131 51 2MB
German Pages 344 [346]
Hans-Hermann Münch
Kanon und Auslegungsgemeinschaft
Hans-Hermann Münch
Kanon und Auslegungsgemeinschaft Schriftgemäße Theologie im Horizont der Ökumene
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40267-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40269-4 eBook (epub): 978-3-534-40268-7
Inhalt Vorwort ................................................................................................................................................... 15 Einleitung ................................................................................................................................................ 17 A. Schriftgemäßheit als Aporie der Reformation: Das Schriftprinzip und die Geschichte seiner Krise........................................................................................................................................ 20 I. Die Krise des Schriftprinzips: Zerfall der Kirche in verschiedene Interpretationsgemeinschaften .......................................................................................... 20 II. Die Kirche und der ,Stadtplan der Bibel‘: Vom Marktplatzbrunnen zur verborgenen Quelle?............................................................................................................ 22 III. Abgesicherte Schriftgemäßheit: Bekenntnis und hermeneutica sacra ......................... 24 1. Die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts als Modellfälle schriftgemäßer Lehre ....... 24 2. Die Formulierung einer hermeneutica sacra in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie ................................................................................... 26 IV. Eine vielsagende Fehlanzeige: (keine) Fortschreibung evangelischer Lehre? – Wird die norma normata dauerhaft überhöht? .............................................................. 27 V. Zusammenfassung und Ausblick ...................................................................................... 30 B. Schriftgemäße Theologie I: Evangelische Identität zwischen Religionsgeschichte und Biblischer Theologie ........................................................................................................................ 32 I. Der Beginn der Dekanonisierung: Die Separation von Exegese und Dogmatik – Entwicklung von der ‚Doppelgesichtigkeit‘ zur Diastase ........................................... 33 II. Die religionsgeschichtliche Zugangsweise als konsequente Dekanonisierung: Von Semler über Wrede bis zur Gegenwart .................................................................... 36 III. Die Wiederentdeckung der Bedeutung des Kanons I: Kanon im Kanon, Mitte der Schrift – Biblische Theologie – Kanonische Schriftauslegung ............................... 38 1. Ernst Käsemann und der Auftakt einer neuen Kanon-Debatte ............................. 38 2. Die neue Orientierung am Kanon und die Frage nach seiner Einheit in aktuellen Entwürfen der Biblischen Theologie ......................................................... 41 3. Kanonische Schriftauslegung (canonical approach) als exegetischer Neuansatz im Entwurf von Brevard S. Childs.............................................................. 45
5
IV.
V.
Die Wiederentdeckung der Bedeutung des Kanons II: Auf dem Weg zu einem integrierten Ansatz ...................................................................................................48 1. Jens Schröter: Der Kanon als Grundlage der Kirche ................................................48 2. Gerd Theißen: Kanon, Inkarnation und innere Pluralität .......................................51 a) Der Kanon als Konsequenz der Inkarnation .........................................................51 b) Der Kanon und die innere Pluralität der Kirche ..................................................52 3. Ein Gegenbeispiel aus dem Bereich der Exegese: Die Ablehnung kanonischer Hermeneutik durch Oda Wischmeyer .................................................55 4. Ein Blick in den Bereich der Kirchengeschichte: Christoph Markschies – Identität und Pluralität im antiken Christentum .....................................................56 Zusammenfassung ...............................................................................................................58
C. Schriftgemäße Theologie II: Die neue Bedeutung der Bibel in der katholischen Theologie unter den Maßgaben des Vatikanum II („Dei verbum“) – Erfahrungen mit historisch-kritischer Exegese ,in der Zeitmaschine‘ .............................................................60 I. Die Einrichtung der Päpstlichen Bibelkommission als Beginn einer Zeitenwende in der katholischen Schriftauslegung.........................................................60 II. Die Neuausrichtung katholischer Theologie durch das Vatikanum II, d.h. die Offenbarungskonstitution Dei verbum ......................................................................61 III. Dei verbum (12) und (13): Die ,Magna Charta‘ römisch-katholischer Exegese: Historisch-kritische Forschung bei Wahrung der Perspektive der Einheit der Schrift .....................................................................................................................................67 1. Die ,doppelte Autorschaft‘ der Heiligen Schrift ........................................................67 2. Der Einzeltext im Rahmen der ,Einheit der ganzen Schrift‘ ....................................69 3. Wird die katholische Exegese ihrem Anspruch gerecht? .........................................70 a) Die ,einseitige Rezeption‘ des Konzils ....................................................................70 EXKURS 1: Anfragen an falsche axiomatische Voraussetzungen historisch-kritischer Schriftauslegung ...................................................................71 b) Der ,weiße Fleck‘ in Dei verbum (12) ....................................................................73 c) Dei verbum (12) als ,Postulat eines inneren Zusammenhangs zwischen Vielfalt und Einheit‘ der Heiligen Schrift ...............................................................74 IV. Ansätze und Konzepte katholischer Kanon-Hermeneutik ............................................75 1. Christologie und Kanon: Grundlegende Synthesen als normierende Ausgangspunkte für Theologie und Kirche ...............................................................75 2. Kanonische Exegese als neues Paradigma ..................................................................78
6
V.
a) ,Zeitübergreifende Gültigkeit‘ versus ,Ursprungssinn‘ ........................................ 78 b) Der ,anamnetische Anspruch‘ biblischer Texte als ,Teiltexte eines Makrokontextes‘ ........................................................................................................ 79 c) Biblische Texte als ,öffentliche und normative Texte einer Lesegemeinschaft‘...................................................................................................... 81 Zusammenfassung ............................................................................................................... 82
D. Kanonische Perspektiven einer neuen Schriftgemäßheit I – evangelische Exegese: Ferdinand Hahn – Die Vielfalt und die Einheit des Neuen Testaments .................................... 85 I. Auf dem Weg zu einer neuen Konzeption der Theologie des Neuen Testaments ............................................................................................................................ 85 1. Exegese und Fundamentaltheologie ........................................................................... 85 2. Die Breite der urchristlichen Überlieferung .............................................................. 88 3. Die Frage nach der Einheit des Neuen Testaments .................................................. 89 II. Theologische Basis-Entscheidungen ................................................................................. 93 1. Der neutestamentliche Kanon als Grundlage............................................................ 93 2. Das Alte Testament und seine Interpretatio Christiana .......................................... 94 3. Der sich offenbarende Gott .......................................................................................... 97 a) Hahn geht grundsätzlich davon aus, dass Gottes Offenbarung ......................... 97 b) Gottes Offenbarung in verschiedenen Dimensionen .......................................... 98 c) Christologische Offenbarung in fundamentalem Bezug auf Gott ..................... 98 d) Der eschatologische Charakter der Offenbarung in Christus ............................ 99 III. Die Einheit des Neuen Testaments – Konvergenzräume nach Ferdinand Hahn....... 100 0. Der Ansatz der Christologie: ‚Der innere Zusammenhang des Wirkens Jesu mit der Christologie‘ ........................................................................................... 101 1. Konvergenzraum Gottesherrschaft und Christologie ............................................ 102 a) Die vorösterliche Botschaft Jesu ........................................................................... 102 b) Jesu Botschaft in der urchristlichen Verkündigung .......................................... 103 c) Folgerungen für die Identität des christlichen Glaubens .................................. 106 2. Die Ostererfahrungen als Beginn expliziter Christologie ...................................... 108 a) Das Osterwiderfahrnis als ‚Angelpunkt […] für die Verbindung der vorösterlichen Tradition und der nachösterlichen christologischen Explikation‘ .............................................................................................................. 108 b) Ausgangspunkte einer impliziten Christologie .................................................. 109
7
c) Christologie und alttestamentliche Erwartungen .............................................. 110 d) Christologie in konkreter Entfaltung .................................................................. 110 3. Konvergenzraum explizite Christologie .................................................................. 111 a) Einzelaspekte, zeitliche Entfaltung und Gesamtschau ...................................... 111 b) Zentrum 1: Jesu Leiden und Tod ......................................................................... 113 c) Zentrum 2: Jesu Auferweckung von den Toten ................................................. 114 d) Ringkreis 1.1: Jesu Menschwerdung.................................................................... 115 e) Ringkreis 1.2: Jesu irdisches Leben und Wirken ................................................ 117 f) Ringkreis 2: Jesu Erhöhung und gegenwärtiges Wirken ................................... 119 g) Ringkreis 3.1: Jesu Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft ......................... 120 h) Ringkreis 3.2: Jesu erwartete Wiederkunft ........................................................ 122 4. Fazit Christologie ....................................................................................................... 123 a) Basis und Ausgangspunkt: Kontinuität und Bekenntnis .................................. 123 b) Die Bibel als norma normans: Konsequenzen ................................................... 124 c) Vielfältige Christologie und das ,Geheimnis der Person Jesu‘ ......................... 124 EXKURS 2: Pneumatologie – Die implizite trinitarische Struktur des neutestamentlichen Zeugnisses ............................................................................ 125 5. Konvergenzraum Soteriologie I: Die geschehene Errettung des Menschen ...... 127 a) Grundsätzliches ...................................................................................................... 127 EXKURS 3: Der Mensch als Geschöpf und als Sünder ..................................... 128 b) Eine Heilstat Gottes in Jesus Christus – zahlreiche Einzelmotive – drei deutlich unterscheidbare Modelle ...................................................................... 129 c) Die Heilsbedeutung des vorösterlichen Wirkens Jesu ...................................... 130 d) Die soteriologische Bedeutung der Auferweckung Jesu ................................... 131 e) Die rettende Kraft des Todes Jesu ...................................................................... 133 EXKURS 4: Das Sühneverständnis im Neuen Testament ............................... 135 f) Die soteriologische Relevanz der Menschwerdung Jesu ................................... 142 6. Fazit Soteriologie I: Die geschehene Errettung des Menschen ............................. 145 a) Die unterschiedlichen Ansatzpunkte................................................................... 145 b) Die Zusammengehörigkeit der soteriologischen Aussagen ............................. 146 c) Abschließende Überlegungen ............................................................................... 147 7. Konvergenzraum Soteriologie II: Heilsbotschaft und Gesetz............................... 150 a) Zur Situation des Urchristentums........................................................................ 150
8
IV.
V.
b) Jesu Stellung zum Gesetz ....................................................................................... 150 c) Die Zusammengehörigkeit des Gesetzes und der Heilsbotschaft: Matthäus, Jakobus und die Offenbarung des Johannes ..................................... 152 d) Die Heilsverkündigung in Spannung zum Gesetz: Paulus (und Markus)...... 154 e) Das Gesetz als Wegbereitung für das Heil: Lukas und der Hebräerbrief ....... 157 f) Die Ablösung des Gesetzes durch das Gebot Christi: Johannes und die nachpaulinische Brieftradition .............................................................................. 159 8. Fazit Soteriologie II: Heilsbotschaft und Gesetz ..................................................... 162 a) Gemeinsame Grundlinien ..................................................................................... 162 b) Entscheidende Sachfragen ..................................................................................... 163 c) Abschließende Überlegungen ............................................................................... 164 EXKURS 5: Gemeinsame Aspekte neutestamentlicher Ekklesiologie ............ 166 9. Konvergenzraum Eschatologie I: Voraussetzungen ............................................... 168 a) Das christliche Verständnis der Hoffnung .......................................................... 168 b) Heilsgegenwart und Heilszukunft ........................................................................ 169 c) Christliche Existenz im Vorletzten ....................................................................... 171 EXKURS 6: Christliche Zukunftshoffnung und Apokalyptik .......................... 172 10. Konvergenzraum Eschatologie II: Aspekte der Zukunftshoffnung ..................... 173 a) Die Parusie Jesu ....................................................................................................... 173 b) Tod und Leben ........................................................................................................ 176 c) Das Jüngste Gericht ................................................................................................ 179 d) Die Vollendung des Heils ...................................................................................... 182 11. Fazit Eschatologie: Die Grundintentionen der Zukunftsaussagen....................... 185 a) Sprachgestalt, Zeit- und Raumproblematik ........................................................ 185 b) Die Gerichtsvorstellungen ..................................................................................... 186 c) Abschließende Überlegungen zur Heilsvollendung........................................... 187 Einheit des Neuen Testaments? – Hahns eigenes Fazit .............................................. 189 1. Die Basis: Das e i n e Christusereignis .................................................................... 189 EXKURS 7: Das eine Christusereignis und seine Erinnerung.......................... 190 2. Die Einzelthemen in Konvergenz und Divergenz .................................................. 191 3. Drei einheitsstiftende Komponenten ....................................................................... 192 Zusammenfassung ............................................................................................................. 194
9
E. Kanonische Perspektiven einer neuen Schriftgemäßheit II – römisch-katholische Exegese: Thomas Söding – Die Frage nach der Einheit der Heiligen Schrift.......................... 196 I. Problembeschreibung ....................................................................................................... 197 1. Herausforderungen..................................................................................................... 197 a) Kanon und Offenbarungs-Wirklichkeit ............................................................. 197 b) Die Vielstimmigkeit der biblischen Zeugnisse................................................... 198 c) Die exegetische Suche nach der Einheit der Schrift........................................... 199 2. Bewährungsfelder ....................................................................................................... 200 a) Der innerkirchliche Dialog bzw. die Frage nach der Bedeutung der Ekklesia für das Verständnis der Bibel ................................................................ 200 b) Die Beziehung von Bibel und Kirche im ökumenischen Dialog ..................... 201 c) Perspektiven biblischer Israel-Theologie ............................................................ 202 d) Einheit der Bibel und interkultureller Dialog .................................................... 203 3. Lösungswege ................................................................................................................ 203 a) Kanon im Kanon? – Mitte der Schrift?................................................................ 204 b) Konzepte biblischer Theologie ............................................................................. 204 c) Konzepte alt- und neutestamentlicher Theologie .............................................. 205 II. Ansätze einer neuen Fragestellung ................................................................................. 205 1. Vielfalt der Schriften – Einheit der Schrift .............................................................. 206 2. Spannung der Testamente – Einheit der Schrift .................................................... 206 III. Die Einheit der Schrift als Postulat des christlichen Glaubens ................................... 207 1. Die Einheit Gottes als Vorgabe der Heiligen Schrift.............................................. 208 a) Das alttestamentliche Verständnis der Einheit Gottes...................................... 208 b) Das neutestamentliche Verständnis der Einheit Gottes ................................... 210 2. Die Einheit des Gottesvolkes im Lichte der Bibel .................................................. 213 a) Die Einheit des Gottesvolkes im Alten Testament ............................................ 213 b) Die Einheit des Gottesvolkes im Neuen Testament .......................................... 215 3. Die perspektivische und geschichtliche Einheit der Schrift .................................. 219 a) Der biblische Begriff der Einheit .......................................................................... 219 b) Hermeneutische Konsequenzen .......................................................................... 219 IV. Die Struktur des Kanons ................................................................................................. 221 1. Die vielen Geschichten in der einen Geschichte .................................................... 222 a) Das Spektrum des Alten Testaments ................................................................... 222
10
V.
VI.
VII.
b) Das Spektrum des Neuen Testaments ................................................................. 222 c) Hermeneutische Konsequenzen ........................................................................... 223 2. Der Umfang und die Sprache der Bibel ................................................................... 223 3. Der Aufbau der Biblia Judaica ................................................................................... 224 4. Der Aufbau des Alten Testaments ............................................................................ 225 5. Der Aufbau des Neuen Testaments .......................................................................... 226 a) Der Primat der Evangelien und des Evangeliums .............................................. 226 b) Die Zeit der Apostel ............................................................................................... 227 c) Die Vision des Kommenden ................................................................................. 228 d) Hermeneutische Konsequenzen ........................................................................... 229 6. Abfolge, Unterscheidung, Verklammerung der Testamente ................................ 230 Die Genese des Kanons..................................................................................................... 231 1. Das geschichtliche Werden der Bibel im Spiegel der Schrift ................................ 232 2. Die christologische Struktur der Offenbarungsgeschichte .................................... 233 a) Die Entstehung des Neuen Testaments ‚post Christum natum‘ ...................... 233 b) Die Entstehung des Alten Testaments ‚ante Christum natum‘ ........................ 234 3. Hermeneutische Konsequenzen ................................................................................ 235 Der Anspruch des Kanons .............................................................................................. 236 1. Der Anspruch der Bibel Israels.................................................................................. 236 2. Die Bibel Israels im Licht des Neuen Testaments ................................................... 237 a) Das Alte Testament als verbindliches Zeugnis des Wortes Gottes .................. 238 b) Die Bibel Israels als Basis des Neuen Testaments .............................................. 238 c) Die Interpretation der ‚Schrift‘ im Neuen Testament........................................ 239 d) Die Heilige Schrift Israels im Spannungsfeld von Verheißung und Erfüllung ................................................................................................................... 240 e) Hermeneutische Konsequenzen ........................................................................... 241 3. Der Anspruch der neutestamentliche Autoren und Schriften .............................. 242 a) Der Anspruch der Texte ........................................................................................ 242 b) Der Anspruch Jesu Christi im Spiegel des Neuen Testaments ........................ 243 c) Die innere Vielfalt und ihre Grenzen ................................................................... 244 d) Hermeneutische Konsequenzen ........................................................................... 248 Auswertung ........................................................................................................................ 249 1. Die vielen Schriften in der einen Schrift .................................................................. 249
11
a) Die Ganzheit der Schrift in all ihrer Vielfalt ....................................................... 249 b) Die Vielfalt der Schrift in ihrer ganzen Einheit ................................................. 250 2. Die eine Bibel beider Testamente ............................................................................. 252 a) Die grundlegende Bedeutung des Alten Testaments......................................... 252 b) Die eschatologische Neuheit des Neuen Testaments ........................................ 253 c) Altes und Neues Testament in der einen Heiligen Schrift................................ 255 VIII. Zusammenfassung ............................................................................................................ 257 F. Die Bindung an einen pluriformen Kanon als Herausforderung für schriftgemäße Theologie ........................................................................................................................................ 259 0. Ausgangslage: Wie kann die Bindung an einen pluriformen Kanon normativ konfiguriert werden? ........................................................................................................ 259 I. Die Normativität des Kanons – erste Implikationen ................................................... 260 1. Mit dem Alten Testament vorgegebene Grundstrukturen: Das ‚Ineinanderwachsen‘ des jüdischen Glaubens mit der Christusbotschaft .......... 260 2. Fundamentalentscheidungen des Doppelkanons aus Altem und Neuen Testament..................................................................................................................... 261 II. Neu entdeckte Dimensionen des Kanons als Herausforderung für schriftgemäße Theologie .................................................................................................. 263 1. Die Breite des neutestamentlichen Kanons (Diversität) ....................................... 263
III. IV.
2. Die Tiefe des neutestamentlichen Kanons (Kontinuität)...................................... 264 3. Der pluriforme Kanon als Impuls für eine Neu-Formatierung schriftgemäßer Theologie .......................................................................................... 265 Die dynamische Einheit des Kanons – Folgerungen.................................................... 266 Rückblick und Ausblick in ökumenischer Perspektive ............................................... 268
G. Schriftgemäße Theologie als Aufgabe der Kirche: Erkenntnisse und Perspektiven des ökumenischen Dialogs ........................................................................................................... 270 I. Verbindliches Zeugnis (1998): Schriftgemäßheit zwischen Autopistie und verbindlicher lehramtlicher Auslegung ......................................................................... 270 1. Einheit, Ganzheit und Vielfalt der Heiligen Schrift ............................................... 271 2. Schriftauslegung und verbindliche kirchliche Lehre ............................................. 272 a) Die Heilige Schrift als alleiniger Maßstab der Verkündigung und die Tradition als Ort der Vergewisserung ........................................................... 273 b) Die Gesamtverantwortung des Volkes Gottes als Träger der Glaubensüberlieferung........................................................................................... 275 12
II.
III.
c) Das Lehramt der Kirche – die besondere Verantwortung der ordinierten Amtsträger .......................................................................................... 276 Communio Sanctorum (2000): ,Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit‘ als ,Aufgabe der Kirche‘ .......................................................................... 280 1. Die Kirche nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift ................................................ 281 2. Gemeinschaft der Heiligen durch Wort und Sakrament ....................................... 282 3. Das ‚Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit‘ als ‚Aufgabe der Kirche als ganzer‘ .................................................................................................. 282 a) Offenbarung, Glaube, Kirche ................................................................................ 282 b) Das Miteinander der ,Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen‘........................ 283 Die Apostolizität der Kirche (2009): Schriftauslegung im Netzwerk der Bezeugungsinstanzen des Wortes Gottes ....................................................................... 290 1. Apostolizität in den Schriften des Neuen Testaments: Normativität ohne Uniformität......................................................................................................... 291 2. Apostolizität als Wesensmerkmal der Kirche(n) .................................................... 293 a) Erkannte Gemeinsamkeiten im Verständnis ...................................................... 293 b) Bedeutende Vorbehalte durch bleibende Unterschiede.................................... 293 3. Apostolizität als Merkmal des kirchlichen Amtes .................................................. 294 4. Kirchliches Lehren, das in der Wahrheit bleibt – Teil I: Gemeinsame grundlegende Glaubensüberzeugungen ..................................................................... 295 a) Das Evangelium von Gottes Gnade in Christus ................................................. 295 b) Das Evangelium und die Kirche ........................................................................... 295 c) Evangelium, Kanon, Lehre und Leben der Kirche ............................................. 296
IV.
5. Kirchliches Lehren, das in der Wahrheit bleibt – Teil II: Themen versöhnter Verschiedenheit ......................................................................................... 296 a) Der Kanon der Schrift und die Kirche ................................................................. 296 b) Schrift und Tradition ............................................................................................. 297 c) Das Lehramt: Notwendigkeit – Kontext der Kirche .......................................... 299 EXKURS 8: Autopistie der Schrift und lutherische Lehre ................................ 301 Zusammenfassung ............................................................................................................. 303
H. Kanonisches Bibelverständnis zwischen Selbstauslegung und Lehramt ................................ 308 I. Schriftgemäßheit – neu formatiert .................................................................................. 308 II. Die Kirche als Auslegungsgemeinschaft – Risiken der Isolierung einzelner Bezeugungsinstanzen ........................................................................................................ 310 13
III.
IV.
1. Schriftauslegung und Tradition ................................................................................ 310 2. Schriftauslegung und Rezeption ............................................................................... 310 3. Schriftauslegung und Lehramt .................................................................................. 311 4. Schriftauslegung und Theologie ............................................................................... 312 Ein (ökumenisches) Desiderat: Ein praktikabler Gesamtrahmen für das Zusammenspiel der Bezeugungsinstanzen jenseits konfessioneller Einseitigkeiten ................................................................................................................... 313 Ein Gesamtrahmen für das Zusammenspiel der Bezeugungsinstanzen – ein Vorschlag in Thesenform................................................................................................. 314
Literaturverzeichnis ............................................................................................................................. 318
14
Vorwort „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Johannes 1,14 „ … zu erkennen das Geheimnis Gottes, das Christus ist. In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.“ Kolosser 2,2f Das Christentum ist keine Buchreligion im strengen Sinne. Es führt sich zurück auf die Offenbarung des einen Gottes in der Geschichte des Volkes Israel, die – so glauben es Christen – ihren Höhepunkt gefunden hat in der Geburt, dem Leben, Sterben und Auferstehen des Jesus aus Nazareth. Um darüber Kenntnis zu gewinnen, ist die Kirche gleichwohl angewiesen auf die kanonischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments. Im Hören auf das, was dort zu vernehmen ist, vergegenwärtigt sich der Auferstandene durch die Kraft des Heiligen Geistes. Die Kirche ist demnach ihrem Grund und Wesen nach die Gemeinschaft der Menschen, die auf das Wort der Heiligen Schrift hören und sich gemeinsam darum bemühen, dieses in angemessener Weise zu verstehen und auszulegen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeite bzw. taste ich mich voran auf dem Weg, die Bücher der Bibel zu interpretieren und sie im Gottesdienst der Kirche glaubenden Menschen nahezubringen. Dabei beschäftigt mich von Beginn meines Theologiestudiums an eine Frage, die der Schweizer Neutestamentler Ulrich Luz prägnant auf den Punkt bringt: „Wie kann man eine Kirche auf eine Bibel bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist?“5 – Im Laufe von über 17 Jahren des Dienstes als Vikar und Gemeindepfarrer in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern sind mir so manche der überkommenen Versuche und Ansätze, das beschriebene Problem zu lösen, fragwürdig geworden … In diesem Sinne nahm ich mir vor, dem Geschehen der Schriftauslegung neu auf den Grund zu gehen; dabei ist mir vor allem klar geworden:
15
–
–
–
–
Sich in gut evangelischem Sinne exklusiv auf die Bibel zu berufen, sorgt nicht in dem durch die Reformation beschworenen Maß für Eindeutigkeit; als Beleg dafür dienen kann – beispielsweise – die weit über 1.000 Seiten starke Sammlung allein der lutherischen Bekenntnisschriften, die die Art und Weise, die Bibel zu verstehen, normieren wollen ... Die römisch-katholische Kirche hat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine fundamentale Rückbesinnung auf die Heilige Schrift eingeleitet, die in den seither vergangenen Jahrzehnten für ein noch nicht genügend ausgelotetes Maß an Gemeinsamkeit mit den Kirchen der Reformation gesorgt hat. Der Kanon des Alten und insbesondere des Neuen Testaments spannt einen weiten Rahmen, innerhalb dessen sich eine plurale Identität des christlichen Glaubens konstituieren kann und – um des Gesprächs in den Kirchen, unter den Konfessionen sowie mit anderen Religionen und Weltanschauungen willen – auch profilieren muss. Damit dies gelingen kann, muss ein neues Bewusstsein dafür entstehen, dass die Kirche zuerst und vor allem Auslegungsgemeinschaft der Heiligen Schrift ist: Um eines guten und geordneten Miteinanders willen bedarf es verbindender hermeneutischer Basis-Konsense. Diese können gefunden werden, wenn glaubende Menschen sich darüber Rechenschaft geben, wie sie die Positionen im Netzwerk des Kanons sinnvoll zueinander in Beziehung setzen.
Im besten Fall wird dabei deutlich, dass wir uns durch die Kraft des Heiligen Geistes von verschiedenen Seiten aus Jesus Christus, dem Geheimnis Gottes, annähern, damit seine Wahrheit in uns und unter uns Gestalt gewinnt. Möge diese Untersuchung einen Beitrag dazu leisten, das Miteinander der Christen und der Kirchen auf der gemeinsamen Grundlage der kanonischen Schriften Alten und Neuen Testaments zu fördern. Weißenstadt, im Mai 2019 Hans-Hermann Münch
16
Einleitung Lehre und Leben der Kirche an dem auszurichten, was die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments vorgibt, war Hauptanliegen der Reformation des 16. Jahrhunderts, – galt letztlich aber zu allen Zeiten als Fundamental-Verpflichtung des christlichen Glaubens, bezieht er sich doch seinem Wesen nach auf Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte, die in den kanonischen Schriften der Bibel bezeugt wird. Durch das Zweite Vatikanische Konzil wurde diese Verpflichtung auch im Raum der römisch-katholischen Kirche auf fulminante Weise erneuert. So hat heute – 500 Jahre nach der westlichen Kirchenspaltung – das Anliegen, schriftgemäß Theologie zu treiben und darauf aufbauend das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen, ökumenischen Charakter und leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die getrennten Kirchen wieder auf einen gemeinsamen Weg zu führen. Der Absicht, sich in der Kirche vor allem und zuerst auf die Schriften des biblischen Kanons zu beziehen, steht eine Entwicklung gegenüber, die deren Umsetzung seit mehr als zwei Jahrhunderten geradezu transformiert hat: Mit der Zeitenwende der Aufklärung wird auch im Bereich von Theologie und Kirche historisches Bewusstsein unverzichtbar. Die Erforschung des geschichtlichen Gewordenseins der Schriften der Bibel führt zu einer vorher nicht gekannten Spezifizierung des theologischen Arbeitens; mit den Disziplinen alt- und neutestamentlicher Exegese, also Schriftauslegung, entstehen neue Teilgebiete der Wissenschaft, die binnen weniger Jahrzehnte der gesamten Theologie ein verändertes Koordinatensystem aufprägen: Nicht mehr die Heilige Schrift als vermeintlich einheitlicher Block ist seither Orientierungsgröße für Leben und Lehre der Kirche, sondern die Vielzahl der Stimmen biblischer Bücher in ihrer Verschiedenheit, manchmal gar Widersprüchlichkeit. Rückblickend möchte man sagen: Seit über 200 Jahren arbeitet sich die Theologie – zunächst die evangelische, seit dem 20. Jahrhundert auch die katholische – ab an der neu entdeckten Pluralität ihres biblischen Fundaments: Die Forschungsvorhaben in den exegetischen Fächern werden zusehends detaillierter, betrachten jede denkbare Einzelheit unter dem Vergrößerungsglas der historisch-kritischen Schriftauslegung; die exegetische Literatur, die mittlerweile im Bereich beider Konfessionen die Bibliotheken füllt, ist auch von Spezialisten kaum mehr zu überblicken. Die seither in den Fokus gerückte Vielfalt der biblischen Stimmen hat das Bemühen, schriftgemäße Theologie zu formulieren, deutlich verkompliziert; nicht wenige Fachleute halten es inzwischen für unmöglich, weiterhin die »Schriftgemäßheit« von Verkündigung und Lehre der Kirche einzufordern.
17
Gleichwohl lässt sich seit geraumer Zeit auch ein gegenläufiger Trend feststellen: er nimmt seinen Ausgangspunkt bei der nüchternen Erkenntnis, dass bereits die Entstehung der christlichen Bibel einem Auswahlverfahren vergleichbar ist: Die Festlegung der Schriften, die das Alte bzw. Neue Testament bilden sollten, der Prozess der sogenannten Kanonisierung, gleicht – jedenfalls in seinem Resultat – der Fixierung einer begrenzten Vielstimmigkeit theologischer Aussagen. Dabei stellt sich die Frage: Ergibt sich aus dieser Vielstimmigkeit ein passables Klangbild – oder dominieren die Missklänge? Ist es möglich, im Blick auf die beiden Teile der christlichen Bibel und hinsichtlich des gesamten Buches von einem einheitlichen Werk zu sprechen, das – auch in seiner Vielgestaltigkeit – eine handhabbare Grundlage kirchlicher Lehre und kirchlichen Lebens liefern kann? Oder führt die Pluralität biblischer Standpunkte im Ergebnis zu einem Maß an Vielfalt, das sich nicht mehr unter dem Dach einer Kirche zusammenhalten lässt? Die vorliegende Untersuchung mit dem Titel Kanon und Auslegungsgemeinschaft fragt nach der Möglichkeit, auch unter den gegenwärtigen Bedingungen – das heißt, nach über zweihundert Jahren historisch-kritischer Exegese – schriftgemäße Theologie zu formulieren. – Diese Frage soll in ökumenischer Perspektive gestellt werden: Die in den letzten Jahrzehnten zwischen den Konfessionen geführten Gespräche haben gezeigt, dass beide Kirchen vor der Herausforderung stehen, unter den Maßgaben der in vollem Maße wahrgenommenen Vielfalt des biblischen Zeugnisses Grundlinien christlicher Identität zu benennen. Der erste Teil (A) formuliert eine Problemanzeige: Das sogenannte reformatorische Schriftprinzip – das heißt, die programmatische Forderung, evangelische Theologie exklusiv an der Bibel zu orientieren – befindet sich seit geraumer Zeit in einer veritablen Krise. Wie kann dieser Krise begegnet werden? Ist es möglich, sie zu überwinden? Ein zweiter Durchgang (B) beleuchtet die genannte Problematik unter anderen Gesichtspunkten: Wohin führt eine Sichtweise, die von einer unüberbrückbaren Vielstimmigkeit der Bibel ausgeht? Wie kann die wieder entdeckte Bedeutung des biblischen Kanons neue Möglichkeiten der Formulierung schriftgemäßer Theologie aufzeigen? Teil drei (C) widmet sich der Situation der Schriftauslegung im Bereich der katholischen Theologie: Dort erfolgte im 20. Jahrhundert eine rasante Entwicklung, die in wenigen Jahrzehnten den Weg der historisch-kritischen Exegese nachvollzogen und unter den Maßgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils zu teilweise anderen Ergebnissen geführt hat. Die Abschnitte vier (D) und fünf (E) stellen konkrete Möglichkeiten einer erneuerten kanonischen Sichtweise auf die Bibel anhand der Positionen eines evangelischen (Ferdinand Hahn) und eines katholischen Exegeten (Thomas Söding) vor. Der sechste Teil (F) zieht eine vorläufige Bilanz und fragt nach der Möglichkeit, auf der Basis des pluriformen biblischen Kanons im Raum der Kirche normative Theologie zu formulieren.
18
Teil (G) beschreibt Erkenntnisse und Perspektiven aus dem ökumenischen Dialog der letzten Jahrzehnte: Anhand der Studiendokumente »Verbindliches Zeugnis« (1998), »Communio Sanctorum« (2000) und »Die Apostolizität der Kirche« (2009) wird gefragt, wie das Miteinander der Konfessionen Wege aufzeigen kann, zu einer konsensfähigen Bibelinterpretation zu gelangen, die dem vielfältigen Befund entspricht, den mehr als zwei Jahrhunderte historisch-kritischer Schriftauslegung ergeben haben. Der letzte Abschnitt (H) stellt schließlich dar, was es bedeutet, die christliche Kirche konsequent als Auslegungsgemeinschaft der Heiligen Schrift zu verstehen und unternimmt den Versuch, ein am Kanon orientiertes Bibelverständnis zu entfalten, das die klassische konfessionelle Alternative von Autopistie (Selbstevidenz der Schrift) und lehramtlicher Auslegung überwinden kann.
19
A. Schriftgemäßheit als Aporie der Reformation: Das Schriftprinzip und die Geschichte seiner Krise I. Die Krise des Schriftprinzips: Zerfall der Kirche in verschiedene Interpretationsgemeinschaften Der Schweizer Ulrich Luz, renommierter deutschsprachiger Neutestamentler und Verfasser des wohl derzeit bedeutendsten Kommentars zum Matthäus-Evangelium1, veröffentlichte im Jahr 2014 eine ausführliche Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments.2 – Den Ausgangspunkt seiner Darlegungen bildet eine ernüchternde Bilanz der Situation der Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind: „Die Zuversicht, welche die Reformatoren in die Klarheit und die Durchsetzungskraft der Schrift setzten, erwies sich […] als voreilig. […] Die Geschichte des Protestantismus ist eine Geschichte von Abweichungen, Spaltungen, andauernden Aufbrüchen neue[r] reformatorischer Bewegungen, welche sich dann institutionalisierten und als Denominationen, Kirchen und Sekten endeten. Sie alle rechtfertigten sich durch ihre Bibelinterpretation.“3
Als ausgewiesener Fachmann für historisch-kritische Schriftauslegung zeigt er die Entwicklung zweier Jahrhunderte auf, während derer „sich die eine Bibel in eine Bibliothek unterschiedlicher Texte, Quellentexte oder rekonstruierter Texte auflöste. […] In den Händen der Bibelgelehrten und immer mehr auch der Laien verwandelte sie sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Lesemöglichkeiten […]. Die Zahl kirchlicher Interpretationsgemeinschaften vermehrte sich dabei ständig, wobei ihre Integrationskraft mehr und mehr abnahm. […] Viele evangelische Kirchen, die sich traditionell auf die Bibel berufen
1
2 3
ULRICH LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bde. I–IV, Neukirchen-Vluyn 1985ff. Ulrich LUZ, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014. ebd., 8. 20
und die nun mit der Möglichkeit einer schier unbegrenzten Vielfalt in der Schriftinterpretation konfrontiert sind, befinden sich in einem Prozess rapider Selbstauflösung.“4
Im Fortgang seiner mehr als 500 Seiten starken Verstehenslehre des Neuen Testaments arbeitet er sich unter anderem an der Grundfrage ab: „Wie kann man eine Kirche auf eine Bibel bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist?“5 Besonders beschäftigt ihn dabei ein schmerzhafter Konflikt: „Der Wahrheitsanspruch der neutestamentlichen Verkündigung ist universal. Die Möglichkeit einer unbegrenzten Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten – ja nach Vorliebe eines einzelnen Bibellesers oder einer einzelnen Interpretationsgemeinschaft – steht in einem frappanten Widerspruch zu diesem Wahrheitsanspruch und führt ihn ad absurdum.“6
Ulrich Luz7 kommt auf diese Weise zu einer zugespitzten Analyse des Problems. Dabei steht er in einer langen Reihe von Fachleuten, die seit geraumer Zeit die prekäre Situation evangelischer Schriftauslegung erkannt und beschrieben haben.8 – Einen prominenten Ausgangspunkt markiert der Systematiker Wolfhart Pannenberg in seinem 1962 verfassten Aufsatz mit dem Titel Die Krise des Schriftprinzips; er schreibt: „Die Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangelischen Theologie.“9 Es stellt sich die Frage: Wie konnte eine solche Situation entstehen? Geht das evangelische Schriftprinzip nicht auf Martin Luther selbst zurück? War seine Position im 16. Jahrhundert nicht prägnant und klar genug, um sie zum bleibenden Fundament evangelischer Theologie machen zu können? Begeben wir uns auf Spurensuche.
4 5 6 7
8
9
ebd., 8f (Hervorh. i. O.). ebd., 10 (Hervorh. i. O.). ebd. (Hervorh. i. O.). vgl. dazu auch ULRICH LUZ, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? sowie DERS., Was heißt „Sola scriptura“ heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip; dort (28) heißt es: „Für mich als Neutestamentler ist die Frage, ob es heute noch möglich ist, beim protestantischen Schriftprinzip zu bleiben, die schwierigste für meine evangelische theologische Identität.“ vgl. auch FRIEDEMANN STENGEL, Sola scriptura im Kontext. Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips, Leipzig 2016. – Umfassend: JÖRG LAUSTER, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004. WOLFHART PANNENBERG, Die Krise des Schriftprinzips, 13. 21
II. Die Kirche und der ,Stadtplan der Bibel‘: Vom Marktplatzbrunnen zur verborgenen Quelle? Der Systematiker Rochus Leonhardt beleuchtet in seinem Aufsatz Unklarheit über die Klarheit der Schrift10 die Krise des evangelischen Schriftprinzips; zur Illustration des Ausgangspunktes der Entwicklung dient ihm ein eindrücklicher, von Luther selbst gebrauchter Vergleich, das Bild des Brunnens auf dem Marktplatz11: „Der Marktplatz mit einem öffentlichen Brunnen im Zentrum einer Stadt steht für die res scripturae, das Zentralanliegen der Bibel. Zugleich gibt es in dieser Stadt – abseits vom Zentrum – zahlreiche schwer überschaubare Straßen und Gassen – sie stehen für die Vielfalt der biblischen Aussagen. Wer sich in einer der Gassen verirrt hat, für den ist das Zentrum der Stadt in der Tat nicht sichtbar, er wähnt sich in einem Labyrinth. D.h. für ihn erscheint die Bibel als eine Sammlung von widersprüchlichen Aussagen und undeutlichen Formulierungen. Wer aber die Gesamtlage der Stadt kennt und daher auch von den entlegensten Straßen und Gassen zum Marktplatz zurückfinden kann, für den ist die Stadt eben kein Labyrinth mehr. Und d.h.: Wer die res scripturae erfasst, wem sich das Zentralanliegen der Bibel erschlossen hat, der besitzt – um im Bild zu bleiben – den ,Stadtplan der Bibel‘, und für den erhalten deshalb auch die – in sich betrachtet – undeutlichen Formulierungen einen klaren Sinn.“12
Ausgehend von diesem Bild, lässt sich Luthers Position so beschreiben: Mit dem Evangelium von Jesus Christus, auf das er im Rahmen seines Schriftstudiums gestoßen war, mit der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus wusste der Reformator um den Standort des Brunnens im Zentrum der Stadt; er besaß einen – für seine Situation – in hohem Maße einleuchtenden ,Stadtplan der Bibel‘, der ihm bleibende Orientierung verschaffte; mit Hilfe dieses Plans war er in der Lage, die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift und ihre Verfasser in Beziehung zu setzen zum Zentrum der Schrift, dem Evangelium von Jesus Christus. Auf dieser 10 11
12
ROCHUS LEONHARDT, Unklarheit über die Klarheit der Schrift. MARTIN LUTHER, Vom unfreien Willen, 13: „Wenn ein gemeiner Brunnen öffentlich auf dem Markte ist, wer wollt so närrisch sein und sagen, er wäre nicht am Tage öffentlich, ob etliche, die im Winkel wohneten, ihn nicht sehen?“ ROCHUS LEONHARDT, Unklarheit über die Klarheit der Schrift, 162 (Hervorh. i. O.). 22
Grundlage formulierte Luther sein Verständnis der claritas scripturae, der Klarheit der Schrift; in der Assertio omnium articulorum von 1520 definiert er diese Klarheit wie folgt: „Man muss nämlich […] mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen […] den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass – sie selber durch sich selbst ganz gewiss ist (ut sit ipsa per sese certissima), – ganz leicht zugänglich (facillima), – ganz leicht verständlich (apertissima), – ihr eigener Ausleger (sui ipsius interpres), – alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend (omium omnia probans, iudicans et illuminans) wie auch in Psalm 118 geschrieben steht (= Ps 119,30) […]. Hier verleiht der Geist ganz klar die Erleuchtung und lehrt, dass Erkenntnis allein durch die Worte Gottes verliehen wird gleichwie durch eine Tür oder eine Öffnung oder ein erstes Prinzip […]“.13
Wenn Luther in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam in der Schrift De servo arbitrio von der äußeren Klarheit der Schrift eine durch den Heiligen Geist gewirkte innere Klarheit im Herzen des einzelnen Gläubigen unterscheidet, dann ändert dies nichts daran, dass die claritas externa für ihn in der grundsätzlichen „Evidenz des Zentralanliegens“ der Schrift bestand, – dem aller Welt gepredigten Evangelium, „dass Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, dass Gott dreieinig ist, dass Christus für uns gestorben ist und ewig herrscht (Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum (et) unum, Christum pro nobis passum (et) regnatum aeternaliter; StA 3, 185,1–3) […].“14 Leonhardt fasst Luthers Überzeugung zusammen: „Weil sich die Glaubensgewissheit schaffende Evangeliumsverkündigung stets an die Schrift gebunden weiß, muss der ihrem eigenen Geist gemäß ausgelegten Schrift auch jene Klarheit zugesprochen werden, durch die sie zur Grundlage christlicher assertiones werden kann.“15
Dass der für Luther so offensichtlich einsehbare ,Stadtplan der Bibel‘ keine sich zwangsläufig ergebende theologische Einsicht war, zeigen leider nicht erst die Entwicklungen späterer Jahrhunderte: 13
14 15
zit. nach LUZ, Theologische Hermeneutik, 105f (Hervorh. i. O.; aus: MARTIN LUTHER, Assertio omnium articulorum, WA VII, 97; deutsch in: DERS., Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Band 1 Der Mensch vor Gott, hrsg. v. Wilfried Härle u.a., Leipzig 2006, 78ff). ROCHUS LEONHARDT, Unklarheit über die Klarheit der Schrift, 163 (Hervorh. i. O.). ebd. (Hervorh. i. O.). 23
Bereits in der Generation nach Luther entstand das Bedürfnis, diese Einsicht festzuhalten und umfassend abzusichern. Man wollte vermeiden, dass der Brunnen in der Mitte der Stadt zu einer verborgenen Quelle werden könnte …
III. Abgesicherte Schriftgemäßheit: Bekenntnis und hermeneutica sacra 1.
Die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts als Modellfälle schriftgemäßer Lehre
Die im Konkordienbuch von 1580 zusammengefassten Bekenntnisschriften16 sollten der sich auf Luther berufenden neu entstandenen Kirche ein konfessionelles Fundament geben. In der sogenannten Konkordienformel wird als Versuch, die Position des Reformators abzubilden, die Berufung auf die Schrift zum ersten Mal und in klassischer Weise als leitendes Prinzip formuliert; unter der Überschrift Vom summarischen Begriff, der Regel und Richtschnur heißt es in der Zusammenfassung der Formel: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einzige Regel und Richtschnur (unica regula et norma), nach der in gleicher Weise alle Lehren und Lehrer [in der Kirche] gerichtet und beurteilt werden sollen, alleine die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind, […]. Andere Schriften aber alter und neuerer Lehrer […], sollen der Hl. Schrift nicht gleichgestellt, sondern ihr alle miteinander unterworfen werden, […].“17
Die Kirchenhistorikerin Athina Lexutt schreibt dazu: „Schon zu seinen [d.h. Luthers] Lebzeiten, ungleich heftiger aber noch nach seinem Tod wurde erbittert darum gerungen, wie manche seiner Lehrstücke recht zu verstehen, zu interpretieren und in Predigt, Lehre und Leben der Kirche umzusetzen seien. Den Abschluss dieser Streitigkeiten herbeizuführen war das erklärte Ziel der Verfasser der Formula concordiae. Und so hat die Herausstellung der Schrift noch einmal ein ganz besonderes Gewicht: 16
17
Die BEKENNTNISSCHRIFTEN DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KIRCHE. Vollständige Neuedition, Göttingen u. Oakland 2014. UNSER GLAUBE. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 774f (Hervorh. Verf.). 24
Kein Lehrstück – nicht einmal ein Lehrstück Luthers – hat normative Kraft, wenn es nicht kongruent ist mit der unica regula: der Schrift. Eintracht, concordia herzustellen kann nur über den Leisten der Schrift gelingen – oder es gelingt nicht.“18
Als Grundlage und Mitte der im Konkordienbuch gesammelten Bekenntnisse galt das Augsburger Bekenntnis von 1530, die Confessio Augustana. – Lexutt bemerkt dazu: „Die CA hat sich […] durch den Gebrauch, in der Praxis der kirchlichen Lehre und der Schule, zu einem probaten Text entwickelt, der in Kurzform die Inhalte der Schrift auf den Punkt zu bringen in der Lage ist.“19 Damit aber wurde es erforderlich, das Normengefüge der Reformation differenziert darzustellen, einen Unterschied zu markieren zwischen der Heiligen Schrift als der grundlegenden norma normans und den Bekenntnissen als der norma normata der neu gebildeten lutherischen Kirche: „Die CA stellt die erste Stufe der norma normata dar – die Formula concordiae die zweite. Die Lehre durchläuft demnach folgende Stadien: von Gott geboten, in der Schrift als Fundament gegründet, in den Symbolen der Alten Kirche dargetan, im Bekenntnis der Kirche erkannt und gehalten. Das Bekenntnis wird somit zu einer Art Garantie der traditio des Willens Gottes. […] es transportiert das verbum Dei in die Gegenwart des Hörenden und ist damit traditor.“19
Daraus ergibt sich die – im Grunde bis heute geltende – Hermeneutik des Lehrgeschehens in der lutherischen Kirche:20 Der „Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von norma normans und norma normata […] verdeutlicht, wie die Reformation durchweg mit eigener, reformatorischer Lehre ganz unbefangen als normativer Lehre umgehen konnte, ohne vom Schriftprinzip auch nur einen Millimeter zu weichen. […] Bekenntnisstand ist nötig gerade um der Sache willen, […]. Diese Notwendigkeit resultiert […] allein daraus, dass die traditio als norma normata von der norma normans lebt und stets an ihr gemessen werden muss. Die Schrift als vox des verbum Dei ist und bleibt unica regula et norma et iudex […].“
Gleichen Rang für Lehre und Leben der lutherischen Kirche wie die Rede von der Heiligen Schrift als der einzigen Regel und Richtschnur (unica regula et norma) in der Konkordienformel hat der berühmte 7. Artikel der Confessio Augustana, der die Überschrift Von der Kirche trägt; dort heißt es: 18 19 20
ATHINA LEXUTT, Unica regula et norma, 143 (Hervorh. Verf.). ebd., 159 (Hervorh. Verf.). ebd., 164f (Hervorh. Verf.). 25
„Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden (congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta). Denn das genügt zur wahren Einheit in der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“21
Das auf diese Weise formalisierte und für die Zukunft vorgegebene Schriftprinzip stellt den Versuch dar, die Klarheit der Schrift, von der Luther ausging, auch künftigen Generationen zu erhalten: Das aus der Heiligen Schrift erhobene und ,rein gepredigte‘ Evangelium sollte den Stadtplan der Bibel, den Luther verwendete, auch für die Folgezeit anwendbar machen und die Kirche als durch Einsichten des Reformators geprägte Interpretationsgemeinschaft der Bibel konstituieren. Dass dies nur sehr bedingt gelungen ist, zeigen die schon erwähnten Streitigkeiten unter den Erben Luthers: Der sein Denken leitende Stadtplan der Bibel ging offensichtlich nicht eindeutig genug aus dieser hervor; er war auf Grundlage der Schrift allein nicht so präzise beschreibbar, wie der Reformator ihn zu seinen Lebzeiten vor Augen hatte ...
2.
Die Formulierung einer hermeneutica sacra in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie
Im Verlauf des Jahrhunderts nach der Reformation, spätestens in der Epoche der lutherischen Hochorthodoxie – verbunden u.a. mit den Namen Johann Gerhard (1582–1637), Abraham Calov (1612–1686) oder Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) –, kam es einerseits zu einer detailliert ausgebauten Lehre von der Heiligen Schrift; sie hatte zum Ziel, die formale Autorität der Bibel abzusichern: Man sprach den kanonischen Büchern spezielle Eigenschaften zu, wie Autorität (auctoritas), Vollkommenheit (sufficientia, perfectio), Deutlichkeit (perspicuitas, claritas) und vor allem Wirkkraft (efficacia); im Zusammenhang damit stand die Denkfigur der Inspiration der biblischen Schriften bzw. Verfasser durch den Heiligen Geist.22 Andererseits entwickelte man eine spezifische biblische Verstehenslehre, eine Art hermeneutica sacra. So verwendet Matthias Flacius Illyricus (1520–1575), der noch zur Generation unmittelbar nach Luther gehörte, in seinem 1567 veröffentlichten Werk Clavis scripturae sacrae das hermeneutische Prinzip der analogia fidei als Forderung einer Schriftauslegung in „Kongruenz und
21 22
UNSER GLAUBE, 64 (Hervorh. Verf.). vgl. ULRICH LUZ, Theologische Hermeneutik, 108ff. 26
Konsonanz mit dem Glauben“, das heißt in Übereinstimmung mit der „katechetischen Schriftsumme oder den Glaubensartikeln.“23 Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass schon wenige Jahrzehnte nach Luthers Tod ein unabgesichertes Schriftprinzip als nicht ausreichend empfunden wurde: „In der Lehre von der analogia fidei verliert die Schrift bereits in der zweiten Reformatorengeneration die ihr durch das ,sola-scriptura‘-Prinzip zugewiesene Funktion des kritischen Maßstabs gegenüber Dogmatik und Tradition. […] Die dogmatische Fessel erlaubt es der Exegese nicht, nach ihren eigenen Prinzipien und mit eigenem Instrumentarium vorzugehen. […] so bleibt die Schriftauslegung hinter dem ihr bereits Möglichen zurück.“24
Das flacianische Denkmodell der analogia fidei machte durchaus Schule: „Es erlangte einen festen Platz in der kirchlichen Hermeneutik der folgenden Jahrhunderte.“25
IV. Eine vielsagende Fehlanzeige: (keine) Fortschreibung evangelischer Lehre? – Wird die norma normata dauerhaft überhöht? Die Situation des Luthertums wie des Protestantismus überhaupt ist seit langem davon geprägt, dass ehemals einheitliche Interpretationsgemeinschaften (der Heiligen Schrift) zerfallen, so dass mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Kirchen, Denominationen und Gruppierungen besteht, die auf die Reformation zurückzuführen sind.26 Die evangelischen Landeskirchen versuchen ihre Geschlossenheit dadurch aufrecht zu erhalten, dass Pfarrerinnen und Pfarrer im Rahmen der Ordination auf die jeweils geltenden Bekenntnisse verpflichtet werden. – Dadurch ist eine immer prekärer wirkende Situation entstanden: Junge Menschen des 21. Jahrhunderts, die in einem wissenschaftlichen Studium zu verantwortlichen Interpreten der Bibel ausgebildet wurden, verpflichten sich auf die Aussagen von Texten, 23 24 25
26
so PETER STEMMER, Weissagung und Kritik, 41. ebd., 44 (Hervorh. Verf.). ebd.: „Das Lehrstück der ,analogia fidei‘ – und damit die Herrschaft der Dogmatik über Exegese und Hermeneutik – blieb nicht flacianisch. […] Sowohl die wichtigste Hermeneutik des 17. Jahrhunderts, die ,Philologia Sacra‘ von Salomon Glassius, als auch Johann Jacob Rambachs ,Institutiones hermeneuticae sacrae‘ […] lehren die ,analogia fidei‘“ (Hervorh. Verf.). vgl. ULRICH LUZ, Theologische Hermeneutik, zitiert in Fußnote 4. 27
die einen Konsens aus dem 16. Jahrhundert formulieren. Dass die Voraussetzungen und das methodische Instrumentarium der Auslegung der Heiligen Schrift in den vergangenen Jahrhunderten gleich mehrere Zeitenwenden hinter sich gebracht haben, kann auf diese Weise naturgemäß keine Berücksichtigung finden … Es fehlt in der Theologie nicht an Stimmen, die anmahnen, dass den in einer Kirche geltenden Bekenntnissen nicht dauerhaft eine hermeneutische Leitfunktion für die Auslegung der Heiligen Schrift zukommen darf – im Gegenteil: Wie oben ausgeführt, legten die Verfasser der Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts großen Wert darauf, dass die entsprechenden Texte als norma normata der Heiligen Schrift als norma normans unterzuordnen und gegebenenfalls anzupassen sind. – Wolfhart Pannenberg bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Nichts spricht für die Annahme, dass die Väter der Konkordienformel deren zwölf Artikel für den geschichtlich letzten Fall einer solchen anwendenden Interpretation des lutherischen Grundbekenntnisses [d.h. der CA] auf der Ebene kirchlichen Lehrkonsenses gehalten hätten. […] Von daher gesehen muss es als ein Mangel erscheinen, dass es in der weiteren Geschichte der lutherischen Kirchen nicht zu einer Fortschreibung solcher kirchlichen Konsensbildung und also gesamtkirchlicher Lehre gekommen ist. Die lutherischen Kirchen haben offenbar nicht mehr die Kraft für den dazu nötigen Konsens gefunden, obwohl es Herausforderungen und Anlässe genug für eine solche Fortschreibung des kirchlichen Lehrkonsenses über das Bekenntnis der Kirche gegeben hätte. Die Folge des Ausfalls einer solchen Lehrfortschreibung ist die Historisierung des lutherischen Bekenntnisses gewesen, so als ob das 16. Jahrhundert als eine einmalige Heilszeit der Bekenntnisbindung von allen folgenden Zeitaltern der Kirche abgehoben wäre. Das ist zwar lutherische Bekenntnisromantik, aber eine Auffassung, die in den Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts selbst keine Grundlage hat.“27
27
WOLFHART PANNENBERG, Überlegungen zum Problem der Bekenntnishermeneutik, 296f. – Vgl. auch DERS., Bleiben in der Wahrheit als Thema reformatorischer Theologie, 132: Pannenberg geht davon aus, „dass ein Lehrkonsens unter den aus der lutherischen Reformation hervorgegangenen Kirchen für eine Fortschreibung der Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts im nächsten und vollends in den folgenden Jahrhunderten kaum zu erzielen gewesen wäre. […] so sind die lutherischen Kirchen zwar im Bewusstsein ihres geschichtlichen Ursprungs vereint geblieben, auch in der Berufung auf die Augsburger Konfession als Grundbekenntnis der lutherischen Reformation, doch ohne die Fähigkeit zu gemeinsamer Fortschreibung verbindlicher kirchlicher Lehre, wie sie in den Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts ihren Ausdruck gefunden hat.“ 28
Ähnlich argumentiert der Systematiker Ulrich Kühn, indem er sich auf eine Aussage in der Präambel der Grundordnung der EKD28 bezieht: „Das ist überraschend. Die Schrift soll nach der Maßgabe des Bekenntnisses ausgelegt werden: Ist das nicht eine Domestizierung der Schrift durch die kirchliche Tradition?“ – Es stelle sich demgegenüber die Frage, „ob die Kirche nicht […] die Pflicht hat, ihre Orientierung an der Heiligen Schrift auch kritisch gegenüber ihrer Bekenntnisbindung zur Geltung zu bringen.“29 Kühn berührt einen wunden Punkt, wenn er die These vertritt, „dass eine Bindung an das lutherische Bekenntnis, die lediglich die Fragestellungen und Antworten des 16. Jahrhunderts konserviert und repetiert, unzureichend ist und sogar in die Irre führen kann, weil sie den lebendigen Prozess, der zu neuem Bekennen und zu neuer Lehre führt, nicht zu integrieren vermag. Es gibt so etwas wie eine (tötende) Bekenntnisscholastik. Gerade die lutherische Lehre von der Rechtfertigung bedarf einer weiterführenden Interpretation im Lichte der Heiligen Schrift, des ökumenischen Dialogs und der gegenwärtigen Glaubens- und Lebenserfahrung. […]. Es handelt sich hier um eine strukturelle Schwäche der lutherischen Kirchen, die mit ihrem Bekenntnisstand zusammenhängt: Sie sind bekenntnismäßig auf Aussagen des 16. Jahrhunderts festgelegt […].“30
An anderer Stelle geht Ulrich Kühn noch einen Schritt weiter, wenn er bezüglich der Situation in der evangelisch-lutherischen Kirche Sachsens feststellt: „Gewiss wird die Notwendigkeit einer Hermeneutik des Bekenntnisses […] nirgends bestritten. Jedoch ist eine Weiterführung des Bekenntnisstandes und -inhaltes in dem Sinne, dass die Kirche auch heute verbindliche Lehraussagen trifft, im Grunde in unserer Kirche nicht vorgesehen, ja – in Sachsen – durch eine Verfassungsbestimmung ausdrücklich untersagt. Hier sehen wir die doppelte Gefahr einer Festschreibung kirchlich-verbindlicher Lehre auf dem Erkenntnisstand des 16. Jahrhunderts einerseits und einer praktischen Unverbindlichkeit des Bekenntnisses (wegen seiner zu schwer erkennbaren gegenwärtigen Relevanz) andererseits.“31
28
29 30 31
GRUNDORDNUNG DER EKD, Vorspruch: „Für das Verständnis der Heiligen Schrift wie auch der altkirchlichen Bekenntnisse sind in den lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen und Gemeinden die für sie geltenden Bekenntnisse der Reformation maßgebend“ (GO-EKD, 3). ULRICH KÜHN, Welche Bedeutung hat das lutherische Bekenntnis heute?, 132. ebd., 138f. ULRICH KÜHN, Wie lehrt die Kirche heute verbindlich?, 131. 29
Mit Verweis auf die Barmer Theologische Erklärung (1934), die Leuenberger Konkordie (1973) sowie etliche Stellungnahmen kirchlicher Leitungsorgane zu Ergebnissen des ökumenischen Dialogs, die als „lehrmäßige Aktualisierung“ reformatorischer Grundentscheidungen verstanden werden können, heißt es in dem EKD-Text Vom Gebrauch der Bekenntnisse aus dem Jahr 1995: „Die Notwendigkeit kirchlicher Lehrverantwortung kann naturgemäß nicht auf die Zeit des 16. Jahrhunderts beschränkt sein. Denn die Aufgabe kirchlicher Verkündigung steht ständig vor neuen Herausforderungen und Gefährdungen. […] Wenn es zu solchem vielfältigen ‚Fortschreiben‘ geltender Lehre in der Kirche (im Sinne immer neu notwendiger Orientierung der Verkündigung) nicht käme, würden die in der Reformation getroffenen Lehrentscheidungen und -orientierungen in die Gefahr geraten, zum toten Buchstaben zu verkommen.“32
V. Zusammenfassung und Ausblick A.1. Die Forderung nach Schriftgemäßheit von Lehre und Leben der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen erwies sich im Verlauf der Geschichte als Aporie und hat am Beginn des 21. Jahrhunderts mehr denn je als uneingelöst zu gelten. Es stellt sich die Frage: Muss der Protestantismus sich von seinem selbst auferlegten Anspruch verabschieden – oder aber diesen Anspruch neu formatieren? A.2. Der ,Stadtplan der Bibel‘, den der Reformator Martin Luther durch sein Studium der Heiligen Schrift und seine geistliche Erfahrung entdeckt hatte, war offensichtlich keine sich zwangsläufig ergebende Perspektive; er ließ sich deshalb als hermeneutischer Schlüssel zum Umgang mit der Bibel nur bedingt formalisieren und für die Zukunft anwendbar machen. Es stellen sich Fragen: – Inwiefern haben sich die hermeneutischen Bedingungen so verändert, dass Luthers Zugang zur Bibel nicht deckungsgleich übernommen werden kann? – Kann die Kirche bzw. die theologische Wissenschaft diese Veränderungen präzise benennen? – Inwiefern haben Kirche und Theologie die Aufgabe und die Möglichkeiten, diese Bedingungen zu bearbeiten?
32
VOM GEBRAUCH DER BEKENNTNISSE (EKD-Texte 53), 9. 30
A.3. Das im Anschluss an Luther in der Zeit nach ihm konkretisierte Schriftprinzip galt faktisch nie ohne bekenntnismäßige oder andere hermeneutische Absicherungen. Es stellen sich Fragen: – Haben die aktuell jeweils geltenden Bekenntnisse noch die Kraft, Kirche(n) als Interpretationsgemeinschaft(en) der Heiligen Schrift zu einen? – Sind neue exegetische Konsense in Sicht, die als hermeneutische Leitlinien geeignet wären, zur Basis von Interpretationsgemeinschaften zu werden? – Welche Aufgaben stellen sich für wissenschaftliche Schriftauslegung und Systematik, wenn Antworten auf diese Fragen formuliert werden sollen?
31
B. Schriftgemäße Theologie I: Evangelische Identität zwischen Religionsgeschichte und Biblischer Theologie Rochus Leonhardt kommt bei seiner Analyse der Krise des Schriftprinzips zu der Einsicht, dass die mit der Reformation einsetzende neue Konzentration auf die Bibel als Erkenntnisbasis der Theologie folgenreich für die weitere Entwicklung der Auslegungswissenschaften war: „[…] man kann schwerlich leugnen, dass sich jenes exegetische Interesse, das dann zur historisch-kritischen Forschung führte, jedenfalls auch aus den schrifttheologischen Voraussetzungen Luthers und seiner Nachfolger ergeben musste.“33
Insofern könne man „die historisch-kritische Schriftauslegung als legitime Erbin und als […] spezifisch-neuzeitliche Gestalt des reformatorischen Schriftprinzips“ verstehen, – eine Erbin, die dann auch „dessen Krise“ herbeiführte, indem sie von der Zeit der Aufklärung an wesentlich zur „Ausdifferenzierung der Exegese aus dem theologischen Kontext“ beigetragen habe.34 Im Rahmen der Konstituierung der alt- und neutestamentlichen Schriftauslegung als eigener theologischer Disziplinen begann eine zweifache Entwicklung, die sich als folgenreich bis in die Gegenwart erweist: die Auflösung des biblischen Kanons als für die Textauslegung maßgeblicher Größe – heute als Dekanonisierung35 bezeichnet – sowie die zunehmende Entfremdung der Exegese von der Systematik. Für den Beginn dieser doppelten Entwicklung stehen die Namen Johann Salomo Semler und Johann Philipp Gabler.
33 34 35
ROCHUS LEONHARDT, Reformatorisches Schriftprinzip und gegenwärtige Bibelauslegung, 301. ebd. vgl. EVE-MARIE BECKER U. STEFAN SCHOLZ, Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion, sowie dort (623ff) den Beitrag von ODA WISCHMEYER, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion, dessen erster Abschnitt die Überschrift trägt: „Kanonisierung – Hermeneutik – Dekanonisierung“. 32
I. Der Beginn der Dekanonisierung: Die Separation von Exegese und Dogmatik – Entwicklung von der ‚Doppelgesichtigkeit‘ zur Diastase Als „Initiator der neuzeitlichen Diskussion um den Kanon“ und „wesentliche[r] Anreger für die ganze historisch-kritische Erforschung und Auslegung des Neuen Testaments“ kommt Johann Salomo Semler (1725–1791) „zentrale Bedeutung in der neuzeitlichen Theologiegeschichte“ zu.36 Wenn Semler Stellung bezog „gegen das Schriftdogma der lutherischen Orthodoxie“, ging es ihm aus seelsorgerlichen Gründen vor allem darum, „dem einzelnen Menschen zum praktischen und sinnvollen Umgang mit der Schrift zu verhelfen“; in diesem Sinn vertrat er die These: „Der biblische Kanon ist nicht gleichzusetzen mit dem Wort Gottes.“37 – Mit Semler setzt sich die Einsicht durch, dass zum biblischen Kanon zwingend das Geschehen seiner historischen Genese gehört: „Der Kanon ist […] das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses und hat daher keinen göttlichen oder unmittelbar apostolischen Charakter, sondern nur die Autorität einer kirchlichen Schriftensammlung. […] Insgesamt kann Semler folgern, dass die Übereinstimmung früherer Zeiten über den Kanon keinen Grund dafür gibt, dass wir heute ebenso urteilen und den Kanon beibehalten.“38
Indem Semler zwar an einer kirchlichen Relevanz des Kanons festhält, diesem aber keine Verbindlichkeit für den einzelnen Christen zugesteht, bleibt nach ihm „eine allgemein verbindliche Neubegründung der Geltung des Kanons“ offen. Als gleichrangig in seiner Bedeutung für die Geschichte der theologischen Schriftauslegung, zunächst im Bereich des Neuen Testaments, ist Johann Philipp Gabler (1753–1826) einzustufen; seine am 30. März 1787 an der Universität Altdorf gehaltene Antrittsvorlesung trägt den Titel Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele;39 sie gilt „als die Geburtsurkunde der ‚Biblischen Theologie‘.“40 Bis
36 37 38 39 40
so HERMANN VON LIPS, Der neutestamentliche Kanon, 167. ebd., 168. ebd., 177. in: GEORG STRECKER, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, 32ff. so JÖRG FREY, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, 23. 33
zu Gabler verstand man darunter „den Versuch, die biblische Fundierung der protestantischen Dogmatik“ aufzuzeigen „durch eine nach den loci der Dogmatik geordnete Zusammenstellung und Erläuterung von beweiskräftigen Schriftstellen (dicta probantia) aus dem Alten und Neuen Testament.“41 Gabler strebt an, durch exegetische Arbeit die Anschauungen der biblischen Verfasser so zu vergleichen, „dass jedem das Seine unangetastet bleibt und deutlich auf der Hand liegt, in welchem Punkt die einzelnen gut zusammenpassen oder sich wiederum unterscheiden“, denn nur so könne „die Gestalt der reinen, nicht mit anderen vermischten Biblischen Theologie“ erhoben werden; Ziel sei es, festzustellen, „welche Meinungen sich auf die bleibende Form der christlichen Lehre beziehen und so uns selbst angehen; und welche nur für die Menschen eines bestimmten Zeitalters oder einer bestimmten Lehrform gesagt sind.“42 – Damit ist klar: Gabler geht es darum, durch sachgerechte Vorarbeit der Exegese belastbare Grundlagen für christliche Lehre zu schaffen: Erst aus den vergleichend erhobenen Aussagen der Schrift „können ohne Zweifel jene sicheren und unzweifelhaften allgemeinen Vorstellungen eruiert werden, die allein in der Dogmatischen Theologie Verwendung finden.“43 Der Neutestamentler Jörg Frey stellt zusammenfassend fest: „Damit ist im bekanntesten Grundlagentext ‚biblischer Theologie‘ deren Doppelgesichtigkeit evident: So sehr diese historisch vorgeht und Eigenständigkeit gegenüber der dogmatischen Theologie beansprucht, so sehr erfolgt sie zugleich im Interesse der Unterscheidung zwischen dem eigentlich Gültigen und dem nur Zeitbedingten, d.h. im Horizont einer gegenwartsbezogenen Interpretation der biblischen Botschaft.“44
Aus der ,Doppelgesichtigkeit‘ der sich emanzipierenden exegetischen Disziplinen entwickelte sich im Verlauf zweier Jahrhunderte eine Diastase: Im Bereich der Schriftauslegung setzte man sich zum Ziel, ohne dogmatische Bevormundung rein historisch zu arbeiten; die Entdeckung der Vielgestaltigkeit der Bibel schien mehr und mehr zum höchsten Zweck der wissenschaftlichen Schriftauslegung zu werden. – Die Disziplin der Systematik, deren Aufgabe darin besteht, nach dem Verbindenden in der Heiligen Schrift zu fragen, fühlte sich von den Exegeten allein gelassen und ging schließlich wieder dazu über, mehr oder weniger autarke dogmatische Lehrgebäude zu errichten … – Rochus Leonhardt kommt deshalb zu einem drastischen Resümee:
41 42 43 44
ebd., 21 (Hervorh. i. O.). JOHANN PHILIPP GABLER, Von der richtigen Unterscheidung, 41. ebd., 43. JÖRG FREY, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, 24. 34
„Man kann es als eine Ironie der Geschichte betrachten: Im Namen der religiösen Mündigkeit aller Christen hatte Luther die Autorität der Bibel gegen Fehlentwicklungen in der kirchlichen Lehre und Praxis geltend gemacht. Die sich damit stellende Frage, wie eine biblisch fundierte theologische Lehre und Praxis genau auszusehen habe, sollte durch eingehende Untersuchungen der biblischen Texte beantwortet werden. Das Resultat dieser von der Exegese durchgeführten Untersuchungen bestand freilich letztlich darin, dass die Texte der Bibel kein festes Fundament sachgerechter theologischer Lehre und Praxis enthalten […]. Damit aber ging der Dogmatik jene Grundlage verloren, auf die sie seit der Reformation gesetzt hatte.“45
Der Alttestamentler Georg Steins formuliert aus seiner Sicht: „Die moderne wissenschaftliche Exegese beginnt Ende des 18. Jahrhunderts mit dem dezidierten Verzicht auf die Frage nach der Einheit der Schrift. Die neu entworfene ‚Biblische Theologie‘ emanzipiert sich von dogmatischen Vereinnahmungen, ihr Interesse richtet sich auf die Unterschiedlichkeit der einzelnen Stimmen im Kanon […]. Damit ist ein Forschungsansatz umrissen, der […] den Mainstream der wissenschaftlichen christlichen Exegese prägen sollte. ‚Einheit‘ war zum Gegenbegriff einer ‚wahren biblischen Theologie‘ geworden. In der Folge verlor das Thema Einheit der Schrift für die wissenschaftliche Exegese rapide an Bedeutung und wurde mehrheitlich ganz aufgegeben. Diese Entwicklung hatte weitreichende Folgen. Die Behandlung der Bibel in der Exegese und in der Systematik driftete weit auseinander. […] Für Bibelinteressierte eine Quelle der Ratlosigkeit!“46
45 46
ROCHUS LEONHARDT, Wie viel Exegese braucht die Dogmatik?, 268f. GEORG STEINS, Die Bibel als „Ein Buch“ lesen, 70 (Hervorh. i. O.). 35
II. Die religionsgeschichtliche Zugangsweise als konsequente Dekanonisierung: Von Semler über Wrede bis zur Gegenwart Im Zuge der geschilderten Entwicklung wurde und wird das Konzept des biblischen Kanons als verbindliche Schriftensammlung der Interpretationsgemeinschaft Kirche radikal in Frage gestellt. Während sich der Beginn dieser Infragestellung bei Semler noch mit einer gewissen Rücksicht auf die kirchliche Geltung des Kanons vollzog, ging der Neutestamentler William Wrede (1859–1906) 100 Jahre später bereits deutlich weiter; in seinem Text Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie aus dem Jahr 1897 beansprucht er für seine Disziplin, sie habe „wie jede andere wirkliche Wissenschaft ihren Zweck lediglich in sich selbst und verhält sich durchaus spröde gegen jedes Dogma und jede systematische Theologie.“47 Hinsichtlich eines möglichen Bezugs der wissenschaftlichen Exegese zur Auslegungsgemeinschaft der Kirche stellt er lapidar fest: „Für Resultate wie Behandlungsweise [der Exegese] ergibt das Streben, der Kirche zu dienen, schlechthin keinerlei Maxime; denn beides wird lediglich durch die Natur des historischen Objekts bestimmt.“48
Deshalb versteht sich für ihn von selbst, dass der biblische Kanon für die wissenschaftliche Arbeit keinerlei Bedeutung hat: „Keine Schrift des Neuen Testaments ist mit dem Prädikat ‚kanonisch‘ geboren. Der Satz: ‚eine Schrift ist kanonisch‘ bedeutet zunächst nur: sie ist nachträglich von den maßgebenden Faktoren der Kirche des 2. bis 4. Jahrhunderts […] für kanonisch erklärt worden. Darüber belehrt die Kanonsgeschichte hinreichend. Wer also den Begriff des Kanons als feststehend betrachtet, unterwirft sich damit der Autorität der Bischöfe und Theologen jener Jahrhunderte. Wer diese Autorität in anderen Dingen nicht anerkennt – und kein evangelischer Theologe erkennt sie an –, handelt folgerichtig, wenn er sie auch hier in Frage stellt.“49
47 48 49
WILLIAM WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, 83. ebd., 89f. ebd., 85 (Hervorh. i. O.). 36
Daraus ergibt sich für ihn, dass die neutestamentliche Wissenschaft biblische Schriften „nicht als kanonische, sondern einfach als urchristliche Schriften“ untersucht, was konkret bedeutet, „alles das aus der Gesamtheit der urchristlichen Schriften zusammen zu betrachten, was geschichtlich zusammen gehört.“50 Wrede schlägt deshalb vor, die Bezeichnung Neutestamentliche Theologie zu verändern: „Der für die Sache passende Name heißt: urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“51 – Mit dieser Intention verbindet sich seither eine Neuausrichtung der exegetischen Disziplinen, die diesen einen theologischen Charakter nur bedingt zuspricht; Beispiele dafür lassen sich sowohl im Bereich der alttestamentlichen52 wie auch der neutestamentlichen Exegese53 benennen. Der Neutestamentler Jens Schröter stellt hinsichtlich der Situation im Bereich der neutestamentlichen Theologie fest: „Wie nachhaltig diese Destruktion des Kanons […] bis in die heutige Zeit hinein wirkt, lässt sich unschwer an denjenigen Konzeptionen ablesen, die es unmittelbar mit der Kanonfrage zu tun haben, nämlich den Darstellungen einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘. […] Was – bei aller Verschiedenheit der Durchführung – den genannten Entwürfen [Gnilkas, Streckers und Bergers] gemeinsam ist, ist das nur sehr marginale Eingehen auf die Frage, was eigentlich eine ‚Theologie des Neuen Testaments‘ von einer Deskription der einzelnen theologischen Entwürfe des frühen Christentums […] unterscheidet.“54
Es entstehe auf diese Weise der Eindruck, „eine ‚Theologie des Neuen Testaments‘, die diesen Namen verdienen würde, sei eine aus vorkritischen Zeiten stammende Idee, die in der Zeit der historisch-kritischen Forschung der längst erkannten Mannigfaltigkeit der frühchristlichen 50 51 52
53
54
ebd., 86 (Hervorh. i. O.). ebd., 153f. vgl. RAINER ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bde. 1+2, Göttingen 1996 oder MICHAEL TILLY u. WOLFGANG ZWICKEL, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt 2011. vgl. HEIKKI RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, Stuttgart 2000 oder KLAUS BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, 2. Aufl., Tübingen u. Basel 1995. JENS SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, 6f; er bezieht sich auf die Werke JOACHIM GNILKAS (Theologie des Neuen Testaments), GEORG STRECKERS (Theologie des Neuen Testaments) sowie KLAUS BERGERS (vgl. Fußnote 53) und schreibt: „Wenn ,Theologie des Neuen Testaments‘ bei Berger im Untertitel doch wieder auftaucht, dann soll damit zum Ausdruck gebracht werden: Eine Theologie des Neuen Testaments lässt sich nur als Theologiegeschichte des Urchristentums angemessen konzipieren.“ 37
Ansätze zum Opfer gefallen ist und einer Religions- oder Theologiegeschichte des frühen Christentums weichen sollte.“55 Hier ist anzufügen: Die zitierte Einschätzung Schröters liegt mittlerweile fast zwei Jahrzehnte zurück; gegenwärtig existieren neue Entwürfe, die sich dezidiert auch der Frage nach der Einheit des Neuen Testaments stellen.56 Im Folgenden geht es um den Weg, der seit der Mitte des letzten Jahrhunderts dorthin geführt hat.
III. Die Wiederentdeckung der Bedeutung des Kanons I: Kanon im Kanon, Mitte der Schrift – Biblische Theologie – Kanonische Schriftauslegung 1.
Ernst Käsemann und der Auftakt einer neuen Kanon-Debatte
Ein Umdenken im Blick auf die Bedeutung des biblischen Kanons setzte bereits mit Ernst Käsemann (1906–1998) ein, dessen berühmter Vortrag Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?57 das Thema neu in den Mittelpunkt der Forschung stellte; im Rahmen seiner 1951 in Göttingen vorgetragenen Ausführungen formulierte er eine provokante These: „Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d.h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielfalt der Konfessionen.“58 – Dadurch, dass im Neuen Testament „nicht selten auch unvereinbare theologische Gegensätze zu konstatieren“ seien,59 ergebe sich im Blick auf die unterschiedlichen Konfessionen zwangsläufig das Urteil: „Ihr Rechtsanspruch ist grundsätzlich unbestreitbar und im einzelnen beweisbar, die Einheit der Kirche umgekehrt von solchem Ausgangspunkt her grundsätzlich unbeweisbar und jeder konfessionelle Absolutheitsanspruch bestreitbar.“60 – Daraus zieht Käsemann eine weitreichende Konsequenz: 55 56
57
58 59 60
ebd., 7. Zu nennen wären u.a. PETER STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, ULRICH WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments sowie FERDINAND HAHN, Theologie des Neuen Testaments. ERNST KÄSEMANN, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?; in: DERS., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 214–223. ebd., 221. ebd., 218. ebd., 221. 38
„Die Zeit, in der man die Schrift als ganze dem Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaubwürdig zu machen. Der nt.liche Kanon steht nicht zwischen Judentum und Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Judentum so auch dem Frühkatholizismus Raum und Basis.“60
Auch wenn Käsemann selbst einräumt, dass der Kanon, „insofern […] er Evangelium ist und wird“61, sehr wohl auch die Einheit der Kirche begründe, löste er im Protestantismus eine Entwicklung aus, im Rahmen derer man alles daran setzte, exegetisch einen Kanon im Kanon bzw. eine Mitte der Schrift zu benennen. Sein eigener Beitrag dazu bestand in einer doppelten Abgrenzung; einerseits wollte er „die ganze Schrift behalten, um nicht dem Individualismus der Einzelnen, der Gruppen und Konfessionen zu verfallen“; andererseits ließ er keinen Zweifel daran, dass „die Rechtfertigung des Gottlosen jene Mitte aller christlichen Verkündigung und darum ebenfalls der Schrift“ sei, „auf welche unter keinen Umständen verzichtet werden“ dürfe.62 Dass dies möglich sei, stand für ihn fest: „Man muss mit einem Satz sagen können, was Christum treibet,63 oder man wird überhaupt nichts Entscheidendes zu sagen haben. […] Auch exegetisch und historisch lässt sich die Aussage vertreten, dass die Schrift mit hinreichender Klarheit auf diese ihre eigene Mitte im Evangelium hinweist, aus welcher sie interpretiert werden will.“64 Der Käsemann-Schüler Wolfgang Schrage nimmt die Linie seines Lehrers auf, wenn er folgende Feststellung trifft: „Der vielstimmige Chor der neutestamentlichen Zeugen soll nicht gewaltsam auf unisono gestimmt […] werden, wohl aber soll der cantus firmus unüberhörbar bleiben.“65
Gleichzeitig versucht er, Vorwürfe (gegen Käsemanns Position) zurückzuweisen, deren Berechtigung sich mehr und mehr herausstellen sollte: Schrage meint, mit der Bestimmung des Motivs der Rechtfertigung des Gottlosen als Mitte der Schrift sei „weder ein Reduktions- oder Selektionsprinzip gemeint noch erst recht ein exegetisches Verfahren empfohlen, bei der die ganze Schrift
61 62 63
64 65
ebd., 223. ERNST KÄSEMANN, Das Neue Testament als Kanon, 403ff. „was Christum treibet“, gilt nach Luther als sprichwörtliche Summe des Evangeliums – so heißt es in seiner Vorrede zum Jakobus-Brief: „Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man siehet, ob sie Christum treiben oder nicht, […]“; in: LUTHERS VORREDEN ZUR BIBEL, 216. ERNST KÄSEMANN, Das Neue Testament als Kanon, 406f. WOLFGANG SCHRAGE, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testaments, 442 (Hervorh. Verf.). 39
durch die paulinische Brille gelesen wird.“66 – Dass es bei einem Anschluss an Käsemann auch zu solcher Reduktion kommen kann, zeigt die 1976 erschienene Studie des Neutestamentlers Siegfried Schulz, die den Titel trägt: Die Mitte der Schrift. Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als Herausforderung an den Protestantismus. – Schulz prüft unter dem genannten Thema gewichtige Positionen seiner Zeit und kommt zu folgender Einschätzung: „Historisch wie sachkritisch beurteilt, bleibt […] nach diesem Überblick über die jüngsten Versuche, die Mitte der Schrift zu bestimmen, nur das paulinische Evangelium übrig. Das bestätigt E. Käsemann, der darum konsequent und völlig sachgemäß den Kanon im Kanon mit dem paulinischen Evangelium in eins fallen lässt.“67
Aus dieser These leitet Schulz pointierte Forderungen ab: „Das paulinische Evangelium allein ist sachkritisch die Mitte der Schrift, der Kanon im Kanon und das reformatorische sola scriptura. […] Der neutestamentliche Kanon enthält nicht nur das paulinische Evangelium, sondern gleichzeitig seine Verstehensgeschichte, die in Wirklichkeit eine Geschichte der Missverständnisse, Fehlentwicklungen und Irrwege ist. […] Demgegenüber hat evangelische Theologie die Paulusbriefe aus zeitlichen und sachlichen Gründen an die Spitze des neutestamentlichen Kanons zu stellen [!], auf die dann die Evangelien, die Apostelgeschichte und die übrigen frühkatholischen Briefe folgen würden. Eine solche neue Anordnung der neutestamentlichen Schriften entspräche einem ursprünglichen Protestantismus und einer echten Katholizität.“68
Während eine so formulierte Position eine radikale Zuspitzung des protestantischen Ringens um die Mitte der Schrift darstellt, zeigt sich auf römisch-katholischer Seite eine doppelte Entwicklung: Einerseits eine grundsätzliche Öffnung für das evangelische Bemühen um ein präzise bestimmtes Evangelium, – andererseits das Festhalten daran, dass die Umgrenzung einer Mitte der Schrift als Gegenstück unausweichlich einen kanonischen Rand entstehen lässt; diesbezüglich schreibt der (katholische) Neutestamentler Heinz Schürmann (1913–1999): „Wie der Kreis nicht nur seine zentrale Mitte hat, sondern notwendig auch einen begrenzenden Umfang, so haben die apostolischen Überlieferungen (vor allem die Jesustradition und die paulinischen Briefe) eine zentrierende, ,angreifende‘ Funktion, die nachapostolischen
66 67 68
ebd., 441. SIEGFRIED SCHULZ, Die Mitte der Schrift, 422 (Hervorh. i. O.). ebd., 429ff (Hervorh. Verf.). 40
Schriften (vor allem die evangelischen Redaktionen und die nachpaulinischen Briefe) eine ,umgreifende‘, darin aber ebenfalls maß-gebliche [sic!] Bedeutung. […] Ein ,innerer Kanon‘ im ‚äußeren Kanon‘ kann nur im Neben-, Mit-, Für- und manchmal auch Gegeneinander […] bestimmt werden. […] Die neutestamentliche Selbstkritik sucht immer ‚das Evangelium‘, das bestimmt wird von der ‚Mitte der Schrift‘, das aber immer im Hinblick auf den ‚Umfang der Schrift‘. Während die ‚Mitte der Schrift‘ mehr reformatorisch ‚angreifend‘ ist, ist der ‚Umfang der Schrift‘ mehr katholisch ‚umgreifend‘. Erst die ecclesia catholica et evangelica (semper reformanda) als creatura et magistra verbi ist die wahre Kirche Christi.“69
Zusammenfassend und auf den entscheidenden Punkt gebracht, kann Schürmann formulieren: „So bestimmt sich die ‚Mitte‘ der Schrift auch von diesem Umfang her, vom ‚Ganzen‘ der Schrift. Die ‚Mitte‘ ist inhaltlich nicht ‚das Ganze‘, aber ohne das Ganze ist die Mitte eben nicht die Mitte.“70
2.
Die neue Orientierung am Kanon und die Frage nach seiner Einheit in aktuellen Entwürfen der Biblischen Theologie
Im ausgehenden 20. Jahrhundert zeigt sich zunächst im deutschsprachigen Raum eine Entwicklung, innerhalb derer man die Anliegen einer Biblischen Theologie, wie sie von Gabler gefordert wurde, neu aufgreift, ohne dabei falsche Weichenstellungen der Vergangenheit mitzuvollziehen. Im Zuge dessen gewinnen die Frage nach dem Kanon und das Bemühen, neben der Vielfalt auch die Einheit des Neuen Testaments bzw. der ganzen Bibel zu thematisieren, ein neues Gewicht. – Jörg Frey formuliert in seinem Forschungsüberblick Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments wichtige Denkanstöße zu den genannten Themenbereichen: „Was bedeutet es, den Kanon als Raum wahrzunehmen, in dem unterschiedliche Zeugen – durchaus spannungsreich – gesammelt sind und sich gegenseitig ,relativieren‘, in dem Evangelien und Briefe, Paulus und Petrus, Paulus und Jakobus nebeneinanderstehen? […] Wird durch die Frage nach der Einheit […] der historische Ansatz verwässert? […] Oder drängt sich diese Frage auch in historischer Perspektive auf, wenn man das frühe Christentum trotz aller internen Auseinandersetzungen als eine zusammenhängende Bewegung begreifen und dem Anspruch einer grundlegenden Übereinstimmung in der Evangeliumsverkündigung (z. B. 1 Kor 15,11) gerecht werden will? Wenn aber die Frage nach der Einheit in der Vielfalt 69 70
HEINZ SCHÜRMANN, Auf der Suche nach dem „Evangelisch-Katholischen“, 364ff (Hervorh. Verf.). ebd., 368. 41
gestellt werden muss, wo lässt sich eine solche Einheit finden und wie lässt sie sich demonstrieren?“71
a) Der Neutestamentler Hans Hübner legte von 1990 bis 1995 eine dreibändige Biblische Theologie des Neuen Testaments72 vor. – In seinem Vortrag Warum biblische Theologie?73 geht es ihm u.a. um den Zusammenhang der Themen Kanon und Kirche; so weist er darauf hin, dass die Fixierung des Kanons nicht als „Willkürakt“ zu verstehen sei, vielmehr als „notwendige geschichtliche Konsequenz der Erkenntnis, dass die urchristliche Verkündigung in einer Kirche, die sich als zeitliche und geschichtliche Größe begreift, einer schriftlichen Fixierung bedarf. […] Der Ansatzpunkt […] ist die missionierende, die verkündigende Kirche. Sie als Kirche des lebendigen Wortes Gottes ist das ekklesiologische Urdatum.“ 74 – Hinsichtlich des Zusammenhangs von Altem und Neuem Testament75 – also der Einheit der Schrift insgesamt – geht er von der Einheit Gottes selbst aus: „Die Rezeption der Heiligen Schrift Israels als Altes Testament bedeutet […] notwendig das Bekenntnis zu Jahwäh als dem Gott Israels, der mit dem Vater Jesu Christi identisch ist: Der Gott also, der sich unter dem Namen Jahwäh dem Volke Israel als dessen rettender und richtender und dann wiederum rettender Gott offenbart hat, hat diese Offenbarungen durch seine nun endgültige Offenbarung in Jesus Christus abgeschlossen.“76
Sein Fazit kann daher lauten: „Gott tut sich […] in der Geschichte als Deus hermeneuticus und als solcher als Deus pro nobis kund. […] Die Biblische Theologie und die Theologie als ganze koinzidieren also in Gott.“77
71
72 73 74 75
76 77
JÖRG FREY, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, 13f.16 (Hervorh. i. O.). HANS HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bde. I–III, Göttingen 1990ff. HANS HÜBNER, Warum biblische Theologie?; in: Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, 9–39. ebd., 20f. Wichtig für HÜBNER (ebd., 27) ist die Erkenntnis, dass das AT durch seine spezifische Rezeption im NT eine Veränderung erfährt: „Wir stehen hier vor dem unbestreitbaren Tatbestand, dass die jüdisch gelesene und die christlich gelesene Heilige Schrift in ihrem jeweiligen Rezeptionssinn in einem ungeheuer großen Ausmaß divergieren.“ ebd., 33. ebd., 37ff (Hervorh. i. O.). 42
b) Die Biblische Theologie des Neuen Testaments, die der Exeget Peter Stuhlmacher 1992 und 1999 veröffentlicht hat, betont auf dem Hintergrund der sich zuspitzenden Krise des Schriftprinzips ausdrücklich die Bedeutung des Kanons für die Exegese.78 – Bereits in dem programmatischen Aufsatz Der Kanon und seine Auslegung79 bezeichnet Stuhlmacher besagte Krise als „kirchliches Existenzproblem“, das „an zwei Befunden“ erkennbar sei: „In den evangelischen Großkirchen klaffen Lehre, Leben und biblische Vorgaben extrem weit auseinander, und in der Auslegung der Bibel herrscht Anarchie; in vertraulichen Gesprächen muss man sogar schon auf die Frage gefasst sein, ob die protestantischen Kirchen nicht längst an und mit dem Schriftprinzip gescheitert seien.“79 Stuhlmacher geht grundsätzlich davon aus, dass zwischen dem zweiteiligen Kanon der Kirche „ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang“ bestehe, „der offenbarungsgeschichtliche Qualität besitzt“; das Neue Testament könne deshalb nur in Verbindung „mit der Hebräischen Bibel und der Septuaginta so verstanden werden, wie es verstanden sein will.“80 – Dieses Anliegen greift er auf in seinem Hermeneutik-Entwurf Vom Verstehen des Neuen Testaments: Er regt an, „eine methodologisch und wirkungsgeschichtlich reflektierte Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten zu praktizieren.“81 Damit es dazu kommen könne, verortet er die Exegese einerseits dezidiert im Raum der Kirche, um andererseits ihre bleibende Allgemeinverständlichkeit anzumahnen: „Der natürliche Ort für solche Schriftauslegung ist das Leben der Kirche. Die äußere Klarheit der Schrift nötigt aber dazu, bei der Auslegung so zu arbeiten und zu argumentieren, dass Methode und Ergebnisse auch über den kirchlichen Raum hinaus verständlich und diskutabel bleiben; vor einer Verschränkung historischer und dogmatischer Urteile darf die kirchliche Auslegung der Schrift allerdings nicht zurückschrecken.“82
78
79
80 81 82
PETER STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I+II, Göttingen 1992 u. 1999; vgl. Bd. II, 302ff. DERS., Der Kanon und seine Auslegung, 264; ebd.: „Wenn der Evangelischen Kirche Kraft und Wille fehlen, den reformatorischen Grundsatz sola Scriptura durchzuhalten, hat sie gegenüber dem römischen Katholizismus […] kein Existenzrecht mehr. Die Frage nach der Wertschätzung der Heiligen Schrift und der ihr angemessenen Auslegung ist zur Überlebensfrage des Protestantismus geworden“ (Hervorh. i. O.). DERS., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, 303. DERS., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 222 (Hervorh. i. O.). ebd., 8. 43
Konkret skizziert83 er, dass nach einer ersten „Interpretation auf der Ursprungsebene der Texte“ eine zweite „auf der Ebene des biblischen Kanons“ zu erfolgen habe; dies habe „eine hermeneutisch bedeutsame Neubewertung der Einzeltexte“ zur Folge: „Historisch wird damit der Einzeltext über seine Entstehungszeit hinausverfolgt und seiner Einbettung in jene christliche Tradition Rechnung getragen, die ihn zu einem Bestandteil des Kanons aus Altem und Neuem Testament hat werden lassen. […] Indem die Interpretation diese neue Traditionsstufe der Kanonisierung berücksichtigt, wird sie zur Beurteilung der Texte als Bestandteil des Kanons genötigt, muss also auch ein […] Urteil über Umfang, Recht und Grenze des Kanons entwickeln.“84
Dieses theologische Urteil sei in dem Bewusstsein zu treffen, „dass die Bibel vielfältige Stimmen in sich vereint, die sich nicht nur gegenseitig ergänzen, sondern auch widersprechen. Sie müssen unterschieden, gewichtet und kombiniert werden.“85 – Auf diese Weise habe der Ausleger Abwägungen zu treffen, ob es sich jeweils „um Aussagen von gesamtbiblisch minderer oder größerer Bedeutung“ handele, ob dem betreffenden Text „durch andere Schriftaussagen widersprochen, oder ob er von ihnen bestätigt und in besonderes Licht gerückt“ werde. – So könne ein Bezug entstehen zur Mitte der Schrift, von der ja „ernsthaft erst und nur so die Rede sein“ könne, insofern „wirklich das Zeugnis der ganzen Schrift aus Altem und Neuem Testament gehört und bedacht wird;“ diese Mitte bestimmt Stuhlmacher wie folgt: „Christlich gibt die Schrift Zeugnis von dem einen Gott, der als Schöpfer der Welt Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt und durch seinen Sohn, den Messias Jesus von Nazareth, in verheißungsvoller Endgültigkeit zum Heil aller Sünder aus Juden und Heiden gehandelt hat […]. Nur so gesehen – und eben nicht einfach abstrakt als ,Rechtfertigungslehre‘ o.ä. – ist das Evangelium wirklich Mitte der Schrift aus Altem und Neuem Testament. So lässt es sich dann aber auch gesamtbiblisch als Kriterium anwenden, das aus dem Zentrum der Schrift heraus als theologischer Maßstab vorgegeben ist.“86
Die Beurteilung einzelner Aussagen der Schrift an einem theologischen Maßstab stehe in der Tradition der Alten Kirche: Diese habe dabei die sog. „Wahrheitsregel […] als normativen Inbegriff
83 84 85 86
ebd., 240ff. ebd., 248f. DERS., Der Kanon und seine Auslegung, 287. DERS., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 249; vgl. dazu die durch Stuhlmacher weiter explizierte Mitte der Schrift in: DERS., Biblische Theologie II, 320f. 44
der zweiteiligen christlichen Bibel“ zur Anwendung gebracht; sie konnte so verfahren, „weil sie die Konsonanz der biblischen Aussagen über ihre Divergenz gestellt und die christliche Wahrheit mit der Offenbarungswirklichkeit des einen Gottes, seines einen Sohnes Christus Jesus und des (einen) Heiligen Geistes gleichgesetzt hat.“87 – Auf einer „dritten Interpretationsstufe“ habe dann die Entscheidung über die aktuelle Auslegung des jeweiligen Textes zu erfolgen; dabei setze „die kirchliche Bekenntnisüberlieferung“ zwar „unentbehrliche Wegmarkierungen“, sei aber gleichwohl selbst „immer neu an der Schrift zu messen.“88
3.
Kanonische Schriftauslegung (canonical approach) als exegetischer Neuansatz im Entwurf von Brevard S. Childs
Der US-amerikanische Alttestamentler Brevard S. Childs leitete durch die 1970 erschienene Studie Biblical Theology in Crisis89 sowie durch sein Werk Introduction to the Old Testament as Scripture90 aus dem Jahr 1979 eine partielle Neuausrichtung der historisch-kritischen Schriftauslegung ein, indem er dem biblischen Kanon und seinem Zustandekommen grundsätzliche hermeneutische Bedeutung beimisst. – Das im Anschluss an ihn canonical criticism benannte Verfahren wendet Childs in der 1993 erschienenen Biblical Theology of the Old and New Testament 91 auf die ganze Bibel an; das zweibändige Werk liegt mit dem Titel Die Theologie der einen Bibel 92 seit 1996 auch in deutscher Sprache vor und bereitet seither einer neu entstehenden Kanonischen Schriftauslegung den Boden; es stellt auch insofern ein Novum dar, als hier erstmals seit der Aufteilung der exegetischen Disziplinen auf die Bereiche Altes und Neues Testament im 18. Jahrhundert eine wissenschaftliche Theologie die gesamte Heilige Schrift zum Gegenstand hat. In dem Beitrag Biblische Theologie und christlicher Kanon nennt Childs drei Gründe93 für sein neuartiges Vorgehen:
87 88 89 90 91
92
93
DERS., Der Kanon und seine Auslegung, 287 (Hervorh. i. O.). DERS., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 250. BREVARD S. CHILDS, Biblical Theology in Crisis, Louisville 1970. DERS., Introduction to the Old Testament as Scripture, London u. Philadelphia 1979. DERS., Biblical Theology of the Old and New Testaments: Theological Reflection on the Christian Bible, London u. Philadelphia 1993. DERS., Die Theologie der einen Bibel, Bd. I: Grundstrukturen, Bd. II: Hauptthemen, Freiburg u.a., 1994 u. 1996. DERS., Biblische Theologie und christlicher Kanon, 13f (Hervorh. i. O.). 45
1. Der „Begriff des Kanons“ sei weit mehr als „eine späte kirchliche Festlegung des Umfangs der normativen Schriften“, sondern „ein tief im Schrifttum selbst wurzelndes Bewusstsein.“ 2. Den Kern der Kanonisierung bilde „ein grundlegender hermeneutischer Vorgang“ der Überarbeitung und Veränderung der heiligen Schriften; dafür gesorgt hätte „ein theologisches Interesse“, durch welches „die Texte auf ein besonderes religiöses Ziel hin gestaltet“ worden seien. 3. Der „kanonische Prozess“ hätte sich nicht nur als Material-Auslese vollzogen, sondern auch als „kritische Beurteilung des Inhalts“ etwa durch Kürzung, Ausweitung oder besondere Zuordnung.
Insgesamt strebt Childs an, „wahrzunehmen, in welchem Maß der kanonische Prozess die Umgestaltung von Texten zur Heiligen Schrift bewirkt“ hat; dabei sei sein Vorgehen „nicht weniger kritisch als die traditionellen Methoden historischer Kritik“, auch wenn es „die Überbetonung der diachronen Dimension“ dadurch vermeide, dass es die Texte in ihrer Endform zum Ausgangspunkt der Untersuchungen mache94. Im Vorwort des ersten Bandes seiner Theologie schreibt Childs im Rückblick auf seine Forschungsarbeit: „Es wurde mir alsbald schmerzlich bewusst, dass ein eiserner Vorhang die Bibel von der Dogmatik trennt, […]. Ich bin mir sicher, dass der Fehler bei beiden Disziplinen liegt, jedenfalls verhindern tiefes Misstrauen und Desinteresse ernsthafte Zusammenarbeit. […] Wenn es für die Biblische Theologie irgendeine Zukunft gibt, dann ist es sicherlich die Aufgabe der nächsten Generation, Verbindungen zwischen den Disziplinen Bibelwissenschaft und Dogmatik herzustellen.“95 Während Childs im ersten Band der Theologie der einen Bibel zunächst seinen Ansatz grundlegend beschreibt, um dann das jeweilige „Glaubenszeugnis“96 des Alten und des Neuen Testaments getrennt zu behandeln, fragt er im zweiten Band nach theologischen Hauptthemen der ganzen Bibel, wie z.B. Identität Gottes, Bund und Erwählung, Christus als Herr, Versöhnung mit Gott, Gesetz und Evangelium sowie Königsherrschaft Gottes; abschließend stellt er Grundlinien biblischer Ethik dar. Den Ausgangspunkt für sein Werk beschreibt er wie folgt: „Biblische Theologie hat als den ihr eigenen Kontext die kanonischen Schriften der christlichen Kirche, nicht, weil nur diese Literatur ihre Geschichte beeinflusst hat, sondern wegen der besonderen Rezeption dieser Schriftensammlung durch eine Glaubens- und Handlungsgemeinschaft.
94 95 96
ebd., 14. DERS., Die Theologie der einen Bibel I, 16. ebd., 6 u. 9. 46
Die christliche Kirche antwortete auf diese Literatur als das maßgebliche Wort Gottes und es bleibt existentiell verpflichtend, nach ihrer inneren Einheit zu forschen, und zwar wegen ihres Bekenntnisses zu dem einen Evangelium von Jesus Christus, das sie der Welt verkündet. Deshalb war es ein fataler methodischer Fehler, die Natur der Bibel allein in Kategorien der Religionsgeschichte zu beschreiben, eine Bewegung, die sich nur zu einer Bestreitung der Integrität des Kanons und einer Leugnung der Legitimität seines Inhalts als Theologie entwickeln konnte.“97
Grundsätzlich verpflichtet sich Childs dem Anspruch, die Heilige Schrift in der Breite aller Stimmen zu Wort kommen zu lassen, um diese dennoch in ihrem die Kirche normativ verpflichtenden Charakter wahrzunehmen: „Insgesamt zielt der hier gemachte Vorschlag nicht darauf, dass ein Kanon innerhalb des Kanons entwickelt werden soll, und auch nicht darauf, […] den Kanon mit gesammelter kirchlicher Tradition zu identifizieren. Eher steckt der gesamte Kanon der christlichen Kirche als eine Art regula fidei für die Glaubensgemeinschaft den angemessenen Kontext ab, in dem wir stehen; […].“98
Man darf fragen, ob Childs den selbst gesetzten Anforderungen genügen kann. – Im Vorwort des zweiten Bandes der Theologie der einen Bibel schreibt der Alttestamentler Manfred Oeming: „Childs‘ Position mit ihrer Betonung der Einheit der Schrift aus Altem und Neuem Testament in einem Kanon“ könne „zunächst wie ein Rückschritt in die vorkritische Schriftauslegung“ wirken. Gleichwohl gelte: „Er überwindet ein individualistisches Verstehen durch die Herausarbeitung der hermeneutischen Bedeutung von Kirche als Glaubensgemeinschaft. – Im Blick auf die Methoden der Schriftauslegung zeigt Childs auf, dass es eine gefährliche Verengung ist, die Texte ausschließlich als alleinstehende Solisten in bestimmter historischer Situation zu interpretieren; er lenkt die Aufmerksamkeit auf die vielfachen Vernetzungen innerhalb der Bibel […], die dazu beitragen, den Texten über den Augenblick hinaus klassische Bedeutung zu verleihen.“99
97 98 99
ebd., 26. ebd., 91 (Hervorh. i. O.). DERS., Die Theologie der einen Bibel II, 9ff. 47
IV. Die Wiederentdeckung der Bedeutung des Kanons II: Auf dem Weg zu einem integrierten Ansatz Dass Brevard Childs durch sein Konzept der kanonischen Schriftauslegung die „hermeneutische Bedeutung von Kirche als Glaubensgemeinschaft“99 neu in den Mittelpunkt stellte, wirkt sich auch im deutschsprachigen Raum mehr und mehr als heuristisches Prinzip der Exegese aus – unabhängig davon, wie die konkreten Ergebnisse, zu denen Childs gelangt ist, beurteilt werden. – Dies soll zunächst für den Bereich der evangelischen Theologie anhand konkreter Positionen dargestellt werden.
1.
