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German Pages 321 [324] Year 2012
Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte
bibliothek altes Reich baR Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal
Band 7
Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte
Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst
Oldenbourg Verlag München 2013
Für die Förderung einer Tagung „Der imperiale Faktor in der jüdischen Lokalgeschichte“ am 19./20. Oktober im Alois-Alzheimer-Geburtshaus Marktbreit sowie der Drucklegung dieses Bandes danken wir der Lilly Deutschland GmbH, der Stadt Marktbreit, der jenacon foundation gGmbH und dem Bezirk Mittelfranken.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: hauser lacour, www.hauserlacour.de. Umschlagbild: Thoraschild aus Kitzingen von 1776. Aus: Bilder des Reiches, hg. von Rainer A. Müller, Sigmaringen 1997, S. 250. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISBN 978-3-486-70251-4 e-ISBN 978-3-486-72067-9
Inhaltsverzeichnis Erinnerungen an Gerhard Rechter (1951–2012) . . . . . . . . . . . .
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Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann, Stephan Wendehorst Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte: Eine thematische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Juden im Alten Reich – Lokale Korporation oder translokale Minderheit? Rainer S. Elkar Die Juden und das Silber. Eine Studie zum Spannungsverhältnis zwischen Reichsrecht und Wirtschaftspraxis im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Härter Jüdische Migrationen im frühneuzeitlichen Alten Reich: Rechtliche Rahmenbedingungen, Geleit und Rechtsnutzung . . .
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Vera Kallenberg Der Streit um den ,Judenpurschen‘: Interagierende Herrschaftsund Handlungsräume in der deutsch-jüdischen Geschichte Hessen-Kassels und der Reichsritterschaft der Freiherrn von Thüngen um 1800. Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Judenschaften im Kontext politischer Räume Ursula Reuter Zwischen Reichsstadt, Bischof, Kurpfalz und Kaiser. Zur Geschichte der Wormser Juden und ihrer Schutzherren im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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J. Friedrich Battenberg Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal zwischen Reich und Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerhard Rechter (†) Judenschutz als reichsritterschaftliche Statuspolitik. Die Familien Crailsheim und Seckendorff als Fallbeispiele . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
3. Die Integrationskraft der Reichsgerichte als Faktor jüdischer Lokalgeschichte André Griemert Zwischen Krieg und Frieden – Jüdische Prozesse am Reichshofrat unter Ferdinand III. . . . . . .
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Thomas Lau Die Integrationskraft des Streits – Buchaus Juden vor dem Reichshofrat . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefan Ehrenpreis Jüdische Ansiedlungen, lokale Konflikte und imperiales Rechtssystem. Der Synagogenbau in Bruck bei Nürnberg 1706–1717 . . . . . . .
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Verena Kasper-Marienberg Zwischen Magistrat und Kaiser − rechtliche Handlungsspielräume der Frankfurter Jüdischen Gemeinde am Ende des 18. Jahrhunderts 263 Anette Baumann Freies Wohnrecht für Juden? Ein Hamburger Fall vor dem Reichskammergericht im Zeitalter der Französischen Revolution .
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Stephan Wendehorst Die Feudi Imperiali: Eine versteckte Seite der Geschichte der Juden im Italien der Frühen Neuzeit? . . . . . . . . . . . . . .
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Erinnerungen an Gerhard Rechter (1951–2012) Während der Abschlussarbeiten an diesem Band erreichte uns die Nachricht, dass unser Autor, Mitstreiter, Kollege und Freund Dr. Gerhard Rechter, leitender Direktor des Staatsarchivs Nürnberg, am 22. Juni 2012 verstarb. Mit Gerhard Rechter verliert das Projektcluster „Jüdisches Heiliges Römisches Reich“ einen profilierten außeruniversitären Experten, der von der fränkischen Landesgeschichte her Interesse an der Jüdischen Geschichte gefunden hatte. Ursprünglich war er eher der mittelalterlichen Geschichte verpflichtet, die er in Verbindung mit der Landesgeschichte in Erlangen intensiv studiert hatte. Eine mögliche wissenschaftliche Karriere schlug er aus, was wohl auch einer gewissen Distanz zur wissenschaftlichen Theoriearbeit geschuldet war. Stattdessen ging er in den staatlichen Archivdienst, was seiner Lust am Umgang mit den historischen Quellen eher entsprach, und war dort überaus erfolgreich. Nach seiner Dissertation zu den mittelfränkischen Besitzungen des Deutschen Ordens an der Zenn ist er vor allem durch sein umfangreiches Werk zur Familien- und Besitzgeschichte der von Seckendorff bekannt geworden. In seiner beruflichen Tätigkeit als Archivar widmete er sich vor allem intensiv der Beständeerschließung, einer wichtigen Dienstleistung für die Forschung. Noch vor kurzem konnte er die Rückführung des fränkischen Teils des Schwarzenbergischen Archivs nach Nürnberg feiern. In den letzten zehn Jahren hatte er die Beständebereinigung zwischen den fränkischen Staatsarchiven durchzuführen, hielt aber auch Kontakt mit den vielen gut geführten Kommunalarchiven und privaten Adelsarchiven der Region. Es spricht für sein Gespür, dass er die Kolleginnen und Kollegen dieser fränkischen Archive regelmäßig in zwangloser Runde zusammen zu bringen vermochte. Viele Benutzer des Staatsarchivs Nürnberg profitierten von seinen Kontakten, die er gerne für die gemeinsame Sache einsetzte. Legendär ist seine unbürokratische Hilfsbereitschaft bei Benutzungsschwierigkeiten, wie er generell nicht zu den Archivaren gehörte, die die Archivbesucher als lästig empfinden. Zu den geschichtswissenschaftlichen Instituten der regionalen Universitäten hielt er enge Verbindung, viele Landeshistoriker traf er in der Gesellschaft für fränkische Geschichtsforschung. Als seine Aufgabe sah er nicht nur die Überlieferungssicherung an. Seine beeindruckende Produktivität führte zu einer ungeheuren Menge an Publikationen zur fränkischen Geschichte, zuletzt ein Häuserbuch zur nürnbergischreichsstädtischen Exklave Lichtenau bei Ansbach. Als Schüler Alfred Wendehorsts war er wie kaum ein Zweiter in der Welt der fränkischen Geschichte zuhause und engagierte sich in zahlreichen Historischen Vereinen und wissenschaftlichen Gremien. Als Staatsarchivar, aber auch als Wissenschaftler legte er großen Wert auf die Präsentation historischer Erkenntnisse in der Öffent-
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Erinnerungen an Gerhard Rechter (1951–2012)
lichkeit. Für den Historischen Verein Mittelfranken organisierte er Vorträge und Exkursionen, war sich aber auch selbst nicht zu schade, bei kleinen lokalgeschichtlichen Veranstaltungen auf dem Lande als Gastredner aufzutreten. In der wissenschaftlichen Arbeit unseres Projektclusters bildeten seine Kenntnisse und seine Arbeitskraft einen wesentlichen Eckstein für die Erforschung der Untersuchungsregion Franken, die mit ihrer reichhaltigen frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte und Kultur fasziniert. Gerhard Rechter hat auf Tagungen in Marktbreit und Wien eigene Forschungsbeiträge geleistet, die er zukünftig mittels Erschließungsarbeiten an den Akten des Fränkischen Kreises ergänzen wollte. Ein früherer Aufsatz beschäftigte sich mit der bayerischen Judenmatrikel im 19. Jahrhundert. Sein Text im vorliegenden Band ist eine Frucht jahrelanger Beschäftigung mit der Quellenüberlieferung fränkischer reichsritterschaftlicher Familien. Bei den Sommerschulen 2009 und 2011 unseres Projektclusters am Jüdischen Museum Franken in Fürth unterrichtete er gut besuchte Quellenkurse. Seine schwere Erkrankung zwang ihn in diesem Frühjahr zur Absage seiner Mitarbeit an der im Juli 2012 gemeinsam mit der Hebrew University veranstalteten Sommerschule in Jerusalem. Dies tat ihm besonders leid, weil er sich auf einen Besuch in Israel sehr gefreut hatte. Noch wenige Wochen vor seinem Tod konnte man ihn bei einer Tagung in Ansbach voller Hoffnung erleben, eine schwere Operation überstanden zu haben und seinen Dienst bald wieder in vollem Umfang aufnehmen zu können. „Komm doch mal wieder auf einen Kaffee im Dienstzimmer vorbei“, sagte er zum Abschied. Niemand ahnte, dass dies nicht mehr möglich sein würde. Gerhard Rechter war ein Franke mit Ecken und Kanten, großem Humor, lebhafter Geselligkeit und wachem Geist. So werden wir ihn in Erinnerung behalten. Seine Beiträge und seine Persönlichkeit werden uns fehlen. Die Herausgeber
Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann, Stephan Wendehorst
Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte: Eine thematische Einführung Die Juden im frühneuzeitlichen Alten Reich lebten in Städten und Dörfern, deren politische und soziale Strukturen regional durch territoriale Obrigkeiten und lokal durch die Gemeinden der christlichen Mehrheitsgesellschaft bestimmt waren. Den politisch-rechtlichen Rahmen ihrer Herrschaftsordnung konnten die jeweiligen Obrigkeiten allerdings nicht frei wählen, sondern er war ihnen durch Reichsrecht vorgegeben sowie durch zahlreiche Detailbeschlüsse von Reichsinstitutionen (vor allem Reichstag und Reichsgerichte) ausgefüllt. Dies hatte unmittelbar Folgen für die Lebensbedingungen von Juden in lokalen Kontexten: die für sie geltenden Rechte und Ordnungen wurden in der politischen Kommunikation zwischen Kaiser und Reichsständen in den politischen Aushandlungsprozess einbezogen und durch rechtsetzende Entscheidungen der Reichsgerichte beeinflusst. In der aktuellen Forschungssituation stellen sich aber nach wie vor zwei große Probleme: – die Situation der Juden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im europäischen Vergleich zu beurteilen – Gefahren und Chancen für Juden in der politischen Umwelt protonationaler Reiche im diachronen Vergleich mit denen in modernen Nationalstaaten herauszuarbeiten Um beide Fragen beantworten zu können, muss der besondere Charakter der Herrschafts-, Rechts- und Kommunikationsbeziehungen im Reich in die Analyse einbezogen werden. Die jüdischen Lebensbedingungen waren durch familiäre, wirtschaftliche und religiöse translokale Bindungen und Beziehungen charakterisiert, die in Spannung zu örtlichen Traditionen und Herrschaftsverhältnissen standen. Bei Konflikten wandten sich jüdische Gemeinden und Einzelpersonen daher an die übergeordneten Instanzen des Reiches oder suchten den Schutz von territorialen Gewalten, die ihnen in Interessenkoalitionen verbunden waren. Der Band versammelt Beispiele, die Rahmenbedingungen, politische Kommunikation und soziale Praktiken sowie individuelle Handlungsspielräume solcher Beziehungsgeflechte in der Frühen Neuzeit verdeutlichen.
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Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann, Stephan Wendehorst
I. Das Bild des Alten Reiches zwischen Nationalismus-, Kultur- und Imperienforschung Seit der Wende zum 21. Jahrhundert machen sich Tendenzen bemerkbar, die Sicht des Alten Reiches einer gewandelten Perspektive auf die Deutsche und Europäische Geschichte anzupassen. Wesentliche Veränderungen gingen von der Infragestellung älterer Interpretationsschemata aus, die seit den 1970er Jahren die Forschung beherrscht hatten: die Interpretation des Reiches als Antithese zum französischen Absolutismus verlor an Wert, als der Absolutismusbegriff in Frage gestellt wurde. Die besondere Betonung der Sozialdisziplinierung als Grundcharakteristikum frühmoderner Gesellschaften machte dem Blick auf andere soziale und kulturelle Praktiken Platz. Die Idee, frühneuzeitliche Herrschaft als Aushandlungsmechanismus zu begreifen, zerstörte gängige Sichtweisen auf Entwicklungsstufen staatlicher Gewalt. Von einer jüngeren Gruppe von Reichshistorikern wie Georg Schmidt, Barbara Stollberg-Rilinger, Horst Carl u. a. wurden zwei neue Interpretationen angeboten: einmal die von der „Jenarer Schule“ vertretene These vom Reich als komplementären „Reichs-Staat“, der die frühneuzeitliche politische Staatsform der Deutschen gewesen und dessen Staatlichkeit zwischen Reichsebene und Territorien verteilt gewesen sei. Der „Reichs-Staat“ repräsentierte die föderal verfasste Nation der Deutschen, deren Nationsbewusstsein durchaus dem anderer europäischer Nationen ähnelte. In der Diskussion dieser These griffen Kritiker wieder auf den älteren, aus der Reichsforschung der 1970er Jahre stammenden Begriff des „Reichssystems“ zurück und bezeichneten den Charakter des Reiches als lediglich halbstaatlich, teilmodernisiert und vornational.1 Eine zweite, in den letzten sechs Jahren entstandene Richtung von Barbara Stollberg-Rilinger und einer Forschungsgruppe an der Universität Münster verfolgt eine kulturalistische Interpretation politischer Herrschaft im Alten Reich, in der symbolische Handlungen und Rituale politische Gemeinschaft stifteten und hierarchische Ordnung herstellten. Das „Reich“ war im wesentlichen ein politischer Verband mit immer wieder aktuell herzustellenden, auf Konsens abzielenden Aushandlungsmechanismen. Zielte die These vom „komplementären Reichs-Staat“ auf eine Annäherung der Reichgeschichte an den nationalstaatlich begriffenen europäischen „Normalfall“, betont die zweite 1
Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, München 1999, sowie ders., Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und föderative Nation, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 371–399. Vgl. zur Kritik Heinz Schilling, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 377–395; Wolfgang Reinhard, Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum. Die Entstehung des modernen Staates und das Alte Reich, in: ZHF 29 (2002), S. 339–357. Vgl. zur britischen Sicht auf die deutsche historiographische Diskussion Peter H. Wilson, Still a Monstrosity? Some Reflections on Early Modern German Statehood, in: Historical Journal 49 (2006), S. 565–576.
Eine thematische Einführung
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Richtung mehr die Eigenarten der als vormodern und transnational charakterisierten Reichsverfassungsstruktur, die mit keiner anderen frühneuzeitlichen Staatsform vergleichbar sei.2 Unser eigener Ansatz speist sich aus Überlegungen einer dritten Perspektive, die seit wenigen Jahren vor allem im angelsächsischen Raum diskutiert wird: es geht um die Interpretation des Reiches als Imperium nach den Kriterien der neueren Imperienforschung. Diese Interpretationsrichtung setzt an der Beobachtung an, dass viele frühneuzeitliche Staaten Europas imperiale Strukturen hatten oder „composite states“ waren und daher die politische Struktur des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zeitgenössisch keineswegs ungewöhnlich war. Probleme im Verhältnis von Zentrum und Reichsteilen, von politischer Integration und Kommunikation, von Herstellung und Wandel imperialer Ideologien und Selbstbilder, vom Wandel von Funktionseliten und Privilegiensystemen waren in unterschiedlichen politischen Kulturen des frühneuzeitlichen Europa alltäglich.3 Der frühneuzeitliche Staat war in hohem Maße fragmentiert, umfasste unterschiedliche Rechtsräume und korporativ verfasste Rechtsgemeinschaften. Vom nationalen Anstaltsstaat des späteren 19. Jahrhundert waren alle noch weit entfernt. Für das Reich ist eine solche Betonung imperialer Elemente jüngst von Joachim Whaley in den Mittelpunkt einer großen Gesamtdarstellung der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches gestellt worden.4 Whaley fragt nach den Kontinuitäten der Verfassungsdebatten, nach Integrationspraktiken und politischer Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen des politischen Raumes und nach den Beiträgen durch unterschiedliche Institutionen und Akteure. Er bezieht sich durchaus auf die o.g. Untersuchungen der Jenaer 2
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Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008; vgl. auch dies., Das heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2009. Die kulturalistische Sicht wurde jüngst pointiert zusammengefasst von André Krischer, New Directions in the Study of the Holy Roman Empire – a Cultural Approach, in: Jason Philip Coy/ Benjamin Marschke/David Warren Sabean (Hgg.), The Holy Roman Empire, Reconsidered, New York 2010, S. 265–270. Vgl. beispielsweise Linda Colley, Britons. Forging the Nation 1707–1837, London 1996. Für die Perspektive der Imperienforschung einflussreich ist David Armitage (Hg.), Theories of Empire, 1450–1800, Aldershot 1998, und John H. Elliott, Empires of the Atlantic World. Britain and Spain in America 1492–1830, New Haven 2006, hier besonders S. 29– 56, sowie Kathleen Wilson, Introduction: Histories, Empires, Modernities, in: dies. (Hg.), A New Imperial History. Culture, Identity and Modernity in Britain and the Empire, 1660– 1840, Cambridge 2004, S. 1–26, und Linda Colley, The Difficulties of Empire: Present, Past and Future, in: Historical Research 79 (2006), S. 367–382. Zu Fragestellungen der Imperienforschung für Mittel- und Osteuropa siehe Larry Wolff, Venice and the Slavs. The Discovery of Dalmatia in the Age of Enlightenment, Stanford 2001, der von einem „venetian empire“ spricht, und Stephan Wendehorst, Art. „Reich“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 873–888. Zur Frage der Herausbildung einer frühneuzeitlichen imperialen Ideologie und ihrer Verwurzelung in der staatlichen Praxis vgl. David Armitage, The Ideological Origins oft he British Empire, Cambridge 2000. Joachim Whaley, Germany and the Holy Roman Empire, 2 Bde., Oxford 2011.
