in dem f ü r diese Phase charakteristischen Denken Nietzsches dieses Problem nicht vordringlich, da f ü r ihn eine andere Befreiung als die zum eigenen Denken und zur kontemplativen Existenz nicht ernstlich in Frage kommt. Und dennoch ist zugleich das, was f ü r Nietzsche audi damals das Ideal des freigeistigen Weisen wiederum problematisch macht, der Entfremdung vom aktiven Leben eng verwandt. Es berührt sonderbar, daß in einem der Pläne Nietzsches, der eine Anordnung von zu behandelnden Themenkreisen enthält, neben der Notiz „Höchste Erleichterung des Lebens" die Worte „fatum tristissimum" folgen (IV 2, 442 [19 (66)]) M . Der Freigeist, der diese Erleichterung wohl erreicht hat, ist „Philosoph aus Vergnügen", fragt sich nur „worin" sein Vergnügen liege (vgl. IV 2, 443 (19 [72])). Denn was heißt das eigentlich „Über den Dingen" sein? „Wer die Präposition ,über* ganz begriffen hat, der hat den Umfang des menschlichen Stolzes und Elendes begriffen: Wer über den Dingen ist, ist nicht in den Dingen — also nicht einmal in sich!" Zwar „das letztere kann sein Stolz sein" (IV 2, 399), wie Nietzsche sogleich hinzufügt. Aber wird er, der nicht in sich ist und an nichts mehr hängt, noch Ursache dazu finden und Vergnügen daran haben, auf irgendetwas stolz zu sein? Wie steht es überhaupt mit der Vitalität des Weisen? Ist sein Streben nach Weisheit am Ende bloß Kompensation seiner mangelnden Kraft, das Leben produktiv zu gestalten? Zwar heißt es in der „Pflugschar", man werde „jetzt", in einer Epoche, da der Mensch ein Lebensalter braucht, um sich von den Irrtümern religiöser Meinungen zu befreien, „zu gleicher Zeit weise und kraftlos" (IV 2, 413), hingegen man „den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.. wie die ersten Zähne verlieren" sollte, denn „dann wächst einem erst das rechte Gebiß" (/V 2, 412). Jedoch fragt sich, ob diese Überlegungen genügen, um die durch die vorangegangene Apologie der Weisheit erregten Bedenken zu beschwichtigen: „Ohne Productivität ist das Leben unwürdig und unerträglich: gesetzt aber, ihr hättet keine Productivität oder nur eine schwache, dann denkt über die Befreiung vom Leben nach, worunter ich nicht sowohl die Selbsttödtung, als jene immer völligere Befreiung von den Trugbildern des Lebens verstehe — bis ihr zuletzt wie ein überreifer Apfel vom Baume fallt. Ist der Freigeist auf der Höhe angelangt, so sind alle Motive des Willens an ihm nicht mehr wirksam, selbst wenn sein Wille noch anbeißen möchte: er kann es nicht mehr, denn er hat alle Zähne verloren" (IV 2, 412). Man könnte einwenden, Nietzsche habe sich in der Zeit, aus der diese Notiz stammt, nämlich im September 1876, eben erst von dem Ideal des produktiven 53

Vgl. dazu und zu dem folgenden audi oben, Seite 447 (IV 1,169 f.).

II. Versuch einer Zusammenfassung

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Künstlers (Wagner) zu lösen begonnen, wie er anderseits offenbar noch im Bann des Schopenhauerschen Ideals der Negierung des Willens bleibt. Dennoch könnten die hier und im Folgenden ausgesprochenen Bedenken gegen das neue Ideal für ihn stichhaltig bleiben. Ist nicht, wie es in der „Pflugschar" heißt, „die Seelenunruhe, welche die philosophischen Menschen an sich verwünschen; . . vielleicht gerade der Zustand, aus dem ihre höhere Productivität hervorquillt"? „Erlangten sie jenen völligen Frieden, so hätten sie wahrscheinlich ihre beste Thätigkeit entwurzelt und sich damit unnütz und überflüssig gemacht" (IV 2, 414). Und gelten nicht auch prinzipiellere Einwände? Die Philosophie mag den Menschen von Todesangst, von „der Furcht auf dem Sterbebette" befreien, „weil da nichts zu fürchten ist" ( / V 2, 435). Sie schenkt ihm „Unverantwortlichkeit" (IV 2, 418); sie kann ihn „allmählich" „von der Reue und Gewissensqual nach der That" befreien, da er einsehen muß, daß „jede That ganz unvermeidlich war". Und selbst den Unmut über die Tat, die er zwar notwendig beging, deren Unvernunft er aber einsieht, wird er sich vielleicht abgewöhnen lernen (IV 2, 435). „Wenn aber die schlechte ungeschickte Handlung keinen Unmuth nach sich zieht, so würde die kalte Gesinnung, welche man sich in Hinsicht der Vergangenheit angewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln der Menschen durch die Anticipation der zu erwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese weg, so hielte ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin. Er würde in Hinsicht auf das Kommende ebenso kalt wie in Hinsicht auf das Vergangene. Jetzt träte die kalte Überlegung ein, ob Leben dem Nichtleben vorzuziehen sei: und der Selbstmord aus Besonnenheit wäre die Folge" (IV 2, 436) 54 . Was uns hier angeht, ist nicht der moralische Aspekt, da oben angenommen wurde, die Verfeinerung der Freigeists würde für seinen prinzipiellen Amoralismus kompensieren, — sondern der Mangel an Motivationen im Dasein des vollendeten Freigeists. Zwar die Philosophie hat „durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit, sondern nur auf sie selber zu achten" (IV 2, 457) und daher gegen die Menschen „und auch jede philosophische Ethik", welche auf „Verantwortlichkeit" bestehen, die Unfreiheit des Willens zu betonen, ebenso wie sie darauf bestehen muß, „daß das Leben des Menschen als Ganzes keine Folge der Empfindung in Lust oder Unlust" hat (d. h. kein Jenseits). Entscheidend ist aber, daß der Widerstand der Unvernünftigen in diesem Punkte aus der Furcht, „den Glauben an den Werth des Lebens zu schwächen und die Lust zum Selbstmorde zu ermuthigen" entspringt, sich mithin „der Wille zum Leben.. gegen die Schlüsse der Vernunft [wehrt] und . . diese zu trüben" versucht (IV 2,457), hingegen das vom Weisen geforderte gute Temperament (Apho 34), insofern es dem Leben wohlwill, mit seiner Erkenntnis, seiner Einsicht in Widerspruch zu stehen scheint. 54

Vgl. die weitere Verarbeitung IV 2, 456 f.

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Studie zum 34. Aphorismus

Vergegenwärtigen wir uns nodi einmal charakteristische Positionen Nietzsches bezüglich des Erkenntnisproblems entsprechend den zugegebenermaßen nur als Hilfskonstruktionen brauchbaren ,Phasen' seines Werks: 1. In der GdT nimmt Nietzsche Partei gegen den Optimismus der Erkenntnis (i. e. der Wissenschaft, des Sokratismus), identifiziert sich aber mit dem vorgeschrittenen Sokratiker, insofern dessen Verzweiflung an dem Wahn der Wissenschaft, das Dasein von Grund auf zu erfassen und verändern zu können, umschlägt in die wahre dionysische Einsicht und/oder in eine dionysisch-apollinische, d. h. tragische Auffassung und Gestaltung des Lebens. Dadurch sind zwei Möglichkeiten gegeben: entweder lethargische Sehnsucht nach Selbstauflösung (repräsentiert durch Hamlet und reiner: durch das indische Verlangen nach dem Nirvana) oder tragische Lebens- und Weltbejahung. Über die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheidet das ,Temperament' des Menschen. 2. In ΜΑ wendet sich Nietzsche ebenfalls gegen den vom Optimismus der Logik beherrschten, auf melioristische Wirkung und Lebensinterpretation abzielenden Sokratismus, der aber nun als Gegner der Wissenschaft gilt; und nimmt Partei für die Wissenschaft, die allerdings, da sie durch Erkenntnis der Erkenntnis selbstkritisch geworden ist, wiederum entweder zu einer Selbstvernichtung des Erkennenden, oder, durch Lebensweisheit eingedämmt, zu einer freischwebenden Betrachtung aller Dinge führt; wobei wiederum zwischen den zwei Möglichkeiten nur eine Differenz aufgrund des Temperaments (i. e. nicht aufgrund verschiedenartiger Einsicht) besteht. 3. Dem Spätwerk entspricht zumindest als eine Möglichkeit, die Position des Pan-Illusionismus. Von dieser aus erscheint alle menschenmögliche Erkenntnis und jedes Erkenntnis-Streben, — ob optimistisch-meliorisierender Sokratismus oder radikal ,illusionslose' (und zugleich doch Wahrheit-gläubige und also illusorische) Bemühung als bloße Optik des Lebens, die symptomatisch ist für die vitale Substanz. Mag der von der Glüdk-Suche gelenkte Sokratismus zur decadence der,letzten Menschen' führen; der radikale Erkenntniswille hat ebenso als Symptom der decadence zu gelten, da er das Leben verneint und zur Selbstvernichtung drängt, ist aber zugleich als Einsicht in das Illusionäre aller Erkenntnis nötig, um die höchste Manifestation der Vitalität: die bewußte und umfassendste Bejahung schöpferischer Illusion, als Antwort auf die umfassendste Verneinung hervorzutreiben. Und so sind abermals die entscheidenden Differenzen Sache des ,Temperaments'55. 45

Diese Perspektive des Perspektivismus wäre ausführlicher zu rekapitulieren: In der Vorrede zur GdT zieht Nietzsche aus den Tentativen seines früheren Denkens die Konsequenz, daß die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers (i. e. des Spiels, der Illusion), die Kunst aber unter der des Lebens zu betrachten sei (70, 32). Als das Wesentliche des Frühwerks scheint ihm nun, daß die Wissenschaft selbst als Problem gesehen wird, und zwar in allen ihren Varianten. Denn nicht nur die optimistischen oder die pessimistischen, sondern audi die indifferenten Weisen der Erkenntnis gelten unter dem Primat