Jens Schröter: Der Kanon als Grundlage der Kirche
In seinem Aufsatz Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments geht der Exeget Jens Schröter von folgendem negativen Befund aus: „Die historisch-kritische Forschung hat durch die Herausarbeitung der Vielfalt frühchristlicher Theologien die Vorstellung einer theologischen Einheit der im Neuen Testament versammelten Schriften destruiert. An deren Stelle ist die Darstellung von Theologien im frühen Christentum getreten, […].“100
Demgegenüber vertritt er die Auffassung, dass „die Entwicklung hin zum […] Kanon“ zeige, „dass die neutestamentliche Wissenschaft erst dann zu ihrem Ziel gelangt, wenn sie deutlich machen kann, warum gerade die von ihr untersuchten Texte zur Grundlage der christlichen Kirche geworden sind.“ 101 – Diese Basisfunktion des Kanons kann, so Schröter, auch für die Kirche der Gegenwart kaum überschätzt werden: „Die Festlegung des Kanons ist […] Ausdruck eines umfassenden Vorgangs, innerhalb dessen sich das entstehende Christentum auf bestimmte Überzeugungen festgelegt hat, die von da ab den Rahmen für seine Deutung von Wirklichkeit und Geschichte bilden. […] Er verpflichtet
100 101
JENS SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, 363 (Hervorh. i. O.). ebd., 358. 48
den christlichen Glauben […] auf seine Anfänge und gibt ihm […] durch seine Profilierung in Konflikten mit ‚Häretikern‘ Konturen.“102
Insgesamt gehe es bei einer adäquaten Berücksichtigung des Phänomens Kanon „um die Erfassung der Geschichtlichkeit des Christentums als einer Religion mit einem weiten, aber nicht konturlosen Spielraum für Interpretationen“. Einer Theologie des Neuen Testaments müsse es gelingen, die kanonischen Schriften „im Blick auf das in ihnen gemeinsam zum Ausdruck kommende Verständnis des Handelns Gottes in Jesus Christus miteinander in Beziehung zu setzen und als Dokumente zu interpretieren, die zur Formierung christlicher Identität beigetragen haben.“103 Schröter ist sich durchaus des positiven Ertrags der historisch-kritischen Schriftauslegung bewusst, wenn er festhält, dass das Bewusstsein der historischen Genese des Kanons unhintergehbar sei; dies ist für ihn vor allem mit drei Erkenntnissen verbunden:104 1. Es war am Ende des 18. Jahrhundert ein wichtiger und notwendiger Schritt, die Exegese „aus der Vorherrschaft einer Dogmatik“ zu befreien, der die biblischen Schriften „nur als dicta probantia dienten.“ 2. Biblische Theologie könne nicht von einer bruchlosen heilsgeschichtlichen Entwicklung ausgehen – dies gelte z.B. gegen Stuhlmacher –; es handele sich bei der Einfügung der Schriften des Alten Testaments in den christlichen Kanon „um den Prozess einer Deutung autoritativer Schriften, ausgehend von einer neuen Erfahrung, die bestimmt wird durch die Ereignisse um Jesus von Nazareth“; dieser Prozess habe „in der Konsequenz zur Trennung vom Judentum geführt.“ 3. Der Kanon sei „als eine Größe in Erscheinung“ getreten, „die den End-, jedoch nicht den Anfangspunkt der Herausbildung des Christentums als eigenständiger Größe“ markiert.
Mit diesen Vorgaben sei jedoch durchaus auch unter historisch-kritischen Bedingungen von einer grundsätzlichen „Relevanz des Kanons“105 auszugehen, und zwar in dreierlei Hinsicht: a) Die Bildung eines Schriftenkanons erfülle für eine Gemeinschaft zwei grundlegende Funktionen106, indem dieser einerseits für Entlastung, andererseits für die Bildung einer kollektiven Identität sorge: 102 103 104 105 106
ebd., 366f. ebd., 372. DERS., Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, 9. ebd., 10. ebd., 10f. 49
- In jeder Gemeinschaft stelle sich „notwendigerweise die Frage nach Kriterien für Normatives, für nicht ständig zur Disposition Stehendes, für eine Sicht auf die Vergangenheit, die diese, wenn auch nicht vereinheitlicht, so doch auf ein Spektrum möglicher Deutungen begrenzt und damit handhabbar macht.“106 - Die „Herausbildung der Identität einer Gemeinschaft“ sei gemäß den Forschungen des Religions- und Kulturwissenschaftlers Jan Assmann ein weiterer wichtiger Grund für die Festlegung eines normativen Schriftenbestands.107
b) Ein zweiter wichtiger Aspekt, der bei der Beurteilung des christlichen Kanons zu berücksichtigen sei, lasse sich „nur als gesamtbiblischer begreifen“, und zwar hinsichtlich der zentralen Bedeutung des Alten Testaments sowie des spezifischen Profils der neutestamentlichen kanonischen Schriften: - Die Konflikte „mit Markion, den gnostischen Bewegungen“ und „dem Montanismus“ führten letztlich dazu, dass die entstehende Identität der Kirche „gegen eine Abwertung der Schriften Israels, gegen eine Aufgabe des Bezugs zur irdischen Person Jesu sowie gegen eine sich absolut setzende Prophetie erstritten werden musste.“ - Zwar sei Käsemann insofern zuzustimmen, als der Kanon durchaus „die Vielfalt der Konfessionen“ ermögliche; daneben gelte aber genauso, dass er „Grenzen“ ziehe, „die zu überschreiten im Sinne der Identität christlichen Glaubens nicht unproblematisch ist.“108
c) Weiterhin bestünde eine wesentliche Aufgabe darin, „die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der historischen Kritik selbst zu bedenken“; so könne im 21. Jahrhundert nicht mehr davon ausgegangen werden, dass historische Arbeit gänzlich isoliert von Grundüberzeugungen zu leisten sei; stattdessen „müsse die selbsttätige, schöpferische Kraft des Geschichtsschreibers hinzutreten, der das Erforschte verbindet und deutet und so aus dem historischen Material relevante Vergangenheit entstehen“ lasse.109 So vertritt Schröter die Meinung, dass bei einer Berücksichtigung „der Funktion des Kanons als richtungsweisender, jedoch nicht zu starr handhabender, ,verbalinspirierter‘ Größe […] die Grabrede auf einen orientierenden Maßstab zugunsten einer voraussetzungslosen Ausrichtung am historisch Gewesenen als voreilig erscheint;“ der Kanon trete „als ein ,Kompromissdokument‘
107
108 109
vgl. JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 125–129. JENS SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, 11f. ebd., 13f. 50
in den Blick, dessen produktive Kraft erst dann deutlich wird“, wenn Verkürzungen der Vergangenheit aufgegeben werden.110
2.
Gerd Theißen: Kanon, Inkarnation und innere Pluralität
a) Der Kanon als Konsequenz der Inkarnation In seinem Beitrag Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? vertritt der Neutestamentler Gerd Theißen die These:111 „Weil sich das Wort Gottes nach urchristlicher Überzeugung in der Geschichte ‚inkarniert‘ hatte, konnte es in Büchern sekundär ‚inskripturiert‘ werden. So wie die profane Geschichte Ort der Offenbarung geworden war, so werden im Neuen Testament profane Literaturformen Zeugen der Transzendenz.“
Damit gelingt es ihm, die Anschauung Wredes112 von der den neutestamentlichen Schriften erst nachträglich zugesprochenen kanonischen Würde zu integrieren; die Positionen ursprünglicher und sekundärer Kanonizität schließen sich demnach keineswegs aus: „Wir waren von einer Antithese […] ausgegangen: Entweder wurden die neutestamentlichen Schriften erst sekundär aus Gebrauchsschriften und Kleinliteratur zu kanonischen Schriften, oder sie besaßen von Anfang an Kanonizität. Beide Thesen sind richtig. Das Neue Testament hat profane Gattungen, nämlich Bios und Brief, sekundär kanonisiert und zum Medium seiner transzendenzbegründenden Botschaft gemacht. Das geschah aufgrund der Überzeugung, dass in der Geschichte des Jesus von Nazareth das Alte Testament seine textexterne Erfüllung gefunden hat und die neu entstehenden neutestamentlichen Schriften in dieser Geschichte ihre textexterne Mitte haben.“113
110
ebd., 15.
111
GERD THEIßEN, Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? Kanonizität als literaturgeschichtliches Problem, 446 (Hervorh. i. O.). vgl. Fußnote 49. GERD THEIßEN, Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? Kanonizität als literaturgeschichtliches Problem, 445f.
112 113
51
Theißen macht zunächst geltend, dass ein Kanon „eine Sammlung von Schriften“ sei, „die einer religiösen Gemeinschaft als normative Basis“ diene; dazu müssten vier Kriterien erfüllt sein: Transzendenzbezug, kultischer Gebrauch, die Endgültigkeit des Textbestandes sowie die Zugehörigkeit zu einer – „der Idee nach“ – abgeschlossenen Schriftensammlung.114 Die Grundthese der historischen Kritik, dass den Schriften des Neuen Testaments keine ursprüngliche Kanonizität eigne, sei vordergründig richtig: „Die Formen des Alten Testaments sind literaturgeschichtlich nicht ihr Modell. Die neutestamentlichen Schriften entstanden nicht, um eine erweiterte Ausgabe des Alten Testaments zu schaffen.“115 – Theißen legt nun aber überzeugend dar, dass sowohl die Paulusbriefe als auch die vier Evangelien prätextbezogene116 und eigentextbezogene117 Kanonsignale enthalten, die zumindest im Blick auf die Kriterien Transzendenzbezug und kultischer Gebrauch das Urteil nahelegen, dass diese Schriften zwar „nicht von Anfang an kanonisch“, aber „doch von Anfang an kanonfähig“ waren; deshalb sei es „keine Willkür, wenn sie zu einem zentralen Bestandteil des Kanons wurden.“118 – Bios (= Evangelium) und Brief stellten die beiden Grundgattungen des Neuen Testaments dar; gleichwohl seien „nicht die Texte und ihre literarischen Formen […] an sich heilig“ gewesen, „sondern das durch sie bezeugte Geschehen. […] Die Bezugnahme auf Jesus war das feststehende Element. Seine Botschaft war vorgegeben. Die Briefe aber zeigten die flexible Anwendung dieser Botschaft in neuen Situationen.“119 – Ein entscheidendes Indiz hierfür sieht Theißen im 2. Petrusbrief, der als „Klammer“ diene, „die beide Grundformen verbindet.“120
b) Der Kanon und die innere Pluralität der Kirche In seiner Studie Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem legt Theißen zunächst dar, dass der Kanon des Neuen Testaments „Ausdruck einer religiösen Gemeinschaft vom Typus der Kirche“ sei, „die eine innere Pluralität toleriert und sich gleichzeitig von Gruppen mit allzu großer Spannung zur Welt (wie den Markioniten) abgrenzt […];“ das Neue Testament bilde ein Gegenmodell zum Kanon Markions: „Gegen ihn wurde die Pluralität der Evangelien, die Pluralität der Briefautoren und die Dualität von Altem und Neuen Testament
114 115 116 117 118 119 120
ebd., 424f. ebd., 430. ebd., 431 u. 437: „Kanonsignale, durch die sich das NT intentional auf das AT bezieht“. ebd.: „Kanonsignale, die dem Anspruch des AT entsprechen oder ihn überbieten.“ ebd., 436. ebd., 440. ebd., 445. 52
zum Konsens. Markion hatte nur ein Evangelium, nur einen Apostel und nur das eine Neue Testament.“121 – Wiederum ist gegenüber Wrede und seiner Zeit ein wichtiger Erkenntnisfortschritt zu benennen: Seinem Vorwurf122, die Anerkennung des Kanons bedeute, sich der Autorität von Bischöfen und Theologen der Alten Kirche zu unterwerfen, setzt Theißen eine nüchterne Erkenntnis entgegen: „Es hat nie einen formellen Beschluss über den Kanon gegeben. […]. Hier […] gibt es ein historisches Rätsel: Im 2. Jh., als sich die Grundlinien des Kanons abzeichneten, fehlte es an Institutionen mit der nötigen Macht, um die Kanonbildung in ihrem Interesse durchzusetzen. Dennoch entwickelte sich ein Konsens über Aufnahme und Nichtaufnahme vieler Schriften.“123
Mit Verweis auf den Kirchenvater Irenäus werden zwei inhaltliche Hauptkriterien für die (Nicht-) Aufnahme in den Kanon genannt:124 1. „Alle Schriften, welche die Einheit des Schöpfer- und Erlösergottes in Frage stellten und in dieser Welt das Werk eines stümperhaften und unwissenden Demiurgen sahen, hatten in den Gemeinden keine Chance, akzeptiert zu werden.“ 2. Die „Realität der Inkarnation: Alle Schriften, die lehrten, dass der wahre Gott nicht wirklich in diese Welt eingegangen war und sich mit einem ganzen menschlichen Leben (materiell mit Fleisch und Blut, chronologisch von der Geburt bis zum Tod) verbunden hatte, hatten in den Gemeinden keine Chance.“
Theißen skizziert ausführlich eine fünffache „soziale Funktionalität“ des Kanons:125 1. „Konsensbildung: Der Kanon wurde gebildet, um der christlichen Bewegung eine normative Grundlage zu geben.“ – Dabei enthalte er gleichwohl Widersprüche, so etwa - radikale ethische Forderungen in den synoptischen Evangelien und gemäßigten Konservativismus in den deuteropaulinischen Briefen; - den irdischen Jesus in den synoptischen Evangelien und den unter den Menschen lebende Gott des Johannesevangeliums;
121 122 123 124 125
GERD THEIßEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, 36. vgl. Fußnote 49. ebd., 285 u. 309. ebd., 311 (Hervorh. Verf.). ebd., 312ff (Hervorh. i. O.). 53
- die Orientierung am neu ausgelegten Gesetz des Alten Testaments im Matthäusevangelium und den Bruch mit dem Gesetz bei Paulus; - das Zutrauen zur Veränderungsbereitschaft des Menschen bei Matthäus und Lukas und den anthropologischen Pessimismus bei Paulus. Hierbei gelte insgesamt: „Trotz dieser inneren Mannigfaltigkeit war nirgendwo das Bekenntnis zur Realität der Inkarnation und zum Glauben an den einen und einzigen Gott strittig.“ 2. „Orientierung in der Umwelt“: Der Kanon hatte nicht nur innerhalb der Gemeinden wichtige Bedeutung, er „war auch für die Außendarstellung und die Apologetik unersetzlich.“ 3. „Identitätsdarstellung“: Der entstehende zweiteilige christliche Kanon signalisierte sowohl Verbindung mit als auch Trennung vom Judentum: „Die Christen fügten ihr Neues Testament dem Alten Testament in dem Bewusstsein hinzu, dass das Neue Testament geschichtlich dessen Erfüllung und hermeneutisch sein Schlüssel ist. Es wurde dem Alten Testament übergeordnet.“ 4. „Konfliktregelung“: Die Pluralität der Positionen innerhalb des Kanons beschrieb gleichzeitig Grenzen der christlichen Identität; er „ließ eine große Variabilität von Überzeugungen zu, markierte aber auch Kriterien für abzulehnenden Überzeugungen“ – wie z.B. gnostische Positionen. 5. „Autoritätsbegründung“: Neben der Etablierung des kirchlichen Amtes und der Bildung erster Bekenntnisse nach Art der regula fidei wurde der Kanon „eine der wichtigsten autoritativen Stützen des Christentums,“ – und zwar nicht grundsätzlich im konservativen Sinn: „In ihm waren viele sperrige Lehren und Traditionen enthalten, die durch die Kanonisierung sakrosankt geworden waren und die in der Geschichte des Christentums immer wieder für Unruhe gesorgt haben.“
Insgesamt hält Theißen fest: „Schriften, welche die genannten fünf Funktionen erfüllen konnten, hatten eine weit größere Chance, kanonisiert zu werden, als andere. Dabei konnten auch einseitige Schriften im Rahmen des Kanons in einen Konsens eingebettet werden. Der Kanon enthält auf jeden Fall neben einer Begrenzung innerkirchlicher Autorität auch deren Anerkennung, ohne welche die Kirche ein Sekte geworden wäre.“126
126
ebd., 316. 54
3.
Ein Gegenbeispiel aus dem Bereich der Exegese: Die Ablehnung kanonischer Hermeneutik durch Oda Wischmeyer
Während Jens Schröter und Gerd Theißen auf je eigene Weise für eine maßvolle Rückbesinnung der Exegese auf das normative Konzept des Kanons stehen, gibt es auch Beispiele dafür, dass die neutestamentliche Wissenschaft auf ihrer Eigenständigkeit beharrt und den Bezug auf den Kanon lediglich als Zugeständnis an die kirchliche Vernetzung der theologischen Disziplinen realisiert. Dies wird deutlich in Oda Wischmeyers Beitrag Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion. – Hier wird die Exegese in einem seltsam undefinierten Zwischenbereich verortet: „In der deutschen protestantischen Theologie wurde im letzten Jahrhundert die Trennung der Bibelwissenschaft in die alttestamentliche und die neutestamentliche Wissenschaft vollzogen. Damit werden die historischen Unterschiede dem kanonischen Einheitsprinzip strukturell vorgeordnet, ohne dass allerdings das kanonische Paradigma […] ganz verlassen worden wäre.“127
Daraus resultiert die vermeintliche Autarkie wissenschaftlicher Exegese, die sich einerseits kirchlichen Entscheidungen entzieht, um andererseits davon zu leben, dass es Menschen aus dem Bereich der Kirche sind, für die die Bibel weiterhin Bedeutung hat: „Für die neutestamentliche Wissenschaft hörte die Bibel auf, als kanonische ,Heilige Schrift‘ interpretiert zu werden […].“ Gleichwohl gelte: „Die Bibel hat […] trotz der Dekanonisierungstendenzen der letzten beiden Jahrhunderte […] bisher sowohl im religiösen wie im wissenschaftlichen Rahmen ihren kanonischen Status behalten.“128
Wischmeyer kommt zu einer Schlussfolgerung, die offen lässt, inwiefern die neutestamentliche Wissenschaft der Auslegungsgemeinschaft der Kirche verpflichtet ist: „Die Schriften des Neuen Testaments brauchen im hermeneutischen Diskurs der Gegenwart keine eigene Verstehenslehre bzw. Kanonhermeneutik, sondern eine hermeneutische Reflexion ihrer Rezeptionsgeschichte, also Kanonforschung. Es liegt bei dem Leser, ob und in welcher Weise er den kanonischen Texten einen 127
128
ODA WISCHMEYER, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion, 626; bezeichnenderweise heißt es ebd. mit Verweis auf die römisch-katholische Exegese: „Hier wird weiterhin das kirchliche Kanonverständnis vorausgesetzt, das die allgemeinen Dekanonisierungstendenzen […] unberücksichtigt lässt.“ ebd., 659 u. 667 (Hervorh. i. O.). 55
besonderen Status zusprechen will. Eine vorgegebene Kanonhermeneutik kann diese Entscheidung nicht herbeiführen.“129 Dazu sei bemerkt: Insofern Bibellesende, Studierende der Theologie sowie Pfarrerinnen und Pfarrer Mitglied einer christlichen Kirche sind, ist diese Entscheidung in der Regel bereits gefallen. Die exegetische Wissenschaft hat deshalb zu bedenken, wem sie verpflichtet ist, in wessen Dienst sie primär zu stehen hat.
4.
Ein Blick in den Bereich der Kirchengeschichte: Christoph Markschies – Identität und Pluralität im antiken Christentum
Der Kirchenhistoriker Christoph Markschies geht mit Verweis auf Jan Assmann 130 davon aus, „dass auch in antiken Gesellschaften Identität nur gemeinsam ausgebildet werden konnte.“131 Im Blick auf die Alte Kirche formuliert er folgende These: „Eine zu starke Pluralisierung gefährdet die Identität […], eine zu starke Uniformierung zerstört die Mannigfaltigkeit der Elemente.“132 – Er benennt drei Gründe, die es s.E. erlauben, „von einer Einheit antiker christlicher ,Theologie‘ zu sprechen“:133 1. Zur „Außenwahrnehmung der neuen Religion […]: Wer sich in der Öffentlichkeit als Christ bezeichnete oder durch sein Verhalten dieser Gruppe zurechnete, wurde als Christ wahrgenommen […].“ 2. Weiterhin zu nennen sei „eine formale Identität der antiken christlichen ,Theologien‘ in Gestalt ihres experimentellen Charakters.“ Der Verschiedenheit regionaler Kontextualisierungen stehe Gemeinsamkeit im Kult gegenüber, denn „der Gottesdienst als zentrale Mitte christlichen Lebens war von hoher formaler Einheitlichkeit.“ 3. Schließlich stoße man auf einen „großen Vorrat an theologischen Gemeinsamkeiten.“ – So formierten sich unterschiedliche Ausprägungen des antiken Christentums um eine verbindende Mitte herum, den „identitätsbestimmenden Eindruck von Wort, Werk und Person eines jüdischen Wanderpredigers.“ 129 130
131 132 133
ebd., 672 (Hervorh. i. O.). vgl. JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 16f. CHRISTOPH MARKSCHIES, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen, 375. ebd., 378. ebd., 380ff. 56
Nach Markschies konstitutiert sich die identitätsbildende Mitte des antiken Christentums in fünffacher Hinsicht134: 1. „Jesus als […] gekreuzigte[r] und auferweckte[r] Christus“, 2. „der eine Gott“, 3. „eine bestimmte Konzeption von christlichem Leben (Ethik) 4. in einer christlichen Gemeinde (ἐκκλησία) mit Sakramenten“ sowie 5. „ein Grundbestand von gemeinsamen heiligen Schriften.“
Nicht zuletzt angesichts „einer reichsweit analogen Struktur der Gottesdienste“ könne man deshalb im Blick auf das antike Christentum „von einer pluralen Identität sprechen oder von einem um eine identitätsbildende Mitte konzentrierten Pluralismus. Diese dialektische Struktur, die eine Engführung von Identität […] vermeiden half, ist vermutlich auch eine[r] der Gründe für den staunenswerten Erfolg des Christentums in der Antike […].“135
134 135
ebd., 382 (Hervorh. i. O.). ebd., 382f. 57
V. Zusammenfassung B.1. Aus der programmatischen Konzentration der Theologie auf die Heilige Schrift, die mit der Reformation einsetzte, entstand in den folgenden Jahrhunderten das Bemühen, die biblischen Aussagen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen, d.h. ihre Verwendung als bloße dicta probantia für dogmatische Positionen zu transformieren in Richtung einer eigenständigen Exegese; erst deren Ergebnisse sollten der Dogmatik eine biblisch verantwortete Basis liefern. B.2. Die dadurch wurzelhaft angelegte Doppelgesichtigkeit der neu entstehenden Biblischen Theologie (Johann Philipp Gabler) beförderte im ausgehenden 18. Jahrhundert einerseits durchaus folgerichtig die Entstehung der alttestamentlichen und neutestamentlichen Exegese als eigenständiger Disziplinen im Bereich der wissenschaftlichen Theologie; andererseits sorgte die zunehmende Emanzipation der Exegese von dogmatischer Bevormundung dafür, dass die Mannigfaltigkeit biblischer Aussagen in einer bisher nie gekannten Weise in den Mittelpunkt der Forschung rückte, was zu einer Diastase von Exegese und Dogmatik führte. B.3. Das Phänomen des biblischen Kanons geriet unter den Verdacht, von Beginn an Produkt kirchlicher, das heißt dogmatischer Vorgaben zu sein, das im Rahmen neutraler wissenschaftlicher Schriftauslegung keine pauschale Gültigkeit mehr haben dürfe (Johann Salomo Semler). Bedeutende Stimmen fordern eine Umgestaltung neutestamentlicher Schriftauslegung und Theologie hin zu einem beschreibenden religionsgeschichtlichen Vorgehen, das sich grundsätzlich keiner kirchlichen Bindung verpflichtet weiß (William Wrede). B.4. Die Dekonstruktion des biblischen Kanons (Dekanonisierung) sollte für zwei Jahrhunderte zum Programm wissenschaftlicher Schriftauslegung im Bereich des Alten und Neuen Testaments werden. Damit verbunden geriet die Frage nach einer möglichen Einheit des Alten und des Neuen Testaments wie auch der ganzen Bibel nicht nur aus dem Blick, vielmehr galt es als unwissenschaftlich und historischem Bewusstsein unangemessen, diese Frage ernsthaft zu stellen. Damit aber wurde es zunehmend unmöglich, biblische Aussagen unter dem Gesichtspunkt ihrer Normativität für die Auslegungsgemeinschaft Kirche zu betrachten. B.5. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts markiert eine neu einsetzende Debatte um den biblischen Kanon (Ernst Käsemann) einen Wendepunkt; während sich die evangelische Schriftauslegung zunehmend darüber klar wird, dass sich eine Fortführung reformatorischer Positionen 58
nur auf Teile speziell des neutestamentlichen Kanons berufen kann (Wolfgang Schrage, Siegfried Schulz), entsteht im Bereich römisch-katholischer Theologie ein neues Bewusstsein für die Herausforderung, den Kanon in seiner Gesamtheit ernst zu nehmen (Heinz Schürmann). B.6. Neben Entwürfen, die im Rahmen eines religionsgeschichtlichen Vorgehens bewusst an das Programm der Dekanonisierung anknüpfen (Rainer Albertz, Heikki Räisänen), stehen bedeutende Neuansätze im Bereich der Biblischen Theologie, die eine reflektierte Neuorientierung am Konzept des Kanons darstellen und dabei das Wagnis eingehen, die Frage nach der Einheit des biblischen Zeugnisses zu stellen (Hans Hübner, Peter Stuhlmacher). B.7. Die im Bereich der US-amerikanischen Exegese angestoßene kanonische Schriftauslegung (Brevard Childs) kann insofern als programmatisch gelten, als sie die Frage nach der hermeneutischen Bedeutung von Kirche als Glaubensgemeinschaft neu auf die Agende der wissenschaftlichen Exegese gesetzt hat. B.8. Auch innerhalb der deutschsprachigen exegetischen Wissenschaft wächst das Bewusstsein dafür, dass – trotz der Unhintergehbarkeit wichtiger Erkenntnisse der historisch-kritischen Schriftauslegung (Selbständigkeit der Exegese, Besonderheiten des Alten und Neuen Testaments, historische Genese des Kanons) – der biblische Kanon die bleibende Grundlage der christlichen Kirche als Auslegungsgemeinschaft der Heiligen Schrift bildet. Dabei geht es um dessen Bedeutung für die Identität des Christentums als Gemeinschaft (Jens Schröter), die trotz ihrer deutlich erkennbaren Pluralität (Christoph Markschies) auch unüberschreitbare Grenzen aufweist (Gerd Theißen). Darüber hinaus kann die Forschung heute zeigen, dass die Thesen ursprünglicher oder sekundärer Kanonizität der neutestamentlichen Schriften sich genau betrachtet nicht ausschließen (Gerd Theißen). B.9. Im Blick auf die Zukunft der wissenschaftlichen Schriftauslegung geht es im Rahmen einer Diskussion der Bedeutung des biblischen Kanons um nichts weniger als die Frage, inwiefern die exegetischen Disziplinen der Auslegungsgemeinschaft der Kirche bleibend verpflichtet sind oder nicht (Oda Wischmeyer).
59
C. Schriftgemäße Theologie II: Die neue Bedeutung der Bibel in der katholischen Theologie unter den Maßgaben des Vatikanum II („Dei verbum“) – Erfahrungen mit historisch-kritischer Exegese ,in der Zeitmaschine‘ I. Die Einrichtung der Päpstlichen Bibelkommission als Beginn einer Zeitenwende in der katholischen Schriftauslegung Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts begegnete man in der römisch-katholischen Kirche wissenschaftlicher Exegese mit Vorbehalten; 136 doch bereits 1902 deutete sich eine Zeitenwende an: Papst Leo XIII. (1810–1903) rief die Päpstliche Bibelkommission ins Leben, die als Beratungsorgan des kirchlichen Lehramts137 dienen sollte. Dass Leo XIII. das Ziel verfolgte, biblische Studien dezidiert zu fördern, kam bereits 1893 zum Ausdruck, als er „die erste ausschließlich der Bibel gewidmete Enzyklika Providentissimus Deus“ 138 vorstellte, in der katholische Exegeten dazu aufgefordert werden, „wirklich wissenschaftliche Fachkenntnis zu erwerben, um ihre Gegner auf deren eigenem Gebiet zu überholen.“139 Dieser noch mit einem gewissen Zögern eingeschlagene neue Weg der katholischen Kirche fand eine entschiedene Fortsetzung in der 1943 durch Papst Pius XII. (1876–1958) vorgelegten Enzyklika Divino Afflante Spiritu, die – 50 Jahre nach der ersten Bibel-Enzyklika – ermöglichen sollte,
136
137 138 139
SCHRIFTVERSTÄNDNIS UND SCHRIFTGEBRAUCH, 347: „Der Antimodernisteneid (vgl. DH 3535–3550) und die meisten Entscheidungen der Päpstlichen Bibelkommission haben bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur große Skepsis gegenüber der mit historisch-kritischen Methoden arbeitenden Exegese erkennen lassen, sondern auch zu massiven Behinderungen freien und verantwortlichen Arbeitens katholischer Theologen geführt.“ vgl. CHRISTOPH DOHMEN, Art. Bibelkommission, 1. ebd., 3. DIE INTERPRETATION DER BIBEL IN DER KIRCHE, 10. 60
„dass die katholische Exegese sich einer kritischen [Er-]Forschung der biblischen Literatur öffnete, ohne die theologischen Inhalte in der Auslegung zu vernachlässigen;“140 das Lehrschreiben nimmt die katholische Auslegung der Bibel gegen Positionen in Schutz, „die sich der Verwendung der Wissenschaft durch die Exegeten entgegenstellten und eine nicht wissenschaftliche, sogenannte ,spirituelle‘ Interpretation der heiligen Schriften durchsetzen wollten.“141
II. Die Neuausrichtung katholischer Theologie durch das Vatikanum II, d.h. die Offenbarungskonstitution Dei verbum Als maßgeblich für eine grundlegend veränderte Ausrichtung der gesamten katholischen Theologie gilt die Offenbarungskonstitution Dei verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. DH 4201–4235), die im November 1965 durch Papst Paul VI. (1897–1978) promulgiert wurde. Ausgehend von „einer Neubesinnung auf die Normativität der Heiligen Schrift“ findet sich in Dei verbum „die volle lehramtliche Bereitschaft, die geschichts- und literaturwissenschaftlichen Verfahren der Exegese nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu fördern.“142 Der katholische Dogmatiker Rudolf Voderholzer will den Nachweis erbringen143, dass sich in Dei verbum „tatsächlich ein theologisches Erdbeben niederschlägt und die Weichen für ein vertieftes Verständnis von Glauben und Theologie gestellt werden.“144 – Das Zentrum dieses ,Erdbebens‘ lasse sich so beschreiben: Die Anfangsworte der Konstitution Dei verbum bezeichnen „zuerst das Fleisch gewordene WORT, den Sohn des Vaters, der in den vielen vom Geist inspirierten Worten der Schrift bezeugt ist. ‚Offenbarung‘ ist ein geschichtlich-personales Geschehen, das im Christusereignis seinen Höhepunkt hat. Als das Fleisch gewordene WORT ist Christus und sein Evangelium die eine[!] Quelle der Offenbarung im strengen Sinn[!]. Kirchliche Überlieferung und die Heiligen Schriften sind nicht selbst ‚Offenbarungsquellen‘, sondern Vermittlungsformen.“145 140 141 142
143
144 145
CHRISTOPH DOHMEN, Art. Bibelkommission, 3. DIE INTERPRETATION DER BIBEL IN DER KIRCHE, 9. SCHRIFTVERSTÄNDNIS UND SCHRIFTGEBRAUCH, 347; vgl. ebd., 348: „Die neuere römisch-katholische Theologie betont […] die Freiheit exegetischer Forschung und Lehre im Sinne einer wissenschaftlichen Kriterien verpflichteten Analyse und Interpretation der Bibeltexte.“ vgl. dazu vor allem RUDOLF VODERHOLZER, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013. DERS., Dogmatik im Geiste des Konzils, 64. ebd., 67f (Hervorh. i. O.). 61
In diesem Sinne heißt es im ersten Kapitel von Dei verbum: „2. Es hat Gott in seiner Güte und Weisheit gefallen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens bekannt zu machen [vgl. Eph 1,9], dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und der göttlichen Natur teilhaftig werden [vgl. Eph 2,18; 2 Petr 1,4]. In dieser Offenbarung redet also der unsichtbare Gott [vgl. Kol 1,15; 1 Tim 1,17] aus dem Übermaß seiner Liebe die Menschen wie Freunde an [vgl. Ex 33,11; Joh 15,14f] und verkehrt mit ihnen [vgl. Bar 3,38], um sie in die Gemeinschaft mit sich einzuladen und in sie aufzunehmen. Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Taten und Worten, die innerlich miteinander verknüpft sind, so dass die Werke, die in der Heilsgeschichte von Gott vollbracht wurden, die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Dinge offenbaren und bekräftigen, die Worte aber die Werke verkündigen und das in ihnen enthaltene Geheimnis ans Licht treten lassen. Die durch diese Offenbarung sowohl über Gott als auch über das Heil des Menschen ‹erschlossene› innerste Wahrheit aber leuchtet uns in Christus auf, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist.“ 146
Voderholzer zitiert den Fundamentaltheologen Max Seckler, für den Dei verbum den „Schritt von einem ‚instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis‘ hin zu einem ‚kommunikationstheoretisch-partizipativen Offenbarungsverständnis‘“ darstellt.147 – Ähnlich äußert sich der Dogmatiker Wolfgang Thönissen: „Im Verständnis der Offenbarung vollzieht sich ein grundlegender Wechsel: von einzelnen Offenbarungen und geoffenbarten Texten hin zur Offenbarung als Geschehen in Wort und Tat. Offenbarung wird nicht mehr verstanden als Information über Gott, sondern als Selbstmitteilung des dreifaltigen Gottes. […] Mit diesem Wechsel kündigt sich ein epochaler Einschnitt an: Er führt von einem doktrinalen und instruktionstheoretischen Verständnis zu einem theozentrisch-heilsgeschichtlichen Begriff von Offenbarung. Es ist Gott selbst, der sich in seinem dreifaltigen Wesen als Gott offenbart. Gott offenbart nicht etwas, sondern sich selbst.“148
146 147
148
DH 4202 (Hervorh. i. O. u. Verf.). RUDOLF VODERHOLZER, Dogmatik im Geiste des Konzils, 68; dort zitiert aus: MAX SECKLER, Der Begriff der Offenbarung, in: HFTh IV, 64f. WOLFGANG THÖNISSEN, Theologie und Lehramt, 44. 62
Aufschlussreich für das Verständnis der einschneidenden Bedeutung von Dei verbum ist die verwickelte Vorgeschichte des Textes; Voderholzer beleuchtet diese und führt aus:149 „Von der noch ganz von der neuscholastischen Schultheologie dominierten Theologischen Vorbereitungskommission [des Konzils] war […] ein Schema erarbeitet worden, in dem gemäß katholischer Lehre Schrift und Tradition als (vermeintliche) ‚Offenbarungsquellen‘ dargestellt wurden. […] Es war nun vor allem der Kölner Erzbischof Kardinal Frings, dem der junge Theologe Ratzinger zur Seite stand, der mit seiner Wortmeldung am 14. November 1962 in der Konzilsaula das Schema ‚De fontibus revelationis‘ maßgeblich mit zu Fall brachte. […] Hauptargument in der Rede von Frings ist die Unterscheidung von ‚revelatio ipsa‘ als ‚unica fons essendi revelationis‘ einerseits und Schrift und Tradition als fontes cognoscendi andererseits. […] Schrift und Tradition könne man als ‚fontes cognoscendi‘ bezeichnen, auf der Ebene des Seins gebe es aber nur eine einzige Quelle (‚fons essendi‘) der Offenbarung. Von ihr, der Offenbarung als solcher [in Christus], sei aber bedauerlicherweise in diesem Schema nicht oder fast gar nicht die Rede. Mit dieser Kritik ist der weitere Verlauf der Entstehung der späteren Offenbarungskonstitution ‚Dei Verbum‘ und auch schon ihre Lösung vorgezeichnet.“
Dort heißt es im zweiten Kapitel unter der Überschrift Die Weitergabe der göttlichen Offenbarung: „9. Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind also eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide nämlich gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu. Denn die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des göttlichen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde; die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus, dem Herrn, und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten; so ergibt sich, dass die Kirche ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft. Daher sind beide mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und der gleichen Ehrfurcht anzunehmen und zu verehren.“ 150
149 150
RUDOLF VODERHOLZER, Dogmatik im Geiste des Konzils, 65ff (Hervorh. i. O.). DH 4212 (Hervorh. Verf.). 63
Dazu ist zunächst anzumerken: Aus evangelischer Sicht scheinen die beiden abschließenden Sätze durch die Anknüpfung an das Tridentinum151 das vorher Gesagte deutlich einzuschränken; die sich daraus ergebenden Fragen werden an späterer Stelle (vgl. G. I. 2. a)) behandelt. Hier sei gesagt, dass Voderholzer das genannte Problem durchaus bewusst ist; deshalb verweist er auf Joseph Ratzinger, der in seiner Habilitationsschrift zu Bonaventura152 „eine Sicht von Tradition“ entwickelt, „die sie mit dem Empfang der Offenbarung verknüpft und somit konstitutiv sein lässt für die Offenbarung selbst.“153 Dies wiederum hängt eng zusammen mit der Aussage von Dei verbum (2), dass die göttliche Offenbarung aufleuchte „in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist.“ – Daraus ergebe sich letztlich das Folgende: „Offenbarung transzendiert nicht nur die Schrift, insofern sie mit der Wirklichkeit des geschichtlich sich mitteilenden Gottes selbst zu tun hat. Offenbarung überschreitet das Phänomen der Schrift allein auch insofern, als sie das gläubige Subjekt voraussetzt, denn ohne die im Glauben angenommene Offenbarung ist nichts wirklich offenbar. […] Tradition ist die in die Zeit erstreckte Kirche als Subjekt des Offenbarungsempfangs.“154
Die Pointe dieser Erkenntnis besteht für Voderholzer im „Mehrwert der Offenbarung gegenüber ihren Vermittlungsinstanzen“, d.h. in der Einsicht, die Bibel sei „kein vom Himmel gefallenes Buch“, sondern „Gotteswort im Menschenwort […]:155 Dies hat enorme Konsequenzen für die Erforschung von Genese und Interpretation der Schrift. […] Vom Inhalt von DV ist oft nur bekannt, dass darin die historische Exegese endlich anerkannt wurde. Unerwähnt bleibt dabei meist, […] warum nun plötzlich eine andere Sichtweise zur Geltung kam. Wenn Gott aber durch Jesus Christus nicht nur göttliche Wahrheiten über sich, sondern tatsächlich sich selbst definitiv unter den geschichtlichen Bedingungen von Raum und Zeit in der menschlichen Natur des Jesus von Nazareth mitgeteilt hat […], dann kann auch die seriöse Anwendung der historischen Methoden, zu deren Wesen
151
152 153 154
155
vgl. DH 1501: Das Konzil „verehrt mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und der gleichen Ehrfurcht alle Bücher sowohl des Alten als auch des Neuen Testamentes […] sowie auch die Überlieferungen […] als […] wörtlich […] diktiert und in beständiger Folge in der katholischen Kirche bewahrt.“ JOSEPH RATZINGER, Offenbarung und Heilgeschichte nach der Lehre des heiligen Bonaventura, 66f. RUDOLF VODERHOLZER, Offenbarung, Schrift und Kirche, 93. ebd., 95 (Hervorh. Verf.); vgl. DERS., Dogmatik im Geiste des Konzils, 72: „Tradition ist […] mehr […] als ein Bestand nur mündlich überlieferter Offenbarungsinhalte, sondern der umfassende Prozess der Annahme, Deutung und Weitergabe der Offenbarung vor, neben und mit der Schrift“ (Hervorh. Verf.). DERS., Dogmatik im Geiste des Konzils, 72f. 64
es gehört, ‚kritisch‘ zu sein, nicht von vorneherein als inadäquat zur Erforschung dieses Geschehens angesehen werden.“156
Wenn am Ende des zweiten Kapitels von Dei verbum auch das Lehramt der Kirche zum Thema wird, so ist dies im römisch-katholischen Kontext nicht verwunderlich; gleichwohl muss auffallen, dass die Autorität des Lehramtes im Rahmen der Offenbarungskonstitution eine Einschränkung erfährt: „10. […] Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird. Das Lehramt steht also nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm [!], indem es nur lehrt, was überliefert ist, da es ja dieses ‹Wort Gottes› nach göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes ehrfürchtig hört, heilig bewahrt und treu erklärt und all das, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus dieser einen Hinterlassenschaft des Glaubens schöpft. […].“157
Für Wolfgang Thönissen bedeutet dies nichts weniger, als dass das Vatikanum II mit Dei verbum „den Dienst an der Verkündigung des Evangeliums zum Dreh- und Angelpunkt für die erneuerte kirchliche Auffassung vom Lehramt der Bischöfe“ macht.158 Im abschließenden 6. Kapitel der Offenbarungskonstitution Die Heilige Schrift im Leben der Kirche wird dies unterstrichen durch folgende zusammenfassende Empfehlung: „24. Die heilige Theologie stützt sich auf das geschriebene Wort Gottes, zusammen mit der Heiligen Überlieferung, wie auf ein immerwährendes Fundament; […] deshalb sei das Studium der Heiligen Schrift gleichsam die Seele der heiligen Theologie. Aber auch der Dienst des Wortes, nämlich die pastorale Verkündigung, die Katechese und alle christliche Unterweisung, in der die liturgische Homilie einen hervorragenden Platz haben muss, holt aus demselben Wort der Schrift gesunde Nahrung und heilige Kraft.“159
156 157 158 159
ebd., 73 (Hervorh. i. O.). DH 4214 (Hervorh. Verf.). WOLFGANG THÖNISSEN, Theologie und Lehramt, 45. DH 4231 (Hervorh. Verf). 65
Die Formulierung, dass das Studium der Schrift die Seele der Theologie sei, findet sich wieder im Konzilsdekret Optatam Totius – Über die Ausbildung der Priester.160 – Der katholische Neutestamentler Thomas Söding führt an, dass Joseph Ratzinger in seinem Konzilskommentar161 auf diese Verbindung hinweise und feststelle, „es habe eine ‚revolutionäre Bedeutung‘ für die ‚Systemgestalt‘ der katholischen Theologie, die Schriftauslegung in diese Schlüsselposition zu rücken. Denn die neuscholastische Theologie habe die Exegese zwar gebraucht, um geeignete dicta probantia als Stütze dogmatischer Aussagen zu finden, aber nicht erwartet, durch das Schriftstudium theologische Entdeckungen zu machen.“162 Es fällt auf, dass sich mit dem Vatikanum II – fast 180 Jahre nach Johann Philipp Gabler – im römisch-katholischen Bereich eine Entwicklung anbahnt, die im Raum des Protestantismus bereits vollzogen war: Der revolutionäre Schritt, das Studium der Heiligen Schrift zur Seele der Theologie zu machen, bedeutet einerseits nichts weniger als „das Postulat schriftgemäßer Theologie“ auch im katholischen Kontext; andererseits ist klar, dass diese neu geforderte Schriftgemäßheit grundsätzlich ebenso eine adäquate „Wissenschaftlichkeit der Theologie“, also eine spezialisierte Exegese erfordert.163 – Rudolf Voderholzer bringt dies zusammenfassend auf den Punkt, wenn er das neue Offenbarungsverständnis von Dei verbum und die grundsätzliche Notwendigkeit historischer Erforschung der biblischen Schriften in direkter Weise miteinander verbindet: „Erst die Formulierung eines geschichtlich-personalen Offenbarungsbegriffes, der auch mit einschließt, dass die Annahme und Weitergabe der Offenbarung geschichtlichen Charakter tragen muss, welcher wiederum einer geschichtlichen Forschung prinzipiell offen steht, ließ die zunächst nur zögernd eingeräumte Erlaubnis der historischen Forschung in eine dringende Empfehlung in DV 12 und in die Rede ihrer theologischen Unverzichtbarkeit sich wandeln.“164
160
161
162
163 164
Dekret Optatam Totius. Über die Ausbildung der Priester (16): „[…] die jungen Theologen […] sollen […] im Studium der Heiligen Schrift, die die Seele der ganzen Theologie sein muss, gefördert werden“ (www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decree_19651028_optatamtotius_ge.html). JOSEPH RATZINGER, Einleitung/Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, in: LThK.E II (1967), 577. THOMAS SÖDING, Schriftgemäße Theologie? Überlegungen zu einem Postulat des Zweiten Vatikanum, 512 (Hervorh. i. O.). ebd., 514. RUDOLF VODERHOLZER, Dogmatik im Geiste des Konzils, 75. 66
III. Dei verbum (12) und (13): Die ,Magna Charta‘ römischkatholischer Exegese: Historisch-kritische Forschung bei Wahrung der Perspektive der Einheit der Schrift 1.
Die ,doppelte Autorschaft‘ der Heiligen Schrift
Während die wissenschaftliche Schriftauslegung im Protestantismus sich nach Johann Philipp Gabler mehr als zwei Jahrhunderte lang nahezu ausschließlich an der Vielgestaltigkeit der biblischen Stimmen abarbeitete, gibt die Offenbarungskonstitution des Vatikanum II der römisch-katholischen Exegese – zusammen mit der Aufforderung zur genauen historischen Analyse – die Mahnung mit auf den Weg, den Blick für die Einheit der Heiligen Schrift nicht zu verlieren. Dies erfolgt in den Abschnitten 12 und 13; dort wird zunächst eindrücklich die „doppelte Autorschaft der Bibel“165 als Voraussetzung ihrer historischen Erfassbarkeit dargelegt: „12. Da aber Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Ausleger der Heiligen Schrift, um zu durchschauen, was er uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die Hagiographen wirklich zu sagen beabsichtigten und ‹was› Gott mit ihren Worten kundtun wollte. Um die ‹Aussage›absicht der Hagiographen zu ermitteln, sind unter anderem auch die literarischen Gattungen zu berücksichtigen. Denn die Wahrheit wird in Texten, die auf verschiedene Weise geschichtlich, prophetisch oder poetisch sind, oder in anderen Redegattungen jeweils anders dargelegt und ausgedrückt. […] Will man nämlich richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so ist genau sowohl auf jene gewohnten angeborenen Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zu Zeiten des Hagiographen herrschten, als auch auf jene Formen, die damals beim Umgang der Menschen untereinander allenthalben verwendet zu werden pflegten. […].“166
165
166
vgl. THOMAS HIEKE, Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12; in: Gottes Wort in Menschenwort, 202ff. DH 4217f (Hervorh. i. O.). 67
Der hier formulierte Doppel-Charakter der biblischen Schriften wird in Dei verbum (13) ausdrücklich bezogen auf das Wunder der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, dem Sohn: „13. In der Heiligen Schrift also offenbart sich, stets unbeschadet der Wahrheit und Heiligkeit Gottes, eine wunderbare Herablassung der ewigen Weisheit, […]. Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge ausgedrückt, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des Ewigen Vaters Wort durch die Annahme des Fleisches menschlicher Schwachheit den Menschen ähnlich geworden ist.“167
Der Alttestamentler Thomas Hieke legt Wert darauf, dass die Parallele zur Christologie, die in Dei verbum (13) hergestellt wird, hermeneutische Konsequenzen haben muss: „Wie in der Christologie bei den ‚Naturen‘ darf auch hier nicht die eine oder die andere Autorschaft zu Lasten der anderen überhöht werden. Redet man von Gott als ‚Autor‘ oder ‚Urheber‘ der Schrift, so ist damit die dynamische und lebendige Inspirationsquelle gemeint, die hinter den biblischen Texten steht und bis heute aktiv wirksam ist […].“168
Dies sei nicht „im Sinne einer Verbalinspiration“ zu verstehen, die die biblischen Schriftsteller zu Marionetten der göttlichen Autorschaft mache. Umgekehrt gelte aber genauso, dass die Aussagen biblischer Texte nicht beschränkt werden könnten auf das, was der menschliche Schriftsteller „wirklich zu sagen beabsichtigte“; es sei „eine wesentliche Grundeinsicht der modernen Literaturwissenschaft, dass sich ein Text nicht in dem erschöpft, was ein (menschlicher) Autor in ihn hineingelegt hat: […] Theologisch gesprochen ist dann nicht nur die Niederschrift vom Geist Gottes inspiriert, sondern auch die jeweilige Lektüre, […]:“169 „Gott wollte und will jeder Generation (und damit auch der heutigen), also jedem(jeder) Bibelleser(in) mit den Menschenworten der historischen Autoren und Redaktoren (vielleicht sogar auch der Übersetzer?) ‚etwas sagen‘. Ein gläubiges Annehmen der Heiligen Schrift bedeutet somit, dass über das hinaus, was der ‚heilige Schriftsteller‘ seiner Zeit mitteilen wollte, in den gelesenen und gehörten Worten ein unmittelbarer Anruf Gottes in die Gegenwart hinein ergeht, […]. Das ist nicht mit einer platten Buchstabengläubigkeit, einer ‚Hermeneutik der Unmittelbarkeit‘ oder der ‚Nachahmung‘ zu verwechseln.“
167 168 169
DH 4220. THOMAS HIEKE, Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12, 209. ebd., 212f. 68
2.
Der Einzeltext im Rahmen der ,Einheit der ganzen Schrift‘
Im zweiten Teil von Dei verbum (12) zeigt sich in besonderer Weise, dass unter römisch-katholischen Bedingungen auch die wissenschaftliche Auslegung eines Bibeltextes einzubinden ist in einen doppelten Zusammenhang, nämlich in den Kontext des gesamten biblischen Kanons sowie in den Kontext der Auslegungsgemeinschaft der Kirche: „12. […] Weil aber die Heilige Schrift in demselben Geist, in dem sie geschrieben wurde, auch zu lesen und auszulegen ist, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, dass man nicht weniger sorgfältig auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der ganzen Kirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten aber ist es, nach diesen Regeln auf ein tieferes Verstehen und Erklären des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam aufgund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reife. All das nämlich, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, die den göttlichen Auftrag und Dienst verrichtet, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen.“170
Diese Sätze sind zukunftsweisend, indem sie Gefahren avisieren, die der Auslegungsgemeinschaft der Kirche drohen, insofern sie isoliert auf die differierenden Einzelheiten des biblischen Zeugnisses achtet. In diesem Sinne attestiert Thomas Söding auch der katholischen Schriftauslegung: „Die Entdeckung der Vielfalt ist die große Leidenschaft der Exegese in der Moderne geworden und bis heute geblieben. Sie wird als große Leistung auch von Kritikern zugestanden, so von Joseph Ratzinger, der anerkennt, sie habe die ‚Polyphonie der Geschichte […] hinter der Homophonie der traditionellen Auslegung wieder hörbar‘171 gemacht.“172 Um aber die Entdeckung jener Vielfalt der biblischen Schriften in eine sinnvolle Gesamtschau einzubinden, wird in Dei verbum (12) die Forderung erhoben, die Schrift ,in dem Geist zu lesen und auszulegen, in dem sie geschrieben wurde‘; damit dies geschehen kann, müsse Verschiedenes beachtet werden: - Die ermittelte Aussageabsicht einer einzelnen Bibelstelle sei zu beziehen auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift. – Damit wird – in gewissem Sinne – eine kanonische Hermeneutik angeregt.
170 171
172
DH 4219 (Hervorh. Verf). JOSEPH RATZINGER, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Wert der Exegese heute, 15f. THOMAS SÖDING, Schriftgemäße Theologie? Überlegungen zu einem Postulat des Zweiten Vatikanum, 516. 69
- Die lebendige Überlieferung der Gesamtkirche müsse bei der Auslegung berücksichtigt werden. – D.h., die Auslegungs- und Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte ist im Rahmen der Exegese zu bedenken. - Die Erklärung einzelner Schriftstellen habe grundsätzlich im Rahmen der Analogie des Glaubens zu erfolgen. – Der Bezug der Exegese zur Systematik bzw. Dogmatik darf nicht aus dem Blick geraten bzw. ist im Rahmen der Auslegung herzustellen.173 - Die Exegese müsse sich verstehen als wissenschaftliche Vorarbeit, die dazu beiträgt, ein abgewogenes gesamtkirchliches Urteil zu bilden. – Damit kommt die fundamentale Bedeutung der Kirche als Auslegungsgemeinschaft in den Blick, der die Exegese verantwortlich ist.
3.
Wird die katholische Exegese ihrem Anspruch gerecht?
Zunächst ist festzustellen, dass die wissenschaftliche Exegese in der römisch-katholischen Kirche seit Mitte des letzten Jahrhunderts bzw. nach dem Vatikanum II ihren Rückstand im Bereich historisch-kritischer Schriftauslegung in einem geradezu sensationellen Tempo aufgeholt hat. Dies lässt sich anhand der Fülle der seither in diesem Bereich entstandenen Literatur mühelos nachweisen; man denke etwa nur an das monumentale Werk des Evangelisch-Katholischen Kommentars zum Neuen Testament, das von Beginn seines Erscheinens an (1975) in ökumenischer Verantwortung entstand. – Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die konkrete Umsetzung der Forderungen von Dei verbum (12) und (13) insgesamt kritisch beurteilt wird.
a) Die ,einseitige Rezeption‘ des Konzils Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., kann im Jahr 1989 in seinem Beitrag Schriftauslegung im Widerstreit rückblickend nur ein zwiespältiges Urteil treffen: „So hat die nachkonziliare Rezeption [von Dei verbum (12) und (13)] praktisch den theologischen Teil der Aussage als Zugeständnis an die Vergangenheit beiseite gelassen und den Text lediglich als uneingeschränkte offizielle Bestätigung der historisch-kritischen Methode aufgefasst. Dass auf diese Weise nach dem Konzil die konfessionellen Unterschiede zwischen 173
vgl. dazu Marschler Thomas, Analogia Fidei. Anmerkungen zu einem Grundprinzip theologischer Schrifthermeneutik, 236: „Der mit dem Konzept der analogia fidei verbundene Anspruch, dass Exegese und Dogmatik nur miteinander und niemals in strikter Trennung die Fülle der Offenbarung Gottes bezeugen können, ist darum unter den Bedingungen der Moderne keineswegs verzichtbar geworden […]“ (Hervorh. i. O.). 70
katholischer und evangelischer Exegese praktisch verschwunden sind, mag man auf das Gewinnkonto solch einseitiger Rezeption des Konzils setzen. Das Negative an dem Vorgang besteht darin, dass nun auch im katholischen Bereich der Hiatus zwischen Exegese und Dogma total geworden ist […]. Das Dogma, dem der Boden der Schrift entzogen worden ist, trägt nicht mehr.“174
Ratzinger sieht sich – ausgehend von dieser Analyse – zu einer Fundamental-Kritik genötigt; er meint feststellen zu können, dass die Offenbarungskonstitution die wissenschaftliche Schriftauslegung geradezu prinzipiell herausfordere, indem der „theologische Methodenkanon“ in Dei verbum (12) „zur methodischen Grundorientierung der modernen Exegese im Widerspruch“ stehe: Insofern fordert er programmatisch „Selbstbegrenzung“ und „Reinigung der Methode“, die dadurch geschehen könne, dass man „deren Instrumente mit einer besseren Philosophie“ verbinde.175
EXKURS 1: Anfragen an falsche axiomatische Voraussetzungen historisch-kritischer Schriftauslegung (1) Ratzinger geht es bei seiner Fundamental-Kritik u.a. um das naturwissenschaftliche Weltbild, welches axiomatisch mit historisch-kritischer Schriftauslegung verbunden sei: Der Exeget dürfe „nicht a priori ausschließen, […] dass Gott in Menschenworten als er selbst in der Welt sprechen könne; […] dass Gott als er selbst in der Geschichte wirken und in sie eintreten könne, so unwahrscheinlich ihm dies auch erscheinen mag. […] Der Mensch kann zwar nicht über sich hinausdringen, aber Gott kann in ihn hineindringen […]: dieses Hereintreten Gottes in den Menschen hat in der Menschwerdung geschichtliche Gestalt angenommen. […] Gott verwundet die Seele – der Sohn ist diese Wunde, und damit sind wir geöffnet.“176 (2) Rudolf Voderholzer spricht im Blick auf die historisch-kritische Methode von „den oft unreflektiert vorausgesetzten philosophisch-theologischen Implikationen, die sich seit ihrer Entstehungszeit im Kontext der radikalen Aufklärung mit ihr verbinden.“177 Dass Voderholzer zum Erweis einer Alternative den evangelischen Exegeten Jürgen Roloff zitiert, zeigt exemplarisch, dass Defizite im Bereich historisch-kritischer Schriftauslegung mittlerweile ökumenisch übereinstimmend
174
175 176 177
JOSEPH RATZINGER, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute, 21 (Hervorh. Verf.). ebd., 20, 24 u. 34. ebd., 36f. RUDOLF VODERHOLZER, Dogmatik im Geiste des Konzils, 73. 71
wahrgenommen werden. – Roloff bezieht sich in diesem Zusammenhang auf „die von E. Troeltsch entwickelten Kategorien von Kritik, Analogie und Korrelation. Dahinter stehen als Postulate die grundsätzliche Gleichartigkeit und Relativität allen Geschehens sowie die Allgemeingültigkeit des Weltverständnisses des modernen Menschen, das der Möglichkeit eines direkten Wirkens Gottes in der Geschichte keinen Raum lässt. Das biblische Zeugnis widerspricht beidem, indem es von einem die Gleichartigkeit allen Geschehens durchbrechenden Handeln Gottes in der Geschichte berichtet, das als solches der Relativität alles Geschichtlichen entnommen ist.“178 (3) In seiner Hermeneutik Vom Verstehen des Neuen Testaments fordert Peter Stuhlmacher dazu auf, „eine methodologisch und wirkungsgeschichtlich reflektierte Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten zu praktizieren.“ – Im Hinblick auf die von Troeltsch konzipierten Kategorien plädiert er dafür, diese „unter einen hermeneutischen Vorbehalt zu stellen.“ Er regt an, dass der Exeget „seine Einstellung zum Text genau kontrollieren muss und sich […] über das Regelsystem von Kritik, Analogie und Korrelation hinaus auf das ganzheitliche Vernehmen der Texte ausdrücklich einzustellen hat. […] Eben diese Offenheit darf sich der Ausleger der (biblischen) Texte nicht unter der Hand durch die eingeübten Mechanismen der historischen Kritik einengen lassen.“179 (4) Auch wenn Udo Schnelle die Vorschläge Stuhlmachers skeptisch beurteilt, weil sie Gefahr liefen, „den Glauben zur Voraussetzung der Exegese zu machen“, ist er sich der Problematik unsachgemäßer Axiome historisch-kritischer Schriftauslegung bewusst; er geht davon aus, dass „die Prinzipien Troeltschs in zweifacher Hinsicht zu ergänzen“ sind: „1. Eine Verengung des historischen Erkennens stellt das mit dem Ausschließlichkeitsanspruch versehene Analogiepostulat dar, denn die damit behauptete Gleichförmigkeit geschichtlicher Ereignisse versperrt den Blick für das geschichtlich Einmalige und Unverwechselbare. […] 2. […] Die Frage nach dem historischen Ursprungssinn ist keineswegs mit einem umfassenden Verstehen des Textes identisch, wenn der Text historisches Erkennen transzendierende Aussagen enthält. […] Die Aufnahme der Prinzipien Troeltschs belässt das Neue Testament im Raum des allgemeinen historischen Verstehens, ihre Ergänzung durch die Postulate der
178
179
JÜRGEN ROLOFF, Schriftauslegung als theologische Aufgabe. Thesen zur Biblischen Hermeneutik, 225 (Hervorh. i. O.). PETER STUHLMACHER, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, 222 u. 244 (Hervorh. i. O.). 72
geschichtlichen Individualität und Offenheit gegenüber dem Wahrheitsanspruch des Textes trägt der Besonderheit des Neuen Testaments Rechnung.“180
b) Der ,weiße Fleck‘ in Dei verbum (12) Der Alttestamentler Norbert Lohfink hält im Jahr 1991 einen Vortrag, dem er den Titel gibt Der weiße Fleck in Dei Verbum, Artikel 12; im Blick auf den genannten Abschnitt stellt er fest: „Wenn das Konzil in art. 12 von der Ganzheit der Schrift handelt, kommt es […] fast ein wenig außer Atem. […] Wir müssen im Grunde nur fragen, warum das Konzil, so klar es im Grundsatz sah, in der konkreten Ausfüllung seiner Aussagen dann so in Verlegenheit geriet.“181
Lohfink erklärt diese Verlegenheit mit einem sich erst andeutenden „Paradigmenwechsel“ in der Bibelwissenschaft, für den – vorausschauend – der weiße Fleck in Dei verbum (12) stehe: „Mit der Zuwendung zur Synchronie, damit: zum uns gegebenen Text, ist es bei den Bibelwissenschaftlern zu einer Art Perspektivenverschiebung gekommen. Früher herrschte ein gewissermaßen romantisches Interesse vor. Je älter, je besser! Man war vor allem an Frühformen und ältesten Aussageabsichten von Texten interessiert.“182 – Künftig sei bei Umsetzung der genannten Konzilsperpektive vermutlich von einem anderen Blickwinkel auszugehen: „Die eigentliche Anweisung an den Exegeten ist hier die, den Sinn der einzelnen Texte von Inhalt und Einheit der Schrift als ganzer her zu erheben. Der gesamte Kanon der Heiligen Schriften ist also gewissermaßen als einziges Sinngefüge, als einziges Buch zu nehmen, in dem alles aufeinander bezogen ist und sich gegenseitig erhellt.“183
Lohfink verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf Childs182, – obwohl er selbst bereits im Jahr 1964 Gedanken184 geäußert hatte, die geeignet waren, der Einheit der Schrift im Rahmen des Kanons eine neue Bedeutung beizumessen; er beschreibt zunächst die Kanonbildung „im Verständnishorizont früherer Generationen“ als äußeren Vorgang, der dem Einstellen einzelner Werke in einen Bücherschrank gleiche: „[…] dann standen diese Bücher zwar im Schrank beieinander, aber
180 181 182 183 184
UDO SCHNELLE, Sachgemäße Schriftauslegung, 125f (Hervorh. Verf.). NORBERT LOHFINK, Der weiße Fleck in Dei Verbum, Artikel 12, 28 u. 31. ebd., 31 u. 33. ebd., 27. in DERS., Über die Irrtumslosigkeit und die Einheit der Schrift. 73
jedes blieb eine Größe für sich. […] So blieben auch nach damaliger Auffassung die Bücher der Bibel, die schon im Kanon eingetragen waren, bei der Aufnahme eines weiteren Buches in den Kanon die gleichen. […] Die Heilige Schrift als Einheit und Ganzheit kam kaum in den Blick.“185 – Diesem Verständnis stellt er die Beobachtung entgegen, dass späte Glossen und Zusätze in einzelnen Büchern des Alten Testaments eine Haltung widerspiegelten, „die alle Bücher des Kanons als einander zugeordnet betrachtete. Man setzte voraus, dass alle Bücher der Schrift sich gegenseitig erklären. […] Das zeigt, dass man kein Buch der Bibel anders las als in ‚analogia scripturae‘, in der Sinneinheit der ganzen Schrift. Der Kanon wurde also nicht als äußerliche Sammlung in sich ruhender Einzelbücher betrachtet, sondern als einziges Buch.“186 Insofern kann Norbert Lohfink als derjenige gelten, der im Bereich der deutschsprachigen Exegese mit als erster erkannt hat, welch weite Perspektive Dei verbum (12) eröffnet – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er selbst schon 1964 forderte, „dass der Kanon die entscheidende hermeneutische Vorgabe für eine biblische Theologie“ zu sein habe.“187
c) Dei verbum (12) als ,Postulat eines inneren Zusammenhangs zwischen Vielfalt und Einheit‘ der Heiligen Schrift Dass die Offenbarungskonstitution des Vatikanum II und insbesondere Dei verbum (12) auch fünf Jahrzehnte nach dem Konzil noch geeignet sind, lohnende Zielmarken vorzugeben, bekräftigt Thomas Söding in seinem Beitrag Schriftgemäße Theologie? Überlegungen zu einem Postulat des Zweiten Vatikanum. – Dabei geht er davon aus, dass die „wissenschaftliche ‚Vorarbeit‘ der Theologie für das ‚Urteil der Kirche‘“ darin bestehe, „dass der Schatz der Heiligen Schrift geöffnet und ausgebreitet wird.“188 – Als Fachexeget trifft er sodann eine wichtige Feststellung: „Dei verbum hat sich auf die Aufgabe konzentriert, die Differenzierungsarbeit, die in der Spezialforschung über einzelne Texte herrscht und traditionell die volle Aufmerksamkeit der historisch-kritischen Exegese fordert, in ein Verhältnis zur Suche nach der Einheit der Schrift zu setzen, deren Methodik vor dem Aufkommen der kanonischen Exegese unklar geblieben ist. […] Das Postulat eines inneren Zusammenhangs zwischen Vielfalt und Einheit muss konkretisiert werden; […]. Worin aber diese Einheit besteht und wie sie sich zur
185 186 187 188
ebd., 22f. ebd., 24f. nach DIETER BÖHLER, Der Kanon als hermeneutische Vorgabe biblischer Theologie, 165. THOMAS SÖDING, Schriftgemäße Theologie? Überlegungen zu einem Postulat des Zweiten Vatikanums, 513. 74
Vielfalt der Schrift verhält, hat das Konzil so wenig vorgegeben, wie es die Begründung im Wirken des Heiligen Geistes ausgeführt hat.“189
Söding räumt ein, dass die – katholische – Exegese in der Zeit nach dem Konzil „einseitig auf die Karte der Vielfalt gesetzt“ und die Frage nach der Einheit der Heiligen Schrift „eher als Gefahr der Harmonisierung […] denn als Gewinn an Erkenntnis“ verstanden habe. Indem er einer kanonischen Schriftauslegung durchaus Perspektiven einräumt, plädiert er insgesamt für eine sich unter den Maßgaben von Dei verbum (12) erneuernde Exegese, die „Einheit und Vielfalt der Schrift nicht als Gegensatz, sondern als eine Entsprechung“ sieht, „die in der Entstehungsgeschichte und der literarischen Gestalt der Bibel selbst angelegt ist […].“190
IV. Ansätze und Konzepte katholischer Kanon-Hermeneutik 1.
Christologie und Kanon: Grundlegende Synthesen als normierende Ausgangspunkte für Theologie und Kirche
Während historisch-kritische Schriftauslegung traditionell die Analyse, die Auseinander-Legung und Nachzeichnung des Werdeprozesses von Texten und Traditionen als ihre Aufgabe ansieht, wächst in den letzten Jahrzehnten – in beiden Konfessionen – die Einsicht, dass Kirche nicht entstanden wäre, wenn das Urchristentum nicht grundlegende Synthesen geschaffen hätte. – In diesem Sinne sind Einsichten des katholischen Dogmatikers Karl Lehmann zu nennen, der im Blick auf die Christologie und den Kanon von einer ‚Ur-Synthese‘ bzw. von einem ‚dogmatischen Ur-Paradigma‘ gesprochen hat. In seinem fundamentaltheologischen Beitrag Die Frage nach Jesus von Nazareth gibt Lehmann zunächst zu bedenken: „Es scheint mir, dass jede Christologie jene Ursynthese nachvollziehen muss, die der christliche Glaube am Ursprung leisten musste: Dabei ging es um die Identität des irdischen Jesus mit dem ‚Christus des Glaubens‘, ohne dass diese Fragestellung unmittelbar in dieser Form gegeben war.“191
189 190 191
ebd., 515 u. 517 (Hervorh. i. O.). ebd., 519f. KARL LEHMANN, Die Frage nach Jesus von Nazareth; in: Handbuch der Fundamental-Theologie, Bd. 2 Traktat Offenbarung, 138 (Hervorh. Verf.). 75
Lehmann verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf alte Bekenntnisformeln (Röm 10,9f; 1. Kor 15,3b–5; Röm 1,3f; 6,4; Lk 24,33f), die „bis in die frühesten Schichten des Neuen Testaments zurückführen“ und als „Grundzeugnis […] gleichsam zwischen der mündlichen Überlieferung und der Schriftwerdung des Evangeliums entstehen. Im ganzen Neuen Testament sind sie wie Webknoten, die Maß, Stütze und Struktur bieten.“192 – Auch wenn die historische Rückfrage nach dem irdischen Jesus durchaus notwendig sei, weil es im christlichen Glauben „nicht um einen zeitlosen Mythos oder ein theologisches Programm“ gehe, sondern um die konkrete Geschichte des Mannes aus Nazareth, gelte nichtsdestoweniger: „Das aufgezeigte christologische Grundbekenntnis in seinen verschiedenen Ausgestaltungen ist die Mitte der frühchristlichen Verkündigung. Es zeigt, dass die Norm des Glaubens an Jesus Christus weder im irdischen Jesus allein noch im auferweckten Herrn liegt, sondern in der Ur-Synthese beider. […] Eine sachlich ausreichende Aussage von Jesus Christus wird nach der Überzeugung der Schrift nur dann gemacht, wenn die verbindende Klammer zwischen dem irdischen Jesus und dem erhöhten Herrn nicht grundsätzlich aufgelöst wird.“193
Dieses Grundbekenntnis der Kirche setzt Lehmann in Beziehung zur Genese des Kanons in der Verschiedenheit der ihn konstituierenden Schriften: Einerseits gelte, dass „das christologische Bekenntnis der apostolischen Zeugen die treibende Mitte der Kanonbildung und der Interpretation der Schrift“ bilde; andererseits sei im Blick auf den Kanon festzustellen: „Die Kanonbildung […] ist der früheste und grundlegende Entscheid der alten Kirche und stellt somit ein Ur-Paradigma dogmatischer Entscheidungen dar.“194
Im Hinblick auf die neuere ökumenische Debatte um die Bildung des Kanons („Selbstdurchsetzung der Schrift“ oder kirchliche Festlegung) lehnt er sowohl einen falschen „Dualismus“ (Gefahr der evangelischen Position) als auch eine „geheime Identifikation“ (Gefahr der römisch-katholischen Position) ab: „Die Kanonbildung ist gewiss Ausdruck der Demut und des Gehorsams der Kirche gegenüber dem Kyrios, aber sie erfordert auch – ohne jedes Verdienst – die konkrete Sorge und die Verantwortungsbereitschaft der geschichtlichen Kirche. In diesem Sinne kann man
192 193 194
ebd., 138f. ebd., 140f. DERS., Die Bildung des Kanons als dogmatisches Ur-Paradigma. Zur Verhältnisbestimmung von Schrift, Überlieferung und Amt, 60ff (Hervorh. i. O.). 76
durchaus vertreten, dass die Entstehung des Kanons ein rezeptiver Akt der Kirche war, aber dieses Zeugnis der Kirche erforderte einen hohen Einsatz.“195
Daraus folge für die Beziehung von Kanon und Kirche: „Nur in der Kirche ist die in der Schrift zusammengefasste Literatur ‚Bibel‘. Das schließt ein, dass es zwar die Kritik der Schrift an der Kirche gibt, aber keine totale Entgegensetzung von Schrift und Kirche […]. Konkreter Ungehorsam der Kirche gegen die Schrift muss dann beim Namen genannt werden. Im Kanon unterstellt sich die Kirche der Kritik [!].“196
In ähnlicher Weise möchte Heinz Schürmann das geheimnisvolle Ineinander von produktivem und rezeptivem Geschehen im frühen Christentum verstehen, wenn er den Versuch unternimmt, sich „von der ‚gewordenen Kirche‘ in die ‚werdende Kirche‘ zurückzutasten“ und dabei folgende Unterscheidung einführt: „Die Zeit der Urkirche ist die Zeit der noch ergehenden, aber nunmehr zum Abschluss kommenden eschatologischen Christusoffenbarung. […] Sie kann als abgeschlossen gedacht werden zu dem Zeitpunkt, an dem alle die Christusoffenbarung normativ bezeugenden Schriften (des Neuen Testaments) geschrieben waren.“197
Davon ausgehend stellt er im Blick auf den neutestamentlichen Kanon fest: „Die ganze ‚werdende Kirche‘, die (dogmatisch) noch als Offenbarungsempfängerin verstanden wird, ist als solche somit die ‚Urkirche‘, die ‚apostolische Kirche‘. Geschichtlich muss man aber die Arbeit derer unterscheiden, die den Grund gelegt haben, von der Arbeit derer, die auf diesem Grund weiterbauten (vgl. 1. Kor 3,5–15) und den Grund weiter (schriftlich) zu sichern suchten. So entstanden nach den genuinen Paulinen die Pseudopaulinen und die Sammlung des Corpus Paulinum, daneben die anderen Schriften (großenteils Pseudepigraphen), die das Erbe der Apostel fixierten, sammelten und aktualisierten.“198
195 196 197
198
ebd., 61f. ebd., 63. HEINZ SCHÜRMANN, Auf der Suche nach dem „Evangelisch-Katholischen“. Zum Thema Frühkatholizismus, 344 u. 348 (Hervorh. i. O.). ebd., 362. 77
Von diesem Ansatz her versteht auch Schürmann das Werden des neutestamentlichen Kanons als eine Synthese verschiedener, sich gegenseitig bedingender (theologischer) Größen (vgl. B. III. 1.): „Die ‚Mitte‘ ist inhaltlich nicht ‚das Ganze‘, aber ohne das Ganze ist die Mitte eben nicht die Mitte. ‚Das Evangelische‘ ist unkatholisch, wenn ‚das Evangelium‘ – funktional und inhaltlich – zum Einen und Ganzen der Schrift gemacht wird und diese nicht mehr ‚umgreifend‘ ist. ‚Das Katholische‘ ist unevangelisch, wenn die Schrift gesetzlich in einer Weise von ihrem ‚Umfang‘ her flächenhaft eingeebnet wird, dass das ‚Evangelium‘ in ihr nicht mehr als die ‚ansprechende‘ Mitte ‚angreifend‘ ist. Wir haben ‚das Evangelium‘ nur zentral im SchriftGanzen.“199
2.
Kanonische Exegese als neues Paradigma
In dem Sammelband Der Bibelkanon in der Bibelauslegung200 präsentieren die Alttestamentler Egbert Ballhorn und Georg Steins als Herausgeber Beispiele gegenwärtiger kanonischer Exegese im Bereich der römisch-katholischen Theologie.
a) ,Zeitübergreifende Gültigkeit‘ versus ,Ursprungssinn‘ Egbert Ballhorn hält im Blick auf das Paradigma kanonischer Exegese fest, dass biblische Texte ausgehend „von ihrer Zusammenstellung und ihrem Gebrauch als ‚Wort Gottes‘ auf überzeitliche Bedeutung und auf fortwährende Brauchbarkeit im Rahmen sich wandelnder Kontexte“ abzielen.201 – Historisch-kritische Schriftauslegung zeichne sich demgegenüber dadurch aus, dass „ihre Anwendung eine Entfremdung der Bibeltexte gegenüber kirchlichen Lesern“ bedeute, „was Stärke und Schwäche zugleich ist.“ – Zugespitzt formuliert könne sich daraus Folgendes ergeben: „Wenn sich fachgerechter Bibelumgang allein in der Schichtung und historisch-genetischen Einordnung des Textes erweist, muss jede anderweitige Beschäftigung mit dem Text als unter diesem Gesichtspunkt wenig relevant erscheinen. Im Extremfall werden so die Gläubigen ihres eigenen Textes enteignet. […] Wissenschaftlicher Umgang mit einem Bibeltext und
199 200
201
ebd., 368. DER BIBELKANON IN DER BIBELAUSLEGUNG. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, hrsg. v. Egbert Ballhorn u. Georg Steins, Stuttgart 2007. EGBERT BALLHORN, Das historische und das kanonische Paradigma in der Exegese. Ein Essay, 13. 78
privater oder gottesdienstlicher ‚Gebrauch‘ des Textes sind in dieser Betrachtung zwei Weisen, die kaum in Kommunikation miteinander zu bringen sind.“202
Aufschlussreich für den kanonischen Zugang zur Schriftauslegung ist die Frage, „wie mit der wahrgenommenen Pluralität“ des biblischen Zeugnisses umgegangen wird: „Was ist das neue Wahrheitsparadigma, das die Kohärenz des Textes garantiert? […] Für die kanonische Exegese stellt der Kanon selbst den Gesamttext dar, dem – insofern dem Kanon ein ‚Sinn‘ zugesprochen wird – auch gewissermaßen ein abstraktes Metasubjekt zuzuordnen ist. […] In systematischer Betrachtung des biblischen Kanons als Buch der Kirche steht hinter der Vielzahl der Autorenkonzepte der eine Gott, der sich durch diese Autoren zu verstehen gibt und selbst die Einheit der Schrift verbürgt.“203
Insgesamt betont Ballhorn, dass historische und kanonische Zugangsweise zur Schriftauslegung „in einem Spannungsverhältnis zueinander“ stünden: Das historische Paradigma nehme vor allem „die Entstehungswelt des Textes“ in den Blick, das kanonische Paradigma „die Rezeptionsgemeinschaft“ und deren aktuellen Textgebrauch. Daraus ergebe sich folgendes Fazit: „Zugespitzt ausgedrückt lebt die historisch-kritische Exegese von der Fremdheit und Distanz der biblischen Texte, die kanonische Exegese von der Nähe und Vertrautheit. Keines der beiden Paradigmen kann die Fehler und Schwächen des anderen ‚heilen‘, wohl aber den Blick für dessen Problembereiche schärfen. Beide Paradigmen bedingen einander. Dazu gehört auch, dass die kanonische Exegese nicht als Abkürzung hinter die Kritik der Aufklärung zurück in Dienst genommen werden kann. Im Gegenzug muss die historisch-kritisch ausgerichtete Exegese sich fragen lassen, wieweit auch sie die Einheit des Textes und die Interessen der Leser in den Blick bekommt.“204
b) Der ,anamnetische Anspruch‘ biblischer Texte als ,Teiltexte eines Makrokontextes‘ Nach Georg Steins ist es der Wiederentdeckung des Kanons zu verdanken, dass mittlerweile „die enge Verbindung von Bibel und Glaubensgemeinschaft(en)“ wieder „in den Ansatz der Exegese“ integriert werden könne, und zwar „nicht erst als sozusagen nachträgliches Anwendungsverhältnis.“
202 203 204
ebd., 19. ebd., 19 u. 21f. ebd., 28f. 79
Dies bedeute letztlich: „[…] die Bibel ist kein Reservoir durch spätere Zusätze verunstalteter Originalquellen, sondern von Anfang an das Lebensbuch von Glaubensgemeinschaften.“205
Indem man dies ernst nehme, werde anerkannt, „dass die Texte der Bibel durch die Überlieferung ihrer ursprünglichen Kontexte entkleidet und in einen neuen, einen hoch komplexen literarischen Kontext eingebettet worden sind, der in einem religiös-sozialen Kontext einer Glaubensgemeinschaft steht.“ – Jede Methodik der Auslegung habe dies prinzipiell zu berücksichtigen und das Lesen biblischer Texte „als je aktuelle Begegnung mit dem Kanon als literarischer Einheit und Ganzheit (vgl. Dei Verbum) in den Mittelpunkt der exegetischen Überlegungen zu stellen.“206 Dies hätte zur Folge, „dass auch die jeweilige Glaubensgemeinschaft stärker zu ihrem Recht“ komme, „denn sie ist der Gegenpol des Kanons und in ihr entscheidet sich letztlich, welchen Sinn die Texte in den jeweiligen geschichtlichen Herausforderungen gewinnen.“206
In diesem Sinne müsse neu bedacht werden, dass „dass die Entwicklung der Schriften und die Entwicklung der Glaubensgemeinschaften […] zwei Seiten eines einzigen Prozesses sind.“207 – Steins ist daran gelegen, im Rahmen einer kanonischen Zugangsweise „einen gänzlich anderen Ansatz Biblischer Theologie“ zu etablieren, den er „anamnetisch“ bezeichnet; dabei gehe es um mehr als eine nüchterne Beschreibung vorfindlicher Theologien, ohne dadurch einem Systemzwang zum Opfer zu fallen; um dies realisieren zu können, sei ein Doppeltes zu beachten: 1. Kanonische Auslegung habe „die großen Linien“ in der Schrift nachzuzeichnen, ohne „die innerbiblische Vielstimmigkeit […] zu nivellieren.“ 2. Dabei gelte es, „den formalen Anspruch der Bibel zur Geltung zu bringen;“ in diesem Sinne sei eine anamnetische Biblische Theologie „als Reflexion der schriftimmanenten Vergegenwärtigungsmechanismen und -möglichkeiten“ zu verstehen.208
Insgesamt gehe es „um ein dynamisches Verständnis von Exegese, bildlich gesprochen: um ein Eintreten in den Raum der Schrift, ein ‚Sich-hin-und-her-Bewegen‘ in den Strukturen des Kanons, eine nicht abschließbare Lektüre, die immer mehr mit dem Ganzen vertraut wird.“209 205 206 207 208 209
GEORG STEINS, Der Kanon ist der erste Kontext, 117 (Hervorh. i. O.). ebd., 120 (Hervorh. i. O.). DERS., Kanon und Anamnese. Auf dem Weg zu einer Neuen Biblischen Theologie, 115. ebd., 121f (Hervorh. i. O.). ebd., 129. 80
c) Biblische Texte als ,öffentliche und normative Texte einer Lesegemeinschaft‘ Auch der Alttestamentler Dieter Böhler will den Kanon „als hermeneutische Vorgabe biblischer Theologie“ verstehen; er wagt es deshalb zunächst, ein Grundsatzproblem zu thematisieren: „Die heimliche Frage im Hintergrund ist, ganz einfach ausgedrückt: Wie verhält sich die historisch-kritische Bibelwissenschaft zur Theologie? Oder anders herum: Ist die Bibelwissenschaft überhaupt eine theologische Disziplin, da sie doch weitgehend historisch-deskriptiv ist? Theologie hat ja auch einen normativen Anspruch.“210
In dieser Frage bezieht Böhler klar Stellung, indem er den Kanon wesentlich als „Rezeptionsphänomen“211 begreift, dem ein öffentlicher und normativer Charakter eignet: „Kanonische Texte sind […] öffentliche und normative Texte einer Lesegemeinschaft. Der implizierte ideale Rezipient ist nicht wie beim modernen Roman ein Individuum in seiner Stube, sondern die zuhörende Rezeptionsgemeinschaft bei ihrer liturgischen Versammlung (Dtn 31,10f.: […]). Der Kanonisationsprozess hat selbst die wenigen für nichtöffentliche Zwecke verfassten Schriften präzise zu Schriften für öffentliche Verlesung in der Textgemeinschaft gemacht: Ein noch so frommes Einzelseelchen ist nicht der erste Adressat und implizierte Rezipient des kanonischen Bibeltextes. Die Rezeptionsästhetik, für die die Bibel gemacht ist, ist zuerst eine kollektive. Sie impliziert nicht einen inspirierten Leser, sondern das inspirierte Israel, die inspirierte Kirche.“212
Brevard Childs hätte mit seinem Ansatz zwar eine wichtige Debatte angeregt, lasse jedoch selbst „keinen wirklich reflektierten Kanonbegriff“ erkennen.213 Ein solcher könne konkret nur von bestimmten Voraussetzungen her gebildet werden: „Wer ‚Kanon‘ sagt, hat ‚rezipierende Kirche‘ gesagt, hat ‚Literatur in einem nicht bloß mehr historischen, sondern situationsübergreifenden literarischen Zusammenhang‘ gesagt, hat ‚normative Literatur‘ gesagt. […] Der literarische Kanon gleicht […] einem Gesellschaftsvertrag, der der Gemeinschaft Identität im Wandel der Zeit sichern will: er ist ein literarisches
210
211 212 213
DIETER BÖHLER, Der Kanon als hermeneutische Vorgabe biblischer Theologie. Über aktuelle Methodendiskussionen in der Bibelwissenschaft, 161. ebd., 167. ebd., 178. ebd., 166. 81
Medium, er verpflichtet alle und bindet so die Gemeinschaft zusammen, und er richtet sie inhaltlich aus auf das eigentliche Gemeinschaftsziel, die Gemeinschaft mit Gott. Am Kanon orientierte Biblische Theologie und Exegese wäre eine theologische Disziplin, eine innerhalb der Glaubensgemeinschaft normative Disziplin.“214
Das Problem klassischer historisch-kritischer Exegese bestehe u.a. darin, den Sinn von Bibeltexten vor allem an den ursprünglichen Intentionen der Autoren festzumachen; dieser liege aber darüber hinaus „wesentlich in seiner Beziehung zu dem großen literarischen Gefüge des Kanons, in den die Rezeptionsgemeinschaft ihn eingefügt hat, um ihn über die damalige Situation hinaus aktuell zu halten.“215 – Insgesamt gelte für eine konsequent am Kanon ausgerichtete Theologie: „Ein Kanon ist die literarische Verständigungsbasis einer ihn als normativ rezipierenden Gemeinschaft über ihren religiös-theologischen Glauben. […] So gesehen, ist ein reflektierter und ernstlich durchgeführter ‚canonical approach‘ sicher der Weg zu einer neuen, diesmal theologischen und normativen, nicht religionsgeschichtlich-deskriptiven Biblischen Theologie.“216
V. Zusammenfassung C.1. Mit Veröffentlichung der ersten ausschließlich der Bibel gewidmeten Enzyklika Providentissimus Deus 1893 und der Gründung der Päpstlichen Bibelkommission 1903 setzt in der Amtszeit von Papst Leo XIII. (1878–1903) eine Zeitenwende für die Auslegung der Heiligen Schrift im Bereich der römisch-katholischen Kirche ein: Erstmals werden katholische Exegeten offiziell dazu aufgefordert, durch wissenschaftliche Kenntnisse Fehlurteilen im Blick auf das Verständnis der Bibel entgegenzuwirken. Die unter Papst Pius XII. (1939–1958) entstandene Enzyklika Divino Afflante Spiritu eröffnet Möglichkeiten für eine kritische Erforschung biblischer Schriften und verteidigt wissenschaftliche katholische Schriftauslegung gegen innerkirchliche Gegner. C.2. Die im November 1965 durch Papst Paul VI. (1963–1978) promulgierte Offenbarungskonstitution Dei verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils gilt als offizielle lehramtliche Bestätigung der historisch-kritischen Schriftauslegung in der katholischen Kirche. Sie bildet einen Einschnitt
214 215 216
ebd., 169 (Hervorh. Verf.). ebd., 168. ebd., 177f. 82
für das gesamte katholische Theologieverständnis, weil sie mit einem neuscholastischen instruktionstheoretischen Offenbarungsbegriff bricht, um diesen stattdessen konsequent theozentrischheilsgeschichtlich zu fassen: Indem Gott nicht Informationen über sich offenbart, sondern sich selbst als Person in Jesus Christus, dem Sohn, kommt es faktisch auch zu einer entscheidenden Neuinterpretation des Tridentinums: Die Bücher der Bibel und die mündliche Überlieferung der Kirche sind nicht selbst Offenbarungsquellen, sondern entspringen dem einen göttlichem Quell der Christusoffenbarung. Weil diese Offenbarung in Raum und Zeit erfolgte, ist historische Erforschung der Heiligen Schrift nicht nur erlaubt, sie erweist sich vielmehr als unabdingbar notwendig und ist deshalb auch der kirchlichen Schriftauslegung ausdrücklich geboten. C.3. Durch die Empfehlung des Konzils, das Studium der Heiligen Schrift möge die Seele der Theologie bilden, erfährt die Systemgestalt katholischer Theologie eine geradezu revolutionäre Neuformierung (Joseph Ratzinger). – Die Artikel Dei verbum (12) und (13) bestätigen durch die ausdrückliche Analog-Setzung der Heiligen Schrift mit der Inkarnation Jesu Christi die doppelte (gott-menschliche) Autorschaft der Heiligen Schrift und damit das Recht historisch-kritischer Schriftauslegung; sie geben gleichzeitig vor, wissenschaftliche Exegese prinzipiell einzubinden in den Kontext des gesamten biblischen Kanons sowie in den Kontext der Auslegungsgemeinschaft der Kirche. C.4. Damit erweist sich die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums als auf die Zukunft ausgerichteter Text: Auch in der katholischen Exegese kommt es zunächst zu einer Fixierung auf die Vielgestaltigkeit des biblischen Zeugnisses; binnen kürzester Zeit erreicht die katholische Schriftauslegung das Niveau der Schwesterkirche – in positiver wie in negativer Hinsicht. – Kritische Stimmen mahnen an, historische Schriftauslegung nicht mit historistischen Axiomen zu verbinden und dadurch den Blick für das Wirken Gottes zu verlieren (Joseph Ratzinger); daneben müsse auch die wissenschaftliche Exegese lernen, die einzelnen Stimmen der Bibel im Sinngefüge des gesamten Kanons zu hören (Norbert Lohfink), um auf diese Weise Dei verbum (12) als ein auf konkrete Umsetzung ausgerichtetes Postulat zu begreifen, das von einem tiefen inneren Zusammenhang zwischen Vielfalt und Einheit der Heiligen Schrift ausgeht (Thomas Söding). C.5. Gleichzeitig bleibt im römisch-katholischen Gesamtkontext das Wissen um die theologische Maßgeblichkeit grundlegender Synthesen im Blick (Karl Lehmann): Indem die Christologie der Kirche wurzelhaft von der Identität des irdischen Jesus mit dem Christus des Glaubens ausgeht und die Bildung des Kanons ein Ur-Paradigma dogmatischer Entscheidungen darstellt, wird sich die Kirche des Geheimnisses bewusst, dass das Evangelium von Jesus Christus immer nur im Gesamtumfang des urchristlichen Kanons eine präzisierbare Mitte bilden kann (Heinz Schürmann).
83
C.6. In jüngerer Zeit sind es im Raum der katholischen Kirche vor allem alttestamentliche Exegeten, die programmatische Vorarbeit für eine dezidiert kanonische Schriftauslegung leisten: Dabei geht es u.a. darum, im Gegensatz zur historisch-kritischen Fixierung auf den Ursprungssinn die zeitübergreifende Gültigkeit biblischer Texte im Blick zu behalten (Egbert Ballhorn); weiterhin ist zu bedenken, dass der anamnetische Anspruch der Heiligen Schrift insbesondere dadurch zum Ausdruck kommt, dass Einzeltexte als Teile des neuen Makrokontextes Kanon wahrgenommen werden (Georg Steins); schließlich ist es für die Schriftauslegung von grundsätzlicher Bedeutung, dass die einzelnen Bücher des biblischen Kanons öffentliche und normative Texte der Lese- und Auslegungsgemeinschaft Kirche bilden (Dieter Böhler).
84
D. Kanonische Perspektiven einer neuen Schriftgemäßheit I – evangelische Exegese: Ferdinand Hahn – Die Vielfalt und die Einheit des Neuen Testaments I. Auf dem Weg zu einer neuen Konzeption der Theologie des Neuen Testaments 1.
Exegese und Fundamentaltheologie
Der evangelische Neutestamentler Ferdinand Hahn (1926–2015) geht grundsätzlich davon aus, dass die „Theologie als Wissenschaft […] in bleibendem Bezug“ zur „lebendigen Wirklichkeit der Kirche“ steht; dies betont er in seiner Antrittsvorlesung an der Universität München im November 1976: „[…] nur eine der Kirche in tiefstem Sinne dienende Theologie, auch wenn sie sich mit Problemen beschäftigt, die für die kirchliche Praxis nicht unmittelbar auswertbar sind, hat Anspruch auf den Namen einer christlichen Theo-logie“[sic!].217 – Als Frucht seiner langjährigen wissenschaftlichen Arbeit darf die 2002 vorgelegte umfangreiche Theologie des Neuen Testaments gelten; deren erster Band Die Vielfalt des Neuen Testaments versteht sich als Theologiegeschichte des Urchristentums, während Band II Die Einheit des Neuen Testaments explizit als thematische Darstellung konzipiert ist.218 – Schon Jahrzehnte vorher – in der genannten Antrittsvorlesung in München – formuliert Hahn eine zu diesem Zeitpunkt höchst bemerkenswerte Problemanzeige: „Das entscheidende Problem heute liegt darin, dass die neutestamentliche Exegese zwar in der Lage ist, eine Vielzahl von traditionsgeschichtlichen Beobachtungen, aber auch von höchst verschiedenartigen Theologien des Urchristentums darzustellen, dass es ihr aber nicht hinreichend gelingt, die Konvergenz und innere Einheit aufzuzeigen. Positiv ausgedrückt: Sie 217 218
FERDINAND HAHN, Exegese, Theologie und Kirche, 35. DERS., Theologie des Neuen Testaments, Bd. I+II, Tübingen 2002. 85
muss über eine Theologiegeschichte des Urchristentums endlich hinauskommen, um ohne vorschnelle Nivellierung deutlich das herauszuarbeiten, was die einzelnen Teile des Neuen Testaments sachlich zusammenhält.“219
Die Möglichkeit, von einer inneren Einheit des Neuen Testaments sprechen zu können, gründet für Hahn zunächst in der Verklammerung der Jesusüberlieferung mit dem urchristlichen Kerygma und der darauf aufbauenden urchristlich-apostolischen Tradition: „So wird […] ganz bewusst die Jesusüberlieferung aus vorösterlicher Zeit mit dem Kerygma von Kreuz und Auferstehung verbunden. Wegen des Inhalts, aber auch wegen der starken Berücksichtigung des ehemals mündlichen Überlieferungsgutes sind Schriften entstanden, für die es nichts direkt Vergleichbares gibt. […] Wie Jesu Wirken, sein Leiden und Sterben einmalig gewesen sind, so hat sich auch die Grundlegung der Kirche und ihre Konstituierung in geschichtlicher Einmaligkeit vollzogen. Die kirchengründende Überlieferung der Apostel hat daher einen grundsätzlich anderen Rang als alle sonstige […] Tradition.“220
Bemerkenswert für einen Fachmann im Bereich neutestamentlicher Schriftauslegung ist der gesamttheologische Weitblick Hahns, der ihn dazu veranlasst, von einem „untrennbare[n] Zusammenhang von Exegese und Fundamentaltheologie“ zu sprechen.221 – Dass sich auch evangelische Theologie diesem ehemals als katholisch geltenden Teilgebiet der Wissenschaft zuwenden könne, hängt für Hahn damit zusammen, dass „die Heilige Schrift eine unaufhebbare Funktion“ besitze, wenn es darum gehe, „das fundamentum des Glaubens und der Kirche sowie der Theologie“ festzulegen.222 – So erklärt Hahn das oben genannte Basiskonzept seiner exegetischen Arbeit zu einem fundamentaltheologischen Grundsatz: den unlösbaren Zusammenhang der historischen Rückfrage nach Jesus mit der erfolgten Rezeption der Jesus-Überlieferung im urchristlichen Kerygma; das bedeutet konkret: „Es gilt also Ernst damit zu machen, dass die Geschichte Jesu eine Gegenwarts- und Zukunftsdimension eröffnet […]. Grund des Glaubens kann kein ,historisches‘ Ereignis im modernen Sinne, d.h. kein abgeschlossenes Geschehen in der Vergangenheit sein, sondern nur das durch die einmalige Geschichte Jesu eröffnete, gegenwart- und zukunfterschließende, also das weitergehende Heilsgeschehen. Deswegen ist auch nicht die Rückfrage nach Jesus als solche, sondern
219 220 221 222
DERS., Exegese, Theologie und Kirche, 26f (Hervorh. Verf.). FERDINAND HAHN, Die Heilige Schrift als älteste christliche Tradition und als Kanon, 51f u. 54 (Hervorh. i. O.). FERDINAND HAHN, Exegese und Fundamentaltheologie, 51. ebd., 52. 86
erst deren Verbindung mit dem Rezeptionsprozess der Urgemeinde von theologischer Bedeutung, ja wohl der entscheidende theologische Vorgang schlechthin, den es in der Fundamentaltheologie zu bedenken gilt. Grund und Inhalt des Glaubens kann eben nur das vor unserer Zeit begonnene, aber infolge der Auferweckung Jesu uns miterfassende und über uns hinausweisende Offenbarungsgeschehen sein.“223
So verstanden wird im Evangelium „die irdische Geschichte Jesu bezeugt, aber im Sinne einer die Gegenwart angehenden und Glauben begründenden Offenbarungsgeschichte Gottes.“224 – Zur präziseren Bestimmung des Evangeliums und seines Inhalts führt Hahn eine dreifache Unterscheidung ein:225 a) Als Grundgeschehen gilt „die das Heil stiftende und den Glauben ermöglichende […] Offenbarungsgeschichte Gottes in Jesus Christus, und zwar unter Einschluss seiner Auferweckung und Erhöhung.“ b) Dieses Geschehen ist für die Nachwelt nur zugänglich „gebunden an das Grundzeugnis der Apostel“, welches ebenso dreifach gegliedert ist: 1. Mit der „narrativen Komponente“ ist der Rückbezug auf den Bestand der Jesusüberlieferung gemeint. 2. Als „homologische Komponente“ definiert Hahn den „Ausdruck des Überzeugtseins und der glaubenden Erkenntnis“, d.h. „das im Osterereignis verankerte Bekenntnis zum lebendigen Herrn […].“ 3. Die „kerygmatische Komponente“ betreffe die erste verkündigende Darlegung der Inhalte des Evangeliums. c) Die Grundüberlieferung bilden für Hahn schließlich alle im (neutestamentlichen) Kanon das Grundzeugnis der Apostel ergänzenden und umfassenden Dokumente, in welchen „bereits die entscheidenden Probleme anvisiert und vorgezeichnet sind, die es in der theologischen Arbeit fortan zu bedenken gilt.“
Die Exegese insgesamt sei insofern auf die Fundamentaltheologie bezogen, als sie anhand konkreter biblischer Texte das Grundzeugnis als „das entscheidende und bleibende ‚Kriterium‘ für
223 224 225
ebd., 55f (Hervorh. i. O.). ebd., 56. ebd., 56ff (Hervorh. i. O.). 87
wahren christlichen Glauben“ zu explizieren habe, was über die Grenzen der Konfessionen hinweg bewältigt werden müsse.226
2.
Die Breite der urchristlichen Überlieferung
Seit der programmatischen Forderung Johann Philipp Gablers in seiner berühmten Altdorfer Antrittsvorlesung (1787) Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele 227 entwickelt sich die wissenschaftliche Exegese unabhängig von systematischen Prämissen; es kommt zur berühmten Doppelgesichtigkeit228 der Biblischen Theologie, die mehr und mehr zu einer Diastase wird. Indem er sich dieser Problematik bewusst ist, verwirklicht Ferdinand Hahn einen richtungsweisenden Neuansatz im Bereich der Theologie des Neuen Testaments, indem er diese – wie bereits dargelegt – zweiteilig konzipiert. Bereits der Umfang beider Bände (858 bzw. 869 Seiten) ist geeignet, mögliche Einwände gegen ein solches Verfahren zu entkräften. Der erste als Theologiegeschichte des Urchristentums betitelte Band Die Vielfalt des Neuen Testaments macht sich zum Ziel „die ganze Breite der urchristlichen Überlieferungen“ ausführlich darzustellen; dabei wird hinreichend deutlich, „wie unterschiedlich die christliche Botschaft schon in ältester Zeit artikuliert und weitergegeben worden ist. Diese Vielfalt enthält durchaus die Tendenz zu divergierender Ausbildung christlicher Identität und konnte gegebenenfalls zu unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen führen (vgl. Ernst Käsemann); […].“229 – Entsprechend orientiert sich der Aufbau an der chronologischen Entstehung der Traditionen und Schriften des Neuen Testaments (vorliterarische Epoche – literarische Dokumente der apostolischen / nachapostolischen Zeit – Schriften aus der Zeit des Übergangs zur Alten Kirche). – Es fällt auf, dass Hahn den Judas- sowie den 2. Petrusbrief trotz ihrer Kanonizität bereits der Zeit des Übergangs zur Alten Kirche zurechnet und im Bereich dieser Epoche auch auf die Schriften der Apostolischen Väter eingeht. 230 Dies entspricht den Anforderungen, die an eine Theologiegeschichte des Urchristentums zu stellen sind.231
226 227 228 229 230 231
ebd., 66f. (Hervorh. i. O.). vgl. Fußnote 39. gemäß JÖRG FREY, vgl. Fußnote 44. FERDINAND HAHN, Theologie des Neuen Testaments I, 763 (Hervorh. i. O.). vgl. ebd., 734ff. vgl. insbesondere ebd., 736f. 88
3.