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Forschungsgruppe und führt die Entstehung eines deutschen Nationalgedankens im Humanismus und seine Weiterentwicklung im kulturellen Leben des 17. Jahrhunderts an, die in die Diskussionen um die politische Nation im 18. Jahrhundert mündeten. Die Aufmerksamkeit für Faktoren des inneren Zusammenhalts erschöpft sich jedoch nicht im Verweis auf Identitätsfragen, sondern er benennt zwei Hauptkomponenten imperialer Herrschaftspraxis: zum einen die Bedrohungen von außen, die das Reich zwischen dem späten 15. und der Mitte des 18. Jahrhunderts zu Gemeinsamkeit und Reformen zwang. Kaiserhof und Reichsstände arbeiteten in Verteidigungsfragen besser zusammen als in jedem anderen Politikfeld. Die zweite wichtige Tendenz sieht Whaley in der Tätigkeit der Reichsgerichte und der Zusammenarbeit der Kreise, letzteres vor allem im Ausbau der Infrastruktur, in der Organisation der Reichsarmee oder der Nahrungsmittelversorgung. Die gesamte Geschichte des Heiligen Römischen Reiches lässt sich als Diskursgeschichte über Integrationsmaßnahmen und Reformbemühungen schreiben. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass er neben den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in den Territorien der Regierungspolitik und Herrschaftspraxis der kaiserlichen Zentrale einen hohen Stellenwert einräumt und den institutionellen Apparat des Reiches als einen wesentlichen Integrationsfaktor in Rechnung stellt. Damit wird auch den kaiserlichen Eingriffsrechten und der Tätigkeit der Reichsgerichte zum Schutz jüdischer Gemeinden und Einzelpersonen keine Sonderfunktion zugeschrieben, sie waren vielmehr an einer Korporation vollzogener Rechtsschutz wie ihn andere auch erhielten. Hier wird die Bedeutung und Ausgestaltung von Gruppenzugehörigkeiten im Imperium jenseits des modernen Nationalstaats deutlich.5 Allerdings ist aus der älteren Reichsforschung ein Phänomen hinlänglich bekannt, dass das heilige Römische Reich wohl von anderen europäischen Staaten unterscheidet: Im Reich existierten extremere Formen der aus der Entwicklung des Lehnswesen stammenden Überlappungen an herrschaftlichen und personenrechtlichen Zugriffen auf Untertanen bzw. Grundholden als in anderen europäischen Ländern. Dies war eine Folge der ungewöhnlichen Kleinräumigkeit von Herrschaftsstrukturen, wie sie sich etwa in Franken und Schwaben entwickelt hatten. Unser Band zeigt an einzelnen Beispielen auf, wie sich konkurrierende Ansprüche auf Herrschaft über Land und Leute auf Juden auswirkten.
II. Das Konzept der „Zwischenräume“ und die jüdische Geschichte Den Fokus auf das Heiligen Römischen Reiches als Imperium zu legen ermöglicht inhaltlich den Vergleich mit anderen Fällen europäischer politischer 5
Wendehorst, Art. „Reich“, Sp. 886 f.
Eine thematische Einführung
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Kultur und Staatlichkeit. Methodisch erlaubt dies die Anwendung des Instrumentariums der Imperienforschung, unabhängig von den Unterschieden zwischen kontinentalen und überseeischen Imperien. Die für frühneuzeitliche Imperien typischen pluralen Rechtsräume, unterschiedliche korporativen Zugehörigkeiten und mehrfache Teilidentitäten lassen sich auf die jüdisch-mitteleuropäische Geschichte anwenden, ohne für eine soziale Gruppe Binnen- und Außenbeziehungen streng unterscheiden zu müssen. Die Verschränkung jüdischen Lebens mit rechtlichen, ökonomischen und sozialen Beziehungen in der christlich bestimmten Gesellschaft des Reiches ist seit ca. 15 Jahren ein beherrschendes Untersuchungsfeld der Forschung.6 Gleichwohl bleibt ein forschungspragmatisches Festhalten an politisch-geographischen Räumen kennzeichnend, das unbedingt durch ein europäisch-vergleichendes Vorgehen ergänzt werden muss.7 Der Vorschlag Jonathan Israels, mit Bezug auf die Jüdische Geschichte besondere Epochen in der europäischen Geschichte zu konstruieren, ist noch solitär.8 Ein Abgehen von der Analyse politisch oder landschaftlich definierter Einheiten und die Ersetzung durch strukturvergleichende Modelle setzt einen methodisch anderen Raumbegriff voraus. Es ist daher ein kulturalistischrelationaler Raumbegriff notwendig geworden, der unterschiedliche Ebenen von Rechtskultur, Zugehörigkeiten, sozialen Praktiken von Herrschaft u. a.m. berücksichtigt. Was leistet ein solcher kulturalistischer Raumbegriff für die Jüdische Geschichte im Heiligen Römischen Reich unter Berücksichtigung allgemein-europäischer Strukturvergleiche?9 6
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Als Anstoß war besonders wichtig Ronnie Po-Chia Hsia/Hartmut Lehmann (Hg.), In and out of the Ghetto: Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany, New York 1995. Vgl. seitdem beispielsweise (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995; Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hgg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der frühen Neuzeit, Berlin 1999: Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999; Birgit Klein, Wohltat und Hochverrat: Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich, Hildesheim 2003; Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hgg.), Hofjuden und Landjuden: Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin 2004; Herbert Obenaus (Hg.), Landjudentum in Nordwestdeutschland, Hannover 2005; Rolf Kießling/Peter Rauscher/Stefan Rohrbacher/Barbara Staudinger (Hgg.), Räume und Wege: Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800 (Colloquia Augustana 25), Berlin 2007; Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008. Erste Ansätze hierzu bei J. Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 2 Bde., Darmstadt 2000; Stefan Litt, Geschichte der Juden in Mitteleuropa, Darmstadt 2009, S. 1–36. Zum Vergleich mit der jüdischen Geschichte in Polen-Litauen vgl. die Beiträge in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa 75 (2008), Heft 1, und Gershon David Hundert, Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century. A Genealogy of Modernity, Berkeley 2004. Jonathan Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism, 3. Aufl. London 1998. Vgl. jetzt auch die Überlegungen von Sabine Ullmann, Regionalgeschichte und jüdische Geschichte der Frühen Neuzeit in interdisziplinärer Perspektive, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 28 (2010), S. 17–36.
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Das frühneuzeitliche Heilige Römisch Reich war durch ein ständig neu auszutarierendes Neben-, Mit- und Gegeneinander verschiedenster horizontal und vertikal verlaufender Ebenen der Herrschaft und des Rechts gekennzeichnet. Auch das religiöse Feld war nicht einheitlich, sondern durch die Konkurrenz von konfessioneller Homogenität und Religionspluralität gekennzeichnet. In sozialgeschichtlicher Hinsicht war das Reich als hierarchische Stände- sowie als Gruppengesellschaft organisiert. Das Reich ist daher weniger als gegebene politische, rechtliche und soziale Ordnung zu sehen, sondern als System, dessen spezifische Handlungsspielräume und Blockaden sich relational als je nach Konstellation größere bzw. kleinere Zwischenräume aus dem dynamischen Zusammenspiel bzw. der Paralyse mehrerer Faktoren erklären. Die Inhaber von Herrschaftsrechten, vom Kaiser bis hin zum Reichsritter, aber auch Untertanen und Angehörige außerständischer Gruppen zählten einerseits zu den Faktoren, die diese Zwischenräume konstituierten und gleichzeitig zu den Akteuren, die sie als Handlungsspielräume nutzten. Ein solcher „Zwischenraum“ entwickelte sich seit dem späten Mittelalter auch für die Juden. Grundlagen waren die kaiserliche Kammerknechtschaft, das Judenregal, eine gewisse Duldung der Religion, die Gemeindeautonomie und die Möglichkeit die Institutionen, Kommunikationsmöglichkeiten, Rechte und Herrschaftsinhaber des Reiches für die Existenzsicherung und Verfolgung eigener Interessen zu nutzen.10 Jüdische Zwischenräume waren folglich durch unterschiedliche potentielle Handlungsmöglichkeiten gekennzeichnet, welche Juden im Rahmen des Reichs etablierten, modifizierten und nutzten. Zwischenräume und Handlungsmöglichkeiten blieben jedoch an die imperiale Struktur des Reichs gebunden und insofern immer prekär, begrenzt und wechselnden Konstellationen unterworfen.
III. Der Beitrag der jüdischen Lokalgeschichte Für den Nachweis der Bedeutung solcher „Zwischenräume“ und ihrer Charakteristika setzt der vorliegende Band an kleinen Untersuchungseinheiten an, um deren Verschränktheit mit den imperialen Strukturen aufzuzeigen. An Studien zur lokalen Geschichte der Juden im Reich herrscht kein Mangel, es geht uns aber um den methodischen Zugang.11 10
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Vgl. J. Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: HZ 245 (1987), S. 545–599. Vgl. etwa zur anspruchsvollen neueren Lokalgeschichte jüdischen Lebens im Reich Fritz Backhaus/Gisela Engel/Robert Liberles/Margarete Schlüter (Hgg.), Die Frankfurter Judengasse: Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2005; Bernd-Wilhelm Linnemeier, Jüdisches Leben im Alten Reich. Stadt und Fürstentum Minden in der frühen Neuzeit, Bielefeld 2002; Jörg Deventer, Das Abseits als sicherer Ort? Jüdische Min-
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Unser Band schließt sich in mehrfacher Hinsicht eigenen und fremden Vorarbeiten an: Zum einen wird erneut den Rechtsverhältnissen, unter denen Juden lebten und die sie selbst auch für sich funktionalisieren konnten, hohe Aufmerksamkeit geschenkt.12 Dies gilt auch für die vielen Beiträgen zu Grunde liegenden Quellenbasis aus dem Bereich der Gesetzgebung und des Ordnungsrechts bzw. gerichtlicher Prozessakten. Die hier versammelten Texte konfrontieren konsequent die unterschiedlichen lokalen Lebensbedingungen von Juden mit translokalen Kontexten der imperialen Ebene, insbesondere bei Konflikten um die rechtliche Stellung von jüdischen Gemeinden und Einzelpersonen. Die imperiale Dimension wird sowohl in den Reichsstädten als auch in der ländlichen Gesellschaft der Territorien deutlich und gehört zu den Charakteristika der politisch-sozialen Welt des frühneuzeitlichen Judentums im Reich. Der erste Teil fragt nach den Verkoppelung jüdischer und christlicher politischer, ökonomischer und sozialer Praktiken und den Formen korporativer Verfasstheit von Juden. Am Beitrag Elkar ist zu sehen, dass auch in einem kleinen Territorium wie der Grafschaft Wertheim Juden als Funktionselite zu finden sind, auch wenn diese keineswegs an größeren Wirtschaftsunternehmungen Anteil hatten. Karl Härter weist in seinem Beitrag auf die Verunsicherung der Obrigkeiten durch migrierende Juden hin, die sich der korporativen Verfasstheit der jüdischen Gemeinden entzogen bzw. wegen fehlender Geldmittel von ihnen ausgeschlossen waren, weil sie kein Schutzgeld zahlen konnten. Die behördlich erfolgte Ausweisung verschärfte das Migrationsverhalten, betroffene Juden suchten dies aber zu unterlaufen, indem sie ihre Aufenthalte und zeitweisen Wohnsitze flexibel zu gestalten suchten. Trotz der seit der Mitte des 17. Jahrhunderts rapide zunehmenden, speziell Juden betreffenden Ordnungsgesetzgebung schufen neue Arbeitsregelungen eine gewisse Rechtssicherheit. Ausgebaute Regelungen wie das Judengeleit und der sogenannte Leibzoll waren Ausprägungen der allgemeinen Geleitrechte, die auch christliche Personen betrafen, wenn diese um Schutz nachsuchten. Bei Verstößen konnten sich die Juden an die Reichsgerichtsbarkeit wenden. Vera Kallenberg zeigt an einem Beispiel, dass die Wendung an christliche obrigkeitliche Gerichte auch in Fällen vorkam, in denen die rabbinische innerjüdische Gerichtsbarkeit möglich gewesen wäre. Innerjüdische und christliche Rechtsräume waren keineswegs so getrennt, wie die ältere Forschung behauptete. Der Gang einer Jüdin an das christliche Gericht brachte jedoch im Fall
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derheit und christliche Gesellschaft im Alten Reich am Beispiel der Fürstabtei Corvey (1550–1807), Paderborn 1996. Vgl. unsere bisherigen Beiträge in Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (ZHF Beih. 39), Berlin 2007. Der Ertrag dieses Bandes und seiner Einzelstudien soll hier nicht noch einmal aufsummiert werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass hier bereits einzelne Beiträge zur jüdischen Rechtsstellung in anderen europäischen Staaten geliefert wurden.
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Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann, Stephan Wendehorst
der Herrschaft Thüngen die Obrigkeit in eine schwierige Lage, da die Gegenpartei mit Hilfe ihres Landesherrn die Kompetenz des reichsritterschaftlichen Gerichts (und damit die Herrschaftsausübung) anzweifelte. Der zweite Abschnitt lenkt bei den untersuchten politisch definierten Räumen den Blick auf die jüdischen „Zwischenräume“, insbesondere die durch die imperiale Struktur geschaffenen mehrfachen Ebenen von Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten. Das Beispiel Worms bildet hier wohl einen selbst für das Reich extremen Fall: Der Beitrag von Ursula Reuter widmet sich der komplizierten multipolaren Abhängigkeit der Wormser Juden von der reichsstädtischen sowie der kurpfälzischen Obrigkeit. Die Wormser Juden beobachteten den ihnen zugeschriebenen Rechtsstatus genau und suchten erfolgreich, das als pejorativ verstandene Institut der „Leibeigenschaft“ abzuschaffen. Friedrich Battenberg betont in seinem Text zum Fall einer geteilten Herrschaft, dass Juden vielfach Objekte konkurrierender Herrschaftsansprüche gewesen sind. Unter ungeklärten Machtverhältnissen konnten sie die vergleichsweise besten Lebensbedingungen realisieren. Konflikte zwischen Obrigkeiten boten auch die einfachste Möglichkeit, den Kaiser als obersten Schutzherrn der Juden im Reich ins Spiel zu bringen und die Reichsgerichtsbarkeit als Faktor im lokalen Rum zu verankern. Der Beitrag Gerhard Rechters prüft auf der Grundlage von Herrschaftsrechnungen die Attraktivität des Judenschutzes für reichsritterschaftliche Gebiete und kommt zu dem Schluss, gegenüber den bescheidenen finanziellen Vorteilen sei das Hauptmotiv wohl eher im darin zum Ausdruck kommenden politischen Hoheitsstatus zu suchen. Die Schutzjuden selbst empfanden jedoch wohl eher eine regionale als eine herrschaftliche Bindung. Der dritte Teil versammelt Fallbeispiele, in denen ein „Zwischenraum“ für Juden (zwischen kaiserlichem Zentrum und Reichsterritorien) über die Tätigkeit der Reichsgerichte realisiert und abgesichert wird. Der Beitrag von André Griemert gibt zunächst einen Überblick zu Reichshofratsprozessen unter Beteiligung von Juden in der Regierungszeit Ferdinands III. und nutzt einen elsässischen Fall als Lackmustest für die Auswirkungen der Westfälischen Friedensregelungen auf die jeweiligen Herrschaftsrechte Frankreichs und des Reiches. Klagen von elsässischen Juden wurden entweder als willkommener Hebel des politischen Einflusses oder als Störfall bewertet. Im Beitrag von Thomas Lau wird erklärt, unter welchen Bedingungen die Juden der kleinen Reichsstadt Buchau vom innerstädtischen Eingreifen des Schwäbischen Kreises und des Kaisers profitierten. Vom Objekt obrigkeitlicher Wirtschaftspolitik wurden sie zu einem urbanen Machtfaktor, der allerdings deshalb zur Zielscheibe innerstädtischer oppositioneller Kräfte der Bürgerschaft wurde. Schon Battenberg führt in seinem Beitrag auch soziale Konflikte von Judenschaften mit den christlichen Dorfgemeinden an, für die auch der Beitrag von Stefan Ehrenpreis ein nachdrückliches Beispiel liefert. Der Konflikt um den bayreuthischen Flecken (Erlangen-)Bruck wurde durch den Reichshofrat beruhigt, in dem der Streitgegenstand von den antijüdischen Implikationen
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freigehalten wurde, die ihm die Klägerpartei zu geben versuchte. Die jüdische Gemeinde in Bruck wurde als integrativer Bestandteil der Untertanenschaft nicht in Frage gestellt. Verena Kasper-Marienberg erörtert in ihrem Beitrag die rechtlichen Handlungsspielräume, die jüdischen Gemeinden am Ende des 18. Jahrhunderts blieben. Sie bezieht sich dabei auf das Frankfurter Beispiel, verbunden mit einem generellen Überblick zur Tätigkeit des Reichshofrats in Prozessen unter Beteiligung von Juden. Der Beitrag von Anette Baumann zeigt, dass das Reichskammergericht in einem Hamburger Prozess am Ende des 18. Jahrhunderts die Fragen des Judenschutzes ideologisch auflud und mit Fragen des aufgeklärten Menschenrechtsdiskurses verknüpfte. Stephan Wendehorst weist auf die Existenz jüdischer Gemeinden in Oberitalien hin, die sich in den zum Reich zählenden Gebieten charakteristisch häuften.