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Dieser summarische Überblick deutet an, inwiefern für Nietzsche ,Erkenntnis' das zentrale Problem ist. Der Mensch ist inkarnierte „Dissonanz" (70, 189 f.), Dividuum (ΜΑ I, 69), indem er sidi als Erkennender der Disharmonie zwischen des Lebens als .künstlerische' Fiktionen. — Konsequenterweise wäre freilich auch dieses Ergebnis wieder als optische Illusion aufzufassen. Mag sich Nietzsche aus diesem sich selbst verzehrenden Zirkel in eine Metaphysik, — bzw. als ,an sich* bestehend gedachte Physis, — des sich selbst verzehrenden Zirkels (i. e. in eine Physik oder Metaphysik des Willens zur Macht als ewige Wiederkehr) retten, und den Übermenschen als das Wesen definieren, das angesichts dieses an sich bestehenden Selbstverzehrs die Allbejahung denkt, fühlt, lebt: — auf die entscheidende Frage nach dem Wert des Daseins kann Erkenntnis, — sei es, daß sie sich selbst als Fiktion entwertet, sei es, daß sie die ,an sich* wert- und sinnlose, oder wert- und sinnfreie Bewegung (als Wille zur Macht und ewige Wiederkehr) zu erfassen vermeint, — keine Antwort geben. — Die reine Erkenntnis fällt, —, wie schon das 1. Hauptstück ausführt, — keine Werturteile. — Nun geht aber Nietzsche insofern weiter, als er meint, daß der Versuch, zu nichts als reiner Erkenntnis zu gelangen und in ihr zu verharren, seinerseits das Extrem eines lebensfeindlichen Asketismus darstelle, mithin der Ausdruck radikaler, nihilistischer (ent-wertender) Dekadenz sei (vgl. etwa die Genealogie). Und mit dieser Entwertung der Entwertung soll, gemäß dem Prinzip der Umkehr und der dynamischen Einheit der Gegensätze, auch wieder die positive Möglichkeit der Wertsetzung freiwerden. Nur aus der äußersten Krankheit oder Bedrohung des Lebens kann die Umkehr zur gesündesten Gesundheit erfolgen: Nur die Einsicht, daß alles wert- und sinnlos oder wert- und sinnfrei ist, kann als höchster Anreiz zu schöpferischen Wertsetzungen und Sinngebungen wirken. Denn für den Stärksten muß sich gerade der schwerste, der vernichtendste Gedanke (i. e. Einsicht in die leere Wiederkehr) als höchstes Stimulans erweisen. — Die Selbstauflösung der Erkenntnis, welche sich auf die uns eigentlich angehende Wert-Frage beziehen will, wird so zur condition sine qua non des Ubermenschen, dessen Übermenschentum ebendadurch zu Stande kommt, daß die alles auflösende Einsicht als Herausforderung der künstlerisch-schöpferischen Lebenskraft erlitten und genossen wird. Weil Gott, — die sinn und wert-verleihende Instanz außer- und überhalb des Menschen, — tot ist, kann der Übermensch werden. — Die dem 1. Hauptstück gemäße Annahme, daß die Einsicht in die Wert- und Sinnlosigkeit ,die Wahrheit' sei, bliebe also bestehen, es sei denn, daß man, was auch möglich wäre, diese Annahme in Anbetracht der Fiktionalität aller ,Wahrheit' auch nur für eine optische Illusion halten will. Selbst unter dieser Voraussetzung hat aber die mit dieser Fiktion gegebene Optik, — weil sie den Menschen völlig auf sein eigenes Schöpfertum (seine wertschaffende Eigentätigkeit) verweist, — im Rahmen des Spätwerks als die potentiell vornehmste, den Menschen steigerndste, ja vergöttlichende zu gelten, d. h. als die höchste Prüfung, aus der, wenn sie nicht bestanden wird, sich zwar der negative Untergang oder Verfall des Menschentums (bis zu den zäh dahinvegetierenden letzten Menschen des Zarathustra) ergibt, wenn sie aber bestanden wird, der positive Untergang des Menschentums und der Übergang zum Übermenschen erfolgen soll. — Unter allen Umständen ist es also nur eine Frage der Vitalität (des Temperaments), wie der Einzelne auf jene Einsicht oder wahrscheinlichste Hypothese reagiert, die ihm jede auf Wert:Unwert bezogene Gewißheit nimmt und ihm alles erlaubt. Von dem geistigen Menschen, in dem ja audi der späte Nietzsche bisweilen den Willen zur Macht kulminieren läßt, wird verlangt, daß er, indem er als Erkennender den Erkenntniswillen in sich aufhebt, zum Schöpfer und Gesetzgeber neuer Werte werde. Nietzsche fordert also Sinngebung aufgrund des Unglaubens an einen gegebenen Sinn, geistige Gesetzgebung aufgrund des Unglaubens an ein gegebenes Gesetz, und diese geforderte Reaktion, bzw. Aktion, soll allein aus der vitalen Gesamtresultante, dem gesteigerten Temperament, der Vornehmheit und kreativen Gesundheit des Schaffenden entspringen.

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Studie zum 34. Aphorismus

seinem Streben nach Wahrheit und seinem Leben in der Lüge bewußt wird, und als Wert-Fordernder an das Wert-lose herantritt. Als Anspruch auf Erkenntnis und auf Realisierung der Werte (des Gut und des Böse) bleibt der Sündenfall nach dem Genuß vom Baum der Erkenntnis audi Nietzsches Thema. Dieser Sündenfall aber soll rückgängig gemacht werden, indem der Mensch begreift, daß es Werte an sich nidit gibt, daß an sich nichts gut und nichts böse ist und daß nur er selbst kraft seiner schöpferischen Eigenmacht den Wert und den Unwert (Gut und Schlecht) aus freiem Ermessen erschafft. Wie aber sieht nun von dem Standpunkt der hier statuierten späten Phase das Ideal des Freigeists am Ende des 34. Aphorismus von ΜΑ I aus? Wird hier nicht, umgekehrt als in der frühen und in der späten Periode, die den dionysischen Zustand als intensivstes Leben verherrlicht, eine Neutralisierung der Impulse durch deren systematische Schwächung angestrebt? Wie nah ist die Lebenskunst dieses Losgelösten der Verzweiflung verwandt, die, um nicht in der Unwahrheit des Lebens zu bleiben, den Tod ersehnt! Das Element der Lebensbejahung ist auf ein Minimum beschränkt, das den Freigeist zur N o t nodi im Dasein festhält. Ist die Freiheit von den „gewöhnlichen Fesseln des Lebens" (48) nicht auch Freiheit von den Vorstellungen, die dem Leben Wert verleihen? Was taugt die Milde und der Frohsinn des Weisen, die er, ebenso wie die Freiheit von Tücke und Galle seiner Entwöhnung von der „Kette" verdankt, an der die andern Menschen liegen, wenn ebendiese Kette auch die der Lust und Unlust ist und aller jener Irrtümer, die allein die Menschenwelt „so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schöße tragend" (43) machen? Sind aber alle Motive und Illusionen in dem weisen Freigeist dermaßen geschwächt, daß er am Leben nicht mehr hängt, sondern, nur noch mit dünnsten Fäden gehalten, darüberschwebt, so bedürfte es wohl nur eines geringen Anstoßes, um den Losgelösten dazu zu bewegen, den letzten Lebensfaden zu zerschneiden. Die praktische Lebensverneinung wird hier verstanden als eine leise negative Trübung oder Verunreinigung der Indifferenz, die praktische Lebensbejahung als eine leise positive Verunreinigung oder Trübung des reinen Denkens, wie denn auch dieser Weise jeder „Tat" entsagt (48) und sich in Wahrheit auf das Leben überhaupt so wenig einläßt als das ein Lebender nur kann. Das Ergebnis dieser Paraphrase im Sinne des späteren Nietzsche wäre also wohl, daß der weise Freigeist ein Nihilist ist oder sein will, einer der seinem Hang zur Entwertung aller Werte folgt und nur noch einem fast verflüchtigten Restbestand von illusorischen Motiven, vor allem aber der Lust an wertfreier, tatloser Betrachtung, die doch ihrerseits auf der Illusion des Wahrheit-Glaubens beruht, seine kümmerliche Existenz verdankt. Und wenn auch sein Bild mit Hilfe von dichterischen Mitteln und Beschönigungen ins Tröstliche transponiert wird: mit diesem schwebenden, nihilistischen Indifferentismus, der dem sich selbst vernichtenden Indifferentismus fast zum Verwechseln ähnlich sieht, — so könnte das abschließende Urteil lauten, — ist jedenfalls das Problem von Er-