Die Frage nach der Einheit des Neuen Testaments
Dass Hahn die Mühe auf sich nimmt, nach einer ausführlichen Darlegung der Theologiegeschichte des Urchristentums einen weiteren Band zu verfassen, entspricht ausdrücklich seiner programmatischen Zielsetzung: „Die Darstellung der Vielfalt neutestamentlicher Überlieferungen […] beantwortet […] nicht die Frage, wie diese unterschiedlichen Konzeptionen innerlich zusammenhängen. […] es wird nicht klar, ob und wie die zum Teil divergierenden Linien zusammengehören und wie Spannungen zu bewerten sind. Gleichwohl ist eine theologiegeschichtliche Betrachtung der neutestamentlichen Überlieferung unerlässlich.“232
Zur Verteidigung seines doppelten Ansatzes kann Hahn auch pointiert argumentieren: „Die Darstellung der Vielfalt im Sinn einer Theologiegeschichte des Urchristentums ist ein notwendiges und unerlässliches Teilstück, ist für sich genommen jedoch nur ein Fragment. Erst in der Verbindung mit dem Bemühen, die verschiedenen theologischen Entwürfe des Urchristentums aufeinander zu beziehen und nach deren Einheit zu fragen, kann von einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘ im strengen und eigentlichen Sinn gesprochen werden.“233
Hahn bzw. sein Werk stellen deshalb m.E. einen epochalen Einschnitt dar, weil es die theologische Aufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft bewusst bejaht und dadurch „an der Schnittstelle von exegetischer und systematisch-theologischer Arbeit“ in der Lage ist, die beklagte Diastase zwischen beiden Bereichen behutsam in Richtung der ursprünglichen Doppelgesichtigkeit zurückzuführen; dass es dabei um ein im besten Sinne des Wortes fundamentaltheologisches Anliegen geht, ist Hahn bewusst: „Insofern hat eine neutestamentliche Theologie, die sich um den Nachweis der zweifellos komplexen Einheit des urchristlichen Zeugnisses bemüht, eine fundamentaltheologische Funktion. Es geht um das ursprüngliche und bleibend maßgebliche Glaubenszeugnis.“234
232 233 234
ebd., 764. DERS., Theologie des Neuen Testaments II, 2 (Hervorh. Verf.). ebd. 89
Für den zweiten Teilband Die Einheit des Neuen Testaments wählt Hahn eine thematische Darstellung, was insgesamt nicht überraschen kann; nach einer ausführlichen Erörterung zur Frage des Alten Testaments als Bibel des Urchristentums gliedert sich der weitere Band vierteilig: 1. Das Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus (Christologie, Pneumatologie, implizite trinitarische Struktur des ntl. Zeugnisses) 2. Die soteriologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes (Sünde, Gesetz, Errettung, Evangelium) 3. Die ekklesiologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes (Nachfolge, Jüngerschaft, Taufe und Abendmahl, Gemeinde, Ethik) 4. Die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes (weitergehendes Heil und Bedrängnis, Vollendung des Heils)
Hahn ist sich darüber klar, dass auf diese Weise Perspektiven deutlich werden, die über das Urchristentum hinausführen bzw. dass sich Berührungspunkte mit der systematischen Theologie ergeben. Fragen, die in den Bereich der Dogmengeschichte fallen, seien „allenfalls anzuvisieren, soweit sich dogmen- und theologiegeschichtliche Probleme geradezu notwendig aus den noch offenen Tendenzen des Neuen Testaments ergeben.“235 – Insgesamt geht es ihm darum, „nach der gemeinsamen Intention der vielfältigen Zeugnisse“ des Neuen Testaments zu fragen: „Es handelt sich um eine Besinnung auf das, was die Vielgestaltigkeit innerlich verbindet und was sie trotz mancherlei Spannungen und Widersprüchen zusammenhält. In diesem Sinn ist nach gemeinsamen Strukturen zu fragen. Es kommt darauf an, die verschiedenen Traditionsstränge in der Weise miteinander in Beziehung zu setzen, dass gemeinsame Linien erkennbar werden und dass bei unterschiedlichen Tendenzen geklärt wird, was der Grund für Divergenzen ist. Insofern ist deutlich zu machen, an welchen Stellen und im welchem Maße Sachverhalte im Urchristentum unterschiedlich gedeutet werden konnten, ohne dass damit die Einheit in Frage gestellt wurde.“236
Hahn räumt ein, dass eine solche „Bestimmung der Einheit […] in jedem Fall methodisch reflektiert, sachlich begründet und thematisch ausgearbeitet“ erfolgen müsse.237 – In einem kurzen Überblick beschreibt er, wie in der bisherigen Geschichte der Forschung mit der Frage nach
235 236 237
ebd., 24. ebd., 23 (Hervorh. Verf.). ebd., 22. 90
der Einheit des Neuen Testaments umgegangen wurde und stellt dabei drei Hauptrichtungen fest: 238 - Variante A: „Der Verzicht auf die Bestimmung der Einheit“
Rudolf Bultmann vertritt die Position, dass es prinzipiell unmöglich sei, die Einheit des Neuen Testaments zu bestimmen: Aufgrund der „geschichtlichen Bedingtheit aller Aussagen über das Kerygma“ könne „eine Darstellung der neutestamentlichen Theologie nicht anders als vielgestaltig sein“; diesen Standpunkt nehmen grundsätzlich auch Hans Conzelmann und modifiziert Herbert Braun ein. – Von einer faktischen Unmöglichkeit, die Einheit des Neuen Testaments zu explizieren, gehen Joachim Gnilka, Georg Strecker und Klaus Berger aus. Berger benennt zwar einzelne „Elemente, die in den urchristlichen Schriften vorausgesetzt werden“, sieht aber keinen übereinstimmenden Zusammenhang, der diese verbinden könne. - Variante B: „Der bedingte Verzicht auf die Bestimmung der Einheit“
Das Bemühen, innerhalb des Neuen Testaments einen Kanon im Kanon festzulegen, verbindet Ernst Käsemann, Werner Georg Kümmel und Wolfgang Schrage. Während Kümmel diesen mit dem Christuszeugnis identifiziert, welches letztlich durch eine „kritische Zusammenschau“ dargestellt werden könne, plädieren Käsemann und Schrage dafür, „vor allem die paulinische Theologie als Kriterium für das wahrhaft Kanonische ins Zentrum“ zu rücken. – Für die Orientierung an einer Mitte des Neuen Testaments sprechen sich Eduard Lohse239 und Peter Stuhlmacher aus. Während Lohse diese Mitte in einem nicht als konkrete Norm verfügbaren gemeinsamen Kerygma des Urchristentums finden will, wird Stuhlmacher, wenn er von der Mitte des Neuen Testaments spricht, genauer: „Das von Jesus gelebte, von Paulus exemplarisch verkündigte und von der johanneischen Schule durchgeistigte apostolische Evangelium von der Versöhnung (Versühnung) Gottes mit den Menschen durch seinen eingeborenen Sohn, den Christus Jesus, ist die Heilsbotschaft für die Welt schlechthin.“240 – Hahn würdigt den Versuch Stuhlmachers, „Einheit und Verschiedenheit in eine sinnvolle Beziehung“ zu setzen, bemängelt jedoch die nicht ausreichende Berücksichtigung der „Divergenzen.“
238 239 240
ebd., 5ff (Hervorh. i. O.). EDUARD LOHSE, Grundriss der neutestamentlichen Theologie. PETER STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments II, 320f. 91
- Variante C: „Bemühungen um eine Bestimmung der Einheit“241
Hier nennt Hahn zunächst als Vertreter einer konservativen Theologie aus dem ausgehenden 19. bzw. dem frühen 20. Jahrhundert die Namen Bernhard Weiß, Adolf Schlatter und Paul Feine. Im Blick auf das spätere 20. Jahrhundert geht er ausführlicher ein auf die evangelischen Exegeten Oscar Cullmann242 und Martin Albertz243 sowie auf die katholischen Schriftausleger Karl Hermann Schelkle244, Heinrich Schlier und Wilhelm Thüsing. – Schlier und Thüsing äußerten sich positiv im Blick auf die „Möglichkeit und Notwendigkeit einer umfassenden Einheitsbestimmung“; während es im Falle Schliers bei einem programmatischen Aufsatz245 blieb, sei das dreibändige, unabgeschlossene Werk Thüsings246 der „zweifellos wichtigste neuere Beitrag zur Frage der Konzeption einer neutestamentlichen Theologie“ (im 20. Jahrhundert). Thüsing unternimmt den – teilweise nur mühsam zu durchschauenden – Versuch, den irdischen Jesus wie den erhöhten Christus von bestimmten „Ursprungsstrukturen“ her zu verstehen, die auf „das Ganze der neutestamentlichen Überlieferung“ anzuwenden seien. Zusammenfassend zieht Hahn ein kritisches Fazit247: Der prinzipielle bzw. faktische Verzicht darauf, die Frage nach der Einheit des Neuen Testaments einer Lösung zuzuführen, sei „in seiner Einseitigkeit problematisch“ bzw. „eine Kapitulation vor einer zentralen theologische Aufgabe.“ – Die Position der Bestimmung eines Kanons im Kanon bzw. einer Mitte der Schrift werde „der Bedeutung des neutestamentlichen Kanons nicht gerecht“ bzw. sei nur in einem eingeschränkten Sinn „Vorarbeit für eine inhaltliche Explikation der Einheit.“ – So bleibt es an Ferdinand Hahn, die avisierte Bestimmung einer Einheit des Neuen Testaments auch konkret durchzuführen: „Die Aufgabe ist mit Recht gefordert worden, aber noch immer weitgehend unerledigt.“
241
242
243 244 245 246
247
Nur am Rande erwähnt werden CHARLES HAROLD DODD, J.D.G. DUNN, JOHN REUMANN, PETER BALLA und BREVARD S. CHILDS. OSCAR CULLMANN, Christus und die Zeit bzw. Heil als Geschichte, 3., durchges. Aufl., Zürich 1962 bzw. Tübingen 1965. MARTIN ALBERTZ, Die Botschaft des Neuen Testaments, Bde. I/1–II/2, Zürich 1947–1957. KARL HERMANN SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments, Bde. I–IV, Düsseldorf 1968–1976. HEINRICH SCHLIER, Über Sinn und Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments. WILHELM THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus, Bde. I–III, Düsseldorf bzw. Münster 1981–1999. FERDINAND HAHN, Theologie des Neuen Testaments II, 22. 92
II. Theologische Basis-Entscheidungen 1.
Der neutestamentliche Kanon als Grundlage
Hahn ist sich der Tatsache bewusst, dass seit William Wrede „die Frage nach der Abgrenzung einer neutestamentlichen Theologie umstritten“ ist, „auch wenn die Mehrzahl der Lehrbücher sich an die Kanongrenzen“ halte; er selbst plädiert entschieden dafür, von Voraussetzungen auszugehen, die durch die Kirche als Auslegungsgemeinschaft der Heiligen Schrift vorgegeben sind:248 „Ist Theologie grundsätzlich ein Nachdenken über den Glauben und damit ein Nachdenken über den als verbindlich anerkannten Wahrheitsanspruch der christlichen Botschaft […], so kann die Frage nach der dafür maßgebenden Glaubensgrundlage nicht ausgeklammert und das Problem des Kanons nicht umgangen werden.“
Dem Einwand, die Kanonizität der Schriften des Neuen Testaments sei sekundär festgelegt worden, begegnet Hahn mit dem Hinweis darauf, dass alle maßgeblichen Weichenstellungen in der Zeit des Urchristentums als Entscheidungen der Kirche zu verstehen sind: „Der Kanon ist insofern zweifellos eine Entscheidung der Kirche. Entsprechendes gilt aber, was nicht übersehen werden darf, auch schon für die Wahrung und Weitergabe der Jesustradition, für die Abfassung der Briefe und Evangelien und für die beginnende Sammlung urchristlicher Schriften; alle diese Vorgänge stehen im Zusammenhang mit dem Leben der Kirche, haben dadurch ihre Funktion und Bedeutung erlangt und sind ohne den Kontext der christlichen Glaubensgemeinschaft nicht zu erklären. Insofern war die Abgrenzung und Fixierung des neutestamentlichen Kanons eine Konsequenz, die der Intention der dabei zusammengefassten Schriften durchaus entspricht.“248
Dem entspreche die Erkenntnis, dass die diesbezüglichen Festlegungen der Alten Kirche „alles andere als willkürlich gewesen“ seien; die abschließenden Entscheidungen aus dem 4. bzw. 5. Jahrhundert hätten letztlich nur noch wenige strittige Dokumente betroffen (Hebräerbrief,
248
DERS., Theologie des Neuen Testaments I, 735f (Hervorh. Verf.). 93
Johannesoffenbarung).249 – Insgesamt kommt Hahn im Blick auf den Kanon zu zwei als Grenzlinien zu verstehenden Basis-Entscheidungen:250 1. Im Vergleich zu „dem als normativ anerkannten urchristlichen Grundzeugnis“, das im neutestamentlichen Kanon vorliegt, könne „kein anderes überliefertes Dokument“ Gleichrangigkeit beanspruchen. 2. Sich am Kanon zu orientieren, dürfe nicht bedeuten, „dass alle Teile des Neuen Testaments undifferenziert behandelt und prinzipiell gleichgestellt werden. […] Insofern gilt es, eine Zuordnung zu schaffen, die dem jeweiligen theologischen Gewicht gerecht wird.“
2.
Das Alte Testament und seine Interpretatio Christiana
Hahn bevorzugt die gesonderte Betrachtung des Neuen Testaments und trifft damit die Entscheidung, keine gesamtbiblische Theologie zu verfassen.250 – Aufgrund seiner enormen Bedeutung für das Verständnis der neutestamentlichen Schriften widmet er in Band II seiner Theologie vier ausführliche Kapitel dem Thema des Alten Testaments als Bibel des Urchristentums. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt stellt er prinzipiell fest, dass christlicher Glaube nicht anders konstituiert sein könne „als aufgrund des Zeugnisses der zweiteiligen Heiligen Schrift“; deshalb bedürfe die christliche Theologie „der ständigen Beschäftigung mit den Problemen des doppelten Kanons Alten und Neuen Testaments und deren Auslegung.“251 – Im Blick auf das Alte Testament als Zeugnis des früheren Gotteshandelns bestehe eine grundsätzliche Gemeinsamkeit aller Schriften des Neuen Testaments im Bekenntnis zu dem einen Gott, der Israel zu seinem Volk erwählt und in der Geschichte dieses Volkes gehandelt habe: „Das Volk Israel bekannte sich zu diesem Gott als dem alleinigen Gott und dem Schöpfer Himmels und der Erde. Das ist unumstößliche Grundlage auch für das Neue Testament.“252 – Den „Begriff der Heilsgeschichte“ präzisiert Hahn dahingehend, dass diese nicht innergeschichtlich aufweisbar und „keine neben der Profangeschichte herlaufende Sondergeschichte“ sei.253 Ein eigenes Kapitel widmet Hahn dem Alten Testament als Zeugnis künftigen Gotteshandelns. Mit den Exegeten Gerhard von Rad (1901–1971) und Walther Zimmerli (1907–1983) betont er, 249 250
251 252 253
DERS., Theologie des Neuen Testaments II, 24f. ebd., 25f: „Es gibt Schriften, die aufgrund ihres Inhalts eine zentralere Stellung haben, neben anderen, die nur bestimmte Fragen aufgreifen.“ ebd., 62f. ebd., 64. ebd., 86. 94
dass das Alte Testament „insgesamt offen“ sei „für ein weitergehendes Gotteshandeln.“254 Zusätzlich gelte: Das neutestamentliche Heilsverständnis sei „in den Erwartungen des Alten Testaments“ verwurzelt, aber nicht mit diesen identisch; so bezeugten die neutestamentlichen Autoren ein „Verstehen alttestamentlicher Verheißungen, das deren Horizont überschreitet und neue Perspektiven eröffnet.“ – In diesem Zusammenhang warnt Hahn vor einer Preisgabe der Verheißungsbestimmtheit des Alten Testaments:255 „Wo das [bzw. diese] vergessen ist, wie häufig in der Geschichte der Christenheit, geht christlichem Existenzverständnis seine Einbindung in die umfassende Offenbarungsgeschichte Gottes […] verloren. So gilt es, gerade aufgrund des Zeugnisses des Neuen Testaments diese Basis in vollem Umfang zurückzugewinnen. Ohne das Alte Testament – sowohl in seinem Eigenzeugnis wie in seiner christlichen Rezeption – ist verantwortungsvolle christliche Theologie nicht möglich.“
Ausführlich erörtert Hahn die Interpretatio Christiana des Alten Testaments; als Ausgangspunkt wählt er das Ostergeschehen, mit dem die irdische Geschichte Jesu ihren Höhepunkt erreicht habe: „Von seiner Auferweckung her fällt […] Licht auf sein Wirken und auf seine Person. Mit ihm ist das im Alten Testament als künftiges Gotteshandeln angekündigte endzeitliche Heilsgeschehen in Gang gekommen. Die Rezeption des Alten Testaments von Ostern her bedeutet deshalb, dass es um ein Verstehen geht, das in der Person Jesu und seiner Bestätigung durch den Vater begründet ist.“256
Beispielhaft expliziert Hahn diese Perspektive anhand der „Übertragung der Kyrios-Prädikation von Gott auf Jesus Christus“, die „an vielen Stellen des Neuen Testaments […] eine tiefgreifende inhaltliche Transformation zentraler alttestamentlicher Textaussagen“ bewirke: Auf diese Weise sei es „zu einem doppelten Gebrauch von κύριος für Gott und für Christus gekommen […].“257 – Für eine Interpretation des Alten Testaments im Horizont des Neuen ergebe sich ein nicht zu unterschätzender Zielkonflikt:
254 255 256 257
ebd., 103. ebd., 109f. ebd., 113. ebd., 132. 95
- Einerseits gelte: „Durch die historisch-kritische Methode sind wir davor bewahrt, christliche Erkenntnisse einfach in der Weise in das Alte Testament hineinzulesen, wie das neben der Urchristenheit auch für die Alte Kirche, das Mittelalter und noch für die Reformation selbstverständlich war.“258 - Dem stehe eine andere Zentralerkenntnis entgegen: „Was das Neue Testament mit seiner Interpretatio Christiana des Alten Testaments beabsichtigt, ist eine Gesamtschau des Alten Testaments unter dem Vorzeichen des im Neuen Testament bezeugten Offenbarungsgeschehens. […] Indem alttestamentliche Texte im urchristlichen Zeugnis in ein anderes Koordinatensystem eingeordnet worden sind, haben sich nun durchweg neue Perspektiven ergeben […].“259
Der beschriebene Zielkonflikt darf nach Hahn nicht einseitig aufgelöst werden, wie dies leider durchaus geschehe: „Neuzeitliche christliche Theologie ist […] vielfach geneigt, von einer Interpretatio Christiana des Alten Testaments abzusehen und dieses ausschließlich in seiner vorchristlichen Bedeutung zu berücksichtigen. Damit verzichtet sie aber nicht nur auf ein genuin neutestamentliches Motiv, sondern auf eine zentrale Aufgabe einer auf das gesamtbiblische Zeugnis ausgerichteten Theologie. […] Insofern gehört die Interpretatio Christiana des alttestamentlichen Zeugnisses zum christlichen Glaubens- und Selbstverständnis und ist in diesem Sinne unverzichtbar.“260
Unabhängig davon gesteht Hahn zu, dass eine christliche Leseweise den Ursprungssinn der alttestamentlichen Schriften im Kontext Israels keinesfalls in Abrede stellen könne: „Entscheidend ist […] allerdings, dass die Interpretatio Christiana als eine besondere Sicht des Alten Testaments verstanden wird, die dessen ursprüngliche Bedeutung nicht aufhebt. Das bedeutet, dass nicht nur der vorchristliche Charakter des Alten Testaments ernst genommen werden muss, sondern ebenso dessen Relevanz und Funktion für die jüdische Glaubensgemeinschaft.“260
In diesem Sinne kommt Hahn zu dem wichtigen Fazit, dass „trotz des fundamentalen Unterschieds, der in der Anerkennung oder Nichtanerkennung Jesu als des Heilsbringers besteht,“ eine 258 259 260
ebd., 134. ebd., 136 (Hervorh. i. O.). ebd. 140f (Hervorh. i. O.). 96
unaufhebbare Zusammengehörigkeit von Christen und Juden gegeben sei; diese lasse sich dreifach konkretisieren: Es gehe um a) „den Glauben an den einen Gott, der Schöpfer der Welt ist“, b)„den Glauben an Gott als den Herrn der Geschichte“ c) „die Erwartung des vollendeten Heils.“261
Deshalb sei im Umgang miteinander vor allem Demut erforderlich: „Juden und Christen stehen nicht nebeneinander wie die blinde Synagoge und die hellsichtige triumphierende Kirche, sondern sie gehen beide suchend und hoffend der Heilszukunft entgegen. Solange wir unterwegs sind, gilt es, die eigene Identität zu wahren, die des anderen zu respektieren und in den gemeinsamen Grundlagen verbunden zu bleiben.“261
3.
Der sich offenbarende Gott
Hahn macht dezidiert den sich offenbarenden Gott zum leitenden Gedanken seiner thematischen Darstellung der neutestamentlichen Theologie: „Zentrale Bedeutung hat im Neuen wie im Alten Testament das Offenbarungshandeln Gottes.“ – Daraus ergeben sich die fünf Hauptteile des zweiten Bandes: Gottes Offenbarung im Alten Testament bzw. in Jesus Christus sowie dessen „soteriologische, ekklesiologische und eschatologische Dimension […].“262
a) Hahn geht grundsätzlich davon aus, dass Gottes Offenbarung - nicht spekulativ erschließbar sei: „Gottes Wirklichkeit ist verborgen und wird für uns Menschen nur in seiner Zuwendung erfahrbar. Sein Wirken, soweit es für uns zu erkennen ist, trägt daher insgesamt Offenbarungscharakter.“263 - in der Geschichte erfolgt: „Soweit vom erkennbaren Handeln Gottes gesprochen wird, hat das mit seiner Offenbarung in der Geschichte zu tun.“264
261 262 263 264
ebd., 141f. ebd., 27f. (Hervorh. Verf.). ebd., 144. ebd., 167: „Das ist in der Auslegungstradition vielfach übersehen und durch andere Denkmodelle überlagert worden, wurde zu Recht aber in der neueren Zeit wieder beachtet.“ 97
- nur unter menschlichen Bedingungen rezipiert und bezeugt werden kann: „Aussagen über die transzendente Wirklichkeit sind menschliche Antworten auf ein Widerfahrnis und eine darin begründete Erkenntnis. Sie umschreiben im Neuen Testament das Offenbarungsgeschehen, ohne mit der Offenbarungswirklichkeit voll identisch zu sein.“265 – Insofern habe alles, was in den Schriften des Neuen Testaments bezeugt werde, gleichzeitig eine offenbarungsgeschichtliche und eine anthropologische Komponente, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürften.266
b) Gottes Offenbarung in verschiedenen Dimensionen Bezogen auf das Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift sei im Blick auf Gottes Offenbarung eine dreifache Unterscheidung sinnvoll:267 1. Neben der „Offenbarung in Schöpfung und Weltgeschichte“, die im Neuen Testament „in der Regel im Sinn einer indirekten Offenbarung verstanden“ werde, stehe 2. die „Offenbarung in der Geschichte Israels“, die als „direkte Offenbarung“ bzw. „worthafte Offenbarung“ gilt, sowie schließlich 3. die „Offenbarung in Person und Geschichte Jesu“: „Wo immer im Neuen Testament von der Offenbarung Gottes die Rede ist, ist diese explizit oder implizit christologisch mitbestimmt.“ Genau in „diesem Sinn werden Jesu Botschaft und seine Geschichte einschließlich seines Sterbens und seiner Auferweckung festgehalten.“
c) Christologische Offenbarung in fundamentalem Bezug auf Gott Dass das Neue Testament göttliche Offenbarung in der Person Jesu Christi bezeugt, dürfe nicht isoliert interpretiert werden: „Offenbarung steht in einem fundamentalen Bezug auf Gott, sie ist letztlich Selbstoffenbarung Gottes. Das wird häufig wegen der Dominanz der Christologie, teilweise auch der Pneumatologie, übersehen. Christologie und Pneumatologie sind aber dem Offenbarungshandeln Gottes zugeordnet, sie sind insofern ein je spezifischer Modus der Theo-logie“ [sic!].268 265 266 267 268
ebd., 30. ebd., 27. ebd., 153ff (Hervorh. Verf.). ebd., 161. 98
Dem widerspricht nicht, dass Jesus in seinem irdischen Wirken, als dem erhöhten Kyrios sowie in seiner Präexistenz „Funktionen Gottes gegenüber der Welt und gegenüber den Menschen“ zugeschrieben werden; solche Übertragungen erfolgten, „wie die Bekenntnistraditionen und Hymnen zeigen, in der nachösterlichen Gemeinde schon relativ früh.“269 – So werde deutlich, … „[…] dass Jesus Christus an Gottes Stelle handelt. In der Grundtendenz einer Übertragung des göttlichen Offenbarungshandelns auf die Person Jesu stimmen alle neutestamentlichen Zeugen überein, […].“269
Bereits in diesem Zusammenhang weist Hahn darauf hin, dass dies „in der Spätphase des Urchristentums“ auch für die „Personalisierung des Geistes“ gelte, der auf diese Weise „als Offenbarer an die Stelle Gottes bzw. Jesu Christi treten“ könne.269
d) Der eschatologische Charakter der Offenbarung in Christus Dass das Wirken Jesu im Urchristentum grundsätzlich eschatologisch interpretiert wurde, gehe, – so Hahn – aus „der spätalttestamentlichen und frühjüdischen Erwartung“ Israels hervor; in diesem Rahmen gehörten zur endgültigen Heilsverwirklichung270: „das irdische Messiasreich“ bzw. „das Jüngste Gericht“ und „die Erneuerung der Welt.“
Im urchristlichen Denken sei die Endzeiterwartung vor allem dadurch modifiziert worden, dass ihr bestimmendes „Kennzeichen in der Spannung von Gegenwart und Zukunft des Heils“ liege:271 „Die für den urchristlichen Glauben zentrale Tatsache, dass endzeitliches Heil bereits angebrochen ist, hebt die Zukunftsdimension nicht auf. Die Vollendung des Heils bringt das bereits in Gang befindliche eschatologische Geschehen zum Abschluss.“ – Dabei richte sich die christliche Hoffnung auf drei Themen: die Erwartung der Wiederkunft Christi, die Auferweckung der Toten und das Jüngste Gericht […].“271
269 270 271
ebd., 163. ebd., 159 (Hervorh. Verf.). ebd., 160 (Hervorh. Verf.). 99
Hahn betont nachdrücklich, „dass die Offenbarung in Christus prinzipiell antizipatorischen Charakter“ trage:272 „Sie ist bei aller Kontinuität zu den bisherigen Offenbarungen nicht primär von der Vergangenheit her zu verstehen, sondern aus ihrem Zusammenhang mit dem Endgeschehen. Sie ist vorweggenommenes Endgeschehen; mit ihr als endgültiger Offenbarung ist daher trotz des unabgeschlossenen Charakters bleibend Heil verbunden. […] Das Vollendungsgeschehen bringt im Blick auf das Heil nur zum Abschluss, was bereits offenbar geworden ist. Es geht um die Vollverwirklichung dessen, was in der Gegenwart, wenngleich unter den Bedingungen der irdischen Geschichte, schon präsent ist und erfahren werden kann.“
III. Die Einheit des Neuen Testaments – Konvergenzräume nach Ferdinand Hahn Wie bereits aufgezeigt, setzt sich Ferdinand Hahn im zweiten Band seiner Theologie das Ziel, innerhalb des Neuen Testaments „angesichts der Unterschiede und der teilweise vorliegenden Spannungen“ sowohl „nach den vorhandenen Konvergenzen wie nach der Bedeutung der Divergenzen zu fragen.“273 – Der thematisch konzipierte Band orientiert sich strukturell am Leitgedanken der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und will den Nachweis erbringen, dass sich im Blick auf Teilfragen „ein hohes Maß an Gemeinsamkeit“ feststellen lasse: „Soweit nicht dieselben Traditionen und Bekenntnisaussagen verwendet werden, liegt zumindest eine deutlich erkennbare Konvergenz vor.“ Dies gelte für Themen, die gleiche Sachverhalte anhand unterschiedlicher Motive entfalten, treffe aber „häufig auch dort zu, wo vordergründig eine erheblich abweichende Aussage gemacht wird […].“ – Daneben müsse man zweifelsohne auch „Divergenzen“, „Spannungen“, ja „Widersprüche“ als solche identifizieren.274 – Im Folgenden wird der Versuch unternommen, anhand der Darstellung Hahns ausgewählte thematische Konvergenz-Räume zu beschreiben, ohne auftretende Divergenzen auszublenden.
272 273 274
ebd., 163f. ebd., VII. ebd., 803. 100
0.
Der Ansatz der Christologie: ‚Der innere Zusammenhang des Wirkens Jesu mit der Christologie‘275
In zwei grundlegenden Abschnitten 276 versucht Hahn, die behauptete Einheit des Neuen Testaments abzusichern: Diese habe nur dann Bestand, wenn die Zusammengehörigkeit von Jesu eigener Botschaft mit dem Evangelium v o n Jesus Christus plausibel gemacht werden kann. Ausgangspunkt seines Versuchs ist die konkrete Darstellung der „Modifikationen der Botschaft Jesu in der Urgemeinde“, die zum Ziel hatten, „das Bekenntnis zu Jesu Person in die Botschaft von der Gottesherrschaft einzubeziehen.“277 – Dabei gesteht Hahn durchaus zu, dass in dieser Frage vordergründig Divergenzen vorliegen: „So sehr es den Anschein hat, dass die Thematik der anbrechenden Gottesherrschaft außerhalb der synoptischen Evangelien zurückgedrängt wurde, lässt sich feststellen, dass in jedem Fall ihre Intention beibehalten worden ist. Trotz aller Transformationen ist die Botschaft Jesu vom gegenwärtigen Heilsanbruch Grundmotiv der urchristlichen Verkündigung geblieben.“278
Anlass und Ursache der genannten Modifikationen bzw. Transformationen ist das Ostergeschehen: „Von Ostern her wurde in vollem Umfang erkannt und ausgesagt, wer Jesus war, und es wurde zugleich bezeugt, was er aufgrund seiner Auferweckung ist und bleibt. So werden die impliziten christologischen Elemente expliziert und mit dem Ostergeschehen in Beziehung gesetzt.“279 – Damit wird klar, dass Hahn von einer in Jesu Wirken und Botschaft vorliegenden impliziten Christologie ausgeht: „Während die Annahme einer von Jesus selbst artikulierten expliziten Christologie extrem unwahrscheinlich ist, stößt die rein nachösterliche Erklärung auf erhebliche Schwierigkeiten. Es ist zwar damit zu rechnen, dass alle expliziten christologischen Aussagen der Evangelien nachösterliche Interpretamente sind, sie beziehen sich jedoch unverkennbar zurück 275 276
277 278 279
ebd., 256. ebd., 168–261: § 7 Die Verwirklichung der Herrschaft Gottes, § 8 Jesus Christus als Offenbarer Gottes (Christologie). ebd., 175. ebd., 187. ebd., 199. 101
auf bestimmte Voraussetzungen in Jesu eigenem Wirken. Insofern ist von einer impliziten Christologie auszugehen, wonach Jesu Person im Zusammenhang mit seiner Botschaft und seinem Wirken eine entscheidende, wenn auch unausgesprochene Funktion gehabt hat.“279
Dass nach Ostern eine explizite Christologie entstanden sei, hänge wesentlich mit dem „vollmächtigen Verkündigen und Handeln des irdischen Jesus zusammen.“ – Daraus resultiere: „Die vorgegebene implizite Christologie hat deren Explikation nicht nur ermöglicht, sondern geradezu notwendig gemacht.“280 Das neutestamentliche Zeugnis sei zwar auch im Bereich der Christologie vielfältig, folge jedoch einem bestimmten Muster: Aufgenommen und weitergeführt werde „die Grundintention der Botschaft und des Wirkens Jesu […]. Das muss nicht unbedingt so geschehen, dass die Jesusüberlieferung voll übernommen wird; auch dort, wo die Leitmotive der Jesusüberlieferung in die Christologie gleichsam eingeschmolzen sind oder wo das zentrale Anliegen der Botschaft Jesu wie in einem Brennpunkt gebündelt aufleuchtet, kann dies eine durchaus sachgerechte Rezeption sein. In jedem Fall steht die Jesusüberlieferung im Wechselverhältnis zur Christologie und bleibt insofern ein entscheidendes Kriterium aller christologischen Verkündigung.“280
Auf diese Weise kommt es zu einem ersten, für die Einheit des Neuen Testaments entscheidenden Konvergenz-Raum:
1.
Konvergenzraum Gottesherrschaft und Christologie
a) Die vorösterliche Botschaft Jesu Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass „der Anbruch der endzeitlichen Königsherrschaft Gottes der Angelpunkt der neutestamentlichen Überlieferung“ ist; die Voraussetzungen dieser Denkfigur liegen im Alten Testament, d.h. in der „Heilserwartung Israels und des Frühjudentums.“281 Vor allem in den prophetischen Traditionen des Alten Testaments fällt auf, dass Israels Warten auf Gottes Heil „immer stärker Zukunftscharakter“ annahm und letztlich eine Verwandlung zur
280 281
ebd., 256f (Hervorh. Verf.). ebd., 172 u. 168. 102
Hoffnung auf eine endgültige eschatologische Herrschaft Gottes erfuhr.282 – Für die Aufnahme dieser Botschaft in die Verkündigung Jesu sind folgende Teilaspekte von Bedeutung:283 - Zunächst werde deutlich, dass die mit dem Anbrechen der Königsherrschaft Gottes verbundene „Totalerneuerung der Wirklichkeit“ ausschließlich das Werk Gottes selbst ist. - Auch wenn sich die Verkündigung Jesu grundsätzlich im Rahmen „apokalyptischer Denkvoraussetzungen“ bewege, liege „das entscheidend Neue seiner Botschaft“ darin, „dass sich das endzeitlich erwartete königliche Handeln Gottes in der noch bestehenden Wirklichkeit realisiert.“ – Damit werde aber die „Zukunftsdimension“ der Gottesherrschaft keineswegs ausgeblendet: „Als Offenbarungsgeschehen hat die βασιλεία τοῦ ϑεοῦ [= Königsherrschaft Gottes] eine die Gegenwart verändernde Kraft, die die Heilsvollendung vorwegnimmt und gleichzeitig auf diese hinführt.“ - Im Gegensatz zur frühjüdischen Apokalyptik bedeute das Anbrechen der Gottesherrschaft nicht die Erlösung der „Gerechten und Frommen“, „sondern Rettung für alle Menschen, insbesondere für die Verlorenen“, als „Wiedereröffnung der Gemeinschaft mit Gott“, was konkret heiße 1. das Erleben einer „die Heillosigkeit überwindende[n] Kraft“, 2. „Sündenvergebung“ als „Überwindung der Gottesferne“, 3. „Tilgung aller aus der Gottlosigkeit resultierenden Konsequenzen für das menschliche Dasein.“ - Indem Jesus als Person und „Bote“ derjenige ist, der die Gottesherrschaft anbrechen lässt, liege bereits ein erster impliziter Ansatz für die nachösterlich zu entfaltende Christologie vor.
b) Jesu Botschaft in der urchristlichen Verkündigung Im Urchristentum komme es zu verschiedenen Formen, die Botschaft Jesu mit dem Bekenntnis zu seiner Person zu verknüpfen:
282 283
ebd., 168ff. ebd., 172ff. 103
(1) Die Verbindung der Basileia-Botschaft mit der Christologie 284 - Im Markusevangelium würden sich Jesu eigene Botschaft und die Christologie wechselweise „durchdringen“ und gleichwohl nebeneinander bestehen bleiben. Wesentlich sei die Erwartung der Wiederkunft Jesu als des Menschensohnes zur Vollendung des angebrochenen Heils. - Im Matthäus- und Lukasevangelium sowie in der Apostelgeschichte komme die „Erhöhungschristologie“ im Vergleich zu Markus stärker zum Tragen: Während Matthäus bereits „die Zukünftigkeit der Heilsvollendung“ betone, spiele bei Lukas „die ‚Zeit der Kirche‘ als Zeit des Geistes und der Ausbreitung des Evangeliums“ eine wichtige Rolle.
(2) Die Übernahme der Basileia-Botschaft in die Christologie 285 Anders verknüpft werden Christologie und Reich-Gottes-Botschaft dort, wo im Rahmen der Erhöhungsvorstellung „die Herrschaft Gottes“ zur „Herrschaft Jesu Christi“ wird: - Im Anschluss an Psalm 110,1286 erfolge die Erhöhung dadurch, dass der auferweckte Jesus „‚zur Rechten Gottes‘ eingesetzt“ und „zum Weltherrscher bestimmt“ wird. – Diese Vorstellung begegnet in dem von Paulus zitierten Hymnus im Brief an die Philipper (2,6 ff: „ … dass Jesus Christus der κύριος ist … .“), ebenso im Kolosserbrief (1,13: „ … hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes … .“) und im 1. Korintherbrief (15,25: „Denn er muss herrschen, bis Gott »alle Feinde unter seine Füße gelegt hat«.“). - Daneben ist die Rede „von der gleichzeitigen Herrschaft Gottes und Christi“, so etwa in der Johannes-Offenbarung (11,15: „Nun gehört die Herrschaft über die Welt unserm Herrn und seinem Christus, …“).
(3) Gottesherrschaft und Pneumatologie 287 Bei Paulus und Johannes komme es „zu einer Verbindung der Herrschaft Gottes mit der Pneumatologie, 284 285 286
287
ebd., 175ff. ebd., 179ff. „Der HERR sprach zu meinem Herrn: »Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel unter deine Füße lege.«“ ebd., 183f. 104
- so im Römerbrief (14,17: „ … das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist.“) bzw. - in Johannes 3 (3,5: „Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“).
(4) Gottesherrschaft und Ekklesiologie 288 Weil in der Jesus-Überlieferung „die Vorstellung von dem sich sammelnden Gottesvolk ein wesentliches Korrelat der Gottesherrschaft“ darstelle, käme es bei Matthäus und bei Lukas zu einer „direkte[n] Verbindung von Gottesherrschaft und Ekklesiologie“: - In der Verheißung an Petrus in Matthäus 16,18 („Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, … . Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: … .“) wird deutlich, dass die Kirche „der Modus der Gottes- und Christusherrschaft in der Gegenwart“ ist, wenn auch „unter eschatologischem Vorbehalt.“ - Auch in der Apostelgeschichte (8,12) wird erkennbar, dass der Urgemeinde das Evangelium „von dem Reich Gottes und von dem Namen Jesu Christi“ anvertraut wurde, welches demnach gleichzeitig „Basileiabotschaft und christologische Verkündigung“ ist.
(5) Gottesherrschaft und Soteriologie 289 Wie oben aufgezeigt, hat die vorösterliche Verkündigung Jesu „unverkennbar eine soteriologische Komponente.“ – Diese findet sich in allen urchristlichen Traditionen wieder, auch dann, wenn „keine unmittelbare thematische Anknüpfung mehr an die Gottesherrschaft“ vorliegt: - Bei Paulus wird dies daran erkennbar, „dass sich mit der Proklamation der Christusbotschaft Heil gegenwärtig verwirklicht.“ - Die johanneische Tradition betone, dass sich „bei der glaubenden Annahme des Wortes Jesu [...] bereits eine gegenwärtige Teilhabe am ‚ewigen Leben‘ (ζωὴ αἰώνιος) ereignet […].“
288 289
ebd., 185f. ebd., 187. 105
c) Folgerungen für die Identität des christlichen Glaubens Die Verbindung von Jesu Botschaft der anbrechenden Gottesherrschaft mit der entstehenden Christologie hat Folgen für die sich in der Zeit des 1. Jahrhunderts herausbildende christliche Identität; zu bedenken seien:
(1) Die Bedeutung für das Gottesverständnis 290 Im Rahmen christologischer Entwürfe vollziehe sich „schrittweise eine Übertragung des Heilshandelns Gottes auf Jesus Christus.“ – Drei Modelle müssten unterschieden werden: 1. Das gleichzeitige Wirken Gottes und Jesu Christi, so in Offenbarung 12,10: „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus; … .“ 2. Jesus Christus wirkt bis zur vollkommenen Verwirklichung des Heils als Gottes Repräsentant, beispielhaft erkennbar in der Bekenntnisformel 1. Korinther 8,6: „So haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.“ 3. Im Johannesevangelium begegnet die Vorstellung des präexistenten Christus, der „von Uranfang an mit Gott verbunden ist.“ – Dem entspricht der Gedanke des Eins-Seins von Vater und Sohn, wie er in Johannes 10,30 formuliert ist: „Ich und der Vater sind eins.“
In allen Fällen gilt, dass die Christologie auch „bei relativer Selbständigkeit […] durchweg in Zusammenhang mit dem eschatologischen Offenbarungs- und Heilshandeln Gottes“ steht, so dass „die Gottesherrschaft“ in jedem Fall „konstitutiv“ bleibe.
(2) Die Bedeutung für Gegenwart und Zukunft des Heils 291 Im Blick auf Gottes eschatologische Heilsoffenbarung in Jesus Christus ist die „Spannung von Heilsgegenwart und Heilsvollendung […] in allen Traditionen durchgehalten worden,“ – auch wenn unterschiedliche Schwerpunkte zu erkennen sind:
290 291
ebd., 188f. ebd., 188 u. 190f. 106
- In der ersten Phase des Urchristentums wurde Jesu Botschaft „im Sinne der Naherwartung aufgenommen und weitergeführt“, wie dies im Markusevangelium und in der Johannesoffenbarung ersichtlich ist. - Die ausbleibende Wiederkunft Christi konnte den christlichen Glauben nicht wirklich in Frage stellen, weil das von Gott geschenkte Heil verstanden wurde als einerseits erfahrbar und andererseits auf ausstehende Vollendung angewiesen. Das lukanische Doppelwerk zeige, „dass die Spannung von Heilserfahrung und weitergehender Zeit ein spezifisches Geschichtsbewusstsein“ hervorbringen konnte. - Schließlich kam es auch zu Konzeptionen, die die Gegenwärtigkeit des geschenkten Heils besonders betonten, so etwa der Epheserbrief oder die johanneische Theologie; gleichwohl bedeutete dies keine völlige Aufhebung der Zukunftsdimension der Heilsverwirklichung.
(3) Die Bedeutung für die Einheit der urchristlichen Botschaft 292 Hahn will als Fazit festhalten, dass die im Urchristentum rezipierte Botschaft Jesu „in ihrer Grundstruktur und entscheidenden Intentionen beibehalten und weitergeführt worden“ sei. – Dabei sei zu bedenken, - dass es neben der Verarbeitung der Jesus-Überlieferung „gleichzeitig um Erkenntnisse ging, die aufgrund des Oster- und des Pfingstereignisses gewonnen wurden. Sie waren offenbarungsmäßig bedingt und im Blick auf die Person Jesu sachlich notwendig. So ist es in der Urchristenheit kraft des Geistes zu einer christologischen Bekenntnisbildung […] gekommen.“ - dass „die historische Rückfrage nach Jesus“ den Prozess der Rezeption der Jesus-Überlieferung im Urchristentum erkennen lasse und auf diese Weise „die Wechselbeziehung zwischen Jesu Proklamation der Gottesherrschaft und der Verkündigung der Herrschaft Christi“ als notwendigen Zusammenhang deutlich mache. - dass „die Modifikationen der Botschaft Jesu“ im Urchristentum zweierlei sichtbar werden lassen: den „gemeinsamen Ausgangspunkt“ im Wirken Jesu und „eine große Breite des Spektrums“ urchristlicher Deutungsentwürfe: „Christliche Theologie hat die verschiedenen neutestamentlichen Lösungsmodelle nicht einfach einander anzugleichen, wohl aber neben der Berücksichtigung der gemeinsamen Wurzeln […] auf die jeweilige Akzentsetzung Rücksicht zu nehmen.“
292
ebd., 191ff. 107
2.
Die Ostererfahrungen als Beginn expliziter Christologie
a) Das Osterwiderfahrnis als ‚Angelpunkt […] für die Verbindung der vorösterlichen Tradition und der nachösterlichen christologischen Explikation‘293 Während es im Rahmen historisch-kritischer Arbeitsweise seit der Aufklärung üblich war, nachösterliche Bekenntnisbildung in der Urgemeinde scharf von der vorösterlichen Jesus-Überlieferung abzuheben und auf diese Weise der Diastase zwischen Dogmatik und Schriftauslegung den Boden zu bereiten, kann als späte exegetische Grundeinsicht gelten, dass besagte Trennung dem Neuen Testament insgesamt nicht gerecht werden kann; in diesem Sinne formuliert Ferdinand Hahn:294 „Jesu Botschaft und sein Wirken sind nur im Zusammenhang mit seinem Auftrag und seiner Person zu erfassen, und zur Person gehört sein Lebensweg bis hin zu Tod und Auferstehung […]. Jeder Versuch, das vorösterliche Wirken Jesu zu verselbständigen und dabei von Jesu Tod und Auferweckung abzusehen, ist angesichts des neutestamentlichen Befundes unsachgemäß und theologisch illegitim.“
Insofern kann über das vordergründige Ende seines irdischen Weges gesagt werden, dass Jesus „auf die Heilsmächtigkeit der Herrschaft Gottes in seinem Leben und Sterben vertraut und […]
293 294
ebd., 256. ebd., 204 (Hervorh. Verf.); exemplarisch dafür, dass diese Einsicht mittlerweile unhintergehbar ist, sei der Exeget UDO SCHNELLE zitiert: „Alle historischen, theologischen und religionsgeschichtlichen Beobachtungen sprechen für die These, dass die Entstehung der Christologie eine natürliche Folge des vorösterlichen Anspruches Jesu sowie der grundlegenden Erfahrungen der ersten Christen mit dem Auferstandenen und dem Heiligen Geist ist. […] Vor allem die Erscheinungen des Auferstandenen wurden von den ersten Christen als Bestätigung der Verkündigung Jesu durch Gott verstanden und forderten ein verstärktes Nachdenken über das Wesen Jesu Christi und seines Verhältnisses zu Gott, das zu einer Übertragung göttlicher Prädikate auf Jesus führte. Weil Jesus das von ihm verkündigte Gottesbild in einzigartiger Weise verkörperte, wurde er selbst in dieses Gottesbild aufgenommen. Das Kontinuitätsmodell als veränderte und verstärkte Bedeutsamkeit Jesu seit Ostern erklärt am besten die Entwicklung von Jesu vorösterlichem Anspruch hin zu seiner nachösterlichen Verehrung.“ – So in: UDO SCHNELLE, Theologie des Neuen Testaments, 2. Aufl., Göttingen u. Bristol, 2014, 171 (Hervorh. i. O.). 108
in seinem Todesgeschick die rettende Kraft der Gottesherrschaft erfahren“ habe; deshalb gelte:295 „Ostern ist Bestätigung für den Anbruch und die Zukunft der Gottesherrschaft. Zudem hat das Auferweckungsgeschehen eine neue und vertiefte Erkenntnis des vorösterlichen Geschehens ermöglicht. Die Proklamation und anbrechende Verwirklichung der Gottesherrschaft und die Offenbarungsfunktion Jesu wurden fortan im Lichte des Ostergeschehen verstanden. Unter den beiden Aspekten der einzigartigen Vollmacht des irdischen Jesus und des österlichen Widerfahrnisses kam es daher zu Explikationen der Funktion und Würde Jesu.“
b) Ausgangspunkte einer impliziten Christologie296 Während es kaum möglich erscheint, über das Selbstbewusstsein Jesu definitive exegetische Erkenntnisse zu gewinnen, lassen sich dennoch anhand des Anspruches, den er erhoben hat, Ausgangspunkte einer impliziten Christologie ermitteln: - Zunächst ist das Sendungsmotiv zu nennen, mit dem Jesus beansprucht hat, im Namen Gottes zu reden und zu handeln; so führt Hahn das an die Jünger gerichtete Wort aus Matthäus 10,40 auf Jesus selbst zurück: „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.“ - Weiterhin sei die Gottesanrede Abba, wie sie beispielsweise in der Urform des Vaterunsers in Lukas 11,2ff erkennbar ist, ein wichtiger Hinweis auf Jesu Vollmacht: „Der unmittelbare Zugang zu Gott […] gründet in seiner eigenen Unmittelbarkeit zu Gott.“ - Schließlich seien wesentliche Züge seines Handelns anzuführen: 1. Jesus hat als Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben (Lk 11,20). 2. Er hat „mit Kranken, Sündern und Ausgestoßenen Gemeinschaft aufgenommen“ und Menschen „im Namen Gottes Vergebung ihrer Sünden zugesprochen“ (so Mk 2,7 parr; Lk 7,48). 3. Indem er andere Menschen mit Vollmacht in seine Nachfolge rief, hat er sie „um der Gottesherrschaft willen“ an seine Person gebunden (so z.B. Mk 2,14 parr, 3,13 parr). – Dabei war letztlich auch für ihn selbst von Bedeutung, was er über den Ernst der Nachfolge
295 296
FERDINAND HAHN, Theologie des Neuen Testaments II, 204 (Hervorh. Verf.). ebd., 201ff. 109
zu seinen Jüngern sagte: „ … wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten“ (Mk 8,35 parr).
c) Christologie und alttestamentliche Erwartungen Wie im Blick auf das Motiv der Gottesherrschaft kann auch hinsichtlich der Christologie nach vorgegebenen alttestamentlichen Erwartungen gefragt werden; Hahn formuliert an dieser Stelle eine entscheidende Einsicht: „Im Blick auf die Person Jesu war für die Urgemeinde keine traditionelle Auffassung einfach übertragbar. Weder die Messiaserwartung noch die Menschensohnvorstellung oder eine andere Konzeption ließen sich lediglich übernehmen. […] Es galt, die herkömmlichen Erwartungen so umzuschmelzen, dass sie auf Jesus anwendbar waren, oder anders formuliert: so umzuschmelzen, wie es aufgrund der Geschichte und des Wirkens Jesu notwendig gewesen ist. […] Auf diese Weise vollzog sich gerade in der Christologie eine Interpretatio Christiana von erheblichem Umfang.“297
Auch wenn das Urchristentum binnen kurzer Zeit im gesamten römischen Reich seine Wirkung entfaltete, gilt gleichwohl, dass der Mutterboden der Christologie das alttestamentlich-jüdische Denken war. Insofern muss dauerhaft im Blick bleiben, „dass die christologischen Aussagen des Neuen Testaments relational und funktional konzipiert“ sind; im Gegensatz dazu war im hellenistischen Bereich „ontologisches Denken vorherrschend, das von Wesensbestimmungen ausgeht.“298
d) Christologie in konkreter Entfaltung Um die neutestamentliche Christologie konkret darzustellen, geht Hahn im zweiten Band seiner Theologie zunächst so vor, dass er von den Anfängen der christologischen Traditionsbildung aus die Entfaltung erster Koordinierungen nachzeichnet:299
297 298 299
ebd., 205 (Hervorh. i. O.). ebd., 206 (Hervorh. Verf.). ebd., 207ff. (Hervorh. Verf.). 110
1. Am Beginn christologischer Traditionsbildung stehen die auf Jesus bezogenen „Hoheitsaussagen titularen Charakters“, wie etwa die (Selbst-)Bezeichnung Menschensohn, die vor allem in frühen Bekenntnisaussagen auftretenden Prädikationen Christus, Herr, Sohn bzw. Gottesssohn sowie vereinzelt auch Davidssohn und Retter. 2. Die in sog. Glaubensformeln fassbare Christologie beziehe sich inhaltlich auf das Offenbarungsgeschehen, so in Formeln über Jesu Auferweckung (Mk 8,31parr), seine Sendung (Mt 10,40) und Wiederkunft (Mk 13,26 parr) sowie in Sterbe- (1. Kor 15,3b) und Dahingabeformeln (Röm 4,25a). 3. Zu ersten Koordinierungen christologischer Aussagen komme es, wenn beispielsweise Leiden und Auferstehen Jesu gegenübergestellt werden (1. Kor 15,3bff) oder aber seine Erniedrigung und Erhöhung (Phil 2,6ff) bzw. das Wirken des Präexistenten und das Handeln des Erhöhten (Kol 1,15ff).
3.
Konvergenzraum explizite Christologie
a) Einzelaspekte, zeitliche Entfaltung und Gesamtschau300 Hahn geht von der Prämisse aus, dass die „Grundlage für eine Gesamtschau der neutestamentlichen Christologie“ nur „die Vielzahl aller Traditionen sein“ könne, „die schon im Urchristentum eine Rolle spielten.“ – Diese Vielzahl könne mit sieben Themenbegriffen zusammenfassend dargestellt werden: Es gehe um Jesu Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft, seine Menschwerdung, sein irdisches Leben und Wirken, seinen Tod, seine Auferweckung, seine Erhöhung verbunden mit gegenwärtiger Wirksamkeit sowie um seine erwartete Wiederkunft. Einerseits sei es erforderlich, durch eine präzise Betrachtung „die ganze Fülle christologischer Motive301 in ihrer Eigenart und unterschiedlichen Ausprägung zu erkennen.“ – Andererseits zeige sich, „dass die neutestamentliche Christologie bei aller Vielfalt eine so eindeutige Konvergenz erkennen lässt, dass sich die Frage nach deren Einheit nahelegt.“ – Im Gegensatz zu früheren exegetischen Erkenntnissen lasse sich auf traditionsgeschichtlichem Wege nachweisen, „dass sich die Entfaltung der Christologie in der Frühzeit überaus rasch vollzogen hat, weswegen zum Beispiel schon in sehr alten Bekenntnistexten Aussagen über Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft
300 301
ebd., 257ff. ebd.: „Aspekte wie Präexistenz oder Erhöhung können nicht ausgeblendet werden, weil einzelne urchristliche Modelle sie nicht enthalten.“ 111
gemacht werden.“302 – Unabhängig von dieser wichtigen Einsicht gebe es jedoch „zentrale Themen und andere, die im Sinn einer weitergehenden Erkenntnis von diesen abgeleitet sind.“ – Daraus möchte Hahn für die Christologie „eine Gesamtkonzeption im Sinn konzentrischer Kreise“ ableiten, wobei nicht mit „scharf voneinander abgehobenen Grenzlinien“ zu rechnen sei, stattdessen mit durchaus beweglichen Übergängen: „Das bedeutet […], dass die Christologie nicht von den Grenzaussagen der Präexistenz oder der Parusie her erfasst sein will, sondern von dem Offenbarungsgeschehen, das sich in der irdischen Geschichte ereignet hat und in seinem gegenwärtigen Wirken weiter erfahrbar wird. Dabei rücken speziell Tod und Auferweckung ins Zentrum, und es ist sicher nicht zufällig, dass dieses Geschehen in allen Schriften des Neuen Testaments berücksichtigt ist. Von dieser Mitte aus richtet sich der Blick zurück und nach vorn, um Einstiges wie Zukünftiges von Gottes Offenbarung in der Person Jesu Christi her zu begreifen.“303
302
303
Hervorh. Verf; diese These unterstützt z.B. der Exeget REINHARD V. BENDEMANN: „Es ist […] äußerst problematisch, wenn man den frühchristlichen Texten eine christologische Entwicklungslinie unterstellt, nach der Jesus Gott und seiner himmlischen Welt erst spät angenähert worden wäre. Vielmehr zeigt sich: Bereits in den frühesten neutestamentlichen Texten begegnet etwa die Präexistenzvorstellung (vgl. 1Kor 8,6). […] Schon früh wird Jesus in den Gottesdiensten der ältesten Christen als himmlischer Kyrios/Herr angerufen und erhält damit den Namen, der im Alten Testament dem Gott Israels zukommt (vgl. Phil 2,9-11).“ – So in DERS., Die Fülle der Gnade – Neutestamentliche Christologie, 114. – Vgl. dazu grundlegend MARTIN HENGEL, Christologie und neutestamentliche Chronologie, 29: Es sei anzunehmen, „dass die paulinische Christologie bereits gegen Ende der vierziger Jahre […] voll ausgebildet vorlag. Das heißt, es stehen für die Entwicklung der urchristlichen Christologie bis hin zu ihrem frühesten greifbaren Vertreter, Paulus, weniger als zwanzig Jahre zur Verfügung“ (Hervorh. i. O.). Hervorh. Verf. 112
Tod, Auferweckung Geburt, Leben, Wirken Erhöhung, ggw. Wirken Präexistenz, Parusie
Gesamtkonzeption Christologie in konzentrischen Kreisen: Im Rahmen einer Gesamtschau geht es vom Zentrum aus um die jeweiligen Teilaspekte, wie sie in christologischer Hinsicht Relevanz besitzen.
b) Zentrum 1: Jesu Leiden und Tod Unabhängig von der Soteriologie sind das Leiden und Sterben Jesu letztlich „Teil seiner Menschwerdung. Jesus ist Mensch geworden, um in jeder Hinsicht den Menschen gleich zu sein und an ihrem Geschick zu partizipieren.“304 – Folgende Teilaspekte sind von Bedeutung:305 (1) Die von Gott bestimmte Notwendigkeit des Todes Jesu - Einerseits zeigt sich, dass Jesus das Schicksal der Propheten des Alten Testaments teilt, wenn ihm „nach Gottes Willen Feindschaft und Tod nicht erspart“ bleiben (1. Thess 2,15; Mt 23,34f par). 304 305
FERDINAND HAHN, Theologie der Neuen Testaments II, 246. ebd., 242ff. 113
- Andererseits wird im Blick auf Jesu Tod „die Vorherbestimmung durch Gott und die darin begründete Notwendigkeit mit dem mehrfach im Neuen Testament vorkommenden Motiv des ‚muss‘ (δεῖ) zum Ausdruck gebracht“, so in der Menschensohntradition bei Markus (Mk 8,31 parr) sowie im Lukasevangelium (24,26).
(2) Jesu Gehorsam gegenüber Gottes Willen - Bereits die Gethsemaneüberlieferung in Markus 14,32ff bringt betont zu Ausdruck, dass Jesus sich zu dem von Gott auferlegten Gehorsam „durchringen muss.“ - In Anlehnung daran wird das Gehorsamsmotiv auch im Hebräerbrief aufgegriffen (Hebräer 5,5ff). - Der von Paulus in den Philipperbrief (2,6ff) übernommene Christushymnus stellt heraus, dass Jesus „in der bereitwilligen Übernahme des Leidens und Sterbens […] den Willen Gottes“ vollzieht.
(3) Jesu Ausgeliefertsein an die Menschen Daneben wird Jesu Todesgeschick bei Markus und Lukas auch auf andere Weise begründet, wenn von der Bosheit der Menschen die Rede ist, der sich Jesus als der Menschensohn konfrontiert sieht (Mk 9,31 parr, 10,33f; Apg 3,15, 4,10). (4) Jesu Tod im Johannesevangelium Bei Johannes „handelt es sich bei der Erhöhung gleichzeitig um Jesu Tod und sein Auferstehen.“ Deshalb gilt: „Nirgendwo ist die Einheit von Tod und Auferweckung so nachdrücklich herausgestellt wie im Johannesevangelium.“ – Deutlich wird das in Johannes 8,28, 10,18 und 12,32. Unabhängig von der „inneren Einheit“ des Geschehens schildert das Evangelium gleichwohl Sterben und Auferweckung „als zwei aufeinanderfolgende Ereignisse“ (Joh 19 u. 20).
c) Zentrum 2: Jesu Auferweckung von den Toten Die Auferweckung Jesu von den Toten nimmt „in der urchristlichen Überlieferung eine zentrale Rolle“ ein. – Folgende Einzelaspekte sind bedenkenswert:306
306
ebd., 246ff. 114
(1) Alttestamentlich-frühjüdische Denkvoraussetzungen Vereinzelt findet sich im Alten Testament die Erwartung einer Auferweckung der Toten (Jes 25,8; Dan 12,2f). – Daran anknüpfend begründete das Osterereignis „die Gewissheit, dass Jesus nicht im Tode geblieben ist, sondern lebt.“ Entsprechend lägen „alte Bekenntnisaussagen“ vor, „die nur auf das Geschehen der Auferweckung Jesu durch Gott hinweisen“ (vgl. Röm 10,9). (2) Das leere Grab Jesu Auch wenn die Ostererzählungen der Evangelien über das leere Grab sprechen (Mk 16,1ff parr), wird dort vor allem die Botschaft des Engels betont: „Er ist auferstanden, er ist nicht hier.“ Damit kommt zum Ausdruck, „dass die Erkenntnis des Auferwecktseins nicht auf menschlicher Überlegung beruht, sondern in einem von Gott gewirkten Widerfahrnis begründet ist.“ (3) Die Erscheinungen Jesu als eschatologische Vorwegnahme Dass die Jünger sich der Auferweckung Jesu gewiss wurden, „gründet letztlich in den Erscheinungen des Auferstandenen“ (Lk 24,34; 1. Kor 15,4). In den Berichten der Evangelien geht es zentral „um Jesu Identität und um das Wiedererkennen seitens der Jünger.“ – Jesu Auferweckung verstand man als Vorwegnahme einer endzeitlichen Totenauferweckung (so 1. Kor 15,20: Christus als „Erstling“ unter den Entschlafenen). (4) Die Auferweckung als Bestätigung des irdischen Wirkens Jesu Schließlich wurde im Urchristentum „die Auferweckung Jesu als eine Bestätigung seines irdischen Lebens und Wirkens“ verstanden, wie dies z.B. aus Apostelgeschichte 17,31 oder 1. Timotheus 3,16 hervorgeht.
d) Ringkreis 1.1: Jesu Menschwerdung Das „Bekenntnis zum uneingeschränkten Menschsein Jesu“ darf als „eine Grundvoraussetzung der urchristlichen Verkündigung“ gelten. Im Blick auf die konkrete Menschwerdung gilt zunächst, dass sie nur in wenigen Texten zum Thema wird; darüber hinaus ist folgende Unterscheidung notwendig:307
307
ebd., 225ff (Hervorh. i. O.). 115
(1) Jesu natürliche Geburt Es begegnen neutestamentliche Texte, die in „einer ganz allgemeinen Weise“ von der Menschwerdung Jesu sprechen (Galater 4,4f; Römer 1,3b.4a). Wenn im Markusevangelium (1,10) davon die Rede ist, dass Jesus bei seiner Taufe den Heiligen Geist empfängt, dann ist dort wohl auch eine natürliche menschliche Geburt vorausgesetzt. (2) Jesu wunderbare Geburt In den Vorgeschichten des Matthäus- und des Lukasevangeliums (Mt 1,18ff; Lk 1,26ff) wird die Gottessohnschaft Jesu „mit der jungfräulichen Empfängnis und Geburt begründet.“ – Von entscheidender Bedeutung ist das Wirken des Heiligen Geistes, aufgrund dessen Jesus „zum verheißenen Messias und zu dem von Gott eingesetzten Sohn“ wird. Eine Präexistenzvorstellung liegt hier vermutlich noch nicht vor. (3) Die Menschwerdung des Präexistenten An mehreren Stellen des Neuen Testaments wird offenbar davon ausgegangen, dass der Menschwerdung Jesu sein Dasein als präexistenter Sohn des Vaters vorausliegt: - Der in 1. Timotheus 3,16 zitierte Hymnus („Er ist offenbart im Fleisch“) setzt eine „himmlische Herkunft“ Jesu voraus. - Ähnlich wird auch in den Johannesbriefen (1. Joh 4,2; 2. Joh 7) über Jesu „Kommen im Fleisch“ gesprochen; hier ist Präexistenz vorausgesetzt, auch wenn die Aussagen vorwiegend das Ziel haben, „die Realität der Menschwerdung und des Menschseins“ Jesu zu betonen. - Ebenso wird im Prolog des Johannesevangeliums (1,14) betont, dass Jesu „Übergang von der himmlischen in die irdische Existenz“ als „Fleischwerden“ zu beschreiben sei; dabei handle es sich „um das Eingehen des präexistenten Logos in die Welt und das volle, uneingeschränkte Menschsein“, das damit verbunden ist. - Im Detail umschreibt die Menschwerdung des Präexistenten der von Paulus zitierte Christushymnus in Philipper 2,7: Indem Christus sich selbst „entäußert“ und „Knechtsgestalt“ annimmt, wird in besonderer Weise deutlich, worin sein „Verzicht auf die Teilhabe an der göttlichen Wirklichkeit und die uneingeschränkte Teilhabe an der menschlichen Wirklichkeit“ besteht. - Auch der Hebräerbrief geht von einer Präexistenzvorstellung aus, wenn in 2,9 von einer kurzzeitigen Erniedrigung Jesu die Rede ist, die sein irdisches Wirken betrifft.
116
Hahn kommt zu dem Fazit, dass bezüglich der Menschwerdung Jesu „drei Komplexe“ vorlägen, „die in Spannung zueinander stehen.“ Gleichwohl sei insofern „eine gemeinsame Grundintention“ gegeben, als in allen drei Fällen „das Menschsein Jesu durch Gottes Handeln bestimmt“ sei.
e) Ringkreis 1.2: Jesu irdisches Leben und Wirken Auch wenn Jesu irdisches Leben und Wirken in unterschiedlicher Weise zum Thema wird, steht fest, dass für den urchristlichen Glauben „auch außerhalb der Evangelien der Rückbezug auf die irdische Person Jesu konstitutiv“ ist. – Die folgenden unterschiedlichen Aspekte sind zu berücksichtigen:308 (1) Jesu Sendung und Vollmacht - Die Profilierung des Sendungsmotivs begegnet in Galater 4,4f, in Römer 8,3f sowie in Matthäus 10,40; im Johannesevangelium wird der Sendungsgedanke „zu einem zentralen christologischen Thema“ (Joh 3,17, 4,34, 5,23f u.ö.). - An mehreren Stellen wird direkt oder indirekt über die Vollmacht Jesu gesprochen, die sein Lehren und Handeln auszeichnet (Mk 1,22.27; Mt 7,28f, 8,5ff; Lk 11,20). - Speziell ausgeformt wird das Vollmachtsmotiv im Rahmen der Menschensohnchristologie, indem es auf Jesu gegenwärtiges (Mk 2,5 parr, 2,28 parr; Lk 19,10) und zukünftiges Wirken (Lk 12,8f) bezogen wird.
(2) Jesus als geisterfüllter Gottessohn In den synoptischen Evangelien, im Evangelium nach Johannes und in der Apostelgeschichte „begegnet in ausgeprägter Form eine Geistchristologie, die in der Geistträgerschaft Jesu“ wurzelt: - In den vier Evangelien ist jeweils die Erzählung von der Taufe Jesu bedeutungsvoll (Mk 1,9ff parr; Joh 1,32ff): Jesu Geistträgerschaft wird verstanden „im Sinn eines totalen und bleibenden“ Durchdrungenseins […].“ – In der daran anschließenden Versuchungsgeschichte kommt ebenfalls dem Geist eine bedeutende Rolle zu. - Bei Markus ist Jesus der Sohn Gottes „als Träger des eschatologischen Gottesgeistes in seinem irdischen Leben“, was in der durch die Stellen Markus 1,11, 9,7 und 15,39 gebildeten Achse profiliert zum Ausdruck kommt.
308
ebd., 230ff. 117
- Auch bei Matthäus (12,18ff) und Lukas (4,16ff) hat die Geistträgerschaft Jesu jeweils eine besondere Bedeutung. - Bei Johannes gilt wie in den synoptischen Evangelien, dass Jesus vor Ostern „der einzige Geistträger“ ist; andere „Aussagen über den Geist […] weisen voraus in die nachösterliche Zeit“ (Joh 3,1ff, 7,39b).
(3) Jesus als irdischer Messias Während die alttestamentliche „Tradition des messianischen Königs auf den wiederkommenden und/oder erhöhten Jesus übertragen wurde“, erfolgte erst sukzessive eine Aufnahme messianischer Motive in die Überlieferung des irdischen Wirkens Jesu: - Auch wenn Jesus offenbar mit der Erwartung konfrontiert wurde, „dass er ein messianisches Reich aufrichten und als irdischer König herrschen“ solle, konnte er nicht in diesem Sinne Messias sein. - Ausgehend von seiner „Hinrichtung als ‚König der Juden‘“ (Mk 14,61f parr) ergab sich bezogen auf die Geschichte Jesu „eine christliche Adoption der messianischen Erwartung“, so dass er schließlich „als Erfüller der im Alten Testament zentralen Verheißung eines Nachfahren Davids angesehen wurde“ (Mt 1,1 u.ö.; Mk 10,47 parr).
(4) Die Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater Die einzigartige Gemeinschaft Jesu mit Gott findet schließlich ihren Ausdruck in der Gottesanrede „Vater“: - In den synoptischen Evangelien zeigt sich dies u.a. in Matthäus 11,27 (bzw. Lk 11,22), wo es „um die unlösbare Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater und die darin gegründete Offenbarungsfunktion“ Jesu geht. - Im Gegensatz zur Bezeichnung Gottes als Vater wird in den Schriften des Neuen Testaments eher selten „das absolute ‚der Sohn‘“ gebraucht, so einmal bei Paulus (1. Kor 15,28) und mehrfach im Brief an die Hebräer (Hebr 1,2.5, 3,6). - Im vierten Evangelium wird Jesus als der Sohn zum „Offenbarer Gottes“ (1,14), dessen Wort „Ich und der Vater sind eins“ (10,30) „Ausdruck der vollkommenen Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater“ ist.
Zusammenfassend betont Hahn, dass bei „keinem anderen Aspekt der Christologie […] die Vielfalt so groß wie gerade bei den Aussagen über das irdische Wirken Jesu“ sei; dies belege hinreichend,
118
„dass die christologische Rezeption der vorösterlichen Jesusüberlieferung ein ebenso intensiver wie differenzierter Prozess“ gewesen sei. Die anfängliche Zurückhaltung des Urchristentums, „Hoheitsprädikate“ mit Jesu irdischem Leben und Wirken zu verbinden, gehe auf das Bemühen zurück, sein Menschsein nicht einschränken zu wollen. – Im Blick auf die später entstehende altkirchliche Christologie sei besonders wichtig, dass im Neuen Testament Jesu „Sohnschaft nicht wesensmäßig, sondern relational verstanden“ worden sei; dies bedeute keinesfalls eine Einschränkung der Würde Jesu: „Jesu Bindung an den Vater und die Gemeinschaft mit dem Vater zeichnet seine Person aus und begründet seine Offenbarungsvollmacht.“
f) Ringkreis 2: Jesu Erhöhung und gegenwärtiges Wirken Die urchristliche Gewissheit, dass der auferweckte Christus „in die himmlische Wirklichkeit eingegangen ist, verband sich mit der Erfahrung, dass er gegenwärtig in der Gemeinde handelt.“ So war zu klären, „welche Stellung und Würde ihm dabei“ zukomme:309 - Gemäß Psalm 110,1 310 verstand man die Erhöhung Jesu als „dessen Einsetzung zum κύριος“, was „im Sinn der Inthronisation“ durch Gott als „Beauftragung und Stellvertretung“ interpretiert wurde. - Da in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der KyriosBegriff den hebräischen Gottesnahmen JHWH ersetzte, kam es im Urchristentum zur „Übertragung des Kyrios-Namens als des eigenen Namens Gottes auf den Erhöhten“, wie dies z.B. aus dem von Paulus zitierten Christushymnus in Philipper 2,6ff hervorgeht: „Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, … .“ – Entscheidend für urchristliches Denken war „die damit verbundene Machtstellung [Jesu] gegenüber der Welt.“ - Während der Gedanke einer „himmlischen Inthronisation“ auch in Römer 1,3f vorliegt, erfolgt in Offenbarung 5,6ff eine „ausführliche Schilderung des Inthronisationsaktes“: Christus wird als „geschlachtetem Lamm […] die Buchrolle übergeben“, was bedeutet, dass dem Erhöhten „damit die Vollmacht zur Durchführung des Gerichts wie zur Verwirklichung des Heils“ zukommt.
309 310
ebd., 248ff. „Der HERR sprach zu meinem Herrn: »Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel unter deine Füße lege.«“ 119
- Bei Matthäus entspricht die Machtübertragung auf Christus den Auferstandenen am Schluss des Evangeliums (28,18: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“) der „Offenbarungsvollmacht des irdischen Jesus“, wie sie aus Matthäus 11,27 hervorgeht. - Auch im lukanischen Doppelwerk kommt dem erhöhten Christus eine zentrale Stellung zu: Jesus ist nach Leiden und Sterben „in seine Herrlichkeit“ eingegangen (Lk 24,26); als zu Gott Erhöhter empfängt er den Heiligen Geist, um ihn an Pfingsten auszugießen (Apg 2,33). Das Motiv der Erhöhung Christi wird zum Leitgedanken für die gesamte Apostelgeschichte (vgl. Apg 5,31). - Bei Johannes „hat die Erhöhung neben der Menschwerdung eine ganz entscheidende Funktion.“ Die Besonderheit des vierten Evangeliums besteht darin, dass Jesu Erhöhtwerden mit seinem Sterben zusammenfällt, wie dies u.a. Johannes 12,32f besagt. Dem erhöhten Christus kommt es zu, den Geist als verheißenen Tröster zu senden (Joh 16,7). - Schließlich entwickelt auch der Hebräerbrief eine „charakteristische Form der Erhöhungsvorstellung“, indem Jesus als ‚großer Hoherpriester‘ verstanden wird (Hebr 4,14), den Gott selbst in diese Stellung eingesetzt hat (Hebr 5,5ff).
g) Ringkreis 3.1: Jesu Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft311 Zunächst ist festzuhalten, dass Aussagen über Jesu Präexistenz „eine Glaubenserkenntnis“ darstellen, die „aufgrund des konkreten Offenbarungsgeschehens gewonnen“ wurde. Entscheidend ist, dass man im Urchristentum von Jesu „Partizipation an Gottes Wirklichkeit und Herrlichkeit“ überzeugt war, – zunächst im Blick auf sein Dasein als Irdischer und als Erhöhter; daraus folgerte man, dass „auch seine Menschwerdung nicht ohne Vorgeschichte bei Gott und in Gott gewesen sein“ könne; so verstanden „ist das Bekenntnis zu Jesu Präexistenz eine Grenzaussage, bei der es um das Geheimnis der Herkunft Jesu aus Gottes Wirklichkeit geht.“ – Obwohl die Präexistenzvorstellung als sehr alt einzustufen ist, gibt es urchristliche Texte, in denen sie nicht zum Thema wird; dazu zählen die synoptischen Evangelien mit der Apostelgeschichte, der Jakobusbrief, der Judasbrief und der 2. Petrusbrief. – Dort, wo von Jesu Präexistenz ausgegangen wird, sind folgende Unterscheidungen von Bedeutung:
311
ebd., 215ff (Hervorh. i. O.). 120
(1) Implizite Präexistenzaussagen - Sowohl bei Paulus selbst (Römer 8,3f) als auch in den Deuteropaulinen (Kol 1,26f; Eph3,9f; 1. Tim 3,16) kann von der Sendung Jesu bzw. seinem Erscheinen so gesprochen werden, dass Präexistenz vorauszusetzen ist. - Auch in der johanneischen Tradition, die explizite Präexistenzaussagen ohnehin kennt, wird mitunter so von Jesu Sendung gesprochen, dass seine Präexistenz impliziert ist (Joh 3,17, 10,36; 1. Joh 4,9).
(2) Explizite Aussagen über Jesu Präexistenz - Eine erste Gruppe von Aussagen thematisiert „die vorzeitliche Existenz des Offenbarers und seine Zugehörigkeit zur himmlischen Welt“; dazu zählen 2. Korinther 8,9, Philipper 2,6a und 1. Petrus 1,20. - Eine zweite Aussagengruppe versucht, „das Verhältnis des Präexistenten zu Gott“ genauer zu beschreiben; dies ist der Fall in Philipper 2,6b, Kolosser 1,15a und Hebräer 1,3a („Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines [= Gottes] Wesens … .“). - Schließlich gehören Aussagen zusammen, die die Präexistenz Jesu „auf das Verhältnis zur Welt“ beziehen; dies erfolgt in Kolosser 1,15b, Epheser 1,3f, Offenbarung 3,14c bzw. 1,17 und 22,13; an den beiden letztgenannten Stellen „werden die Gottesprädikationen ‚Der Erste und der Letzte‘ […] bzw. ‚Das Alpha und das Omega‘ […] als Allmachtsaussagen auf Christus übertragen.“
(3) Die johanneische Präexistenzchristologie In der johanneischen Tradition haben Präexistenzaussagen „zentrale Bedeutung für die christologische Gesamtkonzeption“: - Im Prolog des Evangeliums (1,1ff) sei der Begriff ‚das Wort‘ (ὁ λόγος, Joh 1,1.14) bedeutungsvoll: Einerseits werde „der präexistente Logos […] unmissverständlich von Gott selbst unterschieden“, andererseits explizit seine „Partizipation an Gottes Gottheit und die Repräsentation und Stellvertretung Gottes“ ausgesagt: „ … und Gott war das Wort [= der Logos].“ - Das irdische Leben und Wirken Jesu stehe insgesamt „unter dem Vorzeichen der Menschwerdung des präexistenten Logos“ (Joh 1,14); entsprechend bittet Jesus im hohepriesterlichen Gebet „um die Wiedererlangung der Existenzweise, die er als Präexistenter beim Vater bereits hatte“ (Joh 17,5). - Auch im 1. Johannesbrief, wo vom Kommen Jesu „im Fleisch“ die Rede ist (1. Joh 4,2; 2. Joh 7), wird die Präexistenz Jesu vorausgesetzt.
121
(4) Jesu Schöpfungsmittlerschaft - Ebenfalls im Prolog des Johannesevangeliums begegnet ein klarer Hinweis auf die Schöpfungsmittlerschaft des präexistenten Logos; so heißt es in 1,3: „Alle Dinge sind durch dasselbe [= ὁ λόγος] gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ - Auch die erste Strophe des in Kolosser 1,15f zitierten Hymnus spricht über das schöpferische Handeln des Präexistenten: „ … in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, … .“ - Am Beginn des Hebräerbriefs (1,1ff) werden ebenfalls „Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes“ zum Thema: „ … hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welten gemacht hat.“ - Von einer expliziten Erwähnung der Präexistenz unabhängig ist die Schöpfungsmittlerschaft Jesu in 1. Korinther 8,6 ausgesagt. - An zwei der genannten Stellen ist darüber hinaus davon die Rede, dass der Präexistente in seiner gegenwärtigen Wirksamkeit teilhat an Gottes „fortdauernde[m] Schöpfungshandeln im Sinn einer creatio continua“ (vgl. Kol 1,17b; Hebr 1,3b).
(5) Das geschichtliche Handeln des Präexistenten Schließlich sind einige Stellen im Neuen Testament zu erwähnen, an denen davon die Rede ist, dass der präexistente Christus in der durch das Alte Testament bezeugten Geschichte konkret gehandelt habe; zu verweisen ist u.a. auf 1. Korinther 10,1ff, Johannes 8,56ff bzw. 12,37ff sowie neuerdings – aus textkritischen Gründen – auch auf Judas 5.
h) Ringkreis 3.2: Jesu erwartete Wiederkunft 312 Hahn geht von der Annahme aus, traditionsgeschichtlich nachweisen zu können, „dass die Wiederkunftserwartung älter ist als die Erhöhungsvorstellung, was bedeutet, dass die Auferweckung Jesu in der frühesten Phase der Urgemeinde unmittelbar mit der Erwartung der Wiederkunft verbunden wurde.“ – Folgende Einzelheiten sind zu unterscheiden: - Der im Gottesdienst gebrauchte aramäische Gebetsruf „ … unser Herr, komm!“ (1. Kor 16,22: μαράνα ϑά) macht deutlich, wie intensiv das Wiederkommen Christi im frühesten Urchristentum erwartet wurde.
312
ebd., 253ff. 122
- Eng mit dieser Erwartung verbunden ist die „Identifikation Jesu mit dem ‚Menschensohn‘“ als dem von Gott beauftragten Weltenrichter, wie sie in Lukas 12,8f und Matthäus 10,32f vorliegt. - In der „Gleichnisrede vom Weltgericht“ in Matthäus 25,31ff ist Jesus „als richtender Menschensohn zugleich König“, das heißt, die „Anschauung vom endzeitlich handelnden Menschensohn“ und die „Vorstellung vom königlichen Messias“ wurden verschmolzen. - Neben der Erwartung der Wiederkunft des Herrn als Richter steht die im Philipperbrief zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, Jesus werde „als Retter“ vom Himmel kommen (Phil 3,20, vgl. 1. Thess 1,10). - Insgesamt sind im Neuen Testament vor allem das Markus- und das Matthäusevangelium sowie die Offenbarung des Johannes stark von der Erwartung der unmittelbaren Wiederkunft Christi geprägt. - Umgekehrt gilt für Lukas und die johanneische Tradition, dass „die Parusieerwartung […] gegenüber der Erhöhungsvorstellung stärker in die Ferne gerückt wird,“ ohne aber ganz auszufallen.
4.
Fazit Christologie 313
Für Ferdinand Hahn ist es „fundamentaltheologisch von erheblicher Relevanz“, ob es gelingen kann, die verschiedenen neutestamentlichen Textaussagen zur Christologie miteinander in eine sinnvolle Beziehung zu setzen. – Im Rückblick ist festzustellen, dass die von ihm intendierte Gesamtschau die behauptete „eindeutige Konvergenz“ durchaus nachvollziehbar darlegen kann: 314
a) Basis und Ausgangspunkt: Kontinuität und Bekenntnis „Jedes christologische Zeugnis muss in Kontinuität mit Jesu Verkündigung und Wirken stehen und [!] hat sich von den im Neuen Testament überlieferten Bekenntnissen leiten zu lassen, die ihrerseits das Ostergeschehen mit einschließen und die bleibende Gegenwart Jesu Christi und seine Zukunft bezeugen.“
313 314
ebd., 255ff (Hervorh. Verf.). ebd., 259. 123
b) Die Bibel als norma normans: Konsequenzen Ob die altkirchliche Christologie die geforderte Kontinuität zwischen Jesu Verkündigung und dem nachösterlichen Bekenntnis des Urchristentums grundsätzlich gewährleistet, kann hier nicht ausreichend geklärt werden. – Unabhängig davon stellt diese eine „höchst bedeutsame Neuinterpretation“ des neutestamentlichen Befundes dar und ist insofern „nicht identisch mit dem grundlegenden apostolischen Zeugnis.“ – Das liegt vor allem daran, dass die „kirchliche Tradition“ stark „von dem metaphysischen Denken der griechischen Ontologie“ bestimmt war.315 – Eine notwendige Besinnung auf die „Quellen der Überlieferung“ darf jedoch nicht zu neuer Einseitigkeit führen: So unabdingbar es ist, „die Grundintention der Botschaft und des Wirkens Jesu“ aufzunehmen, kann es gleichwohl nicht „um einen Rückgang nur zu[r] Botschaft des irdischen Jesus“ gehen: „entscheidend ist das urchristliche Bekenntnis und dessen Entfaltung, in dem Jesu vorösterliches Wirken, sein Tod, seine Auferstehung und sein weitergehendes Handeln zusammengehören.“
c) Vielfältige Christologie und das ,Geheimnis der Person Jesu‘ Einerseits muss Hahn zugestehen, dass „die neutestamentliche Christologie außerordentlich vielfältig und unausgeglichen“ ist, so dass sich bei einer Gesamtschau „in jedem Fall ein spannungsreiches Gefüge“ ergibt; Probleme zeigten sich vor allem im Blick auf die „sehr unterschiedlichen Traditionen über Jesu Herkunft, über sein irdisches Wirken oder seine Wiederkunft […].“ Andererseits zeige „die Vielfalt des christologischen Zeugnisses“ im Neuen Testament, „dass unterschiedliche Zugänge zum Geheimnis der Person Jesu und zu der durch ihn eröffneten Heilswirklichkeit vorgegeben sind.“ Daraus folge, „dass in einer auf unsere Zeit bezogenen Verkündigung und Theologie ebenfalls unterschiedliche Zugangsweisen möglich und notwendig sind, wenn dabei das fundamentale Anliegen des christlichen Bekenntnisses gewahrt wird.“
315
ebd., 260: „Das alttestamentlich-frühjüdische und älteste urchristliche Denken mit seinen relationalen und funktionalen Kategorien bietet einen sehr viel besseren Anknüpfungspunkt und ermöglicht einen neuen Zugang zum Zeugnis der Heiligen Schrift“ (Hervorh. Verf.). 124
EXKURS 2: Pneumatologie – Die implizite trinitarische Struktur des neutestamentlichen Zeugnisses (1) Eine neutestamentliche Pneumatologie habe vorab zu beachten: - „Mit der Parakletvorstellung des Johannesevangeliums sind die Selbständigkeit der Aufgabe und der personale Charakter des Geistes bereits ausgeprägt, ohne dass beides weiter entfaltet wird. Anstelle der Auffassung vom Geist als einer von Gott bzw. Christus ausgehenden heilstiftenden Kraft geht es jetzt darum, dass das Wirken des Geistes dem Wirken des irdischen Jesus voll entspricht und dass er wie Jesus als eigener Handlungsträger erscheint. Damit sind wesentliche Voraussetzungen für das spätere Geistverständnis im Rahmen der Trinitätstheologie gegeben.“316 - „[…] als Repräsentant des Erhöhten gewinnt der Geist seinen personalen Charakter. Wie Vater und Sohn eins sind in ihrer Gemeinschaft und ihrem Wirken gilt dies mutatis mutandis für den Sohn und den Geist: Sie gehören […] eng zusammen, ohne identisch […] zu sein.“317 - „Ebenso wie die Christologie ist die Pneumatologie unlösbar mit der Theologie [sic!] verbunden. […] Wie der menschliche Geist die Fähigkeit zur Kommunikation untereinander ist, so ist der göttliche Geist Voraussetzung und Medium der Begegnung mit Gott.“317
(2) Hinsichtlich des trinitarischen Zeugnisses des Neuen Testaments geht Ferdinand Hahn von den folgenden Grundsätzen aus: „Es soll sichtbar gemacht werden, dass sich die Frage nach einer Trinitätslehre aufgrund des urchristlichen Zeugnisses notwendigerweise gestellt hat und stellt. […] Der Begriff Trinitätslehre wird für das Neue Testament bewusst vermieden. In den urchristlichen Texten liegt noch kein Versuch vor, Aussagen über Gott, Christus und den Geist reflektierend zusammenzufassen. […] Statt von einer Trinitätslehre ist von einer impliziten trinitarischen Struktur der neutestamentlichen Texte zu sprechen.“318 (3) Von Bedeutung sind vorrangig triadische Aussagen, also „Texte, die formal einen Ansatzpunkt für die spätere Trinitätslehre enthalten, sofern dort nebeneinander von Gott, Christus und dem Geist die Rede ist“:319
316 317 318 319
ebd., 273f (Hervorh. Verf.). ebd., 287 (Hervorh. Verf.). ebd., 289 (Hervorh. Verf.). ebd., 290ff. 125
- In 1. Korinther 12,4ff begegnet erstmals „das Problem des Nebeneinanders von Aussagen über Gott, Christus und den Geist“, auch wenn die Beziehung der Dreiheit „weitgehend unreflektiert“ bleibt. - Ähnliches gilt für 2. Korinther 13,13 und Offenbarung 1,4b.5a. - Den bedeutendsten neutestamentlichen Ansatzpunkt für die spätere Trinitätslehre stellt zweifellos der Taufbefehl des Auferstandenen in Matthäus 28,19 dar: „Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes … .“ – Es lag nahe, „die Auffassung von der Personalität des Geistes mit diesem Text zu verbinden“, auch wenn „der Text selbst nicht ‚trinitarisch‘ konzipiert ist.“
(4) Hahn legt Wert darauf, dass die „relational-funktionale Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und Jesu Christus […] für das Urchristentum in direktem Zusammenhang mit dem Offenbarungsgedanken“ stehe; daraus ergeben sich Folgerungen:320 - „Die biblischen Texte kennen keine Reflexion über die Aseität Gottes. Es geht immer um den Weltbezug und insofern um das mit der Weltschöpfung einsetzende und bis zur Vollendung weitergehende Offenbarungshandeln Gottes. Deshalb verbindet sich die grundlegende personale Relation mit der funktionalen Aufgabenbestimmung.“ - „Über die Relation zwischen Vater, Sohn und dem Heiligen Geist im Sinne einer ewigen Zusammengehörigkeit wird im Neuen Testament überhaupt noch nicht nachgedacht. Insofern liegt eine ‚heilsökonomische‘ Interpretation der Trinität eher in der Konsequenz dieser Tradition, während die Frage nach einer ‚immanenten Trinität‘ sich überhaupt erst unter Voraussetzung des griechischen Denkens ergab.“
(5) So lässt sich insgesamt das folgende Fazit formulieren:321 - „Die Frage nach der implizit trinitarischen Struktur des urchristlichen Zeugnisses ist von wesentlicher fundamentaltheologischer Bedeutung. […] Die trotz aller Verschiedenheiten erkennbar werdende Konvergenz neutestamentlicher Aussagen über Gott, Christus und den Geist ist als Voraussetzung für die Ausarbeitung einer jeden Trinitätslehre anzusehen. Die Exegese hat darin ihre richtungsweisende Funktion, dass sie die biblischen Grundlagen klärt, auf denen die Dogmatik aufzubauen hat. Es geht um eine Trinitätslehre, die der biblischen Denkweise eng verbunden bleibt.“
320 321
ebd., 300ff (Hervorh. Verf.). ebd., 306ff (Hervorh. Verf.). 126
- „Anstelle einer an Wesenskategorien orientierten Ontologie322 ist eine Konzeption zu entwickeln, die im Rahmen einer Theologie der Offenbarung von Relationen und Funktionen ausgeht und das Motiv der Repräsentation berücksichtigt. […] Es geht um eine theologische Explikation der erfahrbaren irdischen Konkretionen der Zuwendung Gottes, die Gotteserkenntnis und Heil beinhalten.“
5.
Konvergenzraum Soteriologie I: Die geschehene Errettung des Menschen
a) Grundsätzliches323 Während die Christologie „im Blick auf Jesu Person und seinen göttlichen Auftrag“ dargestellt wird, sind im Rahmen der Soteriologie „Aussagen über die Heilsverwirklichung und die Heilsgegenwart“ zu erörtern. Auszugehen ist davon, dass „Geschichte und Werk Jesu Christi einen endgültigen Charakter im Rahmen eines proleptischen bzw. antizipatorischen Geschehens“ besitzen: „Wo immer im Neuen Testament auf die Einmaligkeit des rettenden Handelns Gottes in Jesus Christus hingewiesen wird, geht es darum, dass mit der Geschichte Jesu, sei es mit der Menschwerdung, mit dem Tod oder der Auferstehung, die Rettung für die Menschen verwirklicht worden ist, dass es damit Umkehr zu Gott und Heil gibt, ganz unabhängig davon, wieweit die Menschen dies erkannt und ergriffen haben. […] Die Soteriologie gründet insofern, zeitlich-geschichtlich gesehen, in der Vergangenheit, aber es geht nicht primär um den Vergangenheitsbezug, sondern darum, dass seither für die Menschen in der jeweiligen Gegenwart Zukunft erschlossen ist.“
Weiterhin geht Hahn von einer grundlegenden anthropologischen Prämisse aus: „Das endzeitliche Offenbarungshandeln Gottes betrifft den Menschen als Geschöpf und als Sünder. […] was Geschöpfsein und was Sündersein zutiefst bedeuten, wird erst im Lichte des Offenbarungsgeschehens erkennbar. Umgekehrt sind alle soteriologischen Aussagen eo ipso anthropologisch orientierte Aussagen. Handelt es sich bei dem offenbarungstheologischen Aspekt der Christologie um die Relation Jesu zu Gott, so hier um die Relation zu den Menschen.“ 322
323
ebd., 296: „Eine Aussage über die ‚göttliche Natur‘ (θεία φύσις) findet sich lediglich in der jüngsten Schrift, dem 2. Petrusbrief [1,4], dort aber nicht auf Christus bezogen, sondern soteriologisch angewandt […].“ ebd., 373f (Hervorh. Verf.). 127
EXKURS 3: Der Mensch als Geschöpf und als Sünder324 (1) Ferdinand Hahn stellt zunächst fest, „dass im Neuen Testament eine grundsätzliche Einheitlichkeit vorliegt im Blick auf das Geschöpfsein wie das Sündersein des Menschen.“ (2) Hinsichtlich des Geschöpfseins des Menschen gilt: - „Die Geschöpflichkeit des Menschen ist Grundlage des biblischen Menschenbildes. Auch durch das Verfallensein an die Sünde wird das Geschöpfsein nicht einfach aufgehoben.“ - „Das Menschsein wird grundsätzlich in der Relation zu Gott gesehen. Das bedeutet, dass der Mensch auf die Zugehörigkeit zu Gott, die Abhängigkeit von ihm und die Kommunikation mit ihm angelegt ist. Er ist insofern im prinzipiellen Sinn ein defizientes Wesen, als er im Blick auf seine Herkunft und sein Ziel auf Zuwendung und Beistand, Rettung und Heil angewiesen ist.“ - „Der Mensch besitzt eine begrenzte Existenz. Sein Leben steht unter dem Vorzeichen der Vergänglichkeit und des Todes.“ - „Als Geschöpf Gottes besitzt der Mensch Eigenständigkeit und Eigenverantwortung. Das gilt gegenüber Gott und gilt für sein Leben in der Welt.“
(3) Im Blick auf das Sündersein des Menschen ist zu bedenken: - „Das Sündersein des Menschen betrifft nicht eine allgemeine Beschreibung der menschlichen Befindlichkeit, es geht dabei um die verlorene Bindung an Gott. Sünde ist kein moralischer, sondern ein konsequent theologischer Begriff.“ - „Der Mensch bedarf der Rettung, er kann sich aus seiner der Sünde verfallenen Existenz nicht selbst befreien. Das Geschick der gesamten Menschheit ist durch die vollzogene Abwendung von Gott und das menschliche Selbstseinwollen geprägt. […] Unterschiedlich wird […] nur die Intensität des Verfallenseins an die Sünde beurteilt.“ - „Die menschliche Existenz insgesamt ist von der Sünde als einer transpersonalen Macht abhängig, wovon alles Fehlverhalten mitbetroffen ist. Auch ein moralisch hochstehendes Verhalten ist davon betroffen, wenn die Bindung an Gott verloren ist.“
324
ebd., 333ff (Hervorh. Verf.). 128
(4) Als Fazit ist festzuhalten: „Eine christliche Anthropologie […] - […] steht […] vor massiven Verstehensschwierigkeiten im Blick auf die biblische Terminologie. Vor allem der Begriff der Sünde ist durch eine jahrhundertelange missbräuchliche Verwendung so verdunkelt, dass er kaum noch in seinem spezifisch theologischen Sinn erfasst wird.“ - […] steht vor der Aufgabe, die vielfältigen Dimensionen des biblischen Menschenbildes aufzugreifen. […] Die geschöpfliche Würde des Menschen ist ebenso wesentlich wie die Erkenntnis seines Sündersein.“ - […] wird ihrer Aufgabe nur gerecht, wenn sie von der Erneuerung der geschöpflichen Existenz des Menschen ausgeht. […] Was Sünde und Verstricktsein in das Böse bedeutet, wird auch in der urchristlichen Verkündigung nicht im Sinn einer vorgängigen Erklärung erörtert, vielmehr wird angesichts der Heilszuwendung Gottes erkennbar, in welche Verlorenheit der Mensch geraten ist.“ - […] hat Leitbilder zu entwickeln, die dem einzelnen Menschen wie der menschlichen Gemeinschaft Orientierung bieten können. […] Das ist dann der Fall, wenn das entworfene Menschenbild so überzeugend ist, dass es als sinnvoll und hilfreich empfunden und angenommen wird. Gerade auf diesem Wege kann dann auch die Entfremdung von Gott überwunden, die Erlösungsbedürftigkeit erfahren und die Heilsdimension der christlichen Botschaft erkannt werden.“
b) Eine Heilstat Gottes in Jesus Christus – zahlreiche Einzelmotive – drei deutlich unterscheidbare Modelle325 Obwohl es zutreffend ist, „von der einen Heilstat Gottes in Jesus Christus“ zu sprechen, zeigt sich im Detail, dass es soteriologisch „um zahlreiche Einzelmotive und um drei deutlich unterscheidbare Modelle“ geht. – Sie beziehen sich auf das Menschsein bzw. die Menschwerdung Jesu, sein Sterben und sein Auferstehen:325 „Die drei Aspekte ergänzen sich jedoch nicht einfach, sondern jeder schließt die anderen in geringerem oder stärkerem Maße mit ein. So verschmelzen sie in einem gewissen Sinn und behalten doch ihre je eigene Relevanz. Wie sich von einem gemeinsamen Lichtzentrum aus Strahlen in unterschiedlicher Richtung verbreiten, so ist hier von einem gemeinsamen Zentrum aus die Soteriologie in mehrfacher Richtung entfaltet und ausgebaut.“
325
ebd., 408ff. 129
Für Hahn resultiert daraus „die Frage, ob […] eine Gesamtschau möglich ist, bei der Menschwerdung, Tod und Auferstehung in ihrer jeweiligen soteriologischen Relevanz so berücksichtigt werden können, dass eine ausgewogene Zuordnung entsteht.“ – Das bedeutet konkret: „Mag der Glaube sich an Einzelaspekte der Offenbarung Gottes in Jesus Christus halten, für eine theologische Gesamtkonzeption hängt Wesentliches von der Verbindung der Teilaspekte ab. […] Wenn […] die geschehene Errettung der Menschen durch die Person Jesu Christi nicht in einer statischen Sicht seines gesamten Heilswerks gesucht wird, sondern in der Dynamik der geschichtlichen Realisierung, dann haben Menschwerdung, Tod und Auferstehung nacheinander und miteinander ihre je spezifische Funktion und ermöglichen eine Zusammenschau, die die unterschiedlichen Interpretamente integrieren kann.“
c) Die Heilsbedeutung des vorösterlichen Wirkens Jesu326 Ähnlich wie im Bereich der Christologie gilt auch im Blick auf die „soteriologische Explikation der Geschichte und Person Jesu“, dass diese „ihre Wurzeln in Jesu eigenem Wirken“ hat:326 „Jesu Proklamation der Gottesherrschaft bedeutet, dass Gottes Heilshandeln, das sich in der Geschichte Israels immer wieder in einzelnen Rettungstaten gezeigt hat, jetzt im eschatologischen Sinne Wirklichkeit wird. Das steht zwar im Spannungsfeld von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft, entscheidend ist jedoch, dass es schon in Jesu Botschaft vom Anbruch der Gottesherrschaft um die Endgültigkeit des Heils geht. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass sich in Jesu Verkündigen und Handeln charakteristische Züge des Definitiven abzeichnen.“
Diese bestehen darin, dass Jesus - für sich das Recht in Anspruch nimmt, Schuld zu vergeben, was letztlich heißt, dass er „Gottes eschatologische Sündenvergebung“ vorwegnimmt (Mk 2,5ff parr); - „Menschen aus ihrer Bindung an die Macht des Bösen“ befreit, „um ihnen die Zukunft des Heils zu eröffnen (Lk 11,20)“; - „[i]n Gestalt von Gleichnishandlungen, wie etwa den Mahlgemeinschaften, […] Motive der eschatologischen Vollendung“ aufgreift, um dadurch sein Wirken „in den Zusammenhang der endgültigen Heilsteilhabe“ zu stellen.
326
ebd., 375 (Hervorh. Verf.). 130
Dass er letztlich bereit ist, „um der Gottesherrschaft willen“ in den Tod zu gehen (vgl. Mk 8,35 parr), dass „er sich mit dem gebrochenen Brot identifiziert“, um dadurch „seinen Tod als Hingabe für andere (Mk 14,22b parr)“ zu kennzeichnen, kann im Licht des Ostergeschehens als Bestätigung seines Anspruchs gelten: „Es ist unübersehbar, dass mit Jesu Leben und Wirken das rettende Handeln Gottes offenbar geworden ist, […] Die konkrete Gestalt seiner irdischen Geschichte und seines Wirkens ist als solche signifikativ im Zusammenhang mit dem rettenden Handeln Gottes.“
d) Die soteriologische Bedeutung der Auferweckung Jesu327 Dem Ostergeschehen kommt eine Schlüsselfunktion „für die christologische und soteriologische Deutung der Person und Geschichte Jesu“ zu; im Blick auf eine profilierte soteriologische Interpretation der Auferweckung Jesu lassen sich zwei bzw. drei unterschiedliche Modelle benennen:327 (1) Auferstehung und Parusie Zunächst sind Texte zu nennen, die Jesu Auferweckung und der damit verbundenen Hoffnung auf seine Wiederkunft entscheidende soteriologische Bedeutung zusprechen: - In der von Paulus zitierten Formel in 1. Thessalonischer 1,(9.)10 („ … zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns errettet von dem zukünftigen Zorn.“) wird „der endgültige Rettungsakt im Jüngsten Gericht mit der Wiederkehr Jesu, verbunden“, auf welche die Auferweckung vorausweist. - Weitere Auferstehungsformeln, die diese „als entscheidend für die endzeitliche Rettung“ ansehen, finden sich im Römerbrief (8,11, 10,9) und in den Briefen an die Korinther (1. Kor 6,14, 15,20ff; 2. Kor 4,14). - Auch in der Doppelaussage in 1. Thessalonicher 4,14a wird der Auferweckung Jesu „das entscheidende Gewicht“ zugeschrieben. - In den Leidensweissagungen in Markus 8,31, 9,31 und 10,32f wird die Auferweckung Jesu betont und sein Sterben erwähnt, dieses aber nicht als soteriologisch bedeutend eingestuft. - In Römer 4,25 ist – atypisch für Paulus – „zwar die Hingabe Jesu soteriologisch im Sinn der Sündenvergebung gedeutet“, die Rechtfertigung des Christen aber „mit der Auferweckung verbunden.“
327
ebd., 376 ff. (Hervorh. i. O.). 131
(2) Auferstehung und Erhöhung In einer zweiten Gruppe von Texten hat „die Zusammengehörigkeit von Auferstehung und Erhöhung“ zentrale Bedeutung: - Im Taufbefehl Matthäus 28,18b („Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“) kommt zum Ausdruck, Jesu Erhöhung bringe mit sich, „dass die kosmischen Mächte dem Auferweckten und Erhöhten unterstellt bzw. von ihm versöhnt sind […]“ (vgl. Phil 2,9ff; Kol 1,18bff).“ - In bestimmten urchristlichen Aussagen „ist im Akt der Erhöhung schon vorweggenommen, was sich fortan realisieren“ werde, so in den genannten hymnischen Texten Philipper 2,9ff und Kolosser 1,18bff, aber auch in Kolosser 2,13, 3,3 sowie in Epheser 2,6: „ … er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, … .“ - Von eminenter Bedeutung ist ferner, dass Jesu „Auferweckung von den Toten die Überwindung der Macht des Todes“ mit sich bringt; dies wird betont in 1. Korinther 15,54f, 2. Timotheus 1,10, Hebräer 2,14 sowie in Offenbarung 1,18b: „ … und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ - Im 1. Petrusbrief (3,19, 4,6) wird erwähnt, dass selbst „im Totenreich […] die Heilsbotschaft verkündigt und aufgrund der Auferweckung Jesu Leben geschenkt“ werde.
(3) Die theologia ressurectionis des Lukas Als eigene Konzeption ist in diesem Zusammenhang das lukanische Doppelwerk zu nennen, mittels dessen der Verfasser „zu einem Repräsentanten der theologia ressurectionis innerhalb des Neuen Testaments geworden“ ist. Es zählt zu den Besonderheiten bei Lukas, dass die „soteriologische Funktion des Todes Jesu […] bei ihm, abgesehen von den Einsetzungsworten des Herrenmahls, nur eine untergeordnete Rolle“ spielt (vgl. Lk 22,19f; Apg 20,38). Entscheidend ist demnach, dass „die Überwindung des Todes“ bei Lukas „die Ermöglichung der Umkehr, die Gewährung der Sündenvergebung und die gegenwärtige Erfahrung des Heils“ bedeutet: - Bezüglich des Todes Jesu betont Lukas „sowohl das gottgewollte Geschick Jesu als auch die Feindschaft der Menschen“ (Lk 9,22, 9,44, 18,31f, 24,26f; Apg 2,23f, 5,30f, 17,3, 26,23). – Das „entscheidende Heilsereignis“ sei demgegenüber Jesu Auferweckung durch Gott, die von Zeugen bestätigt werde (Lk 24,48; Apg 1,22, 3,15, 13,31). Indem Gott Jesus auferweckt habe, sei er zum „Fürsten des Lebens“ (3,15) sowie zum „Heiland“ (5,31) geworden. - Der auferstandene Jesus erteilt den Jüngern den Missionsbefehl und verheißt ihnen die Gabe des Heiligen Geistes (Lk 24,44ff; Apg 1,6ff).