IV. Forschungsperspektiven Unser Band möchte die Interpretationen jüdischer Geschichte im frühneuzeitlichen Europa voranbringen durch den Nachweis imperialer „Zwischenräume“, die Juden unter anderem auch mit anderen Bevölkerungsgruppen in europäischen Imperien vergleichbar machen. Personen mit besonderer Nähe zum imperialen Zentrum gab es nicht nur im Reich, sondern in zahlreichen europäischen Ländern. Sammelbände ersetzen keine monographischen Darstellungen. Die hier versammelten Beiträge können nur einen ersten Einblick in die Forschungsproblematik geben, wie man die imperialen Strukturen des Reiches in einen europäischen Kontext und Vergleich einordnen kann. Weitere Arbeiten sind notwendig, die das Verhältnis von Reichszentrale und Reichsinstitutionen zur jüdischen Bevölkerungsgruppe anhand konkreter Politik- und Handlungsfelder und anhand verschiedener regionaler Zugriffe untersuchen. Damit ist die Möglichkeit verbunden, die Unterschiedlichkeit territorialer Herrschaftsordnungen nach Raum, Epoche, Lehens-, Rechts- und Verwaltungsstrukturen u. a.m. zu berücksichtigen. In vorliegendem Band wird dies vor allem an den Verhältnissen in Kleinterritorien vorgeführt, was jedoch Einseitigkeiten hervorrufen würde, wenn eine Konfrontation mit größeren territorialen Einheiten ausbliebe. Auch müssen die am politisch-rechtlichen Rahmen orientierten Fragestellungen durch Untersuchungen des Diskurses über diesen Rahmen in der frühneuzeitlichen politischen Öffentlichkeit ergänzt werden. Ein zweites wesentliches Untersuchungsfeld, dass den Blick für europäische Verbindungen und Kontexte schärft, kommt in unseren Beiträgen nur gelegentlich ins Spiel: die Juden als ökonomischer Faktor in der frühneuzeitlichen Wirtschaft. Für den Zusammenhang des Reiches sind wichtige neuere Forschungen zu den jüdischen Hoffaktoren geleistet worden, aber ein Überblick fehlt nach wie vor, um nicht auf die rassistisch inspirierte Darstellung
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von Heinrich Schnee zurückgreifen zu müssen.13 Diese besondere Personengruppe ist für das politische System des Reiches wichtig, weil die Hoffaktoren in der Finanzierung und Versorgung der Reichsarmee eine entscheidende Rolle spielten, mithin in dem Sektor, den Whaley als einen Integrativfaktor des Reiches par excellence ansieht. Beide genannten Untersuchungsfelder sind hervorragend geeignet, um die Integration der Jüdischen Geschichte in die Allgemeine Geschichte der Frühen Neuzeit zu befördern.
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Rotraut Ries/Friedrich Battenberg (Hgg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die deutsche Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002. Materialreich, aber ideologisch kontaminiert ist Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, 4 Bde., Berlin 1953–1964.
1. Juden im Alten Reich – Lokale Korporation oder translokale Minderheit?
Rainer S. Elkar
Die Juden und das Silber. Eine Studie zum Spannungsverhältnis zwischen Reichsrecht und Wirtschaftspraxis im 17. und 18. Jahrhundert 2002 veröffentlichte Jacques Attali unter dem Titel „Les juifs, le monde et l’argent“ eine umfangreiche Wirtschaftsgeschichte der Juden. Es ist nicht sein erstes umstrittenes Werk. Hier nun findet sich – in bewusstem Gegenüber zur Weberschen Kapitalismus-These – die Ansicht, dass jenes Volk, das den Monotheismus ,erfunden‘ habe, auch zum Begründer der kapitalistischen Ethik geworden sei, wobei der prominente Autor durchaus die Gefahr erkennt, mit einem derart „schwefelhaltigen“ Gegenstand Missverständnisse über ,die‘ Juden und ,das‘ Geld auszulösen. Vielleicht ist dies der Grund, warum im Unterschied zu anderen, kaum weniger problematischen Werken Attalis eine deutsche Übersetzung bislang noch nicht erschien.1 Gleichwohl – Thema und Titel verbinden sich auf besondere Weise mit den nachfolgenden Ausführungen, meint doch l’argent nicht nur das Geld, sondern auch das Silber. So ist im Französischen begrifflich gewahrt, was in der longue durée der Geldgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, teilweise sogar bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts den Charakter des Geldes bestimmte: seine Eigenschaft als Ware. Im Unterschied zu la monnaie, dem minderwertigen Klein- oder Scheidegeld, ist l’argent nicht nur die allgemeine Geldbezeichnung, sondern verweist zugleich darauf, dass es einst aus Edelmetall gemacht wurde mit einem Feingehalt, der dem Realwert der Münze entsprechen sollte. Dergestalt 1
Erstveröffentlichung des Beitrags in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 97/1 (2010), S. 3–39. Der für den vorliegenden Sammelband leicht redigierte Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Franz Steiner Verlages und der VSWG. Vgl. Jacques Attali: Les juifs, le monde et l’argent. Histoire économique du peuple juif. Paris 2002, S. 10, 393–397. Im vom Autor formulierten Klappentext heißt es: „Pourtant, il est d’une importance capitale, pour les hommes d’aujourd’hui, de comprendre comment l’inventeur du monothéisme s’est trouvé en situation de fonder l’éthique du capitalisme, avant d’en devenir, par certains de ses fils, le premier banquier, et par d’autres, le plus implacable de ses ennemis.“ Attali, Hochschullehrer, Naturwissenschaftler und Ökonom, wirkte als Berater von Mitterand und Sarkozy, war zeitweilig Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, ist Präsident einer internationalen gemeinnützigen Organisation für Mikrokredite und Autor von mehr als dreißig Büchern. Vorwürfe, dass Attali sich mehr an Publikumswirksamkeit als an wissenschaftlicher Genauigkeit orientiere, wurden verschiedentlich laut. Zur Kontroverse um den Titel vgl. das Interview „Les juifs, les chrétiens et l’argent“, veröffentlicht in: http://www.denistouret.fr/ ideologues/Attali.html [Zugriff: 19.12.2009]. Eine italienische Ausgabe erschien 2002, 2005 eine spanische in Mexiko. Bislang ist noch keine Rezension in einer deutschen wirtschaftshistorischen Zeitschrift erschienen.
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umlaufend trug es zwei der drei Geldfunktionen in sich: die Zahlungs- und die Wertaufbewahrungsform.2 Wer mit Silber handelte, der handelte faktisch auch mit Geld und umgekehrt. Diese für Realwertsysteme charakteristische Wechselbeziehung entwickelte sich in der Wirtschaftspraxis des 17. und 18. Jahrhunderts weiterhin verstärkt in Richtung einer Privatisierung des Edelmetallhandels. In dem Interaktionsfeld von Rohstoffhandel, Münzprägung und -vertrieb – wiederum häufig mithilfe privater Edelmetall- und Geldhändler – waren Manipulationen möglich, die das Recht herausforderten. Das Strafrecht fiel weitgehend in territoriale Zuständigkeiten, doch das Münzrecht der Münzstände ging ursprünglich aus einem Regal hervor und blieb in der Endzuständigkeit von Kaiser und Reich. War das Reichsrecht schon im 16. Jahrhundert weitgehend daran gescheitert, ein einheitliches Währungssystem einzurichten, so konzentrierte es sich – Impulse aus den Reichskreisen aufnehmend – darauf, die Wirtschaftspraxis so zu sanktionieren, dass in der Vielfalt wenigstens der ,innere‘, das heißt der reale Wert des Geldes gewahrt blieb. Zwischen beiden Seiten, der Wirtschaftspraxis und dem Reichsrecht, bildete sich ein Spannungsverhältnis, das von privatem Gewinnstreben bis zur Behauptung oder Durchsetzung wirtschafts-, territorial- und reichspolitischer Interessen reichte. Ob diesbezüglich eher rückständiges Beharren oder in die Moderne weisender Fortschritt zu beobachten ist, bedarf der Überprüfung – am besten durch die Analyse eines Konfliktfalles, der die Grenzen von Wirtschaftspraxis und Reichsrecht aufzeigt. Solche Konfliktfälle waren im Alten Reich stets in den Territorien verankert, weswegen der Betrachtung eines Prozesses vor dem Reichshofrat hinreichende paradigmatische Bedeutung für die Beurteilung des geschilderten Spannungsverhältnisses zukommt. Der Reichshofrat unterstand unmittelbar dem Kaiser und war für Streitfälle zwischen Reichsständen zuständig; neben dem Reichskammergericht war er eines der beiden höchsten Gerichte des Alten Reiches.3 Dass es bei dem Streit nicht zuletzt um die 2
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Die dritte Funktion, nämlich Geld als Zähl- und Recheneinheit, die in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen monetären Realwertsystemen stets von dem umlaufenden Geld unterschieden war und in den Rechnungen auftauchte, bleibt in den nachfolgenden Ausführungen weitgehend außer Betracht. Der Text der Reichshofratsordnung findet sich unter: http://www.lwl.org/westfaelischegeschichte/que/normal/que2641.pdf [Zugriff: 19.12.2009]. Vgl. Oswald von Gschliesser, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung. Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte des ehemaligen Österreich; 33), korrigierte Neuausgabe von Wolfgang Sellert, Nendeln 1970. Wolfgang Sellert, Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973. Ders. (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht – ein Konkurrenzverhältnis, Köln/Weimar/Wien 1999. Ders., Der Reichshofrat. Begriff, Quellen und Erschließung, Forschung, institutionelle Rahmenbedingungen und die wichtigste Literatur, in: zeitenblicke 3/3 (2004), http://www.zeitenblicke.de/2004/03/ sellert/index.html [Zugriff: 19.12.2009] mit weiterführenden Literaturangaben. Edgar Liebmann, Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit im Spiegel der Forschung, in: Anja
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,Juden im Recht‘ geht, verstärkt den allgemeinen Belang des zu schildernden Falles. Und so ist für die Bewertung des Spannungsverhältnisses zwischen Reichsrecht und Wirtschaftspraxis die genau nachzuvollziehende Stellung der Juden ein überaus geeigneter Indikator – keineswegs nur für das Befinden der Juden im Besonderen, sondern auch für den Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung im Allgemeinen.4 Ohne Frage gerieten Juden, denen im Hochmittelalter an nicht wenigen Orten der Handel mit Silber und sogar das Prägen von Münzen, also die Ausführung eines hoheitlichen Rechts, anvertraut wurde,5 im Lauf der Jahrhunderte zunehmend in eine rechtlich prekäre Lage, je mehr Geld in Umlauf kam und je mehr der Silbergehalt Manipulationen ausgesetzt war. Wieweit dieser Sachverhalt tatsächlich als prekär zu bezeichnen ist, darum geht es in den folgenden Ausführungen. Natürlich war dieser nicht ausschließlich durch den Geld- und Silberhandel bedingt, selbstverständlich spielte die Problematik der Zinsleihe, der Wechselgeschäfte und des Verdrängens der Juden aus produktiven Tätigkeiten eine nicht unerhebliche Rolle,6 und doch bietet ein Fallbeispiel
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Amend/Anette Bauman/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hgg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, Köln/ Weimar/Wien 2007 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 52), S. 151–172. Vgl. allgemein Rolf Kießling (Hg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007 (Colloquia Augustana; 25). Zu den ,Juden im Recht‘ vgl. Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 545– 599. Ders., Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium, in: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 53–79. Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft; 39). Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 32). Vgl. Michael Toch, Juden, in: Lexikon des Mittelalters, Band 5, München/Zürich 1991, Sp. 781–783. Barbara Staudinger, Silber für den Kaiser. Juden an der Wiener Münze vom 12. bis 18. Jahrhundert, in: Die Münze 19 (2008), Teil 1 in: 2. Ausgabe März/Mai, S. 16–18, Teil 2 in: 3. Ausgabe Juni/Aug., S. 14–16. Vgl. Markus Johannes Wenninger, Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Wien/ Köln 1981 (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft; 14). Ders., Geldkreditgeschäfte im mittelalterlichen Erfurt, in: Ulman Weiss (Hg.), Erfurt – Geschichte und Gegenwart, Weimar 1995 (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt; 2), S. 339– 438. Alfred Haverkamp (Hg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 24). Ders., Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters. Berlin 1991. Historisches Museum der Pfalz (Hg.), Europas Juden im Mittelalter. Mit Beiträgen von Alfred Haverkamp, Karin Birk u. a. Ostfildern-Ruit 2004. Rotraut Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert, Hannover 1994 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 35/Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit; 13). Gerd Mentgen, Studien zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Elsaß, Hannover
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des jüdischen Silberhandels aus dem 18. Jahrhundert mehr als nur hinreichende Einblicke in die Unsicherheiten jüdischer Existenz. Wesentlich verursacht war dies durch rechtliche Bestimmungen, die seit dem 17. Jahrhundert zwar nicht ausschließlich, aber doch vor allem dem jüdischen Silberhandel immer engere Grenzen setzten, ihn im Prinzip sogar gänzlich zu unterbinden suchten. Davon handelt ein erster Abschnitt (I). Es folgt dann ein Stück Mikrogeschichte, das heißt die Schilderung eines Falles, in den mehrere Wertheimer Juden verwickelt waren, wobei die besonderen Umstände der Grafschaft und des Wertheimer Münzwesens sowie die Stellung der Juden im Silberhandel zwischen Wertheim und Frankfurt besonders zu berücksichtigen sind (II). Da die Causa dem Reichshofrat zur Entscheidung vorgetragen wurde, sind das Verfahren, das Urteil und die Verhältnismäßigkeit der Entscheidungsgründe zu würdigen (III), ehe sich das Augenmerk auf das Verhältnis von Recht, Risiko und herrschaftlichen Interessen richtet (IV). Abschließend soll es darum gehen, zu erklären, welche Bedeutung dem Fall zukommt und wie der Spannungsbogen zwischen Reichsrecht und Wirtschaftspraxis zu beurteilen ist, wobei das Maß der Moderne ausgerichtet am Idealtyp des Weberschen Anstaltsstaates zum Kriterium wird (V).