II. Versuch einer Zusammenfassung

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kenntnis und Leben nicht zu lösen, da nämlich dieses Problem gerade dann am wenigsten als gelöst gelten kann, wenn die Erkenntnis das Leben bis zur Ohnmacht geschwächt hat, statt es im guten Agon aufs höchste zu intensivieren. So viel sich nun audi wiederum gegen ein derartiges Urteil einwenden ließe, so einleuchtend ist es doch, daß der spätere Nietzsche ein derartiges, an der Kippe zur Selbstvernichtung hinschwebendes Phantasiebild vor Augen hat, wenn er es als Ausdruck einer Phase in dem Prozeß seiner Krankheit und Genesung auffaßt, in der sich, wie er nun meint, der zähe Wille zur Gesundheit „oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt", wobei aber jenes „Gefühl von VogelFreiheit, Vogel-Umblidk, Vogel-Übermut", der Emanzipation von Liebe und Haß, Ja und Nein, kurz: der Zustand der Losgelöstheit sich als prekäre Entfernung vom Leben selbst erweist. Heißt es doch in Nietzsches eigenem Rückblick: „Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspenstig, fast mißtrauisch" (ΜΑ 1, 8 f.) — Beweis genug, daß ihm das Wunschbild der Indifferenz nun als Schwebezustand an der Lebensgrenze gilt. Wo aber dieses innerhalb der autobiographischen Darstellung nur als Symptom des Ubergangs und der anhebenden Rekonvaleszenz aufgefaßte Ideal als Endprodukt der Weisheit statuiert wird, fällt das Urteil des späteren Nietzsche härter aus: So sagt Zarathustra: „Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst" (75, 8), d. h. von einer auf passives Vegetieren reduzierten Vitalität und einer auf Abstraktion beschränkten, schattenhaften Geistigkeit. Durchaus ist dies auch auf das Ideal des 1. Hauptstücks zu beziehen, gelten doch dem späteren Nietzsche „Gerechtigkeit, Mäßigung" im Grunde als „Utopien* (82, 339); und er betont, daß er gegen jene, die Illusionen zerstören-wollende Weisheit schon in seiner Frühphase Stellung genommen habe (82, 388); ja, daß „,Weisheit' als Versuch über die perspektivistischen Schätzungen.. hinweg zukommen" „ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip" sei (78, 416). Unter der Voraussetzung einer in allem Wesentlichen negativen Erkenntnis der Erkenntnis, — also der Unmöglichkeit, aus dem was als unverrückbar seiend, als positive Wahrheit zu gelten hätte, eine Anleitung zur Gestaltung des Lebens zu gewinnen, — gilt dem späten Nietzsche daher auch als „Problem der Weisheit" nicht ihr Verhälnis zur Erkenntnis, sondern etwa der „Widerspruch der Güte und des Scfcöp/erwc&ew" (83, 459). Nun quält zwar, wie wir wissen, das gleiche Problem (und damit die Mitleidsanfälligkeit, die sich noch im Wahnsinnsausbruch manifestieren wird) Nietzsche auch schon zur Zeit von MA, nämlich in Form der Bejahung von Härte und Grausamkeit als notwendige Bedingungen für den höchsten Typus der Kultur und des Genies56; es tritt aber in den Schriften dieser Periode hinter dem Erkenntnisproblem zurück. 50

Siehe oben, Seite 45 f.

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Studie zum 34. Aphorismus

Was aber den Konflikt zwischen der Freude an der Erkenntnis und dem Leiden, das sie verursacht, in Hinblick auf MA und das 1. Hauptstück angeht, so bleibt der Gesamteindruck ambivalent. Ein die Freude der intellektuellen Betrachtung verherrlichendes Zitat „aus dem Lateinischen des Cartesius" stand „an Stelle einer Vorrede" in der Erstausgabe von ΜA I (IV 2, (3)). Anders, zweischneidig, gequälter klingt das als Motto zu dem Werk erdachte Gedicht, mit dem die ursprünglich als „Vorrede" zu MA geplante Vorform des 34. Aphorismus (IV 2, 579—581) schließt. Hier heißt es vom Schicksal des Freigeists: „Ob Trauerspiel? Ob Komödie, ob Tragikomödie? Vielleicht fehlt das Wort, welches hier zur Bezeichnung völlig ausreichte: so möge ein Vers uns zu Hülfe kommen und den Zuhörer vorbereiten: ,Spiel der Gedanken, es führt eine der Grazien dich: Ο wie weidest den Sinn du mir! — Weh! Was seh' ich? Es fällt Larve und Schleier der Führerin, und voran dem Reigen schreitet die grause Notwendigkeit'." (IV 2, 581) Gewiß: auch diese jähe Wendung von dem Entzücken an der Erkenntnis zu der Erfahrung einer sinnlosen Unentrinnbarkeit oder unentrinnbaren Sinnlosigkeit des Daseins ist nicht die einzige mögliche Zusammenfassung, und ließe sich von Nietzsche selbst her wiederum in Frage stellen. Der Denker im Modus des konditionalen Wenn, der Ausdenker der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Denkens und der Erkenntnis findet kein Ende. Sein Reichtum und seine Armut liegt im Verzicht auf den Glauben. Nietzsche ist sich darüber im Klaren. Er gibt zu, und wird darauf bestehen, daß kraft der Leugnung Gottes die Welt sich als Chaos offenbart — und also als Gelegenheit für den Menschen einen tanzenden Stern zu gebären (vgl. 75,13). Der Protagonist des 1. Hauptstücks strebt nach Einsicht, will allein um der Erkenntnis willen leben. Wo aber der Glaube an das, was gegeben ist, im Grunde fehlt, — weil es dieses Gegebene nicht gibt, weil es uns völlig unzugänglich ist, oder weil es in jedem Fall für uns bedeutungsleer wäre, — kann der Akzent der Lebensgestaltung nicht auf der Einsicht beruhen, sondern muß sich auf ein Tun und Machen, auf künstlerische Gestaltung des Lebens, auf ein kreatives Ziel, auf ein, dem Menschen als dem autonomen Schöpfer, dem selbständigen Geber des für ihn Gegebenen zugemutetes Projekt verschieben. Der Versuch, das credo ut intellegam umzukehren, die Erkenntnis auf die Absage an jedweden Glauben zu begründen, muß also doch wohl zur Verzweiflung und Selbstvernichtung des Erkennenden führen, mag auch im weiteren Verlauf von Nietzsches Unternehmen, die Autonomie des Menschen zu begründen, diese Verzweiflung als nötige Bedingung der erhofften Selbsterlösung und schöpferischen Selbsttranszendenz des Menschen gelten.

ANHANG: NIETZSCHES ZUSAMMENFASSUNG DES ERSTEN HAUPTSTUCKS

In Notizen aus den 80er Jahren (siehe 83, 273) hat Nietzsche das 1. Hauptstück teilweise zusammengefaßt. Die Perspektive, unter der er hier die Reihe sieht, entspricht der These, daß die „Konsequenz der äußersten Moralität der Erkenntnis [das] Verlangen nach Vernichtung" sei (83, 274). — Das 1. Hauptstück gilt Nietzsche in einer späteren Phase also als Dokument des „Asketismus" der Vernunft. Die Zusammenfassung steht unter dem Titel „Asketismus: nur die Vernunft ausbilden". Vorangestellt ist die Voraussetzung dieser Haltung: „Sich die kleinen Freuden eingestehen, welche die Erkenntnis macht, — alle anderen von sich abwehren" (83, 276). Hier setzt nun die Zusammenfassung ein, die ich, da sie, meines Wissens, nidit als solche bekannt ist, im folgenden ganz und ohne Veränderung der Reihenfolge zitiere (siehe 83, 276 f.), um jeweils den zugehörigen Aphorismus des 1. Hauptstücks anzugeben: „Grausamkeit, sich die schmutzige Entstehung aller der höchsten Dinge einzugestehen." (Zu Aphorismus 1, der zu verstehen gibt, daß man, lim „die Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen" zu treiben, und ihr Ergebnis, daß „die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen genommen sind", zu ertragen, fast „entmenscht" sein müsse. (16)). „Versuch, vom Menschen abzusehen und ihn als Punkt im Werden zu fassen, — nicht alles auf ihn hin zu konstruieren." (Zu Aphorismus 2, welcher „ewige Tatsachen" und „absolute Wahrheiten" leugnet, den „Menschen der letzten vier Jahrtausende" nicht als „aeterna Veritas", als „Gleichbleibendes im Strudel", als „sichres Maß der Dinge" gelten läßt und die „Teleologie" verwirft, welche meint, alle Dinge in der Welt hätten „von ihrem Anbeginne" „eine natürliche Richtung" zu diesem Menschen hin. (16 f.) ) „Zugunsten der kleinen, festen, harten Wahrheiten, — soldatisdie Strenge und Schlichtheit." (Zu Aphorismus 3, welcher „Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten" fordert, die mit „strenger Methode gefunden wurden". Sich zu diesen zu halten" „ist männlich", „zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an" (17)). „Hohn gegen das Beseligende in den ,Wahrheiten', ebenso gegen die schöne Form. Religion, Moral und Kunst zur Oberfläche der Dinge." (Schon Aphorismus 3

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Anhang

wendet sich gegen die Ästheten als „Verehrer der Formen", — zumal des „Schönen und Erhabenen", — deren Glaube sich an — (für wahr gehaltene) — „beglückende", „blendende" „Irrtümer" hält, die „schön, prunkend, berauschend", „vielleicht beseligend" sind (17 f.). Deutlicher ist der Bezug auf Aphorismus 4, der besagt, „daß die Objekte des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfindens" „nur zur Oberfläche" gehören, obschon der Mensch, weil ihn „jene Dinge so tief beseligen", gerne das Umgekehrte glaubt (18 f.). Auch der 10. Aphorismus berührt das Thema.) „Metaphysik als im Zusammenhang mit Geister- und Gespensterglauben: auch mit der schlechten Interpretation." (Zu Aphorismus 5, wo die Metaphysik via Traum mit dem „Geisterglauben" und dem Glauben an das Fortleben der Toten in Zusammenhang gebracht wird, sowie auch mit Fehlschlüssen und Fehlinterpretation des Traumes, als bewiesen seine Erscheinungen dieses Fortleben (19). — Von schlechter und zugleich metaphysischer („pneumatischer", allegorisch-mystischer) Interpretation von Texten ebenso wie der Natur handelt ferner Aphorismus 8. In gewissem Sinne gehören hierher auch die Ausführungen über schlechtes Interpretieren der Traum auslösenden Reize im Traum und durch den Traum (schlechtes Wiedererkennen, schlechtes Schließen) in den Aphorismen 12 und 13; ferner die Ausführungen über den Intellekt als Fehlinterpreten (Koloristen) der Welt in Aphorismus 16). „Der Gesichtspunkt des Glückes als schädlich für die Wissenschaft." (Das Thema wird in Aphorismus 6 vorbereitet, der von der Tendenz, der Erkenntnis höchsten Nutzen zuzuschreiben und die Philosophie zur Apologie der Erkenntnis zu machen, sowie von dem logischen Optimismus handelt. — Die Bemerkung bezieht sich direkt auf Aphorismus 7, der besagt, daß durch den sokratischen Gesichtspunkt des „Glücks" die „Blutadern der wissenschaftlichen Forschung" unterbunden werden (20)). „Woher der Wert der Metaphysik stammt? Aus Irrtümern und Leidenschaften". (Zu Aphorismus 9: „Alles was" den „Menschen bisher metaphysische Annahmen wertvoll" gemacht hat, „ist Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug" (21)). „Nicht vom Ungewissesten sich abhängen lassen*; sich die Schwäche unseres Schließens eingestehen: der Traum**. Das starke Gefühl beweist nichts für die Wahrheit des Geglaubten***." ((*): Zu Aphorismus 9\ Die Möglichkeit einer metaphysischen Welt sei nicht zu leugnen, „aber mit ihr kann man gar nichts anfangen, geschweige denn, daß man Glück, Heil und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte" (21). **: Zu Aphorismus 12 und 13, in welchen das „schlechte Schließen" im Traum, zuerst als Folge des „schlechten Wiedererkennens und irrtümlichen Gleichsetzens" (24) behauptet, sodann hinsichtlich seiner Mechanik (Erfindung einer Ursache aufgrund einer empfundenen Wirkung) dargestellt wird. ***: Von den die Erkenntnis beeinträchtigenden starken Gefühlen ist schon in Aphorismus 14 die Rede. Die Notiz bezieht sich direkt auf Aphorismus 15: „Das starke Gefühl" „verbürgt nichts für die Erkenntnis", — „der starke Glaube" beweist „nicht die Wahrheit des Geglaubten" (28)).