132
- In besonderer Weise kennzeichnet die lukanische Konzeption die „Verbindung des Motivs der Sündenvergebung mit der Auferweckung Jesu“, was bedeutet, „dass allen Menschen ‚Umkehr‘ (μετάνοια) ermöglicht und ihnen ‚Vergebung der Sünden‘ (ἄφεσις ἁμαρτιῶν) zugesagt wird.“ – Nach Lukas 24,46cf ist von entscheidender Bedeutung das Ausrichten der Botschaft „im Namen dessen, der am dritten Tage auferweckt worden ist, und zwar als ‚Verkündigung der Umkehr zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern‘ […].“
Insgesamt ist festzuhalten, dass es mit Lukas „einen urchristlichen Traditionsstrang gibt, in dem die soteriologische Funktion Jesu mit seiner Auferweckung bzw. der Erhöhung zusammenfällt.“
e) Die rettende Kraft des Todes Jesu328 Hinsichtlich des zweiten soteriologisch relevanten Modells schickt Hahn voraus: „Die am breitesten bezeugte urchristliche Verkündigungstradition konzentriert das soteriologische Wirken Jesu auf seinen Tod. Im Vergleich zu dem relativ einheitlichen Sprachgebrauch bei den Auferstehungsaussagen, fällt die Vielfalt der Terminologie bei den Texten über Jesu Tod auf.“ – Diese lässt sich folgendermaßen unterscheiden:328 (1) Hingabeaussagen Als typisch gelten Römer 8,32 („Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben … .“) und Johannes 3,16 („ … also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, … .“): - Es wird deutlich, dass zu „Jesu Auftrag und Vollmacht […] nach Gottes Willen die Hingabe“ gehört, „die sich in [Joh] 3,16 aufgrund des Zusammenhangs mit V. 14 auf Jesu Tod bezieht.“ Vergleichbar ist u.a. Römer 4,25a („ … welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben … “); das hier verwendete Passivum divinum entspricht an anderen Stellen dem Hinweis auf das göttliche „muss“ (δεῖ) bzw. das Leiden gemäß der Schrift (Mk 8,31 parr; Lk 24,26.46). - Zahlreicher sind „Aussagen über Jesu Selbsthingabe. Jesus vollzieht seinerseits mit dem Sterben das ihm aufgetragene Heilswerk.“ – Dies ist der Fall in Galater 2,20, Epheser 5,25 und Titus 2,14, aber auch in Johannes 10,11: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“
328
ebd., 381ff. 133
- Hier anzusiedeln sind auch Jesu Hingabeaussagen im Zusammenhang seines Abschiedsmahls, insofern „Brothandlung und Brotwort Ausdruck der Selbsthingabe sind“, wie dies Lukas 22,19ff parr besagt: „Und er nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib, der für euch gegeben wird … .“ - An dieser Stelle greift Hahn auf einen Begriff zurück, den der katholische Exeget Heinz Schürmann (1913–1999)329 geprägt hat: „Gabe wie Hingabe bzw. Selbsthingabe sind für andere bestimmt, sie sind Ausdruck der ,Proexistenz‘ Jesu […]. Der Tod ist die äußerste Konsequenz seiner das ganze Leben kennzeichnenden Proexistenz.“
(2) Jesu Tod als ‚Sterben für‘ und als Sühnetod Dass Jesu Tod als „Sterben für andere“ zu verstehen ist, wird auf verschiedene Weise formuliert: So ist in Römer 5,7 von einem Sterben „um des Guten willen“ die Rede, in Johannes 11,50 von einem Sterben „für das Volk“ sowie an anderer Stelle von einem Sterben „anstelle von“; insofern „stellt sich die Frage, ob der Stellvertretungsgedanke in allen Aussagen über Jesu Sterben vorausgesetzt werden kann“: - Dies gilt stets, wenn zum Ausdruck kommt, dass „Christus […] an die Stelle derer getreten [ist], die der Sünde und dem Fluch verfallen waren“, um sie in sein Sterben einzubeziehen und so zu befreien; das ist der Fall in 2. Korinther 5,21 (Gott „hat ihn für uns zur Sünde gemacht, … .“) und in Galater 3,13 („Christus aber hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns … .“). - Andere Aussagen über Jesu Sterben „für uns“ bzw. „für unsere Sünden“ legen ebenfalls nahe, dass s e i n Tod „eine heilsstiftende Funktion“ hat, weil w i r dadurch von der Sünde befreit werden, so in 1. Korinther 15,3b („ … dass Christus gestorben ist für unsere Sünden … .“) und Galater 1,4 („ … der sich selbst für unsere Sünden dahingegeben hat, … .“), aber auch in Römer 4,25 („ … welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben … .“) und 1. Petrus 3,18 („ … Christus hat e i n m a l für die Sünden gelitten … .“).
Das zahlreiche Auftreten der „für-uns“-Formeln impliziere die Frage, inwiefern hier in Zusammenhang mit dem „Element der Stellvertretung“ jeweils „das Sühnemotiv vorausgesetzt ist.“
329
vgl. HEINZ SCHÜRMANN, Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, hrsg. v. Klaus Scholtissek, Paderborn 1994, dort bes. 286ff: „Pro-Existenz“ als christologischer Grundbegriff. 134
EXKURS 4: Das Sühneverständnis im Neuen Testament 330 (1) Das Sühneverständnis im Urchristentum muss auf dem Hintergrund „der alttestamentlichen und frühjüdischen Tradition“ verstanden werden; dort stoßen wir auf den Begriff der Sühne „vor allem im Blick auf das Verhältnis von Gott und Mensch im Sinn der gnadenhaft gewährten Aufhebung von Sünde.“ (2) Hahn geht davon aus, dass im Neuen Testament „in dreifacher Weise von Sühne gesprochen“ wird: 1. Zunächst im Zusammenhang mit dem Gebet des Zöllners in Lukas 18,13c: „Gott sei mir Sünder gnädig“! 2. Weiterhin „im kultischen Bereich“, beispielsweise hinsichtlich der „alttestamentlichen Opferriten“, so etwa im Hebräerbrief. 3. Im „nichtkultischen Bereich“, z.B. „in Verbindung mit Leiden und Sterben eines Menschen“, so in 1. Petrus 4,1 oder in Römer 6,7: „ … wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde.“
(3) „Terminologisch explizite Sühneaussagen“ würden im Neuen Testament nicht sehr häufig auftreten: - Der Begriff ἱλάσκεσϑαι, „sühnen“, findet sich neben Lukas 18,13c (s.o.!) nur in Hebräer 2,17, wo er „den Vollzug der Sühnehandlung durch Christus als den endzeitlichen Hohenpriester“ bezeichnet. - In Hebräer 9,5 und Römer 3,25 wird ἱλαστήριον verwendet, um die „‚Deckplatte‘ der Bundeslade“ (die sog. Kapporet) zu benennen, der alttestamentlich eine zentrale Funktion im Sühneritus zukam.331 330 331
FERDINAND HAHN, Theologie der Neuen Testaments II, 385ff. vgl. SIEGFRIED KREUZER, Art. Lade JHWHs/Bundeslade; in: WiBiLex: „Indem an der Kapporet die versöhnende Präsenz JHWHs und das an sie gesprengte Sühneblut des Opfertieres zusammenkommen, wurde sie zum zentralen Ort des Sühnegeschehens, und hilastērion wurde zum Synonym für Sühne schlechthin. So ist es verständlich, dass in der urchristlichen Tradition das Sühnegeschehen an der Kapporet zur Entsprechung für die Sühne durch den Opfertod Jesu werden konnte; eine Tradition, die auf je ihre Art zum Zentrum der soteriologischen Argumentation des Paulus (Röm 3,25; Luther: „Gnadenstuhl“) wie des Hebräerbriefes (Hebr 9,1ff) wurde“ (Hervorh. i. O.). 135
- Im „kultmetaphorischen Sinn“ begegnet ἱλασμός, „Sühne“, in 1. Johannes 2,2 und 4,10: „ … dass er [Gott] uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung [= Sühne] für unsere Sünden.“ – Hahn regt an, hinsichtlich „dieses schmalen Befundes“ zu fragen, „ob unabhängig von der spezifischen Sühneterminologie die Vorstellung der Sühne in christologischen Aussagen“ impliziert sei, speziell dort, wo es um das Sterben und die Hingabe Jesu gehe.
(4) Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang einem Text aus dem vierten Gottesknechtslied zu, Jesaja 53,10ff, wo unter anderem davon die Rede ist, der Gottesknecht habe „sein Leben zum Schuldopfer gegeben“ bzw. „die Sünden der Vielen getragen … .“ - Während „das Motiv nichtkultischer Sühne durch Leiden und Sterben nur im hellenistischen Judentum“ nachweisbar ist (2. Makk 7,37f; 4. Makk 6,29, 17,21f), sei Jesaja 53 „in urchristlicher Verkündigung wirksam geworden“, z.B. in den Begriffen λύτρον/ἀντίλυτρον, „Lösegeld“ in Markus 10,45 parr und 1. Timotheus 2,6332. - Daraus zieht Hahn eine weitreichende Folgerung: „Das bedeutet, dass Sühne hier eindeutig in Verbindung mit stellvertretendem Leiden und Sterben steht. […] Wo immer es um Vergebung der Sünde und um Aufhebung der Trennung von Gott geht, liegt deshalb der Sühnegedanke bzw. der Gedanke stellvertretender Sühne vor.“ - Es sei anzunehmen, „dass es in der aramäisch sprechenden Gemeinde […] noch keine Aussagen über die Heilsbedeutung des Todes Jesu gegeben habe.“ – Stattdessen ist „eine gemeinsame urchristliche Tradition in hohem Maße wahrscheinlich: Jesu Sterben wird im Sinn von Jes 53,10–12 als stellvertretendes Sühneleiden verstanden.“
(5) In diesem Zusammenhang müsse festgehalten werden: 1. „So wenig die Sühnevorstellung in urchristlicher Tradition vom Vorkommen einer spezifischen Sühneterminologie abhängig ist, so wenig muss sie stets mit Jes 53,10–12 verbunden gewesen sein.“ 2. „Die Rezeption der Sühnevorstellung im Sinn des stellvertretenden Sterbens bedeutet […] nicht, dass damit gleichzeitig von einer ‚Sühnopfer‘-Vorstellung gesprochen werden könnte. Die Auffassung vom Sühnetod Jesu ist eine nichtkultische; erst relativ spät ist in einigen wenigen Fällen durch Verbindung mit einem Opfermotiv die Vorstellung von Jesu Tod als ‚Sühnopfer‘ entstanden […].“333
332 333
vgl. e) (3) Jesu Tod als (Er-)Lösung, Loskauf oder Versöhnung. vgl. e) (4) Die kultische Deutung des Todes Jesu. 136
(6) Der Gedanke, „dass der Gerechte durch sein Leiden und Sterben stellvertretend Sühne für andere ermöglicht,“ wurde „auf Jesus übertragen […] unter der Voraussetzung, dass er ‚sündlos‘ war, d.h. in steter Verbindung mit Gott und in der Bindung an Gott gelebt und gewirkt“ habe (vgl. 2. Kor 5,21: „ … der von keiner Sünde wusste, … .“; Hebr 4,15; Joh 8,46, aber auch Joh 10,30, 17,21). (7) Als Fazit könne insgesamt formuliert werden:334 „Die große Zahl der hierher gehörenden Textstellen lässt erkennen, dass die Sühnevorstellung im Blick auf Jesu Sterben für das Urchristentum im Vordergrund stand und dementsprechend für das Neue Testament zentral ist. Die Auffassung von der stellvertretenden Sühne ist die fundamentale Deutungskategorie für Jesu Tod, die sich aus alttestamentlicher Tradition nahelegte. […] weil der Mensch aus seiner ursprünglichen Relation und Bindung an Gott herausgefallen ist, ist es nicht überraschend, dass die soteriologischen Aussagen primär Aussagen über Sühne und Sündenvergebung sind.“
(3) Jesu Tod als (Er-)Lösung, Loskauf oder Versöhnung Im Neuen Testament begegnen zahlreiche Aussagen, die das soteriologische Handeln Jesu durch Begriffe wie (Er-)Lösung, Loskauf und durch das Versöhnungsmotiv konkretisieren: (a) Rechtliche Termini wie λύειν, λύτρωσις und λύτρον Schon im Alten Testament bezeichnen u.a. „rechtliche Vorstellungen“ die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Auf das Handeln Jesu Christi bezogen, „geht es um die rechtsgültige und damit wirksame ‚(Er-)Lösung‘ aus allen Bindungen“: - Der Begriff λύειν, „(er-)lösen, zerstören“, findet sich in 1. Johannes 3,8 und in Offenbarung 1,5b („ … der uns liebt und uns erlöst hat von unsern Sünden mit seinem Blut … .“) sowie ähnlich (λυτροῦσϑαι) in Titus 2,14 und 1. Petrus 1,18f. - Die Substantive λύτρωσις bzw. ἀπολύτρωσις, „(Er-)Lösung)“, werden in verschiedenen Zusammenhängen verwendet in Lukas 1,68, 2,38, Hebräer 9,12 sowie in Lukas 21,28, Römer 3,24f, 8,23,1. Korinther 1,30, Epheser 1,13bf, 4,30, Kolosser 1,14, Hebräer 9,15. - Die genaue Bedeutung von λύτρον in Matthäus 20,28 und Markus 10,45 („ … der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld
334
Hervorh. Verf. 137
für viele.“) bzw. ἀντίλυτρον in 1. Timotheus 2,6 („ … der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle, … .“) sei umstritten; der hebräische Begriff אשם, der in Jesaja 53,10 vorliegt, wird in der Septuaginta mit περὶ ἁμαρτίας, d.h. „für die Sünde“, „um der Sünde willen“ übersetzt: 1. Auch wenn sowohl der hebräische als auch der griechische Begriff „im kultischen Bereich“ verwendet wurden, ist „die Wiedergabe in Mk 10,45 par und 1 Tim 2,6 mit einem griechischen Rechtsterminus erfolgt.“ – Deshalb gelte: „Die gängige Übersetzung mit ‚Lösegeld‘“ sei problematisch, weil „ אשםdas ‚Lösemittel‘ […] nicht einseitig auf eine Ersatzleistung in finanzieller Gestalt“ festlege. 2. Gemäß Jesaja 53,10ff handle es sich „beim Leiden und Sterben des Gottesknechts um eine rechtsgültig wirksame Befreiung von der Sünde und insofern um ein Sühnemotiv. Es geht um ein stellvertretendes Handeln mit universaler Ausrichtung.“ – Hahn schlägt deshalb für Markus 10,45 par (ἦλϑεν … δοῦναι τὴν ψυχὴν αὐτοῦ λύτρον ἀντὶ πολλῶν) die Übersetzung vor: „Er ist gekommen …, hat sein Leben hingegeben und Ersatz geleistet für die vielen“.335 3. Auch in Römer 8,3 („Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, … .“) sei περὶ ἁμαρτίας von Jesaja 53,10ff her zu verstehen: „Indem Jesus die Gestalt des sündigen Fleisches getragen hat, ist in seiner irdischen Existenz das Urteil über die Sünde und damit zugleich Sühne ‚für die Sünde‘ erfolgt.“ - Ein weiterer Beleg für „rechtliche Denkmodelle im Zusammenhang mit der soteriologischen Relevanz des Todes Jesu“ finde sich in Kolosser 2,14: „Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet.“ – „Wie Christus in Gal 3,13 mit dem Fluch und in 2 Kor 5,21 mit der Sünde identifiziert wird, die er stellvertretend auf sich nimmt, so hier mit dem Schuldschein. Indem er selbst ans Kreuz genagelt wird, ist mit ihm der Schuldschein beseitigt.“
(b) Das Loskaufmotiv Während die Begriffe λύτρον/ἀντίλυτρον nicht mit „Lösegeld“ wiederzugeben sind, finden sich andere Aussagen im Neuen Testament, die explizit „das Motiv des ‚Loskaufs‘“ soteriologisch gebrauchen; dadurch sollte das „Sühnemotiv […] für Nichtjuden verständlich gemacht werden“: - In dieser Weise verwendet werde „das Verbum (ἐξ-)ἀγοράζειν“ im Sinne von „(er-)kaufen“, so in 1. Korinther 6,20 und 7,23 („Ihr seid teuer erkauft; … .“), aber auch in 2. Petrus 2,1,
335
Hervorh. Verf. 138
Offenbarung 5,9 („ … du … hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen … .“) und 14,3f. - Herkunft des Motivs ist die „Praxis des Loskaufs von Menschen […] aus der Sklaverei oder aus der Kriegsgefangenschaft.“ – Die Macht der Sünde werde „als eine ausweglose Gefangenschaft gekennzeichnet, aus der Christus die Menschen durch seinen Tod befreit“ habe.
(c) Die Versöhnung Auch das Motiv der Versöhnung (καταλλαγή) gilt als Variante im weiteren Bereich rechtlicher Termini, „die dazu diente, die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu für Heiden verständlich zu machen“; zunächst sei eine Unterscheidung nötig: - Versöhnung und Sühne „sind im Griechischen […] zwei völlig verschiedene Begriffe und Sachbereiche“ (vgl. die Verben ἱλάσκεσϑαι, „sühnen“, und καταλλάσσειν, „versöhnen“); während es sich bei Sühne um einen kultischen Terminus handle, habe „Aussöhnung […] im profanen Bereich Verwendung gefunden […].“ - Soteriologisch gebraucht werde καταλλάσσειν/καταλλαγή erstmals bei Paulus, der in 2. Korinther 5,19 „eine alte Bekenntnisaussage“ zitiere: „ … Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ - Der Abschnitt 2. Korinther 5,14ff zeige – wie auch Römer 5,10f und Römer 11,15, wo ebenfalls die Thematik der Versöhnung aufgegriffen werde – „dass Paulus ähnlich wie mit dem Loskauf-Motiv auch mit dem Motiv der Versöhnung den Sühnegedanken interpretiert.“ - Hahn weist auf den „besonderen Akzent“ hin, den das von Paulus zitierte „Traditionsstück 2 Kor 5,19“ hat: Im Gegensatz zu „bekenntnisartig und kerygmatisch“ formulierten Sühneaussagen sei die genannte „Versöhnungsaussage universal ausgerichtet, es geht um die καταλλαγὴ κόσμου, die ‚Versöhnung der Welt‘ (Röm 11,15).“ - Die besagte „universale Dimension“ der Versöhnung wird „auch in den deuteropaulinischen Texten Kol 1,20 und in Eph 2,14–16“ betont: In Kolosser 1,20 geht es um die Versöhnung des Alls „zu ihm hin“ durch Christus, in Epheser 2,14ff um „die durch den Kreuzestod bewirkte Versöhnung von Juden und Heiden“ durch „Beseitigung der den Kosmos trennenden Mauer“, die mit dem Gesetz vergleichbar sei.
(4) Die kultische Deutung des Todes Jesu Auch wenn, wie erwähnt, explizite kultische Terminologie im Neuen Testament nicht sehr häufig sei, „wurden einzelne Motive aus der Kulttradition“ übernommen. – Es ist von Bedeutung, „dass 139
es sich bei den kultischen Motiven im Neuen Testament um dieselben Grundmotive handelt, die auch bei den übrigen soteriologischen Aussagen über Jesu Sterben begegnen. Es geht um Vergebung der Sünde, um Befreiung von der Macht der Bosheit und Ungerechtigkeit, und es geht um die Wiedererlangung des Zugangs zu Gott“: - Zunächst sei festzuhalten, dass alle Aussagen aus dem Kultbereich „außerhalb der Schilderung von Tempelriten grundsätzlich metaphorisch“ gebracht würden. Durch den „Zusammenhang mit der Ablösung vom Tempelkult“ ist es im Rahmen urchristlicher Kultmetaphorik „zur Übertragung kultischer Vorstellungen auf Jesu Heilswerk“, d.h. vor allem auf seinen Tod gekommen. - Von besonderer Relevanz ist die Frage „einer kultischen Deutung des Todes Jesu […] im Zusammenhang mit dem Kelchwort des Herrenmahls.“ – Während in 1. Korinther 11,23ff „keinerlei Kultmotive“ vorlägen, müsse für Markus 14,22ff geklärt werden, ob die Wendung „mein Blut des Bundes“ (τὸ αἷμά μου τῆς διαϑήκης) auf den „kultisch verstandenen Bundesschluss in Ex 24,8“ anspielt. – Wenn dies der Fall sei, hänge es „mit der sekundären Parallelisierung von Leib und Blut zusammen, die für die älteste Fassung des Kelchworts nicht vorauszusetzen“ sei. - Weiterhin begegneten „Aussagen über Jesus als ‚Lamm‘, wobei auch vom ‚geschlachteten Lamm‘ die Rede ist.“ – Hier müsse unterschieden werden: 1. In Apostelgeschichte 8,32 werde „die Erniedrigung Jesu als des Gottesknechts“ mit der „Geduld und Leidensbereitschaft eines Lammes (im Anschluss an Jes 53,7f)“ verglichen, so dass keine explizit kultische Deutung seines Tode vorliege. 2. Während 1. Korinther 5,7b („ … auch unser Passalamm ist geopfert, das ist Christus.“) und Johannes 19,36 („ … »Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen.« … .“) deutlich auf die kultische „Passaschlachtung“ Bezug nehmen, geht es in Johannes 1,29 („Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“) „weder um das Passalamm noch um den Sündenbock beim Versöhnungsritual […].“ – Ob im Blick auf das Passalamm „ein Sühnemotiv vorauszusetzen ist, ist sowohl im Blick auf die damalige jüdische als auch die urchristliche Tradition umstritten.“ 3. Allgemein von der Opferung eines Lammes spricht 1. Petrus 1,18f, indem betont wird, dass unsere Erlösung „nicht mit vergänglichem Silber oder Gold“ erfolgt sei, „sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes“; dies gilt auch für die Offenbarung, wo es um das „Lamm, das geschlachtet ist“, geht (Offb 5,6.9.12, 13,8); in beiden Fällen sei „wie bei dem jüdischen Opferkult die Sühnebedeutung eingeschlossen.“ - Ob der vorpaulinische Text in Römer 3,25 („Den [Jesus Christus] hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne [ἱλαστήριον] in seinem Blut … .“) den Tod Jesu kultisch interpretiere,
140
gilt als „alte exegetische Streitfrage“; es sei unsicher, „ob hier wie im Hebräerbrief eine Anspielung auf die Blutbesprengung im Allerheiligsten am Versöhnungstag“ vorliege.336 - Kultische Motive zur Interpretation des Todes Jesu begegneten auch im Epheserbrief, in der „Selbsthingabeformel“ in Epheser 5,2 („ … wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben … .“) sowie ganz ähnlich in 5,25 („ … wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben … .“). Die Worte „für sie“ bezeichnen „die Kirche als Heilsgemeinschaft.“ - Eine klare kultische Orientierung zeige der Hebräerbrief mit dem, was er über Christus sagt: „Die Hohepriester-Christologie ist […] eine Explikation des Bekenntnisses zu Jesus als Gottessohn für eine hellenistisch-judenchristliche Gemeinde“, verbunden mit den „drei Komponenten“ des Menschseins Jesu (2,17f, 5,7f), seines Todes als Opfer (9,1ff) sowie seiner himmlischen Fürbitte (7,25, 9,24): 1. Wie im Evangelium des Johannes sind im Hebräerbrief „der Tod Jesu und sein Eingang in den Himmel eng miteinander verbunden“, – wobei seine Auferweckung nur einmal (13,20) erwähnt wird. Indem Christus „auf Erden sein eigenes Blut vergossen“ hat, um es im Himmel darzubringen, habe er „ewige Erlösung“ bewirkt (9,11f), indem „durch sein eigenes Opfer“ die Sünde aufgehoben sei (9,26). – Insofern habe Jesu „hohepriesterliches Handeln […] Sühnefunktion, und zwar im Sinn eines ‚Sühnopfers‘.“ 2. Auf diese Weise werde „das Blut Jesu zur Opfergabe, mit der er selbst das eschatologische Opferritual vollzieht“; so gewinne es im Hebräerbrief „eine eigene soteriologische Bedeutung, was auch an anderen Stellen des Neuen Testaments zu beobachten ist und in der Folgezeit erheblich Konsequenzen hatte.“ - Schließlich finden sich auch im 1. Johannesbrief „Sühneaussagen mit kultischem Hintergrund […].“ – In 1. Johannes 4,10b heißt es, dass Gott „uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung [= Sühne] für unsere Sünden“; in 1,7bff wird dies dahingehend präzisiert, dass „das Blut Jesu, seines Sohnes, … uns rein von aller Sünde“ mache. Wenn es in 2,2 heißt, dass es im Christusgeschehen nicht nur um Sühne „für unsere Sünden, […] sondern auch für die der ganzen Welt“ gehe, so kann man annehmen, dass hier „wohl ebenfalls an ein ‚Sühnopfer‘ gedacht ist.“
(5) Die Einmaligkeit des Kreuzestodes Jesu Jesu Sterben am Kreuz wird im Neuen Testament mehrfach „hervorgehoben“; in verschiedenen Zusammenhängen wird darüber hinaus die soteriologische Einmaligkeit des Geschehens benannt. 336
vgl. Fußnote 331. 141
Der Begriff des Kreuzes bzw. Kreuzigens begegnet häufig „in einer theologisch qualifizierten Bedeutung“: - So etwa, wenn es um das Ostergeschehen geht (Mk 16,6: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.“), aber auch wenn Paulus „das Wort vom Kreuz“ (1. Kor 1,18) thematisiert, den gekreuzigten Christus (1. Kor 2,2) oder „das Ärgernis des Kreuzes“ (Gal 5,11). – In ähnlicher Weise vom Kreuz Christi gesprochen wird in Kolosser 1,20 und 2,14, in Epheser 2,16, aber auch in Offenbarung 11,8. - Die „Einmaligkeit der Heilsverwirklichung“ wird in „Aussagen über den Tod Jesu“ betont, wenn das Wort ἅπαξ bzw. ἐφάπαξ („einmal“ bzw. „ein für allemal“) zur Anwendung kommt: 1. Dies gilt für 1. Petrus 3,18 („ … Christus hat e i n m a l für die Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten … .“), aber auch für Paulus in Römer 6,9f. 2. Eine besondere Betonung erfährt das „Motiv der Einmaligkeit“ im Hebräerbrief: Anders als die irdischen Hohenpriester habe „Christus nach Hebr 7,27fin nur einmal ein Opfer dargebracht, und zwar sich selbst:“ „ … das hat er ein für allemal getan, als er sich selbst opferte“. Gemäß Hebräer 10,10 „sind wir geheiligt ein für alle Mal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi“; schließlich endet die zentrale Passage zum Opfertod Jesu in 9,11ff „mit einer doxologisch gestalteten Aussage in 9,26b–28, in der ἅπαξ dreimal“ vorkommt. - Auch wenn die „Einmaligkeit der Rettungstat Jesu […] generell vorausgesetzt“ sei, müsse beachtet werden, dass „die definitive Heilsverwirklichung […] auch dort eine Rolle [spiele], wo die Einmaligkeit in Beziehung zur bleibenden soteriologischen Relevanz gesetzt wird.“ Dies könne auch dann der Fall sein, wenn der Begriff „ein für allemal“ nicht explizit verwendet werde, so etwa in Römer 3,24ff, 2. Korinther 5,21 und Galater 3,13.
f) Die soteriologische Relevanz der Menschwerdung Jesu337 Auch wenn insgesamt gelte, dass die „soteriologische Deutung des Todes Jesu […] zweifellos in den neutestamentlichen Texten am breitesten belegt“ ist, lassen sich als drittes Modell innerhalb der Soteriologie Texte ausmachen, „in denen die Menschwerdung Jesu im Vordergrund“ stehe. Ein deutlicher Schwerpunkt liege hier im Bereich der johanneischen Theologie; gleichwohl müsse man auch andere diesbezügliche Aussagen beachten:337
337
ebd., 399ff (Hervorh. i. O.). 142
(1) Jesu Menschwerdung außerhalb der johanneischen Theologie - Teilweise bereits genannte „Sendungsformeln zielen auf das irdische Wirken Jesu und seine Vollmacht“: 1. In Galater 4,4 betont Paulus, Jesus sei „geboren von einer Frau“; in ähnlicher Weise heißt es in Römer 1,3, er sei „geboren […] aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch“ […]. 2. Dem entspricht die Rede von Jesu „Erscheinung“ als Heiland in 2. Timotheus 1,9b.10a bzw. von seinem Offenbar-Werden „im Fleisch“ in 1. Timotheus 3,16. 3. Schließlich spricht 1. Petrus 1,20 davon, dass der präexistente Christus „am Ende der Zeiten … offenbart“ worden sei.
- An dieser Stelle geht es auch um Aussagen, „die das uneingeschränkte Menschsein Jesu oder seine Teilhabe an der menschlichen Schwachheit“ zum Inhalt haben: 1. Hier ist zuerst der in Philipper 2,6ff von Paulus zitierte Hymnus zu nennen, der „die Selbstentäußerung und Selbsterniedrigung des Präexistenten“ betont, „die den Gehorsam bis zum Tode einschließt.“ 2. Auch der Hebräerbrief legt in besonderer Weise Wert auf Jesu Menschsein und die damit verbundenen Konsequenzen, so etwa in 2,14ff („Daher musste der Sohn in allem seinen Brüdern gleich werden, auf dass er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn da er selbst gelitten hat und versucht worden ist, kann er denen helfen, die versucht werden.“), aber auch in 5,7ff, wo „das mit Schreien und unter Tränen vorgebrachte Gebet, die Todesangst und de[r] Leidensgehorsam“ Christi herausgestellt werden. 3. Schließlich sind es naturgemäß die drei synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas, die in der jeweiligen Passionsgeschichte – speziell „mit der Getsemane-Erzählung und der Darstellung des Todes Jesu“ – deutlich zum Ausdruck bringen, dass er in vollem Maße „am Menschsein und menschlichen Leiden“ partizipiert.
(2) Die Bedeutung der Menschwerdung Jesu bei Johannes Hier „besitzt die Menschwerdung Jesu eine zentrale soteriologische Funktion“, was sich sowohl für das vierte Evangelium als auch für den 1. und 2. Johannesbrief zeigen lässt: - Im Evangelium „ist die Inkarnation das Schlüsselmotiv. Alle sonstigen christologischen Aussagen sind diesem Thema zugeordnet“: 143
1. Das häufig gebrauchte „Sendungsmotiv – ‚der Vater, der mich gesandt hat‘“ impliziert letztlich Jesu Herabsteigen „vom Himmel“ (3,13, 6,33ff) bzw. sein Kommen „von oben“ (3,31a) bzw. „vom Himmel“ (3,31c). – Auf diese Weise „gewinnen Menschwerdung und Menschsein Jesu ein besonders Gewicht.“ 2. Der Prolog (1,1ff) thematisiert im Zentrum „die Menschwerdung im Sinn der Annahme der fleischlichen Existenzweise durch den Präexistenten,“ wie es in 1,14 heißt: „ … das Wort ward Fleisch … “; wenn von der „‚Herrlichkeit‘ des Menschgewordenen“ die Rede ist, dann wird endgültig klar, dass mit „der Menschwerdung des Logos […] die Fülle der Heilswirklichkeit offenbar geworden“ ist. 3. Weil Jesus als der, „der vom Himmel herabgekommen ist“ (3,13), selbst „das Brot des Lebens“ (6,35) ist, bringt er die eschatologische Gabe, „das ewige Leben“ (3,36). Im Sinne von Johannes 11,25 („Ich bin die Auferstehung und das Leben.“) sind „Heil und Leben“ definitiv „die Gaben des Menschgewordenen.“ 4. Daneben sind „noch andere wichtige Aussagen mit der Menschwerdung verbunden“; so sei gemäß 1,17 trotz der Gesetzgebung durch Mose „die Gnade und Wahrheit … durch Jesus Christus geworden“. 5. Eine weitere johanneische Besonderheit bestehe darin, dass Jesu Sterben „im Lichte der Inkarnation“ zu interpretieren sei: „Zu Jesu Menschsein und der darin offenbar werdenden Herrlichkeit gehört auch Jesu Tod.“ – Dass im Evangelium immer wieder „auf Jesu Tod hingewiesen“ wird (vgl. Joh 1,29.36, 3,16, 10,11ff), zeigt, „wie unablösbar Jesu Sterben mit seiner Menschwerdung zusammenhängt […].“ – Insgesamt gilt: „Jesu Sterben ist als ‚Verherrlichung‘ zugleich sein ‚Erhöhtwerden‘, wie aus 8,28; 12,32 hervorgeht. Hiermit kommt zum Abschluss, was mit der Menschwerdung begonnen hat, durch die das Heil verwirklicht worden ist. Nicht zufällig heißt es daher in 19,30 im letzten Kreuzeswort: ‚Es ist vollbracht‘ […].“
- Die im vierten Evangelium vorliegende Betonung der Inkarnation werde im 1. und 2. Johannesbrief „weitergeführt und gegenüber einer Lehre verteidigt, für die die Menschwerdung irrelevant geworden“ sei: 1. Schon in 1. Johannes 1,1ff kommt „mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck, was die Menschwerdung und das Menschsein Jesu beinhalten: Es ist die Offenbarung des Lebens […]. Deshalb liegt alles an der Realität des Menschseins.“ 2. Weiterhin „wird in 1 Joh 4,2 gegenüber aller doketischen Irrlehre“ an dem Bekenntnis festgehalten, „dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist“: „Die Sendung und Menschwerdung sind die entscheidenden soteriologischen Ereignisse.“
Als Fazit könne formuliert werden, dass im Johannesevangelium und in den beiden Johannesbriefen „eine konsequent durchgeführte theologia incarnationis“ festzustellen sei: „Die Inkarnationstheologie 144
ist insofern zugleich eine theologia aeternae vitae relevatae. Menschwerdung und Menschsein Jesu zielen auf wahres Leben der Menschen und die Restitution der Gemeinschaft der Menschen mit Gott. Die damit eröffnete Heilswirklichkeit ist nicht primär im Tod oder der Auferstehung begründet, sondern in der Gesamtheit seines Lebens.“
6.
Fazit Soteriologie I: Die geschehene Errettung des Menschen338
Die neutestamentliche Soteriologie insgesamt erlaubt nach Ferdinand Hahn eine entscheidende Feststellung:338 „Mit Gottes Offenbarung in der Person Jesu hat sich Rettung ein-für-allemal ereignet, seitdem ist der Weg zu Gott frei und die Gemeinschaft mit Gott wiedereröffnet.“ – Gleichwohl müsse stets bedacht werden, „wie unterschiedlich die Aussagen über die geschehene Errettung der Menschen auf den ersten Blick sind.“
a) Die unterschiedlichen Ansatzpunkte Exemplarisch erkennbar sind diese in der lukanischen, der paulinischen und der johanneischen Theologie: - Die zentrale Bedeutung der Auferweckung Jesu ist offensichtlich: „Ohne das Osterereignis wäre es weder zur Ausbildung eines christologischen Bekenntnisses noch zur Entfaltung einer Soteriologie im Sinn der bereits geschehenen Errettung des Menschen gekommen. […] Entscheidend war die Gewissheit, dass mit Jesu Auferstehung der Tod überwunden ist und das gottgeschenkte Leben den Sieg behält.“ – Davon ausgehend entwickelt Lukas seine theologia ressurectionis. - Gleichzeitig gilt: „Die Erschließung der Bedeutung des Kreuzestodes Jesu wäre ohne die Ostererfahrung nicht möglich gewesen. […] Das Rätsel seines Todes ließ sich nur von Ostern her erschließen. Durch die Auferweckung Jesu ist die soteriologische Funktion seines Geschickes ins Blickfeld gerückt. Ging es bei der Auferweckung um die Vorwegerfahrung des neuen und endgültigen Lebens, so konzentrierte sich die Bedeutung des Todes Jesu auf die Überwindung der schuldhaften alten Existenz des Menschen.“ – Dass das Sterben Jesu durch eine Vielzahl unterschiedlicher „Begriffe, Motive und Texte“ interpretiert wurde, zeigt, „welch hohe Bedeutung die theologia crucis im Urchristentum hatte.“ – Dies betreffe nicht nur Paulus, „wenngleich die Kreuzesthematik bei ihm eine besonders intensive
338
ebd., 402ff (Hervorh. i. O.). 145
Entfaltung fand. […] In allen Fällen wird zum Ausdruck gebracht, dass mit Jesu Sterben definitiv Heil verwirklicht ist, indem die Macht der Sünde überwunden und der Zugang zu Gott wiedereröffnet ist.“ - Bei Johannes „haben die Aussagen über die Menschwerdung […] eine zentrale heilstiftende Dimension und eine vorgeordnete Stellung im Sinn einer theologia incarnationis erhalten. Sterben und Auferstehen verloren dabei nicht ihre Bedeutung. […] In Tod und Auferstehung vollendet sich die Menschwerdung, aber das Heil ist durch Jesu irdisches Wirken bereits offenbar geworden.“
b) Die Zusammengehörigkeit der soteriologischen Aussagen Im Blick auf die Einheit der soteriologischen Aussagen im Neuen Testament „darf ihre je eigene Intention nicht übersehen werden. Dabei ist zu überlegen, ob und inwieweit die drei Teilaspekte ihrerseits eine wechselseitige Verklammerung implizieren“: - Das Osterereignis habe zunächst „eine primär nach vorn weisende Funktion: […] Die Auferweckung bedeutet, dass die das irdische Dasein beherrschende Allgewalt des Todes gebrochen ist und die Kraft des neuen Lebens bereits wirksam wird.“ - Rückblickend lasse die Auferweckung Jesu die menschliche Vergänglichkeit erkennbar werden: „Wo es um Überwindung des Todes geht, rückt gleichzeitig die Todverfallenheit des Menschen in das Blickfeld. […] Mit dem Sieg über die Macht des Todes vollzieht sich die Befreiung des Menschen aus seiner Verstrickung, Sünde und Schuld werden aufgehoben.“ – Von enormer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Initiative zu dieser Befreiung von Gott ausgeht: „Daher ist Jesu Sterben kein von Gott gefordertes oder ihm gegenüber notwendiges Opfer; bei dem von ihm erlittenen Tod handelt es sich um die durch Gottes eigenes Handeln bewirkte Überwindung der menschlichen Abwendung von Gott samt allen Folgen der Gottentfremdung für das Leben.“339 – Deshalb lasse sich sagen: „So ist Jesu Tod am Kreuz als Sterben für andere und als Sühneleiden zum Nucleus für die Befreiung aus aller Gottlosigkeit geworden, ganz gleich, wie tief Menschen darin gefangen sind. […] So ist bei aller Vielfalt der Aussagen über die heilstiftende Funktion des Todes Jesu die Überwindung der Sünde, ihrer Macht und ihrer Folgen, die gemeinsame Intention.“ - Für neutestamentliche Texte, „die Jesu Sendung oder Menschwerdung betreffen“, gilt: „In ihnen ist bereits das ganze Leben Jesu in seiner soteriologischen Dimension umfasst, da die
339
Hervorh. Verf. 146
Sendung durch Gott das ganze Leben bis hin zum Kreuzestod und zur Auferstehung mit einschließt. […] Die Heilswirklichkeit ist in der Einmaligkeit seiner Geschichte präsent.“ - Zusammenfassend könne gesagt werden: „Insgesamt geht es […] darum, dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus als solche heilstiftenden Charakter besitzt, was die verschiedenen soteriologischen Aspekte einschließt. Eine Vereinigung der drei Aspekte kann nur gewonnen werden, wenn sie in ihrer je besonderen Dimension gesehen werden.“ – Unterschiedliche Verknüpfung und Schwerpunktsetzung sei nie als Vereinseitigung zu verstehen: „Natürlich ist bei einer theologia crucis das Menschsein oder die Menschwerdung ebenso vorausgesetzt wie die Auferweckung Jesu; umgekehrt sind Menschwerdung und Tod Jesu notwendige Bedingungen einer theologia ressurectionis, und eine theologia incarnationis schließt Tod und Auferweckung selbstverständlich ein.“
c) Abschließende Überlegungen Für eine gegenwärtige Interpretation der Soteriologie des Neuen Testaments ist vorab die Einsicht zentral, „dass es im Urchristentum mehrere Modelle gab, die nebeneinander Berechtigung hatten.“ Daraus ist abzuleiten, dass einseitige Betonungen soteriologischer Aspekte in der Kirchen- und Theologiegeschichte mit guten Gründen einer biblischen Korrektur bedürfen: - Auf keinen Fall dürfe „die Relevanz der Auferweckung Jesu […] im Zusammenhang mit der Rettungstat Gottes […] übersehen werden. […] Dass Gott der Gott des Lebens ist und neues Leben schafft, ist eine grundlegende biblische Erkenntnis.“ - Daneben sei ebenso „das Verständnis der Menschwerdung Jesu im Sinn der Partizipation des Offenbarers an unserer gesamten menschlichen Wirklichkeit“ zu beachten, was in gewissem Sinn die „zunehmende Verlagerung auf die Weihnachtsfrömmigkeit gegenüber der Oster- und der Passionsfrömmigkeit“ erklären könne. - Unabhängig von den „Verstehensschwierigkeiten“, auf die „Aussagen über die soteriologische Funktion des Todes Jesu in der heutigen Zeit“ häufig stoßen, dürfe in Theologie und Verkündigung „die Frage nach einem rezipierbaren Verständnis des Todes Jesu nicht übergangen werden.“ – Im Einzelnen ist zu bedenken: 1. In der Vergangenheit sei es „zu einer erheblichen Fehldeutung des Sündenbegriffs gekommen, als ob es um einzelne Übertretungen oder deren Summe ginge. Die Ur-Sünde ist die Abwendung von Gott.“ 2. Weiterhin hätten „sich weitreichende Missverständnisse im Blick auf Jesu Tod ergeben. Das hing damit zusammen, dass die kirchliche Tradition sich viel zu stark auf die Opfervorstellung konzentriert hat, die im Neuen Testament nur am Rande begegnet und unter 147
Voraussetzung der sonstigen Aussagen über die soteriologische Funktion des Todes Jesu verstanden sein will. […] Nach neutestamentlichem Zeugnis ist Jesu Tod keine Gott gegenüber notwendige Tat, sondern steht unter dem Vorzeichen, dass es ein Offenbarungsereignis ist, das uns zugute kommt.“340 3. Von entscheidender Bedeutung sei, „dass das Sterben Jesu nicht isoliert wird, sondern im Zusammenhang mit seinem Leben und Wirken gesehen wird, wodurch Heil ein-fürallemal verwirklicht und zugänglich geworden ist. […] Trotz der im Neuen Testament begegnenden Auffassung, dass der Tod Jesu das Werk feindlich gesonnener Menschen war, ist sein Sterben am Kreuz ebenso wie seine Auferweckung ein integraler Bestandteil seines Auftrags gewesen, weswegen es in der urchristlichen Verkündigung darum ging, gerade auch die soteriologische Dimension des Todes Jesu zum Ausdruck zu bringen.“ 4. Hilfreich erweisen könne sich der Gedanke der ‚Proexistenz‘, den der Exeget Heinz Schürmann (1913–1999) geprägt hat:341 „Wenn Jesu ganzes irdisches Wirken unter diesem Vorzeichen stand, dann ist auch der Kreuzestod Ausdruck seiner Hingabe für andere. Jesu Tod ist Konsequenz seiner bedingungslosen Solidarität mit den Menschen, was bedeutet, dass Gottes Offenbarungshandeln bis in die Tiefen menschlicher Existenz hineinreicht. […] Was Jesu ganzes Leben auszeichnet, gilt gerade auch für seinen Tod. Die Befreiung von Sünde und Schuld lässt uns die Nähe und das rettende Handeln Gottes erfahren.“ 5. „Die vielfältig variierten Aussagen über Jesu Sterben ‚für uns/die vielen‘, als stellvertretendes Sühneleiden, als Loskauf, Befreiung, Versöhnung und als metaphorisch verstandene kultische Handlung stehen alle unter dem Vorzeichen, dass die Gemeinschaft mit Gott neu erschlossen werden soll.342 […] Wenn das gesehen wird, dann ist auch der Stellvertretungsgedanke, wonach jemand etwas auf sich nimmt, was ein anderer hätte tragen müssen, nicht so schwer nachvollziehbar, wie oft behauptet wird.“ 6. „Von entscheidender Bedeutung ist, dass gerade auch Jesu Tod unter dem Vorzeichen der offenbar werdenden Liebe Gottes steht. Das gilt für die zentrale Aussage von Joh 3,16 […]. Entsprechend heißt es in Röm 5,8: ‚Gott hat seine eigene Liebe zu uns dadurch erwiesen, dass Christus, als wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist‘, ein Satz, der in dem Abschnitt
340
341
342
Hervorh. Verf.; ebd., 410: Missverständnisse bezüglich des Todes Jesu ließen sich vor allem zurückführen auf „die seit Anselm von Canterbury (gest. 1109) sehr verbreitete Satisfaktionslehre, als ginge es um eine unerlässliche Genugtuung für begangenes Unrecht vor Gott, weshalb Christus stellvertretend für die Menschen dieses Opfer habe darbringen müssen.“ vgl. HEINZ SCHÜRMANN, Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, dort bes. 286ff: „,ProExistenz‘ als christologischer Grundbegriff“. Hervorh. Verf. 148
Röm 8,31–39 breit entfaltet wird. Es ist Gott, der sich uns zuwendet, der seine rettende Liebe erweist und der nach 2 Kor 5,19 Versöhnung stiftet.“
AUFERSTEHUNG und ERHÖHUNG Lk, Apg, Offb, 1 Kor 15, Mt 28,18ff, Phil 2,9ff, Kol 1,18bff
MENSCHWERDUNG
1 Thess, AUFERSTEHUNG Röm 10,9, und PARUSIE Röm 4,25
Joh, 1 + 2 Joh, Phil 2,6ff, Hebr 2,17f
Paulus, Hebr, Joh 3,16, 1 Petr, 1 Joh, Mk 10,45
Mk, Mt, Lk VORÖSTERL.
KREUZ und
WIRKEN
STERBEN
Schema Soteriologie I: Die geschehene Errettung des Menschen
149
7.
Konvergenzraum Soteriologie II: Heilsbotschaft und Gesetz
a) Zur Situation des Urchristentums343 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass „nach alttestamentlicher Auffassung die Treue zum Gesetz als Voraussetzung für die Teilhabe am Heil“ galt; weil Gott in Jesus Christus auf neue Weise soteriologisch gehandelt hatte, stellte sich für die ersten Christen „die Frage nach dem Verhältnis zum Gesetz […], und zwar sowohl hinsichtlich des Sünderseins als auch des Errettetseins des Menschen. Hierauf sind im Urchristentum sehr verschiedene Antworten gegeben worden.“ – Auszugehen ist von folgenden gemeinsamen Voraussetzungen: - Hinsichtlich des sprachlichen Befunds kann gelten, „dass der Begriff νόμος, ‚Gesetz‘, im Neuen Testament gemäß hellenistisch-jüdischem Sprachgebrauch generell für ‚Tora‘ gebraucht wird“; während damit „in der Regel die Gesamtheit des Pentateuch“ gemeint ist, „bezieht sich ἐντολή/ἐντολαί auf Einzelgebote.“ - In nachexilischer Zeit setzte sich im Blick auf das alttestamentliche Gesetz „ein Gesamtverständnis“ durch: „Die Tora im Sinn des Pentateuch wird als göttliche Gabe und als integraler Bestandteil des Bundes Gottes mit Israel verstanden. Sie ist gemäß der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ‚ תורהWeisung‘ für das Leben des erwählten Volkes. […] Grundsätzlich ist das alttestamentliche Gesetz Ausdruck des Willens Gottes, und dabei geht es um den Weg zum Heil (vgl. etwa Dtn 32,45–47).“ - Zunächst ist „das Gesetz Grundbestand der Jüdischen Bibel und damit auch der Bibel des Urchristentums […]“; darüber hinaus „geht es in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen jüdischen Verständnis um eine eigene christliche Deutung des Gesetzes“, deren Basis „Jesu Stellung zum Gesetz“ bildet.
b) Jesu Stellung zum Gesetz344 Auch wenn davon auszugehen ist, dass die Jesusüberlieferung der Evangelien „von nachösterlichen Interpretamenten überlagert“ ist, lassen sich „deutliche Anhaltspunkte“ erkennen, „die sein eigenes Gesetzesverständnis“ erschließbar werden lassen:
343 344
ebd., 337f. ebd., 338f (Hervorh. Verf.). 150
- Es ist unbestreitbar, „dass Jesus Gebote der Tora bewusst übertreten hat“, was „zu zahlreichen Konflikten mit jüdischen Schriftgelehrten“ führte. Dabei ging es ihm darum, deutlich zu machen, dass mit Anbruch der „Gottesherrschaft bestimmte Ordnungen nicht mehr bzw. nicht mehr uneingeschränkt gelten“: 1. Exemplarisch sei zunächst „die Sabbatordnung“ genannt; Texte wie etwa Markus 2,23 ff parr oder Lukas 14,2ff zeigen: Jesus legte vor allem darauf Wert, „dass der Sabbat um des Menschen und seines Heiles willen von Gott angeordnet“ wurde. 2. Dass er „in die Kultordnung eingegriffen“ hat, ist als „Zeichenhandlung“ anzusehen, „die durch die Vertreibung der Opfertiere deutlich machte, dass die Zeit des irdischen Tempels zu Ende geht, wenn die Gottesherrschaft aufgerichtet wird“ (Mk 11,15ff parr; Joh 2,14ff). 3. Grundsätzlich stand sein Wirken „unter dem Vorzeichen des zweifellos auf Jesus zurückgehenden Wortes Mk 2,21 parr, dass ein neuer Flicken nicht auf das alte Kleid passt und dass junger Wein alte Schläuche sprengt […].“
- Aufschlussreich sind daneben bestimmte programmatische Texte, die zeigen, „welche Bedeutung die Tora für Jesus gleichwohl besaß“: 1. So zeigt der „im Grundbestand“ auf Jesus selbst zurückführende Abschnitt Matthäus 5,21ff ein Doppeltes: Bestimmte Gebote sind „für ihn angesichts der anbrechenden Gottesherrschaft nicht mehr erforderlich“ (Schwurgebot oder Vergeltungsregel; Mt 5,34a.39a), andere hingegen „werden in einer neuen, sehr viel konsequenteren Weise“ interpretiert (Verbote der Tötung, des Ehebruchs; Mt 5,22.28). 2. Insgesamt gilt: Mit dem Anbruch der Gottesherrschaft kommt es zu einer umfassenden „Erneuerung, […] bei der einzelne Ordnungen der Tora ihre Bedeutung verlieren. Andererseits enthält die Tora Grundelemente, die bleibende Gültigkeit haben.“ 3. Die maßgebliche „Frage, von welchem Zentrum her die Tora zu deuten“ sei, beantwortet Jesus, indem er das Doppelgebot der Liebe als „das richtungsweisende Herzstück der Tora“ (Mk 12,28ff parr) in den Mittelpunkt stellt: „Es geht also um ein Verständnis, bei dem die Tora in ihrer überlieferten Form einer Konzentration und einer Transformation unterzogen wird, ohne aufgegeben zu werden. Heilsrelevant ist das Gesetz […] allein dort, wo es in Einheit mit der eschatologischen Botschaft erfasst und wo im Bereich des anbrechenden Heils der wahre Wille Gottes verwirklicht wird.“
Es bleibt festzuhalten: Trotz einer großen Bandbreite in der Frage der Bedeutung der Tora im Neuen Testament „geht es […] um die Relevanz des sich verwirklichenden Heils im Blick auf den im Alten Testament artikulierten und dort als heilsrelevant angesehenen Willen Gottes.“
151
c) Die Zusammengehörigkeit des Gesetzes und der Heilsbotschaft: Matthäus, Jakobus und die Offenbarung des Johannes345 Es darf als „Anliegen der judenchristlichen Gemeinschaft“ gelten, die „Verbindung der Heilsbotschaft mit dem Gesetz“ zu betonen; diese Position sei „bis in das ausgehende 1. Jahrhundert zu beobachten“ und manifestiere sich vor allem im Matthäusevangelium, im Jakobusbrief und in der Offenbarung des Johannes: (1) Das Gesetzesverständnis im Matthäusevangelium Matthäus kann als Beispiel gelten für eine im „späteren hellenistischen Judenchristentum“ vertretene „Konzeption“ der „Zusammengehörigkeit von Tora und Heilsbotschaft bei gleichzeitiger Offenheit für die Heidenmission“: - Die Passage Matthäus 5,17 bis 7,12 thematisiert grundsätzlich die Frage des Gesetzes: „In der Bergpredigt als der Lebensordnung für Jesu Jünger werden die entscheidenden Linien für das matthäische Gesetzesverständnis“ deutlich erkennbar: 1. Im Blick auf den „Eingangsabschnitt 5,17–20“ ist zentral, dass Matthäus „den Erfüllungsgedanken […] auf das Gesetz anwendet.“ Das bedeutet, „dass die einzelnen Bestimmungen des Gesetzes durch Jesu Auslegung ihre Erfüllung finden.“ So heißt es in 5,17: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ – Hier muss beachtet werden, dass „die Parallelisierung von Gesetz und Propheten“ wesentlich ist. – Entscheidend ist einerseits „die volle Anerkennung des vorgegebenen Textes der Tora“ (vgl. Mt 5,18), andererseits „die Realisierung des Gebotenen“ im Wirken Jesu (vgl. die sog. Reflexionszitate) und im Tun der Jünger gemäß 5,20: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ 2. In Matthäus 5,21ff werden einzelne Gebote „konsequent im Licht der Heilsoffenbarung verstanden.“ Auf diese Weise „sind alle Gebote im Sinn der Gebotsauslegung Jesu zu erfassen und handelnd zu verwirklichen. […] Es geht um eine volle Integration [!] der Tora in die Heilsbotschaft, und es geht zugleich um deren neues Verständnis, wie das analog für die prophetischen Verheißungen gilt.“ 3. Die in Matthäus 7,12 positiv formulierte Goldene Regel („Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“) schließt bezeichnenderweise mit den Worten:
345
ebd., 341ff (Hervorh. Verf.). 152
„Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Das heißt, dass „der Inhalt des erfüllten Gesetzes und der Propheten […] einer allgemeingültigen Regel“ gleicht. Dem entspricht, dass in Matthäus 22,40 das Doppelgebot der Liebe abgeschlossen wird mit den Worten: „In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ – Insgesamt gilt das Prinzip: „Die Antithesen in 5,21–48 und das Liebesgebot in 22,34–40 interpretieren sich gegenseitig.“ - Durchgängig gilt für Matthäus „die Gleichrangigkeit von Gesetz und Propheten“ […]: „Ist Jesus als Messias der Erfüller der Prophetie, so seine Interpretation des Gesetzes die Erfüllung der Tora“: 1. Nach Matthäus geht es „nicht um eine Reduktion, sondern um ein Verständnis der ganzen Tora von ihrem durch Jesus sichtbar gemachten Zentrum her.“ – Im Einzelfall heißt das, Vorschriften „können […] radikalisiert werden, können aber auch beiseitegelassen werden, wenn sie angesichts der Heilswirklichkeit nicht mehr erforderlich sind.“ 2. Letztlich bedeute das: Die „Verschmelzung der Tora mit der Heilsbotschaft“ führt dazu, „dass die einzelnen Gebote eine andere Zuordnung und Gewichtung erhalten. […] Das Liebesgebot […] ist der Maßstab, nach dem die Relevanz der Einzelgebote zu beurteilen ist.“ 3. So verstanden kommen auch im eschatologischen Gericht „andere Maßstäbe“ zum Tragen, wie die Bildrede vom Weltgericht in Matthäus 25,31ff deutlich machen wird (vgl. 10. c)).
(2) Das Gesetzesverständnis im Jakobusbrief Auch der Jakobusbrief ist einzuordnen in die „Tradition des hellenistischen Judenchristentums.“ Als insgesamt entscheidend gilt „die bekenntnisartige Aussage“ in 4,12: „Einer ist der Gesetzgeber und Richter, der selig machen und verdammen kann“: - Es ist zu beachten, dass „die Herkunft des Gesetzes von Gott […] außer Frage“ steht; wenn es in 1,25 als „das vollkommene Gesetz der Freiheit“ und in 2,8a als „das königliche Gesetz“ bezeichnet wird, dann ist „im Sinn der Botschaft Jesu“ durchaus „eine Konzentration auf das in 2,8b ausdrücklich zitierte Liebegebot“ impliziert. - Gleichzeitig gilt, dass das Gesetz „als Maßstab für alles menschliche Handeln eine wesentliche Funktion beim Jüngsten Gericht“ haben wird: „Diejenigen, die es im Sinne Jesu verwirklichen“, sollen gemäß 2,12 „durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden“, wobei 2,13 betont, es werde „ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat“; gleichwohl bestehe die Hoffnung, dass (göttliche) „Barmherzigkeit … über das Gericht“ triumphiere. - So vertritt auch Jakobus eine Integration des Gesetzes in die Heilsbotschaft „bei gleichzeitiger Konzentration auf das Liebesgebot. […] Heilsrelevant ist es nur bei der Teilhabe an der Gottesherrschaft (2,5).“
153
(3) Das Gesetzesverständnis der Johannesoffenbarung Auch für die gleichfalls zum Bereich „hellenistisch-judenchristlicher Tradition“ zählende Offenbarung des Johannes gilt, dass „die Beachtung der ‚Gebote Gottes‘ in Verbindung mit dem ‚Zeugnis‘ der Glaubenden vorausgesetzt“ wird; so ist in 12,17 (ähnlich wie in 14,12) von den Menschen die Rede, „die Gottes Gebote halten und haben das Zeugnis Jesu.“ – Im Blick auf „das Nebeneinander von ‚Wort Gottes‘ und ‚Zeugnis‘, an dem die Blutzeugen festgehalten haben“, ist davon auszugehen, dass „das Wort Gottes […] hier als der im Alten Testament offenbarte Wille Gottes“ zu verstehen ist (vgl. 1,9, 6,9, 20,4).
d) Die Heilsverkündigung in Spannung zum Gesetz: Paulus (und Markus)346 Im Gegensatz zur hellenistisch-judenchristlichen Position „gab es frühzeitig eine andere Tendenz, bei der die Heilsrelevanz des Gesetzes bestritten“ wurde; diese „ging von den ‚Hellenisten‘ aus“ und fand „bei Paulus eine volle Ausprägung“: Das Gesetz „behält […] als Verheißung und Willensäußerung Gottes Bedeutung, kann aber keinesfalls mehr Bestandteil des Heilswegs sein“: (1) Kurzer Abriss der geschichtlichen Entwicklung Bei „den aus der Diaspora stammenden Judenchristen Jerusalems“, den sog. Hellenisten, fand „die gesetzeskritische und kultkritische Haltung Jesu“ eine stärkere Resonanz als unter den einheimischen Judenchristen: 1. Nach ihrer Vertreibung aus Jerusalem schufen die Hellenisten „in Antiochien am Orontes ein neues christliches Zentrum“ (Apg. 11,19). Dort wurde Heiden „Zugang zur christlichen Gemeinde gewährt, ohne sie zu beschneiden und auf das jüdische Gesetz zu verpflichten. Allein das führte dazu, dass das Gesetz keine heilsrelevante Funktion mehr besaß, dass vielmehr nach antiochenischer Auffassung Gesetz und Heilsverkündigung in Spannung zueinander standen.“ 2. Auf dem Apostelkonvent kam es „zu Auseinandersetzungen“, die sich in Galater 2,1ff und in dem Bericht in Apostelgeschichte 15 widerspiegeln: Nach Galater 2,6ff einigten sich Paulus und Barnabas als Vertreter Antiochiens mit dem Herrenbruder Jakobus, Petrus und Johannes als Vertretern Jerusalems auf den „durch Handschlag bestätigten Beschluss“, demgemäß „wir [d.h. Paulus und Barnabas] unter den Heiden, sie aber unter den Beschnittenen predigen
346
ebd., 346ff. 154
sollten“ (Gal 2,9b). – „Damit war die gesetzesfreie Heidenmission anerkannt. Das Gesetz galt weiterhin in Verbindung mit der Heilsbotschaft für die ehemaligen Juden, die Heiden waren dagegen nicht an das Gesetz gebunden, sie wurden unmittelbar mit dem Heil konfrontiert.“ 3. Während nach Galater 2 keine „am Gesetz orientierte Auflage“ mit dem Jerusalemer Beschluss verknüpft war, gilt das sog. Aposteldekret (Apg 15,20.28f) „als Minimalforderung für eine Tischgemeinschaft zwischen Judenchristen und Heidenchristen“, die wohl „erst später, vermutlich im Anschluss an den Streit des Paulus mit Petrus in Antiochien“ (Gal 2,11ff), formuliert wurde.
(2) Die Gesetzesauffassung des Markusevangeliums Das von Markus verfasste Evangelium steht wohl eher „der Gesetzesauffassung der Hellenisten“ nahe, auch bzw. weil dort „programmatische Äußerungen“ und „der Begriff νόμος“ fehlen. – Als entscheidend gilt „das Doppelgebot der Liebe“ (12,28ff), welches „den kultischen Opfern entgegengestellt wird“ (so 11,15ff). – Insgesamt ist für das Werk des Markus festzustellen: „Gesetzeskritik und Kultkritik gehören auch hier zusammen, ohne dass das Gesetz als solches in Frage gestellt wird.“ (3) Das Gesetzesverständnis bei Paulus Es ist anzunehmen, dass Paulus „in seiner Gesetzesauffassung Entscheidungen“ voraussetzt, „die bereits in der hellenistisch-judenchristlichen Gemeinde in Antiochien gefallen waren.“ Deshalb hat er auf dem Apostelkonvent in Jerusalem „die gesetzesfreie Verkündigung des Evangeliums unter Heiden verteidigt, weil das Gesetz als Heilsweg keine Rolle mehr“ für ihn spielte: (a) Das Ende des Gesetzes im Blick auf das Heil - Paulus kommt letztlich zu der Auffassung, dass die „Heilszueignung und Rechtfertigung“ prinzipiell „‚ohne Werke des Gesetzes‘“ (vgl. Röm 3,28) erfolge: „Was immer das Gesetz sonst bedeutet, es hat mit der Heilsbegründung nichts zu tun.“ – Für die Spitzen-Aussage in Römer 10,4, „Christus [sei] des Gesetzes Ende“ (τέλος γὰρ νόμου Χριστός) gilt, dass „die Bedeutung von τέλος im Sinn von ‚Ende‘ unbestreitbar“ ist. - Es entspricht dieser „Haltung des Paulus […], dass er bei seiner mit Barnabas unternommenen Reise nach Jerusalem den unbeschnittenen Heidenchristen Titus mitnahm“ (Gal 2,1) und sich Versuchen, „Titus zur Beschneidung zu zwingen“ um der „Wahrheit des Evangeliums“ willen widersetzt hat: „Das Gesetz hat keinerlei heilsbegründende Funktion mehr, deswegen darf es Heiden auch nicht auferlegt werden. Heil gibt es nur durch das Evangelium und den Glauben […].“
155
- Trotzdem gelte, dass „das Gesetz Bedeutung für ehemalige Juden“ behalte, denn jeder solle „nach 1 Kor 7,17–24 in dem Stand bleiben, in dem er berufen“ wurde, was für Juden heißt, „dass sie ‚unter dem Gesetz‘ (ὑπὸ νόμον, 1 Kor 9,20) stehen […].“ (b) Die Verheißungsfunktion des Gesetzes - In Römer 3,21 schreibt Paulus, „dass die offenbar gewordene Gerechtigkeit Gottes“ bereits „durch das Gesetz und die Propheten … bezeugt“ wurde. - Die Auslegung von Deuteronomium 30,12ff in Römer 10,5ff zeigt: „Die mit dem Gesetz verbundene Verheißung wahren Lebens […] wird nicht durch das Gesetz, das nur vorausweist, erfüllt, sondern durch und in Christus.“ – Das bedeutet: „Der Sinn der Tora ist in neuer Weise erschossen und kann deshalb auch neu expliziert werden. Die ganze Schrift wird konsequent vom Christusereignis her gelesen, verstanden und gedeutet […].“ (c) Gesetz und Sünde - Im Galaterbrief entfaltet Paulus, dass das Gesetz als „Zuchtmeister … auf Christus hin“ (3,24f: παιδαγωγός … εἰς Χριστόν) „einer Zwischenperiode zwischen der Verheißung und deren Erfüllung“ angehöre und deshalb darauf abziele, „die Sünde einzuschränken bis zum Anbruch des im Kreuzestod Jesu Christi verwirklichten Heils.“ - Im Römerbrief erörtert der Apostel „grundsätzlich […] das Verständnis des Gesetzes“ und schreibt ihm in 3,20b ebenfalls die Funktion zu, „Erkenntnis der Sünde“ zu ermöglichen: 1. Gemäß Römer 1,18ff sind „alle Menschen der Sünde verfallen und unterstehen dem Gericht Gottes“, in welchem dessen „offenbar gemachter Wille“ das Kriterium sei: das in der Tora gegebene Gesetz für die Israeliten (2,12) bzw. das „in ihr Herz geschrieben[e] Werk des Gesetzes“ (2,15) für die Heiden. 2. Weil nach Römer 5,12f in der „Frühgeschichte der Menschheit“ die Sünde „ohne Vorhandensein des proklamierten Gesetzes“ auch nicht anrechenbar gewesen sei, muss Paulus in 7,7a die Frage stellen: „Ist das Gesetz Sünde“? – Dies sei mitnichten der Fall: „Das Gesetz ist und bleibt Ausdruck des Willens und der Rechtsforderung Gottes“, auch wenn es aufgrund der Sünde „eine negative Funktion“ wahrnehme: „So ist also das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut“ (7,12). 3. Die Aussage aus Römer 5,20a, das Gesetz sei „dazu bestimmt […], die Sünde übergroß zu machen“, wird im zweiten Teil des Verses soteriologisch fortgeführt: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden.“
156
- Gemäß den Aussagen im Römer- und Galaterbrief „ist eindeutig, dass das Gesetz die Sünde nicht überwinden“ kann, vielmehr die „Heilsbedürftigkeit des Menschen“ aufdeckt. Entsprechend gilt Römer 7,7ff als „unablässige Erinnerung an die Situation, aus der wir herkommen. Sich dessen stets bewusst zu bleiben, ist die fortdauernde Bedeutung des Gesetzes auch für die Glaubenden.“ (d) Die Erfüllung des Gesetzes durch die Glaubenden - Gleichwohl weiß Paulus, dass das Gesetz „in neuer Weise Bedeutung für die Geretteten“ hat; so heißt es in Römer 3,31: „Heben wir das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.“ – Dort, „wo Sünde überwunden ist und Heil erfahren wird“, kann auch „die ursprüngliche Funktion des Gesetzes, dem Leben zu dienen (Röm 7,10), zum Tragen“ kommen. - Gemäß den paulinischen Paränesen (Röm 13,1ff; Gal 5,13ff) werden die „Einzelgebote […] der Tora“ in der Aussage „zusammengefasst: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘“ (Röm 13,9)! – In diesem Sinne „ist … die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (13,10).
e) Das Gesetz als Wegbereitung für das Heil: Lukas und der Hebräerbrief 347 Eine dritte Variante, sich urchristlich zum Thema Gesetz zu positionieren, ist bei Lukas und im Hebräerbrief erkennbar; dort spielt „das Gesetz als Voraussetzung und Wegbereitung für die Heilsoffenbarung eine Rolle“ und behält insofern „eine eingeschränkte Bedeutung im Zusammenhang mit der Heilsverkündigung […]“: (1) Das Verständnis des Gesetzes im lukanischen Doppelwerk Lukas kann für eine Position stehen, „die offensichtlich für die heidenchristliche Tradition, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts durchgesetzt hat, kennzeichnend ist.“ (a) Juden, Judenchristen, Heidenchristen und das Gesetz - Es versteht sich für Lukas von selbst, „dass fromme Juden an das Gesetz gebunden sind, daher wird deren Gesetzesobservanz mehrfach hervorgehoben“ (vgl. Lk 1+2, 10,25ff, Apg 5,34).
347
ebd., 355 ff. 157
- Dass er in Apostelgeschichte 2 und 3 im Blick auf die Urgemeinde „die Treue […] zum Tempel“ betont, zeigt, dass auch „Judenchristen […] für Lukas durchaus an die Tora gebunden“ sind; diesbezüglich zu beachten ist „auch die Beschneidung des Timotheus in 16,3 und die Übernahme eines Gelübdes in 21,23–26 durch Paulus.“ - Weiterhin verschweigt Lukas nicht, dass von „strengen Judenchristen […] die Einhaltung des Gesetzes auch für Heidenchristen verlangt“ wird; die Forderung nach „Beschneidung der Heiden und deren Verpflichtung auf die Tora“ mündet auf dem Apostelkonzil (Apg 15,20) in den Beschluss, dass „vier Minimalgebote […] mit Rücksicht auf die Judenchristen“ einzuhalten sind (Enthaltung „von Befleckung durch Götzen“, „von Unzucht“, „vom Erstickten“, „von Blut“). (b) Die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung des Gesetzes - Als programmatisch gilt, was der auferstandene Christus in Lukas 24,44 sagt: „Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen.“ - Demgegenüber betont Lukas 16,16: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes. Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes gepredigt … .“ – Dem entspricht die „zentrale Aussage“ in Apostelgeschichte 13,38f, dass Vergebung der Sünde verkündigt wird bzw. Rechtfertigung im Glauben geschieht „in all dem, worin [dies] durch das Gesetz des Mose“ nicht erfolgen konnte. - Indem Stephanus „seinen Blick auf den zur Rechten Gottes thronenden Menschensohn richtet, weist er ausdrücklich auf denjenigen hin, der allein Heil vermittelt“ (Apg 6,55ff); seine Grundsatzkritik (Apg 6,14: „Dieser Jesus von Nazareth wird diese Stätte [den Tempel] zerstören und die Ordnungen ändern, die uns Mose gegeben hat.“) macht deutlich, dass „Kultordnung und Gesetz in ihrer bisherigen Form aufgehoben“ sind. - Auch Paulus wird im Rahmen der Auseinandersetzungen, die die Apostelgeschichte schildert, „von jüdischer Seite vorgeworfen, […] seine Verkündigung“ richte sich „gegen das Gesetz“ (Apg 21,28), was letztlich bedeutet, dass es für den Apostel auf dem Hintergrund der „Christusbotschaft […] seine bisherige Stellung und Bedeutung“ eingebüßt hat.
Zusammenfassend gilt für Lukas, dass dem Gesetz „eine eingeschränkte Bedeutung“ zukommt, insofern es Juden die Möglichkeit eröffnet „dem Heil entgegenzugehen; […] um das Heil zu erreichen, bedarf es des Hörens auf das Evangelium und des Glaubens.“ – Für Heidenchristen ist das Gesetz „in seiner Verheißungsdimension relevant“ sowie im Blick auf „dessen Grundforderungen, wie sie im Aposteldekret“ formuliert sind; so hat es „auch für sie einen Verweischarakter auf das Heil und auf eine dem Willen Gottes entsprechende Existenzweise.“ 158
(2) Das Verständnis des Gesetzes im Hebräerbrief In der Konzeption des Hebräerbriefs wird einerseits „die Ablösung des alten Bundes durch den neuen betont“, andererseits „gleichwohl die vorausweisende Funktion des Kultes“ im Hinblick auf „den gemeinsamen Weg von Juden und Christen zum Heil und zur Vollendung berücksichtigt“: - Die den Kult betreffenden Gesetze bezeugen letztlich „die Unzulänglichkeit des irdischen Opferkultes“, der Erfüllung und Ende findet im „Opfertod Jesu Christi, seinem Eingang in das himmlische Heiligtum und seiner Darbringung des eigenen Blutes“ […]; so heißt es in 10,1: „ … das Gesetz hat den Schatten von den zukünftigen Gütern, nicht die Gestalt der Dinge selbst.“ - Weil es gemäß 7,19 „nichts zur Vollendung“ gebracht hat, liegt es nahe, dass zusammen mit dem Priestertum „auch das Gesetz verändert werden“ (7,12) muss. - Indem Christus als himmlischer Hoherpriester den Kult vollendet, können „die kultischen Bestimmungen des Gesetzes […] in ihrem ursprünglichen Sinn“ als überholt gelten. - Weil aber „die christliche Gemeinde als wanderndes Gottesvolk“ noch unterwegs ist, können Texte des Alten Testament „den Glaubenden helfen […], den rechten Weg zum Heil und zur Vollendung zu finden.“ – So ist von einer „typologischen Funktion“ bestimmter Teile der Tora auszugehen, die „der Ermahnung und Ermutigung dienen, was durch die Paränese in 12,4–13,19 ergänzt wird.“
f) Die Ablösung des Gesetzes durch das Gebot Christi: Johannes und die nachpaulinische Brieftradition348 In bestimmten „Spätschriften des Neuen Testaments“ zeigt sich, dass „das alttestamentliche Gesetz“ im Urchristentum schließlich „seine Eigenbedeutung“ gänzlich verloren hat: (1) Gesetz und Gebot in der johanneischen Tradition Als programmatisch gilt Johannes 1,17: „ … das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Diese Aussage ist – „synthetisch“ oder „antithetisch“ – so zu verstehen, dass „das Gesetz des Mose […] durch die Christusoffenbarung“ überboten wird: - Synthetisch interpretiert „besitzt Joh 1,17 eine vorausweisende Funktion“ gemäß 5,46: „Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.“ – In
348
ebd., 360ff. 159
diesem Sinn hat „die Erhöhung der Schlange in der Wüste durch Mose […] nach 3,14 Verheißungscharakter im Blick auf Jesu Tod.“ - Antithetisch verstanden wird 1,17 dort, wo „das „Gesetz im […] Zusammenhang mit der Heilsbotschaft keinerlei Funktion mehr hat“: 1. So wie „nicht Mose das wahre Himmelsbrot als die Gabe ewigen Lebens“ (6,32) brachte, Jesus aber „das Brot des Lebens ist“ (6,35), gilt nach 14,6, „dass es keinen anderen Weg zum Vater gibt als durch den Sohn, der seinerseits ‚Weg, Wahrheit und Leben‘ ist […].“ 2. Dem entsprechen „in Streitgesprächen mit ungläubigen Juden die zahlreichen Aussagen, die von der Tora als ‚euerm/ihrem Gesetz‘ sprechen (vgl. Joh 7,51; 8,17; 10,34; 15,25; 18,31; 19,7; vgl. auch 7,19–24).“ – In diesem Sinne ist das „für sich stehende Gesetz […] das Gesetz derer, die sich von Jesus abgewandt haben […].“ - An die Stelle des Gesetzes, dem keine „heilstiftende Relevanz“ mehr eignet, treten „die ‚Gebote‘ (ἐντολαί), die hier aber nicht die Einzelbestimmungen des Gesetzes sind, sondern die jetzt ergehenden Worte Gottes und Jesu“: 1. Von Jesus selbst gegeben, sind die Gebote „heilstiftende Worte und […] zugleich Gottes Worte und Weisungen […]. Es gilt, diese seine Gebote zu ‚halten‘ (τηρεῖν) und in ihnen zu ‚bleiben‘ (μένειν, 15,10). Allein dadurch haben die Jünger Anteil an ihm und am Heil.“ 2. Gemäß Joh 13,34 („Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt.“) ist das „Liebesgebot […] als Gebot Jesu, das in seiner Liebestat gründet (13,1), die Magna Charta für die Jüngerexistenz.“ Dabei geht es nicht mehr um „die alttestamentliche Voraussetzung“, vielmehr ist das Liebesgebot „im Sinn des Evangelisten das eschatologisch neue Gebot, das für die christliche Gemeinde gilt und die Tora als Ordnung für das Zusammenleben ablöst.“
Der 1. und 2. Johannesbrief gehen insofern noch einen Schritt weiter, als „dort vom alttestamentlichen ‚Gesetz‘ oder von ‚Mose‘ an keiner Stelle mehr die Rede“ ist. Es fällt auf, „dass nach 3,23f das Gebot Gottes darin besteht, an Jesus zu glauben und zu lieben: ‚Das ist sein Gebot, dass wir an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und uns untereinander lieben‘ […].“ – Insofern gilt: „An die Stelle des alttestamentlichen Doppelgebots der Liebe ist hier das Doppelgebot des Glaubens an Jesus und der Liebe untereinander getreten, wobei allerdings das Gebot der Liebe zu Gott im Hintergrund steht.“ – So besitzen Gesetz und Propheten des Alten Testaments Verweischarakter „auf die Heilsoffenbarung […] ohne noch eine ermahnende Funktion zu haben.“ – Das „Wort Jesu“ steht „als das endgültige Gebot Gottes“ dem „Wort und den Weisungen des Mose“ gegenüber; die Tora ist „ihrem wesentlichen Inhalt nach eingegangen in das heilstiftende
160
Wort und Gebot Jesu, das zugleich Wort und Gebot Gottes ist. In diesem Sinn ist das Gesetz durch das Evangelium und in ihm aufgehoben.“ (2) Das Gesetz in der nachpaulinischen Brieftradition Zunächst ist auffällig, dass das Themenfeld Gesetz in der nachpaulinischen Brieftradition – anders als in der johanneischen Theologie, wo es „immerhin noch reflektiert wurde,“ – als „weitgehend vergessen“ zu gelten hat: - Dies trifft bereits auf die Briefe an die Kolosser und die Epheser zu, „die aus der Paulusschule“ stammen: Während im Kolosserbrief „der Begriff ‚Gesetz‘“ keine Verwendung findet, ist in Epheser 2,14f davon die Rede, dass „das Gesetz, das in Gebote gefasst war,“ durch Christus „abgetan“ ist, was dem Einreißen des Zaunes gleichkommt, der Juden und Heiden trennte. – Gleichzeitig ist festzustellen, „dass wie bei Paulus selbst die Paränese und innerhalb dieser das Liebesgebot eine wichtige Rolle spielt (vgl. Kol 2,2; 3,14; Eph 4,2.15f; 5,2).“ - Innerhalb der Pastoralbriefe ist vom Gesetz „nur in 1 Tim 1,8f kurz die Rede.“ – Im Sinn der „Antithese von Gesetz und Evangelium“ (1,11) heißt es dort, „dass das Gesetz gut ist, wenn es jemand recht gebraucht,“ bzw. „dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, sondern den Ungerechten und Ungehorsamen … .“ – Gemäß Titus 3,9 sind „Zank und Streit über das Gesetz“ letztlich „für die Gemeinde irrelevant,“ weil „durch die ‚gesunde Lehre‘ […] für Glaube und Handeln alles geregelt“ sei. - Auch im Judasbrief „spielt das Gesetz […] keine Rolle“, während sich in 2. Petrus 2,21 „das ‚heilige Gebot‘ (ἁγία ἐντολή) […] auf die christliche Tradition“ bezieht bzw. in 3,2 ohne nähere inhaltliche Bestimmung „das Gebot des Herrn und Heilands“ genannt wird, welches durch die Apostel überliefert wurde.
Der aufgezeigte Bedeutungsverlust des Gesetzes „in der Spätzeit des Urchristentums“ hat seinen Grund zunächst in der Tatsache, „dass die strengen Judenchristen in den Hintergrund traten“; daneben war er „entscheidend verursacht durch die Auffassung, dass Jesu Weisung das Mosegesetz abgelöst“ habe. – Insgesamt ist von dem Befund auszugehen, dass die urchristliche Paränese mit dem Liebesgebot in der Mitte „weithin […] die Stelle des Gesetzes“ eingenommen hat.
161
8.
Fazit Soteriologie II: Heilsbotschaft und Gesetz349
Als Ergebnis der Entwicklung im Urchristentum ist zunächst zur Kenntnis zu nehmen, dass mit der Frage nach der Bedeutung des Gesetzes „das Problem, das bei Beginn der Heidenmission geradezu die Einheit der Christenheit zu sprengen drohte, gegen Ende des 1. Jahrhunderts weitgehend schon vergessen ist.“ – Wird daneben bedacht, dass die Schriften des Neuen Testaments den Zeitraum dieses Prozesses abdecken, dann kann es kaum verwundern, dass die dort vorfindlichen Positionen „einen äußerst komplexen Befund“ darstellen. – Insofern kommt auch Ferdinand Hahn zu der Einschätzung, dass „von einer Einheit des neutestamentlichen Gesetzesverständnisses kaum gesprochen werden“ könne. Gleichwohl unternimmt er auch hier den Versuch, „die Frage nach der inneren Zusammengehörigkeit der verschiedenen Entwürfe zu stellen.“
a) Gemeinsame Grundlinien Wichtigster Ausgangspunkt ist Jesu „Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft“, durch welche „die alttestamentliche Tradition erheblich transformiert“ wurde, was auch den Bereich des Gesetzes nicht unberührt ließ. Wird zusätzlich berücksichtigt, dass „schon die Propheten neue Perspektiven und Zukunftsvisionen“ aufzeigten (vgl. besonders Jeremia 31,31ff u. Hesekiel 36,25ff), dann kann deutlich werden, welch „weitreichende Konsequenzen“ letztlich „der tatsächliche Anbruch der Heilswirklichkeit […] für eine Neuinterpretation“ mit sich brachte. Auch wenn feststeht, dass Jesus prinzipiell „die eigentliche Intention des Gesetzes“ freilegen wollte, „waren seine Aussagen offensichtlich für die Jünger nicht in dem Sinne eindeutig, dass sich daraus eine geradlinige Folgerung“ ableiten ließ. – So stellt sich die Frage, ob dennoch „gemeinsame Voraussetzungen“ erkennbar sind. 1. Zunächst steht fest: „Nirgends wird bestritten, dass das alttestamentliche Gesetz von Gott erlassen ist.“ – Unabhängig von konkreten Modifikationen gilt, dass „die Tora nicht aufgehoben“ ist, auch wenn sie „ihre bisherige Funktion verloren“ hat. 2. Auslöser für Transformationen ist, dass mit dem Christusereignis „dem von Mose erlassenen Gesetz eine neue Willensoffenbarung Gottes“ gegenübertritt, so dass die bisherige Stellung der Tora „nicht mehr oder zumindest nicht mehr uneingeschränkt“ erhalten bleiben konnte.
349
ebd., 364ff. (Hervorh. i. O.). 162
3. Auch „dort, wo eine konsequente Ablösung vom Gesetz durch Jesu Weisung“ erfolgte, „ist mit dem durchweg festgehaltenen Liebesgebot eine Rückbindung an die einstige Willenskundgabe Gottes“ zu erkennen. – Dies habe seinen Grund darin, dass Jesus selbst „das mit der Gottesherrschaft in Zusammenhang stehende Liebesgebot als Zentrum“ ansah, „von dem her das ganze Gesetz zu erfassen“ sei.
b) Entscheidende Sachfragen Hahn geht davon aus, dass „die verschiedenen Modelle“, die neue christliche Heilsbotschaft und das Gesetz des Alten Testamentes aufeinander zu beziehen, im Blick auf „Entfaltung und Intention nicht auf einen Nenner“ zu bringen sind. – Kann dennoch „eine implizit vorhandene Einheit“ festgestellt werden? - In jedem Fall festgehalten wurde daran, dass „das Gesetz […] in seiner Funktion als Willensäußerung Gottes relevant“ sei, bzw. dass es „verbindliche[n] Charakter […] im Sinn eines mit den Propheten zusammengehörenden Verheißungszeugnisses“ habe. - Die Frage nach der „Heilsrelevanz“, welche „die alttestamentliche Tora ihrerseits beansprucht und die für jüdische Tradition konstitutiv ist“, wurde gleichwohl unterschiedlich beantwortet: 1. Das frühe Judenchristentum strebte „eine Verbindung von Gesetz und Heil“ an, wodurch „die alleinige Heilsfunktion des Gesetzes zumindest relativiert“ wurde. – Entsprechend ist im Matthäusevangelium „das Gesetz ganz mit der Heilsbotschaft verschmolzen, so dass dabei die alleinige Heilsrelevanz der Christusoffenbarung nicht in Frage“ stehe. 2. Wird die „Heilsrelevanz des Gesetzes“ bestritten, wie dies bei Paulus der Fall ist, behält es insofern „eine indirekte Bedeutung […], als die durch das Gesetz bewirkte Sündenerkenntnis dem Menschen seine Verlorenheit und Heilsbedürftigkeit“ aufzeigt. Gleichwohl steht fest, „dass es eine Rettung aufgrund der Toraobservanz nicht geben kann, sondern dass das Heil extra nos verwirklich ist und nur so empfangen und angenommen werden kann.“ 3. Wenn „das Gesetz als Weg zum Heil“ begriffen wird (Lukas, Brief an die Hebräer), so ist dies in dem Sinn zu verstehen, dass „es ein bedingtes Gerechtsein oder ein Streben nach Vollendung aufgrund des Gesetzes“ gebe, „das Heil im Sinn der eschatologischen Botschaft Jesu“ gleichwohl nicht erlangt werden könne. 4. Im Fall „der Ablösung des Gesetzes durch Jesu Weisung“, wie dies in der johanneischen Tradition erkennbar ist, wird einerseits gleichfalls „die Heilsrelevanz der Tora“ bestritten, andererseits „das von Jesus herausgehobene zentrale Gebot der Liebe als Ansatz für eine damit korrespondierende neue Willensäußerung Gottes verstanden.“ 163
- Alle Modelle gehen davon aus, dass das Gesetz „Gottes frühere Offenbarung“ darstellt, „deren vorausweisender Charakter“ nicht zu bestreiten sei. Auch im Fall der Ablösung des Gesetzes durch die Heilsbotschaft „wird dies so verstanden, dass der in ihr zum Ausdruck kommende Wille Gottes die Grundintention des alttestamentlichen Gesetzes unter eschatologischer Perspektive in sich aufgenommen hat. Darum kann die Tora auf ihre fundamentalen Elemente konzentriert werden: auf den Heilswillen und die Heilszusagen einerseits und auf das Gebot der Liebe andererseits.“ - Eine formal durchgeführte Differenzierung „in gültige, aufgehobene und typologisch zu deutende Teile“ ist im Urchristentum nicht erkennbar; doch auch im Hinblick auf „die ganze Tora“ gilt: „Wo alles Handeln unter dem Vorzeichen der Liebe steht, verlieren die konkreten institutionellen und rechtlichen Bestimmungen […] ihre Bedeutung, sind aber für die frühere Gottesoffenbarung gleichwohl kennzeichnend. Auch eine Ablösung der Tora bedeutet keine Auflösung, vielmehr eine Integration in die Heilsbotschaft.“
c) Abschließende Überlegungen350 1. Grundsätzlich gilt: „Trotz deutlicher Distanzierung kam es für das Urchristentum zu keiner abrogatio legis; das Gesetz als Willensoffenbarung Gottes blieb anerkannt, auch wenn die Heilsoffenbarung durchweg im Vordergrund stand. Von Anfang an ging es um die Frage eines neuen Verständnisses und einer eigenständigen Rezeption.“ 2. Entscheidende Kontinuität besteht darin, „dass der Mensch durch die Tora wie durch das Evangelium mit dem Willen Gottes konfrontiert wird, sowohl im heilstiftenden als auch in dem das Leben ordnenden Sinn. […] Das besagt, dass die Tora ein richtungsweisender Orientierungsmaßstab für christliches Handeln bleibt, auch wenn der Ratschlag an Stelle der Anordnung und der Einzelgebote tritt. Die Paränese löst das Gesetz nicht ab, sondern sie stellt die Transformation des Gesetzes unter den Vorzeichen des Glaubens und der Liebe dar.“ 3. Im Anschluss an „das paulinische Verständnis“ muss die „Spannung“ im Blick bleiben „zwischen dem Christusgeschehen als Ende des Gesetzes im Sinn des Heilswegs und dem Verständnis des Gesetzes als stete und unverzichtbare Anfrage an unser Menschsein […].“ – Paulus selbst führe dies zwar „nicht im Sinn eines simul iustus et peccator“ aus, weise die Glaubenden aber dennoch darauf hin, sich ihrer „Herkunft“ des Sünderseins bewusst zu bleiben.
350
Hervorh. i. O. (lateinische Begriffe) bzw. Verf. 164
4. Insgesamt „steht die Tora als Gabe an Israel zugleich für die Konfrontation mit Gott, von der der Mensch herkommt,“ sowie „die neutestamentliche Gesetzesauslegung für die Existenz im Lichte der durch Jesus erschossenen Nähe zu Gott.“ – Auch wenn es im Neuen Testament nur Paulus ist, der „die anthropologische Dimension des Spannungsverhältnisses von Gesetz und Evangelium“ explizit vertritt, sei „diese latent in allen Konzeptionen mitenthalten“, was nicht „übersehen werden“ dürfe. 5. Im Gespräch mit dem Judentum ist zu betonen, „dass es trotz aller kritischen Rezeption keine Verwerfung der Tora“ gibt, insofern diese „in ihrer Grundintention in die christliche Tradition eingegangen“ sei.
HEILSBOTSCHAFT
HEILSBOTSCHAFT
cum GESETZ
+ Gebot
Mt, Jak, Offb
Joh, 1 + 2 Joh
1. Atl. Gesetz von Gott 2. Χρ. als eschatologisches Heil 3. Liebesgebot = Zentrum der Tora
Lk, Apg, Hebr
Paulus
GESETZ ad
HEILSBOTSCHAFT
HEILSBOTSCHAFT
versus GESETZ
- ohne Standort: Eph, Kol, Past, 1 + 2 Petr, Jud Schema Soteriologie II: Heilsbotschaft und Gesetz
165
EXKURS 5: Gemeinsame Aspekte neutestamentlicher Ekklesiologie351 (1) Von grundlegender Bedeutung „für die Kirche“ sei „die Offenbarung Gottes in der Welt. So wie Jesus Mensch geworden ist, so ist die Sammlung des eschatologischen Gottesvolkes ein irdischer Vorgang“: - „Diese Sammlung hat zu Lebzeiten Jesu begonnen und sich in nachösterlicher Zeit fortgesetzt.“ – Während zunächst der Israelbezug „des sich sammelnden erneuerten Gottesvolkes“ bestimmend war, „trat alsbald der […] universal ausgerichtete Begriff der ‚Kirche‘ (ἐκκλησία) an deren Stelle“, der „die konkrete Ortsgemeinde wie die weltweite Glaubensgemeinschaft“ bezeichnet. - Diese Gemeinschaft „hat eine sichtbare Gestalt. Sie hat ihre Eigenheit jedoch darin, dass konkrete Welthaftigkeit und gleichzeitige Weltfremdheit zusammengehören.“ – Insofern sei die „Kirche auch stets in der Situation, missachtet, bedrängt und verfolgt zu werden.“
(2) Die Kirche als eschatologische Wirklichkeit: - Trotz der konkret sichtbaren Gestalt der Kirche realisiere diese sich als „eschatologische Wirklichkeit, die nur im Glauben erkannt und zum Ausdruck gebracht werden kann.“ - Deshalb sei sie „ihrem Wesen nach eine Erscheinung, die von der Wirklichkeit der Gottesherrschaft und des angebrochenen Heils begründet und durchdrungen ist. Sie steht als ‚Kirche Gottes‘ oder ‚Kirche Christi‘ in Zusammenhang mit dem endzeitlichen Handeln Gottes.“ - Alle Aussagen des Neuen Testaments zur Kirche „sind christologisch motiviert. Diesen Sachverhalt bringt der Text Mt 16,18f in aller Klarheit zum Ausdruck. Die ἐκκλησία wird als ‚meine Kirche‘ für die Zeit nach Ostern angekündigt. Das entspricht der Vorstellung von der βασιλεία Ἰησοῦ Χριστοῦ, ‚der Königsherrschaft Jesu Christi‘, die nach 1 Kor 15,25–28 von seiner Erhöhung bis zur Endvollendung“ bestehen wird. - Dies komme auch in der „Kennzeichnung als ‚neuer Bund‘ zum Ausdruck. Es ist die wiedereröffnete Verbindung mit Gott bei gleichzeitiger Verbindung untereinander.“ - Der von Paulus geprägte Begriff des Leibes Christi besagt: „Die Kirche ist einbezogen in die Heilswirklichkeit Christi und ist ihrerseits dazu bestimmt, in der Welt die Wirklichkeit Gottes und seines Heils erfahrbar werden zu lassen.“ – In den deuteropaulinischen Briefen an die Kolosser und Epheser „werden Kirche und Leib Christi identifiziert, umgekehrt aber wird Christus als ‚Haupt‘ von dem ‚Leib der Kirche‘ unterschieden.“
351
ebd., 502ff (Hervorh. Verf.). 166
- Bei Johannes sind die Bezeichnungen „der Kirche als Weinstock und als zusammengeführte Herde lebendiges Bild für die Gemeinschaft derer, die in die wechselseitige Beziehung von Vater und Sohn aufgenommen sind und darin ihre Einheit finden.“ - Nach dem Neuen Testament sei die Kirche „die weltweite und zeitübergreifende Gemeinschaft der Glaubenden zwischen Ostern und Parusie, die nach Phil 3,20 ihr Bürgerrecht im Himmel“ habe; während der Zeit der Kirche gehe es „um eine Existenz im Vorletzten. Im Letzten und Endgültigen wird die Kirche aufgenommen sein in die himmlische Wirklichkeit Gottes.“
(3) Einheit in der Vielfalt der neutestamentlichen Ekklesiologie: - Weil insgesamt „von einer deutlichen Konvergenz der vielfältigen Einzelaussagen“ die Rede sein könne, besitze „die neutestamentliche Ekklesiologie eine innere Einheit“; insofern sei die Kirche 1. „[…] eine konkrete Jüngergemeinschaft, die auf Erden lebt;“ 2. diese gehöre einer „eschatologischen, alles Irdische übergreifenden Wirklichkeit“ an, was 3. „[…] im Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus“ gründe. - Folgende „Komponenten“ würden in einzelnen „ekklesiologischen Konzeptionen“ verschieden gewichtet: „Israelbezogenheit“ bzw. „Universalität“, der Gedanke „des Erwähltseins und […] der inneren Zusammengehörigkeit“ bzw. die „Verantwortung in der Welt“, „Zukunfts- bzw. Jenseitsorientierung“ bzw. „Existenz in der Gegenwart“ und „das Bemühen um die Einheit der Kirche“.
(4) Abschließende Überlegungen: - Der spezifische Charakter der Kirche gründe in folgender „Doppelkomponente“: Im Zeitraum „zwischen Tod und Auferstehung Jesu Christi und der erwarteten Heilsvollendung“ werde „Heil bereits in der diesseitigen Gemeinschaft“ erfahrbar. – So dürfe es „weder zu einem Rückzug in eine jenseitsorientierte Innerlichkeit kommen noch zu einer rein diesseitigen Aktionsgemeinschaft.“ - Als „Kirche Jesu Christi“ lebe sie „von ihrer Beziehung zu dem gegenwärtigen erhöhten Herrn“ und habe „ihr Ziel in der Vollendung des Heils, wenn sie eingehen wird in die himmlische Wirklichkeit.“ - Als „irdische Glaubensgemeinschaft“ bediene sich die Kirche „weltliche[r]“ Formen, um „Ordnung“, „Zusammenhalt“, „Kontinuität“ und das Wahrnehmen „gemeinsame [r]
167
Verantwortung“ zu organisieren. Gleichwohl gilt: Wo nicht mehr zu erkennen ist, dass es bei aller Diesseitigkeit um eine Wirklichkeit geht, die das Irdische transzendiert, hat die Kirche ihren Auftrag verfehlt. Die Kirche bleibt nur dann Kirche, wenn diese Dimension eindeutig zum Ausdruck kommt.“ - Zum Wesen der Kirche gehöre „ihre Einheit;“ diese „hebt die Vielgestaltigkeit nicht auf und besteht in verborgender Weise auch dort, wo äußere Zusammengehörigkeit noch nicht erreicht“ sei.
9.
Konvergenzraum Eschatologie I: Voraussetzungen
a) Das christliche Verständnis der Hoffnung352 Um die Eschatologie des Urchristentums zu verstehen, ist zunächst „der neutestamentliche Begriff der Hoffnung“ zu bedenken; während die griechischen Worte ἐλπίζειν (hoffen) und ἐλπίς (Hoffnung) „allgemein die menschliche Erwartung“ bezeichnen, geht es im Sprachgebrauch des Neuen Testaments in der Regel „um eine Hoffnung, die im Glauben begründet ist und sich auf Gottes Zusage und Zukunft bezieht.“ – Der Begriff wird häufig von Paulus verwendet, begegnet aber auch in den Deuteropaulinen, im Brief an die Hebräer sowie im 1. Petrusbrief; in den Synoptikern sowie in den johanneischen Schriften fehlt er weitgehend: - Obwohl in Hebräer 11 und im lukanischen Doppelwerk (Lk 24,21, Apg 1,6, 28,20) auch von Hoffnung im Horizont des Alten Testaments die Rede ist, wird die urchristliche „Hoffnung auf das Heil“ (ἐλπὶς σωτηρίας, 1. Thess 5,8) meist „im Blick auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus verstanden; […].“ - Während Paulus in Römer 4,17ff „die Hoffnung als konstitutives Element des Glaubens“ versteht, legt er in 5,1ff zunächst dar, dass die „im Glauben angenommene Zusage und Verheißung […] die Rechtfertigung“ als „Frieden mit Gott“ einschließe; die mit solchem „Glauben zusammengehörende Hoffnung“ schaffe „die Zuversicht, dass wir mit der bereits erfahrenen Gnade auch dem Ziel der Hoffnung ohne Schaden entgegengehen können. […] Entscheidend ist, dass Hoffnung einen doppelten Bezug auf Teilhabe am gegenwärtigen Heil und auf Teilhabe an der zukünftigen Vollendung hat,“ was der Apostel in Römer 8,24 so formuliert: „ … wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“
352
ebd., 738ff. 168
- Im Brief an die Kolosser wird Hoffnung als „Hoffnungsgut“ (1,5: „ … um der Hoffnung willen, die für euch bereitliegt im Himmel … “) bzw. als „Hoffnung der Herrlichkeit“ in Jesus Christus (1,27) verstanden; in ähnlicher Weise wird im Epheserbrief (1,18, 4,4) und in den Pastoralbriefen (1. Tim1,1; Tit 2,13, 3,7) von Hoffnung gesprochen. - Hebräer 11,1 („Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“) legt Wert auf „die Zukunftskomponente […], so dass der Glaube hier geradezu von der Hoffnung her bestimmt wird.“ - Der 1. Petrusbrief bezieht sich demgegenüber ähnlich wie Paulus auf „den lebendigen Akt der Hoffnung“ (1,3.13.21).“
b) Heilsgegenwart und Heilszukunft353 Grundsätzlich gilt: „Das Spezificum der urchristlichen Eschatologie ist die Spannung zwischen gegenwärtiger Heilsverwirklichung und einer noch ausstehenden Zukunft […].“ Keine Schrift des Neuen Testaments befasse „sich nicht zumindest implizit“ mit dieser Thematik; von Bedeutung ist, dass hier der Horizont des Alten Testaments gesprengt werde: „Dass das endgültige Heil bereits mitten in der noch bestehenden Welt anbricht, war innerhalb der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition ein Novum. Jesus und die nachösterliche Gemeinde erhoben damit einen Anspruch, der nicht in die bisherige Geschichte des Heilszuwendungen Gottes einzuordnen war […].“ Dabei bildete das urchristliche Erleben „der Heilsgegenwart in Jesu Wort und Handeln, Tod und Auferstehung sowie in seinem Wirken durch den Heiligen Geist“ die entscheidende „Voraussetzung für die Erfahrung der bleibenden Gegenwart des Heils.“ – Als wichtiger „Leitgedanke“ erweist sich „das Motiv der ‚neuen Schöpfung‘ (καινὴ κτίσις)“: - Ein erster entsprechender Impuls „begegnet bereits in Jesu eigener Verkündigung, wenn er in den Bildworten von Mk 2,21f parr von dem neuen Flicken spricht, der das alte Kleid zerreißt, oder von dem jungen Wein, der die alten Schläuche sprengt.“ In ähnlicher Weise machen auch „die Gleichnisse von der Gottesherrschaft in Mk 4 parr“ deutlich, „dass etwas grundlegend Neues begonnen hat, das der Vollendung entgegenstrebt.“ - Paulus greift dies „in einem geradezu programmatischen Sinn“ auf, wenn er in 2. Korinther 5,17 schreibt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Durch das „Motiv der ‚Neuheit‘ (καινότης)“ ist auch die Tauflehre und Paränese des Apostels bestimmt (vgl. Römer 6,4, 7,6, 12,1f).
353
ebd., 740 u. 745ff. 169
- Eine ähnliche Terminologie begegnet auch in Titus 3,5 („Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist“), in Jakobus 1,18, 1. Petrus 1,23 und Johannes 3,1ff (Gespräch Jesu mit Nikodemus).
Während „überall von der gegenwärtigen Wirklichkeit des Heils gesprochen“ werde, zeigten sich hinsichtlich der konkreten Zuordnung „von Heilsgegenwart und Heilszukunft“ in den einzelnen Schriften des Neuen Testaments „erhebliche Unterschiede“, die „nicht ohne weiteres miteinander auszugleichen“ seien: - Zunächst sind diejenigen neutestamentlichen Konzeptionen zu nennen, „für die die Heilszukunft im Vordergrund“ stehe; dort werde die Heilsgegenwart so verstanden, dass sie „nach einer kurzen Zwischenzeit zur Vollendung“ hindränge. – Dies gelte für das Markusevangelium (Mk 13), die Offenbarung des Johannes und den 2. Petrusbrief sowie modifiziert ebenso im Blick auf das Matthäusevangelium, den Brief an die Hebräer und den Jakobusbrief; die damit verbundene „starke Naherwartung“ habe sich „bis in die Spätzeit des Urchristentums durchgehalten“, wie der 2. Petrusbrief zeige. - Demgegenüber liege bei Paulus eine „im wesentlichen ausgewogene Zuordnung von Heilsgegenwart und Heilszukunft“ vor, was ebenso auf den 1. Petrusbrief zutreffe. – Bei Lukas rücke „die Vollendungserwartung in eine fernere Zukunft“ und stelle auf diese Weise „den klaren Gegenpol zur gegenwärtigen Heilserfahrung dar.“ - Schließlich begegneten „neutestamentliche Schriften, in denen vor allem die Heilsgegenwart betont“ werde: 1. Dies gelte für die deuteropaulinischen Briefe an die Kolosser und die Epheser; vor allem die dort vertretene „Tauflehre mit der Auffassung vom Mit-Auferstandensein“ (vgl. Kol 2,13; Eph 2,5f) mache in „der Gemeinschaft der Glaubenden […] das Heil gegenwärtig bereits in vollem Umfang“ erfahrbar; auf diese Weise trete an die Stelle der „zeitlichen Spannung“ zwischen „Heilsgegenwart und Heilsvollendung“ letztlich „die räumliche von Erde und Himmel“ (vgl. Kol 3,1ff), wobei speziell „im Epheserbrief die Grenze zwischen Himmel und Erde geradezu aufgehoben“ sei (vgl. 1,10.22f, 4,15f). Ebenso würden die Pastoralbriefe „stark die Heilsgegenwart“ betonen, ohne dabei „die Zukunftsdimension“ zu unterschlagen (vgl. Tit 2,11ff, 3,4ff). 2. Eine noch deutlichere Herausstellung der Heilsgegenwart finde sich bei Johannes, was sich besonders dort zeige „wo vom ‚ewigen Leben‘ (ζωὴ αἰώνιος) die Rede ist.“ Obwohl hier „mit der Heilsgegenwart eine geradezu uneingeschränkte Zueignung des endzeitlichen Heils“ erfolge, werde „eine Zukunftsdimension“ nicht ausgeschlossen (vgl. Joh 14,3, 17,24); auf diese Weise käme „zum Ausdruck, wie eng Heilsanbruch und Heilsvollendung“ aufeinander bezogen seien. 170
c) Christliche Existenz im Vorletzten354 Auch bei Betonung „der Heilsgegenwart“ steht die menschliche Grunderfahrung „der Begrenztheit, der Vergänglichkeit und des Angefochtenseins“ außer Frage; dies bedeutet konkret: - Glaube als „lebendige Beziehung zu Gott und Christus“ bedürfe stets der Erneuerung, so dass „Anfechtung und die Gefahr des Abfalls […] immer wieder akut werdende Begleiterscheinungen im Leben jedes Christen“ sind. Dies wird beispielsweise in 1. Korinther 10,5ff und verschiedentlich im Hebräerbrief (2,1ff, 10,22ff, 12,12ff) angesprochen. - Im Blick auf Glaube und Hoffnung gehe „es um Bewährung in der Zeit der Drangsal“ (vgl. den griechischen Begriff ϑλῖψις in Mk 13,19; Joh 16,33; Offb 1,9 u.a.), welche für die Glaubenden in der Nachfolge ihres Herrn „eine Existenz unter dem Zeichen des Kreuzes“ einschließe (vgl. Mk 8,35ff parr; 2. Kor 6,4ff; Phil 3,10; 1. Petr 4,12ff). - Am Glauben festzuhalten beinhalte auch, mit der Möglichkeit „falscher Verkündigung und Lehre“ zu rechnen; dies sei dort der Fall, „wo das Evangelium nicht mehr als frohe und befreiende Botschaft verkündigt“ werde (vgl. Gal 3,1ff), „eschatologische Schwärmerei“ verantwortliche Lebensgestaltung verhindere (vgl. 2. Thess 3,6ff) oder eine „Überfremdung durch Vorstellungen“ gegeben sei, „die mit dem Evangelium nicht zu vereinbaren“ sind (vgl. Kol 2,8.16ff). – Dabei gehe es jeweils „um Grenzen, bei deren Überschreitung das christliche Zeugnis selbst preisgegeben“ werde. - Die christliche „Existenz im Vorletzten“ könne „auch Leiden um des Glaubens willen und gegebenenfalls Verfolgungen“ mit sich bringen (vgl. Mk 13,9ff parr). – Die dabei zu Tage tretende „Feindschaft der Welt“ (vgl. Joh 15,18ff) gewinnt „besonderen Ausdruck, wenn von der Macht des Bösen die Rede“ sei; in diesem Zusammenhang gilt: „Bei der Frage nach dem Bösen ist es […] unerlässlich, die Bedingtheit und Grenzen unserer Erkenntnis ernst zu nehmen.“ – Wenn in 2. Thessalonicher 2,3ff und in Offenbarung 13 „vom Antichristen“ die Rede ist, so „geht es gleichzeitig um die Glaubensgewissheit, dass die Macht des Bösen vor Gott nicht bestehen kann und definitiv beseitigt werden wird“ (vgl. 1. Joh 3,8b: „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.“).