Die Rechtslage „Ingleichen solle denen Gold- und Silber-Dratzieheren, und Posamentierern, das Einwechseln und Verbrechen der gangbaren Münz-Sorten, wie nicht weniger der Silber-Kauff, nicht allein ihnen, sondern auch allen andern privatis insgemein, bevorab den Juden gänzlichen verbotten, so dann berührter Silber-Kauff anderster nicht, als mit Bewilligung jedes Orts Obrigkeit verstattet werden.“7
Dieses weitreichende Verbot des Silberhandels und der Münzverfälschung, letztere schon in der Carolina 1532 als todeswürdiges Verbrechen bezeichnet,8 1995 (Forschungen zur Geschichte der Juden, A; 2). Ders., Der Münzfrevelvorwurf. Ein Beitrag zur Erforschung antijüdischer Stereotype, in: Angela Giebmeyer/Helga SchnabelSchüle (Hgg.), Das „Wichtigste ist der Mensch“. Festschrift für Klaus Gerteis, Mainz 2000 (Trierer Historische Forschungen; 41), S. 291–307. Jacques Le Goff, Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Mit einer Einführung von Johannes Fried, Stuttgart 2 2008, S. 46 (J. Le Goff), S. 144–154 (J. Fried). Michael Toch (Hg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien; 71). 7 V. Kaiserliche Resolution, in puncto monetae, d. d. Regensburg 5. Sept. 1667, in: Johann Christoph Hirsch (Hg.), Des Teutschen Reichs Münz-Archiv. Fünfter Theil, Nürnberg 1759, S. 18–24, hier S. 22. 8 Gustav Radbruch (Hg.), Die Peinliche Halsgerichtsordnung Carls V. von 1532 (Carolina), Stuttgart 1960, 111. Bestimmung, S. 77, dort heißt es: Wer diesbezüglich „geverlich vnd boßhafftiglich dem nechsten zu nachtheyl wissentlich [gefälschte Münzen] außgibt“, der soll „nach gewonheyt auch satzung der recht mit dem fewer vom leben zum todt gestrafft werden“. Vgl. weiter: „Müntz-Fälschung“, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexicon Aller Wissenschafften und Künste [. . . ], Band 22, Leipzig/
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ist Teil der umfassenden Kaiserlichen Resolution zum Münzwesen, die am 5. September 1667 in Regensburg, also bereits zu Zeiten des sogenannten Immerwährenden Reichstages, durch die Unterzeichnung des kaiserlichen Bevollmächtigten Gesetzeskraft erlangte. Sie griff weitgehend ein sieben Punkte umfassendes Reichs-Bedencken der Reichsstände vom Dezember des Vorjahres auf, das die Bewertung in- und ausländischer Münzsorten, die Bewahrung guter inländischer und die Abwehr schlechter ausländischer Münzen im Zahlungsverkehr, das Scheidemünzwesen sowie das verbotene Nachprägen, Beschneiden und Einschmelzen von Silber- und Goldmünzen behandelte. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Hervorhebung bestimmter Berufe,9 sondern auch eine gewisse Verschärfung des Tones bezüglich der Juden innerhalb von knapp einem Jahr, hieß es doch 1666 noch: „nachdem die Erfahrnuß bezeigt, daß sonderlich die Juden sich an der Münz auff ein v[nd] andere Weeg offtmahl vergriffen, vnd wider die Reichs-Constitutiones freventlich handlen, so seynd demnach die Ständte in deren Gebüeth sich diese aufhalten, ernstlich zu erinnern, auf diese ihr guetes v[nd] embsiges Aufmercken zu tragen.“10
Doch Reglementierungen des Silberkaufes setzten wenigstens eineinhalb Jahrhunderte zuvor ein und bestimmten – vor allem auf der Grundlage des zitierten Gesetzes von 1667 – auch jenen Prozess in den Jahren 1766 bis 1768, von dem später die Rede sein wird. Stets ging es um die Sorge, dass es bei der Beschaffung des Silbers nicht ordentlich zugehe, dass Münzen – als wertvoller Rohstoff – nicht korrekt eingewechselt, dass sie auf unlautere Weise beschnitten oder geschwächt würden, dass Granulat, Bruchsilber, Silbergeschirr oder -schmuck unkontrolliert eingeschmolzen, dass Fuhr-, Schiff- oder Kaufleute nicht hinreichend überwacht würden, dass das Zoll- und Passwesen nicht die gebührende Beachtung erführe und dass auf diese Weise Unterschleiff zu befürchten sei. Die meisten der hier genannten Übel wurden bereits in einer Stellungnahme des Schwäbischen Kreises aus dem Jahre 1607 festgehalten, wobei auch damals schon drei Personengruppen als besonders verdächtig erschienen:
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Halle 1739, Sp. 540–548. „Münzverbrechen“, in: Johann Georg Krünitz, Oekonomischtechnologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft und der Kunstgeschichte, Band 97, Berlin 1805, S. 359. Was die genannten Berufe anbelangt, so stellten die Gold- und Silberdrahtzieher Drahterzeugnisse her, die lediglich vergoldet waren. Die insbesondere in Nürnberg beheimatete leonische Drahtzieherei veredelte Kupfer- und Messingdrähte mit Edelmetall. Die Posamentierer oder Bortenmacher stellten Besatzartikel, Borten, Bänder, Tressen, Schnüre und Fransen her, die – bei besonders wertvollen Stücken – mit Edelmetallfäden durchwirkt waren. Vgl. Herbert Aagard, Drahtzieher, in: Reinhold Reith (Hg.), Lexikon des alten Handwerks. Vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, München 2008, S. 60– 64. Reinhold Reith, Bortenmacher, in: ebd., S. 38–41. Bei all diesen Berufen wie auch bei den nachfolgend erwähnten Goldschmieden, Gold- und Silberarbeitern sowie Goldschlägern ist davon auszugehen, dass sie gewisse Mengen Edelmetalls bevorrateten, was zu Befürchtungen missbräuchlicher Nutzung Anlass gab. CLXXII. Project Reichs-Guetachtens im Münzwesen. Dictat. 9/19. Decembris 1666. per Moguntinum, in: Johann Christoph Hirsch (Hg.), Des Teutschen Reichs Münz-Archiv. Vierter Theil, Nürnberg 1758, S. 405–414, hier S. 407.
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erstens verdorbene Handels-Leute, zweitens Goldschmiede und drittens die Juden.11 Gemeinsam wurden diese am Silberhandel Beteiligten als PrivatPersonen bezeichnet, was sie von jenen absetzte, die im Auftrag eines Münzstandes berechtigt waren, Silber für die Münzstätten zu besorgen: nämlich Münzbeamte, insbesondere die Münzmeister, die eine Prägeanstalt leiteten, und Wardeine, die eine solche kontrollierten.12 Gewiss handelten auch Goldschmiede zuweilen in offiziellem Auftrag, doch war dies längst nicht mehr die Regel. Zu ihrer Berufstätigkeit gehörte unter anderem das Schmelzen von Gold und Silber, um daraus ihre Produkte herzustellen, doch gab es auch andere Handwerker, die ebenfalls die beiden Edelmetalle aufbereiteten oder weiterverarbeiteten. Sie alle sollten im Laufe der Zeit von besonderen Restriktionen getroffen werden. Grundsätzlich gehörte es zu den wichtigsten Aufgaben der Reichskreise, das Münzwesen zu überwachen und bei Münzverstößen, die nicht von den zuständigen Münzständen behoben oder geahndet wurden, in Vertretung des Kaisers einzuschreiten, sofern dieser nicht eigene Kommissare entsandte. Auf den Kreis-Probationstagen versammelte sich ein äußerst sachkundiges Personal, das nicht nur das Münzwesen beständig prüfte und entsprechende Valvationen veröffentlichte, sondern auch die Beschlüsse in Münzangelegenheiten im Wesentlichen vorbereitete.13 Dies war in den geld- und währungspolitischen Turbulenzen im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts von
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CXXII. Müntz-Bedencken des Schwäbischen Crayßes, d. ao. 1607, in: Johann Christoph Hirsch (Hg.), Des Teutschen Reichs Münz-Archiv. Dritter Theil, Nürnberg 1757, S. 338– 345, hier S. 344, 341. Tatsächlich reicht die kritische Beobachtung des genannten Personenkreises sogar bis ins 16. Jahrhundert zurück, wurde doch 1576 in einer kaiserlichen Vorlage an die Reichsstände die Einzünftung und Vereidigung des Münzpersonals vorgeschlagen, „dan sonsten will ein Jeder verdorbener Kauffmann, Judt vnd Goldtschmiedt ein Münzmaister werden“. Siehe: LXXXI. Bedencken wie die Münz Ordnung zu verbeßern vnd die darwieder bißhero eingerißene Mängel abzuschaffen seyn, von der Kayserl. Mayt. In [!] Conclusions-Schrifft den Stennden vbergeben, den 15. Decembr. 1576, in: Johann Christoph Hirsch (Hg.), Des Teutschen Reichs Münz-Archiv. Zweyter Theil, Nürnberg 1756, S. 238–240, hier S. 239. Zum Münzbetrieb vgl. Wolfgang Trapp, Kleines Handbuch der Münzkunde und des Geldwesens in Deutschland, Stuttgart 1999, S. 48. Vgl. H. Thomas Christmann, Das Bemühen von Kaiser und Reich um die Vereinheitlichung des Münzwesens. Zugleich ein Beitrag zum Rechtsetzungsverfahren im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden, Berlin 1988 (Schriften zur Rechtsgeschichte; 41). Ders., Die Reichsmünzordnungen und deren Umsetzung durch die Reichskreise, in: Reiner Cunz (Hg.), Währungsunionen. Beiträge zur Geschichte überregionaler Münz- und Geldpolitik, Regenstauf 2002 (Numismatische Studien; 15), S. 197– 219, insbes. S. 208–212. Harald Witthöft, Die Münzordnungen und das Grundgewicht im Deutschen Reich vom 16. Jahrhundert bis 1871/72, in: Eckart Schremmer (Hg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993 (VSWG, Beiheft; 106), S. 45–68. Zu Münzwesen und -politik der Reichskreise vgl. allgemein: Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383–1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998.
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besonderer Bedeutung.14 1617, zehn Jahre nach dem erwähnten schwäbischen Münz-Bedencken, bekundeten der Niedersächsische und kurz danach der Kurrheinische Kreis ein ähnliches Aufmerken bezüglich des „Silberkauffes vnd Verkauffens“ durch „Kauffleuth, Krämer, Juden vnd andere Privat-Persohnen“, die sich der „Vngebühr vnterwunden“ und dabei gegen die „ReichsConstitutionen“ gehandelt hätten.15 All dies lag kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg zu Beginn der Kipper- und Wipperzeit, jener großen bis etwa 1623 währenden Inflationsphase, die durch Manipulationen am Silbergehalt der Münzen aufs Schlimmste gekennzeichnet sein sollte.16 Juden waren ohne Zweifel an obskuren Geldgeschäften beteiligt; freilich nicht nur sie, hatte doch in eben jenem Jahre 1617 Friedrich Ulrich, als Herzog zu Braunschweig und Lüneburg (Wolfenbüttel) selbst Angehöriger des Niedersächsischen Kreises, mit dem Einwechseln, Einschmelzen und Umprägen guter in schlechte Münzen sehr zum Schaden seines Landes begonnen.17 Im Oktober 1623 reagierte 14
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Vgl. Jürgen Gerhard, Ursachen und Folgen der Wandlungen im Währungssystem des Deutschen Reiches 1500–1625. Eine Studie zu den Hintergründen der sogenannten Preisrevolution, in: Schremmer, Geld und Währung, S. 69–84. Ders., Ein schöner Garten ohne Zaun. Die währungspolitische Situation des Reiches um 1600, in: VSWG 81 (1994), S. 156–177. XL. Auszug aus dem Abschied des von dem Nieder-Sächsischen Craiß zu Braunschweig gehaltenen Münz-Probations-Tags d. d. 30. Sept. 1617, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 86–95, hier S. 88. Ähnlich dann auch: XLI. Abschiedt des zu Oberweßel von der vier Rheinischen Churfürsten, dahin abgeordneten Räthen gehaltenen Müntz-ProbationsTags, d. d. 3. Oct. A. 1617, in: ebd., S. 96. Hier werden die „heilosen Juden vnd Gewinnsuchenden Kauff- vnd Handelsleuten die sträfflich mit dem Münzweesen gebahren“ als besondere Übeltäter bezeichnet. Vgl. Herbert Rittmann, Deutsche Geldgeschichte 1484–1914, München 1975, S. 223–256. Konrad Schneider, Frankfurt und die Kipper- und Wipperinflation der Jahre 1619–1623, Frankfurt am Main 1990 (Mitteilungen aus dem Frankfurter Stadtarchiv; 11). Ulrich Rosseaux, Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis (1620–1626). Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Berlin 2001 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 67). Ders., Inflation und Öffentlichkeit. Die Publizistik zur Kipper- und Wipperzeit 1620–1626, in: Christian Dekesel/Thomas Stäcker (Hgg.), Europäische numismatische Literatur im 17. Jahrhundert (54. Wolfenbüttler Symposium, 7.–10. Mai 2003), Wiesbaden 2005, S. 301–310. Zu der „sehr unbequemen Konkurrenz“ von Juden „beim Silberkauf der kaiserlichen Münze in Wien“ vgl. Paul W. Roth, Die Kipper- und Wipper-Zeit in den Habsburgischen Ländern, 1620 bis 1623, in: Schremmer, Geld und Währung, S. 85–103, hier S. 90. Zu Friedrich Ulrich von Wolfenbüttel vgl. ADB 7, S. 502 f. Horst-Rüdiger Jarck, Friedrich Ulrich, in: ders. (Hg.), Braunschweigisches Biographisches Lexikon 8.–18. Jahrhundert, Braunschweig 2006, S. 234 f. Zur niedersächsischen und der damit verbundenen Harzer Geldgeschichte in der Kipper- und Wipperzeit: Wilhelm Jesse, Münz- und Geldgeschichte Niedersachsens, Braunschweig 1952 (Werkstücke aus Museum, Archiv und Bibliothek der Stadt Braunschweig; 15), S. 74–79. Bernd Sprenger, Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn/München/ Wien/Zürich 3 2002, S. 105–110. Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung (Hg.), Münz- und geldgeschichtliche Probleme des 17. Jahrhunderts im Harzraum. Die große und die kleine Kipperzeit, Nordhausen 2004 (Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung; 12). Ulf Dräger, Abriss der Stolberger Münzgeschichte vom Mittelalter bis zur
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auch die Reichsstadt Frankfurt in „disen betrübten Zeiten“ auf die „schädliche Confusion im Müntzwesen“, indem sie neue Kurswerte für Gold- und Silbermünzen festlegte. Wer sich daran nicht hielt, der sollte „mit Thurn- [Turm-, d.h. Haft-] oder Geld-“, im Wiederholungsfall „mit Leibs-Straffen“ überzogen werden, „sonderlich“ aber sollten „die Juden an Pranger gestellt und ihnen die Müntzen, damit sie sich vergriffen, um den Hals gehängt und hernacher mit Ruthen ausgestrichen und des Lands verwiesen werden“. Zwar drohte auch anderen „Einnehmer[n] und Durchschleiffer[n] Ähnliches“, doch zeigt die ausdrückliche Hervorhebung der Juden eine deutliche Zuspitzung, zumal von der Pranger- und Prügelstrafe sowie der Landesverweisung im Allgemeinen so nicht die Rede war.18 Dass Juden tatsächlich schlechter gestellt wurden als „Christliche, Ehrliche Kauff- und Handels-Leute“, trat schon wenige Monate später, das heißt im Februar 1624, ein: Mit Bezug auf das zuvor ergangene Münzedikt sollten sie aus dem Geldhandel geringeren Gewinn ziehen und gemäß der Reichspoliceyordnung von – wohlgemerkt – 1530 „heilsamlich“ gehalten sein, sich „aller wucherlichen Contracten“ zu enthalten „und mit ziemlicher Handthierung und Hand-Arbeit ihre Nahrung“ zu suchen.19 Fasst man die rechtliche Entwicklung jener Jahre zusammen, so kam es vor dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs noch zu keinen einheitlichen, reichsgesetzlichen Sanktionen. Vieles blieb rechtlich in der Schwebe, das meiste spiegelte regionale oder lokale Interessen. Immerhin war ein Kreis von Verdächtigen bestimmt, der zunehmend, wenngleich in unterschiedlichen Hervorhebungen, zum Objekt zunächst geplanter und schließlich beschlossener Restriktionen gemacht wurde. Edelmetallverarbeitende Berufe und der Edelmetallhandel wurden immer sorgsam beobachtet, die Juden aber – auch dies zeichnet sich ab – unterlagen einem schärferen Misstrauen. Nach dem Ende des Krieges, als der latent vorhandene Silbermangel wieder deutlicher spürbar wurde und der inflationäre Umlauf minderwertig ausgeprägter Geldsorten erneut zunahm, mündeten die regionalen Bestrebungen schließlich in die Reichsgesetzgebung ein.20 Mehrere Expertengutachten, Conclusa der Reichskollegien und auch Reichsschlüsse gingen seit 1655 dem Gesetz von 1667 voraus;21 sie such-
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frühen Neuzeit, in: Monika Lücke/ders. (Hgg.), „die Mark zu 13 Reichstaler und 8 Groschen beibehalten werde“. Die Alte Münze in Stolberg (Harz), Leipzig 2004, S. 9–18. XCI. Der Stadt Franckfurth neue Müntz-Ordnung, d. d. 23. Oct. an. 1623, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 224–229, hier S. 224, 227. XCIV. Decretum der Churfürstl. und Gräflichen, wie auch der Stadt Franckfurth Abgeordneten und Deputirten, dero in ihrem Correspondenz-District begriffener Judenschafft, den Geld- und Müntz-Wechsel betreffend, d. d. Franckfurth Dienstag den 17/27. Febr. ao. 1624, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 234 f. Vgl. Rittmann, Deutsche Geldgeschichte, S. 262. Ders., Auf Heller und Pfennig. Die faszinierende Geschichte des Geldes und der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, München 1976, S. 43–45. Sprenger, Das Geld der Deutschen, S. 120. Vgl. Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 359–404. Hier insbesondere: CLXIII. Gutachten der Müntz-Wardeinen aus den 3. correspondirenden Fränck- Bayer- und Schwäbischen Craisen, über die den 10./20. May 1666. dictirte 7. Puncta deliberanda in materia des
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ten das Münzwesen zu verbessern und Missbräuche abzustellen. Zunächst, das heißt 1655, waren es die Drahtzieher sowie die Gold- und Silberarbeiter,22 gegen die Klagen aus dem Kreis der oberdeutschen Wardeine erhoben wurden. Im gleichen Zuge folgte die Beanstandung, dass es „Goldt- und Silber-Aufkauffer“ gebe „(worunter etlicher Orten die Juden vermuthlich seyn möchten), welches keinem privato, sondern allein der Obrigkeit gebühre.“23 Bald kamen – diesmal aus einer sächsischen Perspektive – die edelmetallverarbeitenden Goldschläger24 und Posamentierer als besonders zu beaufsichtigende Gewerke hinzu; gegen irgendwelche jüdische Betätigungen erhoben die Sachsen keinerlei Bedenken.25 Diese wurden 1662 im Schwäbischen Kreis laut, verbunden mit der Absicht, dass „sonderlich aber denen hin- und wider zerstreuten bosshafften vndt vortheilhafftigen Juden ihr Beschneiden vnd Ringern der gueten Müntz-Sorten, auch andere damit in vielerley Weeg vbende Practiquen alles Ernsts und bey höchster Leibs- und Lebens-Straff, denen heilsamen Reichs-Constitutionibus vnd dem Müntz-Edict gemeß, gentzlich nidergelegt werdten mögten.“26
Immer deutlicher zeichnete sich das Bestreben ab, den gesamten Edelmetallmarkt zu reglementieren und die Bearbeitung von Gold und Silber genau zu kontrollieren. Hatten die Oberdeutschen 1655 schon „hochverbottener
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Müntzwesens, S. 362–366. Fürstliches Conclusum bey dem Reichs-Tag zu Regenspurg vom 16/26. Julii A. 1666. in puncto des Münz-Weesens, S. 377–386, das jegliche Form von Münzfälscherei und des Aufwechselns beanstandet. Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft in alphabetischer Ordnung, Band 19, Berlin 1780, S. 459f. erklärt den Beruf wie folgt: „Gold-Arbeiter 1. Ein jeder, dessen vornehmste Beschäftigung in Verarbeitung oder Bearbeitung des Goldes besteht, dahin denn auch die Goldspinner, Goldplätter, Weber reicher Zeuge u. s. f. gehören. Besonders 2. ein Künstler, welcher allerley Geräthschaften und Schmuck aus Gold und Silber, vermittelst des Hammers und Feuers verfertiget; im gem. Leben ein Goldschmied [. . . ]. Gemeiniglich verbindet man die Benennungen Gold- und Silber-Arbeiter, und versteht darunter diejenigen Professionisten, die bloß aus Gold und Silber allerhand Geschirre, und solche Arbeiten, welche zum Putz und zur Pracht gehören, schmieden und gießen. Einige schmieden vornehmlich Silbergeschirre, und diese heißen Silberarbeiter, wiewohl sie auch gewöhnlich Goldschmiede genennet werden. Andere verstehen die Kunst, Edelsteine zu fassen, und nennen sich Goldarbeiter oder Juwelier. Man muß diese von denjenigen Juwelieren unterscheiden, die bloß mit Juwelen handeln. Die dritte Art verfertigt Galanteriewaaren; und diese haben davon den Nahmen Galanteriearbeiter bekommen. Dieser Unterschied aber ist bloß willkührlich, und gemeiniglich nur in großen Städten eingeführt.“ CXLVIII. Münz-Probations-Abschiedt der drey correspondirenden Creyse Francken, Bayern und Schwaben, d. d. Augspurg, den 14./4. May 1655, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 328. Der Beruf ist mit der Herstellung von Blattgold befasst. Vgl. Reinhold Reith, Goldschlager, in: ders., Lexikon, S. 97–101. CXLVIII. Extract aus des Ober-Sächsischen Crayßes allgemeinen und Münz-ProbationsConvents-Abschiedt, sub dato Leipzig den 9. Febr. 1658, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 329–333. Zu den Posamentierern vgl. Anm. 9. CLIII. Extract aus dem Abschied des Schwäbischen Craiß-Convents, die Münz betreffend, d. d. Ulm den 9/19. Julii 1662, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 341.