Nietzsches Zusammenfassung des ersten Hauptstücks

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„Versuch einer Betrachtungsart, in der ,Substanz' und ,Freiheit des Willens' Irrtümer sind: auch das Ich als geworden gedacht. Die Welt als Irrtum". (Von Substanz und Willensfreiheit als Irrtümern handelt Aphorismus 18. Daß bei der bis auf die Pflanze (32) zurückgehenden Betrachtungsweise auch das Idi (und Idi-Bewußtsein) als geworden gedacht wird, ergibt sich implicite. Als Voraussetzung ist dieser Gedanke wohl auch in Aphorismus 16 enthalten, in dem von der Entstehungsgeschichte des Denkens die Rede ist und unsere ganze mensdiliche Denk-VorstellungsEmpfindungssphäre als „allmählich" „in der gesamten Entwicklung der organischen Welt" entstanden, aufgefaßt wird (30). — Von der Welt als Resultat einer „Menge von Irrtümern und Phantasien" (30) ist ebenfalls in Aphorismus 16 die Rede, noch entschiedener in Aphorismus 19: „Natur = Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum" (33); und in Aphorismus 29 („die Welt als Vorstellung (als Irrtum)" (43)). „Mißtrauen gegen die metaphysische Welt wegen der Schwierigkeit der Probleme." (Aphorismus 21 behandelt den „mutmaßlichen Sieg der Skepsis" unabhängig davon, ob eine metaphysische Welt unerweislich oder nachweisbar wäre: „Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphysisdien Welt schon so schwierig, daß die Menschheit ein Mißtrauen gegen ihn [und mithin „gegen die Metaphysik"] nicht mehr los wird." (35)). „Es hört mit dem Glauben an ewige Grundwahrheiten alle Ruhe auf, man sorgt nicht mehr über seine Zukunft, weil andere Dinge dann nötig sein werden." (Aphorismus 22: Ein Nachteil des Aufhörens metaphysischer Ansichten ist, daß das Individuum nur seine „kurze Lebenszeit ins Auge faßt" und keine Antriebe empfängt, „an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken" (35). Diese aufgrund unseres „aufgeregten EphemerenDaseins" gemachte Feststellung wird hier, — wie audi im 23. Aphorismus, — mit der Betrachtung der Unruhe des modernen, aus metaphysisdien Bindungen halb entlassenen Menschen verbunden, der „zu viele innere und äußere Entwicklungen" durchläuft, um sich „dauerhaft" einzurichten. „Je weniger die Mensdien durch das Herkommen gebunden sind, umso größer wird die innere Bewegung der Motive, umso größer wiederum, dementsprechend, die äußere Unruhe" (36)). „Zeitalter der Vergleichung: ein Auswählen aus den Sittlichkeiten. Untergang der niederen Sittlichkeiten". (Aphorismus 23: Im „Zeitalter der Vergleichung" „findet.. ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann." (37)). „Kultus des Irrtums: er hat den Mensdien so zart, tief, erfinderisch gemacht. Die Welt als Irrtum ist so bedeutungsreich und wundervoll". (Hier übergeht die spätere Zusammenfassung die meisten der „Aufklärungsaphorismen", deren gemäßigte, auf Gestaltung der Lebensbedingungen abzielende Gesinnung nicht zum Thema der ,Askese der Vernunft' paßt. — Die in Apho 20, nach Überwindung der Metaphysik geforderte rückläufige Bewegung lehrt den Menschen zu erkennen, daß die „größte

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Anhang

Förderung der Menschheit" den metaphysisch-religiösen Irrtümern zu verdanken ist (34). — Das Exzerpt bezieht sich aber direkt nur auf Aphorismus 29, der besagt, daß der „Irrtum den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht [hat], eine solche Blüte, wie Religionen und Künste hervorzutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu außerstande gewesen". Die Welt „als Irrtum" ist „so bedeutungsreich, tief, wundervoll" (42 f.)). „Wir sind von vornherein unlogische und ungerechte Wesen, — ohne dies gibt es kein Leben." (Aphorismus 32: „Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen . . . dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins" (45). Siehe auch Aphorismus 31 {„Das Unlogische notwendig"), und Aphorismus 33 („Der Irrtum über das Leben zum Leben notwendig")). „Alle Ansätze über den Wert des Lebens falsch". (Aphorismus 32: „Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht" (44). Aphorismus 33: „Jeder Glaube an Wert und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken" (45)). „Letzte Ziellosigkeit. Vergeudung." (Aphorismus 33: „Sieht [der Mensch] bei allem, was er tut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eignes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung" (46)). „Allgemeine Verziditleistung: immer besser erkennen, über den Schätzungen schweben einziger Trost" (Aphorismus 34: Der Mensch, der „nur deshalb weiterlebt, um immer besser zu erkennen [, m u ß ] . . fast auf alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne Neid und Verdruß verzichten können, ihm muß als der wünschenswerteste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen. Die Freude an diesem Zustande teilt er gern mit, und er hat vielleicht nichts anderes mitzuteilen" (48)). Damit ist die Zusammenfassung abgeschlossen. Das Fazit, das der spätere Nietzsche aus dieser, als Charakteristik des Asketismus der Vernunft aufgefaßten Reihe zieht, ist, wie wir wissen, durchaus nicht die Bejahung jenes vom Leben losgelösten Schwebens. Vielmehr soll die vollendete Skepsis („Ich brauche an nichts zu glauben. Die Dinge sind unerkennbar") die „Verzweiflung" beseitigen und, indem sie alle Bindung löst und von aller Verantwortungslast befreit, zum „Schaffen" führen (83, 277).

REGISTER

1. N A M E N - U N D Aestheten: 57; 74; 82. Aeschylus: 101. Aktivismus (siehe audi Tat, Täter)·. 34 f. (N.s Aktivismus u. der kontemplative Freigeist); 79 f. (A. u. Ruhepause der Kunst; A. und Betäubungsmittel Religion); 304—309 („Überwindung der Romantik durch die Tat"). Alexander der Große: 474. Alexandrinismus: XIV—XVII passim (Α. in GdT); XVII—XX (in ÜB); XXXIV; 83 f.; 99; 229; 232. Allbejahung: 455. Allempfänglichkeit (siehe audi Dekadenz, dionysisch, historischer Sinn, Sensibilität); 233—241. Amerika: 231; 258; 475 (Kulturlosigkeit). Anders, Anni: 201; 464. Andler, Charles: 53; 65. Antike (Griechentum, Rom; siehe audi Klassik): XIII—XVII (GdT); XXII; XXXII; 5 (Philosophie); 31 (Tod); 42; 44; 46 (Frauen); 62; 81 (Bacchantin); 84 (Tragödie). 89—105 passim (Hoffnung auf Wiedergeburt der Antike in der Kunst. Franzosen: 89; Goethe: 90; A. kam Darstellung des höchsten Mensdien am nächsten: 93; Christentum: Dekadenz der Α.: 93 f.; „Den Griechen nadi": 96. Klassizistik, Neo-Antike, Stil der Sophrosyne, Wiedergeburt des klassisdien Stils; Möglichkeit einer — von Metaphysik u. Religion gereinigten — griechisch-antiken, gesunden, nicht-christlichen Kunst — via Aufklärung, französische Neoklassik, Goethe und Wissenschaft: 97—101. Renaissance des antiken Menschenbildes: aristokratisches Ideal, der Mensch als Kunstwerk, der Übermensch: 104f.); 106 (A. als ideale Kunst); 112 (Religion, Toten- u. Ahnenkult); 114 f. (hinfälliges Fundament u. zukunftsfähige Aspekte d. griech. Kultur); 119 (griedi. Philosophie);

SACHREGISTER 124 f. (Griechen u. griedi. Philosophie); 150 (griech. Götter); 224—226 (Rom; Rhetorik: 225f.); 229; 242ff.; 265 (Rom); 273 (Synthesis mit Moderne?); 276 (klassische Studien); 278; 281 (Rhetorik); 281—283 (A. u. Franzosen: 281); 288; 292 (Athen; Rom); 305; 312'; 341 (deutsdie Philosophie via Christentum der A. zustrebend); 362 ; 376 f. (A. u. Moral); 416 f. (Rhetorik: Pathos, Ethos); 441— 446 (Griechen, gr. Philosophie); 460 (Griechen), 468. Antithetik (siehe audi Dialektik, Gegensatz, Umkehrung): XII—XVII (GdT); XVIII —XXXI passim (Α. im Gesamtverlauf des I. Hsts: XXV—XXXI). — 4—9 (A. u. Heraklitismus); 119 (Philosophie als Einheit der Gegensätze). Antonin [Antoninus Pius]: 226. Antonio [in Goethes Tusso]: 437. Aphorismus: N.s Aphorismen: XXIII— XXXIII (1. Hst.: XXVII—XXXIII); 112; 409—415: passim (A. u. Befreiung, Skepsis, Perspektivismus, Impressionismus: 411 ff.; N. über seine Α.: 414; A. u. Stil des Pathos: 415); 421 (Selbstkritik N.s); 441. Aphrodite: 325. Apollo, apollinisch, XIII—XVIII (GdT); XXI; XXXVI ff.; 41'; 53'; 59; 87; 113 (Traum, Kultur); 150; 229; 236; 238; 262; 271; 416 f. (A. u. Ethos); 480. archaisch (archaisches Erbe, archaische Motive; atavistisch): 30. — Archaisches Erbe u. Kunst: 77, 79. — 110 (Astrologie: Atavismus); 157 ff. (archaisches Erbe u. Traum); 165; 271; 306; 331 (Christentum) ; 360; 364 (archaische Empfindungen u. Kunst); 435. Archilochos: XXVII. Architektur: 218; 224 (A. u. Macht); 226. Aristipp [gr. Philosoph, ca. 435—356; Begründer der cyrenaiscben Schule]: 123.