354
ebd., 749ff. 171
EXKURS 6: Christliche Zukunftshoffnung und Apokalyptik355 (1) So wie bereits „Johannes der Täufer und Jesus in ihrem Denken und ihrer Verkündigung von der apokalyptischen Prophetie des vorchristlichen Judentums“ geprägt sind, gilt dies „weitgehend auch“ für die urchristliche Eschatologie, wenn von folgender Regel ausgegangen wird: „Eine Verkündigung, die grundsätzlich von der Jenseitigkeit des Heils bzw. einer alles Irdische übersteigenden Vollendung des Heils ausgeht, ist ihrem Charakter nach apokalyptisch.“ Auch wenn die alttestamentliche Prophetie „bis zur Exilszeit“ das künftig erwartete göttliche „Heilshandeln als ein innerweltliches Geschehen“ begriff, erhielt in „der spätalttestamentlichen und frühjüdischen apokalyptischen Prophetie […] die Heilserwartung eine unverkennbare Jenseitsdimension.“ (2) Weil aber in Jesu Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft „das endzeitliche Heil nicht rein zukünftig und jenseitig“ konzipiert war, „sondern sich bereits in Raum und Zeit zu verwirklichen“ begann, ist für das Neue Testament grundsätzlich von einem „nicht unerheblichen Verzicht auf apokalyptische Einzelmotive und Darstellungsmodelle“ auszugehen. – Gleichwohl wäre unzutreffend, „von einer Entapokalyptisierung zu sprechen, weil eine wesentliche Dimension des apokalyptischen Denkens zweifellos erhalten geblieben ist.“ (3) Die urchristliche „Vollendungshoffnung“ war „nur mit Hilfe von Bildern“ darstellbar; dabei „wurden weitgehend traditionelle Motive aufgegriffen“, was jedoch auf unterschiedliche Weise geschah: „Neben einem höchst sparsamen Gebrauch wie bei Paulus und einer starken Transformation im Johannesevangelium gibt es eine bewusste und sich verstärkende Verwendung apokalyptischer Vorstellungen, von Mk 13 angefangen über den 2. Thessalonicherbrief bis hin zu der Johannesoffenbarung sowie zu dem 2. Petrusbrief.“ – Für die Interpretation ist zu beachten: 1. „Bildmotive haben einen Verweischarakter und wollen in diesem Sinn verstanden werden.“ 2. „Aussagen über die Zukunft“ fußen auf einer zweifachen „Voraussetzung“: Einerseits „ist die irdische Wirklichkeit als Schöpfung Gottes ein Abbild des Himmlischen und damit auch ein ‚Schatten des Künftigen‘ (σκιὰ τῶν μελλόντων, Kol 2,17), so dass Hoffnung sich per analogiam bzw. via negationis Ausdruck verschaffen“ könne; andererseits bestehe ein „Zusammenhang mit der bereits in der Gegenwart erfahrbaren neuen Schöpfung, was […] im Vorblick Aussagen über die Vollendung“ ermögliche.
355
ebd., 768f u. 792; Hervorh. i. O. (lateinische Begriffe) bzw. Verf. 172
3. Verglichen mit der „frühjüdischen Apokalyptik“ seien die „urchristlichen Zukunftsaussagen“ gekennzeichnet durch „Konzentration und Beschränkung auf Zentralmotive“, so dass „in allen Fällen nur das jeweils Notwendige gesagt“ werde. Dies gelte „auch für die Johannesoffenbarung, obwohl hier die Tendenz zu stärkerer Veranschaulichung unverkennbar“ sei. 4. Während die „jüdische Apokalyptik […] nicht einseitig an der Zukunft orientiert“ sei, sondern „in der Regel ein umfassendes Bild der Geschichte“ bieten wolle, konzentriere „sich die christliche Apokalyptik auf die Verwirklichung und Vollendung des Heils“ und erstrecke „sich daher auf die Zeit von Jesu Wirken und Auferstehung bis zum Ende der Welt und der neuen Schöpfung“ (vgl. Mk 13 parr, Offb).
10. Konvergenzraum Eschatologie II: Aspekte der Zukunftshoffnung356 Auch wenn im urchristlichen Denken „die Hoffnung auf Vollendung eine innere Einheit“ bilde, werde sie in den neutestamentlichen Schriften „in verschiedenen Aspekten“ entfaltet; dabei gehe es „um die Wiederkunft Jesu, um die Totenauferweckung, um das Endgericht und um die totale Erneuerung der Wirklichkeit“:
a) Die Parusie Jesu356 Dass eine „endzeitliche Wiederkunft“ des auferstandenen Christus zu erwarten sei, „ist ein durchgängiges Thema im Neuen Testament.“ – Auch wenn „der Begriff ‚Parusie‘ (παρουσία)“ zunächst allgemein „die persönliche ‚Ankunft‘ und ‚Anwesenheit‘ in der Gegenwart“ bezeichnete (vgl. 1. Kor 16,17), wird er im Matthäusevangelium (24,3.27.37.39) und in der neutestamentlichen Briefliteratur (1. Kor 15,23; 1. Thess 2,19; Jak 5,7f; 1. Joh 2,28 u.a.) auch im „Sinne der ‚Wiederkunft‘“ gebraucht, was dann zu einer terminologischen Verfestigung führte: (1) Die Erwartung der Wiederkunft Die Erwartung der Parusie Christi stellt „eine sehr alte Tradition des Urchristentums“ dar, die „zunächst ganz schlicht formuliert war“, um dann mit „Vorstellungen […] aus der frühjüdischen Apokalyptik“ verbunden zu werden:
356
ebd., 770ff (Hervorh. Verf.). 173
- „Die älteste Gestalt der Parusieerwartung“ findet sich in zwei zentralen Texten des 1. Korintherbriefs: Einerseits „der in aramäischer Sprache überlieferte Gebetsruf ‚Maranatha‘, ‚unser Herr, komm!‘ (μαρανα ϑά […])“ in 1. Korinther 16,22, andererseits der Schluss der Abendmahlsüberlieferung in 1. Korinther 11,26: „ … sooft ihr von diesem Brot esst und von diesem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ – Daneben stehen weitere Texte, die die Parusie erwähnen (Joh 14,3; Phil 3,20b; 1. Thess 5,2; Jak 5,7f). - Damit verband sich „frühzeitig die Tradition von Dan 7,13f […], wonach der himmlische Menschensohn ‚auf den Wolken kommen‘“ werde, wobei darunter – anders als bei Daniel – „ein Erscheinen auf Erden“ verstanden wurde, „das allgemein sichtbar ist (ὄψονται).“ - 1. Thessalonischer 4,16 thematisiert „das Herabkommen des Herrn vom Himmel her bei einem durch Erzengelstimme ergangenen Befehl und dem Erschallen der Posaune Gottes […].“ Hier wird ein Motiv „aus der jüdischen Apokalyptik“ aufgenommen. – Auch in Offenbarung 19,11ff werde „mit Hilfe von Bildmotiven“ das Geschehen der Parusie beschrieben. - Dass zur Parusieerwartung „das Motiv des plötzlichen Kommens“ gehöre, lassen bereits Worte erkennen, die „aus Jesu eigener Verkündigung“ stammen (vgl. Luk 12,39 par, 17,24a par); das „Bildwort vom Dieb“ nimmt auch Paulus auf, wenn er in 1. Thessalonicher 5,2 schreibt: „ … ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.“ – Dabei gehe „es darum, dass der Mensch sich bei Jesu Wiederkunft in der rechten Verfassung“ befinde.
(2) Parusie und Weltende - Die eschatologische Rede Jesu in Markus 13,24f parr macht deutlich, dass mit der Parusie „das Ende der Welt […] verbunden“ sein werde; dieses wird „unter Heranziehung von Jes 13,10; 34,4 als Zusammenbruch der kosmischen Ordnung geschildert.“ – Andere Stellen des Neuen Testaments setzen „das Ende der Welt in Verbindung mit der Erwartung der Parusie“ voraus, ohne es gesondert darzustellen (Mt 28,20; 1. Kor 7,31). - Die Offenbarung des Johannes erwähnt „das Weltende nur zweimal“, neben Offb 20,11 in „der abschließenden Vision“ in 21,1: „ … ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.“ - Ausführlich zum Thema wird das Ende der Welt im 2. Petrusbrief, indem es in 3,5ff „mit der aus der Stoa übernommenen Vorstellung vom Weltenbrand“ (3,12) kombiniert wird.
(3) Das Betroffensein aller Menschen Insofern Jesu Wiederkunft für „alle Menschen“ Relevanz hat, bildet es durchaus „ein wesentliches Element der Verkündigung der Urchristenheit. Glaubende und Nichtglaubende“ sind jedoch „in unterschiedlicher Weise“ betroffen: 174
- Weil es mit „der Parusie […] zu einer erneuten unmittelbaren Begegnung mit der Person Jesu kommen“ wird, ist seine Wiederkunft für glaubende Menschen „Gegenstand der Hoffnung“ (vgl. 1. Thess 2,19; Joh 14,3; 1. Joh 2,28); indem „das Schauen von Angesicht zu Angesicht“ möglich wird, geht es um ein Erkennen Jesu in der Herrlichkeit „seiner himmlischen Gestalt“ (vgl. Joh 17,24; 1. Joh 3,2c, Kol 3,4). - Umgekehrt wird die Parusie für „die ungläubige Welt“ mit sich bringen, „dass allen die Augen geöffnet werden.“ Das bedeutet letztlich: „Die ganze Welt soll erkennen wer Jesus Christus ist, und vor dem erscheinen, der ‚in Gerechtigkeit richtet‘ (ἐν δικαιοσύνῃ κρίνει, Offb 19,11).“ – Das bis dahin nur für Glaubende erfassbare „Geheimnis des Reiches Gottes“ (Mk 4,11) wird dann „für alle Menschen offenbar“ werden. - Gemäß Römer 11,25ff ist für Paulus von großer Bedeutung, dass zur Erwartung der Wiederkunft Jesu „die endzeitliche Wiederbegegnung mit Israel“ gehört; nach der vorübergehenden „Verstockung Israels“, die zur Folge hatte, „dass […] die Vielzahl der Heiden das Evangelium vernehme“, soll im Rahmen der Parusie „ganz Israel gerettet werden“ (πᾶς Ἰσραὴλ σωϑήσεται, 11,26b). – Hahn interpretiert dies so: „Nach dem Gesamtzusammenhang von Röm 9–11 kann auch das nur eine Glaubensentscheidung sein, aber an die Stelle der gläubigen Restes aus Israel (11,1–6) wird dann ‚ihre Vielzahl‘ (τὸ πλήρωμα αὐτῶν, 11,12) treten.“
(4) Naherwartung und Parusieverzögerung Auch wenn an dieser Stelle „das Problem […] der Parusieverzögerung“ anzusprechen ist, kann davon ausgegangen werden, dass dieses Thema „für die Entwicklung der urchristlichen Verkündigung und Theologie nicht die Bedeutung hatte, die man ihm bisweilen“ zugemessen hat; dies gilt deshalb, weil die „Erfahrung der Gegenwart des Herrn […] viel zu stark [war], um eine ernsthafte Krise aufkommen zu lassen“: - Dass „die Naherwartung im ältesten Urchristentum eine Rolle“ spielte, wird u.a. in Römer 13,11 deutlich, wo Paulus schreibt, dass „unser Heil […] jetzt näher [sei] als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“ Entsprechend erwartete er, „bei der Totenauferweckung noch zu den Lebenden zu gehören (vgl. 1 Thess 4,17; 1 Kor 15,52).“ - Im „Vergleich der drei synoptischen Evangelien“ falle folgende Entwicklung auf: Während Markus 13,32ff Jesu „baldige[s] Kommen unreflektiert voraussetzt“, bezieht Matthäus das „auf Parusieverzögerung bezogene Gleichnis von den zehn Jungfrauen“ ein (25,1ff); ebenso lässt das lukanische Doppelwerk erkennen, das im Blick auf die Parusie „mit einer längerfristigen Wartezeit“ zu rechnen sei (so Lk 19,12ff). - Größeren Raum nimmt das Thema Parusieverzögerung vor allem im 2. Petrusbrief (3,9) ein, wo folgendes Argument geltend gemacht wird: „Der Herr verzögert nicht die Verheißung, 175
wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde.“
b) Tod und Leben357 Die Hoffnung auf „Auferweckung der Toten“ liegt erst in den „Spätschriften des Alten Testaments“ vor (vgl. Jes 25,8, Dan 12,2); sie wurde zur Zeit Jesu „nicht von allen Gruppen vertreten“ (vgl. Jesu Streitgespräch mit den Sadduzäern in Mk 12,18ff). – Man erwartete entweder eine „Auferweckung der Gerechten (vgl. Lk 14,14)“ oder aber „aller Toten, die sich dann vor dem Gottesgericht verantworten müssen (vgl. Apg 24,15).“ – Üblicherweise „wurde […] mit einer leiblichen Auferweckung gerechnet […].“ (1) Das Widerfahrnis des Todes - Während das Sterben zunächst „zur Geschöpflichkeit des Menschen“ gehört, steht es gleichwohl „auch in Zusammenhang mit der Verfallenheit an die Gottlosigkeit“, so dass es als „überschattet von dem ‚zweiten Tod‘ (Offb 2,11; 20,6.14; 21,8; vgl. Röm 6,23) im Sinn des Unheils und der Verlorenheit“ verstanden wird. - Im urchristlichen Denken hat das „Sterben […] den Schrecken verloren“, weil „die durch Sünde bedrohlich gewordene Macht des Todes“ durch den auferstandenen Christus besiegt sei; so heißt es in 1. Korinther 15,26: „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.“ - Für die Glaubenden gelte: „Wer die Taufe empfangen hat und dabei mit Christus gestorben und begraben ist, der wird mit Christus auferweckt werden (Römer 6,3–5.8) Das Leben ist zwar gezeichnet vom Tod (2 Kor 4,10), aber von dem bereits überwundenen Tod.“ - Einerseits wird „die Auferweckung der Toten“ üblicherweise „als ein künftiges Ereignis angesehen“ (so in 1. Thess 4,16); dies impliziert, den „Zwischenzustand als Todesschlaf“ zu verstehen; andererseits finden sich im Neuen Testament „Aussagen […], die von einer vollen Teilhabe am Leben im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sterben“ ausgehen (vgl. Lk 23,42f: „ … Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ bzw. Phil 1,21ff: „ … Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, … .“). Während bei Lukas der „Einfluss hellenistischen Denkens“ angenommen wird, stehen die paulinischen Gedanken „eindeutig im Kontext seiner sonstigen Aussagen.“ – Insofern ist für den Apostel davon auszugehen, dass er gemäß Römer 14,8 („ … wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“) eine „Form des Geborgenseins in Christus nach dem Tod“ annimmt, die eine „künftige Totenauferweckung“
357
ebd., 775ff. 176
nicht ausschließt. – Bestimmte Aussagen in der Offenbarung des Johannes sind ähnlich interpretierbar (vgl. Offb 6,9ff, 14,13).
(2) Die Bedeutung der Auferweckung Jesu - Dass „die Erwartung einer Totenauferweckung“ für das Neue Testament von grundlegender Bedeutung ist, lässt bereits Jesu eigene Botschaft erkennen (vgl. Mk 12,18ff parr). – Was die Jünger „aufgrund des Ostergeschehens“ erlebt haben, „ließ sich nur im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Auferweckung der Toten verstehen.“ Insofern entspricht „das Bekenntnis zu Jesus, den Gott ‚auferweckt hat‘“ (Röm 10,9b bzw. 4,23f), „der Vorstellung vom Handeln Gottes bei der künftigen Totenauferweckung.“ - Die Erwartung, dass sich an Christus „proleptisch ereignet [hat], was allen Glaubenden widerfahren soll“, findet sich maßgeblich in 1. Korinther 15,20, wo „der auferstandene Jesus als ‚Erstling unter den Entschlafenen‘ […] bezeichnet“ wird.
(3) Die Auferweckungshoffnung bei Paulus - Aufgrund von Todesfällen in der Gemeinde äußert sich der Apostel in 1. Thessalonicher 4,13ff „zur Erwartung künftiger Totenauferweckung“, indem er „die Parallele zu Jesu Auferweckung“ zieht: „ … wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die da entschlafen sind, durch Jesus mit ihm führen.“ – Zu beachten „ist die Doppelaussage, dass Gott ‚durch Jesus‘ handelt und die Verstorbenen ‚mit ihm‘ zum neuen Leben“ gelangen werden. - Ausführlich thematisiert Paulus „die Totenauferweckung“ in 1. Korinther 15, indem er erneut „die unlösbare Zusammengehörigkeit von Auferweckung Jesu und Auferweckung der Toten (V. 13–19)“ betont. Im Blick auf die Auferweckung Jesu „beruft er sich auf das grundlegende Bekenntnis und die Gemeinsamkeit der Verkündigung der Zeugen des Ostergeschehens (V. 1–11).“ Daneben geht es ihm um ein doppeltes Anliegen: „die leibhafte Auferstehung“ sowie „die Verwandlung“ derer, die bei der Parusie noch leben. – Indem er in 15,44 dem natürlichen Leib den künftigen geistlichen Leib gegenüberstellt, wird deutlich: „Die Leiblichkeit ist Kennzeichen des von Gott geschaffenen Menschen in seiner Personalität und IchIdentität, sie ist daher das Kontinuum zwischen seiner irdischen und seiner himmlische Existenz, womit auch die Notwendigkeit der Verwandlung“ zusammenhänge. In der Denkfigur der „Adam-Christus-Typologie“ heißt es schließlich in 15,49: „ … wie wir getragen haben das Bild des irdischen [Menschen], so werden wir auch tragen das Bild des himmlischen.“ – Bezüglich „der bei der Parusie Lebenden“ spricht Paulus in 15,51f von einem „Geheimnis“: „Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune … .“ 177
- Auch in Philipper 3 geht es dem Apostel um die Zusammengehörigkeit von „Totenauferweckung und Verwandlung“, wenn er in 3,20f im Blick auf „die Parusie Jesu Christi als des ‚Retters‘“ die Gewissheit zum Ausdruck bringt, dass dieser „unsern geringen Leib verwandeln wird, dass er gleich werde seinem verherrlichten Leibe nach der Kraft, mit der er sich alle Dinge untertan machen kann.“ - Im 2. Korintherbrief bekräftigt Paulus nochmals seine Überzeugung, dass die „Totenauferweckung in Entsprechung zur Auferweckung Jesu“ erfolgen werde (4,14) und führt seinen Gedankengang „mit bildhaften Motiven über die Verwandlung“ fort (5,1ff): Das Anliegen, „bekleidet und nicht nackt befunden [zu] werden“ (5,2), bezieht sich auf ein künftiges Offenbarwerden der Glaubenden „vor dem Richterstuhl Christi“ (βῆμα τοῦ Χριστοῦ, 5,10); dem „steht die Zuversicht des ‚Überkleidetwerdens‘ gegenüber, das Verwandlung und Teilhabe am ewigen Leben“ einschließen wird.
(4) Sonstige Aussagen über Auferweckung und ewiges Leben - In den johanneischen Schriften weisen „die Aussagen über Auferstehung und ewiges Leben“ einen „anderen Charakter“ auf: Joh 5,25ff bzw. 11,23ff zeigen, dass dem „Evangelisten […] alles daran [liege], sowohl das Ereignis der Totenauferweckung als auch die Teilhabe am ewigen Leben bereits mit der Heilserfahrung in der Gegenwart in Beziehung zu setzen […].“ Damit sei jedoch nicht in Abrede gestellt, „dass es Leben im Vollsinn auch und erst recht nach dem Tod geben“ werde; umgekehrt gelte: „Das Sterben tangiert die empfangene Wirklichkeit der Totenauferweckung nicht.“ – Wie die „Teilhabe an Auferstehung und ewigem Leben“ konkret gedacht werden könne, beschreibt Johannes nur insofern, „als er auf die Gemeinschaft mit Christus und das Gleichgestaltetwerden mit ihm hinweist (Joh 17,24; 1 Joh 3,2).“ - Ein mit der Auferweckung der Toten zusammenhängendes „Sonderthema“ stellt „das tausendjährige Reich“ in Offenbarung 20,1ff dar: Den Glaubenden wird in Aussicht gestellt, noch „vor dem Jüngsten Gericht und vor dem Erscheinen des neuen Himmels und der neuen Erde […] tausend Jahre mit Christus zusammen [zu] herrschen.“ – Hahn schlägt „eine metaphorische Bedeutung“ des Motivs vor: Es gehe „darum, dass die Glaubenden wie in der Gegenwart so auch in der Zeit des totalen Umbruchs in besonderer Weise die Nähe ihres Herrn erfahren und als erste an der Vollendung teilhaben werden.“ - Von grundlegender Bedeutung sei, „dass die Auferweckung der Toten als leibliche Auferweckung verstanden wird, weil es um die Ganzheit menschlicher Existenz“ gehe; dies könne gleichwohl nicht als „Wiederbelebung“ oder „fleischliche Auferweckung“ interpretiert werden, vielmehr im Sinn einer eschatologisch erneuerten Leiblichkeit.
178
c) Das Jüngste Gericht 358 Grundsätzlich gelte, dass die „Erwartung eines Endgerichts“ für das Neue Testament insgesamt konstitutiv sei; diese unterscheide sich jedoch von „den […] weitgehend aus der jüdischen Apokalyptik übernommenen Vorstellungen über das Gerichtsgeschehen“ und seien als „Hinweis auf einen Sachverhalt“ zu verstehen, „der sich bildhaft nur schwer umschreiben“ lasse: (1) Voraussetzungen der urchristlichen Gerichtsvorstellung - Im Alten Testament beziehe sich die Rede von „Gottes Gericht […] auf aktuelle Widerfahrnisse in der Geschichte.“ Erst in „nachexilischer Zeit“ seien „in der apokalyptischen Tradition zwei Grundmodelle […] eines Endgerichtes entstanden […]“: Einem Strafgericht, im Rahmen dessen „Unglauben“ und „Bosheit“ vernichtet werden sollten (so in 4. Esra 13) stand ein forensisches Gericht gegenüber, „bei dem die ‚Werke‘ des Menschen beurteilt werden und es demzufolge zu Rettung oder Strafe“ komme; dem entsprach „die unterschiedliche Erwartung der Auferweckung nur der Gerechten und der Auferweckung aller Toten […].“ – Als Richter wurde „Gott selbst“ erwartet bzw. der „an seine Stelle“ tretende „Menschensohn“ (vgl. äthHen 45f, 55, 71). - Als „noch ganz in der apokalyptischen Tradition“ stehend erweist sich Johannes der Täufer, indem er „das unmittelbare Bevorstehen und die bedrängende Nähe des Gottesgerichts betont“ und dabei „offensichtlich an ein forensisches Gericht“ denkt. - Im Neuen Testament begegnen sowohl die Vorstellung eines Vernichtungsgerichts als auch die eines Gerichts nach den Werken, „bei dem sich alle Menschen vor Gott zu verantworten haben […]. Das Bild von dem himmlischen Buch bzw. den Büchern, die bei dem forensischen Gericht aufgeschlagen werden, findet sich mehrfach […] (Lk 10,20; Phil 4,3; Hebr 12,23; Offb 3,5; 13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27).“ – Insgesamt ist „wechselweise vom Gericht Gottes und vom Gericht Christi die Rede“, wobei „Christus als Richter stets der Repräsentant Gottes“ ist, der „das Urteil im Sinn und im Namen Gottes“ spricht.
(2) Die Gerichtsthematik bei Jesus Anders als Johannes der Täufer „ist Jesus nicht Gerichtsprediger, sondern Bote des anbrechenden Heils.“ – Gleichwohl äußert auch er sich zum Thema Gericht:
358
ebd., 782ff. 179
- Zu nennen sind neben Gerichtsaussagen in einzelnen Logien vor allem diejenigen in Gleichnisreden, so in den Bildworten „von der engen und weiten Pforte Mt 7,13f, vom guten und schlechten Baum Mt 7,16–19 par“ und in den Gleichnissen „vom reichen Kornbauern Lk 12,16–21, vom Schalksknecht Mt 18,23–34 und von den anvertrauten Talenten Mt 25,14– 29 […]“. – Daneben fällt auf, dass bei Jesus auch „der Lohngedanke begegnet“, so etwa in Matthäus 6,1ff oder in 20,1ff. - Unabhängig davon, inwieweit alle in Frage kommenden Texte „in der überlieferten Form authentisch sind“, ist davon auszugehen, dass ein „Grundbestand mit Warnungen vor dem Endgericht“ auf Jesus selbst zurückgeführt werden kann. Weiterhin sei anzunehmen, dass „die Gerichtsaussagen im Laufe der Tradition verstärkt“ wurden, was besonders „in redaktionellen Elementen des Matthäusevangeliums“ festzustellen ist (vgl. Mt 13,24ff.36ff bzw. Mt 23). - Auch wenn Jesus die Gerichtsbotschaft und das Wirken Johannes des Täufers anerkennt und voraussetzt (vgl. Mt 11,7ff par), ist seine eigene Botschaft von der „Proklamation der Gnade Gottes und des in der Gegenwart anbrechenden Heils“ bestimmt. Dass im Horizont der Gottesherrschaft „andere Maßstäbe im Gericht“ gelten, geht u.a. „aus dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg Mt 20,1–16“ hervor; weil „das Handeln im Sinn des Liebesgebots“ Kriterium ist, „kommt es auch zu einer ganz anderen Entscheidung beim Endgericht, als viele das erwarten“, wie Matthäus 25,31ff deutlich macht, wo „die Vorstellung von Jesus als Menschensohn und königlichem Richter einbezogen“ wird.
(3) Das Endgericht bei Paulus Römer 14,10 und 2. Korinther 5,10 („ … wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, … .“) zeigen auf, dass auch Paulus eindeutig von einem „Gericht nach den Werken“ ausgeht. – Folgende Einzelheiten sind zu bedenken: - In Römer 1,18ff thematisiert der Apostel unter dem „Leitgedanken des bereits offenbar werdenden ‚Zornes Gottes‘ (ὀργὴ ϑεοῦ) […] das Gericht über die sündige Welt […]. Dem Gericht nach den Werken über alle Menschen entspricht, dass Gott selbst sich gerecht erweist, indem er richtet (3,4)“ (vgl. dazu u.a. 1. Kor 5,13; Phil 1,28). - Obwohl Paulus dessen gewiss ist, dass Christus „von dem zukünftigen Zorn“ erretten wird (1. Thess 1,10), geht er davon aus, „dass auch die Glaubenden vor Gottes Richterstuhl erscheinen“ werden müssen; dies „gilt trotz der so nachdrücklichen Betonung der bereits zugeeigneten Rechtfertigung.“ - In 1. Korinther 3,11ff wird dieses Geschehen konkret erläutert: „Im Gericht über die Glaubenden geht es nicht um Heil oder Unheil, wohl aber geht es um die Bewahrung und 180
Bewährung des Glaubens und um den Einsatz für das ‚Aufbauen‘, das οἰκοδομεῖν. Auch wenn einzelne Werke des Menschen im Gericht nicht bestehen können und daher verbrannt werden, steht die Rettung dennoch nicht in Frage“, wie 3,15b zu erkennen gibt: „ … er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch.“ – Dies will der Apostel so verstanden wissen, dass ein Abfall vom Glauben gleichwohl nicht ausgeschlossen sei, vor dem er deshalb warnt, „denn dieser führt zurück in die Heillosigkeit (vgl. 1 Kor 16,22; Gal 1,8f).“
(4) Die Gerichtsvorstellungen in den sonstigen Briefen - Während im deuteropaulinischen Kolosser- und Epheserbrief nur „ein geringes Interesse an der Gerichtsthematik“ festzustellen ist, findet sich in den Pastoralbriefen „eine bekenntnismäßige Aussage“, wenn dort die Rede ist von Christus, der als „der gerechte Richter […] richten wird die Lebenden und die Toten … “ (2. Tim 4,8.1). - In dem für die „urchristliche Paränese“ üblichen „eschatologtischen Ausblick“, den der Jakobusbrief in 5,7ff gewährt, findet sich der knappe Hinweis (5,9b): „Siehe, der Richter steht vor der Tür.“ - Der 1. Petrusbrief kommt „an mehreren Stellen auf das Gericht“ zu sprechen und geht insgesamt davon aus, dass „das Ende aller Dinge nahegekommen“ sei (4,7); in 4,5 wird die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass im Gericht „Rechenschaft [zu] geben sei dem, der bereit ist, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Es folgt die „inhaltlich auf den ersten Blick schwierige Aussage, dass auch den Toten das Evangelium verkündigt worden ist (καὶ νεκροῖς εὐηγγελίσϑη, vgl. dazu 3,19f),“ „dass sie zwar nach Menschenweise gerichtet werden im Fleisch, aber nach Gottes Weise leben im Geist.“ – Das besage, „dass das Gericht sich auf die irdische Existenz und menschliche Lebensweise bezieht, zugleich aber kraft des Geistes ewiges Leben“ eröffne. - In 2. Petrus 2,1ff „wird das Endgericht im Blick auf Irrlehrer behandelt.“ - Der Hebräerbrief ruft in 3,7ff und 10,23ff „angesichts des Nachlassens der Glaubenszuversicht“ dazu auf, „die Stimme Gottes zu hören und am Bekenntnis festzuhalten, um nicht dem Gericht zu verfallen.“ – Dass in 6,4ff bzw. 10,26 davon die Rede ist, es gäbe unter Umständen „keine Umkehrmöglichkeit und Rettung mehr“, habe „in der Alten Kirche zu einem Streit über die Aufnahme des Briefes in den Kanon geführt.“ - Auch in der Offenbarung des Johannes „spielt der Gerichtsgedanke durchgängig eine Rolle.“ – Ausgangspunkt des Gerichts „über die Welt“ ist die Übergabe des Buches „mit sieben Siegeln“ an das inthronisierte Lamm (5,1ff), „mit dessen Öffnung“ (6,1) das „Gerichtshandeln“ seinen Lauf nimmt. Zu einem „abschließenden Gericht“ komme es schließlich „nach Jesu Parusie“ (19,11ff); dieses vollziehe „sich in zwei Stufen“: vorab als „Vernichtungsgericht über die Mächte des Bösen“ (19,14ff bzw. 20,7ff), schließlich als „forensisches Gericht, 181
bei dem anhand der aufgeschlagenen ‚Bücher‘ geurteilt wird über Teilhabe am Heil oder Verfallensein an das Unheil“ (20,11ff). – Dabei wird interessanterweise unterschieden zwischen einer Mehrzahl von Büchern, welche maßgeblich sind für ein Gericht nach den „Werken“ (20,12), und dem e i n e n „Buch des Lebens“, das letztlich über Heil und Unheil entscheiden wird: „ … wenn jemand nicht gefunden wurde geschrieben in dem Buch des Lebens, der wurde geworfen in den feurigen Pfuhl“ (20,15).
(5) Die Gerichtsauffassung in der johanneischen Theologie In den johanneischen Schriften nehme die Gerichtsthematik „ohne Zweifel“ eine besondere Stellung ein, weil hier kaum in „traditioneller Weise“ von einem „Tag des Gerichts“ (1. Joh 4,17) gesprochen wird. Während im Neuen Testament üblicherweise „Glaube und Unglaube in Relation zum Endgericht stehen,“ liege bei Johannes ein unmittelbarer Zusammenhang „mit dem Gericht“ vor. – Als „Grundthese“ könne Johannes 3,18 gelten: „Wer an ihn [= den Sohn] glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.“ - Diese Argumentation aufnehmend, lautet Joh 5,24: „ … Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ – Für Johannes heiße dies: „Entsprehend zur gegenwärtigen Teilhabe der Glaubenden am ewigen Leben gilt für die Nichtglaubenden das gegenwärtige Widerfahrnis des Gerichts; in der Person Jesu sind sie ihrem Richter bereits begegnet (5,22f.27.30, vgl. 8,16.50). […] Das Richten ist hier also nicht im Sinn eines Gerichtsentscheides, sondern im Sinn des verurteilenden Gerichts verstanden; davon sind die Glaubenden entbunden.“ - In „anderer Weise“ begegne bei Johannes das Thema des Gerichts, wenn „von der ‚Finsternis‘ (σκοτία, σκότος) die Rede“ ist (vgl. Joh 8,12: Jesus als „das Licht der Welt“); so werde in 1. Johannes 1,6 „vor einem Wandel in der Finsternis gewarnt (vgl. 2,9).“ – „Dass es bei den Jüngern auch Abfall und Verlorenheit geben kann, wird außer an den als ‚Antichristen‘ bezeichneten Irrlehrern (1 Joh 2,18f) an der Gestalt des Judas demonstriert (Joh 6,70f; 17,12).“
d) Die Vollendung des Heils359 Das Neue Testament lässt eine „Vollendungserwartung“ erkennen, die folgende Inhalte zu umschreiben versucht: Es geht „um die Begegnung mit Christus und Gott, um die Teilhabe am ewigen Leben und um die Totalerneuerung der Wirklichkeit.“ 359
ebd., 789ff (Hervorh. Verf.). 182
(1) Wiederkunft Jesu und vollendete Gottesherrschaft - Die Verkündigung Jesu lässt Ausblicke auf „die vollendete Gottesherrschaft“ zu, was „vor allem die sogenannten Wachstumsgleichnisse“ zeigen: einem „unscheinbaren Anfang wird das wunderbare Ende folgen“ (Mt 13,31f.33 par). Neben Worten „über das ‚Eingehen in die Gottesherrschaft‘ bzw. ‚in das Leben‘“, die in einem „Grundbestand auf Jesus“ zurückzuführen seien (vgl. z.B. Mk 10,23ff parr, Mt 7.12.21), könne auch „das Motiv von der endzeitlichen Tischgemeinschaft“ (Jes 25,6) genannt werden: „Wie die Gottesherrschaft in seiner Gegenwart schon anbricht, so feiert Jesus das Mahl mit seinen Jüngern und mit allen, die zu ihm kommen“ bzw. „verheißt […] bei seinem Abschiedsmahl das himmlische Mahl der Zukunft“ (Mk 14,25; Lk 22,29f); dies gelte auch „für das Bild vom Festmahl“ (Lk 14,16ff) bzw. „vom Hochzeitsmahl“ (Mk 2,18f, Mt 22,1ff). - Im Blick auf das Neue Testament insgesamt gelte, dass „Motive, die zunächst die Gottesherrschaft betrafen, […] mit der Parusie Jesu“ verknüpft wurden, was durchaus folgerichtig sei: „Mit der vollendeten Gottesherrschaft findet auch der Auftrag und das Wirken Jesu sein Ziel. […] Bei der Parusievorstellung zeigen sich Konsequenzen aus der Verschmelzung der Erwartung der sich vollendenden Gottesherrschaft mit der Christologie. Geht es bei der Gottesherrschaft um die Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes und damit um die Schau Gottes ‚von Angesicht zu Angesicht‘, so bei der Parusieerwartung um die erneute Begegnung mit Jesus als dem erhöhten Christus, der uns den Weg zum Vater geöffnet hat.“
(2) Definitive Errettung und Teilhabe am ewigen Leben - Paulus „verwendet die Begriffe ‚Rettung‘ und ‚Retter‘ (σωτηρία, σωτήρ) konsequent im Blick auf die Endvollendung“ (Röm 1,16; Phil 3,20), während gegenwärtig „Rettung nur im Zusammenhang mit der Hoffnung“ erfahrbar sei (vgl. Röm 8,24). - In Kolosser 1,20 wird „die Versöhnung des Alls“ als „Ausdruck der zukünftigen Vollendung“ vor Augen gestellt. - Im Hebräerbrief wird einerseits „Jesu ‚Vollendung‘“ als dessen „Partizipation an der himmlischen Welt“ verstanden (Hebr 2,10, 5,9), andererseits „Bildmotive, vor allem das der Himmelsstadt“ (Hebr 12,22, 13,14) verwendet, um die Teilhabe der Glaubenden am endgültigen Heil zu beschreiben. - Matthäus „spricht in 19,28 von der künftigen ‚Wiedergeburt‘ des Alls“, um die Endvollendung zu beschreiben. - Lukas bedient sich in Apostelgeschichte 3,19ff der „alten Tradition“ einer „mit der Parusie sich ereignenden ‚Wiederherstellung‘ (ἀποκατάστασις) aller Dinge im Sinn der Totalerneuerung der Wirklichkeit.“ 183
- Während „Totenauferweckung und ewiges Leben“ generell „Voraussetzung für die Partizipation an der endgültigen, von Gott gewährten Wirklichkeit des Heils“ sind, zeigt das Johannesevangelium, dass „beides bereits in die irdische Wirklichkeit“ eingreife, ohne deshalb „in der irdischen Erfahrung“ aufzugehen.
(3) Totalerneuerung der Wirklichkeit als göttliche Neuschöpfung Wurden zunächst „einzelne Begriffe und Bilder, die auf die Zukunft verweisen“ dargestellt, liegt in der Offenbarung des Johannes „eine breite Entfaltung dieser Thematik“ vor; während in den „Visionszyklen […] bereits mehrfache Ausblicke auf das definitive Heil“ begegnen, biete die „Abschlussvision“ den Versuch einer „Darstellung der erneuerten Welt.“ - Während der Prophet in den ersten Ausblicken „auf die Vollendung […] die Zahl der für das Endheil ‚Versiegelten‘“ durch Hören erfährt (7,4ff) und „die 144000 auf dem Berg Zion“ (jeweils 12.000 für jeden „der zwölf Stämme Israels“) sehen bzw. deren Singen hören kann (14,1ff), „vernimmt er schließlich den himmlischen Jubel angesichts der Überwindung alles Bösen“ (19,1ff). - In Offenbarung 21,1ff findet sich „die große Schlussoffenbarung, in der die Totalerneuerung geschildert wird.“ Dabei kommt es zur Verknüpfung verschiedener „Bildmotive“: des aus Jesaja 65,17ff übernommenen „Motiv[s] des neuen Himmels und der neuen Erde“ bzw. des „himmlischen Jerusalem“ sowie der „Tradition vom wiederkehrenden Paradies mit dem Strom des Lebens […]“: 1. Zunächst geht es um den „neuen Himmel“ und die „neue Erde“ als ,Ort‘ des „neue[n] Jerusalem“, das „aus dem Himmel herabkommen [wird…] wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“ (21,1f). Die „Hütte Gottes bei den Menschen“ steht als Bild dafür, dass „es keine Not mehr gibt und der Tod nicht mehr sein wird“ (21,3f), gemäß der göttlichen Ankündigung: „Siehe, ich mache alles neu“ (21,5)! – Somit sei „für die Glaubenden alles in Erfüllung gegangen, während die Gottlosen […] ausgeschlossen bleiben“ (21,6ff). 2. Eine „ausführliche Darstellung der Himmelsstadt, des neuen Jerusalem“ (21,9ff), schließt sich an. Der „Charakter der Vollendung“ wird daran deutlich, „dass die Mauern […] mit ihren zwölf Toren und zwölf Grundsteinen, auf denen die Namen der Apostel stehen, die Gestalt eines Kubus haben“ (21,10ff). – Bedeutend ist, „dass das himmlische Jerusalem keinen Tempel“ besitzen wird, „denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm“ (21,22). – Obwohl die „Völker“ mit ihrer „Herrlichkeit und […] Ehre“ in die Stadt kommen, wird „nichts Unreines“ in sie eingehen (21,26f). Von „dem Thron Gottes und des Lammes“ wird ein „Strom lebendigen Wassers“ ausgehen, an dessen Ufern „Bäume des Lebens“ wachsen, deren „Blätter“ die „Heilung der Völker“ bewirken sollen (22,1f). 184
3. Im Zentrum der Vision steht „die uneingeschränkte und bleibende Gemeinschaft mit Gott und Christus.“ Der Vergangenheit angehören werden alles „Irdische“ und „alle leidvolle Erfahrung des irdischen Lebens“, weil „es kein Leid, kein Geschrei und keinen Schmerz mehr geben wird“ und „Gott die Tränen abwischt“ sowie „der Tod nicht mehr sind wird“ (21,4). – War das ursprüngliche Schöpfungswerk geprägt von „durch Sünde gekennzeichnete[r] Unvollkommenheit“, so „wird die Neuschöpfung als vollkommene göttliche Wirklichkeit“ beschrieben, „auf die die Glaubenden zugehen dürfen.“
11. Fazit Eschatologie: Die Grundintentionen der Zukunftsaussagen360 Die dargelegten Teilaspekte urchristlicher Zukunftshoffnung liegen „in unterschiedlicher Ausprägung innerhalb des Neuen Testaments“ vor; deshalb ist nun „zu fragen, wie die Aussagen über Parusie, Totenauferweckung, Gericht und Totalerneuerung zusammengehören und welche Tragweite sie für die urchristliche Botschaft haben.“
a) Sprachgestalt, Zeit- und Raumproblematik Im Blick auf die Zukunft sahen sich die Glaubenden der ersten Generationen herausgefordert, die Christusoffenbarung und insbesondere das Ostergeschehen hinsichtlich einer endzeitlichen Totalerneuerung der Schöpfung zu extrapolieren; dies war mit fundamentalen Darstellungsproblemen verbunden: „Wie Bilder nur aus der irdischen Wirklichkeit aufgegriffen und dann übertragen werden können, so ist auch das Verständnis von Zeit und Raum an die irdische Erfahrung gebunden.“ - Dabei müsse zunächst von folgender Voraussetzung ausgegangen werden: „Religiöse Sprache ist grundsätzlich metaphorische Sprache. Sie besitzt daher […] in hohem Maße Bildelemente. Auch dort, wo sie sich begrifflicher Terminologie bedient, hat dies eine metaphorische Komponente.“ – Es sei erforderlich, „die zahlreichen Bildmotive für die Erneuerung von Himmel und Erde […] vor einem rein wörtlichen Verständnis zu bewahren.“ - Die Problematik des Zeitverständnisses ist relevant „bei der Parusieerwartung, bei der Frage des Zeitpunkts für die Totenauferweckung und beim Verständnis von Ewigkeit“: 1. Weil im Denken des Urchristentums „Ewigkeit […] nur als unendlich fortdauernde Zeit“ vorstellbar war, verweist der 2. Petrusbrief „im Anschluss an Ps 90,4 auf den Unterschied von
360
ebd. 791ff (Hervorh. Verf.). 185
tausend menschlichen Jahren und einem Tag bei Gott“ […]. Von entscheidender Bedeutung war jedoch, dass „die Gewissheit der Gegenwart des Erhöhten“ dafür sorgte, „dass das Ausbleiben der anfangs in Kürze erwarteten Parusie keine Krise“ ausgelöst habe. 2. Die Frage „eines Zwischenzustands zwischen gegenwärtigem Tod und zukünftiger Totenauferweckung“ erfuhr tendenziell dadurch eine Lösung, „dass Tod und Totenauferweckung zusammengeschaut“ wurden. Daneben war „eine vorweggenommene Aufnahme in den Himmel für besonders bewährte Glaubenszeugen [...] oder eine Sonderform des Seins mit Christus“ vorstellbar. 3. Letztlich führt nichts an der Erkenntnis vorbei: „Zeit ist ein Phänomen des irdischkreatürlichen Lebens […]. Die Ewigkeit übergreift die Zeit und ist nicht durch zeitliche Strukturen bestimmt.“ Deshalb sei „weder die Parusieverzögerung noch die Frage des Zwischenzustands ein theologisch relevantes Problem.“ - Während bezüglich der Raumproblematik auffällt, dass „bei der Erwartung des neuen Himmels und der neuen Erde eine räumliche Vorstellung mit der zeitlichen Dimension“ kombiniert ist, so gilt „auch im Blick auf den Raum“, dass menschliches Denken „nur in den uns vertrauten Kategorien“ möglich ist: 1. Wenn Jesu Wiederkunft als „vom Himmel her“ erfolgend umschrieben wird, diese „aber zugleich zum Himmel zurückführt“ (Mk 13,26; 1. Thess 4,27), dann gilt gleichwohl: „Dieser Aspekt kann […] nicht konstitutiv sein, entscheidend ist die Wiederbegegnung, über deren Geschehen wir uns keine gültigen Vorstellungen machen können.“ 2. Auch bezüglich des neuen Himmels und der neuen Erde, von denen in Offenbarung 21 die Rede ist, gilt, dass „das Eingehen in die himmlische Wirklichkeit“ maßgeblich ist: „Wieder kann die räumliche Dimension kein wesentlicher Zug sein angesichts der Tatsache, dass in einer für uns unbegreiflichen Art die Erneuerung sich vollziehen wird.“ 3. Es gelte, „die Begrenztheit gerade auch der räumlichen Vorstellungsmodelle zu beachten.“ – Es träfe zwar zu, dass bereits „im irdischen Raum die Gegenwart des Neuen“ zu erkennen sei; trotzdem ist die Vollendung des Heils nicht wirklich definierbar.
b) Die Gerichtsvorstellungen Für die urchristliche Zukunftserwartung ist zunächst von entscheidender Bedeutung, dass Jesu Wiederkunft „sich vor den Augen der ganzen Welt“ vollziehen werde: „Das bisher verborgene Heilsgeschehen wird in aller Öffentlichkeit erkennbar und Christus wird sein Herrschaftsamt ausüben, bis alles Böse und der Tod überwunden sind“ (1. Kor 15,25ff). – Entscheidend für die „aus der irdischen Kriegs- bzw. Gerichtspraxis“ abgeleiteten Vorstellungen des Endgerichts sei 186
„die Überzeugung, dass alle Menschen für ihr Leben und ihr Tun Rechenschaft vor Gott und Christus ablegen müssen und mit Unheil konfrontiert sein können“: - Zunächst hätten die „Gerichtsaussagen“ des Neuen Testaments „die Funktion einer Warnung.“ – Glaubende Menschen sollten „bei aller Gewissheit der Errettung“ bedenken, „dass jede Tat ihres Lebens der Prüfung“ unterliege (1. Kor 3,13ff). Für „die Noch-Nicht-Glaubenden“ gelte es, „sich ihrer Verantwortung vor Gott bewusst [zu] werden.“ - Gleichzeitig hätten Aussagen über das Gericht „den Charakter von Strafandrohungen“, die vor Augen stellen, „dass Unbußfertigkeit, Unglaube und Ungerechtigkeit verurteilt werden.“ - Es bleibe „die Frage, wie es um jene steht, die Gott dezidiert verachten und der Macht des Bösen verfallen sind.“ – Hier sei erforderlich, „die Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten zu beachten“ und Einseitigkeiten zu vermeiden: „Die Auffassung einer Apokatastasis im Sinn der Allversöhnung […] ist von den biblischen Texten her ebensowenig zu stützen wie die in der Kirchengeschichte nachhaltig vertretene Auffassung ewigen Unheils für alle, die sich nicht zum Glauben an Gott und Christus bekannt haben oder in ihrem Leben als Christen versagt haben.“ – Auch wenn „nicht zu übersehende Aussagen über das Verlorensein“ vorliegen, müsse man davon ausgehen, dass „von Gott her noch nicht das letzte Wort gesprochen“ sei, wie etwa „das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg“ (Mt 20,1ff) erkennen lasse. - Letztlich sei mit den „Gerichtsvorstellungen“ ein doppeltes Anliegen verbunden: Einerseits gehe es darum, „Eigenständigkeit und Eigenverantwortung“ des Menschen zu betonen; andererseits stehe das Ziel vor Augen, „die Sünde und den unheilbringenden Tod“ als „Feinde Gottes“ zu überwinden, um zu erweisen: „Das Böse hat vor Gott keinen Bestand.“
c) Abschließende Überlegungen zur Heilsvollendung Die Zukunftserwartungen des Neuen Testaments bringen grundsätzlich „die Überzeugung“ zum Ausdruck, „dass das begonnene und bereits erhaltene Heil nicht nur weitergeht, sondern einen definitiven Abschluss erfahren wird, der alles Vorstellbare übersteigt. So wie die Welt als Schöpfung Gottes einen Anfang hat, so wird sie auch ein Ende finden, und mit diesem Ende bricht eine neue unvergängliche Wirklichkeit an, in der es um die bleibende Gemeinschaft mit Gott und Christus geht.“ – Weil gilt, dass „die irdische Heilserfahrung an die Person Jesu Christi gebunden ist“, könne auch „die Vollendung für neutestamentliches Verständnis ohne ihn nicht“ gedacht werden. Die „mit dem Motiv der Leiblichkeit verbundene Auffassung von der Identität der Person“ sei von „wesentlicher Bedeutung“, weil auf diese Weise deutlich wird: „Unsere Ich-Existenz endet nicht mit dem Tod, sie steht unter der Verheißung des Bewahrtbleibens in Gott.“ – Die Teilaspekte der Parusie und der Totenerweckung sowie die Motive des neuen Himmels und der neuen Erde bzw. 187
des neuen Jerusalems könnten „das Gemeinte nur indirekt erfassen“, auch wenn sie den „totale[n] Gegensatz zur irdischen Wirklichkeit“ und die „Vollkommenheit der göttlichen Neuschöpfung […] vor Augen“ führen wollen: Mit „einer Vielzahl von Bildern“ werde versucht, „die Vollendung als das letztlich Unbegreifliche“ zu umschreiben, an dem „die Geretteten“ Anteil erhalten sollen. „Kristallisationskern“ sei „die Aussage“, dass sich in der Mitte der Himmelsstadt des neuen Jerusalem kein Kultgebäude befinden werde, weil „der Herr, der allmächtige Gott, […] ihr Tempel [ist], er und das Lamm“ (Offb 21,22). – Wesentlich sei, sich für den „Blick in die Zukunft […] der irdischwelthaften Vorstellungen in einer Weise [zu] bedienen, dass sie transparent werden und über sich hinausweisen, dabei aber auch in ihrem metaphorischen Charakter erkennbar werden.“ Insgesamt sei die christliche Erwartung der Zukunft „ein von Hoffnung getragenes Zeugnis, bei dem es darum geht, dass alles Geschehen letztlich in Gottes Hand liegt.“ Das besage, „dass wir bei aller Verantwortung, die wir in dieser Welt haben, in Zuversicht der Zukunft entgegengehen können“, weil das „Ziel Gottes […] nicht das Unheil“ sei, „sondern das Heil.“ HEILSZUKUNFT
HEILSGEGENWART
und Heilsgegenwart
+ HEILSZUKUNFT Paulus, 1 Petr (Lk, Apg)
Mk, Offb, 2 Petr (Mt, Hebr, Jak)
1. Wiederkunft Jesu 2. Totenauferweckung 3. Endgericht 4. Totalerneuerung
Kol, Eph, Past
Joh
HEILSGEGENWART und Heilszukunft
HEILSGEGENWART und Heilszukunft
(Himmel Erde)
(ewiges Leben)
Schema Eschatologie: Heilsgegenwart und Heilszukunft 188
IV.
Einheit des Neuen Testaments? – Hahns eigenes Fazit
In einem abschließenden Rückblick ruft Hahn361 zunächst noch einmal das Grundanliegen seines umfangreichen zweibändigen Entwurfs einer Theologie des Neuen Testaments in Erinnerung: „Das Neue Testament ist eine Sammlung von Zeugnissen aus der Zeit des Urchristentums. Es ist seinem Charakter nach vielfältig. Die Heilsbotschaft wird unter sehr unterschiedlichen Aspekten dargestellt und weitergegeben. Diese Vielfalt ist zu respektieren, sie darf nicht nivelliert werden. Der Spannungsreichtum ist ein wesentliches Kennzeichen der urchristlichen Überlieferung. […] Angesichts der Vielfalt stellt sich aber unausweichlich auch die Frage nach der inneren Zusammengehörigkeit und Einheit. […] Es muss nach der Gemeinsamkeit gefragt und diese eruiert werden. So ist zusammenfassend deutlich zu machen, was das eine Fundament aller christlichen Verkündigung, Theologie und Kirche ist.“
Im Folgenden soll das Fazit dargestellt werden, das Ferdinand Hahn zieht, wenn es um die Frage geht, ob die selbst gesteckten Ziele erreicht werden konnten.
1.
Die Basis: Das e i n e Christusereignis
Zunächst benennt Hahn rückblickend den offenbarungsgeschichtlichen Ausgangspunkt, dem der zweite Band seiner Theologie des Neuen Testaments die Struktur verdankt: „Die urchristlichen Überlieferungen wollen ja Zeugnis von ein und demselben Ereignis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus sein. Sie wollen unter verschiedener Perspektive das gemeinsame Grundbekenntnis explizieren.“
Damit wird erneut deutlich, dass das urchristliche Schrifttum ein Glaubenszeugnis darstellt, welches durch eine konkrete geschichtliche Erfahrung ausgelöst wurde: „Der Glaube ist im Heilshandeln Gottes begründet. Er ist seinerseits ein existentieller Erkenntnisvorgang und hat den Charakter einer unmittelbaren Erfahrung.“
361
ebd., 799ff: „Rückblick auf die Erwägungen zur Einheit des Neuen Testaments“ (Hervorh. Verf.). 189
EXKURS 7: Das eine Christusereignis und seine Erinnerung (1) Es muss gefragt werden, ob es wissenschaftlich zu rechtfertigen ist, von dem e i n e n Christusereignis auszugehen. – Dazu schreibt der Neutestamentler Karl-Wilhelm Niebuhr:362 Auf dem Hintergrund komplizierter „Traditionswege“ sei „es umso erstaunlicher, welch klares Jesus-Bild, wenigstens in seinen maßgeblichen Konturen, sich aus den vier neutestamentlichen Evangelien ergibt.“ Folgende „Koordinaten eines neutestamentlichen Jesus-Bildes“ sind benennbar: „1. Jesus gehört in den religiösen Kontext des Frühjudentums, der durch Schrift und Tora bestimmt wird. 2. Seine Biographie war die eines galiläischen Juden in römischer Zeit. 3. Er wurde bekannt, wenn auch in engen geographischen Grenzen, durch seine Worte, seine Taten und seine auffällige Lebensweise. 4. Sein Auftreten war bestimmt von einem Selbstanspruch, der ihn als endzeitlichen Repräsentanten Gottes zu erkennen gab. 5. Offenbar gezielt suchte er Kontakt zu ,Randsiedlern‘ der Sozialgemeinschaft und wendete sich Kranken als Heiler zu. 6. Seine Botschaft richtete sich an Einzelne wie an Gruppen, indem er breitere Kreise ansprach, aber auch einen exklusiven Anhängerkreis, ‚die Zwölf‘, um sich sammelte. 7. Sein Wirken fand nicht nur Zustimmung, sondern ebenso Ablehnung und führte ihn in offene Konflikte, insbesondere mit religiösen Führungsgruppen seiner Umgebung. 8. Nach einer längeren Wirkungsphase in Galiläa wählte er offenbar bewusst den Weg nach Jerusalem, um dort die Entscheidung über seinen Anspruch zu suchen. 9. Das katastrophale Ende seines Lebens in Jerusalem war nicht zugleich das Ende der Jesusbewegung; vielmehr sammelte diese sich in partieller Kontinuität und Diskontinuität mit den vorösterlichen Anhängern Jesu unmittelbar nach seinem Tod neu. 10. Die nachösterliche Jesus-Bewegung integrierte in Anknüpfung an das vorösterliche Wirken Jesu dessen Weg und Geschick in ihre österliche Gewissheit, das Gott in diesem Geschehen endzeitlich heilvoll handelt.“ (2) Niebuhr geht davon aus, „dass Erinnerungen an Jesus nur in einer Weise bewahrt und weitergegeben wurden, die den eigenen […] durch die Ereignisse um Jesu Tod entscheidend veränderten Lebens- und Glaubensbedingungen der nachösterlichen Jesus-Bewegung entsprach.“ 362
KARL-WILHELM NIEBUHR, Schriftauslegung in der Begegnung mit dem Evangelium, 72f (Hervorh. Verf.). 190
(3) Er trifft deshalb – ähnlich wie Ferdinand Hahn – eine synthetische Grundentscheidung: Im „Zusammenhang zwischen der nachösterlichen Jesus-Bewegung und dem vorösterlichen Wirken Jesu schlägt sich die theologisch zentrale Einsicht nieder, dass Jesu irdisches Wirken, sein Tod am Kreuz und der Glaube an seine Auferweckung durch Gott nur als Bekenntnis-Einheit Grundlage des christlichen Glaubens seine können.“ (4) Die genannte Synthese wird auch durch neuere Ergebnisse der historisch-kritischen JesusForschung nicht bestritten; so findet sich etwa in dem kürzlich erschienenen umfangreichen Jesus Handbuch folgende Einschätzung: „Jesu Verkündigung, verbunden mit der jüngeren israelitischjüdischen Überzeugung von der Macht Gottes über Leben und Tod und von der Durchsetzung seiner Gerechtigkeit über die Grenzen des Todes hinaus, schufen letztlich die Voraussetzung dafür, dass die Jünger Jesus als von Toten auferweckt bekannten, und umgekehrt bestätigte die Überzeugung, Jesus sei von Gott auferweckt worden, seine vorösterliche Botschaft. Den kanonisch gewordenen Evangelien ist deswegen gemeinsam, dass sie zwischen Jesus und dem Auferweckten keinen Bruch konstatieren, sondern mit der Auferweckung Jesus als den bestätigen lassen, der er im Grunde von Anfang an ist […].“363
2.
Die Einzelthemen in Konvergenz und Divergenz
Hahn trifft rückblickend folgendes Urteil: „Bei den Einzelthemen zeigt sich ein hohes Maß an Gemeinsamkeit. Soweit nicht dieselben Traditionen und Bekenntnisaussagen verwendet werden, liegt zumindest eine deutlich erkennbare Konvergenz vor.“ Dies gelte etwa für die Christologie sowie teilweise für die Soteriologie. – Grundsätzlich treffe dies „häufig auch dort zu, wo vordergründig eine erheblich abweichende Aussage“ vorliege, „die gleichwohl dieselbe Intention erkennen“ lasse, was „besonders deutlich“ werde „bei dem Verhältnis der Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft und der Rechtfertigungstheologie des Apostels Paulus oder bei den paulinischen und den johanneischen Heilsaussagen.“
363
CHRISTINE JACOBI, Auferstehung, Erscheinungen, Weisungen des Auferstandenen, 503f (Hervorh. Verf.); dazu auch JENS SCHRÖTER, Der »erinnerte Jesus«: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, 124: „Das Paradigma der Jesuserinnerung gründet […] letztlich auf der Einsicht, dass das hinter den frühchristlichen Quellen liegende Wirken Jesu die unverzichtbare Grundlage des christlichen Glaubens darstellt, dass dieses Wirken jedoch stets nur in Gestalt der die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart aneignenden Weise zugänglich ist.“ – Vgl. auch JÖRG FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien. 191
Dass es „unbestreitbar auch Divergenzen“ gebe, gesteht Hahn zu; diese würden „zu Spannungen führen“, gelegentlich „auch Widersprüche enthalten.“ – Als Beispiele werden genannt: 1. „Die Frage der Gotteserkenntnis und das Sündersein des Menschen“ („total verlorene Gotteserkenntnis“ bei Paulus, „bedingte Gotteserkenntnis“ bei Lukas – der Themenbereich wurde durch den Verfasser dieser Untersuchung nicht erörtert), 2. „das Gesetzesverständnis“ (positiver Charakter der Tora „auch für die Christen“ bei Matthäus, „auf den Sünder“ bezogene negative Funktion bei Paulus, vgl. 8. c) Schema), 3. „das Verhältnis Glaube und Werke“ (Gegensatz in der Heilsrelevanz der Werke zwischen Paulus und Jakobus, vgl. 8. c) Schema), 4. „die Eschatologie“ (akute Naherwartung bei Markus, in der Offenbarung, im 2. Petrusbrief, Betonung der Heilsgegenwart in der johanneischen Theologie, vgl. 11. c) Schema).
Gleichwohl gelte: „Lassen sich die Spannungen und Widersprüche nicht übersehen, so heben sie doch die Einheit des neutestamentlichen Zeugnisses nicht auf. Die Divergenzen stehen in einem Gesamtrahmen, bei dem die Konvergenzen eindeutig dominieren. Sie sind dadurch integriert, aber nicht nivelliert; sie behalten ihre Sperrigkeit.“ – Daraus erwachse der Theologie die Aufgabe der Klärung, „ob bei vordergründigem Gegensatz nicht doch eine verwandte Tendenz zu Geltung“ komme; im Zweifelsfall sei es nötig, „die widersprüchlichen Aussagen aufeinander zu beziehen und theologisch weiterführend fruchtbar zu machen.“
3.
Drei einheitsstiftende Komponenten
Wenn Hahn geltend macht, dass die „Einheit des Neuen Testaments […] nicht in Gleichförmigkeit [bestehe], sondern in einer vielgestaltigen Entfaltung der urchristlichen Botschaft“, geht er einerseits davon aus, dass vorhandene „Spannungen auf noch nicht hinreichend gelöste Sachfragen“ verweisen; andererseits konstatiert er „die entscheidenden einheitsstiftenden Komponenten“ in drei grundlegenden Sachverhalten: (1) Gottesglaube und Verheißungstradition des Alten Testaments Die grundsätzliche „Bindung an das vorgegebene biblische Zeugnis“ sei „eine entscheidende Komponente für die Einheit der urchristlichen Botschaft.“ In diesem Sinne gelte: „Die Erfahrungen, die mit Jesu irdischer Person, mit seinem Sterben und Auferstehen und seinem Wirken durch den Heiligen Geist gemacht worden sind, wurden in die zentralen Strukturen des Glaubens Israels integriert.“ – Dies jedoch „bedeutete umgekehrt“ nichts weniger als eine „qualitative
192
Transformation“ der alttestamentlichen Verheißungsgeschichte: So liege „eine weitgehende Einschmelzung des Glaubens und der Hoffnung Israels in die christlichen Zeugnisse vor.“ (2) Gottes Offenbarungshandeln in Jesus Christus Für die genannte „Einschmelzung“ bzw. „Neuinterpretation“ käme dem „Christusgeschehen“ entscheidende Bedeutung zu: „Das bereits im Alten Testament bezeugte Offenbarungshandeln Gottes kulminiert in Person und Geschichte Jesu Christi, die eine durchgängige Leitfunktion für das urchristliche Zeugnis besitzt. […] Insofern hat die Frage nach Jesus Christus als der Mitte des Neuen Testaments ihre durchgängige Berechtigung.“ (3) Die erwartete Heilsvollendung Das bezeugte Christusgeschehen als „gemeinsame Mitte“ sei elementar verknüpft mit der urchristlichen Erwartung der „Vollendung des Heils. In diesem Sinn weist das Neue Testament über sich hinaus. […] Es hat seine innere Einheit auch darin, dass das bezeugte Offenbarungsgeschehen noch unabgeschlossen ist und auf ein und dasselbe Ziel zuläuft. Insofern wird das vielfältige urchristliche Zeugnis nicht zuletzt dadurch zusammengehalten, dass es auf ein für uns unverfügbares Zukunftsgeschehen bezogen ist.“ Letztendlich dürfe gesagt werden: „Das Neue Testament erweist sich […] durchaus als ein in sich geschlossenes Ganzes, ermöglicht aber gleichzeitig eine weitergehende theologische Reflexion und Erkenntnis und fordert zu stets neuem Nachdenken auf.“ q.e.d.!
193
V. Zusammenfassung D.1. Die zweibändige Theologie des Neuen Testaments, die Ferdinand Hahn vorgelegt hat, kann m.E. in ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche Theologie und die Lehre der Kirche kaum überschätzt werden. Hahn gelingt es, am Ende des 20. Jahrhunderts ein Tabu zu durchbrechen, welches die Exegese des Neuen Testaments über Jahrzehnte hinweg zu einer Veranstaltung im Elfenbeinturm der Wissenschaft hat werden lassen: Er wagt es, die Frage nach der Einheit des Neuen Testaments nicht verschämt in ein Schlusswort zu verbannen, sondern ernsthaft zu stellen und zu bearbeiten. Die Gründlichkeit dieser Bearbeitung kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass Hahn zwei opulente Bände schreibt, die miteinander ein überzeugendes Ganzes bilden. D.2. Es ist aus meiner Sicht keine Übertreibung, zu behaupten, dass er damit über 200 Jahre nach Johann Philipp Gabler dessen Forderung umsetzt, eine kompromisslose exegetische Analyse des Neuen Testaments mit einer überzeugenden systematischen Synthese in nuce zu verbinden. – Dass beides nicht gleichzeitig geschehen kann, dass immer wieder inhaltliche Redundanzen auftreten, ist als konzeptionell unvermeidlich anzusehen. D.3. Von entscheidender Bedeutung für Hahns Werk ist die Rückbindung seines wissenschaftlichen Arbeitens an die lebendige Wirklichkeit der Kirche: Damit unmittelbar verknüpft ist seine fundamentaltheologische Differenzierung zwischen Grundgeschehen, Grundzeugnis und Grundüberlieferung, die der wissenschaftlichen Exegese zur Aufgabe macht, ausgehend von den kanonischen Schriften des Neuen Testaments in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche verantwortbare Kriterien für die Explikation der Wahrheit des christlichen Glaubens darzulegen. D.4. M.E. gelingt es Hahn, die im Neuen Testament vorliegende vielgestaltige Entfaltung der urchristlichen Botschaft so darzulegen, dass neben den durchaus vorhandenen Spannungen auch gemeinsame Grundlinien erkennbar und benennbar werden. D.5. Fundamentalen Rang besitzt der überzeugende Aufweis des inneren Zusammenhangs des Wirkens Jesu mit der Christologie als der entscheidenden Nahtstelle zwischen der Botschaft Jesu von der anbrechenden Gottesherrschaft und der urchristlichen Verkündigung des gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Christus; wird das urchristliche Denken hier auseinandergerissen, kann es letztlich keine Einheit des Neuen Testaments und in der Konsequenz auch keine Kirche geben, die sich in redlicher Weise auf den Mann aus Nazareth und seine Botschaft 194
zurückführen dürfte. Indem Hahns christologisches Konzept der konzentrischen Kreise die einzelnen neutestamentlichen Ansätze differenziert und behutsam zusammenführt, entsteht eine verantwortbare Annäherung an das Geheimnis der Person Jesu Christi. D.6. Von bemerkenswerter Breite ist Hahns Zusammenschau der soteriologischen Konzeptionen im Neuen Testament: Indem er die Gesamtheit des Christusereignisses in der Menschwerdung, dem Leben und Wirken, dem Sterben und Auferwecktwerden Jesu bedenkt, vermeidet er dogmatische Engführungen und Einseitigkeiten; gleichzeitig gelingt es ihm, die einzigartige Bedeutung der Proexistenz Jesu für die Wiedererschließung der verlorenen Gemeinschaft des Menschen mit Gott überzeugend zu profilieren. D.7. Weil Hahn sich nicht scheut, die eschatologische Unabgeschlossenheit des Offenbarungsgeschehens in Christus herauszuarbeiten, stellt er der Auslegungsgemeinschaft der Kirche vor Augen, dass ihr gegenwärtiges Wirken Existenz im Vorletzten bedeutet; daraus folgt sowohl Verantwortung für die Gegenwart als auch das Festhalten daran, dass wesentliche Elemente der christlichen Hoffnung unerfüllt bleiben und eschatologisch an die Vollendung des Heils geknüpft sind, die Gott allein vorbehalten ist. D.8. Die im Neuen Testament feststellbaren soteriologischen und eschatologischen Divergenzen sieht Hahn eingeordnet in einen Gesamtrahmen, bei dem die Konvergenzen eindeutig dominieren; Spannungen und Widersprüche seien dadurch integriert, aber nicht nivelliert, wodurch sie ihre Sperrigkeit behalten. – So erwächst der Auslegungsgemeinschaft der Kirche aus der Bindung an den neutestamentlichen Kanon die Aufgabe, vorhandene Spannungen theologisch weiterführend fruchtbar zu machen. Daraus folgt, dass Schriftgemäßheit nicht beruhigende Einordnung in starre dogmatische Systeme bedeuten kann; vielmehr ist die Kirche durch den Schriftbezug in heilsame und lebensnotwendige Spannungsfelder gestellt, innerhalb derer sie sich zu bewähren hat. D.9. Die bleibende Gebundenheit an den Gottesglauben und die Verheißungstradition das alten Bundes verweist die Kirche Jesu Christi an ihren jüdischen Ursprung, aber auch an eine Zukunft, in der sich die von Gott verheißene endzeitliche σωτηρία für Juden und Christen gemeinsam realisieren wird.
195
E. Kanonische Perspektiven einer neuen Schriftgemäßheit II – römisch-katholische Exegese: Thomas Söding – Die Frage nach der Einheit der Heiligen Schrift Der katholische Neutestamentler Thomas Söding befasst sich nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Annäherung der Konfessionen immer wieder mit grundsätzlichen Fragen der Schriftauslegung und des biblischen Kanons.364 – Im Jahr 2005 legt er eine umfassende Studie vor, die den Titel trägt Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons. – Die Ausgangssituation seiner Untersuchung definiert er folgendermaßen:365 „Die Einheit der Heiligen Schrift ist ein zentrales Thema biblischer und ökumenischer Hermeneutik. Wenn die Kirchen Einheit wollen, müssen sie die Orientierung an der gemeinsamen Urkunde des Glaubens suchen. […] Es ist aber äußerst umstritten, ob man angesichts der großen literarischen Vielseitigkeit, der langen geschichtlichen Entstehung, der starken theologischen Spannungen und der klaren Unterscheidung beider Testamente überhaupt von der Einheit der Heiligen Schrift sprechen kann. […] Die Situation scheint paradox: Ist es am Ende so, dass die Bibel desto stärker ihre Konturen verliert und desto mehr ins historische Abseits gerät, je stärker die Exegese ihre philologische und historische Arbeit verrichtet […]? Lässt sich umgekehrt die Normativität der Heiligen Schrift nur um den Preis erkaufen, dass die historisch-kritische Differenzierungsarbeit der Exegese theologisch neutralisiert wird?“
Als bewussten Gegenentwurf zu „Vorstellungen der ‚Einheit‘ der Schrift, die doktrinalistisch enggeführt sind“, möchte Söding einen „Begriff der ‚Einheit‘ der Schrift“ vorstellen,
364
365
vgl. u.a. THOMAS SÖDING, „Mitte der Schrift“ – „Einheit der Schrift“. Grundsätzliche Erwägungen zur Schrifthermeneutik, bzw. DERS., Der Kanon des Alten und Neuen Testaments. Zur Frage nach seinem theologischen Anspruch. DERS., Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons, Freiburg u.a. 2005, 11f. 196
„der mit heutigen exegetischen Methoden aus der Schrift selbst abgeleitet werden kann. Es ist jene Einheit, die sich gerade dann zeigt, wenn die literarische und historische Dimension der Heiligen Schrift nicht ausgeblendet wird, sondern wenigstens umrisshaft vor Augen steht.“
Eine so gestaltete, gewiss ungewöhnliche Perspektive könne „das Gespräch nicht nur zwischen der exegetischen und der systematischen Theologie […] fördern, sondern auch das zwischen Theologie und Kirche.“ – Daneben habe „dieser Ansatz ein großes ökumenisches Potential“, insofern „Katholiken […] gerne die Kirchlichkeit der Bibel“ und „Protestanten die Selbstdurchsetzung der Heiligen Schrift“ betonten. – Beide Auffassungen müssten „exegetisch geerdet werden, wenn dem Alten und Neuen Testament Gerechtigkeit widerfahren soll.“
I. Problembeschreibung Söding geht zunächst von der Erkenntnis aus, dass „die historisch-kritische Exegese die Kohärenz, von daher aber auch die Suffizienz und Autorität der Schrift in Frage“ stelle; diese Kritik müsse als „Herausforderung“ und „als Chance“ genutzt werden, um „die Einheit der Schrift auf dem Niveau des heutigen Problembewusstseins neu zu bestimmen.“ – Es gelte: „So vielstimmig und stark die Einwände gegen ein kanonisches Verständnis der Heiligen Schrift und damit gegen die Glaubens-Voraussetzung ihrer Einheit sind, so wenig können sie die Legitimation der Aufgabe in Frage stellen, nach der Einheit der Schrift zu suchen – selbst wenn diese Suche nie zu einem endgültigen Resultat“ führen sollte.366
1.
Herausforderungen
a) Kanon und Offenbarungs-Wirklichkeit 367 Nach „200 Jahren historisch-kritischer Bibelwissenschaft“ sei das Konzept des Kanons nicht nur theoretisch weiterhin in Geltung, es werde derzeit auch „als Gegenstand historischer Forschung
366 367
ebd., 19. ebd., 29ff. 197
neu entdeckt, unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten als hermeneutisches Faktum neu erkannt und in ökumenischer Hinsicht als Verständigungsbasis christlicher Theologie neu geschätzt.“ – Damit sei die folgende Erkenntnis verbunden: „Der Kanon ist kein papierener Papst, sondern Schrift gewordenes Glaubenszeugnis, das von einem Anderen lebt: von Gott, der seine Wahrheit vorgibt […]. Die OffenbarungsWirklichkeit, an der biblisch-theologisch alles hängt, ist nicht mit der Text-Welt identisch – und doch nur zu erschließen, wenn man in sie eindringt und sie bis in alle Ecken und Winkel möglichst genau zu erforschen trachtet. […] Ein Kanon, der vom Primat geschichtlichen Offenbarungshandelns ausgeht und dem die menschliche Vermittlung eingeschrieben ist, lässt nicht die Erinnerung über das Erinnerte dominieren, sondern bringt durch die Erinnerung gerade die ursprüngliche Geschichte, die ihm vorausliegt, zur Geltung.“
b) Die Vielstimmigkeit der biblischen Zeugnisse368 Historisch-kritische Exegese und „moderne Kanon-Kritik“ dienten dem Ziel, „die Aufmerksamkeit für die Vielstimmigkeit der biblischen Zeugnisse zu schärfen.“ – In diesem Zusammenhang sei einzuräumen, „dass die Geschichte der kirchlichen Bibelauslegung – evangelischer und katholischer Provenienz – immer auch eine Geschichte der Harmonisierung und der interessegeleiteten, theologisch motivierten Selektion war und bis in die Gegenwart hinein ist. Schon die Väter haben sich durchaus schwergetan, die Vielstimmigkeit und teilweise Widersprüchlichkeit der biblischen Stimmen nicht nur als ein Problem zu sehen, dass es – auf welchen Wegen auch immer – zu lösen gilt, sondern als eine notwendige Bedingung der Wahrheit und Normativität der ‚Schrift‘.“
Deshalb sei prinzipiell „und bleibend wichtig […] die Erinnerung daran, dass die geschichtliche Vielfalt und literarische Gestalt der Bibel“ als „irreduzibel“ zu gelten haben: „Ein Einheitskonzept, das durch Harmonisierung oder Selektion, aber auch durch Abstraktion oder Systematisierung diese Vielfalt beschnitte, müsste zum Scheitern verurteilt sein. Soll die Bibel als Bibel eine Einheit sein, müsste sie es in ihrer Vielfalt und geschichtlichen Tiefe sein.“
368
ebd., 22f u. 33f (Hervorh. i. O.). 198
Auch das Ansinnen, die Frage nach der Einheit der Schrift der systematischen Theologie zuzuweisen, sei nicht zielführend: „Welche Möglichkeiten sollten die Fundamentaltheologie und Dogmatik haben, gegen das Veto der Exegese […] jene Einheit der Schrift festzustellen, an der die Kanonizität der Bibel und letztlich die Wahrheit des Evangeliums hängen? Könnte die Einheit der Schrift exegetisch nicht aufgewiesen werden, hinge jede Schrift-Dogmatik in der Luft.“
c) Die exegetische Suche nach der Einheit der Schrift369 Im Falle grundsätzlicher Kritik an Versuchen, die Einheit der Bibel zu bestimmen, werde häufig „ein unhistorisches, unbiblisches Einheitsdenken“ unterstellt, gleichzeitig aber keine „Möglichkeit“ gesehen, „den Begriff der Einheit der Schrift – mit heutigen exegetischen Methoden und deshalb im offenen hermeneutischen Diskurs mit der systematischen Theologie – aus der Schrift selbst zu entwickeln.“ – Dabei gerate aus dem Blick bzw. werde nicht wahrgenommen, „in wie starkem Maße die Prämissen der idealistischen Philosophie und des Historismus das exegetische Denken und Arbeiten“ im 19. Jahrhundert geprägt hätten. Es sei deshalb an der Zeit, dass die gegenwärtige wissenschaftliche Schriftauslegung sich das Fragen nach der Einheit der Bibel neu zur Aufgabe mache: „Denn wenn die Einheit der Schrift exegetisch-theologisch nicht dargestellt werden könnte, würde nicht nur ihre Normativität prekär; es könnte auch nicht mehr nachvollzogen werden, wie es dazu hat kommen können, dass die Schrift zu einer die menschliche Kultur zutiefst prägenden Schrift geworden ist […]. Wer […] die historisch-philologische Forschung als notwendig, ja essentiell erkennt, wird auch fragen, was die Exegese zur Diskussion über die Verbindlichkeit der Schrift beitragen kann, die ihre Einheit voraussetzt. Exegese und Fundamentaltheologie kommen einander näher.“
Ganz in diesem Sinne sei in jüngerer Zeit ein gewisser Trend erkennbar: Wenn Theologien „sich […] nicht darauf beschränken […], die verschiedenen theologischen Konzeptionen, Vorstellungen, Motive innerhalb des Alten resp. des Neuen Testaments zu erheben und zu vergleichen, sehen sie sich gehalten, die ,Einheit‘ der Schrift nicht nur zu postulieren, sondern auch zu thematisieren und zu demonstrieren.“ – Damit ergebe sich letztlich folgende Aufgabenstellung:
369
ebd., 35, 51 u. 53ff. 199
„Die Exegese fragt nach der Einheit der Schrift so, wie die Schrift selbst sie im Prozess ihrer Entstehung, in ihrer Selbstpräsentation, ihrem Anspruch und ihren Themen zu erkennen gibt. Lässt sich die Frage exegetisch beantworten, ist die Antwort auch entscheidend für eine Schrift-Dogmatik.“
2.
Bewährungsfelder370
Wenn die wissenschaftliche Exegese das Ziel anstrebt, die Einheit der Heiligen Schrift zu bestimmen, ergeben sich für Söding „vier Problemfelder, die zu Bewährungsfeldern werden“ können: Es handelt sich um den „innerkirchlichen Dialog“, insbesondere „zwischen der Exegese und der Dogmatik“, den „ökumenischen“ ebenso wie den „jüdisch-christlichen Dialog“ sowie schließlich auch um das Gespräch zwischen verschieden geprägten Kulturen:
a) Der innerkirchliche Dialog bzw. die Frage nach der Bedeutung der Ekklesia für das Verständnis der Bibel371 Einerseits habe „die penible Differenzierung zwischen biblischer und dogmatischer Theologie“, wie sie Johann Philipp Gabler eingefordert hat, „der historischen Forschung einen Freiheitsraum in der evangelischen Theologie und Kirche geöffnet, der damals und für lange Zeit in der katholischen Kirche verschlossen war.“ – Andererseits sei dadurch „eine breite Angriffsfläche für jene aufgeklärt-kritischen Exegeten“ entstanden, „die […] mit der Anbindung an die kirchliche Dogmatik auch die Anbindung an den kirchlich definierten Kanon auflösen wollten, auf diese Weise aber den Grundansatz der Biblischen Theologie konterkarierten.“ – Inzwischen könne jedoch folgende Erkenntnis als anerkannt gelten: „Der Interpretationshorizont, in dem sich die Bibel zeigt, ist […] in jedem Fall kirchlich bestimmt – wenn nicht durch das persönliche Bekenntnis des Forschers, so doch durch die Überlieferungsgeschichte der Schrift in der Erzähl- und Auslegungsgemeinschaft der an Jesus Christus Glaubenden.“ – Es müsse festgehalten werden: „Die kirchliche Tradition des Schriftverständnisses und des Schriftgebrauchs ermöglicht erst eine exegetische Arbeit, die nicht nur auf Erklären, sondern auf Verstehen zielt.“
370 371
ebd., 56ff. ebd., 61ff (Hervorh. i. O.). 200
Neuere Untersuchungen zum „Phänomen des Kanons“ legten nahe, diesen weniger „von den Grenzfragen“ seines Umfangs her „zu verstehen“, sondern im Hinblick darauf, dass dessen „zentrale Perspektive“ von entscheidender Bedeutung sei: Diese bestehe darin, „das Offenbarungshandeln Gottes in der ihm selbst innewohnenden Normativität so zu erschließen, dass es durch das Medium der geschriebenen Wortes aktuelle und bleibende Relevanz“ gewinnen könne; so zeige sich, „dass der Kanonisierungsvorgang ein Vorgang eminenter Rezeption [sei]: dass sich von Generation zu Generation Leser-Gemeinden bilden, die – wenigstens prinzipiell – die Normativität der biblischen Schriften bejahen.“
In umgekehrter Weise werde deutlich, „dass die Kirche als Kirche gerade dadurch qualifiziert ist, kraft des Geistes die biblischen Schriften als inspirierte Texte zu lesen – so wie Israel als Gottesvolk durch seine Bibel definiert wird. Der Kanonisierungsprozess erweist sich mithin […] als kirchenkonstituierender Vorgang“: „Die Kirche vom Kanon her zu verstehen […], heißt: sie als Erinnerungsgemeinschaft zu verstehen, die im gemeinsamen Gedenken der biblisch bezeugten Offenbarungsgeschichte zusammenfindet. Dieser Einigungseffekt ist ein pneumatischer: Es ist der präexistente und erhöhte Jesus Christus, der sich durch das Pneuma in seinem Geschick so vergegenwärtigt, dass Kirche entsteht. […] Im Kanon gründet Kirche, wie umgekehrt der Kanon in der Kirche entsteht […]. Diesen Zusammenhang von Kanon und Ekklesia […] aus der Schrift zu erschließen und zu bestimmen, ist nicht die geringste Aufgabe Biblischer Theologie.“
b) Die Beziehung von Bibel und Kirche im ökumenischen Dialog372 Das ökumenische Gespräch der Kirchen habe in den vergangenen Jahrzehnten zunächst manche Missverständnisse ausräumen können: So sei es durchaus das Anliegen der Offenbarungskonstitution des Vatikanum II gewesen, „die Suffizienz der Heiligen Schrift festzustellen, der apostolischen Tradition aber die Aufgabe der dauerhaften Vergegenwärtigung und authentischen Interpretation der Schrift zuzurechnen […].“373 – Umgekehrt sei „klargestellt worden, dass das 372 373
ebd., 58 u. 68ff (Hervorh. i. O.). vgl. DH 4212 (Dei verbum 9): „Die heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind also eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide nämlich gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu. Denn die Heilige Schrift ist Gottes Rede […]; die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus, dem Herrn, und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter […].“ 201
reformatorische Prinzip sola scriptura sich in seiner traditionskritischen Pointe nicht gegen die lebendige Weitergabe, Sicherung und Auslegung des biblisch fundierten Glaubens durch die Gemeinschaft der Glaubenden richtet […].“ – Dieser „ekklesiologische Zusammenhang“ sei leider „in der Geschichte evangelischer Exegese für längere Zeit außer Sichtweite geraten […]“: Die Bibel ist auch „nach lutherischem Grundverständnis in der Kirche und für die Kirche auszulegen, wie sie ja auch in der Kirche und für sie entstanden ist; ihre traditionskritische Kraft entwickelt die protestantische Schriftauslegung in diesem hermeneutischen Bezugsrahmen.“
Deshalb müsse auf evangelischer Seite die „Kirche“ wieder „als jene Interpretationsgemeinschaft in den Blick“ treten, „die das ‚Evangelium‘ in den biblischen Schriften wahrnimmt und darin in geschichtlich-theologischer Kontinuität mit jener Ekklesia steht, in der und für die das Neue Testament – auf dem Wurzelgrund des Alten Testaments – entstanden ist.“ – Im Raum der katholischen Kirche sei die „Position des Zweiten Vatikanischen Konzils aufzunehmen, dass nicht alle biblischen Schriften dasselbe Gewicht tragen“, sowie verstärkte „Sensibilität“ einzufordern „für Gefährdungen, Missverständnisse, Verzerrungen neutestamentlicher und gesamt-biblischer Theologie […], z.B. für eine übersteigerte Ekklesiologie, die geradezu die Mitte der Soteriologie bilden würde, oder für eine übersteigerte Amtstheologie, die regelmäßig auf eine Christologia gloriae ohne Christologia crucis zurückzuführen ist.“
Für die christliche Kirche insgesamt gelte: „Die Pluralität biblischer Theologien ist eine Voraussetzung ihrer Kanonizität; umgekehrt ist die Einheit biblischer Theologien eine Voraussetzung ihrer Vielfalt.“
c) Perspektiven biblischer Israel-Theologie374 Eine Israel-Theologie auf Basis des Neuen Testaments sei zwar generell als „so notwendig wie schwierig“ einzustufen; dennoch zeichne sich von Paulus ausgehend „eine theologische Grundlinie“ ab, die gemäß Römer 9 bis 11 „durch drei Eckpunkte markiert“ sei: 1. „Israel und Kirche sind wurzelhaft verbunden […]“ (Röm 11,16ff). 2. „Israel und Kirche sind in der Geschichte durch Jesus Christus getrennt verbunden und verbunden getrennt.“– Nehme man mit Römer 11,26.32 „den Heilswillen Gottes“ in den
374
ebd., 85ff (Hervorh. i. O.). 202
Blick, „der sich bei Juden und Heiden durch das Gericht hindurch realisiert“, werde es möglich, „die Differenzen […] hinsichtlich der Christologie mit allen Konsequenzen für das Gottesund das Menschenbild in voller Offenheit anzusprechen, ohne die gemeinsame Orientierung an dem einen Gott in Frage zu stellen […].“ 3. Entscheidend sei, dass Paulus „nicht nur auf die endzeitliche Rettung der Glaubenden aus den Heiden, sondern auch auf die Rettung ‚ganz Israels‘ (11,26)“ hoffe. – „Im vollendeten Reich Gottes […] wird jene Gemeinschaft aus Juden und Heiden verwirklicht sein, die der Schöpfungsintention und dem Verheißungswillen Gottes entspricht.“
Insgesamt sei festzustellen: „Das Kirche-Sein, das durch die Kanonizität der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments geprägt ist, wird immer auch durch die Heiligkeit des Gottesvolkes Israel mitgeprägt und das bleibende Angenommensein der Juden in Gottes Gnaden-Bund. Es ist gerade die Biblische Theologie, welche die Ekklesia daran erinnert, um sie vor der Versuchung einer antijüdischen ‚Profilierung‘ zu bewahren und ihr das alttestamentliche Erbe zu vermitteln.“
d) Einheit der Bibel und interkultureller Dialog375 Einerseits gelte: „Weder das Judentum noch das Christentum können durch den interreligiösen Dialog zur Relativierung des solus Deus geführt werden. Für Christen bleibt Joh 14,6376 ein theologischer Kardinalsatz.“ – Gleichwohl dürfe gesagt werden: „[…] gerade wenn im Horizont einer Theologie des Geistes Gottes die eschatologische Relevanz der Christus-Offenbarung und damit ihre universale Heilsbedeutung festgehalten wird, kann man das Wirken des Geistes Gottes, wie es von Gott durch Jesus Christus geschieht, nicht auf die Gemeinschaft der an Jesus Glaubenden beschränkt sehen, sondern über das Judentum – und den Islam – hinaus auch in anderen Religionen und Kulturen wahrnehmen.“
3.
Lösungswege
Als Ausgangsbasis will Söding festhalten: „Eine Lösung des fundamentaltheologischen Problems wird nicht gelingen, wenn man die Beobachtungen der historisch-kritischen Exegese, die zur Kritik des Kanons geführt haben, marginalisiert, sondern nur, wenn man sie in die Fragestellung und
375 376
ebd., 92ff (Hervorh. i. O.). Jesus spricht „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ 203
den Antwortversuch integriert. […] Die ‚Einheit‘ der Schrift kann nicht darin gesucht werden, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Konzeptionen zu harmonisieren, die Vielfalt zu minimieren oder die Entstehungsgeschichte zu neutralisieren.“377
a) Kanon im Kanon? – Mitte der Schrift?378 Beide „vor allem in der evangelischen Exegese“ entwickelten „Konzepte“ stuft Söding als hermeneutisch ungeeignet ein: „Das Modell ‚Kanon im Kanon‘ endet, konsequent durchgeführt, in einer Sackgasse. Die verschiedenen Ausformulierungen des Programms können zwar durchaus helfen, die literarische und theologische Struktur zu rekonstruieren, die dem Kanon selbst innewohnt. Aber sie können nicht seine Ganzheit mit seinen verschiedenen Teilen vermitteln. Letztlich wirken sie reduktionistisch.“ – „Die exegetische Theologie des Alten und Neuen Testaments verdankt den Versuchen, eine ‚Mitte der Schrift‘ zu beschreiben, Einsichten in die Relevanz und die Kohärenz der biblischen Theologien, besonders im Neuen, aber auch im Alten Testament. Dennoch bleibt fraglich, ob die Einheit der Schrift von einer ihr selbst eigenen ‚Mitte‘ aus bestimmt werden kann.“
b) Konzepte biblischer Theologie379 Hier trifft Söding ein positives Urteil: „Der Versuch einer neuen Verhältnisbestimmung von Vielfalt und Einheit […] in der Heiligen Schrift kann sich die Arbeit der vorliegenden ‚Biblischen Theologien‘ in entscheidender Hinsicht zunutze machen.“ Konkret vorgestellt werden der kanongeschichtliche Ansatz (Brevard S. Childs380 ), der rezeptionsgeschichtliche Ansatz (Hans Hübner381) sowie der traditionsgeschichtliche Ansatz (Peter Stuhlmacher382, Hartmut Gese383); in allen drei Fällen ergäben sich aufschlussreiche Erkenntnisse, aber auch Defizite.
377 378 379 380 381 382 383
ebd., 103. ebd., 103ff. ebd., 110ff. BREVARD S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel, Bd. I+II, Freiburg u.a., 1994 u. 1996. HANS HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bde. I–III, Göttingen 1990–1995. PETER STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I+II, Göttingen 1992 u. 1999. HARTMUT GESE, Zur biblischen Theologie, 3., verb. Aufl., Tübingen 1989. 204
c) Konzepte alt- und neutestamentlicher Theologie384 Nach einleitenden Hinweisen auf Gerhard von Rad und Rudolf Bultmann385 werden die alttestamentlichen Theologien von Antonius Gunneweg386, Horst Dietrich Preuß387, Josef Schreiner388, Otto Kaiser389, Rolf Rendtorff 390 und Hermann Spieckermann391 sowie die neutestamentlichen Theologien von Rudolf Schnackenburg392, Klaus Berger393, François Vouga394, George Bradford Caird 395, Wilhelm Thüsing396, Ferdinand Hahn397 und Ulrich Wilckens398 jeweils vorgestellt und einer kurzen Bewertung unterzogen.
II. Ansätze einer neuen Fragestellung399 Die dargestellten Forschungsergebnisse dienen Söding als Belege für „die Schwierigkeit und Notwendigkeit, einen Begriff der Einheit der Schrift zu gewinnen, der durch die Spannung zwischen den beiden Testamenten und durch die Vielzahl der kanonisierten Schriften konstituiert“ werde. 384 385
386
387 388 389 390 391
392 393
394 395 396
397 398 399
THOMAS SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 122ff. GERHARD VON RAD, Theologie des Alten Testaments, Bd. I+II, München 1957 u. 1960; RUDOLF BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchges. u. erg. v. Otto Merk, Tübingen 1984. ANTONIUS H.J. GUNNEWEG, Biblische Theologie des Alten Testaments. Eine Religionsgeschichte Israels in biblisch-theologischer Sicht, Stuttgart u.a. 1993. HORST DIETRICH PREUß, Theologie des Alten Testaments, Bd. I+II, Stuttgart u.a. 1991 u. 1992. JOSEF SCHREINER, Theologie des Alten Testaments, Würzburg 1995. OTTO KAISER, Der Gott des Alten Testaments, Bde. I–III, Göttingen 1993–2003. ROLF RENDTORFF, Theologie des Alten Testaments, Bd. I+II, Neukirchen-Vluyn 1999 u. 2001. HERMANN SPIECKERMANN, Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments, Tübingen 2001. RUDOLF SCHNACKENBURG, Neutestamentliche Theologie, München 1965. KLAUS BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, 2., überarb. u. erw. Aufl., Tübingen u. Basel 1995. FRANÇOIS VOUGA, Une théologie du Nouveau Testament, Genf 2001. GEORGE BRADFORD CAIRD, New Testament Theology, Oxford u.a. 1994. WILHELM THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus, Bde. I–III, Düsseldorf bzw. Münster 1981–1999. FERDINAND HAHN, Die Theologie des Neuen Testaments, Bd. I+II, Tübingen 2002. ULRICH WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments, Bde. I,1–III, Neukirchen-Vluyn 2002–2017. THOMAS SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 150ff. 205
1.
Vielfalt der Schriften – Einheit der Schrift
Erneut wird bekräftigt, dass das „Problem der Vielfalt biblischer Theologien […] sich weder durch Harmonisierungen noch durch die Selektion bestimmter theologischer Konzepte lösen“ lasse: „Die Aufgabe der exegetischen Theologie besteht demgegenüber idealiter darin, in einem ersten Schritt in ganzer Breite und Tiefe den historischen Sinn einer jeden einzelnen biblischen Schrift (möglichst auf jeder ihrer Traditionsstufen) aufzuspüren und dann in einem zweiten Schritt nach jener Kohärenz zu suchen, die in der Vielfalt und durch die Vielfalt aller biblischen Theologien zum Ausdruck kommt. Wer den zweiten Schritt unterließe, bliebe als Exeget in der Philologie stecken; wer den zweiten Schritt vor dem ersten ginge, wäre ein schlechter Theologe, weil er kein guter Philologe sein könnte.“
2.
Spannung der Testamente – Einheit der Schrift
Das in dieser Frage anzuvisierende Ziel kann nur als anspruchsvoll bezeichnet werden: „Die Spannung zwischen beiden Testamenten darf weder durch die christliche Vereinnahmung des Alten Testaments noch durch die Erklärung des Neuen Testaments als Kommentar des Alten aufgelöst werden“: Zunächst sei „in einem ersten Gang sowohl das theologische Profil der alttestamentlichen Schriften in ihrem ureigenen geschichtlichen Umfeld nachzuzeichnen als auch die neutestamentlichen Schriften im Lichte des Alten Testaments als Auslegungen des Christusgeschehens […] zu interpretieren […].“ – Erst dann könne „auf dieser Basis in einem zweiten Gang nach der Einheit“ gefragt werden, „die gerade durch die Spannung zwischen den beiden Testamenten entsteht: also sowohl durch die Gemeinsamkeiten wie durch die Unterschiede […].“
Letztlich müsse gelten: „Die Einheit der Schrift beider Testamente kann sich nur in der Spannung beider Testamente zeigen, nicht durch eine Harmonisierung der Differenzen. Sie kann sich nur in christologischer Perspektive erschließen, ohne dass daraus eine hermeneutische Dominanz des Neuen Testaments vor dem Alten zu schlussfolgern wäre.“
206
III. Die Einheit der Schrift als Postulat des christlichen Glaubens400 Wenn gilt, dass der Einheitsbegriff „aus der Schrift selbst“ zu gewinnen ist, sei „von vornherein klar, dass eine ganze Reihe theologischer und philosophischer Einheitsvorstellungen sich als untauglich erweisen: solche nämlich, die entweder nur an einer kohärenten Lehre oder einer wasserdichten Logik, an konzeptioneller Identität oder Komplementarität interessiert sind, den geschichtlichen Faktor und die Sprachgestalt der Bibel außer acht lassen. Dies sind freilich genau solche Einheitskonzeptionen, die von der Kritik, die Einheit der Schrift zu rekonstruieren, vorausgesetzt werden.“
So gelangt Söding zu einer wichtigen Grundsatzentscheidung: Die Schriften der Bibel berührten „das Thema in zwei Problembereichen. Der wichtigste Topos ist die Einheit Gottes – im Unterschied zur Vielfalt der Götter, die außerhalb Israels und teilweise auch innerhalb des Gottesvolkes verehrt werden. Mit ihm ist ein zweiter Hauptpunkt verbunden: die Einheit des Gottesvolkes – im Gegensatz zu seiner inneren Zerrissenheit und zu den Identitäten der Fremdvölker.“ – Diese beiden Einheitsfiguren seien „alttestamentlich grundgelegt“ und würden im Neuen Testament sowohl „auf das Stärkste problematisiert“ als auch „radikal reformuliert:“ Problematisiert werde „die Einheit Gottes durch die Christologie und die mit ihr verbundene Pneumatologie, die Einheit des Gottesvolkes durch die Umkehrpredigt Jesu und durch die Völkermission.“ – Die Reformulierung erfolge im Blick auf „die Einheit Gottes durch die implizite Trinitätstheologie des Neuen Testaments“ bzw. hinsichtlich der „Einheit des Gottesvolkes durch eine Ekklesiologie, die durch die eschatologische Koinonia von Juden und Heiden im vollendeten Gottesreich geprägt ist.“
Dies bedeutet in der Konsequenz: „Die Einheit der Schrift ist ein Postulat des christlichen Glaubens, das aus der Einheit Gottes und seines Volkes abgeleitet wird. Als Postulat kann sie der Exegese heuristische Dienste auf dem Weg zur Biblischen Theologie leisten.“
400
ebd., 155f (Hervorh. Verf.). 207
1.
Die Einheit Gottes als Vorgabe der Heiligen Schrift
Söding geht von der folgenden offenbarungstheologischen These aus: „Ihre Einheit ist der Schrift in der Einheit und Einzigkeit Gottes vorgegeben, der sich selbst treu bleibt, indem er sich in der Geschichte Israels und aufgipfelnd in der Geschichte Jesu Christi, des Irdischen wie des Auferstandenen, als Deus semper maior offenbart, um den Menschen in ihrer Geschichte, aber über alle geschichtliche Kontingenz hinaus an seinem Leben und seiner Wahrheit Anteil zu geben.“401
a) Das alttestamentliche Verständnis der Einheit Gottes402 Werde der Versuch unternommen, „die Geschichte nachzuzeichnen, auf der Israel zum Bekenntnis des einen Gottes gelangt ist“, komme eine „Entwicklung“ in den Blick, die einerseits „religionsgeschichtlich singulär“ sei, und für die andererseits gelte: Diese „Geschichte voller Rückfälle, voller Missbrauch und voller Missverständnisse braucht nicht geleugnet zu werden, weil der Glaube an Gott als eine Gabe Gottes verstanden wird, die zur Aufgabe wird, und weil Gott als der eine seinem Bund treu bleibt, auch wenn die Israeliten abfallen.“
(1) Das Hauptgebot Als „Schlüsseltext für den biblischen Begriff der Einheit Gottes“ erweise sich „im Zuge des kanonischen Prozesses das Hauptgebot“ in Deuteronomium 6,4f: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“
Israel finde die „Einheit und Einzigkeit Gottes […] nicht in sich selbst, sondern durch die Offenbarung Gottes an Mose, von der je neu die Rede sein“ müsse. Weiterhin werde deutlich: „Die Rückhaltlosigkeit, mit der sich Gott Israel zuwendet, ist der Grund, an dem Israel Gottes Einzigkeit erkennen kann – und dass Gottes Einzigkeit der Sachgrund seines Offenbarungshandelns ist.“
401 402
ebd., 156 (Hervorh. i. O.). ebd., 156ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 208
(2) Der Name Gottes Dass der „eine Gott […] seinem Wesen nach […] über alles liebenswert ist“, sei deshalb „der Fall, weil er sich als der eine und einzige Gott in der Befreiung Israels offenbart“ habe; in diesem Sinne ist die „Selbstvorstellung Gottes im brennenden Dornbusch“ (Ex 3,14) ein „Höhepunkt der UrOffenbarung […]“: „Ich bin, der ich bin.“
Diese „Selbstvorstellung“ des Gottes Israels sei „zugleich der vielsagende Anfangspunkt einer Geschichte, die zur Offenbarung des Namens Gottes auf dem Sinai“ in Verbindung mit der „Gnadenformel“ führe (Ex 34,5f): „Der HERR [= Jahwe] aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort neben ihn hin. Er rief den Namen des HERRN aus. Der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue: … .“
Daraus folge: „So viele Namen Gott im Alten Testament tragen wird, gibt es doch den Namen aller Namen, der sein ‚Ich‘ bezeichnet, in dem er sich offenbart: Jahwe. Vom Jahwe-Sein Gottes leitet sich seine Einzigkeit her; seine Einzigkeit und Einheit besteht in seinem Jahwe-Sein.“ (3) Götzenkritik und Jahwe-Monotheismus Deuterojesaja erhelle „den Jahwe-Monotheismus als Voraussetzung und Konsequenz des Dekalogs, des Exodus, der Schöpfungs- und Befreiungstheologie.“ – Seine „Götzenkritik“ sei „von einer Besinnung auf den Jahwe-Namen geprägt“ (43,10f): „Vor mir wurde kein Gott erschaffen und auch nach mir wird es keinen geben. Ich, ich bin der HERR und außer mir gibt es keinen Retter.“
Im Mittelpunkt stehe „die Proklamation der eigenen Identität. Diese Proklamation bildet den nucleus der alttestamentlichen Offenbarungsformel; sie ist durch den Jahwe-Namen inhaltlich aufs intensivste gefüllt. Im Kontext wird sie negativ und positiv entfaltet.“ (4) Vermittelte Einheit – die Weisheit Im Rahmen des prophetischen Monotheismus im Alten Testament stelle „sich die Frage, wie der einzig-eine Gott als er selbst der Schöpfer und Erhalter der Welt, auch der Erlöser Israels und der 209
Frommen sein kann, ohne seine Transzendenz“ zu verlieren. Dieses „Vermittlungsproblem“ beantworte „die alttestamentliche Weisheit, indem sie die Gestalt der Sophia evoziert.“ – Als „Krönung alttestamentlich-hellenistischer Weisheitstheologie“ könne „das Buch der Weisheit Salomos“ gelten; im „Horizont der Liebe Gottes“ baue der Verfasser „die Mittlerrolle der Weisheit aus“, die „sogar an Gottes Einzigkeit“ teilhabe (7,26f): „Sie [= die Weisheit] ist der Widerschein des ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Güte. Sie ist nur eine und vermag doch alles; ohne sich zu ändern, erneuert sie alles.“
Das bedeute: „Gott kommuniziert mit den Menschen auf vermittelte Art und Weise, und zwar so, dass er die Weisheit als seine Geliebte betrachtet, auf dass seine Liebe zur Weisheit auf die Menschen ausstrahle und sie zu Liebhabern der Sophia mache.“
b) Das neutestamentliche Verständnis der Einheit Gottes403 Grundsätzlich gelte: „Die Einheit Gottes ist einerseits die selbstverständliche Voraussetzung, andererseits das betonte Bekenntnis des Neuen Testaments.“ – Entsprechend antworte „Jesus auf die Frage nach dem größten Gebot“ mit Zitaten aus dem Alten Testament (vgl. Mk 12,28ff; Dtn 6,4f; Lev 19,18); in der „Versuchungserzählung“ weise „er Satan mit einem Kernsatz“ aus dem Deuteronomium „zurück“ (Mt 4,10; Dtn 5,9, 6,13): „Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen.“
Unabhängig davon, ob „es sich um ‚historische‘ oder um österlich neu geprägte Worte handelt“, seien sie „unzweideutige Zeugnisse christologischer Patrozentrik, die in der jesuanischen Theozentrik“ wurzelten. Im Blick auf die Einwände gegen den „Anspruch Jesu, Gottes Sohn zu sein“, müsse bedacht werden: „Die Christologie wird nicht als Relativierung, sondern als Radikalisierung des Monotheismus verstanden. Mehr noch: durch die Christologie, so die neutestamentliche Grundbotschaft, kommt erst in eschatologischer Gültigkeit zum Ausdruck, worin die Einheit Gottes besteht. In der Konsequenz steht eine neutestamentliche Trinitätstheologie, die nicht dogmatisch angelegt ist, aber narrativ, performativ und reflexiv. Herausragend geschieht dies bei Paulus und im Corpus Johanneum.“
403
ebd., 170ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 210
(1) Die Areopagrede der Apostelgeschichte Gemäß der Apostelgeschichte kann als „Höhepunkt paulinischer Theologie die Rede auf dem Areopag“ gelten (Apg 17,16ff), in welcher er „eine monotheistische Schöpfungs- und Geschichtstheologie“ darbiete, die „durchweg vom Standpunkt des biblischen Gottesglaubens und des Christusbekenntnisses“ aus argumentiere; es handle sich hier um „ein elaboriertes Zeugnis urchristlichen Monotheismus, der über die Kritik des Polytheismus“ hinausführe, indem „die Einheit Gottes, die indirekt das zentrale Thema der gesamten Rede ist, nicht etwa als reduzierte oder selektierte Vielfalt“ gedeutet werde, „sondern als jene Fülle, die sich in der Weite der Schöpfung und der Unbeirrbarkeit seines in der Auferstehung Jesu kulminierenden Heilswillens“ ereigne.