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Aufkauff und Ersteigerung des Goldt und Silbers“ gedacht, so empfahl ein Beschluss des Fürstenkollegiums im Juli 1666, „bey den Jahr-Märckten vnnd anderen Versamblungen der Kauffleuth vnnd Handtierer fleißige Aufsicht zu halten.“27 Wesentlich detaillierter und erheblich schärfer gegen die Juden gerichtet war das nachfolgende Conclusum der Reichsstädte vom September 1666, das den Betrieb von Schmelzöfen keinen „frembden vnbekandten vndt vagirenden Personen“, aber eigentlich auch keinen Handwerkern wie etwa den Gold- und Silberarbeitern gestatten wollte, was diese arbeitstechnisch in größte Schwierigkeiten gebracht hätte. Dass Juden „bey einigen MünzStätten [. . . ] participiren“, erachteten sie – nicht zuletzt mit Blick auf die Heckenmünzstätten28 – als höchst schädlich.29 Aus all diesen Vorläufen und unter Berücksichtigung eines Reichsgutachtens vom Dezember 1666 entstand mit zum Teil wörtlichen Übernahmen jenes Reichsgesetz von 1667, das dem Silberhandel fortan enge Grenzen setzte. Das Verbot des Betreibens von Schmelz- und Probieröfen nicht nur für bestimmte Handwerker, sondern auch für Kaufleute ist nur ein Beispiel dafür, dass sich das Gesetz aus vielen Einzelteilen der vorausgegangenen Debatte zusammensetzte. Der Kontrolle des Rohstoffmarktes diente überdies die Bestimmung, dass Gold- und Silbergeschirr nur mit obrigkeitlicher Beschau30 auf den Markt gebracht werden durfte, war doch auch dieses aus münzfähigem Metall angefertigt. Ohne Zweifel zog das Gesetz problematische Grenzen: Prinzipiell war allen an Handels- und möglicherweise Spekulationsgewinn interessierten Privatpersonen der Silberhandel untersagt, was letztlich darauf hinauslief, dass er nur den münzberechtigten Ständen und deren Beamten zukam, aber niemandem sonst. Allerdings relativierten die angezeigten obrigkeitlichen Gestattungsmöglichkeiten die Schärfe des Gesetzes ein wenig – freilich in uneindeutiger Weise: So konnte es durchaus unklar sein, wer als Bewilliger gemeint war – der münzprägende Stand, die Obrigkeit einer Silberhandelsstadt wie Augsburg, Frankfurt am Main oder Hamburg, die – wie insbesondere Frankfurt – eine Legitimation der Anreisenden nach ihren eigenen Grundsätzen forderte, oder gar, was eher auszuschließen war, jegliche Ortsobrigkeit. So aber wurde 27 28
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CLXVII. Conclusum per Oesterreich im Fürsten-Rath der Münz halben d. d. 3. Julii 1666, in: ebd., S. 376 f., hier S. 376. Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, Band 22, Berlin 1781: „Heck-Münze, [. . . ] eine falsche nachgemachte Münze; imgleichen ein Ort, oder eine Werkstätte, wo falsche, verbothene, untaugliche Münzen gepräget werden.“ Diese Münzstätten waren vor allem in den 1620er-Jahren von großem Übel. Vgl. Friedrich Freiherr von Schrötter (Hg.), Wörterbuch der Münzkunde, Nachdruck Berlin 1970, S. 256 f. Herbert Rittmann, Deutsches Münzsammler-Lexikon, München 1977, S. 149 f. CLXX. Reichs-Stättisches Conclusum, über die proponirte Münz-Puncten, dict. Ratisbonae den 12/13. Septembr. 1666, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 394–403, hier S. 397 f. Die Praxis Gold- und Silbergerätschaften mit Beschauzeichen, d.h. mit Stempeln oder Punzen, zu versehen, war bereits seit dem 15. und 16. Jahrhundert durchaus üblich. Offenkundig hatte die Sorgfalt in dieser Hinsicht nachgelassen. Vgl. Rittmann, Deutsches Münzsammler-Lexikon, S. 42.
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auch nicht vorgegeben, in welcher korrekten Form das Gebotene umzusetzen war, ob durch einen Pass oder lediglich durch ein Auftrags- oder Gestattungsschreiben. Diese Frage war in dem Prozess zwischen den Löwensteinern und den Frankfurtern von erheblicher Bedeutung. Eine noch größere Rolle sollte jedoch dem Wörtchen bevorab im Gesetzestext zukommen. Diese auffällige Hervorhebung bedeutete für Juden eine im Vergleich zu den anderen genannten Personenkreisen verschärfte Beschränkung wirtschaftlicher Betätigung. Sie ist insofern bemerkenswert, taucht doch diese gegen sie gerichtete Formulierung – mit einer vielsagenden Ausnahme – so in keinem Dokument der währungspolitischen Diskussion des Vorjahres auf, findet sich dergestalt auch nicht in irgendeiner weiter zurückliegenden rechtlichen Bestimmung oder Expertise. Das Reichsgutachten, die vorausgehenden kurfürstlichen und fürstlichen Conclusa wie auch das reichsstädtische Conclusum setzten in annähernd gleichem Wortlaut die Maßgaben für die Handwerker und Kaufleute fest; nur die Reichsstädte vermerkten ausdrücklich, diesbezüglich eben jene Ausnahme bildend, „daß der Silberkauff nicht promiscué denen privatis, noch viel weniger den Juden gestattet, sondern dißfals sub autoritaté publica verfahren werde.“31 Aus ihrem Kreis kam also jene antijüdische Zuspitzung, die in dem grundlegenden Reichsgutachten nicht zu finden ist und die den Juden jegliche Aussicht auf eine Teilhabe an ehrlicher Kaufmannschaft beim Edelmetall-, Geld- und Wechselhandel, wie sie ihnen ein Dekret aus dem Jahr 1624 noch bot, mit deutlicher Härte entzog.32 Ganz offensichtlich wurde bei den abschließenden Verhandlungen auf dem Reichstag einem reichsstädtischen Interesse gefolgt, das so bei den anderen Reichsständen und Experten nicht zu bemerken war. Es kann nur vermutet werden, dass die Vertreter der Reichsstädte dergestalt einem Anliegen zur Gesetzeskraft verhalfen, das sie noch etliche Monate zuvor im Reichsgutachten nicht hatten durchsetzen können; warum dies so war, kann nur weitere Forschung ergeben. Für den im Folgenden untersuchten Konflikt ist es freilich nicht ohne Belang, dass er zwischen einem Reichsfürsten und einer Reichsstadt ausgefochten wurde, der – so die Argumentation Frankfurts – dieses gegen die Juden gerichtete bevorab aufgreifen sollte. 1691 und 1693 folgten Abschiede der in Münzangelegenheiten stets besonders eng zusammenarbeitenden Kreise Franken, Bayern und Schwaben, die sich abermals – wenn auch nicht ausschließlich, aber doch betont – gegen den jüdischen Silber- und Geldhandel wandten.33 31 32
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CLXX. Reichs-Stättisches Conclusum, über die proponirte Münz-Puncten, dict. Ratisbonae den 12/13. Septembr. 1666, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 394–403, hier S. 398. XCIV. Decretum der Churfürstl. und Gräflichen, wie auch der Stadt Franckfurt Abgeordneten und Deputirten, dero in ihrem Correspondenz-District begriffener Judenschafft, den Geld- und Münzwechsel betreffend, d. d. Franckfurth Dienstag den 17./27. Febr. ao. 1624, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 4, S. 234 f. CXLIX. Münz-Probations-Abschied der drey im Münzwesen correspondirenden Craise Francken, Bayern und Schwaben, Regenspurg, den 1. Octobr. st. n. 1691, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 5, S. 317–322, hier insbes. 321. CLXXVIII. Münz-Probations-Ab-
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Was am 5. September 1667 als gesetztes Recht veröffentlichte wurde, blieb mithin wirksam. In Bezug auf die Juden erhielt es in Frankfurt am 4. März 1760, also knapp hundert Jahre später, überdies eine deutliche Verschärfung. Erging doch an diesem Tag an die Reichsstadt durch den Reichshofrat ex officio eine Resolutio Caesarea, wodurch der „Magistrat ausdrücklich angewiesen wurde, auf das daselbsten allschon bestehende Gebot, daß die Juden aller Liefferung und Absendung einigen gemünzet- oder ungemünzeten Goldes oder Silbers zu einige Münzstätten, welche die auch wären, wie auch alles Geldwechsels oder sonstigen Handthierung und Handels mit Münzmeistern und demselben Werck anhängigen Persohnen bey Verlust der Städtigkeit und nach Befinden auch bey Leib- und Lebens-Straffe sich enthalten sollen, genauer als biß dahin von demselben beschehen, und weßwegen die Ahndung noch vorbehalten werde und gegen die Convenienten mit aller Schärffe auf der Stelle verfahren werden solle.“34
Die Kaiserliche Resolution von 1667 besaß demgemäß eine überaus langwährende und in Bezug auf den jüdischen Silberhandel 1760 sogar noch verschärfte Wirkung, als deren erneute Auslegung durch den Reichshofrat, nicht einmal acht Jahre nach der Aktualisierung, den Ausgang des Rechtsstreits zwischen der gemeinschaftlichen löwenstein-wertheimischen Regierung und der Reichsstadt Frankfurt 1768 bestimmte, ein Prozess, veranlasst durch den Silberhandel Wertheimer Juden im Auftrag ihrer Herren.
Der Vorfall und seine Umstände Es war im Sommer 1766, als die Regierenden Herren zu Löwenstein-Wertheim und ein Konsortium Wertheimer Juden, bestehend aus Fälcklein Meyer35 , Salomon Feiffel36 und Gabriel Amschel, in einen Konflikt mit der Reichsstadt Frankfurt gerieten, der schließlich in einen Rechtsstreit vor dem Reichshofrat mündete.37 Um diesen Prozess und seinen Ausgang erfassen zu können,
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schied der drey im Münzwesen correspondirenden Crayße Francken, Bayern und Schwaben, d. d. Nürnberg den 21./11. Sept. 1693, in: ebd., S. 373–378, hier insbes. S. 377. LXXXIII. Extractus Reichs-Hofraths-Protocolli, das Münz-Wesen im Reich, und in specie zu Franckfurth am Mayn betreffend, [. . . ] 4ten Martii 1760, in: Johann Christoph Hirsch (Hg.), Des Teutschen Reichs Münz-Archiv. Achter Theil, Nürnberg 1766, S. 170– 176, Zitat S. 172. Auch die Schreibweisen Fälklein, Maier oder Mayer begegnen in der Wertheimer und Wiener Überlieferung. Am 26. August 1762 unterschrieb er eigenhändig die Spezifikation einer Rechnung für den Schatzungs-Ober-Einnahm der fürstlichen Regierung mit „Fälcklein Mayer Jud“ – Staatsarchiv Wertheim-Rosenbergsches Archiv [im Folgenden: StA Wt-R] Rep. 15 Nr. 263. Die Schreibweisen der jüdischen Namen im Text wurden vereinheitlicht, die Fußnoten jedoch folgen der archivalischen Aktenüberlieferung. Auch die Schreibweisen Feifel, Feibel, Feissel und Pfeiffel begegnen in den beiden Überlieferungen. Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen ist die Überlieferung im Staatsarchiv Wertheim-Freudenbergsches Archiv [im Folgenden: StA Wt-F] Rep. 42 Nr. 26: Acta die [in] Franckfurth arrestierte zum Silberankauff bestimmte Gelder betr., 1766–1769. Die wei-
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sind zur Klärung des Sachverhaltes drei Schritte erforderlich: Zum Ersten verdient der Vorfall selbst Beachtung, zum Zweiten ist die Reichsgrafschaft und ihr Münzwesen von Bedeutung und zum Dritten geht es um die Ausmaße jüdischen Silberhandels im Wertheimischen.
1.