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N a m e n - und Sachregister

Aristophanes·. 101. Aristoteles·. 7; 79; 98; 399; 416. Askese: 445—456 (Entwicklung des Freigeists aus dem christlichen Asketen); 449 (Α.: Rache an sich selbst); 465 (A. des Erkennenden s. Erkenntnis). „Astrologie" [Metapher]: 108—112. Atheismus·. 341 (Sieg des wissenschaftlichen Atheismus: Überwindung der Moral). Atom: 142, 197. Aufklärung (siehe auch Werk-Register: MA I, 1. H s t . : „Aufklärungsaphorismen") 99; 252 (N.s anti-liberalistische Auffassung der A.); 264. — 268—358 passim (historischer P r o z e ß der A. via Reaktion u. Regression, vgl. insbes. 272. — „Dynamik der A . " : 269—277. „Voltaire u. Rousseau": 277—299). Einzelnes·. Phasen der Α.: 269 f.; 272. — Echte u. falsche Α.: 284 f. — Neue und alte Α.: 254 f.; 296— 299 passim; 331. — A. u. Gegenaufklärung: 300 f . — Aufgabe der neuen Α.: Oberwindung der R o m a n t i k : vgl. 270 und siehe Romantik. — N e u e Α.: Bewußtmachung des U n b e w u ß t e n : 331. — A u f k l ä r u n g u. Pessimismus: 3'32. Augustin·. 34. Augustus [Caesar]: 34. Babbitt, Irving·. 300. Bado, J.S.: X V . Barock (auch Asianismus): 84; 87 f . (historische Notwendigkeit); 95; 97; 440. barbarisch (Barbarei): 5: X X I V ; 6 ; 69 (romantische Auffassung des Künstlers); 82; 92; 138; 142; 185; 266; 242 ff.; 269 f. (,Gegenaufklärung': 270); 278; 280. — 299—345 passim: 1. Romantik: 299—320: Romantik und Rousseauismus: 299—301; Pathologie der Romantik: 302—304; Überwindung der Romantik durch die Tat: 304—309; Geistige Oberwindung der Romantik: 309—313; N.s Auffassung der Romantik: 313—320. 2. Schopenhauer [i. e. Philosoph des »romantischen Pessimismus"]: 320—345. — Einzelnes: Begriff u. Terminus .Romantik': 300, 302 (deutsche R.) 322 f., 337. — Deutsche Romantiker: 302, 321 f., 409. — Französ. Spätromantik: 409. — Romantische Sehnsucht: 303. — R. u. Klassik, R. u. Wirklichkeit: 303. — R. u. Christentum: 300, 309, 318 f. (Überwindung der R. ist Überwindung des Christentums u. der Dekadenz). — R. u. Krankheit: 309. — Musik: 328. — Höhere Menschen: 310. — R. u. 18. Jhdt. (Empfindsamkeit): 301. — R. u. Renaissance: 304. — Spätromantik und nihilistisch-dekadente Gegenbewegung: 309—311. — Romantischer (nihilistischer) und dionysischer Pessimismus: 300, 309—311, 315, 318 f., 337. — Romantik u. Dekadenz: 318 ff. — R. u. Masse: 320. Romundt, Heinrich: 459. Rousseau, Rousseauismus: 89; 269; 277; 281—308 passim (284—295: positive Aspekte: 289 f.; R. u. Romantik: 299— 301); 311 f.; 319; 321 f.; 326; 332; 334; 349; 392. »rückläufige Bewegung"', 209 ff.; 215; 217—219; 230; 249; 269 ; 298; 359 f. Sade, Marquis de: 266; 391; 477. Saga, isländische: 265. Sainte-Beuve: 301; 311; 410. Saint-Evremond: 282. Salin, Edgar: 41. Salome, Lou von: 50; 159; 238; 439. Sand, George: 301. Santayana, George: 39; 300. Saturn: X X X V I . Savonarola: 450. SAauspieler: 57—59 (Künstler: Komödiant); 73; 304 (Schauspielertalente).

Scbelling: 29. Scherer, Edmond: 311. Schiller: 74 (ästhetische u. moralphilosophische Schriften); 78; 211; 288; 300; 399. Schlechta, Karl: 201; 464. Schlegel, A. W. und F.: 300; 412. •ScWeiermecfcer: 29. Schluß-(Formen), falsche Schlüsse, Schließen: 388—394 (schlechte Gewohnheiten im Schließen: 388 f.); 394 (S. u. Kritik an Kausalität). Schmeitzner, Emst (N.s Verleger): 285 f. Schmidt, H.: 66. Schnabel, F.: 308. Schopenhauer: X I V ; XVII—XXI (der Schopenhauersche Mensch: X I X ) ; X X I I I ; X X X ; X X X I I ; X X X I V ; X X X V I f.; 6 (1. Hst.: Auseinandersetzung mit S.); 11; 23 f.; 29; 31; 33; 38—41; 52; 63 f.; 77; 81; 99; 106; 110; 113; 129; 131; 133 f.; 136; 138; 142; 151; 166; 168 f.; 171; 174—180 passim; 185—189 passim; 192 f.; 211; 214; 221; 229; 268—273 passim; 279 f.; 285; 288; 291 f.; 300 ff.; 311; 320—349·, 360—363; 369; 372; 375 f.; 390; 394; 407; 410 ff.; 416; 423 f.; 427; 434; 444; 460 f.; 479. Schubert: 418. Schuld {Unschuld), Schuldgefühl·. 186 ff. (S. u. Religion; S. u. Wissenschaft; Unschuld des Werdens: 187) 340; 440 f. (wiedergewonnene Unschuld). Schumann: 418. Scott, Walter: 69; 304. Selbstmord, Selbsttötung, Selbstverniihtung, Selbstopfer: 428 (Selbstmord des Erkennenden); 434 f.; 450; 455 f. (Vollendung u. Selbstaufhebung; Selbstmord als letzte Forderung der Moral; Selbstmord der Moral [des Wahrheitsglaubens]); 463 f. (Selbstopfer); 468; 479 (Selbstmord aus Besonnenheit). Selbstüberwindung: 212 f. Sensibilität: 316 f. (starke sensations); 409 —413 (Hyper.-S.; Irritabilität; moderne S.; S. u. Wille; S. u. Systematik; Beweglichkeit). Sexualität: 38; 41 f. (pädagogischer Eros); 81 (S. u. Kunst); 129; 185; 324 f.; 462 (Sinnlichkeit u. Trauer). Seydlitz, Reinhart von: 460. Shakespeare: 74; 101; 233; 278; 282. Siegfried: 310; 420 f. (Siegfried-Nietzsche); 439; 445.

Namen- und Sachregister Simmel, Georg: 6; 263. Sinne·. 204. Skepsis: X X I I I ; 47; 51; 63 f.; 71 f. (S. u. Künstler); 162; 169 (S. u. Wissenschaft); 175; 183; 189; 205 f.; 214 ff.; 218 (Nachteil der S.); 286 f. (S. als Gipfel der Erkenntnis; als Methode; skeptisdie Indifferenz, e. g. vis 4 vis Optimismus u. Pessimismus); 399 (S. u. Leben); 422 (S. u. Wahrheitsstreben; S. u. Pathos des Strebens). Skotus Erigena·. 326. Sokrates, Sokratismus, sokratiscbe Schulen, etc.: XIII—XVII (GdT) (der musiktreibende S.: X V f., XXXIV); X X X V I I I ; 5; 41; 49; 61 (musiktreibender S.); 83 f.; 103; 113; 120—128 (sokr. Schulen, Sokratismus u. Wissenschaft; Sokratiker u. Moderne; musiktreibender S.: 126); 229; 238; 254; 273; 318; 332; 360; 371; 416 f.; 420 (musiktreibender S.); 422 f.; 438 (musiktreibender S.); 441—445 ; 456; 468; 476; 480. Sophist·. 362. Sozialismus·. 34 f. (nationaler S. [UB I V ] : 34); 229; 251; 258—261 (N.s Antisozialismus); 284—287 („Der Anti-Revolutionär"); 289; 292; 299; 304; 3-18; 320; 336; 353 (S. u. Pseudo-Gerechtigkeit); 447; 476. Spengler, Oswald: 245. Spiel: 297 (Universum als S.). Spinoza·. 291 f.; 312'; 326. Spir, Afrikan: 134 f.; 146; 175—177; 179; 190 ff.; 195. Sprache·. 63; 141—147 (S. u. Wissenschaft; Namen: 141; Psychologie der S.; S. u. Metaphysik: 142 f.; Auffassung im Spätwerk: 142; im Frühwerk: 143 f.); 163; 194; 199 f. Staat, (siehe audi Politik)·. 22; 29 (Hegel); 47; 250—253 (N.s Einstellung zum Staat in M A : 251 ff.); 476. Stähelin, Felix·. 41; 44. Stendhal·. 410. Stern, J. P.: 98. Stifter: 53; 98. Stil (siehe audi Kunst, Wissenschaft): I. Nietzsches Stil: XI; XVI f.; 8 f. (N.s Stil u. Heraklitismus); 231; 237; 275 (Luther); 375; 378 ff. (Metaphorik; beschwingter Gelehrtenstil; Denkstil); 392 (U-Struktur); 407—422 (N.s Schreib- u. Denkstil); 436 f. (Schlüsse); 438—441