(2) Paulusbriefe Der Heidenapostel betone „an mehreren Stellen mit großem Nachdruck die Einzigkeit Gottes, gleichermaßen aber die Einzigkeit des Kyrios und die Einheit des Geistes.“ (a) Der eine Gott Wiederholt erinnere Paulus in „seinen Briefen […] die Heidenchristen […] an den radikalen Wandel, den es für sie bedeutete“, sich „von den Götzen zu Gott bekehrt“ zu haben, „um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen“ (1. Thess 1,9). (b) Ein Gott – ein Kyrios Entscheidender „Angelpunkt“ der paulinischen Verkündigung seien „Tod und Auferstehung Jesu.“ So gelte: „In der Auferweckung des Gekreuzigten ist die Verhältnisbestimmung von Christologie und Theologie begründet.“ – Im 1. Korintherbrief (8,4ff) bedeute das konkret: „… so wissen wir, dass es keine Götzen gibt in der Welt und keinen Gott außer dem einen. Und selbst wenn es im Himmel oder auf der Erde sogenannte Götter gibt – und solche Götter und Herren gibt es viele – , so haben doch wir nur einen Gott, den Vater. Von ihm stammt alles und wir leben auf ihn hin. Und einer ist der Herr: Jesus Christus. Durch ihn ist alles und wir sind durch ihn.“
211
Zu verstehen sei dies folgendermaßen: „Der Kyrios Jesus Christus ist der Schöpfungsmittler, und er ist der Versöhner, der die Menschen in seine Gemeinschaft mit dem Vater hineinnimmt. Er ist kein zweiter Gott; Gott, der Herr, ist der eine, Vater und Sohn. Er ist der Schöpfer, auf dessen Erlösung hin die Menschen immer schon angelegt sind, und zwar durch Jesus Christus, den Mittler der Schöpfung und der Erlösung.“ (c) Ein Gott – ein Herr – ein Geist „In den originalen Paulusbriefen“ sei „der Zusammenhang zwischen Theo-logie [sic!] und Christologie durch deren Patrozentrik bestimmt.“ Daraus folge: „Die Einheit Gottes, des Vaters und des Sohnes, spiegelt sich in der Einheit des Geistes (cf. 2 Kor 13,13). Paulus hat in seinen Briefen darüber nicht eigens nachgedacht, aber im Zusammenhang der Charismenlehre die Vielfalt der Gaben luzide auf die Einheit Gottes, des Kyrios und des Geistes zurückgeführt“ (1. Kor 12,4ff): „Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen.“
(3) Johannes Für das Evangelium des Johannes „ist die Einheit Gottes das zentrale alttestamentlich-jüdische Glaubenserbe, das von Jesus voll und ganz bejaht, aber von innen heraus mit seiner Gottessohnschaft verbunden“ werde. – So verkündigt Jesus „Gott, den einzig wahren, als seinen Vater und sich selbst als den präexistenten, vollmächtig wirkenden und am Kreuz erhöhten Sohn Gottes. Der Schlüsselsatz“ laute (Joh 10,30): „Ich und der Vater sind eins.“
Daneben sei zu beachten: „Die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist eine des Geistes. Johannes bestimmt das Pneuma mit einem Jesuswort als radikal theozentrisch“ (Joh 4,24): „Gott ist Geist … .“
Dieser Satz lasse „sich in beiden Richtungen lesen: Gott hat nicht nur den Heiligen Geist; er ist Geist; und der Geist gehört nicht nur zu Gott; er ist Gott.“ – Als der, dessen Kommen von Jesus angekündigt wird (Joh 14,16.26 u.a.), „ist er nicht nur Energie, Kraft oder Funktion, sondern selbst 212
Subjekt: als Anwalt und Tröster, Beistand und Mahner. Erst diese Pneumatologie“ ermögliche, „die Einheit Gottes radikal theologisch und soteriologisch zu denken, wie dies dem Begriff der Agape entspricht. Nach Johannes drückt Jesus dies in reziproken Immanenzformeln aus, die als Wesensaussagen über Gott und seinen Sohn, sein Heil und die Menschen zu verstehen sind, aber dieses Wesen relational und partizipatorisch bestimmen.“
2.
Die Einheit des Gottesvolkes im Lichte der Bibel
Grundsätzlich ist festzuhalten: „Der Einheit Gottes entspricht die Einheit des Gottesvolkes.“ – Während im „Alten Testament […] die Einheit Israels weithin ein politisches Thema“ ist, sei „die Einheit des Gottesvolkes“, von der das Neue Testament spreche, „durch die Völkermission geprägt und dadurch bestimmt, dass die Kirche aus Juden und Heiden kein Staat ist.“ Gleichwohl werde dabei „programmatisch auf die Verheißungen des einen Gottesvolkes und der eschatologischen Gemeinschaft Israels mit den Völkern“ zurückgegriffen.404 a) Die Einheit des Gottesvolkes im Alten Testament405 Für die „politische Geschichte“ des alttestamentlichen Gottesvolkes gelte, dass sie „in einem theologischen Horizont [stehe], der durch die Erwählung und den Segen Abrahams, die Gabe der Tora und die Verheißung des Neuen Bundes bestimmt“ sei. Auf diese Weise gewinne „die GottesvolkTheologie des Alten Testaments ekklesiologische Züge. Dem Deuteronomium und seiner Theologie kommt eine Schlüsselbedeutung zu.“ (1) Die Bundesformel Von entscheidender Bedeutung für Israel als Gottesvolk sei „Gottes Erwählung, die sich im Exodus konkretisiert.“ – Das Bekenntnis zu diesem Gott „ist die einzig adäquate Antwort auf dieses Ereignis.“ Entsprechend heißt es in Exodus 6,7: „Ich nehme euch mir zum Volk und werde euch Gott sein. Und ihr sollt wissen, dass ich der HERR bin, euer Gott, der euch aus dem Frondienst Ägyptens herausführt.“
404 405
ebd., 187 (Hervorh. i. O.). ebd., 187ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 213
Das auf diese Weise entstehende „einzigartige Verhältnis zwischen dem einen Gott und dem einen Volk wird in der – deuteronomistisch geprägten – Bundesformel zur Sprache gebracht.“ – So gilt die „Moserede“ in Deuteronomium 26,16ff als „Urszene der Bundesstiftung:“ „Heute, an diesem Tag, verpflichtet dich der HERR, dein Gott, diese Gesetze und die Rechtsentscheide zu halten: Du sollst sie bewahren und sie halten mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Heute hast du der Erklärung des HERRN zugestimmt. … Und der HERR hat heute deiner Erklärung zugestimmt. Du hast ihm erklärt: Du möchtest das Volk werden, das ihm persönlich gehört, wie er es dir zugesagt hat. Du willst alle seine Gebote bewahren; … .“
(2) Identität Indem „das Deuteronomium“ die Kritik der Propheten „zur Leitperspektive der Geschichtsschreibung macht“, erklärt es die „Abkehr vom einen Gott“ zur größten Gefahr „für die Einheit des Gottesvolkes“ Israel; so werden die „Trennung von Nord- und Südreich, der Untergang des Nordens und der Niedergang des Südens, das babylonische Exil und die Diaspora […] im Kern auf den Verrat des Gottesglaubens zurückgeführt.“ – Eine neue „Perspektive“ der „Hoffnung auf Erlösung“ eröffne schließlich wiederum das Deuteronomium in 30,1ff: „Und wenn alle diese Worte über dich gekommen sind, der Segen und der Fluch, die ich dir vorgelegt habe, dann wirst du sie dir zu Herzen nehmen mitten unter den Völkern, unter die der HERR, dein Gott, dich versprengt hat, und zum HERRN, deinem Gott, zurückkehren und auf seine Stimme hören in allem, wozu ich dich heute verpflichte, … . Er wird sich deiner erbarmen, sich dir zukehren und dich aus allen Völkern zusammenführen, unter die der HERR, dein Gott, dich verstreut hat. … Der HERR, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden. Dann wirst du den HERRN, deinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben können, damit du Leben hast.“
In der Botschaft der Propheten werde „die Sammlung als die endgültige Wiederherstellung ganz Israels, als endgültige Heilung aller Wunden und als endgültige Überwindung aller Spaltungen verheißen.“ – So kündige Hesekiel (37,22) an: „Ich mache sie im Land, auf den Bergen Israels, zu einer einzigen Nation. Und ein einziger König soll König für sie alle sein. Sie werden nicht länger zwei Nationen sein und sich nie mehr in zwei Königreiche teilen.“
„Auch wenn sich diese Hoffnung in der politischen Geschichte nicht erfüllt“ habe, sei sie – „messianisch“ verstanden – „auf ungeahnt neue Weise lebendig geworden.“ 214
(3) Israel und die Völker Israels „Abgrenzung von den Völkern“ sei „nur die Kehrseite eines Lebens des Gottesvolkes inmitten der Völker, das seiner gottgewollten Bestimmung entspricht, Gottes Identität zu bezeugen und Abrahams Segen für alle Völker zu verwirklichen.“ – Diese Abgrenzung bewirke einerseits „eliminatorische Aggressivität der Völker gegen das Volk Gottes“ (vgl. Ex 1f); die „Kehrseite“ solchen Verhaltens sei andererseits „die Anerkennung, die Israel“ erfahre aufgrund „seines Gesetzes […] und vor allem wegen seiner Verehrung des einen und einzigen Gottes.“ – So heißt es in den Worten Moses in Deuteronomium 4,6ff: „ … darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennenlernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk. Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie der HERR, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen? Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsentscheide, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?“
Damit verbunden sei eine großartige Aussicht: „Die Hoffnung auf eine letztliche Anerkennung durch die Völker ist kein Wunschtraum Israels, sondern tiefe Glaubensüberzeugung, die sich in unterschiedlichen Formen artikuliert. […]. Die Verheißung der Völkerwallfahrt wendet diese Hoffnung ins Eschatologische (Jes 2,2–4; Mi 4,1–5). Die endgültige Sammlung der Zerstreuten verknüpft sich mit der Einigung Israels und der Hinführung ‚vieler‘ Völker zur Erkenntnis Gottes.“ So bleibe letztlich festzuhalten: „Die alttestamentliche Theologie der Einheit des Gottesvolkes findet ihrer größte Dichte, wo sie am weitesten wird. Wenn die Prophetie den Blick für Gottes Zukunft öffnet, ist die Identität Israels am größten, am größten aber auch seine Anziehungskraft, weil seine Einheit mit Gott am größten ist.“
b) Die Einheit des Gottesvolkes im Neuen Testament406 Im Neuen Testament begegneten „drei Problemzusammenhänge“, innerhalb derer „die Einheit des Gottesvolkes“ in „zu einem expliziten Thema der Theologie“ werde: 1. Das „Verhältnis zwischen Juden- und Heidenchristen, das auf das Verhältnis der Kirche zu Israel“ verweise; 2. „die Zusammengehörigkeit vieler aus allen Sprachen, Nationen, Berufen in der Gemeinde;“
406
ebd., 204ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 215
3. „die Gemeinschaft der Glaubenden mit Jesus Christus in der durch ihn vermittelten Gemeinschaft mit Gott.“
Die „synoptischen Evangelien“ geben zu erkennen: Jesus knüpfe mit der Berufung des Zwölferkreises „an die Tradition des einen Gottesvolkes in zwölf Stämmen an“ (Mk 3,13ff); daneben beziehe er sich ebenso auf „die Tradition der eschatologischen Völkerwallfahrt, wenn er, kritisch gegen Israel gewendet und gleichzeitig zu den Wurzeln Israels zurückgehend, von der Tischgemeinschaft der Völker mit ‚Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich‘“ spreche (Mt 8,11f par, 12,42 par). Dadurch seien „wesentliche Vorgaben gemacht, die unter österlichen Bedingungen aufgenommen und ausgebaut werden.“ (1) Paulus Der Völkerapostel sei „derjenige, der […] als erster die Einheit der Ekklesia reflektiert und sofort alle drei Dimensionen, die israeltheologische, charismentheologische und soteriologische, erschlossen und […] miteinander verbunden“ habe: (a) Einheit in Christus Im Galaterbrief spricht Paulus im „Zusammenhang der Rechtfertigungstheologie“ über „die Taufe“ bzw. „die verwandelnde Kraft des Glaubens“ und macht dabei deutlich (3,26ff): „ … alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ Diese Verse seien gleichzeitig „konkret“ und „so grundlegend, dass sie Tauftheologie und Ekklesiologie aufs engste zusammenführen und zwar christologisch-soteriologisch.“ (b) Einheit des Leibes Christi In ähnlicher Weise schreibt Paulus in Römer 12,4f: „Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als Einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören.“ Während es in Galater 3,26ff um „die soteriologische Überwindung herrschender Diskriminierungen“ gehe, blicke Römer 12,4f „auf die innere Vielfalt, den charismatischen Reichtum der Ekklesia, der aber deren Einheit gerade nicht zerstört, sondern im Gegenteil realisiert.“ 216
(c) Einheit von Juden und Heiden Grundsätzlich ist für Paulus die „Einheit von Juden und Heiden […] ein ekklesiales Faktum, das aus der Heilswirkung Jesu Christi“ folge; im Römerbrief werde deutlich, „dass diese Einheit kein schiedlich-friedliches Nebeneinander, sondern ein spannungsgeladenes Miteinander“ sei, das durch den „heilsgeschichtlichen Primat Israels geprägt“ ist (Röm 1,16); während es in der Zeit „eine im Glauben begründete Trennung zwischen Juden und Christen“ gebe, hofft Paulus eschatologisch auf eine Rettung (σωτηρία), die „ganz Israel“ umfasse (11,26): „ … so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: Es wird kommen aus Zion der Retter, … .“
(2) Der Kolosser- und der Epheserbrief Der Kolosserbrief beziehe sich auf das Einheitsmotiv aus Galater 3,26ff und formuliere es im tauftheologischen Zusammenhang bezogen auf „die eschatologische Neuschöpfung“ in Jesus Christus (3,11): „Da gibt es dann nicht mehr Griechen und Juden, Beschnittene und Unbeschnittene, Barbaren, Skythen, Sklaven, Freie, sondern Christus ist alles und in allen.“
Im Epheserbrief erhält die christologische „Verbundenheit von Juden und Heiden“ einen neuen Akzent, indem die Lebenshingabe Jesu samt ihrer Folgen „nicht nur“ als „Statusgewinn der Völker beschrieben“ wird, sondern ebenso „als radikal neue Situation für Israel“ (2,14ff): „ … er [= Christus] ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riss die trennende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch nieder. Er hob das Gesetz mit seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in sich zu einem neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib.“
Schließlich finde der „Begriff der Einheit […] seine prägnanteste Gestalt in einer katechetischen Reihe, mit der die Mahnung zur Einheit begründet und überhöht“ werde (Eph 4,4ff): „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung in eurer Berufung: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist.“
Damit verbinde der Verfasser auf „äußerst konzentrierte Weise verschiedene paulinische und deuteropaulinische Einheitstheologien“ gemäß einer bestimmten „inneren Logik: Sie beginnt bei der Kirche, die als ‚Leib‘ vorgestellt wird, und endet bei Gott, dem Vater, dessen kosmische Präsenz die Schlussdoxologie“ feststelle. 217
(3) Johannesevangelium Im Evangelium des Johannes werde „die Einheit der Kirche nicht explizit“ zum Thema, „aber implizit desto deutlicher.“ – „In der Hirtenrede Joh 10, deren Fortführung auf die Offenbarung der Einheit des Sohnes mit dem Vater zuläuft (Joh 10,30), redet Jesus von der Heilsbedeutung seiner Lebenshingabe (Joh 10,11).“ Die Mitte des zweiten Teils der Rede bildet Joh 10,16: „Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.“
Hier gelte: „Die Einheit der Herde entspricht der Einheit des Hirten; die Einheit des Hirten ergibt sich aus der Einzigkeit Gottes, an der er teilhat. Der Gute Hirte kann Jesus nur als der eine Hirt sein, weil sonst die Hingabe seines Lebens keine rettende Kraft im Sinne eschatologischer Lebensvermittlung hätte. […] Eine Herde ist sie nach Joh 10 unter dem wesentlichen Aspekt, dass sie aus Juden und Heiden gebildet ist. Dies ist ein – oft übersehenes – Zentralthema johanneischer Ekklesiologie.“ Im großen „Abschiedsgebet Joh 17 offenbart Jesus nicht nur seine Einheit mit dem Vater“, sondern bittet gleichzeitig für die „Einheit der Jünger,“ welche als Einheit „auf ‚alle‘ ausgeweitet [wird], die durch ihr Zeugnis und nicht zuletzt durch ihre Einheit nachösterlich zum Glauben kommen“ werden (17,11.20ff): „Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir! … Ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. … ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast … .“
Die hier von Jesus angesprochene „Einheit“ sei „eine Größe der jenseitigen Vollendung; sie ist das ewige Leben. […] Aus der von Gott selbst geschenkten und gewirkten Einheit mit Gott – nur aus ihr – erwächst in der Heilsgegenwart die Einheit der Glaubenden untereinander.“
218
3.
Die perspektivische und geschichtliche Einheit der Schrift407
a) Der biblische Begriff der Einheit Die Gegebenheit, dass „der eine Gott […] zu Menschen und durch Menschen“ spreche, bedinge, „dass die Einheit der Schrift nur als perspektivische und geschichtliche bestimmt werden“ könne: „Nicht dass alle ein und dasselbe sagen, sondern dass alle ein und denselben Gott bezeugen, und zwar im Volk Gottes und für das Volk Gottes, ist das Kriterium der Einheit in der Heiligen Schrift; und nicht dass die Geschichte übersprungen, sondern als Ort des Handelns Gottes entdeckt und beschrieben wird, ist das Proprium biblischer Einheit. Die Einheit der Schrift kann also nur so gefunden werden, dass die biblischen Texte […] an ihren geschichtlichen Orten aufgesucht und aus ihrer Zeit heraus […] interpretiert werden […].“
Dies bedeute, „dass die Einheit der Bibel nur koinonal gedacht werden kann: Sie ist erstens im Kern nicht auf der Ebene reiner Textvergleiche zu entdecken, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bilanzieren würden, sondern nur dann, wenn das Prä des Bezeugten vor dem Zeugnis […] beachtet wird, also der Zeugnischarakter der Heiligen Schrift; und sie ist zweitens auf der Ebene der Texte nicht darin zu suchen, dass alle Positionen nahtlos übereinstimmen […], sondern nur darin, dass sie im Wesentlichen miteinander verbunden sind. Dieses Wesentliche ist das Wort Gottes, neutestamentlich das Evangelium.“
b) Hermeneutische Konsequenzen Der so verstandene Einheitsbegriff bringe ein Doppeltes mit sich: (1) Die Einheit der Schrift durch die Vielfalt der Schriften Wenn in der Heiligen Schrift Einheit nur in Vielfalt vorliege, dann könne diese „durchaus auch Widersprüche und Gegensätze enthalten, nicht nur Anknüpfungen, sondern auch Abbrüche,
407
ebd., 225ff (Hervorh. i. O.). 219
nicht nur Fortschreibungen, sondern auch Umdeutungen. Freilich, so das Postulat des christlichen Glaubens, müsste sich die Vielfalt der biblischen Theologien gerade darin als Ausdruck der Identität Gottes in seiner geschichtlichen Offenbarung erweisen und insofern von radikaler Offenheit und gar Beliebigkeit ebenso klar unterscheiden wie von Monotonie.“ 1. Einerseits gelte: Weil „der ‚je größere‘ Gott sich in der Geschichte durch die Vielfalt seiner Offenbarungen und eschatologisch durch Jesus Christus als der eine Gott offenbart, muss den verschiedenen menschlichen Offenbarungs-Zeugnissen […] eine innere Einheit eigen sein;“ deshalb seien speziell „jene [Texte] von einzigartiger Qualität, die nach Gottes Willen den geschichtlichen Offenbarungen zeitlich wie vor allem theologisch besonders nahe stehen und deshalb für die von Gott durch seine Offenbarung gestiftete Glaubens-Gemeinschaft grundlegende Bedeutung haben sollten.“ 2. Andererseits sei festzuhalten: In ihrer zeitlich-geschichtlichen Pluralität „verweisen die vielen Offenbarungen […] auf die Einheit der eschatologischen Selbst-Mitteilung Gottes ‚von Angesicht zu Angesicht‘ (1 Kor 13,12), die sie […] antizipieren; eben deshalb aber sind sie an jenen Kairos der Geschichte Israels, Jesu und des Urchristentums gebunden, den Gott […] bestimmt hat.“
(2) Die Einheit der Schrift durch die Spannung der Testamente Die „im Pneuma vorgegebene Einheit der Schrift“ entstehe „notwendig durch die Spannung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament […]“; dies habe wiederum zwei Gründe: 1. Der „eine Gott“ habe „sich in der Geschichte Israels als ‚Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs‘ (Ex 3,6; Mk 12,26), in der Geschichte Jesu Christi aber eschatologisch-neu als ‚Vater‘ Jesu und seiner Jünger offenbart (Lk 11,2ss. par Mt 6,9–13)“; – dem entspreche „die Spannung zwischen dem alt- und dem neutestamentliche Kerygma […].“ 2. Aufgrund „der Übermacht der menschlichen Sünde und der Mitteilung der je größeren göttlichen Gnade durch die Sendung des Sohnes (cf. Mk 12,1–9 und Gal 4,4)“ sei „die eine Geschichte Israels und Jesu Christi von Gott […] epochal strukturiert worden […]“, woraus „die Spannung zwischen den alt- und den neutestamentlichen Theologien“ resultiere.
(3) Zusammenfassung Auf der Suche nach der „‚Einheit‘ der Schrift“ finde sich „keine statische, sondern eine dynamische, keine zeitlose, sondern eine geschichtliche, keine homophone, sondern eine polyphone, keine spannungslose, sondern eine spannungsreiche Einheit. Ihre Kennzeichen sind freilich weder 220
logische Stringenz noch komplementäre Abrundung sondern Relevanz und Validität.“ – Ein exegetischer „Aufweis der Einheit der Schrift“ sei in jedem Fall „fundamentaltheologisch notwendig; er wäre gelungen, wenn wenigstens approximativ gezeigt werden könnte, dass die Einheit der Schrift, die in der ‚Wahrheit des Evangeliums‘ (cf. Gal 2,5.14) begründet liegt, gerade die in den biblischen Texten vorzufindende Vielfalt der biblischen Theologien und die von diesen Texten aufgebaute Spannung der beiden Testamente hervorruft und dass umgekehrt gerade diese Vielfalt und diese Spannung jene Einheit zeitigt, die in der Wahrheit liegt.“
IV.
Die Struktur des Kanons408
Den Ausgangspunkt bildet eine Bestandsaufnahme: „Der biblische Kanon hat eine prägnante Struktur. Sie ist durch die Vielfalt und den Zusammenhalt der Schriften geprägt, entscheidend aber durch die Zweiheit und die Abfolge der Testamente. An der Nahtstelle, in der Mitte, wird Jesus als Messias eingeführt; in ihm, dem menschgewordenen Gottsohn, dem auferstandenen Gekreuzigten, ist der paradiesische Anfang mit dem paradiesischen Ende verbunden.“ – In diesem Zusammenhang sei zu bedenken: „Außerhalb der exegetischen und theologischen Wissenschaft wird die Bibel permanent als ein Buch gelesen, das sich zwar aus verschiedenen Büchern zusammensetzt, aber darin doch zur Einheit verbunden ist.“
Die entscheidende Frage lautet: „Ist es auch exegetisch möglich, die Bibel so zu lesen? Die Einwände liegen auf der Hand. Läuft eine Gesamtbetrachtung der Struktur des Kanons nicht auf eine Harmonisierung hinaus? Werden die vielen Einzelstimmen durch einen satten Orgelton des ganzen übertönt? Das wäre verheerend. Es würde der Bibel, die ja eine Bibliothek ist, im Ansatz nicht gerecht. Allerdings fragt sich, ob es nicht genau die Lektüre ihrer Geschichte auf der Ebene des kanonischen Endtextes ist, die einen neuen Zugang zur Vielfalt der Schrift verschafft. Ist es nicht doch möglich, die Bibel, das Buch aus vielen Büchern, als ein Buch zu lesen, ohne das die Vielfalt reduziert wird?“
408
ebd., 232ff (Hervorh. i. O.). 221
1.
Die vielen Geschichten in der einen Geschichte409
Dass in „dem großen Bogen, der die Bibel zu einem einzigen Buch zusammenschließt, […] die vielen Bücher der Bibel mit ihren zahlreichen Perikopen, Traditionen, Motiven ihren Platz“ finden, sei zunächst folgendermaßen einzuschätzen: „Sie bilden kein Hintergrundrauschen, das ausgefiltert werden könnte, um die Grundmelodie des Evangeliums besser zu hören, sondern sind in ihrer Vielfalt integraler, wesentlicher Teil der großen Geschichte, die erzählt wird.“
a) Das Spektrum des Alten Testaments Grundsätzlichen hermeneutischen Stellenwert hat Södings folgende Einschätzung: „Die Tora des Mose hat in der Jüdischen Bibel die Funktion eines ‚Kanons im Kanon‘. Auch im Alten Testament hat sie besonderes Gewicht, weil sie von der Erschaffung der Welt, der Erwählung Abrahams und der Offenbarung des einen Gottes handelt, zusammengebunden im Gesetz.“ – Für die Interpretation der Tora sei zu beachten: „Der Pentateuch ist eingebunden zuerst in die Bücher der Geschichte; er kann nur im Kontext der Weisheitsliteratur und der Propheten richtig gelesen werden – so wie das gesamte Alte Testament im Licht des Neuen Testaments […].“
b) Das Spektrum des Neuen Testaments Einzusetzen ist mit einem Rückverweis: „Das Spektrum der neutestamentlichen Texte kann nicht ohne das gesamte Alte Testament betrachtet werden. Innerhalb des Neuen Testaments kommt den Evangelien das entscheidende Gewicht zu“: „Das ganze Neue Testament ist um Jesu Christi willen entstanden. […] Alle Evangelien überliefern […] Jesu Ruf in die Nachfolge – und dass die Sendung zur Evangeliumsverkündigung (cf. Mk 6,6–13 parr.) nachösterlich durch die Erscheinungen des Auferstandenen neu begründet und universal ausgeweitet werden wird. Damit ist die Kirche im Basileia-Dienst Jesu Christi
409
ebd., 237ff (Hervorh. Verf.). 222
begründet; gleichzeitig werden die von Jesus Christus ausgesandten Verkündiger zu einmaligen Gründergestalten, die erstmalig in seinem Namen taufen und lehren. Alle Evangelien deuten die Jesus-Geschichte mit Hilfe des Alten Testaments.“
c) Hermeneutische Konsequenzen Altes und Neues Testament „handeln von der Erwählung Abrahams und Israels, […] im Alten Testament unter dem Aspekt, dass die Unterscheidung zwischen dem einen Volk und den vielen Völkern die entscheidende Bedingung der Heilsvollendung ist, und im Neuen Testament unter dem Aspekt, dass durch Jesus Christus, den Samen Abrahams, der Segen Gottes allen Völkern zuteil wird, die durch das Evangelium in die Kirche integriert werden, das Volk des Neuen Bundes, der in Jesu letztem Abendmahl gestiftet ist.“ Für eine Zusammenschau gelte: „Die alt- und neutestamentlichen Spektren der biblischen Texte […] müssen als je eigene ansichtig werden, die je eigene, unverwechselbare und unverzichtbare Beiträge zur biblischen Gesamtgeschichte liefern. […] Die beiden Spektren liegen aber nicht nebeneinander. Sie entwickeln sich nacheinander.“
2.
Der Umfang und die Sprache der Bibel410
„Der Umfang des Neuen Testaments stimmt nach einer kurzen Klärungsphase in allen Kirchen überein. […] Sehr früh stehen die vier Evangelien, das Corpus Paulinum, die Apostelgeschichte und die Katholischen Briefe fest. Am längsten wird um die Offenbarung des Johannes gerungen. […] Heute haben alle christlichen Konfessionen den identischen Umfang des Neuen Testaments.“ Bezüglich des Alten Testaments begegnet eine andere Sachlage: „Es gibt nicht unerhebliche Unterschiede zwischen Juden und Christen, […]. Sie hängen damit zusammen, dass es das Alte Testament nicht nur hebräisch, sondern auch griechisch gibt. […] Im Umfang hat sich das Judentum entschieden, nur die […] hebräischen Originalschriften zu kanonisieren […]. Für die Rezeption im Westen war die Vulgata maßgeblich, deren Schriften schließlich das Konzil von Trient als kanonisch für die katholische Kirche auflistet.“ – Luther votierte für die „Rückkehr zur hebraica veritas“, was letztlich eine „größere Nähe zum Judentum“ ergab.
410
ebd., 255ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 223
Aus heutiger Sicht legt sich eine differenzierte Entscheidung nahe: „In der Rezeption des Neuen Testaments haben diejenigen Schriften, die Bestandteile der Biblia Hebraica geworden sind, überragendes Gewicht. Aber auch Schriften, die zur Biblia Graeca gehören, werden gezielt rezipiert. Die Alte Kirche hat ziemlich einmütig den breiteren Schriftenbestand der Septuaginta411 genutzt.“ – Diese Schriften gelten als „Brücke zum Neuen Testament. Sie betonen […] die Kontinuität der Geschichte“ und gelten als „Voraussetzung für die neutestamentliche Christologie der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi.“
Deshalb müsse folgende Schlussfolgerung gezogen werden: „Aus neutestamentlicher Sicht kann das Alte Testament seinem Umfang nach nicht nur in den Grenzen des hebräischen Kanons gesehen werden, obgleich hier der Kern liegt, sondern braucht den Ausgriff auf die Septuaginta (die ihrerseits eine variablere Größe seine dürfte, als lange Zeit angenommen wurde und der knappe Begriff insinuieren könnte).“
3.
Der Aufbau der Biblia Judaica412
Insofern „die Komposition der Bibel […] ein Schlüssel zu ihrem kanonischem Gesamtverständnis“ ist, muss vorab konstatiert werden: „Zwischen der Jüdischen Bibel und dem christlichen Alten Testament gibt es auf der Basis wesentlicher Übereinstimmung signifikante Unterschiede.“ – Die jüdische Abfolge Tora – vordere und hintere Propheten (Josua – 2. Könige und Jesaja – Maleachi) – Schriften weist der Prophetie eine im Vergleich zum Christentum andere Position zu: Das Alte Testament stellt – parallel zur Septuaginta – die Schriften in die Mitte. – Mit dieser Gegebenheit kann als Folgerung verbunden werden: „In der Biblia Judaica sind die Propheten die ersten und wichtigsten Interpreten der Tora. […] Die Schriftpropheten sind gleichfalls so angeordnet, dass sie als authentische Kommentatoren der Tora fugieren. Zugleich aber weiten sie deren Horizont für Gottes Zukunft, wie dies dem Segen Abrahams für all Völker (Gen 12) entspricht. […] Der Rekurs auf die Tora ereignet sich ebenso wie die prophetische Explikation und Extrapolation torakonformer Theologie in einem Kontext, der durch Sünde und Gericht, Strafe und Erlösung vorgegeben ist.“ 411
412
d.h. über die Biblia Hebraica hinaus die Bücher Tobit, Judit, beide Makkabäerbücher, Baruch, die Weisheit Salomos, Jesus Sirach, Zusätze (vor allem) zu Daniel. ebd., 262ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 224
Insgesamt kann gesagt werden: Die Abfolge der jüdischen Bibel „ist Ausdruck einer Theologie des Gesetzes, die für das Judentum signifikant ist. Das Gesetz vom Sinai ist Wegweisung zum Leben […].“ – Dies ist frei von Verzerrungen wahrzunehmen: „Die Orientierung an der Tora hat mit jener Gesetzlichkeit, gegen die sich die liberale Theologie empört, nichts zu tun, sondern mit dem Wissen um die Verbindlichkeit des Willens Gottes und die Heiligkeit des Textes, der ihn bezeugt. Die Orientierung am Gesetz provoziert auch nicht ein religiöses Anspruchsdenken,“ – stattdessen führe „das Gesetz zum Gehorsam gegen Gottes Wort.“
Vom Neuen Testament aus gesehen sei „diese jüdische Tora-Hermeneutik gleichfalls nur im Rahmen einer Theologie des Gesetzes zu beurteilen. Da es im Urchristentum nicht die Gesetzestheologie, sondern ein Spektrum an Gesetzestheologien gibt, ergibt sich auch keine einlinige, sondern eine vielschichtige Antwort.“ – Folgende Leitlinie könne der Orientierung dienen: „Im Lichte Jesu Christi zeigt sich, dass die Mose-Tora nicht die letzte Instanz allen Urteilens und Handelns ist, sondern ihrerseits im Kontext nicht nur der Schöpfung, sondern auch der Sünde und der Erlösung durch den Menschensohn und Gottessohn Jesus steht. Dadurch wird das Gesetz […] nicht destruiert, sondern ‚aufgerichtet‘ (Röm 3,31) […].“
4.
Der Aufbau des Alten Testaments413
Zunächst ist zu beachten: „Das christliche Alte Testament ist im Osten durch die Septuaginta, im Westen aber durch die Vulgata bestimmt, die ihrerseits auf der Septuaginta, aber ebenso der Hebraica fußt. […] Erst im hohen Mittelalter kristallisiert sich im lateinischen Raum in etwa die Reihenfolge heraus, die in den Konzilien von Florenz und Trient vorausgesetzt worden ist.“ Fest steht in jedem Fall, dass auch „in der christlichen Bibel […] die fünf Bücher Mose am Anfang“ stehen. Variationen liegen vor im Blick auf die „Anordnung der ‚Propheten‘ und ‚Schriften‘ […], zumal die Reihenfolge ‚Gesetz und Propheten und Psalmen‘ durch Lk 24,44 vorgegeben scheint, während der übliche Dual ‚Gesetz und Propheten‘ eine Zweiteilung nahelegen könnte.“
413
ebd., 269ff (Hervorh. Verf.). 225
Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass das „christliche Alte Testament […] mit seiner Schlussakzentuierung der Propheten keine radikale Veränderung der Jüdischen Bibel“ darstellt, vielmehr „eine Möglichkeit […], die auch im Judentum angelegt“ sei. „Aus der prophetisch gelesenen Bibel Israels erklärt sich das Judentum, in das Jesus nach der lukanischen Kindheitsgeschichte hineingeboren ist und das sich mit seinen Hymnen in so gültiger Weise äußert, dass es die christliche Liturgie bis heute prägt. Aus ihr erklärt sich auch die messianische Erwartung, in der nach Lk 3,15 das Volk lebte und die Jesus auf seine ganz eigene Weise wahrnimmt.“
5.
Der Aufbau des Neuen Testaments414
Bereits seit Irenäus und Tertullian begegne die „Reihenfolge Evangelien – Apostelgeschichte und Apostelbriefe“, während „Unterschiede […] innerhalb dieser Einheiten“ festzustellen seien.
a) Der Primat der Evangelien und des Evangeliums Grundsätzlich gelte: „Die Sammlung der vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes bildet eine der Keimzellen des Kanons. Offenbar hat es keinen breiten Verdrängungswettbewerb gegeben, sondern […] ein sehr starkes Interesse, alle vier Evangelien beisammen zu haben.“ – Ihre Anzahl und Reihenfolge seien in der Alten Kirche nahezu unbestritten, obwohl feststand: „Der Vierzahl der Evangelien entspricht die Einzahl des Evangeliums. Es gibt nur ein Evangelium, wie es nur einen Gott, eine Gottesherrschaft und einen Gottessohn gibt. […] Die Namen der Evangelisten, wie sie in der Überlieferung gefunden werden, sind nicht verschwiegen; […]. Aber letztentscheidend ist doch nicht ihre individuelle Perspektive, sondern das ihnen vorgegebene Evangelium Gottes, das von Jesus Christus verkündigt wird und das Jesus Christus verkündigt.“
Die Spitzenstellung der Evangelien sei „theologische Programmatik: Die Komposition des Neuen Testaments zeigt den absoluten Primat Jesu Christi, seiner Person, seiner Verkündigung, seines Leidens, seines Todes und seiner Auferstehung. Die Christologie geht der Ekklesiologie voraus,
414
ebd., 273ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 226
so gewiss die Traditionsbildung, die den Evangelien zugrundeliegt, ein kirchlicher Vorgang ist. Mehr noch: Vor der Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu steht sein Wirken in Galiläa und Judäa, vor diesem Wirken seine Geburt in Bethlehem, von der – nur – Matthäus und Lukas berichten. Die Evangelien sind zwar allesamt im Licht des Auferstehungsglaubens geschrieben; aber sie stehen dafür, dass es christologisch nicht nur auf das ‚Dass‘ des Gekommenseins Jesu ankommt, sondern auch auf das ‚Was‘ und ‚Wie‘ seines Wirkens, einschließlich seines Leidens. Die neutestamentliche Theologie ist geschichtlich fundiert, weil Jesu Wirken, Tod und Auferweckung als eschatologisches Faktum gesehen werden.“
b) Die Zeit der Apostel Auch wenn es nicht zutreffend sei, dass „erst die Apostelgeschichte […] die Kirche ins Spiel“ bringe415, sei die lukanische Schilderung gleichwohl „das große Bindeglied des Neuen Testaments […]. Sie verbindet die Jesusgeschichte ausdrücklich mit der Kirchengeschichte; […] sie öffnet den zeitlichen Horizont über das Berichtete bis ans Ende aller Zeiten, weil der Heilige Geist seine Wirksamkeit behält.“ – Im Blick auf die Reihenfolge der Briefe sei zu beachten: 1. Dass die paulinischen vor den katholischen Briefen stehen, finde sich bereits bei Irenäus und Tertullian. Weiterhin stehe fest: „Die Sammlung der Paulusbriefe bildet neben dem Vierevangelienkanon einen zweiten Keim des Kanons.“ Ihre Reihenfolge ist allerdings unterschiedlich: „In den allermeisten Fällen steht […] der Römerbrief am Anfang; mit wenigen Ausnahmen findet sich dieselbe Abfolge der Briefe wie in den heutigen Bibelausgaben. Den Schluss bildet meist der Philemonbrief.“ 2. Die variierende Stellung des Hebräerbriefs erklärt sich aus der Tatsache, dass seine kanonische Geltung „nicht unumstritten war. Nahezu immer wird er entweder dem Corpus Paulinum eingeordnet oder angefügt.“ – Lediglich Luther rücke ihn aus inhaltlichen Gründen von den Paulusbriefen ab. 3. Auch im Blick auf die Katholischen Briefe gelte, dass sie „heute in den westlichen Bibelausgaben unterschiedlich angeordnet“ sind. – Katholische Bibeln „folgen der Vulgata und bieten die Reihenfolge Jakobusbrief – Petrusbriefe – Johannesbrief – Judasbrief.“ – Wiederum aufgrund theologischer Vorbehalte stehen in Luthers Übersetzung „erst die Petrus- und Johannesbriefe, dann folgen Hebräer, Jakobus und Judas. Die altkirchliche Ordnung, die
415
vgl. den Jüngerkreis bzw. Jesu Ruf in die Nachfolge in den Evangelien. 227
Jakobus integriert und vor Petrus an die Spitze der Katholischen Briefe stellt, dürfte […] einer ähnlichen Überzeugung wie die Apostelgeschichte folgen: dass es zwischen Paulus und Jakobus keinen unauflöslichen Widerspruch, sondern eine tragfähige Gemeinsamkeit gegeben“ habe (Apg 15,21).
Insgesamt sei festzustellen: „Zusammen mit den Briefen der Paulusschule und dem Hebräerbrief spiegeln die Katholischen Briefe, wie notwendig um Gottes willen die Arbeit am Aufbau der Kirche ist (cf. 1 Kor 3,10–17): an der Sicherung des Fundamentes und dem Ausbau des Hauses in turbulenten Zeiten.“
c) Die Vision des Kommenden Zunächst ist eine große Übereinstimmung festzustellen: „In allen Handschriften, die Aussagen erlauben, steht die Apokalypse am Ende des Neuen Testaments und der ganzen Bibel. In nahezu allen Kanonlisten setzt sie den Schlusspunkt.“ – Dieser Befund hat eine wichtige hermeneutische Funktion: „Das ist das Ergebnis einer programmatischen Interpretation, die nicht nur der Johannesoffenbarung einen kanonischen Stempel aufdrückt, sondern auch dem Neuen Testament insgesamt eine prophetische Ausrichtung verschafft. […] Für das Gesamtverständnis des Neuen Testaments als Kanon ist dies von großer Bedeutung: Wie das Alte Testament in den christlichen Ausgaben mit den Propheten endet, die den Blick […] für das Kommen des Messias weiten, so endet das Neue nicht mit einem triumphalistischen Preis des Erreichten oder einer Selbstbespiegelung der Kirche, […] sondern mit einem prophetischen Ausblick auf das, was sich noch nicht ereignet hat, sondern noch aussteht: das vollendete Reich Gottes.“
Damit wird deutlich gemacht: „Zum Schluss zählt, worauf noch zu hoffen ist, welche Konflikte ausgetragen werden müssen, welchen neuen Erscheinungsformen des Bösen sich ein wachsendes Christentum gegenübersieht und welche Dimensionen des überwältigenden Heils dem normalen Auge verborgen bleiben, aber die göttliche Realität bestimmen.“ – Daneben gilt aber auch eine weitere kanontheologische Erkenntnis: „Als Prophetie ist die Johannesapokalypse kanonisiert, aber den Apostelschriften nachgestellt worden. […] Das ureigene Prophetenverständnis des Johannes wurde damit erheblich modifiziert, aber prinzipiell bejaht. So wie die Johannesoffenbarung nur im Kontext der gesamten Heiligen Schrift so gelesen werden kann, wie sie selbst gelesen werden will, so ist es erst sie, die der ganzen Bibel den Stempel eschatologischer Hoffnung im Namen Gottes aufdrückt.“ 228
d) Hermeneutische Konsequenzen Söding formuliert programmatisch: „Die entscheidende Aufgabe, die sich kanonhermeneutisch im Neuen Testament stellt, ist die Beziehung zwischen Jesus und der Kirche mitsamt der dadurch geprägten Beziehung zwischen der Kirche und dem Reich Gottes. Die reine Existenz und der klare Aufbau des neutestamentlichen Kanons zeigen die Notwendigkeit einer doppelten Fundamentalunterscheidung: zwischen Jesus und der Kirche wie zwischen der Kirche und dem Reich Gottes.“ – Hier sei klarzustellen: „Diese Fundamentalunterscheidung ist aber das Gegenteil einer Trennung, sondern vielmehr die Voraussetzung wie die Konsequenz ihrer untrennbaren Zusammengehörigkeit im Zeichen des Heilshandelns Gottes. Das Neue Testament legt durch seine Existenz wie durch seinen Aufbau mit den Evangelien an der Spitze ein grundlegendes Zeugnis der Jesusnachfolge ab, die jeder einzelne in der Gemeinschaft der Glaubenden lebt und die Kirche in ihren zahlreichen Gliedern.“
Das Neue Testament erzähle „die Geschichte, wie es durch Jesu Glaubensruf in Folge der Auferstehung des Gekreuzigten und der Geistsendung zur Gründung der Kirchen und zum bestimmenden Anfang ihrer Geschichte gekommen ist. […] Gleichzeitig stellt es die Kirche in den Horizont des Reiches Gottes“: „Einerseits zeigt es, dass die Kirche gerade im Zuge des Nahekommens der Gottesherrschaft entsteht. […] Andererseits richtet es die Kirche auf in der Hoffnung des Reiches Gottes. Es redet an vielen Stellen […] von der Gegenwart des Heiles […]. Aber es leugnet die Realität des Todes, die Schwäche des Fleisches, die Sinnlosigkeit des Leides nicht.“
Auf diese Weise werde daran festgehalten, „dass die Vollendung noch nicht geschehen ist, dass sie aber von Jesus neu verheißen ist und sich, so Gott will, realisieren wird.“
229
6.
Abfolge, Unterscheidung, Verklammerung der Testamente416
Die Tatsache, dass „die Abfolge Altes Testament – Neues Testament […] von allen antiken, mittelalterlichen und modernen Bibelausgaben bezeugt wird, [halte] den Gang der Geschichte als Raum der Offenbarung Gottes fest.“ – Wenn Jesus im Johannesevangelium sagt (4,22): „… das Heil kommt von den Juden“, dann sei dies „keine Marginalie, sondern ein essential der Christologie […].“ – Daraus folge: „Die Bibel wird nicht rückwärts, sondern vorwärts gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite, nicht umgekehrt.“ Zwar gelte, dass „Christen die Bibel nur von einem christlichen Standpunkt aus betrachten“ können; sie gehen auch davon aus, „dass Gott, der sich im Alten wie im Neuen Testament bezeugt, nicht erst der Vater Jesu Christi wird, sondern immer schon der dreieine Gott ist. […] Aber wollte man die Akoluthie der Bibel nicht beachten, würde man die Geschichte überspringen, die im Horizont biblischer Offenbarungstheologie aber wesentlich ist.“ – So bleibe es dabei: Die Heilige Schrift „muss vom Anfang bis zum Ende gelesen werden, sonst kann sie keine Spannung entwickeln. Die christliche Schrifthermeneutik ist nicht nur neutestamentlich, sie ist gesamt-biblisch bestimmt […].“
Deshalb sei festzuhalten: „Der geschichtliche Schriftsinn, den das Alte Testament in all seiner Vielseitigkeit zu Wort bringt, wird weder relativiert noch selektiert, sondern affirmiert. Der Unterschied zum Neuen Testament wird nicht eingeebnet, sondern hervorgehoben – sodass zusammen mit der Verwurzelung Jesu und des Christentums in der Geschichte des Gottesvolkes Israel die eschatologische Neuheit des Christusgeschehens präzis bestimmt […] werden kann.“ – Das bedeute konkret: Die besagte Neuheit bzw. der „Unterschied, den Jesus selbst markiert, ist ein qualitativer. Deshalb begründet er zugleich den Zusammenhalt beider Testamente. Das epochale Christusgeschehen schließt das Alte Testament definitiv ab und erschließt seine grundlegend neue, nämlich grundlegende Bedeutung. Denn Jesus beansprucht, die ‚Herrschaft Gottes‘ zu verwirklichen und die Verheißungen Gottes zu erfüllen.“
Auch aus Sicht des Judentums zeige sich die „Unterscheidung und Verklammerung beider Testamente“, allerdings „unter anderem Vorzeichen und mit anderen Konsequenzen“: 416
ebd., 286ff (Hervorh. i. O.). 230
So könne man zwar „bei einigem Wohlwollen Jesus und die Jesusbewegung in die Wirkungsgeschichte der Bibel Israels einordnen; […]. Aber es würden nur Judenchristen beide Testamente zusammensehen müssen. Das nachbiblische Judentum definiert sich hingegen – auch – durch die Ablehnung Jesu und des Neuen Testaments […].“
Dies dürfe jedoch für die Kirche „kein Grund sein, das Alte Testament gering zu schätzen oder den Juden entwenden zu wollen. Es kann nur ein Grund sein, die Unterscheidung wie die Verklammerung beider Testamente in der Person Jesu Christi zu sehen, des messianischen Gottessohnes.“
V. Die Genese des Kanons Söding führt an dieser Stelle zur Wurzel des Problems zurück, um zu fragen, welche positive Bedeutung dem Kanon in seiner Endgestalt wissenschaftlich verantwortet zugeschrieben werden kann:417 „Die historisch-kritische Exegese ist angetreten, die Genese der Bibel zu eruieren. Dieses Projekt durchläuft zwar derzeit eine schwere Krise, weil die Diachronie in den Literaturwissenschaften mit großer Skepsis betrachtet wird und die Widersprüchlichkeit der literarkritischen Hypothesen zu einem gewissen Überdruss geführt hat […].“
Entscheidend sei die Frage, „welcher theologische Status den Theorien zur Genese eignet […]. Ist immer die älteste Schicht die originale und wichtigste? Oder ist es umgekehrt so, dass gerade die jüngste Schicht, die kanonische Endgestalt, normativ ist? […] Wird auf der Ebene des biblischen Endtextes eine letzte Kohärenz sichtbar oder eine Fülle unversöhnlicher Widersprüche?“ – Söding schlägt die folgende Erwägung vor: „Einer Antwort käme man näher, wenn man fragte, ob der Endtext die Entstehungsgeschichte der Bibel verschließt oder ein Fenster zu ihr öffnet. Ist es möglich, den Kanon als geschichtlich gewachsenen Text zu betrachten, ohne seine Endgestalt aufzulösen?“
Von maßgeblicher Bedeutung ist folgende Gegebenheit: „Die Bibel verwischt die Spuren ihrer Entstehung nicht. Sie werden Teil des kanonischen Gedächtnisses. Das ist spezifisch biblisch; es
417
ebd., 295. 231
entspricht dem alt- und neutestamentlichen Offenbarungsverständnis. Die Zeit der Entstehung der Bibel wird dadurch spezifisch qualifiziert. Es ist die Zeit eines geschichtlichen Ursprungs, der bleibende Gültigkeit hat.“
1.
Das geschichtliche Werden der Bibel im Spiegel der Schrift418
Die historisch-kritische „Einleitungswissenschaft“ erforsche „mit historisch-philologischer Methodik die geschichtliche Entstehung der Bibel“, weshalb „sie lange Zeit in einen Gegensatz zur Biblischen Theologie zu geraten“ schien. Ein wirklicher Konflikt könne aber nur entstehen, „wenn ein ungeschichtlicher Theologiebegriff oder ein antitheologischer Geschichtsbegriff leitend“ werde: „Eine Verbindung von Einleitungswissenschaft und Biblischer Theologie wird aber möglich, ja notwendig, wenn gesehen wird, dass sich der Bibel gerade die Offenbarungs- und Glaubensgeschichte des Gottesvolkes einschreibt.“ – So werde „die Perspektive geöffnet, dass zur kanonischen Exegese die Betrachtung der Genese der Bibel gehört. Es kann die Selbstpräsentation der Bibel ihrerseits als ein historisches Phänomen analysiert werden, das einen theologischen Anspruch erhebt […].“
Die historisch-kritische Exegese gelangte zu der Einschätzung, dass „es sich bei den zeitlichen und örtlichen Einordnungen, auch bei den Verfasserangaben vielfach um Konstruktionen“ handele. „Die Konsequenz des Historismus war es, sie zu dekonstruieren und dadurch den Kanon zu demontieren. Umgekehrt versuchte die Neuscholastik, die Historik zu domestizieren. Beides ist ein Irrweg“: Eine Lösung könne nur darin bestehen, „die historische Kritik gerade als Voraussetzung eines neuen Zugangs zur Heiligen Schrift zu verstehen. Wird historische Kritik geübt, zeichnet sich desto deutlicher der redaktionelle Gestaltungwille ab, den Schriften einen Ort in der Geschichte des Gottesvolkes zu geben. Dadurch aber wird das in den Schriften selbst vorausgesetzte und artikulierte Offenbarungsverständnis erkennbar, dass Gott in der Geschichte sein Wort sagt und seinen Willen manifestiert.“
Durch Angaben zur Entstehung werde „in der Bibel selbst signalisiert, dass die Heilige Schrift kein vom Himmel gefallenes Buch ist, sondern ein geschichtliches Glaubenszeugnis, dass die Spuren seiner Entstehung trägt und zeigt. Gleichzeitig aber wird signalisiert, dass nicht nur das homo 418
ebd., 296ff (Hervorh. i. O.). 232
factus est ein geschichtliches Ereignis von theologisch grundlegender Bedeutung ist, sondern […] kraft des Geistes auch die Geschichte Israels und die apostolische Ursprungszeit der Kirche.“ So umschreibe der Kanon der Bibel „den Zeitraum, in dem er entstanden ist, und kennzeichnet ihn theologisch: neutestamentlich durch den eschatologischen Kairos, den Jesus Christus heraufführt, alttestamentlich als Zeit der Verheißung, zu der Gott in Jesus sein definitives Ja“ spreche (2. Kor 1,20).
2.
Die christologische Struktur der Offenbarungsgeschichte419
Söding geht von einer heilsgeschichtlich konzipierten Offenbarung Gottes aus, die in Christus Einheit und Mitte besitzt: „Im Christusgeschehen erweist sich die Einheit der Geschichte als Heilsgeschichte: Sie stellt einen begrenzten Zeitraum dar mit einem klaren Anfang und einem definitiven Ende am Jüngsten Tage; sie hat eine klare Struktur, die durch den wahrhaft epochalen Einschnitt der Sendung Jesu markiert wird (Mk 1,15 parr.; Gal 4,4s.), und einen stringenten Verlauf, der vom neuen Anfang des Reiches Gottes bestimmt ist. Daraus ist das Verhältnis zwischen der Geschichte Israels und der Kirche, zwischen dem ‚Alten‘ und dem ‚Neuen Bund‘ abzuleiten“: „Durch Jesus Christus konstituiert Gott die eschatologische Kontinuität der Heilsgeschichte: Er steht zu seinen Verheißungen (2 Kor 1,20); er gibt seine Schöpfung nicht dem Untergang preis; […]. Gleichzeitig schafft Gott durch Jesus wahrhaft Neues: die Ekklesia des Leibes Christi […]. Die Spannung zwischen essentieller Kontinuität und essentieller Neuheit ist nicht auflösbar, sondern konstitutiv für Gottes Heilshandeln.“
a) Die Entstehung des Neuen Testaments ‚post Christum natum‘ Die Entstehung des Neuen Testaments „in der apostolischen Ursprungszeit der Kirche“ mache deutlich, dass „das Kriterium der Apostolizität […] außerordentlich wirkmächtig geworden“ ist; von zentraler Bedeutung sei diesbezüglich „die zeitliche und sachliche Nähe zu Jesus und seinem Evangelium“ bzw. „eine persönliche Beziehung, sei es zum Irdischen, sei es zum Auferweckten: Es sind die von Jesus Christus selbst Berufenen, deren Zeugnis normative Bedeutung gewinnt, wenn anders Jesu Wirken, Tod und Auferweckung eschatologische Heilsbedeutung hat.“ – So
419
ebd., 314ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 233
wurde „das Kriterium der Apostolizität in der Alten Kirche […] in Zweifelsfällen als theologisches“ Argument geltend gemacht: „Judas stellt sich als ‚Bruder des Jakobus‘ vor; […]. Aus ähnlichen Gründen ist vom 2. Jh. an die Nähe von Markus zu Petrus und von Lukas zu Paulus ausgewiesen worden, während das Matthäus- und das Johannesevangelium von Aposteln geschrieben sein sollen.“
Insgesamt werde „man urteilen müssen, dass nach den im Neuen Testament selbst erkennbaren Parametern die Kanonisierung keiner der neutestamentlichen Schriften überraschen kann – und dass andere Schriften nur geringe Chancen hatten, dauerhaft und umfassend als kanonisch anerkannt zu werden. Eine Schlüsselstellung nimmt das Apostelkonzil ein. Denn es zeigt Koinonia des Paulus mit den Jerusalemer ‚Säulen‘, mit Jakobus, Petrus und Johannes (Gal 2,1–11; cf. Act 15). Der kanonische Prozess steht in der Wirkungsgeschichte des paulinischen Apostolatsverständnisses: Entscheidend ist die Sendung durch den Auferstandenen zur Verkündigung des Evangeliums. Das Neue Testament wird als apostolische Ursprungsliteratur ausgewiesen.“ Daraus folge letztlich, „dass das Neue Testament nicht ewig weiter wachsen kann und es Unterschiede zwischen kanonischer Ursprungsliteratur und aufbauenden, gleichfalls wichtigen und geistgewirkten Glaubenszeugnissen gibt, die aber dadurch gekennzeichnet sind, dass sie auf das apostolische Fundament gegründet werden (cf. 1 Kor 3,10–18). Der fragliche Zeitraum“ erhalte durch den Rahmen der Apostelgeschichte eine Abgrenzung.
b) Die Entstehung des Alten Testaments ‚ante Christum natum‘ Hier gelte grundsätzlich: „Nirgendwo heißt es im Neuen Testament, die heiligen Schriften Israels seien insuffizient oder ergänzungsbedürftig, vorläufig, unzureichend oder unterentwickelt. Wohl aber ist durchweg in den urchristlichen Texten davon die Rede, dass die ‚Schrift‘ im Zeitraum vor dem Kommen Christi entstanden ist. Doch bedeutet dies nicht, dass sie ‚veraltet‘ wäre, im Gegenteil: Gerade das macht sie relevant, dass sie die Länge und Breite und Tiefe der Geschichte Israels erschließt.“ Das heiße: „Die […] positive Einschätzung des Alten Testaments als heilige Schrift auch für die Christen verweist auf Grundlinien neutestamentlicher Israel-Theologie. Für sie ist – bei gravierenden Unterschieden zwischen verschiedenen Schriften – die Bejahung der Erwählung Israels entscheidend, die Geschichte Israels und […] die Dokumentation der Glaubenserfahrungen Israels in der Bibel positiv zu schätzen.“
234
So legt Söding Wert auf eine doppelte Feststellung: Einerseits sind „die Israeliten die ersten Adressaten der ‚heiligen Schriften‘“; andererseits gilt ebenso, „dass die Christen durch das ‚Alte Testament‘ unmittelbar angesprochen werden. Die Spannung ist nicht aufzulösen. […] Was sich dem kollektiven Gedächtnis Israels eingeprägt hat, bleibt auch für die Kirche normativ. Die geschichtlichen Erinnerungen, die von der ‚Schrift‘ ins Gedächtnis gerufen werden, sind bleibend aktuell: Sie schärfen das Bewusstsein für die pneumatische Verbundenheit der Ekklesia mit Israel und für den Weg Gottes mit seinem Volk, […]. Die bleibende Aktualität der Schrift für die Christen geht darauf zurück, dass sie sich dem einen Gott verdankt, der sie – nach christlichem Glauben – gerade zu dem Zweck geschaffen hat, dass sie von jener Hoffnung Zeugnis ablegt, die sich durch Jesus Christus realisiert.“
3.
Hermeneutische Konsequenzen
Es sei als „prekär“ einzustufen, „wenn in der Bibelforschung ein Geschichtsbegriff und Textverständnis leitend werden, die wesentliche Dimensionen, die sie in der Schrift gewinnen,“ ablehnen. – Dies sei „zu Beginn der historisch-kritischen Exegese im Zeichen des Deismus und Historismus der Fall“ gewesen. Wenn die Exegese zu der Erkenntnis komme, „dass die Darstellung sowohl der Ereignisgeschichte als auch der Entstehungsgeschichte der Bibel in der Heiligen Schrift eine theologische Konstruktion ist, die oftmals in Spannung zu den wissenschaftlich zu rekonstruierenden Fakten steht“, dann sei dies weder auszublenden noch „die Dekonstruktion des Kanons“ damit zu begründen.
Demgegenüber sei es „die Chance kanonischer Exegese, die auf historische Kritik und philologische Differenzierung nicht verzichtet, aber in den hermeneutischen Zirkel des Verstehens hineinkommen will, der von den Bibeltexten selbst angestoßen wird, einen kritischen Blick auf diese kanonischen Konstruktionen zu werfen: sie kann sie historisch einordnen und dadurch theologisch verstehen – auch unter dem Aspekt der Wirkung, die sie gezeitigt haben. Die Konstruktionen beruhen auf Auswahl und Stilisierung. Aber sie bieten gerade diejenigen perspektivischen Ausschnitte und Durchblicke, die von dem geprägt sind, was die Heilige Schrift in der Zweiheit ihrer Testamente, der Geschichte ihrer Genese und der Vielfalt ihrer Schriften von Gottes Offenbarung bezeugt.“
235
VI.
Der Anspruch des Kanons420
Die Tatsache der Existenz eines verbindlichen Schriftenkanons setze die Prämisse einer „Offenbarung Gottes“ voraus, denn kein „menschlicher Text könnte aus sich heraus […] jenen Anspruch erheben, der dem jüdischen und christlichen Kanon seine Gestalt gibt.“ – Gleichwohl gelte: „Offenbarung ist […] nicht, wie dies in der Neuzeit weitgehend der Fall war, instruktionstheoretisch zu fassen, sondern […] heilsgeschichtlich und soteriologisch. Deshalb kann sie sich Texten vermitteln, die […] in und aus der Geschichte ihrer Entstehung heraus ihren Anspruch erheben. Diesen Anspruch zu beschreiben, ist die wichtigste Aufgabe einer exegetischen KanonTheologie.“
1.
Der Anspruch der Bibel Israels
Hier sei festzustellen: „Die alttestamentlichen Texte weisen ein hohes Reflexionsbewusstsein von der Bedeutung der Schriftlichkeit, der prinzipiellen Unantastbarkeit des Textes und der Normativität der ‚Buches‘ auf, vor allem der Tora. Besonders profiliert es sich in den jüngeren Schichten des Alten Testaments und im Frühjudentum.“ – Dies habe einen doppelten Grund: 1. „Zum einen sind die kanonisierten Schriften in der Vielzahl ihrer Positionen, als synchronische Ganzheit gelesen, die Zeugen alttestamentlich-jüdischen Glaubens an den Einen Gott (Dtn 6,4s.): […] Wo es kein Gottesbild gibt, braucht es das dauerhafte und verlässliche Wort der Schrift, dass Gott als Gott wahrgenommen und verehrt werden kann.“ 2. „Zum anderen sind die kanonisierten Schriften die maßgeblichen Zeugen einer Geschichte, die gerade nicht zu den theologischen Adiaphora gehört […]. Ohne die lebendige Erinnerung der Geschichte könnte die Erwählung Israels nicht anschaulich werden, […] nicht Gottes Gerechtigkeit und Erbarmen.“
Weiterhin sei zu bedenken: „Der Kanon trägt seinen theologischen Anspruch nicht in sich selbst; er leiht ihn vielmehr vom Anspruch Gottes, dessen geschichtlicher Gestaltungswille und inspirierende Geisteskraft die ‚Schrift‘ entstehen lässt, um durch sie dauerhaft die Gemeinschaft des Gottesvolkes zu prägen.“
420
ebd., 326ff (Hervorh. Verf.). 236
Söding geht davon aus, dass die „Einleitungswissenschaften […] annäherungsweise in der Lage [seien], die Vorgeschichte und den Kontext dieser schriftlichen Äußerungen zu erhellen“: Dabei zeige sich, „dass weder mit einer einheitlichen, durchgängigen, klar gegliederten Entwicklung noch mit zentraler Steuerung oder einem normativem Konzept zu rechnen ist. Kennzeichnend ist vielmehr eine Synchronizität unterschiedlicher Prozesse an verschiedenen Orten und in verschiedenen Strömungen des Judentums. […] Auch Christen haben sich schließlich aktiv beteiligt, und noch die Rabbinen stehen in argumentativen Kontroversen, die sich im Judentum wie im Christentum erst im 3. und 4. Jh. n. Chr. langsam beruhigen.“
Zusammenfassend könne gesagt werden: „Im Zuge dieser Entwicklung wird die Tora als Orientierungsgröße auch der Propheten und der ‚Schriften‘ inszeniert. Die Entstehung und Tradition, Fortschreibung und Relecture, die Sammlung und Redaktion dieser Schriften verdankt sich Prophetenschülern, Priestern, Schriftgelehrten und Weisheitslehrern, die an unterschiedlichen Orten, in einem langen Zeitraum […] das Profil des Jüdischen Kanons herausgebildet und zugleich die jüdische Kultur des Gedächtnisses […] geprägt haben.“ Es bleibt die Frage: „Gibt es aus dem Alten Testament selbst heraus die Möglichkeit eines Zweiten Kanons oder einer besseren Alternative zu ihm?“ – Folgendes Urteil mag erlaubt sein: „Wenn der Messias kommt, so wie er im Alten Testament verheißen wird, braucht es keinen Kanon mehr. Das Alte Testament, historisch verstanden, bedarf aus sich heraus keiner qualitativen Ergänzung, so lange auch über die eine oder andere Erweiterung diskutiert worden ist.“
2.
Die Bibel Israels im Licht des Neuen Testaments421
Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass im Neuen Testament „die Schrift nahezu allgegenwärtig“ ist; die Frage nach ihrem genauen Umfang könne „im Einzelfall halbwegs geklärt werden,“ obwohl in dieser Hinsicht auch manches „offen bleiben“ müsse. – „Paulus und Johannes, Matthäus und Markus, Lukas und Petrus, der Hebräerbrief, nicht zu vergessen: Jesus selbst kennen den Begriff Graphe; sie alle setzen ihn ohne nähere Erläuterung bei ihren Adressaten als bekannt voraus; […] – immer ist, ausgesprochen oder unausgesprochen, die ‚Schrift‘ als eine Ganzheit und als eine Größe sui generis die entscheidende Bezugsgröße.“
421
ebd., 337ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 237
a) Das Alte Testament als verbindliches Zeugnis des Wortes Gottes Zweifellos stehe fest: „Es gibt im Neuen Testament keine Analogie zum Rekurs auf die Graphe.“ – So bewegten sich dessen Autoren „in einem theologischen Koordinatensystem, das entscheidend durch die alttestamentliche Theologie vorgegeben ist: die Einzigkeit Gottes, die Schöpfung, die Unterscheidung zwischen Gott und Welt, die Geschichte als Herrschaftsraum Gottes, die Gnade und Barmherzigkeit, das Gericht und das Heil Gottes, die Leiblichkeit und Sterblichkeit des Menschen, die Hoffnung auf das Reich Gottes, das Ethos der Zehn Gebote – die Liste der theologischen Positionen ließe sich erheblich verlängern […]. Dass die alttestamentlichen Vorgaben durch die Christologie noch einmal in eine neues Licht gesetzt werden und neue Bedeutungsdimensionen gewinnen, setzt deren fundamentale Gültigkeit gerade voraus.“
Was die „Rezeption alttestamentlicher Texte und Theologien“ betreffe, so „lassen sich bei allen Unterschieden im einzelnen […] theologisch keineswegs zufällige Schwerpunkte erkennen: Wegen ihrer Zukunftsaussagen werden die ‚hinteren Propheten‘ (besonders Deutero- und Tritojesaja, aber auch Daniel), wegen ihrer anthropologischen Tiefe werden die Klagelieder des einzelnen, wegen ihres messianischen Klangs werden die nachexilischen Königspsalmen, wegen ihrer Exemplarizität werden die Geschichtserzählungen des Pentateuch und wegen ihrer ethischen Orientierungsleistung die Zehn Gebote wie das Liebesgebot Lev 19,18 favorisiert. Der Hebräerbrief berücksichtigt breit die Kultgesetze, freilich in kritischer Absicht […].“
Insgesamt lege sich das Urteil nahe: „Keine einzige Schrift, die den Weg in den jüdischen Kanon gefunden hat, wird vom Neuen Testament ausgeklammert […].“ Dieses sei gekennzeichnet durch „eine theologische Einschätzung der Schrift, die entschieden, unzweideutig und vorbehaltlos positiv ist“, wobei sich dieses Urteil „auf die Schrift im ganzen und als ganze“ beziehe.
b) Die Bibel Israels als Basis des Neuen Testaments Es wurde bereits deutlich, dass zentrale „Themen Biblischer Theologie […] im Neuen Testament nicht neu“ einzuführen sind, vielmehr „aus ‚alttestamentlichen‘ Quellen vorausgesetzt und im Licht Jesu Christi neu interpretiert“ werden. – Hier gilt zunächst: „Ohne diese Grundlage wäre die neutestamentliche Evangeliumsverkündigung undenkbar“:
238
„1 Thess 1,9s.422 und die Missionsreden der Apostelgeschichte vor Heiden beweisen, dass die Christuspredigt nur im Rahmen der Gottespredigt ihren Platz findet, die fundamentale Gemeinsamkeiten mit der alttestamentlichen und frühjüdischen Gottesrede aufweist. Die ‚Elementarkatechese‘, die der Hebräerbrief memoriert (6,1s.), basiert auf alttestamentlichjüdischen Topoi. Die Heiligen Schriften sind, so schreibt Paulus Christen, ‚uns zur Warnung‘ aufgeschrieben (1 Kor 10,11) und im ganzen um ‚unsretwillen‘ (1 Kor 9,9s.; 10,11)“ gegeben.
Diesbezüglich sei zu beachten: „Im neutestamentlichen Zeitraum geht es noch nicht darum, mit Verweis auf das Christusgeschehen die Gültigkeit der Schrift zu begründen, sondern umgekehrt: mit Verweis auf die Schrift die Dimensionen des Christusereignisses zu erschließen.“ – Das bedeute „nicht, dass das christologische Heilsgeschehen aus dem Zeugnis der Schrift zu deduzieren wäre; sondern dass es in der Perspektive des von der Schrift bezeugten Handelns Gottes liegt und dessen eschatologische Aufgipfelung ist (vgl 1 Kor 15,3ff 423).“ Diese Sichtweise öffne „sich nicht ohne enge Kontakte mit dem Frühjudentum, das an der Zeitenwende nicht selten gleichfalls einer eschatologischen Schrifthermeneutik zuneigt (z.B. in […] den Psalmen Salomos und der gesamten Apokalyptik), ist aber im entscheidenden der Reflexion auf die Heilsbedeutung Jesu Christi geschuldet […].“
c) Die Interpretation der ‚Schrift‘ im Neuen Testament Zentrale Stellen des Neuen Testaments führen vor Augen, dass die urchristliche Botschaft auf dem Hintergrund des Alten Testaments entfaltet wurde: „Nach Lukas 24,27.32 legt der Auferstandene den Emmaus-Jüngern ‚angefangen von Mose und von allen Propheten‘ aus, was ‚in allen Schriften über ihn‘ gesagt ist (cf. 22,44s.). Nach Act 8 führt Philippus den äthiopischen Kämmerer zum Glauben, indem er ihm, ‚ausgehend‘ vom Schriftwort Jes 53,7s., das Evangelium von Jesus Christus verkündet (Act 8,35).“
422
423
„ … man erzählt sich überall, welche Aufnahme wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, Jesus, den er von den Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Zorn entreißt.“ Paulus schreibt: „ … vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf.“ 239
Die zur Anwendung kommenden exegetischen Methoden „entsprechen der Hermeneutik der Zeit und haben enge Parallelen in der frühjüdischen Schriftauslegung.“ – Konkret bedeutet dies: „Das Spektrum reicht von der regelrechten Allegorie (1 Kor 9,9s.; Röm 15,3s.) über die Typologie (1 Kor 10,1–13; 2 Kor 3,6–16; Gal 4,21–31; Hebr 7–9; 1 Petr 3,21) und Analogie (Röm 4,23s.) bis zur Argumentation mit dem genauen Wortlaut, dem (angenommenen) Ursprungssinn und der Akoluthie der Schrift (Gal 3,16; Röm 3,10–18).“
Von besonderer Bedeutung sind die sog. „‚Reflexions-‘ und ‚Erfüllungszitate‘“ (verwendet z.B. von Matthäus, Lukas und Johannes); diese „wären missverstanden, wollte man ihnen – anachronistisch – unterstellen, sie würden den historischen Ursprungssinn der zitierten Schriften für sich reklamieren oder mit der interpretatio Christiana zu übertönen versuchen.“ Stattdessen nähmen sie Aussagen des Alten Testaments „als Worte Gottes wahr, von dem ‚in Christus‘ geglaubt wird, dass er von allem Anfang an zur Verwirklichung der Gottesherrschaft durch Jesus Christus entschlossen ist und deshalb die Geschicke seines Volkes Israel immer schon auf Jesus Christus hin gelenkt“ habe.
Hier deutet sich eine prinzipielle Schwierigkeit an: „Alle neutestamentlichen Modelle der Schriftauslegung bereiten heute Probleme, weil sie zwar keineswegs durchweg, aber doch immer wieder Deutungen alttestamentlicher Texte entwickeln, die mit deren Literalsinn nicht übereinstimmen und ihm hin und wieder sogar widersprechen.“ – Söding schlägt folgende exegetische Lösung vor: „Die christologische Realisierung lässt sich nicht einfach als das buchstäbliche Eintreffen prophetischer Prognosen deuten, sondern weit besser als Verwirklichung des schon im Alten Testament erhofften, aber alle Erwartungen transzendierenden Heilswillens Gottes, der auf die futurisch-jenseitige Vollendung zielt und im Vorgriff darauf sich schon gegenwärtig zu manifestieren beginnt.“
d) Die Heilige Schrift Israels im Spannungsfeld von Verheißung und Erfüllung Als zentral einzuschätzen sei folgende Erkenntnis: „Die entscheidende theologische Bewertung der ‚alttestamentlichen‘ Schrift erfolgt im Neuen Testament von der Christologie her. Die typologischen und allegorischen Interpretationen arbeiten in der Mehrzahl der Fälle mit der Kategorie von Verheißung und Erfüllung.“ Hier ist zunächst zu beachten: „Was Gott – neutestamentlicher Lesart zufolge – schon im ‚Alten Bund‘ seinem Volk verheißen hat, ist nichts weniger als die Rechtfertigung und Rettung aller 240
Glaubenden durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu (Röm 3,21–31). Von dieser Grundbotschaft ist das neutestamentliche Verständnis messianischer und soteriologischer Ankündigungen des Alten Testaments geprägt; dass sie eine Verheißung in sich tragen und welche, verstehen die neutestamentlichen Gemeinden – auf der Basis des Wortlautes oder des tradierten Rezeptionssinns – von Jesus Christus her. Als ‚Immanuel‘, an wen immer Jesaja im historischen Moment der Prophetie gedacht haben mag (7,14), stellt sich durch Gottes neutestamentliche Offenbarung Jesus heraus, „der sein Volk von seinen Sünden erlöst“ (Mt 1,18–23). Als ‚Knecht Gottes‘, wen immer der Prophet und seine Tradenten im Sinn gehabt haben (Jes 53), weist Gott selbst Jesus aus, der sein ‚Blut für die Vielen vergossen‘ hat (Mk 14,24 par.).“
So könne im Blick auf die Erfüllung gesagt werden: „Wie Gott – christlichem Glauben gemäß – sein geschichtliches Heilshandeln an Israel durch die Sendung seines Sohnes aufgipfeln lässt, so ‚erfüllt‘ der Sohn den Willen Gottes, indem er die Hoffnungen Israels über jedes menschliche Maß hinaus realisiert. Das Erfüllungsmotiv ordnet das Christusgeschehen dem umfassenden Heilshandeln Gottes zu und weist somit die genuine Theozentrik der neutestamentlichen Christologie und Soteriologie aus.“ In diesem Zusammenhang sei von entscheidender Bedeutung, „die eschatologische Vollendung“ in den Blick zu nehmen, „auf die auch die Christen noch warten und die ihnen im Neuen Testament aufs Neue verheißen wird (cf. Act 26,6; 1 Tim 4,8; 2 Petr 3,9; 1 Joh 2,25).“ Diese ist als „futurisch-jenseitige[s] Heil […] im christologischen Grundgeschehen begründet.“ Werde „diese eschatologische Dialektik“ nicht übersehen, dann zeige „sich, dass nicht ohne gutes Recht von einem ‚Überschuss‘ der alttestamentlichen ‚Verheißungen‘ über die neutestamentliche ‚Erfüllung‘ geredet werden kann: […] solange die Wege von Juden und Christen nicht vereint sind und der Tod noch Macht hat, also das Reich Gottes noch nicht vollendet ist, kann von umfassender Erfüllung keine Rede sein, wie dem Neuen Testament präzis zu entnehmen ist (1 Kor 15,20–28; Röm 8.9–11; Act 26.6).“
In diesem Sinn gelte im Vorausblick auf die künftige Vollendung, was Paulus in 2. Korinther 1,20 über den auferstandenen Christus schreibt: „ … er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat.“
e) Hermeneutische Konsequenzen Söding kommt zu folgender Schlussfolgerung: Die „Relevanz“ des Alten Testaments als „Heilige Schrift Israels“ für die christliche Kirche bestehe „in der Dokumentation der Erwählungs-, 241
Sünden- und Hoffnungs-Geschichte Israels, in der ethischen Weg-Weisung und […] in der Verheißung eines messianischen Retters, nicht zuletzt aber in der Bezeugung der Einheit und Einzigkeit Gottes selbst.“ – Dieses Urteil sei mit einer Differenzierung zu verbinden: 1. Ein Vergleich der neutestamentlichen Interpretation „mit dem theologischen GesamtZeugnis des Alten Testaments“ selbst ergebe einerseits eine deutlich veränderte „Einschätzung des Gesetzes und des Kultes“, etliche Leerstellen „der Rezeption“ sowie eine starke „Akzentuierung (und Eintragung) messianischer Erwartungen; […].“ 2. Andererseits sei gleichwohl nicht zu übersehen, „dass es in der Theozentrik, der Ethik und der Geschichts-Theologie bei allen Unterschieden im einzelnen […] essentielle GrundÜbereinstimmungen gibt“, d.h., „dass im Neuen Testament wichtige Themen der Theologie wie etwa die Einzigkeit Gottes, die Schöpfung oder auch die Alltags-Weisheit mit der Heiligen Schrift Israels als prinzipiell geklärt schlichtweg vorausgesetzt werden.“
3.
Der Anspruch der neutestamentliche Autoren und Schriften424
Zunächst sei grundsätzlich festzustellen: „Die Autoren des Neuen Testaments erheben mit ihren Schriften einen Anspruch, der sie de facto aufgrund ihres (durchaus unterschiedlichen) Christuszeugnisses an die Seite der Heiligen Schrift Israels stellt.“
a) Der Anspruch der Texte - Indem Paulus „seine Briefe als Apostel Jesu Christi an die Ekklesia Gottes“ schreibe, bewege er sich auf einem „Kommunikationsniveau, das sie als Formen schriftlicher Evangeliumsverkündigung erkennen“ lasse; damit werde deutlich (vgl. 1. Kor 3): „Der Apostel ist der Architekt der Kirche, indem er deren Grundstein legt: Jesus Christus; die Briefe gehören zu dieser pastoralen Gründungsarbeit des Apostels. […] Für den Apostelbrief“ gebe es weder im Alten Testament noch im „religionsgeschichtlichen Vergleich“ eine „Formvorlage;“ indem Paulus anordnet, „dass seine Briefe in der Gemeindeversammlung vorgelesen werden“ (1. Thess 5,27), schafft „er selbst die Basis“ dafür, dass diese „von den Gemeinden auch in späterer Zeit als Orientierung genutzt werden konnten.“ Für die Folgezeit gelte: „Die paulinischen Pseudepigraphen nutzen die Autorität des Apostels, um in der bewährten Briefform seine Theologie fortzuschreiben, in Kontroversen zu behaupten
424
ebd., 360ff (Hervorh. i.O. u. Verf.). 242
und institutionell abzusichern.“ – Es komme zur Sammlung paulinischer Briefe, „die zu einem Keim der neutestamentlichen Kanonbildung“ wird.
- Ebenso sind die Evangelien „eine neue Gattung biblischer Literatur. Ursprünglich ohne Verfasserangeben entstanden, weil sie sich ganz in die Jesustradition stellen wollten, eignet ihnen ein erheblicher Anspruch“: Markus stellt „in seinem Werk den alles bestimmenden ‚Anfang‘ des Evangeliums“ dar (1,1); Matthäus verfasst ein „Kompendium ‚all‘ dessen […], was Jesus seine Jünger ‚gelehrt‘ hat, damit sie es weitergeben“ (28,16ff); Lukas sorgt mit seinem Doppelwerk für eine verlässliche Grundlage der Katechese (Lk 1,1ff) und bietet einen „Überblick über die gesamte Gründungsgeschichte der Kirche“ (Apg 1,2ff). Johannes formuliere den „höchsten Anspruch“ (20,30f, 21,24f): Sein Werk diene als „Auswahl und Zuspitzung der Jesustradition“ dem Ziel, Glauben zu wecken: „In der Zeit, in der man den Irdischen wie den Auferstandenen nicht mehr wie ausnahmsweise noch Thomas sehen kann, ist das ‚Buch‘ eine notwendige Stütze für den Glauben, der zu retten vermag.“
- Von besonderer Bedeutung sei schließlich die Offenbarung des Johannes: Der Prophet verbinde den „Anspruch, das – und nur das – aufzuschreiben, was ihm von Jesus Christus […] gezeigt worden ist“ (1,10f)“, mit der an den Schluss gestellten „deuteronomistische[n] Kanonisierungsformel“ (22,6f.18f): „Selig, wer an den prophetischen Worten dieses Buches festhält!“ Insgesamt könne gesagt werden: Keine der angeführten Stellen sei so zu deuten, „dass eine neutestamentliche Schrift sich als Ergänzung des ‚alttestamentlichen‘ Kanons präsentieren würde. Alle beziehen sich vielmehr auf das Christusgeschehen. Für sie ist die ‚Schrift‘ – prinzipiell – abgeschlossen; nicht abgeschlossen ist hingegen der Zeitraum […] normativen Glaubenszeugnisses, schließlich auch in der schriftlichen Form der neutestamentlichen Texte. Als Zeugnisse des Bekenntnisses zum eschatologischen Heilshandeln Gottes in Christus treten die ‚neutestamentlichen‘ Schriften den ‚alttestamentlichen‘ an die Seite, unlösbar mit ihnen verbunden und unverkennbar von ihnen unterschieden.“
b) Der Anspruch Jesu Christi im Spiegel des Neuen Testaments Der aufgezeigte „theologische Anspruch“ des Neuen Testaments leite sich einerseits von seinem Grundthema ab, „dem Christusgeschehen“, andererseits „vom Wirken des erhöhten Kyrios in der Ekklesia“, wie etwa die Johannesoffenbarung zeigt. So gehe „der Anspruch des Kanons auf den Anspruch Jesu Christi selbst zurück (ohne mit ihm identisch zu sein): Die Unbedingtheit des 243
Rufes Jesu zur Umkehr und zum Glauben (Mk 1,15) folgt aus der Unbedingtheit des von Jesus proklamierten Willens Gottes, seine Herrschaft nahekommen zu lassen;“ nach dem Tod am Kreuz ist Jesu „Auferstehung […] nicht nur die Bestätigung seiner Person und Sache, sondern seine Erhöhung zur Rechten Gottes und Grund der Evangeliumsverkündigung an alle Völker.“
c) Die innere Vielfalt und ihre Grenzen In den Schriften des Neuen Testaments begegneten „nicht wenige Signale, die auf eine Differenzierung zwischen verschiedenen Schriften und Autoren“ hinweisen; daneben kämen „auch Konflikte und Lösungen“ in den Blick, „die paradigmatische Bedeutung für die Kanonisierung haben. Sie helfen, zu verstehen, wo die Grenzen des Kanons gezogen wurden und welche Spannweite verschiedener Positionen innerhalb des Kanons sich ausbreitet.“ (1) Die Orientierung an Jesus und seinem Evangelium Zunächst gelte als interpretatorischer Grundsatz: „Außer Frage steht der Primat Jesu Christi selbst. Er ist nicht mit einem hermeneutischen Primat der Evangelien identisch, begründet aber deren entscheidendes Gewicht am Beginn des Neuen Testaments.“ Offensichtlich sei: „Jesus selbst wird in den Evangelien als Verkünder und als Inhalt des Evangeliums ausgewiesen. Paulus weist mehrfach, besonders eindrucksvoll in 2 Kor 10–13 darauf hin, dass seine apostolische Autorität […] allein im Evangelium Gottes gründet.“ – Auch für andere neutestamentliche Schriftengruppen lasse sich dieser Zusammenhang deutlich machen.
(2) Grenzziehungen Die Frage nach dem „theologische[n] Gewicht einer neutestamentlichen Schrift“ hänge von der Entscheidung ab, ob diese „– erstens – beansprucht (und beanspruchen kann), an ihrem Ort und in ihrer Zeit das Evangelium Gottes grundlegend zur Sprache zu bringen, und ob sie – zweitens – diesen Anspruch auch einlöst.“
Söding erkennt darin „die Möglichkeit einer schriftgemäßen Grenzziehung zwischen kanonischen und nichtkanonischen wie zwischen ‚orthodoxen‘ und ‚häretischen‘ Texten“:
244
Wenn etwa „auch gnostische Texte (wie EvTh 1; EvPhil 12; […]) und der Barnabasbrief mittels Pseudepigraphie einen ‚apostolischen‘ Offenbarungsanspruch“ erheben, so scheitere dieser an „der kritischen Überprüfung am Maßstab des gesamt-biblischen und speziell des neutestamentlichen Evangeliums […].“ Es zeige „sich, dass der Barnabasbrief wegen seiner Hermeneutik des ‚Alten Testaments‘ ausscheiden muss, das er Israel nicht zugesprochen haben will. Die gnostischen (oder gnostisierenden) Evangelien hingegen scheitern an der Christologie des wahren Menschseins Jesu. […] Wo Jesu Menschsein und Gottessohnschaft nicht im Zeichen des einen Gottes zusammengedacht, sondern auseinandergerissen werden, fordert der Erste Johannesbrief die Christologie der Inkarnation ein, wie sie das Evangelium entfaltet; […]. Die Pastoralbriefe bekämpfen eine ‚Gnosis‘ (1 Tim 6,20), die nicht in der Lage ist, die Einheit des Schöpfers mit dem Erlöser zu denken und deshalb […] sektiererisch wirkt.“
Zusammenfassend stellt Söding fest: „Die Einheit Gottes und die daraus folgende Einheit seines Volkes, an denen sich die biblische Theologie der Einheit überhaupt festmacht, sind auch die entscheidenden Kriterien der Kanonisierung, alt- wie neutestamentlich.“ (3) Traditionen und Kontroversen Insgesamt gesehen dokumentiere „das Neue Testament […] keinen Verdrängungswettbewerb, sondern die Koexistenz und Vernetzung verschiedener Traditionen und Positionen.“ So entstehe „ein Freiraum für unterschiedliche theologische Ansätze, Interessen und Schwerpunkte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten – und zwar […] mit einem sachlichen Recht, das aus der Größe des gestellten Themas und der Verschiedenheit der Lebenskulturen wie der Charismen der Christen fließt.“
Letztlich sei das „zeitliche und thematische Spektrum […] zwar kleiner als im Alten Testament.“ Gleichwohl zeigten „die kanonisierten Texte […] deutlicher die Spuren der Identitätsbildung in den frühen Auseinandersetzungen um den wahren Glauben und der Gemeinschaftsbildung der Kirche.“ (a) Lebendige Tradition Immer wieder sei es der Fall, dass Autoren neutestamentlicher Schriften „die Anknüpfung an vielfältige Traditionen und deren Fortschreibung als Voraussetzung für die Verbindlichkeit ihres eigenen Glaubenszeugnisses“ ansehen:
245
- Als beispielhaft gelten könne „der gesamte Prozess, in dem die Evangelien kanonisiert sind.“ So zeige etwa Lukas (1,1ff), dass sein Evangelium auf den Aussagen derer gründet, „die schon vor ihm von Jesus erzählt haben (1,2).“ – Auch bei Matthäus und Johannes ist mit der Verarbeitung überlieferter Traditionen zu rechnen. - Wenn Paulus die „Unabhängigkeit und Gleichberechtigung seines Apostolats“ betont (Gal 1f), so gilt für ihn dennoch, dass er an „entscheidender Stelle“ den eigenen Ausführungen Elemente „der vorpaulinischen Tradition“ zugrunde legt: „Die prominentesten Stellen sind keine geringeren als die Überlieferung des Herrenmahles (1 Kor 11,23–26) und des sehr alten Glaubensbekenntnisses 1 Kor 15,3–5.“ - Die Pastoralbriefe stehen ihrerseits in der Tradition des Paulus und „wissen sich von ihm angehalten, seine ‚Überlieferung‘ als kostbares Gut des Glaubens zu bewahren (1 Tim 6,20; 2 Tim 1,12.14).“ – Gleichwohl ging es den Verfassern auch darum, „die paulinische Theologie keineswegs einfach zu kopieren, sondern kreativ fortzuschreiben […].“
Grundsätzlich gelte: Überall, wo im Neuen Testament Traditionen verarbeitet werden, zeige sich, „dass es gerade die Fortschreibung ist, die Kohärenz, und die theologische Identität, die Vielseitigkeit erzeugt.“ (b) Konflikte und Lösungen In den Schriften des Neuen Testamentes werde nicht verschwiegen, „dass es starke Spannungen im Urchristentum gegeben“ habe, dass „Konflikte“ aber auch „gelöst worden“ seien; in diesem Zusammenhang sei zu beachten: „Die Lösungen […] bestehen nicht darin, dass alle Unterschiede verschwinden, sondern darin, dass sie, wenn die Grundausrichtung klar ist, in ein konstruktives Verhältnis zueinander gesetzt werden und sich wechselseitig begrenzen und bestärken“: - So seien die „Evangelien“ geradezu „Schatzkammern, die verschiedene, auch konkurrierende Jesustraditionen“ aufbewahrten, nämlich „judenchristliche Traditionen aus Palästina und aus der Diaspora; einige Überlieferungen betonen die Gesetzestreue Jesu, andere akzentuieren die Konflikte um die Erfüllung des Gesetzes, die Jesus provoziert; einige lenken den Blick auf die Vollmacht des Irdischen, andere auf die Ohnmacht des Gekreuzigten.“
Erstaunlich ist folgender Befund: „Die Evangelien haben augenscheinlich nicht die einen Richtungen gegen die anderen ausgespielt, sondern sie miteinander verbunden. Das Ergebnis ist aber kein Kompromiss auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern im Gegenteil eine radikale Vertiefung des Jesusbildes, dessen Reichtum an verschiedenen Facetten es geradezu
246
zu entdecken gilt. Der Kanon ratifiziert diese Ergebnis – und steigert den Eindruck noch dadurch, dass vier Evangelien nebeneinander gestellt werden.“ - „Auseinandersetzungen im Jüngerkreis selbst“ beschreibt Lukas in der Apostelgeschichte; der „Streit zwischen den ‚Hellenisten‘ und den ‚Hebräern‘ (Act 6) hat vielleicht theologische Hintergründe, wird von Lukas aber als ein Organisationskonflikt in sozialen Fragen dargestellt […].“ – Bedeutender seien „andere Auseinandersetzungen, von denen Lukas, etwas dämpfend, im Kontext des Apostelkonzils berichtet, das sie konstruktiv gelöst habe (Act 15,1–29).“ - Im Galaterbrief wird der Konflikt, den das Apostelkonzil lösen sollte, klarer erkennbar: Während Lukas darlegt, „die Jerusalemer Urgemeinde [habe] unter Federführung des Jakobus gegen den Einspruch christlicher Pharisäer die Legitimität der beschneidungsfreien Völkermission akzeptiert und ihr nichts auferlegt […] als die Einhaltung der noachitischen Gebote“ (Apg 15,20.29), macht Paulus deutlich, dass es „über der Tischgemeinschaft von Juden und Heiden in der Kirche Antiochiens […] zum offenen Streit“ zwischen Petrus und dem Völkerapostel gekommen war (Gal 2,11ff). Die Lösung des Konflikts hat für Paulus „paradigmatische Bedeutung. Während der Apostel mit den galatischen Gegnern keine Kirchen-Gemeinschaft mehr gegeben sieht und auch seine Kontrahenten in Jerusalem (nicht die ‚Säulen‘) als ‚falsche Brüder‘ abqualifiziert, hält er auch nach Antiochia an der Koinonia mit Petrus und Jerusalem fest.“
Entscheidend ist die Differenzierung: Einerseits nimmt Paulus den „Vorwurf, Petrus sei vom Weg der Wahrheit abgewichen, […] nicht zurück; der Kanon schreibt ihn mit dem Galaterbrief (2,14) fest.“ – Andererseits gilt ebenso: „Die Grenze zum Anathema“ (Gal 1,8f) ist für Paulus erst dann erreicht, wenn „die Heilssuffizienz des Christusgeschehens, der soteriologische Grundsatz von Gal 2,16425 und die Erwählung von Juden wie Heiden aus Gottes Gnade in Frage gestellt werden.“ - Zu beantworten ist schließlich „die Frage, ob die neutestamentliche Einheit des vielstimmigen Kanons nicht doch an der Position des Jakobus zerbricht, ein Glaube ohne Werke nütze nichts – da doch Paulus gerade eine Antithese zwischen Glaube und Werken des Gesetzes aufgestellt habe.“ – Bei „genauer exegetischer Betrachtung“ zeige sich: „Die Begriffe sind unterschiedlich gefüllt.“ Jakobus will klären, „dass ein Glaube, der nur Lippenbekenntnis wäre, den Namen des Glaubens gar nicht verdiente; Paulus hingegen versteht den rechtfertigenden Glauben als Einheit von Bekenntnis und Vertrauensglauben“, der „die Ethik keinesfalls relativiert, sondern ‚durch Liebe wirksam ist‘ (Gal 5,6).“
425
„ … [wir] wissen, dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerecht wird, sondern aus dem Glauben an Jesus Christus; ….“ 247
Letztlich überzeuge „die These, dass Jakobus gegen ein Missverständnis der paulinischen Rechtfertigungstheologie zu Felde zieht, das auf einem unzulässig verkürzten Glaubensbegriff beruht.“
d) Hermeneutische Konsequenzen Von grundlegender Bedeutung ist zunächst die Feststellung: „Von einem kanonischen Anspruch der neutestamentlichen Schriften könnte ohne die Vorgabe des Alten Testaments keine Rede sein. Das Neue Testament hat nie für sich allein bestanden. Es kann nur im Kontext des Alten Testaments gelesen werden – historisch und theologisch.“ Für die neutestamentlichen Schriften entscheidend sei „der Bezug auf Jesus Christus.“ Ihre „Abfassung“ ist zu verstehen als „ein Akt des Glaubens und der Nachfolge, getragen vom Heiligen Geist, den der Vater Jesu Christi sendet, wie der Sohn ihn verheißen hat. Der spezifische Anspruch besteht nicht darin, das Alte Testament kanonisch zu übertrumpfen oder zu kopieren. Die literarischen Formen sind so neu, wie das Christusgeschehen selbst neu ist.“
Zentral ist folgende Erkenntnis: „Die neutestamentlichen Schriften entstehen, um die Kirche ihrer apostolischen Grundlage zu vergewissern, die sie Kirche Jesu Christi sein lässt, das eschatologischneue Volk Gottes, das die Juden nicht aus der Heilgeschichte verdrängt, sondern mit ihnen koexistiert, solange die Zeit währt, bis der Retter vom Zion die Einheit des Reiches Gottes bewirkt.“ – Daraus sei abzuleiten: „Das Modell für die Einheit des neutestamentlichen Kanons ist das Modell für die Einheit der Kirche, das vom Apostelkonzil geliefert wird. Der lukanische Bericht bleibt so gültig wie der paulinische; die Spannungen lassen sich aushalten, die Sichtweisen ergänzen und begrenzen einander. Judenchristen und Heidenchristen finden ihren Platz; die Urgemeinde ist vertreten wie Antiochia […].“
248
VII. Auswertung426 Söding geht von folgender These aus: „Verbindliches Glaubenszeugnis ist die Schrift als ganze – in der Vielfalt ihrer Stimmen und der Spannung ihrer beiden Testamente. Da ihre Kanonizität nur darin begründet sein kann, dass sie die Offenbarungen Gottes authentisch bezeugt, ist diese Vielstimmigkeit und Spannung kein Argument gegen, sondern eine Voraussetzung für ihre Verbindlichkeit.“
1.
Die vielen Schriften in der einen Schrift
Es komme nun entscheidend darauf an, „im Spiegel der Schrift selbst zu sehen, dass es eine Vorstellung der Einheit der Schrift gibt,“ die geeignet ist, „ihre Vielfalt“ zu integrieren:
a) Die Ganzheit der Schrift in all ihrer Vielfalt Grundsätzlich müsse gelten: „Das Festhalten an der Ganzheit der Schrift bedeutet nicht, auf Wertungen und Unterscheidungen der verschiedenen Schriften und Theologien zu verzichten, die in der Bibel gesammelt sind.“ So sei „hermeneutischer Reduktionismus der Tod jeder biblischen Hermeneutik und ein schwerer Schaden für Theologie und Kirche. […] Grundsätzlich hat jede einzelne Stimme, die in der Bibel erklingt, Anspruch auf Gehör. Freilich ist mit diesem Kernsatz das hermeneutische Problem erst gestellt und noch nicht gelöst.“ – „Eine Lösung könnte womöglich dann in Sicht geraten, wenn der gesamte Kanon als Interpretationsrahmen genutzt wird: Die Geltung einer theologischen Aussage der Schrift bestimmt sich nach ihrer Stellung im Ganzen der Schrift. Doch wie lässt sich diese Stellung bestimmen?“ – Die Relevanz der Frage zeigt sich dann, „wenn es um Unterschiede und Gegensätze in den theologischen Positionen geht. Hier sind Wertungen und Gewichtungen nicht zu umgehen, so heikel sie auch immer sind.“ Söding plädiert dafür, „den Anspruch eines Schrift-Texts daran zu messen […], wie sehr er es verstanden hat, der Wirklichkeit Gottes, nicht zuletzt seinem Zuspruch und Anspruch, gerecht zu werden“:
426
ebd., 378ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 249
- „Im Alten Testament hieße dies: Wie weit entspricht er (der Offenbarungsgeschichte folgend) der Einheit und Einzigkeit Gottes als des Schöpfers und Vollenders, als des Herrn Israels und der Völker?“ - „Im Neuen Testament: Wie weit entspricht er dem Wirken Jesu wie seinem Tod und seiner Auferweckung als dem Ereignis der eschatologischen Selbstmitteilung Gottes?“ - „In der gesamten Schrift Alten und Neuen Testaments: Wie weit entspricht er dem Geschehen der Selbstmitteilung Gottes, der, dem Gesetz des Je-mehr folgend, durch die Erwählung Israels und eschatologisch durch die Sendung seines Sohnes den sündigen Menschen in Israel und allen Völkern seinen Segen spendet, dessen schöpferische Kraft die eschatologische Zukunft der vollendeten Gottesherrschaft heraufführen wird?“
b) Die Vielfalt der Schrift in ihrer ganzen Einheit Die „Einheit der Schrift in der Vielfalt der Schriften und ihrer Theologien“ zu beschreiben, könne nur auf verschiedenen Zugangswegen erfolgen: (1) Eine Position auf der Basis des Neuen Testaments Grundlegend sei die Prämisse, „dass die verschiedenen Autoren und Schriften des Neuen Testaments in der gemeinsamen Perspektive auf die Selbstoffenbarung Gottes durch Jesus Christus und in der gemeinsamen Rückbindung sowohl an die vita Jesu wie auch an die Gründungszeit der Ekklesia zu einer essentiellen Einheit finden.“ – Um diese Annahme exegetisch zu bestätigen, sind nach Söding „(idealiter) drei große Arbeitsschritte“ erforderlich: 1. „Erstens wäre der theologische Gehalt des Neuen Testaments in all seinen Facetten und Entwicklungen zu erheben“, d.h. „die verschiedenen Theologien des Neuen Testaments in ihrer ganzen Breite und Tiefe und in allen ihren wechselseitigen Beeinflussungen und Unterscheidungen“ darzustellen. 2. „Zweitens müsste die vorgegebene Einheit des Christusgeschehens (soweit dies möglich ist) rekonstruiert und mit der Vielfalt theologischer Themen und Konzepte im Neuen Testament vermittelt werden. Dies setzt voraus, im Lichte der Auferstehung die Geschichte des Wirkens und des Leidens zu erschließen, wie sie sich in den Evangelien widerspiegelt, und im Lichte seines irdischen Wirkens und Leidens seine Auferstehung zu deuten.“ 3. Wenn es gelänge, „sowohl die ganze Breite der neutestamentlich-theologischen Themen und Konzeptionen darzustellen als auch ihren Ursprung im ‚Grundgeschehen‘ des Wirkens und Leidens wie der Auferweckung Jesu zu beschreiben, wäre der Weg frei, die Vielfalt der
250
neutestamentlichen Theologien als (pneumatischen) Ausdruck der vorgegebenen UrsprungsEinheit zu erkennen, ohne dass die Kanon-Grenzen verwischt und alle neutestamentlichen Positionen als gleich gültig hingestellt werden.“
Als Ergebnis sei zu erwarten: „Ebenso wie die Notwendigkeit kommt dann aber auch die Begrenzung der theologischen Vielfalt von jener Einheit her in den Blick, die ihr vorgegeben ist und die sie inspiriert.“ (2) Eine Position auf der Basis des Alten Testaments Zunächst müsse eingeräumt werden, dass im „Alten Testament […] ein alles bestimmender geschichtlicher Bezugspunkt, wie ihn das Christusgeschehen für das Neue Testament markiert, nicht zu erkennen“ sei, weshalb „auch die Frage nach seiner Einheit in all seiner Vielfalt ungleich schwerer als im Neuen Testament zu bestimmen“ wäre; gleichwohl formuliert Söding einen Vorschlag: „Die Kohärenz dieser Vielfalt und der Stellenwert der verschiedenen Positionen innerhalb dieses Spektrums ließe sich am ehesten im Blick auf die Einheit Gottes sichtbar machen, die dem Alten Testament nach gesamt-biblischem Glauben vorgegeben ist. Gottes Einheit meint – gleichfalls nach gesamt-biblischem Zeugnis – nicht nur, dass es keine anderen Götter neben ihm gibt, sondern auch, dass er der Schöpfer und Erhalter der Welt ist, der König Israels und der Völker, der erwählende Vater und der fordernde Gesetzgeber, der Richter der Menschen und ihr Retter, der Herr der Geschichte und der Schöpfer eines ‚neuen Himmels und einer neuen Erde‘ (Jes 65,17; 66,22; Apk 21,1; 2 Petr 3,13).“
Auch wenn das gezeichnete Gesamtbild „keineswegs von allen alttestamentlichen Texten“ gestützt werde, bestehe gleichwohl „die Chance, in der geschichtlichen Entwicklung und Entfaltung dieser Einsichten die Einheit des Alten Testaments zu suchen.“ (3) Eine Position auf Basis der ganzen Heiligen Schrift Die „Schrift als ganze“ bilde „in ihrem Zeugnis für die Heilswahrheit Gottes in dem Sinn eine Einheit […], dass sie von verschiedenen Seiten aus in unterschiedlichen Situationen und mit einer Fülle von Einzelstimmen vor das Geheimnis des einen Gottes stellt, dessen Selbst-Offenbarung Anteilgabe an seinem Leben im Vorgriff auf die endgültige Vollendung bedeutet und in der
251
Sendung, im Wirken, in der Lebenshingabe, der Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi unableitbar und unüberholbar aufgipfelt.“
2.