Bei dem Vorfall ging es um eine Beschlagnahme von eingebrachtem Gut, die der Oberzöllner Diez an der Wache beim Fahrtor, also unweit des Mainufers am kürzesten Weg zur Stadtmitte, vollstreckt hatte. Am 22. August 1766 gab er auf dem Rechnei-Amt zu Protokoll, „daß gestrigen Abends, nach schon geschloßener Rechney, ein Wertheimer Jude mit einem Nachen dahier angekommen, welcher einen verschlossenen Coffre, worinnen ihrem Angeben nach Gelder befindlich, mit sich geführet. Da nun ersagter Jude zwar mit einem Paß um Silber dahier einzukauffen versehen gewesen, über das anhero gebrachte Geld aber kein obrigkeitliches Certificat auf zu weisen vermogt: So habe er es für seine Schuldigkeit erachtet, den bemeldeten Coffre mit Geld anzuhalten, und solchen vorietzt [!] anhero gebührend einzulieffern. Der hierauf eingetretene Wertheimer Schutz Jud Fälcklein Mayer überreichte zuvorderst einen von der Hochfürstlich Löwenstein Wertheimischen Regierung unter dem 18 curr. ausgestellten Zollpaß, laut deßen er und sein Consorte Schutzjud Salomon Pfeiffel [d.h. Feiffel], zu Silber Liefferanten der dortigen Creyß Müntzstadt bestellte und Silber dahier einzukauffen beordert seyen, unter dem ferner Anfügen wie der Innhalt seines gestrign Tages arretirten Coffre in guten Gold und Silber Sorten bestehe, so zu dem ersagten Einkauff bestimmet seyen, welches die vorzunehmende Eröffnung und Untersuchung darthun werde. Nachdem man nun hiernächst den Coffre quaest. mit denen in Händen des Juden Fälcklein Meyer verbliebenen Schlüßeln geöffnet, so hat sich darinnen, ausser denen guten Gold- und übrigen Conventionsmäßigen Silbersorten, an Thalern, gantzen und halben Kopfstücken, in verschiedenen zu leichten Goldsorten, auch verruffenem Silber Geld, alles der Anlage sub Num: 2 gemäß vorgefunden, worauf man inne [!] besonders aufbewahret den Coffre selbst aber mit dem gesammten guten Geld unter des von dem Juden Meyer überreichten Pettschafft gelegt und letzteres ihm so fort wieder zu Handen gestellet.“38
Der Frankfurter Zöllner hatte sofort zu Beginn seiner Amtstätigkeit nach mitgeführten Geldern gefragt, jedenfalls berichten davon die Wertheimer Akten,39 die allerdings weniger genau sind als die von Frankfurt nach Wien geschickten Unterlagen. Die pecuniae arrestatae, das heißt die beschlagnahmten Gelder, machten die nicht unerhebliche Summe von 4.944 Gulden (fl) 3½ Kreuzern (xr) aus, die sich wenigstens aus 413¾ Goldstücken im Wert von 3.210 fl 42½ xr sowie Silbermünzen – das heißt Laubtaler und Konventions-
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tere Zitierweise dieser Akte nennt das jeweilige Einzelstück. Dem Staatsarchiv Wertheim sei für das stets bewiesene Höchstmaß an archivarischer Unterstützung herzlich gedankt. Ergänzt wurde die Wertheimer Überlieferung durch Bestände des Reichshofrates im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien [im Folgenden: HHStA Wien RHR]. HHStA Wien RHR 537 Denegata rec. L 16 (1–16). StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: Facti Species das zu Franckforth arrestirte Geld a 5.000 fl zum Silbereinkauf betr. exp. [Wertheim,] 7. November 1766.
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münzen – im Wert von 1.733 fl 21 xr zusammensetzen. Ein Sortenzettel40 erfasste die Zusammensetzung wie folgt: Stück
Sorte
fl
Xr
155¼ 194 31 31½ 2 6
Carolins ad 11 fl Ducaten ad 5 fl Max d’or ad 7 fl 20xr Louis d’ or ad 8 fl 45 xr Doppelte Souverains ad 15 fl Laubthaler ad 2¾ fl Conventions-Geld Summa
1.707 970 227 275 30 16 1.716 4.944
45 – 20 37½ – 30 51 3½
Hinzukamen noch „1 aus versehen beigepacktes paquet xr [Kreuzer] von ungefehr 10 fl.“41 Aus dem Verhör des Fälcklein Meyer lassen sich Einzelheiten entnehmen, die schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Konfliktes das Rechtsverständnis der Reichsstadt hinsichtlich des jüdischen Silberhandels erhellen. Die erste Vorhaltung des Zöllners war, wie es dazu gekommen sei, dass in dem Koffer „verschieden leichte Goldsorten an Carolinen und Ducaten“, aber auch Silbersorten enthalten seien, die sowohl durch kaiserliche Patente als auch durch Frankfurter Edikte verrufen seien, und wie es denn möglich sei, all dies „ohne obrigkeitlichen Paß“ einzuführen. Die Antwort lautete, dass es sich dabei um „Herrschaftliche Gelder“ handele, die der Münzverwalter Platz in Wertheim ausgehändigt habe, „ohne daß er [F. M.] ihre Beschaffenheit näher untersuchet“. Wie es zu einem Beipack von „10½ fl verruffenen alten Kreutzer[n] gekommen“ sei, entziehe sich Fälcklein Meyers Kenntnis. Auf den Vorwurf, „wie er sich unterfangen dürffen, so wohl denen Reichsgesetzen als den Kayserl[ichen] Allerhöchsten Verordnungen zu wieder sich mit Silber Lieferung auf Müntzen abzugeben“, kam die Entgegnung: „Er habe nicht gewußt, daß solches verbotten“ sei, habe „auch noch zu Zeit kein Silber erhandelt und seye also erböthig, von diesem Geschäft gantz abzustehen“. Schließlich wurde noch eine Unstimmigkeit im „beygebrachten Zollpaß“ bemerkt, darin sei von einer Silberausfuhr die Rede. Die Erklärung lautete, dabei müsse es sich um einen Schreibfehler handeln, bislang sei noch kein Lot Silber gekauft worden. Abschließend ging es darum, ob „er [F. M.] den Juden Müntz Eyd geschworen“ habe. „Nein“, so die Erwiderung, „vielmehr wäre ihm [F. M.] dessen
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HHStA Wien RHR 537 Denegata rec. L 16 (1–16): Frankfurter Eingabe vom 10. Juli 1767. Die Bruchangaben weisen darauf hin, dass sich u. a. kleinere Stückelungen in der Kollektion befanden, deshalb lässt sich die genaue Anzahl der Münzen nicht bestimmen. StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: Vollmacht für die Herren Firnhaber et Otto zu Franckfurt, Wertheim den 27ten Nov. 1766, Sortenzettel.
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Inhalt völlig unbekannt.“42 Allem Anschein nach war die Beschlagnahme doch ein wenig umfangreicher, sie betraf nicht nur die „zum Silberankauff bestimmte[n] Gelder, sondern“ auch Reiseutensilien und Reiseproviant. Diese „Effecten“ wollte der Schutzjude Gabriel Amschel mit Hilfe eines Legitimationspapiers, das er bei seiner Regierung am 22. April 1767 in Wertheim beantragte, aus Frankfurt zurückerhalten. Damit waren der „verarrestirte Coffre [. . . ] Kleidung, Dürrfleisch u. Wein-Krüge“ gemeint, wobei Amschel darauf hinwies, dass dies nicht sein, sondern seiner Tochter Eigentum sei.43 Für die Auseinandersetzung zwischen den beiden Reichsständen Wertheim und Frankfurt wie auch für den Prozess sind drei Konfliktpunkte von besonderer Bedeutung: erstens die grundsätzliche Frage, ob Juden zum grenzüberschreitenden Silber- und Geldhandel berechtigt seien, zweitens die Verbreitung verrufener, also für ungültig erklärter Münzen und drittens eine Passproblematik. All diese Aspekte werden bei der abschließenden Würdigung des Falles eine Rolle spielen. Doch nunmehr ist es angebracht, einen Blick auf die wertheimischen Verhältnisse und den dortigen Stand des Münzwesens zu werfen. 2.
Die frühesten Hinweise auf Wertheimer Münzrechte reichen in die Jahre 1363 und 1368, also in die Zeit Kaiser Karls IV. und des Grafen Eberhard I. (1355– 1373) zurück; seit 1408 gehörten die Verfügungsgewalt über Münze, Zoll, Geleit- und Judenschutz zur festen Ausstattung jenes Reichslehens, das König Ruprecht an Graf Johann II. (1407–1444), den Enkel Eberhards, ausgab.44 Ohne Zweifel war die Reichsgrafschaft durch ihre Lage an Main und Tauber und die klimatischen Bedingungen für die Landwirtschaft und vor allem für den Weinbau begünstigt. Das Gewerbe hatte meist nur lokale Bedeutung. Fuhrleute gab es zahlreich; die Schifffahrt bot eine gute Verkehrsanbindung mainaufwärts nach Würzburg wie mainabwärts nach der Handelsmetropole Frankfurt, ein Weg, den auch Fälcklein Meyer mit seinem Nachen genutzt 42 43 44
HHStA Wien RHR 537 Denegata rec. L 16 (1–16). StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: Extractus Fürstl. Reg[ierun]gs Protocolli, 22. April 1767. Staatsarchiv Wertheim-Gemeinschaftliches Archiv [im Folgenden: StA Wt-G] Rep. 1 a Passivlehen: Reichslehen Nr. 15 und 16. Vgl. Johann Friedrich Böhmer/Alfons Huber, Regesta Imperii VIII. Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV, Innsbruck 1877, Nr. 3923 und 4618. Johann Christoph Hirsch (Hg.), Des Teutschen Reichs Münz-Archiv. Erster Theil, Nürnberg 1756, S. 33 f., 39 f., 62 f. Hermann Ehmer, Geschichte der Grafschaft Wertheim, Wertheim 1989, S. 56 f., 65. Zur Geschichte der Juden in Wertheim vgl.: Eugen Ludwig Rapp, Die hebräischen Steininschriften in Wertheim, in: Wertheimer Jahrbuch (1961/62), S. 19–348. Franz Hundsnurscher/Gerhard Taddey (Hgg.), Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968 (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg; 19), S. 294–298. Arye Maimon/Mordechai Breuer/ Yacov Guggenheim (Hgg.), Germania Judaica. Band II: 1350–1519, Teilband 2, Tübingen 1995, S. 1586–1589.
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hatte. Jahrhundertelang bestanden Spannungen mit den Würzburger Fürstbischöfen, waren Landesteile und Rechte umstritten, doch schlimmer noch als dies sollten sich die komplizierten Herrschaftsverhältnisse in der Reichsgrafschaft erweisen. Sie bedrückten die Bevölkerung und behinderten eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung in erheblichem Maße. Ein Hausvertrag aus dem Jahre 1597 bestimmte in der seit 1524 evangelischen Grafschaft eine gleichberechtigte, in der Folge sehr konfliktträchtige Erbfolge. 1621 trat ein Erbe zum katholischen Glauben über, sodass fortan eine ältere gräfliche Linie lutherischen Glaubens und eine katholische, 1712 gefürstete, jüngere Linie eine komplizierte gemeinsame Regierung mit einer auch räumlich getrennten Doppelverwaltung bildeten. Für die Bürgerschaft bedeutete dies bis 1806, als die Grafschaft mediatisiert wurde, stets Diener mindestens zweier, in der Regel jedoch noch mehrerer Herren zu sein.45 Zu jener Zeit, in die der Konflikt mit Frankfurt fiel, waren Graf Johann Ludwig Vollrath zu Löwenstein-Wertheim-Virneburg (*1705, 1721–1790) und Fürst Carl Thomas zu Löwenstein-Wertheim-Rochefort (*1714, 1735–1789) die Oberhäupter beider Linien, die – trotz einer heftigen konfessionellen Auseinandersetzung in der Herrschaft Rosenberg – zu einem leidlichen Einvernehmen in Regierungsangelegenheiten auch mit den zur Mitherrschaft berechtigten evangelischen Grafen kamen.46 Und so schien sich für ein absolutistisches Regieren und Repräsentieren ein beruhigteres und besser bestelltes Handlungsfeld zu eröffnen, als es seit langem gegeben war. Carl Thomas wollte schon seit den 1740er-Jahren die bescheidene Hofhaltung in Wertheim in eine eindrucksvolle Residenz umgestalten.47 Ein prächtiger Entwurf lag vor, der dem Schloss einer evangelischen Gräfin48 auf der anderen Mainseite Gleichwertiges gegenübergestellt hätte. Doch schon bei der Planung, erst recht nach der Erstellung eines Etats 1750 traten die Defizite zutage, die sich so schnell nicht ausgleichen ließen, waren doch die Apanagen seiner Brüder um des lieben Friedens willen deutlich erhöht worden. Freilich war es auch auf evangelischer Seite um die Finanzen nicht besser bestellt. Wie bei so vielen kleineren Reichsständen richteten sich die merkantilen und kameralistischen Überlegungen in einer solchen Lage auf das Münzwe45
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Vgl. Robert Meier, Souverän und doch geteilt: Kondominate. Eine Annäherung an eine typische Sonderform des Alten Reichs am Beispiel der Grafschaft Wertheim, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 24 (2002), S. 253–272. Vgl. Ehmer, Geschichte, S. 192–197, 200–207. Erich Langguth, Aus Wertheims Geschichte, Wertheim 2004, S. 276–287. Zu der politisch günstigeren Lage trug auch die Zustimmung der evangelischen Seite bei, dass der katholische Fürst Carl Thomas als Vertreter der jüngeren Linie eine Anwartschaft auf die Pfälzer Kurwürde behauptete, die er auf die morganatische Abstammung der Löwensteiner von den Pfälzer Wittelsbachern gründete. Außerdem war ein anderthalb Jahrhunderte währender Erbschaftsstreit mit dem verwandten Haus Stolberg vor dem Reichskammergericht 1755 endlich mit einem Vergleich beigelegt worden. Vgl. Ehmer, Geschichte, S. 156–182, 200–205. Langguth, Wertheims Geschichte, S. 280–283. 1736 erbaut im heutigen Kreuzwertheim für Reichsgräfin Sophie Friederike von Löwenstein-Wertheim-Virneburg. Vgl. Langguth, Wertheims Geschichte, S. 275 f.
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sen, in der Hoffnung, daraus Gewinn zu erzielen.49 In Wertheim war dies nicht das erste Mal; und dass die Bemühungen, die seit dem 14. Jahrhundert bestehenden Münzrechte der Reichsgrafschaft wiederzubeleben, im Jahr 1620 einsetzten50 und während der Kipper- und Wipperzeit51 1621 bis in den Winter 1623/24 verstärkt wurden, ist wenig verwunderlich. Sie scheiterten nicht vorrangig deswegen, weil eine überhitzte Inflation grundsätzlich und fast überall auf jene zurückschlug, die mit schlechten Münzprägungen das Unwesen in Gang gesetzt hatten, sie scheiterten in Wertheim vor allem deswegen, weil die zerstrittenen Wertheimer Herren einander den gierig erhofften Münzgewinn nicht gönnten, sich gegeneinander wandten und deswegen weder Münzstätte noch Münzwesen effektiv einzurichten imstande waren. Ein Jahrhundert lang blieb die Münze ein beständiger, nicht selten zwistiger Gegenstand der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit, wurden Einrichtungspläne entwickelt, Immobilia und Personalia behandelt, 1755 gar eine Ausräumung des Münzhauses betrieben,52 um schließlich 1759 wieder vor der Erkenntnis zu stehen, ein – wie es hieß – in Verfall geratenes Münzwesen53 gründlich restaurieren zu müssen. 1760 drängte der Kaiser auf Wiederherstellung der Münze, die doch eine der „angesehensten [im] Fränk. Creis“ gewesen sei, wie der Kaiserliche Kreisgesandte Minister Baron von Wiedmann mitteilen ließ. Was aber die Kosten anbelange, stand zu lesen, so würden diese „so gros nicht seyn, sondern sich wohl bestreiten lassen und wären dieselben nicht zu rechnen gegen die Ehren, die man davon haben würde, wann solches Münz Regale mit allen gemei49
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Vgl. F[erdinand] W[ibel], Zur Münzgeschichte der Grafen von Wertheim und des Gesammthauses Loewenstein-Wertheim von der Verleihung des Münzrechtes (1363) bis zum Erlöschen desselben (1806) nebst geschichtlichen Excursen und einem Verzeichniss der sämmtlichen, diesen Geschlechtern und ihren Besitzungen angehörenden Münzen und Medaillen, Hamburg 1880, Bielefeld 21974. Vgl. auch: [Godefroi] Engelmann/[Jean Engelmann] (Hgg.), Münz-Cabinet des Reisenden, des Kaufmanns und des Numismatikers oder Abbildungen der currenten Münzen der verschiedenen Länder [. . . ], [Heft: Baden], Mul-house Ht. Rhin/Frankfurt am Main/Leipzig 1838 (mit Abbildungen und Kursangaben). Herrn Klaus Schulze, Wertheim, danke ich für den Hinweis auf dieses äußerst seltene Exemplar. – Leider enthält das Werk von Wibel zahlreiche Fehler, deshalb vgl. insbes. Bernhard Prokisch/Hubert Emmerig/Susanna Heinz, Repertorium zur neuzeitlichen Münzprägung Europas, Band 3, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation und Nachfolgestaaten: Der Fränkische Reichskreis, Wien 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für Numismatik und Geldgeschichte; 9). Gerhard Schön, Deutscher Münzkatalog 18. Jahrhundert, München 42007, S. 563–574, mit weiterführenden Literaturangaben. Gerhard Schön danke ich herzlich für seine detaillierten Hinweise zum Wertheimer Münzwesen. Eine Überarbeitung von Wibel wird derzeit von Werner Beck und Jürgen Morscheck vorbereitet. StA Wt-F Rep. 42a Nr. 68. Vgl. Susanne Sauer, Zur Münzgeschichte der Grafschaft Wertheim während der Kipper- und Wipperzeit, [Ungedruckte] Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades aus dem individuellen Diplomstudium „Numismatik“, Universität Wien 2007 (Exemplar im Staatsarchiv Wertheim). StA Wt-F Rep. 42a Nr. 4. StA Wt-F Rep. 42a Nr. 7.