505

(Kompositionsprinzip des Schlusses des I. Hsts.); 469. — Vgl. auch „Chemie". — II. Nietzsche über Stil, etc.: XIV (s. u. Kultur; vgl. audi 232); X X (Moralisten); 96 (kalte Sdireibart vs. Feuilletonismus; Stil der gemäßigten Zone; Stil Arkadiens). — Stilideale: 89; 103; 224 (großer Stil; vgl. audi 409); 232 ; 281 (klassischer Stil); 283 (Prosastil Voltaires). — 374 (S.-Kritik an Duehring); 407—422 passim (Ν. über seinen Stil: 407, 410 f., 414; Dekadenz: 407 f.; Stil des Pathos, des Ethos u. des Intellekts: 415—422 passim). Stoiker: 288; 301. Strauss, David Friedrich: X I X ; 29; 280; 374; 379; 407. Streben nach Wahrheit: als Selbstzweck (422). Subjekt: 142. Sublimierung: 8; 10—12; 22; 24; 75; 81 (S. u. Kunst); 112; 164; 191—194; 397 f. (S. u. Indifferenz); 425; 429; 436; 454 (S. u. Umkehr). Süß, Wilhelm: 416. Symbol: 65 (S. u. Kunst); 68; 86 (Symbolischer Stil tritt an Stelle des Seienden in der Kunst: das führt zu Barbarisierung). System, Systemzwang: XXIII; 411 f. (Wille zum S. u. philosophischer Impressionismus). Taine, Hyppolyte: 42'; 311; 320. Tanz in Fesseln: 281 f.; 306; 469 f. (Metaphorik von „schwer" und „leicht"). Tat, Täter („Freitäter"): 312; 473—478 (Tatendrang als Selbstfludit; Tat und Zweifel; die Aktiven sind nur Verbraucher: 474; „Freitäter", i. e. Verbrecher: 474—477). Teleologie: 31—33 (Gesdiiditsteleologie Hegels: 33); 130f.; 388. Thaies: 151; 442 f. Thorslev, Peter: 300. Theologie (Theologen): 29; 33 (T. u. Geschieh tsphilosophie) ; 138; 369 f.; 370 (metaphysischer Pessimismus als verkappte Theologie); 372 f. (N.s Einstellung zur Theologie). Tiberius, Caesar: 462. Tod und Leben, das Tote — das Empfindende, anorganisch-organisch, etc.: 13 (Totes — Empfindendes); 15; 25 (lebendig-tot); 31 (Tod); 111 f. (Totenkult und Traum); 178 (Tod); 464 (Tod).

506

Namen- und Sachregister

Tragödie {tragisch, etc.): X I I I — X V I I ; X X I f.; X X X V I I ; 8 (griech. Tragödie); 79—81 (Wirkung der T., Katharsis, Lust an der Emotion; psychologische Erklärung des Tragischen); 84; 150 (tragischer Mythus); 271 (griech. T.); 281; 416; 424 (tragisch); 432—461 (Überwindung der Erkenntnistragödie durch Weisheit; insbes. 433 ff.; siehe auch: 427—429, 467 f.); 443 (tragisches Zeitalter der Griechen); 464 (tragische Gesinnung); 480 (tragisch); 484. Trampedach, Mathilde von: 459. Traum: 111—IIS (Ursprung der Metaphysik: 111; Entstehung des Traumes aus dem Bedürfnis nach (apollinischer) Illusion in GdT: 113; Traum: Urmodell illusorischer, vom Bedürfnis bedingter Empfindungs- u. Vorstellungstätigkeit: 113; T. u. protoreligiöses Fundament des Kulturerbes: 114); 148—162 (T. u. Kultur·. 148—152-, Logik des T.s: 153—162; hypnagogische Halluzination: 156 ff.; Antizipation yon Freuds Auffassung des Traums als Wunscherfüllung: 159 f.). Trieb·, siehe Instinkt und Trieb Tristan und Isolde (Wagners): 390 f. Trum, Erich·. 364. Turgenjew. 311.

309—312 passim (Umwertung: 301 f.); 317—319 (U. zwischen extremen Gegensätzen; Nihilismus; umfassendste UStruktur); 331; 334—337 passim (U. des Christentums gegen sich selbst: 335); 341 f. (U-Struktur: deutsch-undeutsch: 342); 345 (Nietzsche — der umgekehrte Heilige); 352; 362; 365; 369 f.; 380—383 (Peripetien); 389—393 passim (U. führt zu Umwertung: 392; U. als Interpretationsmetapher: 393); 396 (U-Struktur der Erkenntnis der Erkenntnis; U. als Einheit des Selbstwiderspruchs); 435; 439; 445; 454 (U. u. Sublimierungsprinzip); 458 f.; 462; 469 (U. von Metaphern: Erdenleichtigkeit und Himmels-Schwere); 474; 481; 484. Umwertung: 9; 14 f.; 19 f.; 24; 297 ; 299; 310 f.; 316. Unruhe: 231 f. Unsinn: Freude am U.: 81. Urteil: 32; 190 ff. (U. ist ein Glauben); 401—405 (Werturteile; U. u. unreine Erkenntnis: 403); 434 f. (Urteile über den Wert des Lebens; siehe auch 401 f.). Urwiderspruch im Ur-Einen (Urschmerz: Urlust): X I V f.; XXXVI—XXXIX; 113 (das Ur-Eine: Schmerz-Lust); 186 (Urwiderspruch); 212; 344; 383.

Übermensd)·. X X X V I ; 37; 41; 54; 230; 238; 255; 257; 265 (Übermensch u. Unmensch); 267; 282; 309; 336; 382 f.; 421; 430 (ein Ringen mit dem Nihilismus); 472; 481. Überzeugung: 72 (Uberzeugungen: Feinde der Wahrheit); 169 (Überzeugung u. Wissen); 346 (Überzeugungen vs. Gerechtigkeit). Ubland: 390. Umkehr, Umkehrung, Kehre, U-Struktur: X X I V — X X V I ; 5 ff.·, 8 f. (U. u. Heraklitismus: 9); 12 (U. u. MÄ)\ 28; 40; 56; 58; 68; 74; 94 f.; 97; 102; 109 f.; 111— 113; 117 f.; 120 (U. der Logik); 125; 133—135 (U-Strukturen); 138 f.; 143 f.; 146; 164; 171; 174—183 passim; 186; 191; 193; 196; 198; 200; 212—215 (Selbstwiderspruch als Entwicklungsprinzip); 221; 225 ; 240; 249; 252; 266; 268—358 passim („Reaktion als Fortschritt"); 270—273 (Umkehrung der Krankheit in Gesundheit; Umkehr als Fortschritt); 299 (Umkehrung u. Umwertung des „icrasez l'infäme"); 304; 307;

Vauvenargues: 410. Veden: 138. Verbrecher: siehe „Freitäter" unter Tat. „ Veredelung durch Entartung": 290. Verzweiflung: 406 (des mit der Menschheit Mitfühlenden); 429. Vitalismus, Vitalität: 20 (Vitalität), 36 (V., Perspektivismus, Heraklitismus beim späten N.). Voltaire, Voltairianer: X X ; 23; 89; 268 f.; 274; 277—299 (Voltaire u. Rousseau); Voltaire contra Rousseau: 284 ff.); 306; 322; 326; 333; 337; 391; 410; 459. Vornehm, Vornehmheit: 159; 262—267 (N.s Konzept der Vornehmheit); 277; 281— 284 („grandseigneur des Geistes"). Wagner, Cosima: 274; 278; 328; 343; 439. Wagner, Wagnerianer: XII, X V — X X V I passim ( X V I I — X X I ; Siegfried u. Ubermensch: X I X ) ; 6; 23; 34; 38; 40—43; 57 f.; 61; 64 (Tristan und Isolde); 69—71; 74; 83—88; (W.s Kunst beispielhaft f ü r Dekadenz (87) u. Barockstil (88)); 90; 97;

Namen- und Sadiregister 99; 221; 229; 243; 264; 274 f.; 283; 286; 300; 302; 304; 309—313 passim; 320; 322 f.; 325; 328; 332; 339; 342 ff.; 347 f.; 361; 378; 407—413-, 415—421 (WotanWagner: 420); 424 ; 439 f.; 460; 479. Wahrheit (auch Wahrscheinlichkeit; Wahrhaftigkeit-, siehe auch Erkenntnis, Freigeist, Irrtum, Logik, Wissenschaft): XXIV (Spätphilosophie); 7; 13; 15 f. (W. u. Irrtum); 20; 25 (W. u. Irrtum); 27; 32; 36 (W. u. Historismus, W. u. Vitalität); 40—43 (unscheinbare W.: 40, 43); 55 f. (unscheinbare Wahrheiten); 63—68 passim (W. im Spätwerk: 63 f.; Künstler u. W.: 67 f.; Pathos des W.-Besitzes vs. Pathos der W.-Sudie: 68); 71 f. (Glaube an W.-Besitz u. Skepsis; W. u. Genie: 72); 127 (schlechter Geschmack: Wille zur W. um jeden Preis); 138 (W. u. Religion); 145 f. (Spätphilosophie: 145); 167 (W. u. Tier); 169 (Pathos der W.); 178 f. (W. u. Erfahrung; W. u. Irrsinn: 178); 200; 247 (W. u. Fortschritt); 335; 346 (Streben nach W.); 382 (W. u. Illusion); 384 f. (W. u. Freigeist; W. beim späten N.); 397 (W.Wahrscheinlichkeit); 404 f.; 420 (Glaube an W. als letzte Religion); 422 (Streben nach W.); 428 (Glaube u. W.); 432 f. (W. u. Leben); 436 (Lust an der W. ruht auf Lust der Illusion); 438 (blutige Wahrheiten); 454 (Wahrhaftigkeit als christliches Erbe; W.-Sinn u. Moral; W. u. Gott); 462—466 (Selbstopfer der Mensdiheit für die Wahrheit gepriesen: 462 f. — und als absurd verdammt: 465; unsere Forschung — ein Exzeß: 465). Weber, Max-, 450. Weisheit (siehe auch unter Wissenschaft)·. 210; 361; 404 f.; 429 (Menschheit u. Erkenntnis). — Weisheitsideal von MA: 432—484 passim [43S—44S (W. löst Kunst u. Religion ab: 440; W. u. Wissenschaft: 441—444; Weisheitslehren: Rezepte, das Leben zu ertragen); 447 f. (Weisheit vs. Güte; der Weise ist gegen den idealen Staat: 447); 465 (W.: ein Geschmack); 483 (der Weise: Zwitter von Pflanze u. Gespenst; Weisheit: lebensfeindlich)]. Weiß, Peter: 96. Wellek, Rene: 300. Welt als Vorstellung (siehe audi Ding an sich): 4; 6; 8 f.; 11; 14; 16—18 (W. als Vorstellung u. Perspektivismus: 16); 21;