Die eine Bibel beider Testamente
Söding skizziert zunächst „zwei Strategien“, mittels derer „sich Christen ihres jüdischen Erbes vergewissern und das Alte Testament als ihr Buch lesen: Die eine Strategie läuft auf die Enteignung Israels hinaus. Sie korrespondiert einer Ekklesiologie der Substitution, nach der die Kirche an die Stelle des alttestamentlichen Gottesvolkes getreten sei und das Judentum im theologischen Abseits stände. Diese Strategie steht im Widerspruch zu Jesus und zum Neuen Testament, besonders zu Paulus.“
Eine „Alternative“ könne erst sichtbar werden, wenn man frage, „welche Bedeutung das Alte Testament in der christlichen Bibel hat; denn erst durch das Christusgeschehen kann die Frage überhaupt aufkommen, deshalb kann nur in ihm auch die Antwort angelegt sein. Diese Antwort besteht aber gerade im Zeichen christlicher Offenbarungstheologie darin, das ‚Alte Testament‘ als Bibel Israels zu affirmieren.“
a) Die grundlegende Bedeutung des Alten Testaments Für ein christliches Verständnis des Alten Testaments sei „zweierlei kennzeichnend: das Festhalten an den ‚heiligen Schriften‘ insgesamt und eine gezielte, akzentuierende Rezeption: Das prophetische Moment wird gestärkt, die eschatologische Perspektive geweitet, das ‚Gesetz‘ in den Horizont des neuschöpferischen Heilshandelns Gottes gestellt, der Kult christologisch transformiert, die Land-Verheißung spiritualisiert, die universalistischen Motive werden betont, die messianischen Texte unterstrichen.“ Eine derartige „Interpretation“ sei, „aus der historischen Perspektive des Alten Testaments selbst betrachtet, eine mögliche, im Horizont des Christusglaubens – […] unbeschadet des historisch differenzierten, theologisch bleibend wichtigen Ursprungssinns – die überzeugende.“
Die Bedeutsamkeit des Alten Testaments auch für den christlichen Glauben sei „keine historische Zufälligkeit, sondern eine theologische Notwendigkeit, die in der Identität Gottes begründet liegt. 252
Die Geschichte seines Offenbarungshandelns, die zunächst zur Erwählung Israels führt, ist […] für das Verständnis Gottes und seiner Selbstmitteilung nicht akzidentiell, sondern essentiell.“ Deshalb könne „die Konsequenz […] nur darin bestehen, die Bibel Israels in ganzer Länge und Breite als Fundament des christlichen Kanons gelten zu lassen“, sie „als Dokument der Offenbarungsgeschichte Gottes zu“ respektieren. Mit der Rezeption des Neuen Testaments verbunden sei „die Aufgabe, dass die Christen sich das ‚Alte Testament‘ als Grundlage ihres Glaubens aneignen, ohne die Juden zu enteignen und ohne ihr eigenes, christologisch geprägtes Gottesverständnis zu leugnen. Das Neue Testament zieht sich in den jüdisch-christlichen Kontroversen seiner Zeit nicht auf eine neutrale Position zurück, sondern macht das dezidiert christliche Verständnis der ‚heiligen Schriften‘ geltend: dass sie Israel auf seine Verantwortung zur Bundestreue, seinen Glauben an Gottes Gerechtigkeit und seine Hoffnung auf den Messias ansprechen.“
So führe der theologische Ansatz des Neuen Testaments zwangsläufig „in jüdisch-christliche Auseinandersetzungen (nicht nur um den Ursprungssinn einzelner Stellen, sondern vor allem) um den Gesamt- und Richtungssinn der ‚Schrift‘ hinein.“ – Angesichts der „geschichtlichen Belastungen, die von der Israelvergessenheit und Judenfeindschaft allzu vieler Christen ausgegangen sind, kann die heutige Perspektive nicht darin bestehen, die Bibel Israels den Juden gönnerhaft zu überlassen oder den dialogus cum Judaeis zu verweigern, sondern in der gemeinsamen Lektüre des ‚Alten Testaments‘ die gemeinsamen Wurzeln, die gemeinsame Hoffnung und die Unterschiede im Glauben an den einen Gott besser zu verstehen.“ Zusammenfassend will Söding folgenden Interpretationsansatz geltend machen: „Vom Neuen Testament her ist dem Alten Testament eine christologische relecture angemessen, die ‚zuerst‘ den geschichtlichen Schriftsinn würdigt, um dann (analog zur alten Lehre vom mehrfachen Schriftsinn) in diesem ‚Literalsinn‘ einen geistlichen Schriftsinn zu erkennen, der zum Vorschein kommt, wenn die Bibel Israels als ganze im Lichte des Christusgeschehens vor Augen steht.“ b) Die eschatologische Neuheit des Neuen Testaments Grundsätzlich gelte: „In einer christlichen Theologie der Heiligen Schrift muss die eschatologische Neuheit des Neuen Testaments betont werden.“ – Dabei sei zu bedenken: „Gewiss hat das Attribut ‚neu‘ im Neuen Testament schillernde Farben; es ist auch nicht immer als glatter Gegensatz von ‚alt‘ zu bestimmen.“ Diese auf „die Selbstdefinition Jesu und des Urchristentums“ zurückgehende Bezeichnung der christlichen Schriftensammlung sei „freilich nicht eigentlich in einer besseren Moral oder
253
einer intensiveren Frömmigkeit zu suchen, schon gar nicht in den Gegensätzen von Gericht und Gnade, Werkgerechtigkeit und Glaube, Gewalt und Liebe, Partikularität und Universalität.“ – Festzustellende „Unterschiede“ könnten „keine qualitative Dichotomie“ konstituieren, „sondern bauen im Gegenteil den Spannungsbogen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament auf, der sie zu einer Einheit verbindet.“
In diesem Sinne könne gesagt werden: „Die eigentliche Neuheit, von der das Neue Testament Zeugnis ablegt, ist Jesus Christus selbst und das an seine Person geknüpfte Heilsgeschehen: das Kommen, das Wirken, das Leiden und Sterben, die Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi, verstanden als eschatologische Selbst-Offenbarung Gottes, die aus der Zukunft der transhistorischen Vollendung heraus schon gegenwärtig das Heil der Gottesherrschaft antizipieren lässt. Dieses Geschehen“ sei einzuschätzen „als ein unableitbares, unberechenbares, unverdientes, unvordenkliches und unüberbietbares Heilsgeschehen, das von eschatologisch-neuer Qualität ist.“ – Die auf diese Weise skizzierte radikale „Neuheit des Christusgeschehens“ sei für die Bestimmung „des Verhältnisses zwischen dem Alten und dem Neuen Testament in vierfacher Hinsicht entscheidend: 1. „Erstens ist das Alte Testament, aus sich selbst heraus betrachtet, nicht notwendig auf eine Fortsetzung im Neuen Testament hin angelegt; […].“ 2. „Zweitens: Eine Verhältnisbestimmung zwischen den beiden Testamenten, in der die Unableitbarkeit und Uneinholbarkeit des christologischen Heilsgeschehens […] relativiert würde, wäre im Horizont neutestamentlicher Theologie undenkbar. Daran scheitern all jene Konzepte, die im Neuen Testament nur eine Erneuerung, Bekräftigung, Variation, Bestätigung der alttestamentlichen Theologie(n) sehen wollen.“ Deshalb sei „es eine conditio sine qua non Biblischer Theologie, die soteriologische Neuheit des Christusgeschehens in all seinen Konsequenzen ohne jede Relativierung zur Geltung zu bringen.“ 3. „Drittens: Die Betonung der Neuheit fordert keine Abqualifizierung des Alten Testaments, sondern eine positive Qualifizierung durch das Christusgeschehen.“ 4. „Viertens: Mit dem einmaligen, unwiederholbaren und unüberbietbaren Christusgeschehen sind“ die Schriften des Neuen Testaments „in zweifacher Hinsicht verbunden: zum einen ist es ihr großes Thema; […]; zum anderen ist ihre Entstehung, Schriftwerdung und Überlieferung selbst Ausdruck und Wirkung der Herrschaft des erhöhten Gekreuzigten, durch den Gott sein endgültiges Wort spricht“ (vgl. Hebr 1,1f).
Damit ergebe sich folgende Schlussfolgerung: „Das Neue Testament ist sowenig eine Ergänzung des Alten Testaments, wie das Christusgeschehen eine Ergänzung des Heilshandelns Gottes in Israel ist. Als das grundlegende Zeugnis des Christusgeschehens steht es nicht nur aus eigenem Recht im Kanon; es konstituiert ihn vielmehr in seiner Zweiteilung.“ 254
c) Altes und Neues Testament in der einen Heiligen Schrift Noch einmal will Söding festhalten: „Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Testamenten lassen sich nicht quantifizieren und gegeneinander aufrechnen. Vielmehr ist das eine die Voraussetzung des anderen. Durch die Kontinuität und die Diskontinuität entsteht die Einheit zwischen beiden Testamenten als eine Spannungseinheit.“ – Diese lasse „sich nur von einem christologischen Standpunkt aus erkennen, der das Christusgeschehen mit den neutestamentlichen Autoren als Ereignis der eschatologischen Selbstmitteilung Gottes versteht. Es ist der eine Gott, der sich im brennenden Dornbusch als Jahwe offenbart (Ex 3,14) und auf Golgotha als Abba Jesu (Mk 14,36; cf. Röm 8,15; Gal 4,6); und er offenbart sich als er selbst, indem er dem soteriologischen ‚Gesetz‘ des Je-mehr folgt, das seinem Wesen als Deus semper maior entspricht.“
Wenn diese „theologische Vorgabe“ Geltung hat, dann lasse „sich die perspektivische und geschichtliche Einheit der Schrift in groben Umrissen vielleicht folgendermaßen bestimmen: Wie das Alte Testament den Prozess der Erkenntnis Gottes als des Einen und Einzigen spiegelt, aber auch die Geschichte Israels mit jenem Gott dokumentiert, der sich noch durch das Gericht hindurch als Jahwe und als treuer Gott des Bundes erweist, so ist das Neue Testament – gerade durch seine Christozentrik – theozentrisch ausgerichtet: Es bezeugt Gott als den Vater Jesu, der durch seinen Sohn seine Herrschaft nahekommen lässt, seinen Sohn in den Tod dahingibt, von den Toten auferweckt, zu seiner Rechten erhöht und zum Endgericht als Menschensohn wiederkommen lässt.“
„Im Lichte des Neuen Testaments“ erweise „sich dann das Alte Testament nicht als dialektisches Gegenüber des Neuen Testaments und nicht als praeparatio evangelii,“ vielmehr „als Zeugnis des Evangeliums, als Dokument der Erwählung Israels wie seiner Geschichte mit Gott, in der die Christenheit wurzelt (Röm 11,18), als Urkunde einer Hoffnung auf endgültiges Heil für Juden und Heiden, das aufgrund der Gnadenfülle Gottes die Grenzen von Raum und Zeit sprengt, um die Menschen, sind sie auch Sünder, an der ganzen Fülle seines Lebens teilhaben zu lassen.“
Im „Lichte des Alten Testaments“ werde „das Christusgeschehen“ erkennbar „als Aufgipfelung der gnädigen Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte zum Heile Israels und der Völker, als unerwartete, alle Grenzen sprengende Realisierung seines Heilswillens.“ 255
Werde das Neue Testament „im Lichte des Alten“ gelesen, wehre dies die „Gefahr einer schleichenden Gnostisierung des Christusglaubens“ ab und lasse „allererst erkennen, dass die Dahingabe und Auferweckung Jesu durch Gott ein notwendiger und konsequenter Ausdruck seines ureigenen Wesens ist.“
So könne als abschließende Perspektive formuliert werden: „Die Lektüre des Alten Testaments im Lichte des Neuen und des Neuen im Lichte des Alten lässt hoffen, dass Gott, der Vater, durch Jesu Christus im Heiligen Geist allen Völkern den verheißenen Segen Abrahams spendet.“
256
VIII. Zusammenfassung E.1. Thomas Södings ausführliche Frage nach der Einheit der Heiligen Schrift ist m.E zu qualifizieren als ein nach allen Regeln der Auslegungskunst sorgfältig angefertigter Rahmen für eine biblische Kanon-Theologie. Seine Untersuchung, die als Gegenentwurf zu einem doktrinalistisch enggeführten Verständnis der Einheit der Schrift konzipiert ist, strebt an, diese auf dem Niveau des gegenwärtigen Problembewusstseins neu zu bestimmen. E.2. Den Ausgangspunkt bildet das nüchterne Eingeständnis, dass kirchliche Schriftauslegung bis in unsere Zeit hinein bestimmt ist durch Harmonisierung und Selektion im Interesse dogmatisch handhabbarer Ergebnisse. – Dem stellt Söding die Absicht entgegen, die Einheit der Schrift grundsätzlich in ihrer Vielfalt und in ihrer geschichtlichen Tiefe zu bestimmen. E.3. M.E. gelingt es Söding auch mit dieser Vorgabe, eine tragfähige Verbindung von Exegese und Systematik anzubahnen, die eine Definition der biblischen Einheit g e r a d e n i c h t als exklusiv dogmatische Aufgabe begreift, indem er eine exegetisch nicht darstellbare Schrift-Einheit mit vollem Recht als prekär einstuft. – Insofern strebt er an, Gottes Selbstoffenbarung exegetisch in der ihr selbst innewohnenden Normativität als im Medium des Schriftwortes aktuell und bleibend relevant zu erschließen. E.4. Gleichzeitig weist er – auch hier zu Recht – darauf hin, dass der Interpretationshorizont der Heiligen Schrift grundlegend kirchlich bestimmt ist, so dass Exegese, die auf echtes Verstehen zielt, im Raum kirchlichen Schriftgebrauchs zu erfolgen habe. – In ökumenischer Perspektive mahnt Söding an, dass im Bereich des Protestantismus die Kirche d e u t l i c h e r als die maßgebliche Interpretationsgemeinschaft der Bibel profiliert werden müsse. E.5. Nach einer Bestandsaufnahme der in den vergangenen Jahrzehnten gängigen schrifttheologischen Entwürfe zeigt Söding auf, dass Einheitskonzepte, denen es vorrangig um kohärente Lehre oder wasserdichte Logik gehe, nicht zielführend sein können. Stattdessen müsse eine Einheit der Schrift darstellbar sein, die die Vielfalt der Einzelschriften und die Spannung beider Testamente in ausreichendem Maße berücksichtigt. E.6. In diesem Sinn beschreibt er als Basis seines Verständnisses der Einheit der Schrift, dass diese letztlich ein Postulat des christlichen Glaubens sei, welches aus der Einheit Gottes und seines Volkes 257
abgeleitet werden könne u n d müsse. – Anhand konkreter exegetischer Aufweise gelingt es Söding m.E. überzeugend, die Einheit der Heiligen Schrift als perspektivische und geschichtliche zu bestimmen, d.h. zu zeigen, dass besagte Einheit nicht statisch, zeitlos und homophon sein könne, sondern als dynamisch, geschichtlich und polyphon, also spannungsreich zu begreifen sei. E.7. In einer kenntnisreichen Erläuterung der spezifischen Struktur des zweiteiligen biblischen Kanons zeigt Söding sowohl die Konzeption der Abfolge, Unterscheidung und Verklammerung des Alten und des Neuen Testaments auf, als auch den Sachverhalt, dass es im Neuen Testament kanonhermeneutisch vor allem um die Beziehung zwischen Jesus und der Kirche bzw. zwischen der Kirche und dem Reich Gottes gehe. E.8. Hinsichtlich der Genese des Kanons zeichne sich im Rahmen historisch-kritischer Schriftauslegung gerade in der kanonischen Endgestalt der Texte deutlich wahrnehmbar der redaktionelle Gestaltungswille ab, der den einzelnen Schriften ihren Ort in der Geschichte des Gottesvolkes zuweist. E.9. Die Frage nach dem Anspruch des Kanons führe einerseits zurück zu den leitenden Grundprinzipien der Einheit Gottes und seines Volkes; andererseits erweise sich, dass die Schriften des Neuen Testaments entstehen, um die Kirche auf eine gesicherte apostolische Grundlage zu stellen. – Ein exegetisch zu ermittelndes Konzept der Einheit der Schrift werde auch Konflikte innerhalb des Urchristentums samt deren Lösungen erkennbar machen und damit Spuren der Identitätsbildung in den frühen Auseinandersetzungen um den wahren Glauben aufzeigen. Auf diese Weise werde deutlich, dass die Leistungsfähigkeit des Kanon-Konzeptes vor allem darin besteht, verschiedene Traditionen und Positionen einander zuzuordnen sowie unterschiedliche theologische Ansätze zu dulden u n d sinnvoll miteinander zu vernetzen. E.10. Letztlich konstituiert sich für Söding die Einheit der Schrift darin, dass es der e i n e Gott ist, der sich im brennenden Dornbusch als Jahwe offenbart und auf Golgatha als Abba Jesu. Die Bedeutsamkeit des Alten Testaments für die Kirche ist demnach eine theologische Notwendigkeit, die in der Identität Gottes ihren Grund hat. Eine christologische relecture des Alten Testaments sei keinesfalls zwingend geboten, gleichwohl möglich und angemessen, insofern ein neuer Schriftsinn zu Tage trete, wenn die Bibel Israels im Lichte des Christusgeschehens gelesen werde.
258
F. Die Bindung an einen pluriformen Kanon als Herausforderung für schriftgemäße Theologie 0. Ausgangslage: Wie kann die Bindung an einen pluriformen Kanon normativ konfiguriert werden? Hier sei im Rückblick an Ulrich Luz erinnert, der in seiner umfangreichen Theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments zu einem pessimistischen Urteil gelangt: „Wie kann man eine Kirche auf eine Bibel bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist?“427 – Er beschreibt damit geradezu das Grunddilemma aller kirchlichen Auslegungsgemeinschaften der Heiligen Schrift: „Der Wahrheitsanspruch der neutestamentlichen Verkündigung ist universal. Die Möglichkeit einer unbegrenzten Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten – ja nach Vorliebe eines einzelnen Bibellesers oder einer einzelnen Interpretationsgemeinschaft – steht in einem frappanten Widerspruch zu diesem Wahrheitsanspruch und führt ihn ad absurdum.“428
Insofern war es folgerichtig, dass im Zuge der allgemeinen Etablierung historisch-kritischer Schriftauslegung die Relevanz des biblischen Kanons mehr und mehr in Frage gestellt wurde. Mit dem Phänomen der Dekanonisierung429 ging einher, die Realisierbarkeit schriftgemäßer Theologie insgesamt radikal anzuzweifeln; entsprechende Vorbehalte prägen bis heute die Situation wissenschaftlicher Exegese, ja der Theologie insgesamt. Gleichwohl kann mittlerweile gesagt werden: Der Nebel des historisch-kritischen Pulverdampfs scheint sich gelegt zu haben, allmählich tun sich neue Horizonte auf, die Bedeutung des biblischen Kanons in veränderter Weise zu begreifen. Das bedeutet zuallererst: Die Rückkehr zu einem biblizistischen Kanonverständnis ist ausgeschlossen. Die wissenschaftliche Exegese der vergangenen 200 Jahre hat dazu geführt, den Begriff der Normativität des Kanons umzuprägen, neu zu formatieren. – In diesem Sinne seien folgende Thesen gewagt: 427 428 429
ULRICH LUZ, Theologische Hermeneutik, 10 (Hervorh. i. O.). ebd. (Hervorh. i. O.). vgl. B. I.. 259
- Wir verdanken der historisch-kritischen Schriftauslegung sowohl die Entdeckung der Breite des Kanons (Stichwort Diversität) als auch die Entdeckung der Tiefe des Kanons (Stichwort Kontinuität). - In beiden Dimensionen hat das Phänomen des Kanons als Selbst-Bindung der Auslegungsgemeinschaft Kirche gleichwohl auch heute, wenn auch verändert, normative Auswirkungen.
Es ist zu klären, wie die Normativität des biblischen Kanons unter veränderten Bedingungen zu verstehen ist, das heißt, wie diese im 21. Jahrhundert kirchlich konfiguriert werden kann. – Dazu sei zunächst in Erinnerung gerufen, welche Fundamentalentscheidungen der Kanon in der Zeit seiner Entstehung und Fixierung für die Glaubensgemeinschaft der Christen faktisch in Geltung gesetzt hat.
I. Die Normativität des Kanons – erste Implikationen Hier geht es um diejenigen Entscheidungen, die mit den jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens verbunden sind.
1.
Mit dem Alten Testament vorgegebene Grundstrukturen: Das ‚Ineinanderwachsen‘ des jüdischen Glaubens mit der Christusbotschaft
In seinem profunden Grundriss der Dogmengeschichte fragt Karlmann Beyschlag: „Welches ist die Gestalt, unter der der ‚jüdische Glaube‘ und die Christusbotschaft ineinandergewachsen sind? Vereinfacht kann man sagen: Es ist diejenige Gestalt, die man erstmals als das Christentum der Christen bezeichnen könnte. […] Wie aber ist die jüdisch-christliche Synthese dann konkret vorzustellen?“ – Eine „Lösung“ ergebe sich, „sobald man die drei ‚Hauptstücke‘ des ‚jüdischen Glaubens‘ […] zugrunde legt und ihre Umformung durch den christlichen Glauben hinzufügt. Diese Hauptstücke waren (1) der Glaube an den einen Gott und Schöpfer, (2) das Gesetz als Mittlerinstanz und die hl. Schrift des AT, (3) die eschatologisch-soteriologische Heilserwartung.“430 430
KARLMANN BEYSCHLAG, Grundriss der Dogmengeschichte, Bd. I Gott und Welt, Darmstadt 1982, 68f (Hervorh. i. O.). Punkt (3) präzisiert Beyschlag, indem er von der „Erwartung der Totenauferstehung und des Endgerichts (Eschatologie)“ spricht; vgl. ebd., 58ff (Die Religion des hellenistischen Judentums). 260
Mit der eschatologischen Heilserwartung verbindet sich die – Judentum und Christentum gleichermaßen kennzeichnende – Überzeugung, dass der Mensch in der vorfindlichen, von Gott ursprünglich gut geschaffenen Welt des Heils bedarf, demnach – soteriologisch gesprochen – auf die Versöhnung mit Gott und eine eschatologische Heilung der Schöpfung angewiesen ist. Die von Beyschlag angesprochene „Umformung“, ist folgendermaßen zu beschreiben: Zwar habe „die junge Christenheit“ den genannten „dreiteiligen Grundriss […] übernommen und zum Fundament ihres Glaubens gemacht“, bei diesem Vorgang aber „einen entscheidenden Eingriff vollzogen, der alle jüdischen Voraussetzungen vollständig verändert hat: An die Stelle des atl Gesetzes in seiner Mittlerfunktion zu Gott trat der personale Mittler in der geschichtlichen Gestalt Jesu Christi. […] indem anstelle des jüdischen Gesetzes und seiner Weltfunktion eine zweite Personalität, nämlich die Person Christi, in ihrer Heilsfunktion in den Glauben eintrat, ergab sich nicht nur automatisch ihre Zuordnung zur Person Gottes des Vaters, sondern damit veränderte sich auch das Gesamtgefüge der (ehemals jüdischen) Religion von Grund auf: […].“431
Dieser dogmengeschichtlichen Einsicht entsprechen die exegetischen Befunde bei Ferdinand Hahn, der von einer weitgehenden Einschmelzung des Glaubens und der Hoffnung Israels in die christlichen Zeugnisse spricht,432 sowie bei Thomas Söding, der auf die radikale Neuheit des Christusgeschehens hinweist, die – auf alttestamentlichen Grundlagen aufbauend – in den urchristlichen Schriften entfaltet wurde.433
2.
Fundamentalentscheidungen des Doppelkanons aus Altem und Neuen Testament
Indem das Neue Testament auf dem Alten Testament aufbaut, präziser gesagt mit dem Alten Testament verklammert wird, ergeben sich zwei weitere dogmengeschichtliche Fundamentalentscheidungen, auf die u.a. Gerd Theißen hinweist:
431
432 433
ebd., 69f (Hervorh. i. O.): „Durch die Zuordnung der Person Christi zur Person Gottes des Vaters ergab sich nicht nur eine Theologisierung der Christusgestalt von bisher unbekanntem Ausmaß, sondern es erhob sich zugleich damit auch die theologische Grundfrage der alten DG [= Dogmengeschichte] überhaupt: das Problem einer personalen göttlichen Zweiheit (später Dreiheit) unter dem unabdingbaren Vorzeichen des Glaubens an die monotheistische göttliche Einzigkeit. Sie stellte das christliche Denken vor ebenso gewaltige Schwierigkeiten wie völlig neue Erkenntnistiefen.“ vgl. D. IV. 3.. vgl. E. VII. 2.. 261
(4) Die „Einheit des Schöpfer- und Erlösergottes“ (gegen Markion): „Alle Schriften,“ die diese Einheit „in Frage stellten und in dieser Welt das Werk eines stümperhaften und unwissenden Demiurgen sahen, hatten in den Gemeinden keine Chance, akzeptiert zu werden.“ (5) Die „Realität der Inkarnation“ (gegen die Gnosis): „Alle Schriften, die lehrten, dass der wahre Gott nicht wirklich in diese Welt eingegangen war und sich mit einem ganzen menschlichen Leben (materiell mit Fleisch und Blut, chronologisch von der Geburt bis zum Tod) verbunden hatte, hatten in den Gemeinden keine Chance. […] Wenn Gott wirklich menschliches Leben auf sich genommen hat, hatte er es ein für allemal geheiligt und umfassend aufgewertet – mit Leib, Seele und Geist von der Geburt bis zum Tod.“434
NEUES TESTAMENT Glaube an den einen Gott und Schöpferneu Christus als personaler Mittler, Hl. Schrift des ATneu eschatologisch-soteriologische Heilserwartungneu Einheit des Schöpfer- und Erlösergottes Realität der Inkarnation
interpretatorische Induktion statt Deduktion (Söding)
ALTES TESTAMENT
Glaube an den einen Gott und Schöpfer Gesetz als Mittlerinstanz, Hl. Schrift des AT eschatologisch-soteriologische Heilserwartung
Schema Verklammerung Altes und Neues Testament (nach Beyschlag, Theißen, Söding) 434
GERD THEIßEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, 311f. 262
II. Neu entdeckte Dimensionen des Kanons als Herausforderung für schriftgemäße Theologie Wenn gilt, dass die historisch-kritische Schriftauslegung sowohl zur Entdeckung der Breite des Kanons (Stichwort Diversität) als auch zur Entdeckung der Tiefe des Kanons (Stichwort Kontinuität) geführt hat, dann ist dies folgendermaßen zu konkretisieren:
1.
Die Breite des neutestamentlichen Kanons (Diversität)
Mit der Breite des Kanons ist die Zusammenordnung theologischer Traditionen bezeichnet, die auf der Ebene des kanonischen Endtextes hor iz on t al nebeneinander, evtl. auch gegeneinander stehen. – Hier sind – in Anknüpfung an Ferdinand Hahn – u.a. zu nennen: a) Die drei unterschiedlichen Modelle, die Heilstat Gottes in Jesus zu interpretieren:435 1. Die soteriologische Bedeutung der Auferweckung Jesu 2. Die rettende Kraft des Todes Jesu 3. Die soteriologische Relevanz der Menschwerdung Jesu
b) Die verschiedenen Modelle, die neutestamentliche Heilsbotschaft mit dem alttestamentlichen Gesetz zu verbinden:436 1. Die Verbindung von Gesetz und Heil im frühen Judenchristentum 2. Die Bestreitung der Heilsrelevanz des Gesetzes 3. Das Gesetz als Wegbereitung für das Heil 4. Die Ablösung des Gesetzes durch Jesu Weisung
c) Die verschiedenen Zuordnungen von Heilsgegenwart und Heilszukunft im Blick auf die eschatologische Vollendungshoffnung:437 435 436 437
vgl. D. III. 6. bzw. Schema Soteriologie I. vgl. D. III. 8. bzw. Schema Soteriologie II. vgl. D. III. 10./11. bzw. Schema Eschatologie. 263
1. Die Betonung der Heilszukunft 2. Die Betonung der Heilsgegenwart 3. Ausgewogene Zuordnung von Heilsgegenwart und Heilszukunft
2.
Die Tiefe des neutestamentlichen Kanons (Kontinuität)
Mit der Tiefe des Kanons sind von der Exegese freigelegte unterschiedliche ve r ti ka le Stufen der Überlieferung bzw. Traditionsverarbeitung bezeichnet, die auf der Ebene des kanonischen Endtextes ihre die Hörgemeinschaft der Bibel verpflichtende Form erreicht haben. – Eine kanonische Interpretation der Heiligen Schrift bewertet anfängliche Stufen der Überlieferung nicht höher als den Endtext, der – gerade in seiner Komplexität – Teil des Kanons geworden ist, d.h. in dieser Komplexität zu erfassen und zu interpretieren ist. – Hier sind vor allem drei Bereiche zu nennen: a) Die Kontinuität zwischen Jesus als Verkündiger der Heilsbotschaft und dem gekreuzigten und auferweckten Christus als dem verkündigten Inhalt der Heilsbotschaft; b) Die Kontinuität zwischen dem Kreis der Jüngerinnen und Jünger, der Jesus-Nachfolgerinnen und Jesus-Nachfolger mit der nachösterlichen christlichen Kirche; c) Die Kontinuität zwischen dem Anbruch der Gottesherrschaft, den Jesus verkündigt, und der eschatologischen Vollendung der Gottesherrschaft, die mit der Parusie Christi verbunden ist.
In diesem Zusammenhang ist an das abschließende Urteil Ferdinand Hahns zu erinnern: „Lassen sich die Spannungen und Widersprüche nicht übersehen, so heben sie doch die Einheit des neutestamentlichen Zeugnisses nicht auf. Die Divergenzen stehen in einem Gesamtrahmen, bei dem die Konvergenzen eindeutig dominieren.“ – Die drei „entscheidenden einheitsstiftenden Komponenten“ sieht Hahn in 1. der durchgängigen Voraussetzung des „Gottesglauben[s] und“ der „Verheißungstradition des alten Bundes“, 2. dem „Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus“, 3. der „erwartete[n] Heilsvollendung“.438
438
FERDINAND HAHN, Theologie des Neuen Testaments II, 805f (Hervorh. Verf.) bzw. D. IV. 2.. 264
3.
Der pluriforme Kanon als Impuls für eine Neu-Formatierung schriftgemäßer Theologie
Die entscheidende Herausforderung für ein neu formatiertes Verständnis schriftgemäßer Theologie ist demnach so zu beschreiben: Der als Einheit verstandene (neutestamentliche) Kanon eröffnet in seiner Breite und Tiefe notwendige Spannungsfelder, innerhalb derer sich christliche Identität konstituiert und bewährt.
1. Auferweckung Jesu 2. Kreuz und Tod 3. Menschwerdung
a) Soteriologie
1. Heilsbotsch. cum Gesetz 2. Heilsbotsch. vs. Gesetz 3. Gesetz ad Heilsbotsch. 4. Heilsbotsch. + Gebot
b) Heilsbotschaft u. Gesetz
1. Heilszukunft 2. Heilsgegenwart 3. Heilszk. + -ggw.
c) Eschatologie
Kanonische Schriften des Neuen Testaments „Christus“
Kirche
Parusie
„Jesus“
Jüngerkreis
Anbruch der Gottesherrschaft
Offenbarung Gottes in Jesus Christus
Gottesglaube und Verheißungstradition d. AT
erwartete Heilsvollendung
JesusÜberlieferung
Schema Breite und Tiefe des Kanons
265
III. Die dynamische Einheit des Kanons – Folgerungen Zu beantworten ist die grundlegende Frage: Wie kann die Bindung an einen pluriformen Kanon in einer kirchlichen Interpretationsgemeinschaft normativ konfiguriert werden? – Wenn mit Thomas Söding davon auszugehen ist, dass die Einheit der Heiligen Schrift als perspektivische und geschichtliche zu bestimmen ist, d.h., dass diese nicht statisch, zeitlos und homophon sein kann, sondern dynamisch, geschichtlich und polyphon, also spannungsreich begriffen werden muss, dann ergeben sich daraus Konsequenzen für eine – neu formatierte – ‚schriftgemäße‘ Theologie. Diese seien hier – von einer primär neutestamentlichen Perspektive aus – in Thesenform dargelegt: 1. Die Heilige Schrift legt sich selbst aus, – wenn die Interpretationsgemeinschaft es zulässt. – Verhindert wird dies, wenn a) die Vielfalt der Schrift so divers interpretiert wird, dass ein Zusammensetzen und Zusammensehen der einzelnen Teile – prinzipiell oder faktisch – verhindert wird. b) ein konfessionell oder in anderer Weise konfiguriertes dogmatisches Regulativ die Selbstauslegungskraft der Schrift steuert und kanalisiert. – Anders formuliert: Wenn eine – wie auch immer geartete – norma normata zur norma normans wird.
2. Das Neue Testament stellt ein modulares Theologiesystem zur Verfügung: a) Klare Mitte dieses Systems ist Gottes Offenbarung in der Person des Jesus Christus. b) Primärer geistlicher Zweck des Neuen Testaments ist es, Vertrauen zu Jesus Christus zu bewirken. c) Es sind Meta-Daten des Evangeliums benennbar, die grundlegend klären, wer Jesus Christus ist und was seine reale Existenz für den (glaubenden) Menschen bedeuten (kann). d) Um eine auf diese Weise definierte Mitte herum erweitert das Neue Testament in seiner Vielfalt das Christusbild, ohne jedoch die Mitte dieses Bildes in Frage zu stellen.
3. Die Meta-Daten des Evangeliums stehen im Urchristentum recht früh fest. – Das Evangelium in seinen normativen Grundformulierungen (1. Kor 15,3ff; Phil 2,5ff u.a.) setzt voraus: 1. Jesus ist auferweckt worden und lebt, er existiert als reale Person. 2. Als erhöhter Kyrios wird er von den Glaubenden im Gebet angesprochen und nimmt den
266
Lobpreis der Kirche entgegen. – Damit ist die Erweiterung und Überschreitung des alttestamentlichen Monotheismus bis hin zur trinitarischen Gottesanrufung in Gang gesetzt. 3. In seiner Menschwerdung, seinem Leben, Sterben und Auferstehen hat Gott eschatologisch gehandelt und die Beziehung der Menschen zu ihm und untereinander heilvoll verändert. 4. Mitte dieses eschatologischen Handelns Gottes ist Jesu Sterben „für unsere Sünden“ (1. Kor 15,3). 5. Anteil an der heilvollen Veränderung der Beziehung zu Gott gewinnt der Mensch im Glauben an Jesus Christus, d.h. in der durch den Heiligen Geist gewirkten Beziehung zu Jesus Christus als Person. 6. Dieser Glaube bedeutet grundsätzlich Zuspruch und Anspruch, weil Christus Retter und Richter des Menschen in einer Person ist. 7. Als der erhöhte Kyrios ist Jesus gleichzeitig der Präexistente und der Wiederkommende, der am Ende der Zeit das mit ihm angebrochene Reich Gottes vollenden wird.
4. Das durch die Meta-Daten des Evangeliums konfigurierte Christusbild bildet die neutestamentliche Grundlage für die Vielfalt der Konfessionen. – Das bedeutet: Die modulare Polyvalenz des Neuen Testaments kann zur Grundlage eines bestimmten konfessionellen Musters werden, – sie muss aber nicht dazu werden. 5. Die Selbstauslegung der Schrift, hier des Neuen Testaments, kann zu unterschiedlichen Leitperspektiven führen – auch innerhalb einer Konfession. Die Interpretationsgemeinschaft der Kirche hat die Aufgabe, Leitperspektiven zu benennen und Konvergenzen herbeizuführen: a) Dies relativiert konfessionelle Wahrheitsansprüche und stellt den jeweils eigenen Standpunkt in Frage. b) Es liegt an den Interpretationsgemeinschaften wie am einzelnen Christen, diese Infragestellung zuzulassen und – mit Hilfe des Heiligen Geistes – in einen fruchtbaren Prozess (einer evtl. Neu-Konfiguration) münden zu lassen.
6. Daraus folgt: Das Neue Testament ist gekennzeichnet durch eine Selbst-Fixierung auf Christus, die aber nicht gleichbedeutend ist mit einer spezifischen, etwa konfessionellen Leitperspektive. – Es liegen keine innerbiblischen bzw. kanonischen Gründe dafür vor, e i n e bestimmte Leitperspektive einzunehmen. 7. Das bedeutet: Als Hörende bzw. Lesende des Neuen Testaments bzw. der Heiligen Schrift sind wir g e z w u n g e n zur Perspektivität! – Dass die Schrift sich selbst auslegt, bedeutet nicht, dass die Hörenden bzw. Lesenden bzw. die Hör-, Lese- und Interpretationsgemeinschaften nicht perspektivische Entscheidungen zu treffen hätten.
267
IV. Rückblick und Ausblick in ökumenischer Perspektive Die von Martin Luther im 16. Jahrhundert mit großem Nachdruck reklamierte Klarheit der Schrift (claritas scripturae) bedeutete für den Reformator nichts weniger als die Selbstdurchsetzung der Rechtfertigungsbotschaft – verkürzt gesagt: des Paulinismus – in der Interpretationsgemeinschaft der Kirche. – Dieses Verständnis der Klarheit der Schrift aber kann, sind wir bereit auf die ganze Schrift – speziell auf das ganze Neue Testament – zu hören, heute gerade nicht mehr vorausgesetzt werden. Wenn demnach die Normativität des Kanons im 16. Jahrhundert und in der Folgezeit vor allem konfessionell begriffen wurde, dann muss aus heutiger Sicht gelten, dass dies nur bedingt schriftgemäß war. – Wenn heute nach einer möglichen Normativität der Schrift für kirchliche Interpretationsgemeinschaften gefragt wird, so muss diese in anderer Weise definiert, also neu formatiert werden, um christliche Identität darzustellen. Dabei wird es vor allem darum gehen, die Breite und Tiefe des Kanons zu berücksichtigen, um christliche Identität in ein adäquates KoordinatenSystem einzuzeichnen. – Dies hat zur Folge, dass auch Auslegungsregulative von hoher Dignität wie etwa die lutherischen Bekenntnisschriften faktisch als norma normata eingestuft und ggf. einer Korrektur unterzogen werden müssen. Dabei ist vor allem zu bedenken: Die Heilige Schrift auszulegen, bedeutet insbesondere, die einzelnen Positionen im Netzwerk des Kanons in eine sinnvolle Beziehung zueinander zu setzen. Diese Beziehung ergibt sich n i c h t v o n s e l b s t, sie ist s t e t s und g r u n d s ä t z l i c h Ergebnis von Entscheidungen einzelner Hörender bzw. Lesender der Schrift bzw. der jeweiligen Auslegungsgemeinschaft. In diesem Zusammenhang sind gewichtige Fragen zu bedenken: - Gleicht der (neutestamentliche) Kanon in gewisser Weise einem ,Gen-Pool‘ für die Konstituierung christlicher Auslegungsgemeinschaften in den Jahrhunderten der Kirchengeschichte? - Waren sich die Väter des Kanons der Kombinations- und Entfaltungsmöglichkeiten bewusst, die mit dem Positions-Netzwerk des Kanons von Anfang an zur Verfügung standen? - Ist davon auszugehen, dass die Kirche mit der Fixierung des Kanons als pluriformer Norm letztlich nicht absehen konnte, was diese Entscheidung für die folgenden Jahrhunderte bedeuten sollte? Handelte es sich insofern um eine Festlegung, die potentiell (viele) Folgeentscheidungen in der Zukunft freisetzte?
268
- Ist deshalb die Schlussfolgerung erlaubt, dass der Kanon vor allem eines bedeutet: Die Kirche ist unfertig, d.h. es gibt kein perfektes Urbild, das im Lauf der Geschichte als Abbild deckungsgleich realisiert werden könnte?
269
G. Schriftgemäße Theologie als Aufgabe der Kirche: Erkenntnisse und Perspektiven des ökumenischen Dialogs Nachdem in den Teilen D und E exegetische Untersuchungen zur Frage der Einheit des Neuen Testaments bzw. der Heiligen Schrift insgesamt vorgestellt sowie in Teil F nach Konsequenzen für die Normativität des biblischen Kanons gefragt wurde, soll es im Folgenden darum gehen, exemplarisch Einsichten des ökumenischen Dialogs nachzuzeichnen, die geeignet sind, evangelisches und katholisches Verständnis der Heiligen Schrift im Licht gegenwärtiger wissenschaftlicher Erkenntnis zu repräsentieren. – Dabei wird insbesondere die Rolle der Kirche als Auslegungsgemeinschaft beleuchtet, um auf diese Weise zu fragen, wie sich im Themenbereich des Schriftverständnisses klassische Frontstellungen des 16. Jahrhunderts durch Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese verändert haben. Die behandelten Texte stehen für den evangelisch-katholischen bzw. den lutherisch-katholischen Dialog in Deutschland (Verbindliches Zeugnis, Communio Sanctorum) sowie für den lutherisch-katholischen Dialog auf Weltebene (Die Apostolizität der Kirche).
I. Verbindliches Zeugnis (1998): Schriftgemäßheit zwischen Autopistie und verbindlicher lehramtlicher Auslegung Der nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland gegründete ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, der von 1986 bis 1994 vier Bände zu der Frage Lehrverurteilungen – kirchentrennend? vorlegte, befasste sich seit 1986 mit dem Themenfeld Schrift – Tradition – Schriftauslegung und veröffentlichte dazu von 1992 bis 1998 unter dem Titel Verbindliches Zeugnis drei ausführliche Textsammlungen.439 – Im dritten Band findet sich unter der Überschrift Schriftverständnis und Schriftgebrauch. Abschließender Bericht das umfangreiche und inhaltlich
439
VERBINDLICHES ZEUGNIS I: Kanon – Schrift – Tradition (DiKi 7), II: Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption (DiKi 9), III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen 1992, 1995 u. 1998. 270
gewichtige Schlussdokument der Gespräche.440 – Der Einleitungsteil formuliert als Zielsetzung des zusammenfassenden Berichts die Überwindung einer traditionellen Trennlinie der Konfessionen: „(8) Der ÖAK richtet in diesem Dokument sein Augenmerk besonders auf die Frage der ‚Schriftauslegung‘ und versucht dabei eine Annäherung und Vermittlung der (immer noch) weithin als gegensätzlich empfundenen Positionen: ‚Selbstauslegung‘ der Schrift und verbindliche ‚lehramtliche‘ Auslegung.“440 – Vorab sei zu bedenken: „(8) […] Die neuere exegetische und systematisch-theologische Diskussion um die Methoden der Schriftauslegung bildet dabei den Hintergrund für unser Bemühen: Wir wollen einerseits die Ergebnisse ernstnehmen, welche die historische Erforschung der Heiligen Schrift erbracht hat. Wir wollen andererseits die gerade so in ihrer gewachsenen Wortgestalt wahrgenommene Heilige Schrift gemeinsam als Wort des lebendigen Gottes verstehen.“441
Im Hinblick auf die „(19) […] kritische Funktion des Gotteswortes der Schrift gegenüber der kirchlichen Lehrverkündigung“ gelte: „[…] Das im Interesse des kritischen Gegenübers der Schrift zur Kirchenlehre zu verstehende sola scriptura ist […] nicht in Gegensatz zur lebendigen Überlieferung des Evangeliums in der Kirche zu setzen, sondern als Ausdruck der Maßstäblichkeit des biblischen Kanons für die Lehre der Kirche zu würdigen. Die Tradition der Kirche trägt sehr wohl dazu bei, dass der Ausleger das im Wortlaut der biblischen Texte Enthaltene deutlicher wahrnimmt.“442
1.
Einheit, Ganzheit und Vielfalt der Heiligen Schrift
Auf dem Hintergrund der durch die historisch-kritische Exegese gewonnenen Einsichten müsse festgehalten werden: „(60) Die Einheit der Schrift wird nicht nur durch den Unterschied der beiden Testamente, sondern auch durch die große Pluralität der in ihr versammelten theologischen Positionen und Konzeptionen problematisiert. Diese Vielfalt, die theologische Kontroversen und Widersprüche einschließt, herrscht bereits jeweils innerhalb der beiden Testamente; mehr
440 441 442
in: SCHRIFTVERSTÄNDNIS UND SCHRIFTGEBRAUCH, 288ff. ebd., 295 (Hervorh. i. O.); ÖAK = Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen. ebd., 301 (Hervorh. Verf.). 271
noch zeigt sie sich in gesamt-biblischer Perspektive. Um so wichtiger ist es, den inneren Zusammenhang zwischen Einheit, Ganzheit und Vielfalt der Schrift darzustellen.“443
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, wird betont:444 „(86) […] Wer an der Einheit und Ganzheit der Schrift festhält, begibt sich nicht der Möglichkeit, mit der Schrift selbst zwischen verschiedenen theologischen Positionen biblischer Autoren zu unterscheiden, auf mögliche Einseitigkeiten und zeitbedingte Anschauungen zu achten; und wer nach der ‚Mitte‘ der Schrift sucht, verschafft sich die Möglichkeit, die Einheit und Ganzheit der Schrift in ihrer inneren Spannung wahrzunehmen.“ In diesem Sinne sei „(88) […] es ein Kriterium der Zugehörigkeit zur einen Kirche, an der ganzen Heiligen Schrift festzuhalten und die Vielzahl der theologischen, ethischen, spirituellen Impulse, die sie gibt, in den verschiedenen Traditionen innerhalb dieser einen Kirche wiederzuerkennen.“444
Um das Miteinander von Einheit, Ganzheit und Vielfalt der Schrift erfassen und darstellen zu können, wird mit Nachdruck die Zusammenarbeit von Schriftauslegung und Systematik angemahnt: „(171) Von größter Bedeutung ist, dass Exegese und Systematische Theologie in einen Dialog treten, der davon ausgeht, dass in der geschichtlichen Gestalt des menschlichen Schriftwortes die Wahrheit Gottes selbst bezeugt wird. Erst in diesem Dialog wird es gelingen, die Normativität der Schrift ohne jeden naiven Biblizismus zur Geltung zu bringen, die Wahrheit der biblischen Theologie argumentativ zu bewähren und die Einheit der Schrift so darzustellen, dass sie den Glauben theologisch zu begründen vermag.“445
2.
Schriftauslegung und verbindliche kirchliche Lehre446
In diesem Zusammenhang gelte grundsätzlich, „(173) […] dass die Alternative Schriftprinzip oder lehramtliche Schriftauslegung, Autorität des Wortes Gottes oder Autorität des kirchlichen
443 444 445 446
ebd., 318. ebd., 328f (Hervorh. i. O.). ebd., 356 (Hervorh. Verf.). ebd., 357ff. 272
Lehramtes den Positionen beider Konfessionen nicht gerecht wird.“ 447 – Stattdessen seien die konfessionellen Standorte mittlerweile deutlich differenzierter zu beschreiben.
a) Die Heilige Schrift als alleiniger Maßstab der Verkündigung und die Tradition als Ort der Vergewisserung448 (1) Hinsichtlich des protestantischen Postulats der claritas scripturae sei eine nach wie vor offene Frage zu klären: „(196) […] In der evangelischen Theologie ist bis heute umstritten, ob es bei der äußeren Klarheit der Schrift um den aus ihrem Wortlaut sich ergebenden Sinngehalt geht, wie später Johann Salomo Semler Luthers Schriftlehre auffasste, oder ob Luthers Hinweis auf das ministerium verbi, dem die Darlegung des Sinngehalts zu entdecken anvertraut sei, bedeutet, dass nur die Verkündigung des Evangeliums diesen eigentlichen Sinngehalt zu entdecken und zu vermitteln vermöge.“
Hier sei zu berücksichtigen, dass die „(197) […] altkirchlichen und die reformatorischen Bekenntnisse […] in den deutschen evangelischen Landeskirchen neben der Heiligen Schrift zu ihren sie konstituierenden Grundlagen [zählten] und […] als solche in den Verfassungen der Kirchen festgeschrieben“ seien. – Einerseits sind die Bekenntnisschriften „(198) […] als norma normata der Heiligen Schrift als der norma normans untergeordnet […]. Andererseits bilden die Bekenntnisse ihrerseits eine entscheidende Orientierung für die Schriftauslegung sowohl in der lebendigen Verkündigung der Kirche wie auch in der wissenschaftlichen Theologie. Die Bekenntnisse stellen dabei keine materiale Ergänzung der Heiligen Schrift dar, sondern wollen ihr sachgerechtes Verständnis sicherstellen.“
Dem komme eminente Bedeutung zu: „In diesem Sinne weiß die evangelische Theologie um eine für sie und die Kirche verpflichtende Funktion nachapostolischer kirchlicher Tradition. Ob und inwieweit das Bekenntnis der Kirche für weiterführende, maßgebende und verpflichtende Interpretationen durch neue kirchliche Lehrentscheidungen – etwa durch Zustimmungen zu ökumenischen Konvergenzdokumenten – offen ist, ist eine Frage, über die gegenwärtig nachgedacht wird.“
447 448
ebd., 357 (Hervorh. i. O.). ebd., 360ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 273
(2) Auf katholischer Seite wurde Missverständnissen Vorschub geleistet, indem die Offenbarungskonstitution Dei verbum des Zweiten Vatikanums davon spricht, dass „(204) […] ‚die Kirche ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft‘ (DV 9).“ – Dazu sei zu bemerken: „Vor dem Hintergrund der heftigen Kontroversen zwischen den Konzilsvätern […] über die Frage der materialen Suffizienz der Schrift, muss die zitierte Formulierung als eine Entscheidung für die Lehrmeinung betrachtet werden, dass die Tradition bei der Erschließung der Offenbarung Gottes der Heiligen Schrift keine weiteren Inhalte hinzufügt, es vielmehr ihre ganz eigene Funktion ist, die Botschaft der Heiligen Schrift als ‚viva vox evangelii‘ in allen Generationen hörbar werden zu lassen. Die Funktion der Tradition ist es demnach, den Vorgang der Vergewisserung über die Wahrheit des in den biblischen Schriften bezeugten Evangeliums unter veränderten Konstellationen von Erfahrung, Sprache, Wissen zu verantworten. Unverzichtbare Bedeutung hat die Tradition also im formal-gnoseologischen Bereich, nicht im materialen.“
(3) Als Resultat der „(206) […] Suche nach dem eigentlichen Anliegen der konfessionell geprägten unterschiedlichen Formeln“ könne gemeinsam festgestellt werden:449 (a) „Die evangelische Theologie erläutert das Prinzip ‚sola scriptura‘ und den – nicht unmissverständlichen – Begriff ‚Selbstauslegung der Schrift‘ als auf den Inhalt des auszurichtenden und zu überliefernden Evangeliums, auf die richtende und rettende Botschaft selber zielend und weist ein rein formales Verständnis des ‚Schriftprinzips‘, das die notwendige kirchliche Überlieferung und Auslegung der Schrift sowie die Normierung solcher Auslegung durch die Bekenntnisse der Kirche (als einer maßgeblichen Gestalt kirchlicher Tradition) ausschlösse, als Missverständnis zurück.“ (b) „Die katholische Theologie erläutert die Aussage ‚Schrift und Tradition‘ so, dass das maßgebende Wort Gottes allein im Zeugnis der Heiligen Schrift […] gegeben ist, und Tradition als Vollzug lebendiger Überlieferung dieses Evangeliums […] funktional-modal zu beschreiben ist. Sie weist eine Auffassung von Tradition im Sinne inhaltlich ‚ergänzender‘ Überlieferungen von Wahrheiten neben der Heiligen Schrift als Missverständnis zurück.“
Diese Übereinkunft der Konfessionen kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden, – zerschlägt sie doch nicht weniger als den gordischen Knoten des alten Konflikts um die Zuordnung von Schrift und Tradition:
449
ebd., 369f (Hervorh. i. O. u. Verf.). 274
„Wenn damit beide Positionen im Wesentlichen getroffen und angemessen wiedergegeben sind – wovon wir überzeugt sind –, besteht zwischen den Kirchen trotz unterschiedlicher Formulierungen Übereinstimmung in der Sache.“
b) Die Gesamtverantwortung des Volkes Gottes als Träger der Glaubensüberlieferung450 Diesbezüglich wird vorab gemeinsam festgehalten: „(207) […] Wir stimmen überein in der Aussage, dass das ganze Volk Gottes zum Zeugnis und zum Dienst berufen ist, und jeder einzelne mit seinen Gaben und Fähigkeiten an der Verkündigung des Evangeliums teilnehmen soll.“ (1) Auf evangelischer Seite betone man traditionell im Anschluss an „(214) […] Martin Luther das allgemeine Priestertum aller Glaubenden und Getauften.“ – Das bedeute konkret: - Zunächst habe „die Gesamtheit der Gläubigen eine aktive Mitverantwortung dafür, dass Verkündigung stattfindet und dass die Lehre ‚recht‘, d.h. dem Evangelium gemäß sei.“ - Wesentlich ist daneben die „durch den Geist gewirkte ‚Rezeption‘ kirchlichen Lehrens“ als „die Weise, wie die Kirche als ganze – und in ihr jeder und jede Getaufte nach Maßgabe der eigenen Gabe und Berufung – zwischen Wahrheit und Irrtum scheidet.“ - Weil „das Geschehen der Wortverkündigung […] in besonderer Weise dem ordinierten Amt anvertraut“ ist, sei es dessen „spezifischer Auftrag […], durch die Verkündigung des Evangeliums in der Öffentlichkeit der Kirche die Gemeinden in der Einheit des apostolischen Glaubens an das Evangelium Christi zu bewahren.“
(2) Im Rahmen des Zweiten Vatikanums sei auch in der römisch-katholischen Kirche „(215) […] die Würde und Funktion des Volkes Gottes und die Verantwortung aller für das Evangelium“ neu erkannt und so „die biblische Perspektive zurückgewonnen [worden], die in den letzten Jahrhunderten weitgehend verstellt“ gewesen sei. In diesem Sinne lege sich das Urteil nahe: „(217) […] Auch die katholische Beschreibung der Lehrverantwortung der ganzen Kirche drängt zu einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses der Lehrverantwortung aller Getauften und der Inhaber des besonderen Lehramtes.“ (3) Als Ergebnis könne folgende „Verständigung“ formuliert werden:451 „(218) […] Die Verantwortung aller Christen für die unverfälschte Wahrheit des Evangeliums schließt den spezifischen Auftrag
450 451
ebd., 370ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). ebd., 374. 275
der berufenen, ordinierten Verkünder und Lehrer des Evangeliums nicht aus, sie setzt ihn vielmehr voraus, so, wie umgekehrt die Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes konstitutiv bezogen ist auf die Allgemeinheit des Priestertums aller.“
c) Das Lehramt der Kirche – die besondere Verantwortung der ordinierten Amtsträger452 Auch in dieser Teilfrage wird vorab eine gemeinsame Ausgangsbasis festgeschrieben: „(219) […] Der besondere Dienst des (Lehr-)Amts in der Kirche besteht darin, die Kirche an ihren heilsgeschichtlichen Ursprung, an Gottes Handeln in und an Christus Jesus, kraft des Geistes zu erinnern (vgl. Joh 14,26453) und die Glaubensgemeinschaft in der Einheit dieser normgebenden Ursprungserfahrung zu versammeln.“ – In diesem Zusammenhang sei „(222) […] von Bedeutung, dass schon in der Zeit der Entstehung des Neuen Testaments das Traditionsprinzip (des sorgfältigen Hörens und Lehrens) mit dem Sukzessionsprinzip (der gläubigen Nachfolge) verbunden wird: Die inhaltliche Bewahrung des apostolischen Zeugnisses (durch die Sammlung der kanonischen Schriften) als materiales Element und die Verpflichtung der Gemeindeleiter zur treuen Auslegung dieser Schriften (durch die Handauflegung) als formales Element der authentischen Überlieferung des Gotteswortes sind aufeinander verwiesen und werden aufeinander bezogen […]. Das ‚Lehramt‘ des kirchlichen Amtes etabliert […] keine zusätzliche Autorität neben der des Wortes Gottes, sondern ist seiner gottgewollten Bestimmung nach das geistgetragene Organ seiner verbindlichen Verlautbarung und verlässlichen Bezeugung.“
Der diesbezügliche konfessionelle Streitpunkt lasse sich demnach folgendermaßen definieren: „(224) […] So gilt: ‚Kontrovers zwischen unseren Kirchen ist weniger das Lehramt als solches als sein Umfang und wem es übertragen ist.‘“454 (1) Die evangelische Theologie benenne hinsichtlich „(225) […] der Frage der verbindlichen kirchlichen Schriftauslegung“ mehrere Zuständigkeiten: (a) Im Rahmen des oben dargelegten Miteinanders „(226) […] von ordiniertem Amt und Taufpriestertum aller Gläubigen“ komme „‚dem kirchlichen Amt gleichzeitig mit seinem
452 453
454
ebd., 374ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). „ … der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ Im Text zit. aus: KIRCHENGEMEINSCHAFT IN WORT UND SAKRAMENT, 87f (Nr. 76). 276
Auftrag und seiner Vollmacht zur Verkündigung des Evangeliums und untrennbar davon eine Verantwortung zu, für die ,Reinheit‘ des gepredigten Evangeliums und die ,Richtigkeit‘ oder ,Evangeliumsgemäßheit‘ der Sakramentsverwaltung Sorge zu tragen.‘“455 (b) Wenn auf evangelischer Seite „(227) […] die über die Ortskirchen hinausgehende Verantwortung für die Einheit der Lehre des Evangeliums“ wahrgenommen werden sollte, so sei dies „vor allem durch die Bekenntnisbildung und die Geltung der Katechismen“ erfolgt. (c) Daneben kenne „die lutherische Lehre das regionale Bischofsamt, zu dessen wesentlichen Funktionen die Lehraufsicht“ gehöre (vgl. dazu CA 28456).“ – Aus historischen Gründen sei dieses lange Zeit „durch andere Formen regionaler Episkope“ ersetzt worden, während es mittlerweile „einzelne Versuche seiner Neuinstallierung“ gebe. (d) Weiterhin sind seit „(228) […] dem 19. Jahrhundert […] in den […] deutschen evangelischen Kirchen Synoden zu einer tragenden Institution regionaler Kirchenleitung geworden.“ – Die Tatsache, dass Synoden faktisch „Lehrverantwortung“ wahrnehmen, führt zu der durch die einzelnen Kirchenverfassungen verschieden beantworteten „Frage, ob Synoden auch eine Verantwortung für die Lehre zukommt […].“ – Hier gelte: „Diese Praxis steht in einer nicht behobenen Spannung zur Bestimmung von CA 14457, wonach die öffentliche Lehrverkündigung dem ordinierten Amt in der Kirche vorbehalten ist.“ (e) Unabhängig davon sei im Blick auf die „besondere Verantwortung für die Lehre“ zu bedenken: „Diese sollte […] auch durch die kollegiale Verantwortung aller Ordinierten sowie der theologischen Lehrer und Fakultäten stärker zur Geltung kommen.“ (f) Insgesamt sei zu berücksichtigen, dass „(229) […] auch in den evangelischen Kirchen eine Verbindlichkeit von Lehrentscheidungen“ erreicht werde, sofern bei der jeweiligen Entscheidung eine erkennbare „Rezeption durch die Kirche“ vorliege, – was nicht ausschließt, „dass alle verbindliche Lehre nach evangelischem Verständnis immer neu in das Licht der Heiligen Schrift zu rücken“ sei. 455
456
457
Im Text zit. aus: KIRCHE UND RECHTFERTIGUNG, 104 (Nr. 208); vgl. dazu auch Confessio Augustana 7: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden (congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta)“; in: UNSER GLAUBE, 64. Confessio Augustana 28: „Nach göttlichem Recht besteht […] das bischöfliche Amt darin, das Evangelium zu predigen, Sünden zu vergeben, Lehre zu (be)urteilen und die Lehre, die gegen das Evangelium ist, zu verwerfen […] – [und zwar] ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort (sine vi humana, sed verbo)“; in: UNSER GLAUBE, 110. Confessio Augustana 14: „Vom Kirchenregiment (kirchlichen Amt) wird gelehrt, dass niemand in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder die Sakramente reichen soll ohne ordnungsgemäße Berufung (nisi rite vocatus)“; in: UNSER GLAUBE, 69f. 277
(g) Schließlich sei auch danach zu fragen, ob als „(230) […] künftiges Ziel der Ökumene“ ein verschiedene Kirchen repräsentierendes Einheitsamt denkbar wäre, – unabhängig davon, „welche konkrete Gestalt ein solcher gesamtkirchlicher Petrusdienst annehmen könnte.“
(2) Auch die römisch-katholische Theologie gehe davon aus, dass das Lehramt der Kirche nicht „(231) […] einfach mit der Lehrautorität von ordinierten Amtsträgern zu identifizieren“ ist, so dass „von einem ‚gegliederten Lehramt‘ zu sprechen“ wäre. – Insofern gelte: „Die Rolle und Vollmacht der Bischöfe kann nur im Gefüge des gesamten Volkes Gottes und im Verbund mit den ebenfalls in amtlicher Eigenschaft tätigen Glaubenslehrern recht verstanden werden.“ – Das bedeute konkret: (a) Als fundamental gelte: „(232) Das 2. Vatikanum betont, die Bischöfe seien ‚authentische, d.h. mit der Autorität Christ ausgestattete Lehrer (LG 25)458‘.“ – Hinter der im katholischen Bereich üblichen „begrifflichen Unterscheidung zwischen ‚infallibel‘ und ‚authentisch‘ steht die Erfahrung, dass es Lehräußerungen gibt, die selbst den Anspruch erheben, (nur) authentische Lehre zu sein, d.h. möglicherweise zu korrigieren, also vielleicht nicht frei von Irrtum.“ (b) Einerseits formuliere die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums folgenden Grundsatz: „(233) ‚Die Aufgabe … das Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut‘ (‚munus authentice interpretandi verbum Dei … soli ecclesiae magisterio concreditum est‘; DV 10459).“ – Andererseits müsse bedacht werden: „(234) Die Bischöfe sind bei der Ausübung ihres Lehramtes auf den diachronen und synchronen Konsens der Kirche verwiesen, den sie bezeugen, bewahren und wenn nötig verteidigend zur Geltung bringen sollen.“ – Hier werde an „Melchior Cano“ angeknüpft, „der in seinen ‚Loci theologici‘460 an die altkirchliche Lehrposition erinnert, nach der die Gesamtkirche der eigentliche Träger der Überlieferung ist, und die Hirten, die im Dienst der Glaubensüberlieferung der Gesamtkirche stehen, bei ihren Entscheidungen an den Glauben der Gesamtkirche gebunden sind.“ (c) Wenn im Ersten Vatikanum bezüglich päpstlicher Entscheidungen ‚ex cathedra‘ gelte, sie seien als „Definitionen des Römischen Bischofs aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich (ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae)“461, dann bedeute dies „(235) […] keineswegs, dass der Papst eine Lehrmeinung für infallibel erklären könnte, die nicht durch den Konsens der geistgeleiteten Gesamtkirche als wahr bezeugt“ werde. –
458 459 460 461
Konstitution Lumen gentium 25, DH 4149. Konstitution Dei verbum 10, DH 4214. vgl. dazu besonders BERNHARD KÖRNER, Melchior Cano De locis theologicis, Graz 1994. Konstitution Pastor aeternus, DH 3074. 278
Zugebilligt werde dem „Bischof von Rom“ gleichwohl „die Fähigkeit der Erkenntnis des gesamtkirchlichen Glaubenskonsenses, deren Ursprung und jeweilige Gegenwart im Wirken des Geistes Gottes begründet ist.“ (d) Hinsichtlich der „(236) […] Funktion der Gesamtkirche bei der […] Überlieferung des Evangeliums“ spreche auch die katholische Tradition von der Notwendigkeit der Rezeption; in diesem Sinne sei „der persönliche Glaubensvollzug des Einzelnen jener Ort […], an dem die Wahrheit der Lehre erkannt […] wird, indem sie ‚ankommen‘ und sich bewähren“ müsse. – So gelte: Die „entscheidende Bestätigung durch das Gewissen des Gläubigen [sei] von so grundsätzlichem Gewicht, dass er im Falle eines schweren Konflikts letztlich seinem Gewissen zu folgen hätte und nicht dem, was das Lehramt sagt.“ (e) Schließlich sei zuzugestehen, „(238) […] dass ‚letztverbindlich‘ nicht heißt: zeitlos oder unveränderlich. Konzilien ‚überholen‘ einander, ergänzen, korrigieren, lesen alte Texte neu, setzen andere Akzente, stellen in neue Zusammenhänge, wechseln die Sprachgestalt, binden auf neue Weise an die Heilige Schrift zurück.“ – Hier gelte mit der Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums: „‚Wie die christliche Religion selbst, so muss auch jede kirchliche Verkündigung sich von der Heiligen Schrift nähren und sich an ihr orientieren‘ (DV 21462).“
(3) Ein Resümee könne wie folgt lauten: „(239) […] Im allgemeinen kirchlichen Sprachgebrauch versteht man unter ‚Lehramt‘ in der Regel (nicht das munus propheticum, die ‚Amtlichkeit‘ des gemeinsamen Priestertums aller Getauften, sondern) die mit besonderer öffentlicher Verantwortung betrauten Verkünder, im evangelischen Bereich die ordinierten Gemeindepfarrer und -pfarrerinnen, die kirchlich beauftragten Mitarbeiter, die Inhaber kirchenleitender Ämter, die Synoden und
im katholischen Bereich die Gemeinschaft der Bischöfe und den Inhaber des Petrusdienstes, den Bischof von Rom sowie in partizipativer Weise alle Priester und die mit der Missio canonica beauftragten […] ‚Laien‘“.
462
Konstitution Dei verbum 21, DH 4228. 279
Daneben gelte für beide Konfessionen: - „Auf der Ebene des ‚Lehramtes‘ können Lehrentscheidungen getroffen werden, die in der Kirche Verbindlichkeit beanspruchen – sei es aufgrund der Rezeption durch die Kirche, sei es mit dem Ziel der Rezeption.“ - „(241) […] Verbindliche kirchliche Lehre ist […] immer der Versuch, das Wort Gottes in der Heiligen Schrift in einer bestimmten Zeit der Kirche authentisch zu Gehör zu bringen, auszulegen und vor Verfälschung zu bewahren.“ - „(243) […] Das Wort Gottes in der Heiligen Schrift wird immer dort auch zum kritischen Maßstab […], wo […] in Gestalt verweigerter Rezeption durch die kirchliche Gemeinschaft bestimmte Weisen und Aussagen amtlicher kirchlicher Lehre […] als dem Wort des Evangeliums abträglich, hinderlich oder gar widersprechend erwiesen werden.“
II. Communio Sanctorum (2000): ,Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit‘ als ,Aufgabe der Kirche‘ Der Text Communio Sanctorum: Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen ist das im Jahr 2000 vorgelegte Ergebnis eines Lehrgesprächs der zweiten Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands.463 – Dieses Gremium hatte bereits 1984 das Dokument Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament464 präsentiert, das ökumenische Annäherungen im Bereich des Kirchenverständnisses formulierte. – Die Neukonstituierung der Arbeitsgruppe sollte „weitere Klärungen in den Fragen nach dem Wesen der Kirche sowie des Amtes“ und im Bereich der „Fragen nach dem Kirchenrecht und der Marien- sowie der Heiligenverehrung“ herbeiführen; zu betretendes „Neuland“ fand man besonders im Blick auf die „folgenden Themen [vor]: - das Zusammenwirken der Bezeugungsinstanzen beim Finden und Verkünden der Wahrheit des Evangeliums […];
463
464
COMMUNIO SANCTORUM: Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, hrsg. durch die Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und die Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, 2. Aufl., Paderborn u. Frankfurt am Main 2000. KIRCHENGEMEINSCHAFT IN WORT UND SAKRAMENT, hrsg. durch die Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und die Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Paderborn u. Hannover 1984. 280
- die Rolle eines Dienstes an der Einheit der Kirche auf universaler Ebene und damit die mit dem Papstamt zusammenhängenden Fragen; - die Gemeinschaft der Heiligen über den Tod hinaus […].“465
Auch die in den Stellungnahmen der beteiligten Kirchen466 zum 1984 vorgelegten Dokument genannten offenen Fragen konnten zu einem großen Teil in „,Communio Sanctorum‘ behandelt werden: - Zur Lehre von der Heiligen Schrift (IV.1); - Begriff und Zahl der Sakramente (IV.2); - Das Verhältnis zwischen dem Priestertum aller Gläubigen und dem kirchlichen Amt (VI.1).“465
1.
Die Kirche nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift467
Zur „Berufung der Kirche“ wird zunächst festgestellt: „(10) Die Gemeinschaft mit Jesus Christus und die Sendung durch ihn bestimmen […] die nachösterlich in Erscheinung tretende Kirche. Sie gründet in dem zentralen Geschehen von Tod und Auferstehung Jesu.“ – In diesem Zusammenhang gelte: „(20) Nach der Darstellung der Apostelgeschichte ist die Kirche des Urchristentums ein Glaubenszeugnis für die Welt und ein Vorbild für die Kirche auf ihrem weiteren Weg: ‚Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brotbrechen und an den Gebeten‘ (Apg 2,42). In diesen Worten haben sich die Grunderfahrungen der Urkirche niedergeschlagen.“468
465 466
467 468
COMMUNIO SANCTORUM, 10f. ÖKUMENISCHER DIALOG ÜBER „KIRCHENGEMEINSCHAFT IN WORT UND SAKRAMENT“, Texte aus der VELKD Nr. 36 bzw. Arbeitshilfen der DBK Nr. 59. COMMUNIO SANCTORUM, 18ff. ebd., 22 (Hervorh. i. O. u. Verf.). 281
2.
Gemeinschaft der Heiligen durch Wort und Sakrament469
In ökumenischer Verbundenheit wird formuliert: „(36) In seinem Wort und in den mit dem Wort verbundenen Zeichen, den Sakramenten, ist Christus gegenwärtig. […] (37) Der Raum, in dem Gott durch Wort und Sakramente den Menschen begegnet und sie zum Glauben führt, ist die Kirche. In diesem Sinn können wir gemeinsam bezeugen: Sie ist die ‚Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.‘“470 Im Blick auf die folgenden Abschnitte werde „(39) […] vorausgesetzt, was in dem Dokument ‚Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament‘ schon gesagt ist. Unter dem Thema ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ geht es: 1. Im Abschnitt ‚Wort Gottes‘ um das Finden und Verkünden der Wahrheit in der Gemeinschaft der Kirche und um die Bezeugungsinstanzen, die hierbei zusammenwirken, 2. Im Abschnitt ‚Sakramente‘ um die Bedeutung der Sakramente für die Gemeinschaft der Glaubenden mit Christus und untereinander, und auch um die Zahl der Sakramente.“470
3.
Das ‚Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit‘ als ‚Aufgabe der Kirche als ganzer‘
a) Offenbarung, Glaube, Kirche471 Im Anschluss an die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums wird zunächst betont: „(40) Offenbarung ist die Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte, die ihren Höhepunkt und ihre Vollendung in Jesus Christus hat […].“ – Mit Bezug auf die kanonischen Schriften des Urchristentums gelte: „(41) […]. Der Grundgehalt des Glaubens – Gott und seine Heilstat in Jesus Christus – hat eine Grundgestalt: das Zeugnis der Erstzeugen innerhalb der Gemeinschaft der Kirche.“
469 470 471
ebd., 29ff (Hervorh. Verf.). ebd., 30 (Hervorh. Verf.); vgl. Confessio Augustana 7; in: UNSER GLAUBE, 64. ebd., 31f (Hervorh. Verf.), vgl. die Konstitution Dei verbum 4, DH 4204. 282
Zur Offenbarung stehe die Kirche in einer doppelten Relation: „(44) […] Sie ist […] Adressat der Offenbarung und gleichzeitig Trägerin ihrer universalen Vermittlung. Als Vermittlerin steht die Kirche den einzelnen Glaubenden auch gegenüber. Sie hat ihre Vollmacht aber nicht von sich selbst, sondern vom Wort Gottes, das sie verkündet.“
b) Das Miteinander der ,Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen‘472 Gemeinsam kann festgestellt werden: „(45) Die Wahrheit Gottes zu empfangen, zu bezeugen und zu vermitteln, gehört wesentlich zum Daseinsgrund der Kirche. Darin stimmen unsere Kirchen überein. Sie stimmen auch darin überein, dass das Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit Aufgabe der Kirche als ganzer ist und dass hierbei verschiedene Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen zusammenwirken müssen: - die Heilige Schrift, - die Überlieferung des Glaubens (Tradition), - das Zeugnis des ganzen Volkes Gottes (Glaubenssinn der Gläubigen), - das kirchliche Amt (Lehramt), - die Theologie.“
Als Aufgabe wird formuliert: „Die Frage, wie diese Bezeugungsinstanzen im einzelnen zu verstehen sind und einander zugeordnet werden, ist zwischen unseren Kirchen weiter zu klären.“ (1) Die Heilige Schrift Von folgender Gegebenheit sei auszugehen: „(46) Die Heilige Schrift ist das Ursprungszeugnis der Wahrheit des lebendigen Gottes, die uns in Fülle und Klarheit in Jesus Christus geoffenbart wurde. […] (48) Weil die Heilige Schrift das Wort Gottes bezeugt, ist sie die letzte Norm des Glaubens und genießt höchste Verehrung als die Bezeugungsinstanz, die der Offenbarung am nächsten steht. ‚Wir lehren gemeinsam die unüberbietbare und unersetzbare Autorität der Heiligen Schrift … Von der ganzen Heiligen Schrift gilt, dass sie nach gemeinsamer Überzeugung die ,norma normans non normata‘ ist‘: die normierende, nicht normierte Norm.“473
472 473
ebd., 33ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). Im Text zit. aus: KIRCHENGEMEINSCHAFT IN WORT UND SAKRAMENT, 18f (Nr. 12). 283
Bedeutsam sei daneben die Selbstdurchsetzung der biblischen Schriften: „(49) Kraft der in ihr bezeugten Wahrheit Gottes setzt sich die Heilige Schrift von Anbeginn und immer wieder in der Kirche durch. Das dokumentiert sich zuallererst in der Kanonbildung. Durch die Unterscheidung zwischen kanonischen und nichtkanonischen Schriften anerkennt die Kirche die vorgegebene geistgewirkte Autorität, die den Schriften der Bibel zugrundeliegt. Letzter Grund der Verbindlichkeit des Kanons ist die Autorität des Wortes Gottes, das die Kirche in diesen Schriften vernimmt.“
Schließlich wird erneut auf den Zusammenhang von Bibel und Kirche als Interpretationsgemeinschaft hingewiesen: „(50) […] Die Bibel darf niemals isoliert, sondern sie muss immer auch im Zusammenhang der Glaubens- und Zeugnisgemeinschaft der Kirche befragt werden. Diese muss wiederum an der Heiligen Schrift selber gemessen werden.“
(2) Die Überlieferung (Tradition) Als Ausgangspunkt für ein gemeinsames Verständnis eines bislang umstrittenen Sachverhalts wird eine simple Feststellung gewählt: „(51) […] Der Inhalt des Glaubens wurde von Generation zu Generation bis heute weitergegeben. In diesem Sinne ist die Kirche als ganze eine Traditionsgemeinschaft. Überlieferung ist somit der gläubige Lebensvollzug der Kirche in der Dynamik ihrer Geschichte […]. (52) Hierbei ist zu unterscheiden zwischen der Weitergabe der verbindlichen apostolischen Botschaft (apostolische Tradition; Singular!) und den unterschiedlichen Entfaltungen, die diese Botschaft in den Lebensäußerungen der Kirche […] findet und die nicht allgemein verpflichtend sind (menschliche Traditionen; Plural!).“
Die lange Zeit zwischen den Konfessionen strittige „(53) […] Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition […] kann heute gelöst werden, da von lutherischer Seite anerkannt wird, dass die Heilige Schrift selber aus urchristlicher Tradition hervorgegangen ist und durch die kirchliche Tradition überliefert wurde, und da von katholischer Seite trotz der hohen Bewertung der Tradition anerkannt wird, dass die Heilige Schrift die Offenbarung hinreichend enthält, so dass sie nicht ergänzungsbedürftig ist (materiale Suffizienz).“ 284
Als fundamental ist deshalb die gemeinsame Feststellung einzustufen: „Schrift und Tradition können somit weder voneinander isoliert noch gegeneinander gestellt werden.“ – In diesem Sinne sei folgende Differenzierung angebracht: „(54) Die Tradition als Strom der Weitergabe des apostolischen Glaubens ist also kein inhaltlicher Zusatz zur Heiligen Schrift; wohl aber ist die Tradition als in der Kirche ausgelegte Schrift unverzichtbar für das Verstehen der Schrift. Das zeigt sich in besonderer Weise in den Bekenntnissen und Dogmen, die ‚Antwort des Glaubens und zugleich Gestalt der Verkündigung, also Form des Evangeliums‘ sind. Gemeinsam bezeugen wir, dass die Tradition eine Norm ist, die von der normativen Heiligen Schrift bestätigt werden muss (d.h. eine norma normata).“474
Deshalb sei zu betonen: „(56) Das Zeugnis der Heiligen Schrift ist das Kriterium, mit dem zu prüfen ist, ob die Tradition das Wort Gottes richtig und vollständig wiedergibt. […] Dies gilt heute um so mehr, weil unsere beiden Kirchen […] auch getrennte Traditionsstränge haben, die sie je für sich als legitime Entfaltungen der ursprünglichen apostolischen Tradition betrachten.“ (3) Das Zeugnis des ganzen Volkes Gottes Als gemeinsame Basis kann formuliert werden: „(57) Übereinstimmend sind unsere Kirchen der Überzeugung, dass alle Getauften aktiv an der Glaubensweitergabe beteiligt sind. Die Taufe begründet […] das allen Glaubenden gemeinsame Priestertum. Der Gesamtheit der Gläubigen ist verheißen, dass sie durch den Beistand des Heiligen Geistes in der Wahrheit bleibt.“475
In diesem Zusammenhang bestehe im Blick auf die Konfessionen zwar ein Unterschied, aber auch erstaunliche Parallelität: Hinsichtlich der „(58) […] Beteiligung aller Glaubenden an der Weitergabe des Glaubens spricht die katholische Tradition vom ‚Glaubenssinn der Gläubigen‘ (sensus fidelium). Sie bezeichnet damit die Wahrnehmung und Bezeugung des Glaubens durch die gesamte Kirche.475 Die lutherische Theologie kennt diesen Begriff nicht, hat aber eine Analogie hierzu
474 475
vgl. KIRCHENGEMEINSCHAFT IN WORT UND SAKRAMENT, 23 (Nr. 15). vgl. Konstitution Lumen gentium 12, DH 4130: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben [vgl. 1 Joh 2,20 27], kann im Glauben nicht fehlgehen, und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie mittels des übernatürlichen Glaubenssinns des ganzen Volkes […] kund […].“ 285
einerseits in der Verantwortung aller Glaubenden, jeweils an ihrem Ort Zeugnis für den Glauben zu geben, andererseits in dem Recht und der Pflicht, die dargebotene Lehre auf ihre Schriftgemäßheit zu prüfen.476 Die umfassende Übereinstimmung (magnus consensus), die nach lutherischer Auffassung im Bekenntnis gegeben und für gemeinsame Entscheidungen in Lehrfragen erforderlich ist, umgreift Amt und Gemeinde auf allen Ebenen. Hierin liegt eine Entsprechung zum Glaubenssinn (sensus fidei), der sich in einer allgemeinen Übereinstimmung (universalis consensus) äußert.“477
Die Konkretion des Glaubenssinns bzw. der Verantwortung der Glaubenden für christliches Zeugnis und christliche Lehre wird in zweifacher Hinsicht präzisiert: „(59) Der Glaubenssinn der Gläubigen darf nicht reduziert werden auf die Zustimmung zu den anderen Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen. Als Charisma der inneren Übereinstimmung mit dem Inhalt des Glaubens ist er selbst eine solche Instanz, durch die die Kirche in ihrer Gesamtheit den Inhalt des Glaubens erkennt und im Lebensvollzug bekennt […]. (60) Die allgemeine Übereinstimmung im Glaubenssinn kann nicht einfach statistisch – wie eine Mehrheitsentscheidung – festgestellt werden. Sie zeigt sich in einem Leben, das in der Gesamtheit seiner Formen und Äußerungen die innere Verbindung mit Christus bezeugt […]. Die Manifestation des sensus fidelium […] haben Rückwirkungen auf die Theologie und das Amt und können zu deren Korrektiv werden. Andererseits gehört es zur Aufgabe der Theologie und des Amtes, gesunden Glaubenssinn von zeitbedingten Trends, Fehlentwicklungen und Verkürzungen im christlichen Glauben und Leben zu unterscheiden (vgl. Apg 20,29–31).“
(4) Das kirchliche Amt (Lehramt) In der Frage des kirchlichen Amtes und seiner Verantwortung für die christliche Lehre muss mit einem hohen Maß an Präzision ermittelt und beschrieben werden, worin die verbleibenden 476
477
vgl. MARTIN LUTHER, Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen, und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursach aus der Schrift: Mit Verweis auf Joh 10,27.5 (Christus spricht: „Meine Schafe hören meine Stimme, ….“ – „Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht.“) argumentiert Luther: „Hier siehst du jedenfalls klar, wer das Recht hat, die Lehre beurteilen. Der Bischof, der Papst, die Gelehrten und jedermann haben Macht zu lehren, die Schafe aber sollen beurteilen, ob sie die Stimme Christi oder die Stimme der Fremden lehren“; in: LTA 3,189. vgl. Confessio Augustana 1: „Zuerst wird einträchtig […] gelehrt und festgehalten […]“ (Ecclesiae magno consensu apud nos docent); in: UNSER GLAUBE, 58 bzw. BSLK, 50. 286
Unterschiede zwischen den Konfessionen bestehen. – Dazu ist vorab auf mittlerweile erzielte Übereinstimmungen hinzuweisen; so wird „(61) […] gemeinsam festgestellt, dass es eine die Kirche verpflichtende Verbindlichkeit christlicher Lehre gibt und dass es in beiden Kirchen eine Lehrverantwortung des Amtes sowohl auf der gemeindlichen als auch auf der übergemeindlichen Ebene gibt […], dass die Lehrverantwortung des Amtes eingebunden ist in das Glaubenszeugnis der gesamten Kirche und dass das verbindliche Lehren unter der Norm des Evangelium steht“, dass in „beiden Kirchen […] dieser Auftrag des verbindlichen Lehrens von hierfür bevollmächtigten Instanzen wahrgenommen“ wird, wobei das „durch die Ordination übertragene Amt […] eine besondere Verantwortung“ hat, dass zwar „(62) […] die Kirche als ganze in der Wahrheit bleibt“, deshalb aber keineswegs auszuschließen sei, „dass es beim Ringen um die Wahrheit auch Irrtum geben kann.“
Trotz dieser „(63) […] grundsätzlichen Übereinstimmungen besteht […] weiterhin zwischen unseren Kirchen die noch nicht gelöste Kontroverse hinsichtlich der Träger des Lehramtes.“ – So bliebe konkret „(64) […] folgender Kern des Problems: (65) Nach katholischer Theologie und Praxis ist das oberste verbindliche (authentische) Lehramt den Bischöfen und dem Papst anvertraut. […] Die Träger dieser Ämter haben das Recht und die Pflicht, die von ihnen festgestellte Lehre mit Autorität zu verkündigen. […] (66) Nach lutherischer Auffassung nimmt die Kirche ihre Verantwortung für die Lehre positiv wahr durch schriftgemäßes Lehren und regulativ-kritisch durch das Wachen über deren Reinheit.478 Das Lehramt in diesem Sinne wird ‚in einem vielschichtigen, auf Konsens zielenden Prozess unter Beteiligung verschiedener Verantwortungsträger‘ wahrgenommen:479 der Bischöfe, deren Aufgabe es ist, ‚Lehre zu beurteilen und Lehre, die dem Evangelium widerspricht, zu verwerfen‘,480 der theologischen Lehrer der Kirche, der Pfarrer und Pfarrerinnen und der Gemeinden, deren Recht und Pflicht es ist, ‚die […] dargebotene Verkündigung […] zu prüfen, ob sie dem Evangelium gemäß ist‘.478
478
479 480
nach der LEHRORDNUNG DER VELKD vom 16.6.1956: Erklärung zur Lehrverpflichtung und Handhabung der Lehrgewalt (VELKD-Rechtssammlung Nr. 470). Im Text zit. aus: KIRCHLICHES LEHREN IN ÖKUMENISCHER VERPFLICHTUNG, 102. vgl. Confessio Augustana 28; in: UNSER GLAUBE, 110. 287
Dieses geordnete Zusammenwirken von ordinierten und nichtordinierten Gemeindegliedern zielt auf die umfassende Übereinstimmung (magnus consensus), die sich stets auszuweisen hat an der Kontinuität mit der Verkündungs- und Lehrtradition der Kirche.“ – Anstelle eines – in bestimmten Situationen – unfehlbaren institutionellen Lehramts betone die evangelische Seite: „(67) […] Das Bleiben der Kirche in der Wahrheit ist […] ‚nicht an ein bestimmtes Verfahren oder eine stets vorgegebene Instanz gebunden‘.“481
Es zeige sich: „(68) Diese beiden Standpunkte beruhen auf tief verwurzelten Grundüberzeugungen.“ – Konkret bedeutet das: „Lutheraner glauben, dass die Heilige Schrift aufgrund der Zusage Gottes selbst die Kraft hat, die Wahrheit Gottes zur Geltung zu bringen und sich auszulegen (Autopistie). In der katholischen Kirche ist die Authentizität und Irrtumslosigkeit des kirchlichen Lehramtes selber Gegenstand des Glaubens.“
Anzustreben sei letztlich eine „Entschärfung der Gegensätze, so dass sie nicht mehr kirchentrennend sind: Dabei wäre von der Selbstauslegungskraft (Autopistie) des Wortes Gottes auszugehen, die in modifizierter Form auch Inhalt des katholischen Glaubens ist. Katholischerseits müsste in Theorie und Praxis gezeigt werden, dass auch das authentische und unter bestimmten Umständen irrtumslose Lehramt ein Instrument Gottes ist, das unter der Leitung des Heiligen Geistes der Durchsetzung seiner Wahrheit in der Kirche dient und somit nicht gegen die Selbstauslegungskraft der Heiligen Schrift steht.“ – Würde ein solcher Nachweis gelingen und auf lutherischer Seite „als der Selbstauslegungskraft (Autopistie) des Wortes Gottes nicht entgegengesetzt“ eingestuft, dann eröffneten „sich weitere Verständigungsmöglichkeiten.“
(5) Die Theologie Grundsätzlich wird festgehalten: „(69) […] Die Aufgabe der sachgerechten Erkenntnis und der zeitgemäßen Darlegung des Glaubens macht die Theologie notwendig und bedingt gleichzeitig ihre kirchliche Bindung. In ihrer Verantwortung für die rechte Lehre ist die Theologie auf die anderen Bezeugungsinstanzen bezogen und schöpft aus ihnen. Aus der Überordnung der Schrift über die anderen
481
Im Text zit. aus: KIRCHLICHES LEHREN IN ÖKUMENISCHER VERPFLICHTUNG, 133. 288
Bezeugungsinstanzen erwächst der Theologie die Aufgabe, diese je neu auf ihre Sachgerechtigkeit am Maßstab der Schrift zu prüfen.“
Weil „(70) […] der Theologie eine kritische Rolle in der Kirche“ zukomme, habe diese „menschlich bedingte Verkürzungen […] in der Vermittlung der Offenbarungswahrheit bewusst zu machen und nach Kräften zu korrigieren.“ – Dabei sei einzuräumen: „Die in der Theologie immer vorhandene Pluralität ist bedingt durch die Vielfalt der biblischen Schriften, die Unterschiedlichkeit der Menschen […] und dadurch, dass unser Wissen Stückwerk ist.“
Letztlich müsse gelten: „(71) Die Theologie“ habe „den Glaubensinhalt zu aktualisieren, wissenschaftlich zu durchdringen und ökumenisch fruchtbar zu machen […]. Zwar kann es zwischen der Theologie und den anderen Bezeugungsinstanzen zu Spannungen und Konflikten kommen, doch bleibt die Theologie in aller Vielgestaltigkeit immer der Einheit des Glaubens in der Kirche verpflichtet.“ (6) Die Interaktion der Bezeugungsinstanzen Von entscheidender Bedeutung ist zunächst: „(72) Jede der genannten fünf Bezeugungsinstanzen hat eine eigenständige und insofern nicht übertragbare und ersetzbare Aufgabe. In der Glaubensgemeinschaft der Kirche sind sie einander zugeordnet und aufeinander angewiesen […]:“ 1. „- Die Heilige Schrift ist die erste und grundlegende Bezeugungsgestalt des Wortes Gottes. Sie ist die unüberholbare Norm für die Kirche, kirchliche Verkündigung und Glauben. Daher müssen sich auch alle anderen Bezeugungsinstanzen an ihr verbindlich ausrichten […].“ 2. „- Die Tradition bewahrt den lebendigen Umgang der Glaubensgemeinschaft mit dem Wort Gottes in der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft. Als Auslegung des Wortes Gottes steht sie unter der Norm der Schrift […].“ 3. „- Der Glaubenssinn der Gläubigen dient vor allem der Weitergabe des Evangeliums an kommende Generationen. Er hat ein eigenes Gewicht. Er erkennt und bekennt den Glauben, dessen Norm die Schrift ist, dessen Gestalt die Tradition geprägt hat, den das Lehramt öffentlich bezeugt und den die Theologie kritisch klärt. […]“ 4. „- Das kirchliche Lehramt in den verschiedenen Formen […] hat die Aufgabe, durch Interpretation und Verkündigung den Gehalt des Wortes Gottes zu bewahren, gegen Irrtümer zu verteidigen und so der Einheit zu dienen. Dieses Lehramt steht unter dem Wort Gottes […].“ Es „bedarf […] der wissenschaftlichen Theologie, der Impulse der Gläubigen und der Aufnahme (Rezeption) seiner Entscheidungen durch diese.“
289
5. „- Der wissenschaftlichen Theologie kommt die sach- und zielgerechte methodisch-kritische Durchdringung und Darlegung der Wahrheit von Offenbarung und Glaube zu. […] Sie hat ihre Inhalte aus Schrift und Tradition, aus dem Zeugnis des Lehramtes und des ganzen Gottesvolkes zu schöpfen und darzulegen. […]“
Abschließend werden wichtige Hinweise gegeben: - „(73) Die beschriebene Interaktion der Bezeugungsinstanzen kann nur durch das Wirken des Heiligen Geistes gelingen und ist ohne sein Wirken nicht zu verstehen. […]“ - „Das jeweilige Zusammenspiel der einzelnen Bezeugungsinstanzen bleibt selbst innerhalb der Kirchen nicht ohne Spannungen und Konflikte und bedarf deshalb geordneter Regeln.“
III. Die Apostolizität der Kirche (2009): Schriftauslegung im Netzwerk der Bezeugungsinstanzen des Wortes Gottes Den Titel Die Apostolizität der Kirche trägt ein umfangreiches Studiendokument der Lutherisch/ Römisch-katholischen Kommission für die Einheit, welches die vierte Phase (1995 bis 2006) des lutherisch-katholischen Dialogs auf Weltebene abschließt. Die Zielvorgabe der 2009 veröffentlichten Studie war es, „neue Perspektiven auf dem Gebiet ökumenischer Ekklesiologie“ zu eröffnen, um „wichtige Schritte“ des Weges zu beleuchten, der hinführen soll zur „vollen Gemeinschaft zwischen der katholischen Kirche und den lutherischen Kirchen“ in der Welt. – Nach einer gründlichen „Untersuchung neutestamentlicher Texte über die Apostel und die zentralen Gesichtspunkte der Apostolizität“ wurde angestrebt, „Apostolizität als Wesenseigenschaft der Kirche“ bzw. „als Merkmal des kirchlichen Amtes“ darzustellen, um abschließend zu fragen, wie Apostolizität „als entscheidende Eigenschaft von Lehrern und Lehre“ zu verstehen ist, welche die Kirche benötigt, um das „Bleiben in der Wahrheit des Evangeliums“ zu ermöglichen. Für die hier behandelte Frage ökumenisch verantworteter Schriftgemäßheit ist der zuletzt genannte Abschnitt des Dokuments von besonderem Interesse; zu beachten ist, dass in diesem Schlussteil etliche Passagen zurückgreifen auf die Vorarbeiten des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen in Deutschland, die unter dem Titel Verbindliches Zeugnis veröffentlicht und in dieser Untersuchung bereits dargestellt wurden.482
482
DIE APOSTOLIZITÄT DER KIRCHE. Studiendokument der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission, Paderborn u. Frankfurt am Main 2009, 11ff; zu VERBINDLICHES ZEUGNIS siehe Fußnote 439 sowie. G. I.. 290
Zwei weitere Hinweise sind von Bedeutung: - Der Zeitraum der Entstehung des Textes „war gekennzeichnet durch das wichtige Ereignis der lutherisch/römisch-katholischen Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die feierlich an 31. Oktober 1999 in Augsburg unterzeichnet wurde.“483 - Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die „Untersuchung des neutestamentlichen Zeugnisses über die Apostel und ihren Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus[…] wichtige Resultate“ zur Studie beigetragen hat; besonders zu beachten sei in diesem Zusammenhang: „Die wissenschaftlich-exegetische Vorgehensweise war zur Vermeidung einer älteren Methode, welche die Schrift rein als Quelle von Beweistexten benutzte, von zentraler Bedeutung.“484
1.
Apostolizität in den Schriften des Neuen Testaments: Normativität ohne Uniformität485
Zunächst wird Wert darauf gelegt, dass im Blick auf die Frage nach „(1) […] der Apostolizität der Kirche […] das Zeugnis der Schrift von entscheidender Bedeutung“ ist: „Die Kirche hat die heiligen Schriften des jüdischen Volkes übernommen und den Kanon des Neuen Testaments als normatives Zeugnis für das apostolische Evangelium festgestellt, das heißt als Zeugnis für die Maß gebende, authentische Verkündigung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus durch diejenigen, die zuerst gesandt wurden, frohe Botschaft zu bringen (Röm 10,14–15). […] So war es das Bestreben der Kirche durch die Jahrhunderte hindurch, ihr apostolisches Fundament hochzuachten und ihm treu zu bleiben. Wesentlich war immer die Überzeugung, dass der Heilige Geist die Kirche in der Wahrheit leitet und erhält und dass der Inhalt des Glaubens, den der Geist in der Bekenntnisgemeinschaft der Glaubenden weckt, Vorrang hat und wesentlich ist gegenüber jeder äußeren Form.“
483
484 485
ebd., 13: „Während der ersten Jahre ihrer Arbeit zur Apostolizität begleitete und erörterte die Kommission die Verfahren, in denen die Gemeinsame Erklärung in unseren Kirchen rezipiert und in denen über sie Übereinstimmung erzielt wurde […]“ (Hervorh. i. O.); zur GER vgl. DOKUMENTE WACHSENDER ÜBEREINSTIMMUNG, Bd. III, hrsg. v. H. Meyer, D. Papandreou u.a., Paderborn u. Frankfurt am Main 2003, 317 ff. DIE APOSTOLIZITÄT DER KIRCHE, 14. ebd., 19 u. 40ff (Hervorh. Verf.). 291
Die nicht zuletzt durch die exegetischen Erkenntnisse der beiden letzten Jahrhunderte gewachsene Einsicht, dass die Schriften des Neuen Testaments die Christusbotschaft „in einer großen Vielfalt“ ergehen lassen, hat mittlerweile zu einem neuen Anliegen in den christlichen Kirchen geführt: „Die Untersuchung dieser Vielfalt im neutestamentlichen Zeugnis macht die Frage, wie dies alles zusammen einen einheitlichen Kanon konstituiert, umso dringender.“
Als grundlegend für Glaube und Lehre der Urgemeinde wird die Verknüpfung der Jesus-Überlieferung mit dem urchristlichen Kerygma von Kreuz und Auferstehung eingestuft: „(54) […] Die Verkündigung Jesu war eingebettet in ihre Verkündigung von Jesus dem Christus, dem Wort Gottes, dem Herrn und Heiland. So war die Lehre der apostolischen Gemeinschaft nicht bloß eine Wiederholung der Lehre des historischen Jesus selbst. Während sie treu an seiner Botschaft festhielten, erkannten sie, dass er selbst die Botschaft ist. Im Zentrum der apostolischen Verkündigung und Lehre standen Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi.“
Zum Wesen der Kirche gehöre von Beginn an die Kontinuität zu zentralen Elementen u n d zur Pluralität der Botschaft der ersten Christen: „(58) Die Kirche hat sich seither immer um ihre Treue zum apostolischen Zeugnis bemüht. Der Kanon der Bibel wurde schließlich zu einer normativen Darlegung dieses Anliegens. Die Bildung des Kanons entwickelte sich aus der Praxis, in der Liturgie neben dem mit den Juden geteilten Schatz der Heiligen Schrift bestimmte christliche Texte zu lesen. Doch sie wurde auch durch den Wunsch, den Inhalt der apostolischen Tradition gegenüber Versuchen, ihn zu reduzieren oder zu entstellen, motiviert. Der Kanon enthielt immer noch eine Vielfalt von Ausdrucksformen. Normativität hatte nicht notwendigerweise Uniformität zur Folge.“
Für die Sicherung des normativen Erbes urchristlicher Verkündigung und Lehre komme den Erstzeugen des Christusgeschehens entscheidende Bedeutung zu: „(63) Die Apostel spielen in der Zeit nach der Auferstehung eine einzigartige Rolle, indem sie den Übergang von Jesu eigener Verkündigung und den Heilstaten seines Lebens hin zur Formulierung und Weitergabe der Botschaft von Jesus, dem Christus, vermitteln. Die Kirche wurde auf ihre anfängliche Verkündigung des Evangeliums gegründet, und die lebendige Erinnerung an diesen Ursprung sollte niemals aufhören, uns zu tragen und zu stärken. Gleichzeitig wird das Zeugnis der apostolischen Zeit aufrechterhalten und fortgeführt […].“ 292
Für dieses Geschehen gelte ein Doppeltes: „(64) Keine menschliche Autorität ist in der Lage, die Wahrheit des Evangeliums zu garantieren, da dessen Authentizität und Kraft, Glauben zu erwecken, dem Evangelium selbst eigen sind (sein ‚extra nos‘). Andererseits jedoch erfordert die Treue der Kirche bestimmte Formen der Traditionsüberlieferung und ein besonderes kirchliches Amt der Verkündigung, der Versöhnung und des Lehrens, um eine geordnete Weitergabe der apostolischen Lehren sicherzustellen. Dies führt zu einer dynamischen Spannung, die eine Herausforderung für die Kirche von ihren ersten Anfängen an gewesen ist.“
2.
Apostolizität als Wesensmerkmal der Kirche(n)486
a) Erkannte Gemeinsamkeiten im Verständnis Gemeinsam könne formuliert werden, „(150) […] dass das Evangelium für das apostolische Erbe zentral und ausschlaggebend ist“ bzw. „dass die Kirche zu jeder Zeit ‚apostolisch‘ bleibt aufgrund ihres Glaubens an und ihres Zeugnisses für das Evangelium von Jesus Christus.“ – Konfessionelle Einseitigkeiten im Blick auf das Verständnis des Evangeliums sind mittlerweile als solche erkannt: So hat das Vatikanum II die „(154) […] christozentrische und soteriologische“ Ausrichtung des Evangeliums betont, während die lutherische Kirche bekräftigen kann, „(158) […] das verkündigte Evangelium“ finde „seinen Ausdruck in der Taufe, dem Sakrament des Altars und dem Amt der Schlüssel zur Vergebung der Sünden.“
Deshalb teilten beide Konfessionen die Auffassung: „Die Kirche ist dadurch apostolisch, das sie an der Wahrheit des Evangeliums festhält, das fortwährend verleiblicht ist in Praktiken, die von den Aposteln herkommen und in denen der Heilige Geist die Vermittlung der Gnade Christi weiterführt.“ – So verstanden „(160) […] erkennen wir [= beide Kirchen] heute auf einer fundamentalen Ebene gegenseitig das Vorhandensein der Apostolizität in unseren Traditionen an. Diese Anerkennung wird durch die bedeutenden Unterschiede, die noch untersucht werden müssen, nicht verneint.“ b) Bedeutende Vorbehalte durch bleibende Unterschiede Differenzen bleiben, wenn es um das Verständnis des Amtes und seiner Bedeutung für die Auslegung der Heiligen Schrift geht: 486
ebd., 75ff (Hervorh. i. O. u. Verf.). 293
- So bestünden Unterschiede „(162) […] im Verständnis der Ordination zum pastoralen Amt in apostolischer Sukzession sowie im Verständnis des Bischofsamtes in der Kirche.“ - Daneben sei strittig, „wie die Schrift authentisch interpretiert werden muss“ bzw. „wie das Lehramt im Dienst an der Schrift steht, die Lehre und Praxis der Kirche leitet.“
3.