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ner Approbation ausgeübet würde.“54 Am 15. März noch desselben Jahres registrierte die Wertheimer Verwaltung gar eine kaiserliche Anweisung, die den Betroffenen noch etliche Jahre später in lebhafter Erinnerung stand.55 1760 war es für einen Neubeginn in der Tat schon reichlich spät. Das Thema Münzreform hatte um die Jahrhundertmitte kräftige Impulse erfahren, wobei der Anstieg des Silberpreises eine beträchtliche Rolle spielte. Unter Kaiser Franz I., dem Gemahl Maria Theresias, war es seit 1748 zur Ausprägung leichterer Taler gekommen, von denen seit 1751 nicht mehr neun, sondern zehn auf die Kölner Mark gingen. 1753 folgte eine entsprechende Münzkonvention zwischen Kaiserin Maria Theresia und Kurfürst Maximilian III. Joseph von Bayern, die den geänderten Münzfuß für die neue, gemeinsame Konventionswährung festschrieb.56 Gerechnet wurde in Gulden, wobei zwei Gulden auf einen Taler kamen. Bayern konnte diesen 20-Gulden-Fuß nicht halten und ging schon 1754 zu einem 24-Gulden-Fuß über, der dann nach seiner Verbreitung in den süd- und westdeutschen Reichskreisen unter der Bezeichnung ,rheinischer Gulden‘ allgemein bekannt und geläufig wurde. In Wertheim sollte es daraufhin sowohl diesen rheinischen als auch den ,fränkischen Gulden‘ geben, dessen Geschichte bis in das 17. Jahrhundert zurückreichte. Für die Ausmünzung machte dies keinen Unterschied, allerdings war die Bewertung des umlaufenden Geldes eine andere: 4 fl fränkisch wurden zu 5 fl rheinisch veranschlagt, die Kreuzer folgten diesem Prinzip.57 Trotz der kaiserlichen Intervention von 1760 brauchten die nicht eben finanzstarken Löwensteiner über ein halbes Jahrzehnt, um ihre Münzstätte den neuen Erfordernissen entsprechend hinreichend zu modernisieren;58 54 55 56
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StA WT-F Rep. 42 Nr. 26: Facti Species, hierzu die (ältere!) Anlage mit der Mitteilung über die Ansichten des Ministers unter dem Datum Nürnberg, den 10. Februar 1760. Ebd. Der Wortlaut bei Siegfried Becher, Das österreichische Münzwesen vom Jahre 1524 bis 1838 in historischer, statistischer und legislativer Hinsicht [. . . ], Band 2, Wien 1838, S. 220–233. Vgl. außerdem: Rittmann, Deutsche Geldgeschichte, S. 336–339. Günther Probszt, Österreichische Münz- und Geldgeschichte. Von den Anfängen bis 1918, Wien/ Köln/Graz 2 1983, S. 496 f. Sprenger, Das Geld der Deutschen, S. 137–139. Dietrich O. A. Klose/Franziska Jungmann-Stadler, Königlich Bayerisches Geld. Zahlungsmittel und Finanzen im Königreich Bayern 1806–1918, München 2006, S. 1. Vgl. Gerhard Schön, Münz- und Geldgeschichte der Fürstentümer Ansbach und Bayreuth im 17. und 18. Jahrhundert, Online-Publikation Phil. Diss. München 2005, S. 80– 93. Rainer S. Elkar, Die bayerisch-fränkische Währungsunion, in: Werner K. Blessing (Hg.), 200 Jahre Franken in Bayern. 1806 bis 2006. Aufsätze, Augsburg 2006, S. 34–38. Hier ist als Corrigendum (S. 34) anzubringen: Für Eichstätt bestimmte Münzen wurden nicht in Würzburg, sondern in Nürnberg oder München geprägt. StA Wt-F Rep. 42a Nr. 14: Die Eröffnung hiesiger Münzstätte, Ausmünzung conventionsmäßiger Geldsorten und den Münzprobationstag betr. (1760–1762); Nr. 15: Die Eröffnung hiesiger Münzstätte und Ausmünzung conventionsmäßiger Geldsorten nach dem Münzprobationsfuß betr. (1761–1762); Nr. 42: Die Wiederaufrichtung und Eröffnung der Münzstätte in Wertheim betr. (1761–1762, 1765); Nr. 59: Die Einrichtung und Wiedereröffnung der fränkischen Kreis-Münz-Stätte in Wertheim betr. (1761–1763); Nr. 63: Die Münzeinrichtung betr. (1761–1763).
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andere Münzstände in Süddeutschland hatten in dieser Zeit durchaus schon eigene Konventionstaler geprägt. In Wertheim wurde hingegen noch 1766 lediglich minderwertiges Kupfergeld hergestellt, wofür die alte Einrichtung offenkundig durchaus genügte.59 Doch im selben Jahr war endlich die Münzstätte im Leutweinschen Haus60 nach Anschaffung zahlreicher Münzinstrumente61 betriebsfähig. In den folgenden Jahren sollten noch einige Anwürfe, das heißt jene im 18. und zum Teil noch im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Prägeeinrichtungen mit Spindelwerk, angeschafft werden. Unglücklicherweise zerbrach eines dieser in Herstellung wie im Transport teuren Großgeräte.62 Etwa 14.000 fl waren zwischen 1760 und 1766 verausgabt worden; so günstig, wie Minister von Wiedemann sich das vorgestellt hatte, war der kaiserliche Wunsch oder – besser gesagt – Befehl nicht umzusetzen gewesen. So waren denn 1767 die Regierenden Herren von LöwensteinWertheim, der evangelische Johann Ludwig Vollrath wie auch der katholische Carl Thomas, ausweislich der Ausmünzungsmanuale ihres Münzverwalters endlich in der Lage, die neuen Taler in ihrer renovierten Münzstätte herzustellen.63 Führt man sich all diese Umstände vor Augen, so fiel die Aktion des jüdischen Konsortiums in eine besondere Zeit: Die Herrschaft war einigermaßen befriedet, die Münzstätte war – nicht zuletzt auf kaiserliches Drängen hin – technisch auf neuestem Stand und produktionsbereit, Silber wurde gebraucht, um die Umstellung auf die neue Konventionswährung und damit die Integration der Grafschaft in ein größeres Währungsgebiet vollziehen zu können. Welche Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem jüdischen Silberhandel zu und wie wurde er durchgeführt?
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Vgl. Schön, Deutscher Münzkatalog, S. 572 (Gemeinschaftsprägungen von 1- und 2Pfenning-Stücken Nr. 32–34 und 36). StA Wt-F Rep. 42a Nr. 16. StA Wt-F Rep. 42a Nr. 17 und Nr. 48. Auch der Münzgraveur Stockmar erhielt mit einem „neuen [Punzen-]Alphabet“ eine verbesserte Ausstattung: StA Wt-F Rep. 42 Nr. 38. StA Wt-F Rep. 42a Nr. 52 u. Nr. 62. In den Manualen werden die eingelieferten Silbermengen hinsichtlich ihrer Verwendung bei der Ausmünzung aufgeführt und bilanziert. Das Rohsilber wurde in Raugewichtseinheiten gewogen. Diese waren eingeteilt in Mark, Lot, Quentchen und Pfennig und zwar wie folgt: 1 Mk = 16 Lt = 64 Qt = 256 Pf. Die entsprechende Unterteilung beim Feinsilber war: 1 Mk = 16 Lt = 18 Gr(än). Der angesprochene Nachweis für 1767 ist zu finden in: StA Wt-R R 46 Ausmünzung Erstes Quartal 6. Juni bis 1. September 1767: Demnach empfing der Münzverwalter laut „Schmeltz Zettul No. 1“ am 19. Juni 5 Mk 12 Lt rau bzw. 4 Mk 13 Lt 1 Gr fein, um sie „zu convent[ions] thalern“ zu verwenden. Diese ergaben „an conv.thl. Netto“ im 24-Gulden-Fuß 74 fl 24 xr. Mit Hinweis auf „Schmeltz Zettul No. 2“ vom selben Tag wurden 205 Mk 13 Lt Rau bzw. 119 Mk 9 Lt 16 Gr Fein für Konv.-20Kreuzer-Stücke im Wert von 1781 fl 24 xr verarbeitet.
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3.
Gabriel Amschel und Fälcklein Meyer waren aus Sicht der wertheimischen Regierungen keineswegs Personen von geringer Bedeutung.64 Der Name des Ersteren, der übrigens der Schwiegervater des an dem Konsortium beteiligten Salomon Feiffel war,65 begegnet zu Herrschaftszeiten des Fürsten Carl Thomas wiederholt in Abrechnungen. Zu seinem großen, keineswegs nur auf die Grafschaft Wertheim begrenzten Schuldnerkreis gehörten nicht nur die sogenannten einfachen Leute, sondern auch die Regierung, viele höhere Beamte und Standespersonen.66 Die Überlieferung zu Fälcklein Meyer hingegen umfasst mit den Jahren 1754 bis 1785 einen größeren Zeitraum, aber eine insgesamt doch etwas schmälere Korrespondenz, die auch erkennen lässt, dass seine Tätigkeit als Geldverleiher in engeren Bahnen verlief. Wie Gabriel Amschel war er Schutzjude des katholischen Hauses, das nicht nur in der Stadt, sondern auch auf den Dörfern etliche Schutzjuden aufgenommen hatte.67 Zwar suchte Fälcklein 1758 gemeinsam mit einem anderen Glaubensverwandten aus Wertheim um die Reduzierung des Schutzgeldes nach, doch deuten alle Anzeichen darauf hin, dass er durchaus wohlhabend war. Zeitweilig hatte er auch den Judenzoll gepachtet.68 Viele Jahre war er mit der Verpflegung und Montierung des „hiesigen Kontingents“ beschäftigt, man würde dies als Truppenversorgung bezeichnen.69 Dabei konnten Konflikte entstehen.70 Kaum anders als Gabriel Amschel wusste Fälcklein Meyer seine 64
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Im Staatsarchiv Wertheim sind die Bestände zur Geschichte der Juden vorzüglich durch Online-Findmittel erschlossen. Bereits diese vermitteln einen guten Eindruck über die Aktivitäten der im Rahmen dieser Studie genannten Personen. Zu Gabriel Amschel gibt es 62 Nachweise. StA Wt-R Rep. 12k Nr. 951: Nachsuchen des Schutzjuden Gabriel Amschel zu Wertheim um einen Trauungsschein für seine Tochter Marianne, welche sich an Salomon Feiffel von Mosbach verheiratet, 1765. Die Quellen hierzu sind im Staatsarchiv Wertheim ausweislich der Online-Findmittel außergewöhnlich reichlich vorhanden. StA Wt-R Rep. 102 Nr. 244: Schutzgeld 1753–1758. Enthält ein Verzeichnis der Schutzjuden aus Wertheim, Wenkheim, Dertingen, Urphar, Kreuzwertheim und Remlingen und ihrer Zahlungen 1754–1757, Festsetzung der Schutzgelder 1751–1754, Bitte des Fälklein Maier und des Nathan Freudenberger aus Wertheim um Reduzierung des Schutzgeldes 1758, Bitte des Marx Schlesinger bzw. seiner Witwe um Erlass des Schutzgeldes 1753 und 1758, Bitte der Juden des Amtes Breuberg um Ermäßigung des Schutzgeldes 1758, Annahme des Machol aus Kreuzwertheim als Schutzjude. StA Wt-R H 16 Nr. 70 enthält u. a. die Verpachtung des Judenzolls an Fälklein Maier (1774). StA Wt-R Rep. 99c Nr. 148 erwähnt die von dem Judenzollpächter Fälklein Meyer gegen den Zöller [!] Hörner zu Höhefeld und den Jud Friedberger angebrachte Zolldefraudation des Judenzolls (1773–1774). StA Wt-R Rep. 12 k Nr. 841 und 920, StA Wt-R Rep. 15 Nr. 66 und StA Wt-R Rep. 15 Nr. 73 (dies bezogen auf das Jahr 1763), Nr. 263 (Zeitraum 1757 bis 1781), StA Wt-F Rep. 163 Nr. 9, 573 und 660 (Zeitraum 1759 bis 1780). StA Wt-R Rep. 15 Nr. 71: Von dem Stadtrat verweigerte Unterschrift der Obligation in Betreff seines konferierten Anlehens aus der Pfarr Waraner Vormundschaft zur Abfüh-
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Ansprüche zu behaupten.71 Beide zählten auch Dorfpfarrer zu ihren Schuldnern.72 Fälcklein Meyers Stellung zur fürstlichen Regierung war also gewiss nicht schlechter als jene des Gabriel Amschel. Beide wohnten in der Stadt, nur wenige Schritte vom Marktplatz und von der Münze entfernt. Ein Ghetto gab es in Wertheim nie; allerdings ist zu bemerken, dass die Juden doch etwas aus der Stadtmitte, wo bis ins 15. Jahrhundert ihre Synagoge stand, herausgerückt lebten, in einem Gebiet, das stärker vom Hochwasser bedroht war als andere Straßenzüge. In der Familie des Fälcklein Meyer blieb der Wohlstand erhalten. Alles spricht dafür, dass der Handelsjude Gerson Fälklein, der sich später Falkner nannte, Meyers Sohn war. Er hinterließ nach seinem Tode 1830 die reiche Falknersche Stiftung zugunsten jüdischer Armer.73 Fälcklein Meyer war es, der am 8. August 1766 seiner Regierung den Vorschlag machte, „wie er Hoffnung habe, eine Silber liefferung in rauher marck zu accordiren, und daß er dieserwegen auf eigene Kösten nach F[rank]furth zu reisen entschloßen, und bitte ihn wegen befreyung vom Leibzoll mit einem Paß zu versehen, und ihme wegen des Einkauffs nähere weisung insbesondere der zahlung halber zu geben.“
Es erging der Bescheid, den gewünschten Pass und eine Befreiung vom Leibzoll vorzusehen. Schon am 13. August wurde Fälcklein konkreter und zeigte an, „wie er eine gelegenheit zur Silberliefferung in rauher mark ausfindig gemacht und verhoffe, dieselbe so zu praestiren, daß man ohne Schulden prägen könne, ime wäre erforderlich, eine standhafft Entschließung zum wegen der zu treffenden Accords zu nehmen und zum Einkauff 3.000 fl zu[zu]schießen, indem bey denen ersten liefferung ein jeder bedenken nehme, sich in denen neu ausgeprägten geld Sorten bezahlen zu laßen.“
Die Entschließung erging.74 3.000 rheinische Gulden bedeuteten eine erhebliche Summe. Sie entsprach 91 Prozent der öffentlichen Ausgaben der Stadt Wertheim im Jahr 1760,75 einer Gemeinde mit 733 Haushaltungen.76 Auch hätte man davon etwa 173 bedürftige Personen, nämlich Arme, Kranke, geistig Behinderte, ein Jahr lang im
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rung der schuldigen Verpflegungsgelder für hiesiges Contingent an den Lieferant Juden Fälklein Meyer 1762. Auch hierzu besitzt das Staatsarchiv Wertheim eine gute Überlieferungslage. StA Wt-R Rep. 87 l Nr. 1413: Schuldsache [des Fälcklein Meyer] gegen Pfarrer Fleiner zu Hasloch 1785; StA Wt-F Rep. 155 A 97: Sache des hiesigen Schutzjuden Gabriel Amschel gegen den Pfarrer Eichel von Bettingen wegen rückständiger Kaufschuld von 10 Thaler betr., 1773. Vgl. Langguth, Wertheims Geschichte, S. 49–51, 407 f. StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26. Die einzelnen Stücke finden sich unter dem angegebenen Datum. Staatsarchiv Wertheim-Stadtarchiv [im Folgenden: StA Wt-S] Bürgermeisterrechnung 1760, pag. 102: Die Ausgaben beliefen sich in diesem Jahr auf 4.095 fränkische Gulden 7 Batzen und 2¾ Kreuzer. 1 fl fränkisch entsprach 1¼ fl rheinisch, er hielt 15 schwere Batzen oder 75 Kreuzer, der rheinische ¼ weniger, d.h. 60 Kreuzer. 4.095 fl fränk. waren also 2.730 fl rhein. Vgl. Rittmann, Deutsche Geldgeschichte, S. 313 f. Ders., Deutsches Münzsammler-Lexikon, S. 104, 347 f. Im Jahre 1782, hierzu: Langguth, Wertheims Geschichte, S. 338.