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63 f.; 113; 131—134 passim; 136; 137— 140 passim; 173—183 (W. als Vorstellung u. Ding an sich); 197 f.; 203—205 ; 328 (W. a. V. und Religion); 378 (Welt als Irrtum); 385 f. (Wissenschaft u. Wesen der Welt als An-sidi oder als Welt der Vorstellung); 396 f.; 403; 467 (W. a. V. und Ding an sich). Weltschmerz: 184 f. Werden (auch: „Unschuld des Werdens"): XXIII (Fluß aller Dinge); 5; 7 f.; 9; 12; 25 (Fluß des W.s; Philosophie des W.s); 28; 32; 38; 60; 106 f. (W. u. Kunst); 144f.; 164 („Unschuld des Werdens«); 173 f.; 183 (W. u. Wissenschaft); 187 („Unschuld des Werdens"); 191 f.; 197; 212 (W. u. Selbstwiderspruch); 397. Wert: Glaube an die Gegensätze der Werte: 5; 187. — Wert(gefühle): 25. — Wert des Lebens: 428 f. Werther (Goethes): XXXVI; 391. (ewige) Wiederkehr: 9; 14; 20; 183; 382; 455; 481. Wilamowitz-Möllendorf, U. v.: XVII. Wilhelm I.: 286. Wilhelm, Julius: 410. Wille (Wollen): 142; 405 (Wollen ist Selbsttäuschung); 411—413 (W. u. System: 411 f.); 416 (Stil des Willens [Ethos u. Pathos]). ,Wille zur Macht' (und Schopenhauers ,Wille'): 6; 14; 18—20 (W. ζ. M. u. naturwissenschaftlicher Reduktionismus; W. z. M. u. idealistische Auffassung der Welt als Vorstellung [i. e. als Interpretation]); 202; 224; 336 (Negierung des .Willens' bei Schopenhauer; seine Vergöttlichung bei N.). Williams, W.D.: 277 ff.; 410. Windielmann, J. ].: XVII; 233; 244; 300; 304. Windeier, Paul: 169. Wissenschaft, Wissenschaftler, wissenschaftlich (siehe auch Erkenntnis, Natur, Sokratismus): XIII—XVI (W. u. Kunst in GdT); 9—12; 14—19 (Naturwissenschaft u. Perspektivismus: 16—19); 27 (wissenschaftliches Gewissen). — Wissenschaft und Kunst, Wissenschaftler u. Künstler: SS—79·, 9S if.·, 102 f f . (vgl. auch 480 f.). [Ethos des Wissenschaftlers: 56; 71—73. — Wissenschaft und Kunst im Frühwerk: 62—64. — Künstler als Handwerker dem Wissenschaftler verbrüdert: 69. — Nietz-

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Namen- und Sachregister

sches Auffassung macht den Künstler für die Epoche der Wissenschaft akzeptabel: 69 f. — Abwertung des bloß kreativen Interesses: 73. — Wissenschaftler edler als Künstler: 74 f.; wird unterschätzt: 75. — Wissenschaftliche Methode u. Kunst: 74. — Relativierung des Gegensatzes zwischen Kunst u. W.: 75. — Wissenschaft: Mimesis in Begriffen: 79. — W. vs. Christentum: 94 f. — Stil der Kunst in der Epoche der W.: 95—102 passim. — Entwertung der W. im Spätwerk: 103]. — Wissenschaft und Philosophie: 116—128 (Ihr Antagonismus: siehe Apho 6 und Kommentar. — Historische Trennung: siehe Apho 7 und Kommentar. — Beispiel für den Antagonismus: 128. Vgl. ferner unten: „W. u. Weisheit im Kampfe"). — W. u. Menschlichkeit: 124. — Wachstum der W.: 124. — W. u. Leben: 127. — N a turwissenschaft u. Metaphysik: 128 ff. — W. u. Philologie: 130. — 137—147 (historisch-genetische W.: 137—139; W. u. religiöse, ästhetische, moralische Institutionen: 138; W. u. Erkenntnis des Wesens der Welt: 138—140; W. u. Freigeist: 140; W. u. Sprache: 141—147; W.-fundierende Irrtümer: 144—146). — 157 (W. u. Traumdenken); 171 (Naturw.); 174 (W. kulminiert in der Entstehungsgeschichte des Denkens); 183 f. (W. u. Werden: 183; W. u. Metaphysik: 184); 192; 194 (Gesetzmäßigkeit) ; 196—206. Epoche der Wissensdiafl: 207—366 passim (Einzelnes: W. u. Niditwissenschaft: 21; W. u. Skepsis: 214 f.; Gebrauch des Wortes „W." bei N.: 218 f. — Kultur, alte Kultur, Fortschritt u. W.: 218, 230, 254; W. u. 19. Jhdt.: 268; W. u. metaphys. Gesinnung im Streit: 271; W. u. Reformation: 276; W. u. Ernst: 296 f.; romantische Naturw.: 3'22; wissenschaftliche Gesinnung u. Moral: 334 (vgl. 264); wissenschaftliches Gewissen u. Christentum: 335'; Entwicklung zum Zeitalter der W.: 361). — 378, 385 f . (vgl. 138—140): W. u. Wesen der Welt als An-sich oder als Welt der Vorstellung; strenge W. [Erkenntnis der Erkenntnis]: 385. — 400 (W. u. Leben; W. u. unlogische Natur des Menschen); 414 (Tartufferie der Wissenschaftlichkeit [Stil]). — 446, 456 (W. u. Religion [Christenglaube]); 465 f. (W. u. Menschheit; Notwendigkeit der Begren-

zung der W.: 466); 470 (Wissenschaftlichkeit entlastet vom Pathos); 473 (barbarisierende Wirkung). — Wissenschaft u. Weisheit im Kampfe·. 124 f.; 151; 428; 441—444. Wolf, F. Α.: 276. Wolff, Hans Μ.: X X V ; X X V I I f.; 117; 240; 386; 396. Wotan {Wotan-Wagner)·. 420; 439. Xenophon:

122 f.

Zadig (Voltaires): 279. Zahl: 197—206. Zeit: X X X V I ; 197. Zeitalter der Vergleichung {19. Jahrhundert; Moderne): X X I I — X X V I I (Neuzeit in GdT)·, X X X I V ; X X X I X (nihilistisdie Epoche); 28 f. (deutsche Kultur der Wende zum 19. Jhdt.; frz. Revolution; napoleon. Ära); 33; 51; 57; 66; 82—94 (Kunst des 19. Jhdts.: Spät- u. Verfallskunst; Sonderstellung der Musik; unkünstlerischer Geist der Moderne: 82—91; Kunst u. Zeitalter der Arbeit: 91'—93; neurotische Kultur der Gegenwart, Last der Kultur: 94). — 208—365 passim [insbes. 227—232: „Das Zeitalter der Vergleichung"; 233—241] {19. Jhdt.: 215; 217; 228—241; 282 f. (Halbbarbarei); 296 f. (Zeitalter des Ernstes); 300 ; 308— 310 (Zeitalter der Masse: 309 f.; Verwandlung von 1830 in 1'850: 310); S U SIS; 332 f. (Pessimismus, Amoralismus); 336. — Einstellung zur alten Kultur: 234; Planwirtschaft u. -gesellschaft der Zukunft: 248 f.; Free Trade: 251; 19. Jhdt. u. Wissenschaft: 268; Zeitalter der Vergleichung und Gerechtigkeit: 348; Zeitalter der bürgerlichen Sekurität und Metaphysik: 362 f.). — 19. Jhdt. und Moderne: 371 (Pessimismus); 379 f. (Lyrismus der Ambivalenz und der Desillusionierung); 391 (Tradition des Rebellen); 407—409 passim (Potpourri der Stile; Sensibilität; Stilisierung); 465 f. (Exzeß der „Wahrheits-Forschung" und nötige Begrenzung der Wissenschaft); 475 (der Freigeist geboren aus dem „Frieden der Auflösung": 472); 475 (moderne Unruhe)). — Vgl. auch N.s Auffassung des 18. Jhdts, e. g. 299—301 („18. Jhdt. Rousseaus": 300 f.), 311 f., 3-17 f., 337. Zeller, Eduard: 122 f. Zilsel, Edgar: 38 f.

Nietzsche Zivilisation: siehe Kultur und: „Das Problem der Zivilisation": 292—294 (Kultur contra Zivilisation: 293). Zola: 320.

509

Züchtung: 34; 230 ; 247; 253—255. Zweig, Arnold: 159. Zweig, Stefan: 266. Zyniker (sokratische Schule): 123.