Apostolizität als Merkmal des kirchlichen Amtes487
Dieser Abschnitt des Studiendokumentes kann ausgehend von folgender Kernaussage interpretiert werden: „(288) Das Wesentliche an der apostolischen Sukzession ist die Nachfolge im Glauben; ohne diese wäre auch die Nachfolge im Amt wertlos. Das Amt ist Dienst am apostolischen Evangelium. Mit der ‚Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘ 488 ist ein ‚Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre‘ zwischen der katholischen Kirche und den lutherischen Kirchen festgestellt. Damit wird ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten im Glauben – also in dem, was den Kern der apostolischen Sukzession darstellt – bekannt. […] Die Unterzeichnung der ‚Gemeinsamen Erklärung‘ impliziert also die Anerkennung, dass in beiden Kirchen das ordinationsgebundene Amt in der Kraft des Heiligen Geistes seinen Dienst erfüllt hat, in den in dieser Erklärung dargelegten Kernfragen des Glaubens die Treue zum apostolischen Evangelium zu bewahren.“
Abschließend wird die ernsthafte Erwägung empfohlen, „(292) […] ob es nicht auch in der Lehre vom Amt oder den Ämtern einen differenzierenden Konsens geben könnte; denn wir [= beide Kirchen] stimmen darin überein, dass die Kirche apostolisch ist aufgrund des apostolischen Evangeliums, dem sie treu bleibt, dass alle Getauften und an Christus Glaubenden am Amt Jesu Christi teilhaben, dass das ordinationsgebundene Amt für die Kirche wegen der öffentlichen Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament wesentlich ist und dass dieses Amt um seines Dienstes an der Einheit im Glauben willen in ein lokales und ein regionales gegliedert ist.“
487 488
ebd., 141ff. vgl. Fußnote 483. 294
4.
Kirchliches Lehren, das in der Wahrheit bleibt – Teil I: Gemeinsame grundlegende Glaubensüberzeugungen489
Der Fragebereich, wie Apostolizität „als entscheidende Eigenschaft von Lehrern und Lehre“ zu verstehen ist, die die Kirche benötigt, um das „Bleiben in der Wahrheit des Evangeliums“ zu ermöglichen, 490 findet abschließend erneut in einem differenzierten Konsens seine Antwort(en); dessen Basis umfasst drei Bereiche: a) Das Evangelium von Gottes Gnade in Christus Es bestehe „(432) […] darin volle Übereinstimmung, dass Gott in der menschlichen Geschichte eine Botschaft der Gnade und Wahrheit in Wort und Tat kundgetan hat, die im Heilstod und der Auferstehung Jesu Christi ihren Höhepunkt fand und die von Osterzeugen in der Kraft des Heiligen Geistes bezeugt wird. Jesus Christus ist Gottes definitives Gnadenwort in Person, das Gottes Selbstkundgabe durch Mose und die Propheten übersteigt. Wie in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre bestätigt wurde, halten wir in unserem gemeinsamen Glauben an das Evangelium an der Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus fest, nämlich dass wir ‚unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen‘ können (GE 17).“491
b) Das Evangelium und die Kirche Ebenso bestehe „(433) […] völlige Übereinstimmung, dass Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus zum Heil der Menschen im Evangelium von Jesus Christus weiterhin verkündigt wird. […] Durch dieses Evangelium erweist sich der gekreuzigte und auferstandene Herr als lebendig und Heil schaffend, indem die Kirche fortfährt, ihn durch Wort und Sakrament zu verkündigen. Die Kirche steht zu allen Zeiten unter dem Imperativ, Gottes Wort von der rettenden Wahrheit in kontinuierlicher Sukzession zu bewahren.“ 489 490 491
DIE APOSTOLIZITÄT DER KIRCHE, 202ff (Hervorh. Verf.). ebd., 11. vgl. Fußnote 483. 295
c) Evangelium, Kanon, Lehre und Leben der Kirche Schließlich sei „(434) […] für Katholiken und Lutheraner die Schrift die Quelle, Regel, Richtschnur und das Kriterium der Richtigkeit und Reinheit der Verkündigung der Kirche, der Ausarbeitung ihrer Lehre wie auch ihrer sakramentalen und pastoralen Praxis. […] Durch den biblischen Kanon konstituiert die Kirche nicht die innere Autorität der prophetischen und apostolischen Schriften, sondern erkennt sie stattdessen an. Folglich müssen sich das Predigen und das gesamte Leben der Kirche aus der Schrift nähren und leiten lassen; sie ist beständig zu hören und zu betrachten. Rechte Auslegung und Anwendung der Schrift erhält das Lehren der Kirche in der Wahrheit.“
5.
Kirchliches Lehren, das in der Wahrheit bleibt – Teil II: Themen versöhnter Verschiedenheit492
Im Blick auf verbleibende Differenzen sei ausdrücklich davon auszugehen, „(435) […] dass die e i n e Wahrheit des Evangeliums wegen der Verschiedenheit der Zeiten und Orte verschiedene Ausdrucksformen annehmen m u s s […].“ – Die ökumenische Verständigung habe mittlerweile aber ein Stadium erreicht, in dem trotz „bemerkenswerte[r] Verschiedenheiten […] wechselseitig im Andern die gemeinsame Wahrheit des apostolischen Evangeliums von Jesus Christus“ erkannt und anerkannt werden könne. a) Der Kanon der Schrift und die Kirche Gemeinsam könne man die Annahme vertreten, „(438) […] dass der Kern des Kanons dadurch zu kirchlicher Geltung gelangte, dass die Botschaft seiner Bücher sich selbst beglaubigte. Die Gewissheit über das, was eine Schrift kanonisch macht, schließt aber nicht aus, dass es unterschiedliche Auffassungen über die Ränder der Schrift gibt. Die Frage der Zahl der kanonischen Bücher ist zweitrangig gegenüber der qualitativen Frage der Kanonizität. Dem entspricht, dass es im Bereich der lutherischen Kirchen keine lehramtliche Festlegung der Grenzen des Kanons gibt.“
492
DIE APOSTOLIZITÄT DER KIRCHE, 204ff (Hervorh. Verf.). 296
(1) Die lutherische Theologie vertrete die „(436) […] Überzeugung, dass der komplexe Prozess, der zur Bildung des Kanons der Heiligen Schrift geführt hat, nicht so zu verstehen ist, als habe die Kirche der Schrift die Autorität […] verliehen, sondern so, dass sie beim Lesen der Bücher […] dahin gekommen ist, die kanonische Autorität der Bücher anzuerkennen, der sich die Kirche unterstellte.“ (2) Die katholische Position sei wie folgt zu verstehen: „(437) […] Mit der Herausgabe von Listen der kanonischen Bücher machten Bischöfe und Kirchenkonzilien die Bücher nicht zu normativen Zeugnissen […], sondern sie erkannten stattdessen an, dass sie dies in sich selbst und in ihrem wirksamen Beitrag zu Glauben und Leben der Kirche schon waren.“ (3) Gegensätzliche Entscheidungen bezüglich der deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments im 16. Jahrhundert „(439) […] haben zu dem traditionellen katholisch-lutherischen Unterschied über die Grenzen des Kanons geführt.“ – Demgegenüber gelte heute: „(440) Eine Neubewertung der Apokryphen und ihrer Zugehörigkeit zum Kanon ist gegenwärtig auf evangelischer Seite vor allem im Bereich der Exegese im Gang.“ – Werde „nach der Einheit der Schrift gefragt“, seien „vor allem drei Aspekte“ von Gewicht: 1. „Erstens, dass zu der Zeit, als die neutestamentlichen Schriften entstanden, der [alttestamentliche] Kanon […] noch nicht endgültig feststand;“ 2. „zweitens, dass die Heilige Schrift der Urchristenheit in erster Linie die Septuaginta war;“ 3. „drittens wird darauf verwiesen, dass, wenn man das Alte Testament auf den hebräischen Kanon beschränken würde, eine große Lücke in dem Traditionsprozess, der vom Alten Testament in das Neue Testament führt, klaffen würde; das aber würde es schwer machen, das Neue Testament und seine Einheit mit dem Alten Testament angemessen zu verstehen.“
Insgesamt könne deshalb gefolgert werden, dass „(441) […] sich Lutheraner und Katholiken in der Frage von biblischem Kanon und Kirche in einer so weitgehenden Übereinstimmung über den Ursprung der kanonischen Autorität der Bibel [befänden], dass ihre verbleibenden Differenzen über den Umfang des Kanons nicht von solchen Gewicht sind, dass sie rechtfertigen würden, die bestehende Trennung fortzusetzen. Auf diesem Gebiet gibt es eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit.“
b) Schrift und Tradition Als gemeinsame Basis könne die Überzeugung gelten, „(442) […] dass die Schrift historisch aus einem Traditionsprozess sowohl in Israel als auch in der apostolischen Kirche hervorgegangen ist“ sowie, „dass sie auf einen Prozess ihrer Auslegung im Zusammenhang der kirchlichen Tradition ausgerichtet“ sei. 297
(1) Katholische Christen verstehen in der Regel unter Tradition „(443) […] gültige Ausdrucksweisen“ des „in der Geschichte überlieferten christlichen Glauben[s]“493 und begreifen diese deshalb als für die „Auslegung des Wortes Gottes unverzichtbar“494, weil sie „als konzentrierte Zusammenfassungen und Klärungen dessen“ zu verstehen sind, „was im apostolischen Evangelium verkündet und in den Büchern der Schrift dargelegt wird.“ – Entscheidend für die Ökumene ist folgender Sachverhalt: „(444) Katholiken haben sich von Neuem die patristische und hochmittelalterliche Überzeugung zu Eigen gemacht, dass die Schrift die gesamte geoffenbarte Wahrheit enthält, was zu einer bedeutsamen Unterscheidung führt. […]. Die Schrift ist das inspirierte Wort Gottes, während die Tradition der lebendige Prozess ist, der ‚das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt … weiter[gibt]‘ (DV 9)495. Diese Weitergabe ist nicht die Quelle neuer Wahrheiten, durch die der Inhalt der inspirierten Schrift ergänzt würde […].“ (2) Lutheraner tendieren dazu, mit dem Stichwort Tradition „(445) […] Ordnungen in der Kirche“ zu verbinden, „die von Menschen ohne ausdrückliche Schriftbegründung hervorgebracht“ wurden. – Diese dürften weder als „zum Heil notwendig“ ausgegeben werden noch „einem Gebot Gottes widersprechen.“ – Gänzlich anders versteht lutherische Theologie „(446) […] die Glaubensbekenntnisse der Alten Kirche.“ – Als „sachgemäße Zusammenfassungen des Evangeliums“ werden sie von den „Reformatoren“ zum Erweis der „Katholizität ihrer Lehre“ herangezogen. – Daneben sei für die Zusammengehörigkeit von „Schrift und Tradition“ zu beachten, dass auch Vertreter des Luthertums „ihrem Verständnis der Schrift in Bekenntnissen und im Katechismus Ausdruck verliehen“ haben. So interpretierte „Tradition“ gebe bis in die Gegenwart hinein „der Kirche die rechte Orientierung für ihr Zeugnis vom Evangelium und für ihren Umgang mit der Schrift, so dass ihr Lehren das apostolische Zeugnis für die Wahrheit von Gottes Offenbarung“ fortsetzen könne.
Gleichwohl legen Lutheraner Wert „(447) […] darauf, dass […] die Schrift nicht in den Traditionsprozess hinein absorbiert werden darf, sondern ihm als kritische Norm dauerhaft überlegen sein muss […].“ So könne letztlich erneut „(448) […] eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ konstatiert werden, weil „sich Lutheraner und Katholiken mit Blick auf Schrift und Tradition in einer so
493
494 495
ebd., 207: z.B. „die Glaubensregel (oben Nr. 320–322), Glaubensbekenntnisse, besonders das von NizäaKonstantinopel (oben Nr. 325–326) und konziliare Formulierungen der Glaubensartikel (oben Nr. 337– 340)“ (Hervorh. Verf.). vgl. die Enzyklika Ut unum sint, Nr. 79, DH 5004. vgl. Konstitution Dei verbum 9, DH 4212. 298
weitgehenden Übereinstimmung [befänden], dass ihre unterschiedlichen Akzentsetzungen nicht aus sich selbst heraus die gegenwärtige Trennung der Kirchen rechtfertigen“. c) Das Lehramt: Notwendigkeit – Kontext in der Kirche Grundlegend für die Entfaltung der „(449) […] versöhnten Verschiedenheit im Blick auf das Lehramt der Kirche“ ist die „Perspektive seiner Notwendigkeit und des Kontextes, in dem es wirkt.“ – So „(453) […] stimmen Lutheraner und Katholiken darin überein, dass die Kirche Glieder benennen m u s s, die der Weitergabe des Evangeliums dienen“, weil dies „notwendig für den rettenden Glauben“ ist. „Gäbe es kein Lehramt […], würde die Kirche an einem Mangel leiden.“ (1) Das Amt öffentlichen Lehrens auf der örtlichen und überörtlichen Ebene (a) Die lutherische Kirche „(450) […] sieht den primären Ort des Dienstes der Lehre in der Ortsgemeinde, für die Amtsträger in geordneter Weise berufen und ordiniert werden, um öffentlich zu lehren und die Sakramente zu verwalten (CA XIV)496.“ – Insofern „der Dienst der Lehre einen notwendigen Bestandteil des Lebens der Kirche“ bildet, ist lutherische Theologie „ebenso der Überzeugung, dass eine überörtliche Lehrverantwortung in der Kirche wesentlich ist, um der Aufsicht über Ordnung und Lehre willen (CA XXVIII)496.“ Derzeit stellen „Synoden, zu denen auch Nichtordinierte gehören […], […] den wesentlichen Kontext dar, in dem Bischöfe ihre Lehraufsicht ausüben, so dass kein einzelner Amtsträger exklusive Kompetenz“ beanspruchen könne. – In diesem Sinne gelte, dass der „(451) […] Dienst der Lehre in den lutherischen Kirchen […] nicht ausschließlich auf Amtsinhaber und Institutionen“ beschränkt ist; zu berücksichtigen seien daneben „[…] die Prozesse der Interaktionen zwischen Amtsinhabern, […] die Interventionen von Christen, die das allgemeine Priestertum der Getauften praktizieren, und die Theologen, die mit den Ergebnissen ihrer gelehrten Studien und mit ihren Urteilen in Lehrfragen einen Beitrag zum Dienst der Lehre leisten.“ (b) In der katholischen Kirche „(452) […] bezeichnet ‚Magisterium‘ den Auftrag des Lehrens, der dem Kollegium der Bischöfe zukommt, dem Papst als seinem Haupt und den einzelnen Bischöfen, die mit dem Nachfolger Petri in hierarchischer Gemeinschaft verbunden sind.“ 496
vgl. UNSER GLAUBE, 69f bzw. 107ff. 299
Einerseits gelte, dass „das bischöfliche Lehramt innerhalb eines ausgedehnten Netzwerks von Amtsträgern des Wortes ausgeübt [wird], von denen die ordinierten Gemeindepastoren eine besondere Bedeutung in der Predigt und Katechese haben.“ – Andererseits übe „das Magisterium seine Tätigkeit kraft der Fähigkeit der Unterscheidung der Wahrheit des Wortes Gottes aus, welche auf einem Charisma beruht, das durch die bischöfliche Ordination verliehen“ werde.
(2) Das Lehramt innerhalb verschiedener Bezeugungsinstanzen des Wortes Gottes Als fundamentaler Konsens von Lutheranern und Katholiken wird formuliert, „(457) […] dass es ein Netzwerk von mehreren Bezeugungsinstanzen des Wortes Gottes gibt, das den wesentlichen Kontext darstellt, innerhalb dessen die, die das Lehramt ausüben, ihre Verantwortung wahrzunehmen haben.“ (a) Die katholische Theologie kennt „(455) […] das einflussreiche, posthum veröffentlichte Werk Melchior Canos von 1563“, in dem er „zehn loci theologici als Bereiche des Wissens“ darlegt, die jeweils geeignet sind, „die Wahrheit der Offenbarung“ aufzuzeigen.497 – Es sei davon auszugehen, dass sich das „Magisterium“ bei der Fixierung von Lehre „in ständiger Interaktion mit“ den „Instanzen der Bezeugung Gottes und seiner Offenbarung“ befinde; hier sei auf das im Vatikanum II formulierte Prinzip der „Wirklichkeit eines irrtumslosen Glaubens des Volkes als ganzes“ zu verweisen.498 (b) In ähnlicher Weise schließe auch das lutherische Lehr-Verständnis „(456) […] zahlreiche Handlungsträger und Instanzen, die an ihm teilhaben, ein, von denen keine das Recht hat, eine exklusive Kompetenz für sich allein zu beanspruchen […].“
497
498
vgl. Fußnote460 bzw. besonders BERNHARD KÖRNER, Melchior Cano De locis theologicis, 161ff: 1. Heilige Schrift, 2. Traditionen Christi und der Apostel, 3. Katholische Kirche, 4. Allgemeine Konzilien, 5. Römische Kirche, 6. Heilige, 7. Theologen, 8. Natürliche Vernunft, 9. Philosophen, 10. Menschliche Geschichte; vgl. dazu auch KLAUS KIENZLER, Bewegung in die Theologie bringen, 232f: „Bedeutsam ist an dieser Reihe, dass die loci 1–7 als ‚loci proprii (eigentliche Glaubensorte)‘ und die loci 8–10 als ‚loci alieni (fremde Orte)‘ bezeichnet werden. […] Die Sichtweise auf das Werk Canos hat sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sehr geändert.“ – So sei klar, dass die Theorie der zwei Quellen der Offenbarung „so nicht mehr aufrechterhalten werden kann“ (Hervorh. Verf.); vgl. dazu C. II.. vgl. Konstitution Lumen gentium 12, DH 4130. 300
EXKURS 8: Autopistie der Schrift und lutherische Lehre499 (1) Bezüglich der Selbstauslegungskraft (Autopistie) der Schrift gelte eine doppelte Feststellung: „(366) Dass die Heilige Schrift sich selbst auslegt, heißt in formaler Hinsicht, dass Bibelstellen durch Bibelstellen erklärt und verstanden werden. Es heißt in materialer Hinsicht, dass der Römerbrief als ‚das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium‘500 Licht auf die ganze Heilige Schrift wirft und ihre Summe ist.“ – Daraus folgt: Auch in der lutherischen Theologie wird die Interpretation der Schrift nicht für zweitrangig erachtet: „(386) Weil die Heilige Schrift der Auslegung bedarf, erweist ein bloßes Zitieren von Schriftworten noch nicht die Schriftgemäßheit einer Lehre oder Praxis.“ (2) „Angesichts divergierender und sich teilweise widersprechender Auslegungen müssen die Kirchen immer wieder neu einen Konsens im Verständnis der Schrift suchen und ihn in ein Verhältnis zu den Bekenntnissen setzen.“ – Zwar habe „(387) […] die Vielfalt der Auslegungen und Auffassungen ihren notwendigen und legitimen Platz“ in der Interpretationsgemeinschaft Kirche; dennoch gelte: „Der Dienst der Lehre in den lutherischen Kirchen soll eine solche Vielfalt ermöglichen und zu ihr ermutigen, und er soll zugleich mit größter Sorgfalt und Energie darauf achten, dass in der Vielfalt das Gemeinsame und Verbindende gewahrt wird. (3) Eine Vielfalt, in der die Einheit der Lehre nicht mehr erkennbar ist, widerspricht der Einheit der Kirche Jesu Christi (vgl. Eph 4,3–6). Umgekehrt widerspricht aber auch der Versuch, eine Uniformität der Lehre herzustellen, die eine Vielheit von Auffassungen ausschließt, der Vielfalt der Glieder im Leib Christi […]. In dem Maße, in dem der Dienst der Lehre bei der Schriftauslegung […] plausibel zwischen der legitimen Vielfalt und dem notwendigen Konsens zu unterscheiden und beides aufeinander zu beziehen vermag, gewinnt Lehre ihre Autorität und dient der Einheit und Katholizität der Kirche.“ (4) Aus dieser Einsicht erwachse nicht zuletzt die Verpflichtung, „(388) […] die ekklesial notwendige episkope“ auch in größeren Zusammenhängen realisierbar zu machen: Auf dem Hintergrund der Confessio Augustana „sollte eine wechselseitige und gemeinsame Verantwortung aller lutherischen Kirchen für ihre Lehre möglich sein und als eine wichtige Aufgabe gesehen werden. Wenn das ‚consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum‘ die Gemeinschaft der
499 500
DIE APOSTOLIZITÄT DER KIRCHE, 174ff (Hervorh. Verf.). so MARTIN LUTHER, Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer (1522); in LUTHERS VORREDEN ZUR BIBEL, 177. 301
lutherischen Kirchen ermöglicht, sollte es auch im Vollzug jener doctrina eine Gemeinschaft geben, jedenfalls im Sinn einer wechselseitigen Rechenschaftspflicht und regelmäßigen gemeinsamen Beratung in Fragen der Lehre.“501
(3) Das Lehramt in seinen konstruktiven und kritischen Funktionen Abschließend werden drei grundlegende Übereinstimmungen im Blick auf die Funktionen des Lehramts formuliert: - Einigkeit bestehe darüber, „(458) […] dass das Lehramt […] ein notwendiges Mittel [darstellt], durch das die Kirche in der Wahrheit des Evangeliums Christi erhalten wird.“ - Damit verbunden sei die Einsicht, dass „(459) […] verbindliche Lehrerkenntnis, die öffentlich dargelegt wird,“ im Zweifelsfall „Auslegungen des Glaubens, die dem apostolischen Evangelium widersprechen,“ auszuschließen habe (Gal 1,9, CA XXVIII).502 - Gemeinsam wird schließlich auch die Relativität christlicher Wahrheitserkenntnis bestätigt: Dass „(460) […] Glaube […] in der Geschichte inmitten kultureller Veränderungen bekannt und gelebt“ wird, mache „eine fortwährende Suche nach angemessenen Ausdrucksweisen der Lehre notwendig […], die der Wahrheit Gottes in dieser Zeit vor dem letzten, eschatologischen Offenbarwerden Christi als Herrn und Retter aller entsprechen.“
501 502
vgl. Confessio Augustana 7; in: UNSER GLAUBE, 64. Paulus schreibt: „Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündet im Widerspruch zu dem, das wir verkündet haben – er sei verflucht.“ – Confessio Augustana 28; in: UNSER GLAUBE, 110. 302
IV. Zusammenfassung Die untersuchten Studien-Dokumente503 beleuchten umfassend die Voraussetzungen, das grundlegende Umfeld und das konkrete Geschehen der Interpretation biblischer Texte in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche vor dem Horizont gegenwärtiger wissenschaftlich-exegetischer Erkenntnis. G.1.1. Weil Offenbarung die Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte ist, die ihren Höhepunkt und ihre Vollendung in Jesus Christus hat, ist als Grundgehalt des Glaubens Gott und seine Heilstat in Jesus Christus zu bestimmen, dessen Grundgestalt sich im Zeugnis der Erstzeugen innerhalb der Gemeinschaft der Kirche niederschlägt (CS 40+41). Deshalb gilt: Jesus Christus ist Gottes definitives Gnadenwort in Person, das Gottes Selbstkundgabe durch Mose und die Propheten übersteigt (ApK 432). G.1.2. Die Apostel nehmen insofern eine einzigartige Rolle ein, als sie den Übergang von Jesu eigener Verkündigung hin zur Formulierung und Weitergabe der Botschaft v o n Jesus, dem Christus, vermitteln (ApK 63.) – Als die letzte Norm des Glaubens genießt die Heilige Schrift deshalb höchste Verehrung als die Bezeugungsinstanz, die der Offenbarung am nächsten steht (CS 48). G.1.3. Weil das historische Offenbarungsgeschehen durch die biblischen Zeugen an andere Zeiten und Orte vermittelt wird, ist es unvermeidlich, dass die e i n e Wahrheit des Evangeliums verschiedene Ausdrucksformen annehmen m u s s (ApK 435). – Die so entstehende Vielfalt im neutestamentlichen Zeugnis macht die Frage nach einem einheitlichen Kanon (ApK 1), das heißt nach dem inneren Zusammenhang zwischen Einheit, Ganzheit und Vielfalt der Schrift (VZ 60) umso dringender. G.1.4. Einem konstruktiven Dialog zwischen Exegese und Systematischer Theologie kann es gelingen, die Normativität der Schrift ohne jeden naiven Biblizismus darzulegen (VZ 171) bzw. so zur Anwendung zu bringen, dass damit nicht notwendigerweise Uniformität (ApK 58) verbunden sein muss.
503
Angaben nach Nummern in den Texten; VZ = Verbindliches Zeugnis, CS = Communio Sanctorum, ApK = Die Apostolizität der Kirche (Hervorh. Verf.). 303
G.1.5. An der Einheit und Ganzheit der Schrift festzuhalten, darf deshalb nicht heißen, darauf zu verzichten, zwischen verschiedenen Positionen biblischer Autoren zu unterscheiden (VZ 86). G.2.1. Der Raum, in dem Gott durch Wort (und Sakrament) den Menschen begegnet, ist die Kirche. – Heute kann in ökumenischer Verbundenheit mit Confessio Augustana 7 gesagt werden, dass diese zu verstehen ist als die Versammlung der Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden (CS 37). G.2.2. Als solche steht die Kirche zur Offenbarung in einer doppelten Relation: Sie ist einerseits Adressat der Selbstkundgabe Gottes und andererseits Trägerin ihrer universalen Vermittlung (CS 44). G.2.3. In diesem Sinne ist die Heilige Schrift niemals zu isolieren, sondern stets im Kontext der Glaubens- und Zeugnisgemeinschaft der Kirche zu interpretieren (CS 50). – Daraus folgt: Schrift und Tradition können weder voneinander isoliert noch gegeneinander gestellt werden (CS 53). G.2.4. Auf diese Weise verliert der Begriff Selbstauslegung der Schrift seine potentielle Missverständlichkeit: Zurückzuweisen ist ein rein formales Verständnis des Schriftprinzips, das die notwendige kirchliche Überlieferung und Auslegung der Schrift sowie die Normierung durch die Bekenntnisse der Kirche (als maßgeblicher Gestalt kirchlicher Tradition) ausschlösse (VZ 206). G.2.5. Ein ökumenisch tragfähiges Verständnis des Kanons geht einerseits davon aus, dass dessen Entstehung nicht so erklärt werden kann, als habe die Kirche der Schrift die Autorität verliehen; andererseits ist offensichtlich, dass es die Auslegungsgemeinschaft der Kirche war, die anerkannt hat, dass die kanonischen Schriften in sich selbst das Potential Glauben begründender Wirkmächtigkeit tragen (ApK 436+437). – Insofern gilt die Annahme, dass der Kern des Kanons dadurch zu kirchlicher Geltung gelangte, dass die Botschaft seiner Bücher sich selbst beglaubigte (ApK 438). G.2.6. Im Blick auf den über lange Zeit umstrittenen Begriff der Tradition kann heute ebenfalls eine doppelte Klarstellung vorgenommen werden: Einerseits weiß die lutherische Theologie mit den Bekenntnisschriften als norma normata um eine für sie und die Kirche verpflichtende Funktion nachapostolischer Tradition (VZ 198). – Andererseits bestreitet die katholische Kirche die materiale Suffizienz der Heiligen Schrift nicht, indem sie davon ausgeht, dass die Tradition dieser bei der Erschließung der biblischen Offenbarung keine weiteren Inhalte hinzufügt, vielmehr als Vollzug lebendiger Überlieferung des Evangeliums funktional-modal bzw. formal-gnoseologisch zu begreifen ist (VZ 204+206).
304
G.3.1. Als bahnbrechend hat die Einsicht zu gelten, dass die Alternative Schriftprinzip o d e r lehramtliche Auslegung bzw. Autorität des Wortes Gottes o d e r Autorität des kirchlichen Lehramtes den Positionen beider Konfessionen nicht gerecht wird (VZ 173). So hat ein ökumenisches Verständnis der Selbstauslegungskraft der Schrift (Autopistie) aufzuzeigen, dass das Lehramt unter der Leitung des Heiligen Geistes zur Erkenntnis der Wahrheit Gottes verhilft und d a m i t im Dienst der Selbstauslegungskraft der kanonischen Schriften steht (CS 68). G.3.2. Dem Wissen darum, dass die Gesamtkirche als eigentlicher Träger der Überlieferung auf den diachronen und synchronen Konsens der Christenheit angewiesen ist (VZ 234), entspricht die Überzeugung, dass das Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit Gottes Aufgabe der Kirche als ganzer ist (CS 45). G.3.3. In diesem Sinne sind in der Glaubensgemeinschaft der Kirche fünf grundlegende Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen (CS 45) einander zugeordnet und aufeinander angewiesen: 1. Die Heilige Schrift als unüberholbare Norm aller kirchlichen Verkündigung und Lehre; 2. die Tradition als Vollzug lebendiger Überlieferung des Evangeliums; 3. der Glaubenssinn der Gläubigen im Sinne erkennbarer Rezeption kirchlicher Lehrentscheidungen; 4. das kirchliche Lehramt in seinen verschiedenen Formen bzw. konfessionellen Ausprägungen und 5. die wissenschaftliche Theologie als methodisch-kritische Durchdringung der geoffenbarten Wahrheit (CS 72).
G.3.4. Dass das Zusammenspiel der genannten Bezeugungsinstanzen für ein Gelingen auf die Wirkung des Heiligen Geistes angewiesen ist, schließt ausdrücklich ein, dass es im Raum der Kirche gleichzeitig entsprechender geordneter Regeln bedarf (CS 73). G.3.5. Die Verantwortung aller Christen für die Wahrheit des Evangeliums bedingt gleichwohl den spezifischen Auftrag der berufenen, ordinierten Verkünder und Lehrer des Evangeliums (VZ 218). Deren besonderer Dienst besteht vor allem darin, die Kirche an ihren heilgeschichtlichen Ursprung, an Gottes Handeln in und an Christus kraft des Geistes zu erinnern (VZ 219). G.3.6. Grundsätzliche Übereinstimmung besteht bezüglich der Notwendigkeit des Lehramts und des Kontextes, in dem es wirkt (ApK 449); dieser sei prinzipiell das Netzwerk mehrerer Bezeugungsinstanzen des Wortes Gottes in der Glaubensgemeinschaft der Kirche (ApK 457).
305
G.3.7. Katholische Theologie versteht das Lehramt als gegliedertes Amt, das grundsätzlich den Bischöfen in Verbindung mit dem Papst zukommt (VZ 231+235). – Lutherische Theologie begreift die Aufgabe der Lehre als vielschichtigen, auf Konsens zielenden Prozess unter Beteiligung verschiedener Verantwortungsträger (Kirchenleitung, theologische Lehre, Geistliche, alle Christen in den Gemeinden; CS 66). G.3.8. Von zentraler Bedeutung ist schließlich, dass getroffene Lehrentscheidungen einer erkennbaren Rezeption durch die Kirche bedürfen, was jedoch nicht ausschließt, dass verbindliche Lehre nach evangelischem Verständnis stets neu in das Licht der Heiligen Schrift zu rücken ist (VZ 229). – Dem entspricht auf katholischer Seite der persönliche Glaubensvollzug des Einzelnen, dem ein so grundsätzliches Gewicht eignet, dass der Gläubige im Konfliktfall seinem Gewissen zu folgen hat (VZ 236). G.3.9. Die katholische Tradition bezeichnet mit dem Begriff des Glaubenssinns der Gläubigen (sensus fidelium) die Wahrnehmung und Bezeugung des Glaubens durch alle Glieder der Kirche (CS 58), die weder gleichzusetzen ist mit einfacher Zustimmung (CS 59) noch durch eine rein statistische Erhebung zu ermitteln ist (CS 60). – Die lutherische Kirche betont neben dem Recht und der Pflicht der Gemeinde, die dargebotene Lehre auf ihre Schriftgemäßheit zu prüfen, die Notwendigkeit umfassender Übereinstimmung (magnus consensus) bei kirchlichen Entscheidungen in Lehr- und Bekenntnisfragen (CS 58). Insofern ist mit größter Sorgfalt und Energie darauf zu achten, dass in der Vielfalt der Auslegungen und Auffassungen das Gemeinsame und Verbindende gewahrt wird und darstellbar bleibt (ApK 387).
306
katholisch:
evangelisch:
theologische
theologische
Fakultäten
Fakultäten
katholisch: DenzingerHünermann
Theologie
evangelisch: Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche
Tradition
z.B. Johannes
z.B. Paulus
z.B. Matthäus
Neues Testament
z.B. Jakobus
Biblischer Kanon Altes Testament
Lehramt
Glaubenssinn (= Rezeption)
katholisch:
evangelisch:
katholisch:
evangelisch:
Bischöfe, Papst, Priester, Lehrende der Theologie, mit der Missio Beauftragte
Kirchenleitung, Synoden, Geistliche, Lehrende der Theologie, Mitarbeitende in den Gemeinden
Glaubenssinn der Gläubigen
Recht/Pflicht der Gemeinde, Lehre zu prüfen, notwendige umfassende Übereinstimmung (magnus consensus)
(sensus fidelium), synchroner und diachroner Konsens der Kirche
Schema Interaktion der grundlegenden Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen des Wortes Gottes (Communio Sanctorum 45–73) 307
H. Kanonisches Bibelverständnis zwischen Selbstauslegung und Lehramt I. Schriftgemäßheit – neu formatiert Die Aufgabe, schriftgemäße Theologie zu formulieren, aus der sich normative Konsequenzen für Lehre und Leben der Kirche ableiten lassen, hat sich in den vergangenen 200 Jahren in eklatanter Form verkompliziert. Durch die wissenschaftliche ,Vermessung‘ der Breite und Tiefe des biblischen Kanons steht die Kirche als Interpretationsgemeinschaft der Heiligen Schrift vor einer gewichtigen Abwägung: - So ist es denkbar, – etwa im Anschluss an Ulrich Luz – eine normative Interpretation der Schrift prinzipiell oder faktisch aufzugeben, weil es nicht möglich ist „die Kirche auf eine Bibel [zu] bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist“;504 diese Entscheidung kann sicher auch als der evangelischen Freiheit eines Christenmenschen entsprechend gedeutet werden, der in seiner Unmittelbarkeit zu Gott auf keine kirchliche Auslegungsgemeinschaft angewiesen ist. - Daneben besteht die Möglichkeit, in der jeweiligen kirchlichen Tradition bekannte Schriftauslegungsmuster als norma normata in Geltung stehen zu lassen (altkirchliche Glaubensbekenntnisse, konfessionelle Bekenntnistexte), um auf diese Weise Interpretationskonsense zu gewährleisten. - Schließlich ist auf das Lehramt römisch-katholischer Prägung zu verweisen, das sich im Raum der kirchlichen Interpretationsgemeinschaft die Formulierung verbindlicher Entscheidungen in Fragen des Glaubens und der Ethik vorbehält.
Diese Untersuchung schlägt einen anderen Weg vor, der auf zwei Voraussetzungen ruht: Einerseits auf der – wissenschaftlich verantwortbaren – Entscheidung, die Heilige Schrift als das eine „Basisdokument der kirchlichen Lehre“505 zu lesen und zu interpretieren; andererseits auf dem –
504 505
ULRICH LUZ, Theologische Hermeneutik, 10 (Hervorh. i. O.). so in: DIE APOSTOLIZITÄT DER KIRCHE (311), 154. 308
im ökumenischen Dialog neu profilierten – Modell, Kirche als Auslegungsgemeinschaft zu verstehen, in der „verschiedene Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen zusammenwirken“, um „das Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit“ der göttlichen Offenbarung zu ermöglichen, was grundsätzlich nur „Aufgabe der Kirche als ganzer“ sein kann.506 – Dazu ist zunächst auf drei oben formulierte zentrale Ergebnisse dieser Studie507 hinzuweisen: (1) Der als Einheit verstandene (neutestamentliche) Kanon eröffnet in seiner Breite und Tiefe notwendige Spannungsfelder, innerhalb derer sich christliche Identität konstituiert und bewährt. (2) Dass die Schrift sich selbst auslegt, heißt n i c h t , dass die Hörenden bzw. Lesenden bzw. die Hör-, Lese- und Interpretationsgemeinschaften n i c h t perspektivische Entscheidungen zu treffen hätten. (3) Die Heilige Schrift auszulegen, bedeutet insbesondere, die einzelnen Positionen im Netzwerk des Kanons in eine sinnvolle Beziehung zueinander zu setzen. – Diese Beziehung ergibt sich n i c h t v o n s e l b s t, sie ist s t e t s und g r u n d s ä t z l i c h Ergebnis von Entscheidungen einzelner Hörender bzw. Lesender der Schrift bzw. der jeweiligen Auslegungsgemeinschaft.
Eine auf diese Weise neu formatierte Normativität der Heiligen Schrift geht davon aus, dass schriftgemäße Verkündigung und Lehre nicht durch das schlichte Zitieren von Aussagen aus den biblischen Schriften entsteht, sondern stets ein Interpretationsgeschehen im Netzwerk des Kanons darstellt, das zwischen Vielfalt und Einheit der Schrift sinnvolle Bezüge herstellt und perspektivische Abwägungen vornimmt. – Dieses Interpretationsgeschehen als Verknüpfung von Positionen, die miteinander und aufeinander bezogen den Kanon bilden, ist Voraussetzung jeder (theologischen) Aussage im Bereich von Verkündigung und Lehre. – Auf diese Weise getroffene Grundentscheidungen müssen als solche erkannt und benannt werden, um dann mit anderen Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche abgestimmt zu werden, damit es schließlich zu verbindenden und verbindlichen Konsensen kommen kann.
506 507
nach COMMUNIO SANCTORUM (45), 33. vgl. Teil F. II.. 309
II. Die Kirche als Auslegungsgemeinschaft – Risiken der Isolierung einzelner Bezeugungsinstanzen Wird die Kirche nicht als Auslegungs g e m e i n s c h a f t verstanden und als solche gestaltet, besteht die Gefahr der Isolierung einzelner Bezeugungsinstanzen, was die Bildung von Interpretationskonsensen erschwert.
1.
Schriftauslegung und Tradition
Tradition, verstanden als Geschehen der lebendigen Überlieferung des Evangeliums, materialisiert in den zu bestimmten markanten Zeitenwenden entstandenen Bekenntnistexten der Kirche, ist stets und grundsätzlich von Bedeutung für die Auslegung der kanonischen Schriften, – indem sie wichtige Anhaltspunkte liefert, wie die Botschaft der Selbstoffenbarung Gottes im Denken und Leben der Kirche aufgenommen wurde. Insofern kann Traditionsvergessenheit relevanter Schriftauslegung nur abträglich sein. Umgekehrt besteht jedoch die Gefahr, dass – gerade im Hinblick auf die unübersichtlich gewordene Vielfalt der Interpretationen – Tradition zur potentiellen Normierung von Schriftauslegung wird, – was letztlich einer Vertauschung der Instanzen gleichkommt: Bekenntnistexte der Kirche haben gegenüber der norma normans der kanonischen Schriften als abgeleitete norma normata zu gelten. – Wenn es nicht gelingt, aktuelle Interpretationskonsense herbeizuführen, ist der Rückgang auf Konsense aus vergangener Zeit letztlich ein Notbehelf, der im Zweifelsfall zu Isolation und Abschottung derer führt, die sich auf ihn beziehen.508
2.
Schriftauslegung und Rezeption
Die Rezeption von Auslegungs- und Lehrentscheidungen durch einzelne Gläubige bzw. in den Gemeinden gilt in beiden Konfessionen als entscheidender Vorgang. – Gleichwohl bleiben im Blick auf die Konkretion Fragen offen.
508
vgl. A. IV.. 310
Bereits Luther selbst betonte, dass jede Ortsgemeinde Recht und Pflicht habe, die ihr – etwa im Gottesdienst – dargebotene Lehre auf ihre Schriftgemäßheit zu prüfen;509 demgegenüber zeigt die Geschichte des Protestantismus, dass sich eine kontinuierliche Umsetzung dieses Grundrechts bzw. dieser Grundpflicht der Gemeinden in der Praxis durchaus schwierig gestaltet. Im Laufe der Jahrhunderte ist es m.E. insgesamt nicht ausreichend gelungen, die aktive Fähigkeit zu mündiger Predigt-Hörerschaft auszubilden. Rückmeldungen an die predigenden Geistlichen sind oft unkonkret oder bleiben gänzlich aus. – Inwiefern Leitungsgremien wie Kirchenvorstände oder Synoden dieses Defizit an Sprachfähigkeit der Gemeinde aufwiegen können, bleibt zu prüfen. Die Kehrseite dieser Entwicklung: Im Bereich der evangelischen Kirche scheint es oft so zu sein, dass der bzw. die Einzelne mit seinem/ihrem Bibelverständnis allein gelassen wird; dies fördert im besten Falle individuelle Spiritualität, – birgt jedoch auch die Gefahr der Vereinzelung bzw. des Fehlens von Konsensen in Grundfragen der Schriftauslegung auf der Ebene der Gesamtkirche. In der katholischen Theologie begegnet derzeit ein neues Interesse an dem im Zweiten Vatikanum formulierten Gedanken „des übernatürlichen Glaubenssinns“ (sensus fidei) des Gottesvolkes.510 – Die diesbezügliche Initiative geht zurück auf John Henry Newman (1801–1890), „der – seinerzeit nicht unumstritten – die Konsultationen von Gläubigen in Angelegenheiten des Glaubens nicht als Eingriff in die Vorrechte des Magisteriums, sondern als Ausdruck genuiner Katholizität vorgestellt“ hatte.511 – Die päpstliche Internationale Theologische Kommission hat dazu 2014 eine Studie mit dem Titel Sensus fidei und sensus fidelium im Leben der Kirche vorgelegt,512 die versucht, Klärungen für Probleme herbeizuführen, die auftreten, wenn „der Glaubenssinn des Gottesvolkes […] nicht harmonisch mit dem Urteil des Lehramtes oder der Forschung der Theologie übereinstimmt.“513 – Hier wird deutlich, dass die Frage der Rezeption exegetischer bzw. theologischer Entscheidungen durch die Gemeinde auch und gerade im Bereich der katholischen Kirche gestellt wird, um Lösungen zu erarbeiten, die geeignet sind, Konsense herbeizuführen.
3.
Schriftauslegung und Lehramt
Auch wenn die Konfessionen darin übereinstimmen, dass die Verkündigung des Evangeliums der Grundlage verbindlicher theologischer Aussagen bedarf, zeigt gerade die Frage des Lehramts 509
vgl. Fußnote 476.
510
vgl. Fußnote 475 (Hervorh. Verf.). in: DER SPÜRSINN DES GOTTESVOLKES. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission, hrsg. v. Thomas Söding, Freiburg u.a. 2016, 9. in: ebd., 13ff. ebd., 10.
511
512 513
311
paradigmatisch das Problem der notwendigen Abstimmung der einzelnen Instanzen untereinander. Im katholischen Bereich geht es hier vor allem um das Miteinander von bischöflichem und päpstlichem Lehramt, um die Stellung und die Befugnisse von (regionalen) Bischofskonferenzen bzw. um die Frage der Einbindung des Magisteriums in regelmäßige konziliare bzw. synodale Abstimmungen in der (Gesamt-)Kirche.514 Die evangelische Theologie legt Wert darauf, dass das Lehramt grundsätzlich dem Pfarramt in der Ortsgemeinde eigne; dem stehen Aussagen zu Lehrbefugnissen im Bereich regionaler Ämter gegenüber.515 – In gewisser Weise ungeklärt, jedenfalls auf der Grundlage der Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts, ist die Frage, inwieweit Synoden berechtigt sind, verbindliche Lehrentscheidungen zu treffen.
4.
Schriftauslegung und Theologie
Im Bereich der wissenschaftlichen Theologie ergeben sich ebenfalls nicht unerhebliche Probleme für die Frage der konkreten Gestaltung der Kirche als Auslegungsgemeinschaft. So zeigt speziell im evangelischen Bereich die Geschichte der historisch-kritischen Schriftauslegung, dass der wissenschaftliche Anspruch der Exegese dazu tendiert, die Aufgabe der Bibelinterpretation aus dem kirchlichen Kontext zu lösen und zum Selbstzweck historischer Forschung zu machen. – Erst in jüngerer Zeit wächst erneut ein Bewusstsein dafür, dass die Entstehung der Schriften des biblischen Kanons auf die Glaubensgemeinschaft der Kirche zurückgeht und dass die Exegese insofern stets vor allem der gottesdienstlichen Hör- und Lesegemeinschaft der Schrift verantwortlich bleibt.516 Im Bereich der katholischen Theologie ergibt sich auf dem Hintergrund des speziell profilierten bischöflichen bzw. päpstlichen Lehramts eine Konfliktlinie eigener Art, wenn die theologische Wissenschaft ihre universitäre Eigenständigkeit betont und die Sonderkompetenzen kirchlicher Ämter kritisch betrachtet.517
514
vgl. dazu die hoch aktuelle Studie der päpstlichen Internationalen Theologischen Kommission DIE SYNOLEBEN UND SENDUNG DER KIRCHE, Bonn 2018 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 215). vgl. Confessio Augustana 28 (Bischofsamt); in: UNSER GLAUBE, 110. vgl. dazu besonders B. V.; für die katholische Kirche C. V.. vgl. dazu UNABHÄNGIGE THEOLOGIE. GEFAHR FÜR GLAUBE UND KIRCHE?, hrsg. v. Benjamin Leven, Freiburg u.a. 2016. DALITÄT IN
515 516 517
312
III. Ein (ökumenisches) Desiderat: Ein praktikabler Gesamtrahmen für das Zusammenspiel der Bezeugungsinstanzen jenseits konfessioneller Einseitigkeiten Das ökumenische Studiendokument Communio Sanctorum kommt im Hinblick auf die Interaktion der fünf erörterten Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen der göttlichen Selbstoffenbarung zu einer bedeutenden Schlussforderung: „(CS 73) […] Das jeweilige Zusammenspiel der einzelnen Bezeugungsinstanzen bleibt selbst innerhalb der Kirchen nicht ohne Spannungen und Konflikte und bedarf deshalb geordneter Regeln. Dabei sichtbar werdende konfessionelle Zuspitzungen müssen in ihrer Gegensätzlichkeit entschärft werden durch den ökumenischen Erfahrungsaustausch und im gemeinsamen Vertrauen auf das Wirken des Geistes.“
Um diese Forderung erfüllen zu können, müssen m.E beide Konfessionen ihre klassischen Positionen überschreiten und Schritte gehen in einen mittleren Bereich, der z w i s c h e n dem lutherischen Paradigma der Selbstauslegung der Schrift (Autopistie) und dem römischen-katholischen Paradigma der lehramtlichen Interpretation der Schrift liegt. – Damit könnte es gelingen, den unaufgebbaren Zusammenhang von Heiliger Schrift und Kirche in einer Weise zu reinterpretieren, die konfessionelle Einseitigkeiten überwindet; dies sei im Folgenden grundsätzlich erläutert: Das klassische römisch-katholische Paradigma steht m.E. in der Gefahr, die Bedeutung der Kirche für die Wirkmächtigkeit der Schrift als Zeugnis der Selbstoffenbarung Gottes überzubewerten: 1a. Den kanonischen Schriften wurde nicht durch das Urteil der Kirche ihre Wirkmächtigkeit verliehen; vielmehr wurde diese im gottesdienstlichen Gebrauch als solche erkannt. Durch die gemeinschaftliche Benennung der in Frage kommenden Texte erhielt der Kanon seinen wesentlichen Umfang und seine faktische Bedeutung. 2a. Die Tradition der Kirche fügt dem Zeugnis von Gottes Selbstoffenbarung keine weiteren Inhalte hinzu, belegt aber, wie diese Offenbarung im Lauf der Geschichte in der menschlichen Wahrnehmung angekommen ist und prägende Kraft entwickelt hat.
Das klassische lutherische Paradigma steht m.E. in der Gefahr, die Bedeutung der Kirche für das faktische Zur-Wirkung-Kommen des Zeugnisses der Selbstoffenbarung Gottes unterzubewerten: 313
1b. Damit der Kanon als Schriftensammlung gebildet werden konnte, bedurfte es konkreter örtlicher Gemeinschaften, in denen die Schriften gelesen, gehört und ausgelegt wurden, bedurfte es einer Vernetzung dieser Gemeinschaften in der Gesamtkirche, – die dann dazu in der Lage war, im Miteinander den Umfang des Kanons zu bestimmen. 2b. Damit die kanonischen Schriften als Zeugnis der göttlichen Selbstoffenbarung Wirk- und Prägekraft entfalten konnten, bedurfte es zu allen Zeiten der Geschichte der menschlichen Überlieferung der Dokumente, bedurfte es zu allen Zeiten der Rechenschaft über die Wirkung der kanonischen Schriften im Leben der Menschen, der Gemeinden, der Gesamtkirche, die in der Tradition bzw. in den Bekenntnistexten für die Zukunft festgehalten wurde.
Diese Erkenntnis hat Folgen für die gemeinsam erkannte Notwendigkeit der Interaktion der Bezeugungsinstanzen: 3a. Dass die Schrift im Zusammenspiel verschiedener Instanzen in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche interpretiert werden muss, setzt ihre Wirkmächtigkeit und ihre Wirkkraft, die sich aus der Relevanz der bezeugten Selbstoffenbarung Gottes speist, immer schon voraus. 3b. Gleichwohl kann die Schrift ihre Wirkkraft nicht entfalten, wenn sie nicht faktisch überliefert wird, wenn sie nicht durch Einzelne und in der Gemeinschaft gelesen und ausgelegt wird, wenn sich Gemeinschaften und Kirchen nicht darüber verständigen, wie die Positionen im Netzwerk des Kanons sinnvoll miteinander verknüpft werden können.
IV. Ein Gesamtrahmen für das Zusammenspiel der Bezeugungsinstanzen – ein Vorschlag in Thesenform 0. Der Ausgangspunkt allen Redens und Handelns in der Kirche ist die Selbst-Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels, die im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi kulminiert. 1.1. Insofern die kanonischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments dieses Geschehen authentisch bezeugen, um es auf diese Weise nachfolgenden Generationen zu vermitteln, ist das Hören, Lesen und Interpretieren dieser Schriften zentrale Grundaufgabe der Kirche. 1.2. Durch diese Grundaufgabe wird die Kirche ihrem Wesen nach zu einer Auslegungsgemeinschaft der Heiligen Schrift. Die an der Auslegung beteiligten Instanzen sind adäquat in dieses Geschehen einzubinden.
314
2.1. Als Tradition des Glaubens verstanden und geachtet werden im Verlauf der Geschichte der Kirche entstandene Bekenntnistexte, die Auskunft darüber geben, wie die Auslegungsgemeinschaft die kanonischen Schriften im Lauf der Zeiten interpretiert und für die Lehre und das Leben der Gemeinden anwendbar gemacht hat. 2.2. Da die Geschichte der Kirche auch eine Dissens-Geschichte ist, die zur Entstehung von Konfessionen und Denominationen geführt hat, steht die Gesamtkirche vor der Aufgabe, verschiedene Traditionen zu achten, zu verstehen und auf das Ursprungsgeschehen der Offenbarung und seiner Bezeugung in den kanonischen Schriften konstruktiv zurückzubeziehen. 2.3. Der Tradition kommt gegenüber der norma normans der kanonischen Schriften der Rang einer sekundären norma normata zu. – Dieser Unterschied ist grundsätzlich zu wahren, verstärkt in dem Maß, in dem sich konkrete Traditionen zeitlich und sachlich von der Ursprungsnorm entfernen. 3.1. Theologie als methodisch verantwortete rationale Durchdringung des Glaubens der Kirche unternimmt den Versuch, Glaubensinhalte unterscheidend zu bündeln und systematisch darzulegen. 3.2. Seit der Zeit der Aufklärung und der Etablierung der historisch-kritischen Methode zur Auslegung von Texten ist die Kirche sich der Diversität der von Menschen verfassten Schriften des biblischen Kanons in vollem Maße bewusst geworden. 3.3. Von zentraler Bedeutung ist, dass der biblische Kanon seither grundsätzlich perspektivisch und geschichtlich wahrzunehmen ist, d.h. dynamisch, polyphon und spannungsreich interpretiert werden muss – auch wenn seine in der Identität Gottes (und seines Volkes) begründete Einheit feststeht (Thomas Söding), was – insbesondere im Fall des Neuen Testaments – historisch-exegetisch aufweisbar ist (Ferdinand Hahn). 3.4. Unaufgebbar ist die Zweiteiligkeit des biblischen Kanons, weil zwar nach christlichem Verständnis die Selbstoffenbarung Gottes im Christusgeschehen kulminiert, dieses aber ohne die alttestamentliche Vorgeschichte nicht adäquat gedeutet werden kann. 3.5. Einerseits ist davon auszugehen, dass das Christusgeschehen nicht linear aus dem Alten Testament ableitbar ist, vielmehr eine induktiv zu verstehende Neuinterpretation der kanonischen Schriften des Alten Testaments darstellt. – Gleichwohl gilt andererseits, dass der eine Gott, dem Christen als dem Dreieinigen verpflichtet sind, seinem Volk Israel und dessen Berufung treu bleibt, was notwendigerweise zu der Konsequenz führt, dass das Alte Testament christlich und jüdisch je anders zu interpretieren ist. 4.1. Als gemeinsame Einsicht der Konfessionen kann gelten, dass die Auslegung der zuerst und vor allem im Gottesdienst gelesenen und interpretierten Schriften des biblischen Kanons der Rezeption durch die Gemeinden bedarf. 315
4.2. Auf dem Weg zu verbindlichen Grundkonsensen der Schriftauslegung geht es deshalb auch um die „Entwicklung einer effektiv partizipativen Methodologie“, die mithilfe von „angemessenen Prozeduren der Befragung der Gläubigen“ ermöglicht, bezüglich der positiven oder fehlenden Rezeption von Interpretationen der Heiligen Schrift zu aussagekräftigen Urteilen zu gelangen.518 4.3. Dazu müssen neuere Erkenntnisse der Exegese bezüglich des Netzwerks der Positionen im perspektivisch und geschichtlich zu begreifenden biblischen Kanon den Gemeinden in adäquater Art und Weise vermittelt werden. 4.4. Ausgangspunkt für die konkrete Anschauung der Vernetzung der kanonischen Positionen sind die auf das Kirchenjahr bezogenen gottesdienstlichen Leseordnungen der Kirchen, aber auch andere geeignete Lesepläne der biblischen Schriften. 5.1 Dem Lehramt in seinen verschiedenen konfessionellen Ausprägungen und Gliederungen kommt – diesem Vorschlag gemäß – die Aufgabe der abschließenden Integration der einzelnen Bezeugungsinstanzen zu; es eignet, so verstanden, nicht einer bestimmten Person oder Personengruppe, sondern repräsentiert die korporative Verantwortlichkeit der Auslegungsgemeinschaft der Kirche für eine Verkündigung und Lehre, die dem apostolischen Urzeugnis entsprechen kann. 5.2. Verbindende und verbindliche lehramtliche Auslegungs-Entscheidungen können auf dem Hintergrund einer korporativen kirchlichen Verantwortlichkeit nur im Rahmen eines synodalen Verfahrens getroffen werden, welches die einzelnen Bezeugungsinstanzen in angemessener Weise einbezieht. 5.3. Dazu bedarf es einer geeigneten Repräsentation der Gemeinden und der durch diese rezipierten (oder korrigierten bzw. nicht rezipierten) Interpretationen der kanonischen Schriften. 5.4. Vertreterinnen und Vertreter des gemeindlichen Hirtenamtes sind – nicht zuletzt als entscheidende Verbindungsglieder zwischen Theologie und Ortsgemeinde – angemessen zu beteiligen. 5.5. Die Repräsentation der theologischen Wissenschaft legt den Einbezug entsprechender Vertreter der Fakultäten nahe; eine konstruktive Ergänzung von Exegese und Systematik ist anzustreben. 5.6. Der gesamtkirchlichen und besonderen kirchlichen Tradition ist eine angemessene Leitperspektive zuzumessen, die ihre Funktion als norma normata nicht überhöht. 5.7. Regionale episkopale bzw. kirchenleitende Ämter und Organe moderieren und koordinieren anzustrebende Entscheidungen. 5.8. Grundlage und Mitte von Lehrentscheidungen ist die Herstellung sinnvoller Beziehungen zwischen Positionen im Netzwerk des biblischen Kanons. – Dabei ist zu berücksichtigen: 5.8.1. Keine Position im Netzwerk ist zu ignorieren. 5.8.2. Keine Position im Netzwerk ist schlicht zu negieren.
518
so in: Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche, 73 (Hervorh. Verf.).
316
5.8.3. Bei der Herstellung sinnvoller Beziehungen im Netzwerk des Kanons wird es erforderlich, einzelne Positionen – mit stichhaltiger Begründung – perspektivisch zu überbieten. 5.9. Vorrangig anzustreben ist eine Einigung auf hermeneutische Basiskonsense, die dazu beitragen können, dass in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche eine Übereinstimmung im Wesentlichen die Weite und Breite pluraler christlicher Identität gewährleistet.
317
Literaturverzeichnis Hinweis: Wird die Heilige Schrift durch den Verfasser zitiert, erscheint der biblische Wortlaut in kursiver Schrift. Die Bibel. Einheitsübersetzung, vollständig durchges. u. überarb. Ausgabe, Stuttgart 2016 (VERWENDET IN ZITATEN AB TEIL E) Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017 mit Apokryphen, Stuttgart 2016 (VERWENDET IN ZITATEN IN TEIL D SOWIE IM VORWORT) Heinrich Denzinger, Enchiridion sybolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen u. unter Mitarbeit v. Helmut Hoping hrsg. v. Peter Hünermann, 45. Aufl., Freiburg u. a. 2017 (= DH) Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 10. Aufl., Göttingen 1986 (= BSLK) Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hrsg. v. Lutherischen Kirchenamt, bearb. v. Horst Georg Pöhlmann, 3., erw. Aufl., Gütersloh 1991
Albertz Martin, Die Botschaft des Neuen Testaments, Bde. I/1–II/2, Zürich 1947ff Albertz Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bde. I+II, Göttingen 1996 Alkier Stefan, Identitätsbildung im Medium der Schrift; in: Identität und Schrift. Fortschreibungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung, hrsg. v. Marianne Grohmann (BiblischTheologische Studien 169), Göttingen u. Bristol 2017, 105–161
318
Assmann Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 Ballhorn Egbert, Das historische und das kanonische Paradigma in der Exegese. Ein Essay; in: Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, hrsg. v. Egbert Ballhorn u. Georg Steins, Stuttgart 2007, 9–30 Barth Hermann, Welches Bekenntnis braucht die Kirche? Thesen zum Verhältnis von Kirche und Bekenntnis; www.ekd.de/barth_barmen_2002_html Beinert Wolfgang, Was gilt in der Kirche und wer sagt uns das? Im Spannungsfeld von Lehramt, Theologie und Glaubenssinn; in: Theologie im Dialog. Festschrift für Harald Wagner, hrsg. v. Peter Neuner u. Peter Lüning, Münster 2004, 159–179 Berger Klaus, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, 2., überarb. u. erw. Aufl., Tübingen u. Basel 1995 Berger Klaus, Vom Verkündiger zum Verkündigten – Anfragen an ein Programm … ; in: Jesus von Nazaret, hrsg. v. Heinrich Schmidinger, Graz u.a. 1995, 185–209 Beyschlag Karlmann, Grundriss der Dogmengeschichte, Bd. I Gott und Welt, Darmstadt 1982 Böhler Dieter, Der Kanon als hermeneutische Vorgabe biblischer Theologie. Über aktuelle Methodendiskussionen in der Bibelwissenschaft; in: ThPh 77 (2002), 161–178 Böttigheimer Christoph, Die eine Bibel und die vielen Kirchen. Die Heilige Schrift im ökumenischen Verständnis, Freiburg 2016 Buckenmaier Achim, „Schrift und Tradition“ seit dem Vatikanum II. Vorgeschichte und Rezeption, (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 62), Paderborn 1996 Bultmann Rudolf, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchges. u. erg. v . Otto Merk, Tübingen 1984 Caird George Breadford, New Testament Theology, Oxford u.a. 1994 Childs Brevard S., Biblical Theology in Crisis, Louisville 1970 319
Childs Brevard S., Biblical Theology of the Old and New Testaments: Theological Reflection on the Christian Bible, London u. Philadelphia 1993 Childs Brevard S., Biblische Theologie und christlicher Kanon; in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 3, hrsg. v. Ingo Baldermann u.a., Neukirchen-Vluyn 1988, 13–27 Childs Brevard S., Die Theologie der einen Bibel, Bde. I+II, Freiburg u.a. 1994 u. 1996 Childs Brevard S., Introduction to the Old Testament as Scripture, London u. Philadelphia 1979 Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, hrsg. von der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, 2. Aufl., Paderborn u. Frankfurt am Main 2000 Cullmann Oscar, Christus und die Zeit, 3., durchges. Aufl., Zürich 1962 Cullmann Oscar, Die Tradition und die Festlegung des Kanons durch die Kirche des 2. Jahrhunderts; in: Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, hrsg. v. Ernst Käsemann, Göttingen 1970, 98–108 Cullmann Oscar, Heil als Geschichte, Tübingen 1965 Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, hrsg. v. Ernst Käsemann, Göttingen 1970 Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, hrsg. v. Georg Strecker (Wege der Forschung CCCLXVII), Darmstadt 1975 Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, hrsg. v. Egbert Ballhorn u. Georg Steins, Stuttgart 2007 Der Spürsinn des Gottesvolkes. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission (Quaestiones disputatae 281), hrsg. v. Thomas Söding, Freiburg u.a. 2016 Die Apostolizität der Kirche. Studiendokument der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit, Paderborn u. Frankfurt am Main 2009
320
Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons. The Unity of Scripture and the Diversity of the Canon, hrsg. v. John Barton u. Michael Wolter (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 118), Berlin 2003 Die Interpretation der Bibel in der Kirche, erarb. v. d. Päpstlichen Bibelkommission, (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn 1993 Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche, erarb. v. d. Internationalen Theologischen Kommission (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 215), Bonn 2018 Dohmen Christoph, Art. Bibelkommission, Päpstliche; in: WiBiLex. Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet; www.bibelwissenschaft.de/wibilex/ Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. III 1990–2001, hrsg. v. H. Meyer, D. Papandreou u.a., Paderborn u. Frankfurt am Main 2003 Ebeling Gerhard, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche; in: Ders., Wort und Glaube, Tübingen 1960, 1–49 Frey Jörg, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität. Neutestamentliche Perspektiven zur Frage nach der ,Apostolizität‘ der Kirche und der ,apostolischen Sukzession‘; in: Ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II (WUNT 368), hrsg. v. Benjamin Schliesser, Tübingen 2016, 677–777 Frey Jörg, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien; in: Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), hrsg. v. Jens Schröter u. Ralph Brucker, Berlin u. New York 2002, 273–336 Frey Jörg, Jesus und die Apokalyptik; in: Ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II (WUNT 368), hrsg. v. Benjamin Schliesser, Tübingen 2016, 85–157 Frey Jörg, Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person; in: Ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II (WUNT 368), hrsg. v. Benjamin Schliesser, Tübingen 2016, 645–676 Frey Jörg, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, in: Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, hrsg. v. Cilliers Breytenbach u. Jörg Frey, Tübingen 2007, 3–53 321
Fries Heinrich, Kirche und Kanon. Perspektiven katholischer Theologie; in: Verbindliches Zeugnis I: Kanon – Schrift – Tradition (DiKi 7), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen 1992, 289–314 Gabler Johann Philipp, Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele; in: Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, hrsg. v. Georg Strecker (Wege der Forschung CCCLXVII), Darmstadt 1975, 32–44 Gemeinhardt Peter u. Oberdorfer Bernd, Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum. Einführung; in: Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 25), hrsg. v. Peter Gemeinhardt u. Bernd Oberdorfer, Gütersloh 2008, 7–12 Gese Hartmut, Zur biblischen Theologie, 3., verb. Aufl., Tübingen 1989 Gloege Gerhard, Zur Geschichte des Schriftverständnisses; in: Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, hrsg. v. Ernst Käsemann, Göttingen 1970, 13–40 Gnilka Joachim, Theologie des Neuen Testaments (Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. Supplementband V), Freiburg u.a. 1994 Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (GO-EKD), www.kirchenrechtekd.de/document/3435 Gunneweg Antonius H.J., Biblische Theologie des Alten Testaments. Eine Religionsgeschichte Israels in biblisch-theologischer Sicht, Stuttgart u.a. 1993 Hägglund Bengt, Die Bedeutung der »regula fidei« als Grundlage theologischer Aussagen; in: Studia Theologica 12 (1958), 1–44 Hahn Ferdinand, Der Ertrag der historisch-kritischen Bibelauslegung für den Glauben und die Kirche; in: Begegnung mit Jesus? Was die historisch-kritische Methode leistet, hrsg. v. Albert Raffelt (Freiburger Akademieschriften, Bd. I), Düsseldorf 1991, 67–84
322
Hahn Ferdinand, Die Heilige Schrift als älteste christliche Tradition und als Kanon; in: Die Heilige Schrift, die Tradition und das Bekenntnis (Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 42), Frankfurt am Main 1982, 46–55 Hahn Ferdinand, Exegese und Fundamentaltheologie. Die Rückfrage nach Jesus in ihrem Verhältnis zu Kerygma und Heiliger Schrift. Ein Beitrag zu Grundfragen der Theologie aus evangelischer Sicht; in: Ders., Studien zum Neuen Testament, Bd. I Grundsatzfragen, Jesusforschung, Evangelien, hrsg. v. Jörg Frey u. Juliane Schlegel, Tübingen 2006, 47–67 Hahn Ferdinand, Exegese, Theologie und Kirche; in: ZThK 74 (1977), 25–37 Hahn Ferdinand, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Rückfrage nach Jesus. Zur Methodik und Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, hrsg. v. Ferdinand Hahn, Karl Kertelge u.a. (Quaestiones disputatae 63), 2. Aufl., Freiburg u.a. 1977, 11–77 Hahn Ferdinand, Theologie des Neuen Testaments, Bd. I Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Bd. II Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002 Hahn Ferdinand, Urchristliche Lehre und neutestamentliche Theologie. Exegetische und fundamentaltheologische Überlegungen zum Problem christlicher Lehre; in: Ders., Studien zum Neuen Testament, Bd. I Grundsatzfragen, Jesusforschung, Evangelien, hrsg. v. Jörg Frey u. Juliane Schlegel, Tübingen 2006, 83–135 Hahn Ferdinand, Was heißt heute „evangelisch“? Thesen aus der Sicht eines Exegeten; in: Evangelische Theologie 57 (1997), 19–22 Härle Wilfried, Lehre und Lehrbeanstandung; in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 30 (1985), 283–317 Heckel Theo K., Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999 Hempelmann Heinzpeter, Hält die Bibel-Hermeneutik, was sie verspricht? Evangelische Schriftauslegung vor ethischen Herausforderungen; in: Theologische Beiträge 46 (2015), 231–241
323
Hempelmann Heinzpeter, »Stürzen wir nicht fortwährend?«. Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz = Wie die wahre Welt zur Fabel wurde. Christliches Wahrheitszeugnis und postmoderner Wahrheitspluralismus, Bd. II., Witten u. Gießen 2015 Hengel Martin, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie; in: Ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV (WUNT 201), hrsg. v. Claus-Jürgen Thornton, Tübingen 2006, 496–534 Hengel Martin, Aufgaben der Neutestamentlichen Wissenschaft; in: New Testament Studies 40 (1994), 321–357 Hengel Martin, Christologie und neutestamentliche Chronologie. Zu einer Aporie in der Geschichte des Urchristentums; in: Ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV (WUNT 201), hrsg. v. Claus-Jürgen Thornton, Tübingen 2006, 27–51 Hengel Martin, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, 2., durchges. u. erg. Aufl., Tübingen 1977 Hengel Martin, Die Throngemeinschaft des Lammes mit Gott in der Johannesapokalypse; in: Ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV (WUNT 201), hrsg. v. Claus-Jürgen Thornton, Tübingen 2006, 368–385 Hengel Martin, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung (WUNT 224), Tübingen 2008 Hengel Martin, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus; in: Ders., Jesus und die Evangelien. Kleine Schriften V (WUNT 211), hrsg. v. Claus-Jürgen Thornton, unveränd. Studienausgabe Tübingen 2016, 664–682 Hengel Martin: Heilsgeschichte; in: Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (WUNT 248), hrsg. v. Jörg Frey u.a., Tübingen 2009, 3–34 Hengel Martin: Jesus als messianischer Lehrer der Weisheit; in: Ders. u. Anna-Maria Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie. Vier Studien (WUNT 138), Tübingen 2001, 81–131
324
Hengel Martin: Jesus, der Messias Israels; in: Ders. u. Anna-Maria Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie. Vier Studien (WUNT 138), Tübingen 2001, 1–80 Hengel Martin u. Schwemer Anna Maria, Jesus und das Judentum (Geschichte des frühen Christentums, Bd. I), Tübingen 2007 Hengel Martin u. Schwemer Anna Maria, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, mit einem Beitrag von Ernst-Axel Knauf (WUNT 108), Tübingen 1998 Hengel Martin, Überlegungen zu einer Geschichte des frühesten Christentums im ersten und zweiten Jahrhundert; in: Έπιτομή τῆς οἰκουένης. Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit, für Hubert Cancik u. Hildegard Cancik-Lindemaier (Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge PAwB 6), hrsg. v. Christoph Auffarth u. Jörg Rüpke, Wiesbaden 2002, 139–171 Herms Eilert, Das Lehramt in den Kirchen der Reformation; in: MdKI 52 (2001), 83–93 Herms Eilert, Die Lehre im Leben der Kirche; in: Ders., Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, 119–156 Herms Eilert / Schwöbel Christoph, Fundament und Wirklichkeit des Glaubens als Begründung eines evangelischen Verständnisses von Lehrverantwortung; in: Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, hrsg. v. Eilert Herms u. Lubomir Žak, Tübingen 2008, 119–155 Herms Eilert, Was haben wir an der Bibel? Versuch einer Theologie des christlichen Kanons; in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 12, hrsg. v. Ingo Baldermann u.a., Neukirchen-Vluyn, 99–152 Hieke Thomas, „Biblische Texte als Texte der Bibel auslegen“ – Dargestellt am Beispiel von Offb 22,6–21 und anderen kanonrelevanten Texten; in: Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, hrsg. v. Egbert Ballhorn u. Georg Steins, Stuttgart 2007, 331–345
325
Hieke Thomas, Dei Verbum und Biblische Auslegung; in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Impulse und Perspektiven (Frankfurter Theologische Studien 70), hrsg. v. Dirk Ansorge, Münster 2013, 52–75 Hieke Thomas, Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12. Gotteswort in Menschenwort; in: Gotteswort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (Quaestiones disputatae 266), hrsg. v. Karl Lehmann u. Ralf Rothenbusch, Freiburg u.a. 2014, 202–223 Hoff Gregor Maria, Die prekäre Identität des Christlichen. Die Herausforderung postModernen Differenzdenkens für eine theologische Hermeneutik, Paderborn u.a. 2001 Horn Friedrich Wilhelm, Vielfalt und Einheit der neutestamentlichen Botschaft; in: Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, hrsg. v. Karl-Wilhelm Niebuhr, 4., durchges. Aufl., Göttingen u. Oakville 2011, 371–387 Huber Wolfgang, Die Spannung zwischen Glauben und Lehre als Problem der Theologie; in: Theologie – was ist das?, hrsg. v. Georg Picht u. Enno Rudolph, Stuttgart u. Berlin 1977, 217–246 Huber Wolfgang, Lehrbeanstandung in der Kirche der Lehrfreiheit; in: Das Recht der Kirche, Bd. III, Zur Praxis des Kirchenrechts (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft Band 51), hrsg. v. Gerhard Rau u.a., Gütersloh 1994, 118–137 Hübner Hans, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bde. I–III, Göttingen 1990ff Hübner Hans, Warum Biblische Theologie?, in: Hans Hübner, Bernd Jaspert, Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 1999, 9–39 Jacobi Christine, Auferstehung, Erscheinungen, Weisungen des Auferstandenen: in: Jesus Handbuch, hrsg. v. Jens Schröter u. Christine Jacobi unter Mitarbeit v. Lena Nogossek, Tübingen 2017, 490–504 Jüngel Eberhard, Bekennen und Bekenntnis; in: Theologie in Geschichte und Kunst. Walter Elliger zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Siegfried Herrmann u. Oskar Söhngen, Witten 1968, 94–105 Käsemann Ernst, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?; in: Ders., Exegetische Versuch und Besinnungen, Bd. I, Göttingen 1960, 214–223
326
Käsemann Ernst, Zusammenfassung; in: Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, hrsg. v. Ernst Käsemann, Göttingen 1970, 399–410 Kaiser Otto, Der Gott des Alten Testaments, Bde. I–III, Göttingen 1993–2003 Karpp Heinrich, Einheit der Kirche – Einheit der Bibel? Erfahrungen und Probleme der Kirche; in: Ders., Vom Umgang der Kirche mit der Heiligen Schrift. Gesammelte Aufsätze, Köln u. Wien 1983, 274–295 Karpp Heinrich, Schrift, Geist und Wort Gottes. Geltung und Wirkung der Bibel in der Geschichte der Kirche. Von der Alten Kirche bis zum Ausgang der Reformationszeit, Darmstadt 1992 Kienzler Klaus, Bewegung in die Theologie bringen. Theologie in Erinnerung an Klaus Hemmerle, Freiburg u.a. 2017 Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Licht der Rechtfertigungslehre, hrsg. v. der Gemeinsamen römisch-katholischen / evangelisch-lutherischen Kommission, Paderborn u. Frankfurt am Main 1994 Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament, hrsg. v. der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, 2. Aufl., Paderborn u. Hannover 1985 Kirchliches Lehren in ökumenischer Verpflichtung. Eine Studie zur Rezeption ökumenischer Dokumente, erarb. v. Ökumenischen Studienausschuss der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB), hrsg. v. Hermann Brandt, Stuttgart 1986 Knapp Markus, Der „Ort“ des Glaubenssinns. Melchior Cano und das 2. Vatikanische Konzil; in: Der Spürsinn des Gottesvolkes. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission (Quaestiones disputatae 281), hrsg. v. Thomas Söding, Freiburg 2016, 213–232 Körner Bernhard, Die Bibel als Wort Gottes auslegen. Historisch-kritische Exegese und Dogmatik, Würzburg 2011
327
Körner Bernhard, Melchior Cano De locis theologicis. Ein Beitrag zur theologischen Erkenntnislehre, Graz 1994 Kreuzer Siegfried, Art. Lade JHWHs/Bundeslade; in: WiBiLex. Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet; www.bibelwissenschaft.de/wibilex/ Kühn Ulrich, Welche Bedeutung hat das lutherische Bekenntnis heute?; in: Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 25), hrsg. v. Peter Gemeinhardt u. Bernd Oberdorfer, Gütersloh 2008, 122–140 Kühn Ulrich, Wie lehrt die Kirche heute verbindlich?; in: Ders., Die eine Kirche als Ort der Theologie. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1997, 121–132 Lauster Jörg, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 46), Tübingen 2004 Lauster Jörg, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma (ThLZ.F 21[2008]), Leipzig 2008 Lehmann Karl, Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Exegese; in: Einführung in die Methoden der biblischen Exegese, hrsg. v. Josef Schreiner, Würzburg 1971, 40–80 Lehmann Karl, Die Bildung des Kanons als dogmatisches Ur-Paradigma. Zur Verhältnisbestimmung von Schrift, Überlieferung und Amt; in: Freiburger Universitätsblätter 108 (1990), 53–63 Lehmann Karl, Die Frage nach Jesus von Nazaret; in: Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. II Traktat Offenbarung, hrsg. v. Walter Kern u.a., Freiburg u.a. 1985, 22–144 Lehrordnung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands vom 16.6.1956: Erklärung zur Lehrverpflichtung und Handhabung der Lehrgewalt; in: VELKD-Rechtssammlung Nr. 470, Hannover 20XX Leonhardt Rochus u. Rösel Martin, Reformatorisches Schriftprinzip und gegenwärtige Bibelauslegung. Ein interdisziplinärer Gesprächsbeitrag zur zeitgemäßen Schrifthermeneutik; in: ThZ 56 (2000), 298–324
328
Leonhardt Rochus, Unklarheit über die Klarheit der Schrift. Skeptische Überlegungen zum protestantischen Schriftprinzip; in: BThZ 16 (1999), 157–183 Leonhardt Rochus, Wie viel Exegese braucht die Dogmatik?; in: Update-Exegese 2.I. Ergebnisse gegenwärtiger Bibelwissenschaft, hrsg. v. Wolfgang Kraus u. Martin Rösel, Leipzig 2015, 266–271 Lexutt Athina, Unica regula et norma. Zum Verhältnis von Schrift und Tradition im reformatorischen Verständnis; in: Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 25), hrsg. v. Peter Gemeinhardt u. Bernd Oberdorfer, Gütersloh 2008, 143–165 Lohfink Norbert, Der weiße Fleck in Dei Verbum, Artikel 12; in: Trierer theologische Zeitschrift 101 (1992), 20–35 Lohfink Gerhard, Gab es im Gottesdienst der neutestamentlichen Gemeinden eine Anbetung Christi?, in: Ders., Studien zum Neuen Testament (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 5), Stuttgart 1989, 245–265 Lohfink Norbert, Über die Irrtumslosigkeit und die Einheit der Schrift; in: Ders., Studien zur biblischen Theologie (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 16), Stuttgart 1993, 13–39 Lohse Eduard, Grundriss der neutestamentlichen Theologie (Theologische Wissenschaft, Band 5,1), 5. Aufl., Stuttgart u.a. 1998 Lohse Eduard, Lehramt und Lehrautorität in der evangelischen Kirche; in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. 41, Göttingen 1989, 39–54 Luther Martin, Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum / Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind; in: Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1 Der Mensch vor Gott, hrsg. v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 71–218 Luther Martin, Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen, und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursach aus der Schrift; in: Martin Luther Taschenausgabe, Band 3 (LTA 3), hrsg. v. H. Beintker, H. Junghans u.a., 2. Aufl., Berlin 1983, 186–196
329
Luther Martin, Vom unfreien Willen. Schriften zur Neuorganisation der Kirche, hrsg. v. Hermann Barge u.a., München o.J., 1–286 Luthers Vorreden zur Bibel, hrsg. v. Heinrich Bornkamm, 3. Aufl., Göttingen 1989 Luz Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bde. I–IV, Neukirchen-Vluyn 1985ff Luz Ulrich, Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologien; in: Die Mitte des Neuen Testaments. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie. Festschrift für Eduard Schweizer zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. Ulrich Luz u. Hans Weder, Göttingen 1983,142–161 Luz Ulrich, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft; in: New Testament Studies 44 (1998), 317– 339 Luz Ulrich, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments (Neukirchener Theologie), Neukirchen-Vluyn 2014 Luz Ulrich, Was heißt „Sola Scriptura“ heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip; in: EvTh 57 (1997), 28–35 Markschies Christoph, Epochen der Erforschung des neutestamentlichen Kanons in Deutschland. Einige vorläufige Bemerkungen; in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, hrsg. v. EveMarie Becker u. Stefan Scholz, Berlin u. Boston 2012, 578–604 Markschies Christoph, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007 Markschies Christoph, Sola scriptura: Was sollte reformatorische Theologie von katholischer Theologie lernen?; in: ThPh 92 (2017), 390–403 Marschler Thomas, Analogia Fidei. Anmerkungen zu einem Grundprinzip theologischer Schrifthermeneutik; in: ThPh 87 (2012), 208–236
330
Mehlhausen Joachim, Evangelische Synoden und kirchliche Lehre. Der Schriftgebrauch bei synodalen Lehrentscheidungen; in: Verbindliches Zeugnis III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen, 221–246 Metzger Bruce M., Der Kanon des Neuen Testaments: Entstehung, Entwicklung, Bedeutung, Düsseldorf 1993 Mucha Robert, Ist die Schrift allein genug? Überlegungen zum sola scriptura aus katholischer Sicht; in: Neu hinsehen: Luther. Katholische Perspektiven – ökumenische Horizonte, hrsg. v. Stephan Mokry u.a., Paderborn u. Leipzig 2016, 74–91 Müller Hans Martin, Magno consensu docent … Zum Konsensusbegriff nach evangelischem Verständnis; in: KuD 28 (1982), 113–126 Niebuhr Karl-Wilhelm, Das Neue Testament als Schriftensammlung; in: Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, hrsg. v. Karl-Wilhelm Niebuhr, 4., durchges. Aufl., Göttingen u. Oakville 2011, 11–31 Niebuhr Karl-Wilhelm, Exegese im kanonischen Zusammenhang: Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons; in: The Biblical Canons (BEThL 163), hrsg. v. J.-M. Auwers u. H.J. de Jonge, Leuwen 2003, 557–584 Niebuhr Karl-Wilhelm, Jesus; in: Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, hrsg. v. Karl-Wilhelm Niebuhr, 4., durchges. Aufl., Göttingen u. Oakville 2011, 408–436 Niebuhr Karl-Wilhelm, Jesu Wirken, Weg und Geschick. Zum Ansatz einer Theologie des Neuen Testaments in ökumenischer Perspektive; in: Theologische Literaturzeitung 127 (2002), 3–22 Niebuhr Karl-Wilhelm, Schrift, Bekenntnis und Lehre aus der Perspektive des Neuen Testaments. Historisch-kritische Bibelexegese und Schriftprinzip; in: Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 25), hrsg. v. Peter Gemeinhardt u. Bernd Oberdorfer, Gütersloh 2008, 205–236 Niebuhr Karl-Wilhelm, Schriftauslegung in der Begegnung mit dem Evangelium; in: Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), hrsg. v. Friederike Nüssel, Tübingen 2014, 43–103 331
Niebuhr Karl-Wilhelm, Sola Scriptura und Communio Sanctorum. Zum Verhältnis von Schriftgemäßheit und Kirchengemeinschaft; in: ZNT 20 (2017), 127–141 Niemann Franz-Josef, Das Verhältnis von Theologie und Lehramt. Übereinstimmungen, Unterschiede und Annäherungen zwischen evangelischer und katholischer Auffassung; in: Stimmen der Zeit 126 (2001), 17–29 Oberdorfer Bernd, Das reformatorische Schriftprinzip. Historische und gegenwärtige Perspektiven; in: Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche, hrsg. v. Wilhem Damberg u.a., Freiburg 2015, 70–82 Oberdorfer Bernd, Die Bibel als Offenbarungszeugnis und Geschichtsdokument. Theologische Hermeneutik angesichts der Herausforderung der Moderne; in: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Band III, hrsg. v. Hans Vilmar Geppert u. Hubert Zapf, Tübingen 2007, 235–255 Ökumenischer Dialog über „Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament“, Texte aus der VELKD Nr. 36, Hannover 1988, bzw. Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz Nr. 59, Bonn 1988 Optatam Totius. Über die Ausbildung der Priester; www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decree_19651028_optatam-totius_ge.html Pannenberg Wolfhart, Bleiben in der Wahrheit als Thema reformatorischer Theologie; in: Verbindliches Zeugnis II: Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption (DiKi 9), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen, 1995, 122–134 Pannenberg Wolfhart, Die Krise des Schriftprinzips; in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, 2., durchges. Aufl., Göttingen 1971, 11–21 Pannenberg Wolfhart, Überlegungen zum Problem der Bekenntnishermeneutik in den evangelischen Kirchen; in: KuD 41 (1995), 292–302 Pesch Otto Hermann, Schriftauslegung – kirchliche Lehre – Rezeption. Versuch einer Zusammenschau in Thesen; in: Verbindliches Zeugnis III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen, 1998, 261–287
332
Plathow Michael, Verbindliches Lehren und einender Konsens. Die Frage nach der Kanonizität des biblischen Kanons und nach der evangelischen Lehrgewalt, in: Una Sancta. Zeitschrift für ökumenische Begegnung (37) 1982, 117–132 Pöhlmann Horst Georg, Schrift und Wort Gottes; in: Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften, hrsg. v. Horst G. Pöhlmann u.a., Gütersloh 1996, 33–49 Preul Reiner, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin u. New York, 1997 Preul Reiner, Was bedeutet die kirchentheoretische These: Kirche wird durch Auslegung ihrer Lehre geleitet?; in: Profil – Bekenntnis – Identität. Was lutherische Kirchen prägt, hrsg. v. Klaus Grünwaldt u. Udo Hahn, Hannover 2003, 69–96 Preuß Horst Dietrich, Theologie des Alten Testaments, Bd. I+II, Stuttgart u.a. 1991 u. 1992 Räisänen Heikki, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, Stuttgart 2000 Ratzinger Joseph, Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs; in: Ders., Glaube in Schrift und Tradition. Zur Theologischen Prinzipienlehre. Erster Teilband (JRGS 9/1), Freiburg 2016, 391–412 Ratzinger Joseph, Einleitung/Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung; in: LThK.E II (1967), 498–528 Ratzinger Joseph, Offenbarung und Heilsgeschichte nach der Lehre des heiligen Bonaventura; in: Ders., Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras (JRGS 2), Freiburg 2009, 52–417 Ratzinger Joseph, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute; in: Raymond E. Brown, William H. Lazareth, George Lindbeck, Joseph Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit (Quaestiones disputatae 117), hrsg. v. Joseph Ratzinger, Freiburg 1989, 15–44 Ratzinger Joseph, Unterwegs zu Jesus Christus, Augsburg 2003
333
Reiser Marius, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (WUNT 217), Tübingen 2007 Reiser Marius, Die Autorität der Heiligen Schrift im Wandel der Zeiten. Studien zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, Fohren-Linden 2016 Rendtorff Rolf, Theologie des Alten Testaments, Bd. I+II, Neukirchen-Vluyn 1999 u. 2001 Roloff Jürgen, Der biblische Kanon als Orientierungsgröße neutestamentlicher Exegese; in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. Festschrift für Otto Merk zum 70. Geburtstag (Marburger Theologische Studien 76), hrsg. v. Roland Gebauer u. Martin Meiser, Marburg 2003, 235– 242 Roloff Jürgen, Die Apostolizität der Kirche und das kirchliche Amt nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift; in: Ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche. Aufsätze, hrsg. v. Martin Karrer, Göttingen 1990, 363–379 Roloff Jürgen, Die Geschichtlichkeit der Schrift und die Bezeugung des einen Evangeliums; in: Ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche. Aufsätze, hrsg. v. Martin Karrer, Göttingen 1990, 11–43 Roloff Jürgen, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993 Roloff Jürgen, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995 Roloff Jürgen, Jesus, München 2000 Roloff Jürgen, Schriftauslegung als theologische Aufgabe. Thesen zur Biblischen Hermeneutik; in: Die Freude an Gott – unsere Kraft. Festschrift für Otto Bernhard Knoch zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Johannes J. Degenhardt, Stuttgart 1991, 221–227 Rothen Bernhard, Die Klarheit der Schrift, Teil 1: Martin Luther. Die wiederentdeckten Grundlagen, Göttingen 1990 Sauter Gerhard, Kanon und Kirche; in: Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons (BZNW 118), hrsg. v. John Barton u. Michael Wolter, Berlin u. New York 2003, 239–259
334
Scharr Peter, Consensus fidelium. Zur Unfehlbarkeit der Kirche aus der Perspektive einer Konsenstheorie der Wahrheit (StSSth 6), Würzburg 1992 Schelkle Karl Hermann, Theologie des Neuen Testaments, Bde. I–IV, Düsseldorf 1968ff Schlier Heinrich, Über Sinn und Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments; in: Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (Wege der Forschung CCCLXVII), hrsg. v. Georg Strecker, Darmstadt 1975, 323–344 Schnackenburg Rudolf, Jesus Christus im Spiegel der vier Evangelien, Freiburg 1998 Schnackenburg Rudolf, Neutestamentliche Theologie, München 1965 Schnelle Udo, Die ersten hundert Jahre des Christentums 30–130 n.Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion, Göttingen u. Bristol 2015 Schnelle Udo, Sachgemäße Schriftauslegung; in: Novum Testamentum (30) 1988, 115–131 Schnelle Udo, Theologie des Neuen Testaments, 2., durchges. Aufl., Göttingen u. Bristol, 2014 Schnelle Udo, Theologie des Neuen Testaments, 3., neubearb. Aufl., Göttingen u. Bristol, 2016 Schrage Wolfgang, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testaments in der neueren Diskussion; in: Rechtfertigung. Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag; hrsg. v. Johannes Friedrich u.a., Göttingen u. Tübingen 1976, 415–442 Schreiner Josef, Theologie des Alten Testaments, Würzburg 1995 Schriftverständnis und Schriftgebrauch. Abschließender Bericht, Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen; in: Verbindliches Zeugnis III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen, 288–389 Schröter Jens, Der »erinnerte« Jesus: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung; in: Jesus Handbuch, hrsg. v. Jens Schröter u. Christine Jacobi unter Mitarbeit v. Lena Nogossek, Tübingen 2017, 112–124
335
Schröter Jens, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments; in: Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, hrsg. v. Cilliers Breytenbach u. Jörg Frey, Tübingen 2007, 135–158 Schröter Jens, „Die Kirche besitzt vier Evangelien, die Häresie viele.“ Die Entstehung des Neuen Testaments im Kontext der frühchristlichen Geschichte und Literatur, in: Bibel und Kirche 60 (2005), 68–74 Schröter Jens, Jesus und der Kanon. Die Jesusüberlieferung im Kontext der Entstehung des neutestamentlichen Kanons; in: BThZ.Beiheft 22,2 (2005), 181–201 Schröter Jens, Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 2001 Schröter Jens, Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig 2010 Schröter Jens, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments? Begründungsprobleme in der neutestamentlichen Wissenschaft; in: BThZ 16 (1999), 3–20 Schröter Jens, Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um den historischen Jesus; in: Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), hrsg. v. Jens Schröter u. Ralph Brucker, Berlin u. New York 2002, 163–212 Schröter Jens, Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons (WUNT 204), Tübingen 2007 Schröter Jens, Wahrer Mensch und wahrer Gott. Historisch-kritische Jesusforschung und christliches Bekenntnis (Themen der Theologie 9); in: Jesus Christus, hrsg. v. Jens Schröter, Tübingen 2014, 299–307 Schürmann Heinz, Auf der Suche nach dem „Evangelisch-Katholischen“. Zum Thema des „Frühkatholizismus“; in: Kontinuität und Einheit. Für Franz Mußner, hrsg. v. Paul-Gerhard Müller u. Werner Stenger, Freiburg u.a. 1981, 340–375 Schürmann Heinz, Bibelwissenschaft unter dem Wort Gottes. Eine selbstkritische Besinnung; in: Christus bezeugen. Festschrift für Wolfgang Trilling zum 65. Geburtstag (Erfurter Theologische Studien 59), hrsg. v. Karl Kertelge u.a., Leipzig 1989, 11–42 336
Schürmann Heinz, Jesu Basileia-Verkündigung und das christologische Kerygma als Mitte der Schrift; in: Ders., Wort Gottes und Schriftauslegung. Gesammelte Beiträge zur theologischen Mitte der Exegese, hrsg. v. Knut Backhaus, Paderborn u.a. 1998, 234–239 Schürmann Heinz, Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, hrsg. v. Klaus Scholtissek, Paderborn 1994 Schürmann Heinz, Thesen zur kirchlichen Schriftauslegung; in: Ders., Wort Gottes und Schriftauslegung. Gesammelte Beiträge zur theologischen Mitte der Exegese, hrsg. v. Knut Backhaus, Paderborn u.a. 1998, 44–46 Schulz Siegfried, Die Mitte der Schrift. Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als Herausforderung an den Protestantismus, Berlin 1976 Schwienhorst-Schönberger Ludger, Die Einheit der Schrift ist ihr geistiger Sinn; in: Bibel und Kirche 63 (2008), 179–183 Schwienhorst-Schönberger Ludger, Sola scriptura? Luthers Schriftverständnis aus katholischer Sicht; in: Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, hrsg. v. Christian Danz u. Jan-Heiner Tück, Freiburg 2017, 152–174 Schwöbel Christoph, Kirche als Communio; in: Marburger Jahrbuch Theologie VIII. Kirche (Marburger Theologische Studien 44), hrsg. v. Wilfried Härle u. Reiner Preul, Marburg 1996, 11–46 Seckler Max, Über die Problematik des biblischen Kanons und die Bedeutung seiner Wiederentdeckung; in: ThQ 180 (2000), 30–53 Söding Thomas, Der Kanon des Alten und Neuen Testaments. Zur Frage nach seinem theologischen Anspruch; in: The Biblical Canons (BEThL 163), hrsg. v. J.-M. Auwers u. H.J. de Jonge, Leuwen 2003, XLVII–LXXXVIII Söding Thomas, Die Einheit des Zeugnisses in der Vielfalt der Zeugen. Eine neutestamentliche Perspektive; in: Catholica 60 (2006), 163–183 Söding Thomas, Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons (Quaestiones disputatae 211), Freiburg 2005
337
Söding Thomas, Entwürfe Biblischer Theologie in der Gegenwart – eine neutestamentliche Standortbestimmung, in: Hans Hübner, Bernd Jaspert, Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart (BThSt38), Neukirchen-Vluyn 1999, 41–103 Söding Thomas, Gott spricht – wer hört zu? Auf dem Weg zu einer biblischen Theologie des Wortes Gottes; in: Glaube und Gemeinschaft. Autorität und Rezeption in der Kirche, hrsg. v. Markus Knapp u. Thomas Söding, Freiburg 2014, 109–129 Söding Thomas, Inmitten der Theologie des Neuen Testaments: Zu den Voraussetzungen und Zielen neutestamentlicher Exegese; in: New Testament Studies 42 (1996), 161–184 Söding Thomas, „Mitte der Schrift“ – „Einheit der Schrift“. Grundsätzliche Erwägungen zur Schrifthermeneutik; in: Verbindliches Zeugnis III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen, 43–82 Söding Thomas, Schriftgemäße Theologie? Überlegungen zu einem Postulat des Zweiten Vatikanum; in: ThPh 92 (2017), 509–534 Söding Thomas, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament, unter Mitarbeit von Christian Münch, Freiburg 1998 Söding Thomas, Wissenschaftliche und kirchliche Schriftauslegung. Hermeneutische Überlegungen zur Verbindlichkeit der Heiligen Schrift; in: Verbindliches Zeugnis II: Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption (DiKi 9), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen, 72–122 Söding Thomas, Zugang zur Heiligen Schrift. Der Ort der historisch-kritischen Exegese im Leben der Kirche; in: Geist und Leben 195 (1993), 47–70 Spieckermann Hermann, Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments, Tübingen 2001 Steins Georg, Der Bibelkanon als Denkmal und Text. Zu einigen methodologischen Aspekten kanonischer Schriftauslegung; in: The Biblical Canons (BEThL 163), hrsg. v. J.-M. Auwers u. H.J. de Jonge, Leuwen 2003, 177–198
338
Steins Georg, Der Kanon ist der erste Kontext, oder: Zurück an den Anfang!; in: Bibel und Kirche 62 (2007), 116–121 Steins Georg, Die Bibel als „Ein Buch“ lesen? Eine innerbiblische Lektüreanleitung; in: Verantwortete Exegese. Hermeneutische Zugänge – Exegetische Studien – Systematische Reflexionen – Ökumenische Perspektiven – Praktische Konkretionen. Franz Georg Untergaßmair zum 65. Geburtstag (Vechtaer Beiträge zur Theologie 13); hrsg. v. Gerhard Hotze u. Egon Spiegel, Berlin 2006, 69–78 Steins Georg, Kanon und Anamnese. Auf dem Weg zu einer Neuen Biblischen Theologie; in: Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, hrsg. v. Egbert Ballhorn u. Georg Steins, Stuttgart 2007, 110–129 Stemmer Peter, Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1983 Stengel Friedemann, Sola scriptura im Kontext. Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips (ThLZ.F 32[2016]), Leipzig 2016 Strathmann Hermann, Die Krisis des Kanons der Kirche; in: Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, hrsg. v. Ernst Käsemann, Göttingen 1970, 41–61 Strecker Georg, Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. u. hrsg. v. Friedrich Wilhelm Horn, Berlin u. New York 1996 Stuhlmacher Peter, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I+II, Göttingen 1992 u. 1999 Stuhlmacher Peter, Der Kanon und seine Auslegung; in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW 86), hrsg. v. Christof Landmesser u.a., Berlin u. New York 1997, 263–290 Stuhlmacher Peter, Die Mitte der Schrift – biblisch-theologisch betrachtet; in: Wissenschaft und Kirche. Festschrift für Eduard Lohse (Texte und Arbeiten zur Bibel 4), hrsg. v. Kurt Aland u. Siegfried Meurer, Bielefeld 1989, 29–56
339
Stuhlmacher Peter: Die Tübinger Biblische Theologie des Neuen Testaments – ein Rückblick; in: ThBeitr 48 (2017), 76–91 Stuhlmacher Peter, Erfahrungen mit der Biblischen Theologie; in: Ders., Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze (WUNT 146), Tübingen 2002, 3–22 Stuhlmacher Peter, Vom richtigen Umgang mit der Bibel; in: Ders., Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze (WUNT 146), Tübingen 2002, 233–250 Stuhlmacher Peter, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (Grundrisse zum Neuen Testament. NTD Ergänzungsreihe 6), 2., neubearb. u. erw. Aufl., Göttingen 1986 Taschner Johannes, Kanonische Bibelauslegung – Spiel ohne Grenzen?; in: Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, hrsg. v. Egbert Ballhorn u. Georg Steins, Stuttgart 2007, 31–44 Theißen Gerd, Das Neue Testament, München 2002 Theißen Gerd, Die Einheit der Kirche. Kohärenz und Differenz im Urchristentum; in: Zeitschrift für Mission 20 (1994), 70–86 Theißen Gerd, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 40), Heidelberg 2007 Theißen Gerd, Sola Scriptura – Grundlage für Konsens und Individualisierung des Glaubens?; in: ZNT 20 (2017), 195–211 Theißen Gerd, Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? Kanonizität als literaturgeschichtliches Problem; in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, hrsg. v. Eve-Marie Becker u. Stefan Scholz, Berlin u. Boston 2012, 423–447 Thiede Werner, Evangelische Kirche – Schiff ohne Kompass? Impulse für eine neue Kursbestimmung, Darmstadt 2017
340
Thönissen Wolfgang, Theologie und Lehramt im Verständnis der römisch-katholischen Kirche. Auf dem Weg zu einer ökumenischen Verständigung; in: MdKI 52 (2001), 43–47 Thüsing Wilhelm, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus, Bde. I–III, Düsseldorf bzw. Münster 1981ff Thüsing Wilhelm, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments, Bd. II Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie, Münster 1998 Thüsing Wilhelm, Zwischen Jahweglaube und christologischem Dogma. Zu Position und Funktion der neutestamentlichen Exegese innerhalb der Theologie; in: Ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie (WUNT 82), hrsg. v. Thomas Söding, Tübingen 1995, 3–22 Tilly Michael u. Zwickel Wolfgang, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt 2011 Trobisch David, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg Schweiz u. Göttingen, 1996 Unabhängige Theologie. Gefahr für Glaube und Kirche?, hrsg. v. Benjamin Leven, Freiburg u.a. 2016 Urban Hans Jörg, Bekenntnis, Dogma, kirchliches Lehramt. Die Lehrautorität der Kirche in heutiger evangelischer Theologie (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 64. Abteilung abendländische Religionsgeschichte), Wiesbaden 1972 Verbindliches Zeugnis I: Kanon – Schrift – Tradition (DiKi 7), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen 1992 Verbindliches Zeugnis II: Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption (DiKi 9), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen 1995 Verbindliches Zeugnis III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen 1998
341
Voderholzer Rudolf, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung und Systematik christlicher Bibelhermeneutik (Sammlung Horizonte, Neue Folge 31), Einsiedeln 1998 Voderholzer Rudolf, Dogmatik im Geiste des Konzils. Die Dynamisierung der Lehre von den Loci theologici durch die Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“; in: Ders., Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 61–81 Voderholzer Rudolf, Offenbarung, Schrift und Kirche. Eine relecture von „Dei Verbum“ im Licht vorbereitender und rezipierender Texte Joseph Ratzingers; in: Ders., Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 82–102 Voderholzer Rudolf, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013 Vom Gebrauch der Bekenntnisse. Zur Frage der Auslegung von Bekenntnissen der Kirche. Ein Beitrag der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD-Texte 53); hrsg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 1995 von Bendemann Reinhard, Die Fülle der Gnade – Neutestamentliche Christologie; in: Jesus Christus (Themen der Theologie Band 9), hrsg. v. Jens Schröter, Tübingen 2014, 71–118 von Campenhausen Hans Freiherr, Die Entstehung der christliche Bibel (Beiträge zur historischen Theologie 39), Tübingen 1968 von Lips Hermann, Der neutestamentliche Kanon. Seine Geschichte und Bedeutung (Zürcher Grundrisse zur Bibel), Zürich 2004 von Lips Hermann, Kanondebatten im 20. Jahrhundert; in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, hrsg. v. Eve-Marie Becker u. Stefan Scholz, Berlin u. Boston 2012, 109–125 von Rad, Gerhard, Theologie des Alten Testaments, Bd. I+II, München 1957 u. 1960 Vouga François, Une théologie du Nouveau Testament, Genf 2001
342
Wenz Gunther, Das Schriftprinzip im gegenwärtigen ökumenischen Dialog zwischen den Reformationskirchen und der römisch-katholischen Kirche. Eine Problemskizze; in: Ders., Grundfragen ökumenischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 91), Göttingen 1999, 93–107 Wenz Gunther, Die Kanonfrage als Problem ökumenischer Theologie; in: Verbindliches Zeugnis I: Kanon – Schrift – Tradition (DiKi 7), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen 1992, 232–288 Wenz Gunther, Geist. Zum pneumatologischen Prozess altkirchlicher Lehrentwicklung (Studium Systematische Theologie 6), Göttingen u. Oakville 2011 Wenz Gunther, Kanonbildung und Schriftverständnis in evangelischer Perspektive; in: Una Sancta. Zeitschrift für ökumenische Begegnung 44 (1989), 215–221 Wenz Gunther, Kerygma und Dogma. Erwägungen zum Verhältnis von Schrift, Tradition, Bekenntnis und Lehramt in der Perspektive Lutherischer Theologie; in: Ders., Grundfragen ökumenischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 91), Göttingen 1999, 108–144 Wenz Gunther, Kirche. Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht (Studium Systematische Theologie 3), Göttingen 2005 Wenz Gunther, Sola scriptura? Erwägungen zum reformatorischen Schriftprinzip, in: Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, hrsg. v. Jan Rohls u. Gunther Wenz, Göttingen 1988, 540–567 Wenz Gunther, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, Bd. I, Berlin u. New York 1996 Wenz Gunther, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, Bd. II, Berlin u. New York 1998 Wilckens Ulrich, Das historisch ausgelegte Neue Testament als Kanon Heiliger Schrift; in: Wissenschaft und Kirche. Festschrift für Eduard Lohse (Texte und Arbeiten zur Bibel 4), hrsg. v. Kurt Aland u. Siegfried Meurer, Bielefeld 1989, 13–28
343
Wilckens Ulrich, Schriftauslegung in historisch-kritischer Forschung und geistlicher Betrachtung; in: Verbindliches Zeugnis II: Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption (DiKi 9), hrsg. v. Wolfhart Pannenberg u. Theodor Schneider, Freiburg u. Göttingen, 13–71 Wilckens Ulrich, Theologie des Neuen Testaments, Bde. I,1–III, Neukirchen-Vluyn, 2002ff Wilckens Ulrich, Theologie des Neuen Testaments, Bd. III: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen u. Bristol 2017 Wischmeyer Oda, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion. Was die neutestamentliche Wissenschaft gegenwärtig hermeneutisch leisten kann, in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, hrsg. v. Eve-Marie Becker u. Stefan Scholz, Berlin u. Boston 2012, 623–677 Wrede William, Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie; in: Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (Wege der Forschung CCCLXVII), hrsg. v. Georg Strecker, Darmstadt 1975, 81–154
344