2. NIETZSCHE I. Werke, Der Antichrist: XI; XXXII; 29; 169; 236; 274; 310; 340; 393; 412; 437; 452; 456. Briefe: XXXIII; 42—48; 50—53; 236ff.; 262; 279 f.; 284; 286; 295; 299; 301; 311; 313; 322; 373; 409; 414; 421; 457—461. Ecce Homo: XI; XIII; X X f.; 5 f . ; 29; 52; 164; 221; 275; 277ff.; 295; 297; 299; 309 f.; 316; 382; 407; 411 f.; 469; 472. Fröhliche Wissenschaft: XI; X X X V ; 51; 110; 112; 131; 143; 145; 155; 178; 204; 212; 219; 224; 230 ; 250; 256; 265; 276; 280; 292; 297 f.; 300; 302; 304 f.; 307; 311; 319; 324; 328; 332; 334 f.; 342 f.; 349; 362—364; 370 f.; 381; 384; 392; 412; 437; 454; 468 f.; +73. Der Fall Wagner: XI; 83. Die Geburt der Tragödie: XI; XII— XVII; XIX; XXV; XXXV—XXXVII; 8; 30; 36; 43—45; 61 f.; 66; 71; 78; 83; 90; 99; 102; 113; 120; 122; 125 f.; 136; 150; 155; 189; 212; 230 f.; 236; 238; 243 f.; 254 f.; 271; 273 f.; 300; 306; 332f.; 342; 371; 376; 379 ; 382 ff.; 407; 409; 412; 416; 420; 423 ; 427; 433 f.; 43«; 440; 468; 480 f. (Vgl. audi: Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie; Die Schriften von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Möllendorf; ed. K. Gründer; Hildesheim: Georg Olms, 1969; XV). Genealogie der Moral: XI; X X I V f . ; 6; 11 f.; 142; 169; 185; 200; 255; 264 f.; 267; 303; 335; 342; 347 f.; 350ff.; 355; 357; 375; 382; 393'; 412; 414; 454; 481. Götzendämmerung: XI; XXVI; 44 f.; 83; 142 f.; 155; 161; 164; 199; 204; 223— 225; 235 f.; 292 f.; 301; 312; 316 f.; 321; 409; 414; 439; 471. Jenseits von Gut und Böse: X I ; XXXIII; 4 f.; 35; 40; 131; 145; 159; 185; 212; 275; 282; 292; 298 £.; 309 f.; 326; 375; 392 f.; 405; 412; 437. Menschliches AllzumenTchliches: IX; XI f.; X X — X X I I ; 15 f.; 21; 36 f.; 40; 43; 45;

Briefe 48—50; 54; 58; 61; 63—65; 67—107; 110; 115; 123; 126 f.; 151; 164; 169; 183; 188 f.; 202; 204—206; 213 (Vorreden); 221; 229 f.; 239 f.; 245; 250 f.; 254 ff.; 267; 274; 277 ff.; 285 f.; 291; 293 ; 295 f.; 299; 302; 305; 318; 320—325 passim; 327; 329—357 passim; 363 f.; 370 ff.; 375; 377; 381—384; 389; 392; 394; 396— 399; 404 ; 409—417 passim; 424; 427— 430; 434; 436; 438 ff.; 450; 453—461; 463; 467—472; 474—476; 478; 480—484. ΜA I. 1. Hauptstüde: „Von den ersten und letzten Dingen": IX, XXVII—XXXIII (thematische Entwicklung); 21; 34; 108 ff. (Aphos 1—3); 127 f. (Aphos 6—8); 135 (Aphos 2, 4, 5); 144 (Aphos 2, 3, 6, 8); 162 f. (Aphos 12—14); 165 (Aphos 11— 14); 170 (Aphos 15—17); 174 (Aphos 11—19); 178; 198; 204 f. (Aphos 23—28); 209 f. (Wendung des Intellekts gegen sich selbst; Apho 20: Wendepunkt); 216; 231; 255; 269; 323; 357—359; 363 ff.; 380ff.; 383 (Aphos 28—30); 387 (Aphos 28—31); 397f.; 400; 412ff.; 415 (Aphos 31—34); 421; 428; 434 (Aphos 28, 32—34); 436— 441; 446; 450; 459; 460 f.; 466 f.; 469; 480 f.; 483 f.; 485—488 (N.s Zusammenfassung). — „Aufklärungsaphorismen": 34; 204 f. (Aphos 23—28); 231; 255; 269; 358; 365; 446; 459. — APHO 1: 3—25 passim. — Text: 3. — Varianten u. Bearbeitungen: 4; 35. — UStruktur: 4—7; 23. — Engere Fassung des Themas des 1. Apho: 21—25. — Vorstufe: 24. — Ubersicht über den Aufbau von ΜΑ I: 21 f. — Siehe auch: 27; 32; 37; 56; 58; 106; 108 f.; 111 f.; 137; 139; 144; 157; 175; 178; 187; 198; 201; 212; 218; 332 f.; 363; 369 f.; 376; 382; 385; 389; 397 f.; 429; 436; 466; 485. — APHO 2: 12; 24. — 26—41; 41—54 passim. — Text: 26. — Umarbeitung der 80er Jahre: 27 f.; 33; 35. — Varianten:

510

Nietzsche

31. — U-Struktur: 27 ff. — Siehe audi: 91; 106; 108—112 passim; 118; 123; 135; 140; 142; 144; 157; 165; 232; 381; 402; 471; 485. — APHO 3: 40. — Engster Kreis der Interpretation: 56—58; 58—67 passim. — Text: 55. — Bearbeitungen u. Varianten: 56 f. — U-Struktur: 56, 58. — Zusammenfassung: 65. — Zum Aufbau, vgl. audi: 97. — Ferner: 86; 94 f.; 106. — Siehe auch: 108—111; 116; 129; 137; 144; 225; 363; 471; 485 f . — APHO 4: 108—111. — Text: 108. — Vorstufe: 109. — Varianten: 109. — UStruktur: 109. — Siehe audi: 111; 135; 486. — APHO 5: 111—115. — Text: 111. — UStruktur: 111. — Vorformen: 112. — Siehe auch: 118; 135; 149; 154 f.; 486. — APHO 6:109. — 116—121. — Text: 116. — U-Struktur: 116 f. — Siehe audi: 122; 124; 128; 144; 381; 395; 441; 486. — APHO 7: 5. — 122—127. — Text: 122. — U-Struktur: 125. — Siehe auch: 128, 441; 486. — APHO 8:123. — 128—132. — Text: 128. — U-Struktur: 129, 132. — Siehe auch: 135, 144, 486. — APHO 9: 11. — 133—136. — Text: 133. — U-Struktur: 133 ff. — Siehe audi: 139—141; 146; 205; 215 f.; 385 f.; 486. — APHO 10: 11. — 137—140. — Text: 137. — U-Strukturen: 139. — Siehe audi: 146 f.; 158; 167; 174; 362; 486. — APHO 11: 8; 118; 121. — 141—147. — Text: 141. — Vorstufe: 142. — U-Struktur: 144. — Siehe audi: 148 f.; 163; 166; 174; 197 f.; 381. — APHO 12: 111. — 148—152. — Text: 148. — U-Struktur: 149. — Siehe auch: 154; 157; 163; 174; 486. — APHO 13: 29; I I I ; 148; 152. — 153— 162. — Text: 153 f. — U-Struktur: 155 f. — Vorstufen: 156 f. — Siehe audi: 163 f.; 174; 430; 486. — APHO 14: 146. — 163—167. — Text: 163. — Vorstufen: 164; 166. — U-Struktur: 164. — Siehe auch: 170; 174; 4·86. — APHO 15: 167. — 168—172. — Text: 168. — U-Struktur: 168, 171 f. — Siehe audi: 174; 383; 486. — APHO 16: 170. — 173—183. — Text: 173 f. — Varianten: 174 f. — U-Strukturen: 173—183 passim. — Vorstufen:

175—177. — Siehe audi: 184; 198; 215; 385; 486 f. APHO 17: 180. — 184—189. — Text: 184. — U-Struktur: 184 f. — Siehe audi: 199, 399. — APHO 18: 118; 146; 174; 177—179. — 190—196. — Text: 190 f. — Vorstufe: 192. — U-Strukturen: 195 f. — Siehe auch: 197; 200; 381; 487. — APHO 19: 118; 146; 174; 177 f.; 196. — 197—206. — Text: 197 f. — U-Struktur: 200 f. — Siehe auch: 219; 381; 487. — APHO 20:92; 206. — 209—213. — Text: 209. — U-Struktur: 209 f.; 212 f. — Vorstufen: 209 f.; 213. — Siehe audi: 215; 219; 241; 249; 269; 271; 298; 359; 398 f.; 470; 487. — APHO 21: XXIX. — 214—216. — Text: 214. — U-Strukturen: 214 f. — Siehe audi: 219; 425; 487. — APHO 22: XXIX. — 217—220 (Paraphrase),; 220—227 passim. — Text: 217. — U-Strukturen: 220. — Siehe auch: 231 f., 247; 272; 487. — APHO 23: XXI; XXIX; 33. — 228— 232; 233—241 passim. — Text: 228. — Vorstufe: 228, 239. — U-Struktur: 231 f. — Siehe audi: 348; 360; 385; 475; 487. — APHO 24: XXIX; 230 f. — 242—247. — Text: 242. — Vorstufe: 243. — U-Strukturen: 243 f. — Siehe auch: 248; 256; 271. — APHO 25: XXIX; 80; 231. — 248—257. — Text: 248. — Vorstufe: 250. — UStrukturen: 252 f. — Siehe auch: 269; 359. — APHO 26: XXIX; 99; 110; 184; 231; 255. — 268—274; [„Reaktion als Fortschritt": 268—358]; 277. — Text: 268. — Thematik: 269 f. — Der 26. Apho als Leitfaden: 270. — Vorstufe: 271, 347. — U-Struktur: 271, 285, 319. — Siehe audi: 285; 298; 318; 321 ff.; 324; 327; 330 f.; 339; 345—347; 353—360 passim; 372; 398; 445. — Vgl. ferner die Interpretation des 197. Aphorismus der Morgenröte (Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung): 321 f.; 327—331; 336—340. APHO 27: XXIX; 58; 66; 240. — 359— 365. — Text: 359. — Vorstufen: 360 ff.; 3