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Hospital der Stadt unterstützen können, betrug doch der entsprechende Satz, der von der Herrschaft pro Person gewährt wurde, 20 Kreuzer die Woche, was freilich nicht eben viel war.77 Zur Durchführung seines Unternehmens verband sich Fälcklein mit den beiden anderen Juden zu einem Konsortium, wie es sinngemäß auch in einem späteren Schreiben hieß, wobei aber nur bei ihm und Gabriel Amschel, nicht aber bei Salomon Feifel hinter der Unterschrift der Zusatz Schuz Jud folgt. Sie zeichneten gemeinsam den „Silber Liefferungs Accord“, der am 15. August 1766 nunmehr den „beederseitige[n] Hochfürstl. u. Hochgräfl. Löbl. Regierungen ad ratificandum“ vorgelegt wurde. Die Vertragskonditionen waren sehr präzise: Es sollten „150 Mark fein in Silber zu Conventions Kopfstücker à 9 Loth 6 gran [oder Grän] fein Gehalts und 150 Mark fein in Silber zu Conventions halben Kopfstck. à 8 Loth fein Gehalts in Cölln Gewicht“. Die Lieferung sollte „von dato in 14 Tagen zur hiesigen gemeinherrschafftl. Münz Stadt auf die von dem hiesigen Münz Waradein zu machenden Tiegel Probe auf dero eigene Kosten“ erfolgen. Umgerechnet waren das 70,182 kg Münzsilber, also durchaus eine Masse, die beträchtliche Transportvorbereitungen erforderte, auch, was deren Sicherheit anbelangt. Davon ist jedoch nichts in den Quellen zu lesen. Die Feinheitsgrade verdienen Beachtung. Ganz eindeutig ging es dabei um Silber, das für die Ausprägung von Konventionsmünzen bestimmt war. Während die Taler 13 Lot sechs Grän fein (833,333 %fj) hielten, waren die Kopfstücke, womit die 20Kreuzer-Münzen gemeint waren, auf neun Lot sechs Grän (583,333 %fj) und die halben Kopfstücke, also die 10-Kreuzer-Münzen, auf acht Lot (500 %fj) angesetzt.78 Ohne jeglichen Zweifel lautete der Auftrag, den gesetzlichen Vorgaben entsprechendes Münzsilber zu liefern. Das jüdische Konsortium ließ sich darauf ein. Tatsächlich hat die Wertheimer Münze 1767 auch Kopfstücke und halbe Kopfstücke emittiert.79 Bei dem Geschäft ging es jedoch um eine deutliche höhere Summe als jene 3.000 fl. Der Vertrag setzte nämlich für das feinere Silber der Kopfstücke einen Preis von 23 fl 46 xr für die Mark und bei den halben Kopfstücken von 23 fl 42 xr an. Dies ergibt im ersten Fall einen Wert von 3.565 fl und im zweiten einen solchen von 3.555 fl, insgesamt also von 7.120 fl rheinisch. 2.000 fl sollten sie laut Vertrag sofort bar, weitere 1.000 fl innerhalb von acht Tagen erhalten. Die offene Differenz von immerhin 4.120 fl sollte in Wertheim zu einem deutlich späteren Zeitpunkt beglichen werden. Er war mit der Ausmünzung verbunden und zwar so, dass die Beteiligten ihr Geld in den aus dem „gelieferten Silber vermünzten Sorten“ als 20- und 10-Kreuzer-Stücke erhalten sollten. Sofern dann „wider Vermuthen“ 77 78
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StA Wt-R R 5 1760/61: Wertheimische Hospital-Rechnung von Petri 1760 biß dahin 1761. Vgl. Herbert Rittmann, Deutsche Münz- und Geldgeschichte der Neuzeit bis 1914, in: Archiv für deutsche Postgeschichte (1976), S. 62 f. Zum Vergleich: Sterlingsilber hat den Feinheitsgrad von 925 %fj. Wibel, Münzgeschichte: 20 Kreuzer des Grafen Johann Ludwig Vollrath: S. 250, Nr. 120, und des Fürsten Carl Thomas: S. 288–291, Nr. 246–257; 10 Kreuzer Johanns: S. 250, Nr. 121, Carls: S. 291 f., Nr. 258–261.
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noch eine Masse ungemünzten Silbers bliebe, so erklärten sich die drei bereit, „diesen Rest Silber in dem Preiß, als sie solches geliefert haben, auf die Probe von hiesigem H. Münz Waradein gegen Erlegung baaren Geldes dafür wiederum an[zu]nehmen“. Die drei Juden handelten also mit beträchtlichem Risiko und zu knapp 58 Prozent kreditierend – vorausgesetzt, erwähnte Silbermenge wäre auf einmal zu beschaffen gewesen. Was in Wertheim nun geschah, war die umgehende Veranlassung der Zahlung von 2.000 fl rhein. an die Juden und die Besorgung von Zollpapieren. Beides wurde schon am 19. August auf den Weg gebracht. An die Hessen-Hanauische, an die Kurmainzische Regierung sowie an Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Frankfurt erging – sicherlich annähernd gleichlautend – das Gesuch, „nicht nur das von hiesig[er] Münz[-Statt] erkauffte Silber zollfrey gehen, sondern auch gedachten Schuz-Juden et Consorten allenthalben ohne Abnahm eines Leib-Zolls pass[iren] und repassiren zu laßen, welches man bey dergleichen und andern Vorfallicheiten bey der hiesigen Zoll Statt zu erwiedern“
bereit sei.80 Die Juden mussten also mehrere Zollgrenzen passieren. Nur die hessen-hanauische Regierung reagierte schnell und geneigt, sie werde „das nöthige so gleich“ verfügen, „damit solche Effecten an hiesiger Zoll Stätte frey gelaßen werden.“81 Vom Kurmainzer Hofrat kam ein wenig später die unerfreuliche Mitteilung, das Begehren sei „in Betracht deren dabey leichtlich vorgehen mögenden Unterschleiffen aller Dings bedencklich“, weswegen man „zu willfahren billigen Anstand“ finde.82 Dies waren keine guten Vorzeichen für das Unternehmen, gleichwohl begaben sich die Juden auf die Reise. Ob sie von ihrer Regierung nicht gewarnt oder ob sie nachgerade hasardierend auszogen, ist nicht zu ermitteln. Möglicherweise wussten sie aber auch Mittel und Wege, um an schlecht bezahlten Zöllnern vorbei zum Ziel zu gelangen. Tatsächlich ereilte sie das Unheil und die Beschlagnahmung der Ware denn doch. Am 2. Oktober 1766 bestätigten die Frankfurter den Eingang zweier Wertheimer Schreiben vom 23. und vom 30. August. Zu diesem Zeitpunkt war die Beschlagnahme bereits erfolgt. In hervorragender Kanzleischrift übersandten sie ein juristisch höchst detailliert und präzise ausgeführtes Schreiben, das ihre bereits am 25. August abgegebene Stellungnahme erhärten sollte: Gewiss sei das Vorhaben der Wertheimer, gute Konventionsmünzen zu prägen, „aller Belobigung würdig“, doch ihre Vorgehensweise in Bezug auf einen Silberkauf in Frankfurt habe gleich mehrere Rechtsmängel, weswegen eine Confiscation veranlasst worden sei:83 80 81 82 83
StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: Entwurf eines Zoll-Paß für Jud Fälcklein Meyer et Consorten dahier, Wertheim 19. August 1766. Ebd.: Antwortschreiben vom 22. August 1766. Ebd.: Antwortschreiben vom 28. August 1766. Ebd.: Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt an Löwenstein-Wertheim, 2. Oktober 1766.
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1. Der Pass weise einen Mangel aus, sei doch darin von einzukaufendem Münzsilber, „nicht ein Wort“ aber „von einem Geld Transport“ die Rede gewesen. Dies verstoße gegen das Kaiserliche Transport-Patent vom 4. März 176084 und ein zugehöriges Reskript vom 10. Februar 176185 , weswegen die Beschlagnahme begründet sei. 2. Nach den „Reichs Gesetzen und in specie iuxta clementissimum Rescriptum caesareum de 14. Febr. 1760“ werde ohne Einschränkung bestimmt, „daß Juden gantz und gar nichts mit dem Müntz Wesen zu schaffen haben, sondern sich des Silber-Einkaufs und Liferung auf Münz-Stätte ohne allen Unterschied, ob gut oder schlecht daselbsten gemüntzet werde, enthalten sollen.“ 3. Es seien „verrufene Gelder“ im Geldtransport gewesen, die „ohneingeschnitten anhero gelanget“ seien. Aus diesem Grund seien sie „der Confiscation unterworfen“ und in Folge der sukzessive erlassenen kaiserlichen Verrufungspatente zusätzlich mit einem Strafgeld in doppelter Höhe zu ahnden. Dabei handele es sich insbesondere um „zu leichte Gold Sorten“. Was diesen Punkt anbelangte, so trugen die Frankfurter keine Bedenken, auf ein eigenes Edikt vom Oktober 176086 zu verweisen, das in der Zeit nach der Beschlagnahme erging. Eine Freigabe, gar eine unmittelbare Übergabe an die betroffenen Juden war so rasch nicht zu erreichen. Deshalb erteilten die Grafen Johann Ludwig Vollrath, Friedrich Ludwig und Wilhelm Heinrich am 4. Oktober der Frankfurter Kauf- und Handelsfirma Firnhaber & Otto Vollmacht zur Auslösung des beschlagnahmten Gutes. Die als Banquiers bezeichneten Unternehmer sollten dabei eine Bürgschaft in Höhe von 5.000 fl leisten, die Grafen sicherten ihnen Schadloshaltung einschließlich aller Revenuen und Hypotheken zu, wobei sie davon ausgingen, dass Firnhaber & Otto „innerhalb 6 Monathen [. . . ] entweder ihre[r] geleisteten Bürgschaft entlediget“ oder ihnen der Betrag bar erstattet werde.87 Doch so rasch wie erhofft ging es nicht, die juristischen Auseinandersetzungen mit Frankfurt zogen sich hin. Die genannten drei Punkte 84 85
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LXXXIII. Extractus Reichs-Hofraths-Protocolli, vgl. Anm. 34. CXXII. Extract Reichs-Hofraths-Conclusi, den Transport des gemünzten und ungemünzten Gold- und Silbers betreffend, d. d. Martis 10. Febr. 1761, in: Hirsch, MünzArchiv, Teil 8, S. 263–265. CIII. Frankfurthisches Conclusum in Münzsachen, d. d. 10. Oct. 1760, in: ebd., S. 212 f., mit genauen Anweisungen für „Kutscher, Fuhrleute, Schiffer und alle diejenige, durch welche gemünztes oder ungemünztes Gold und Silber zu Wasser oder zu Land anhero gebracht“ wird. Darin wird eine Anzeige der mitgeführten Edelmetallgüter bei dem Rechnei-Amt und die Beantragung eines Passierscheines „gegen Erlegung“ von 8 Kreuzern vorgeschrieben. Im Fall der Zuwiderhandlung drohten „Confiscations- und andere schweren Straffen“. StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: Vollmacht der gemeinschaftlich regierenden Grafen zu Löwenstein-Wertheim-Rochefort, Wertheim, 4. Oktober 1766. Am 27. November 1766 folgte für Firnhaber & Otto eine ähnliche Vollmacht, diesmal vermutlich von der Kammer der anderen Linie.
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sollten den Kern des Rechtsstreits bilden, der schließlich vom Reichshofrat zu entscheiden war.
III. Der Rechtsstreit Die Post zwischen Frankfurt und Wertheim eilte rasch. Schon zwei Tage, nachdem die Frankfurter ihre grundsätzliche Position dargelegt hatten, also am 4. Oktober 1766, gaben die vier gemeinschaftlich regierenden Herren Johann, Friedrich, Carl und Wilhelm ein Schreiben zur Ausfertigung. Bemerkenswert ist, wie der Sachverhalt nunmehr dargestellt wurde: Die Schutzjuden seien „medio Augusti nup. mit einer Summa Geldes von fünf Tausend Gulden [. . . ] nach Frankfurth abgesendet“ worden. Dieses Geld sei leider „aus Veranlaßung“ eines dem „Juden von hieraus mitgegebenen Zoll-Paß untergelaufenen Mis-Verstandes in Beschlag genommen“, aber dank einer Bankbürgschaft denn doch „losgegeben worden“. Daraus entstünden Revenuen, das heißt Kosten; auch habe man die Versicherung gegeben, innerhalb von sechs Monaten die Bürgschaft einzulösen.88 Die weitere Korrespondenz mit Frankfurt, die von dem Wertheimer Hofrat Huth geführt wurde, verlief ergebnislos; dort erklärte man sich zwar „bei allen sonstigen möglichen Gelegenheiten zu Erweisung nachbarlicher Gefälligkeiten dienstbereitwillig und geflissen“, nicht jedoch in der Angelegenheit der beschlagnahmten Gelder.89 Die Sache wurde von löwenstein-wertheimischer Seite dem für die Grafschaft zuständigen Fränkischen Reichskreis vorgetragen, sicherlich eine gute Adresse, war man doch dort sehr auf ein ordentliches Münzwesen bedacht. Aus dem umfänglichen Bericht geht hervor, dass die 5.000 fl aus der wertheimischen Münzkasse bar ausgezahlt und dass in der Tat in Frankfurt „bei dem vorgefundenen Geld einige leichtwichtige, auch ein kleiner Particul verrufener, aber in Wertheim gültige[r] Sorten an ohngefehr 12 bis 13 fl“, also ein Geringes mehr als die bereits erwähnten 10 fl in einem Päckchen, dabei waren.90 Dies ließ sich wohl ebenso wenig verschweigen wie die Misslichkeit, bei der Ausstellung des Passes nicht alles vorgesehen zu haben. Die Argumente der Gegenseite waren ohne Zweifel gewichtig und nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Nun kam es darauf an, dem etwas entgegenzusetzen, und 88
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Ebd.: Gemeinschaftlich regierende Grafen zu Löwenstein-Wertheim-Rochefort, von den Grafen eigenhändig gezeichneter, zur Ausfertigung gegebener Kanzleientwurf, 4. Oktober 1766. Ebd.: Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt an den Gräfl. Löw.-Werth. Hofrat Huth, 11. Oktober 1766. Ebd.: Facti Species. Unter den beschlagnahmten Münzen befanden sich ausweislich des späteren Reichshofratsbeschlusses „etliche leichte Gold und verruffene Silber sorten“. Siehe HHStA Wien Relat 92 L 5: Zu Löwenstein Fürst Carl vor sich und seine gräfl. Mitherrschaften zu Wertheim C[ontra] den Magistrat zu Frankfurt. Concl[usum] 11. Jan. [1]768.
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so beriefen sich denn der katholische Fürst Carl Thomas und die mitregierenden Grafen der evangelischen Linie ebenfalls auf einen kaiserlichen Befehl, der ihnen doch vorgegeben habe, die Wertheimer Münze wiedereinzurichten und von dort aus eigenes Konventionsgeld in Umlauf zu bringen. Und so hofften die Löwenstein-Wertheimer denn auch, das Beschlagnahmte mit Hilfe einer kaiserlichen Weisung zurückzuerhalten, ohne die der Rat zur Herausgabe nicht bereit war.91 Als man den Fränkischen Kreis mit der Angelegenheit befasste, zeichnete sich bereits so etwas wie ein Politikwechsel ab: In Frankfurt war nichts zu erreichen, sodass auch die gräflichen Verwaltungsbeamten nach alternativen Wegen suchten, und diese schien nur ein anderer beschreiten zu können: Hieronymus Heinrich von Hinckeldey, seit 1763 als Regierungs- und Kammerpräsident des Fürsten Carl Thomas dessen höchster Beamter – ein Protestant, der seinen Glauben nicht verließ, was zu jenem Zeitpunkt offensichtlich kein so großes Problem mehr bei seinem katholischen Herrn darstellte.92 Hinckeldey, ein hervorragender Jurist und kenntnisreicher Verwaltungsfachmann, dank seiner Frau überdies ein recht wohlhabender Mann mit eigenem Schlösschen in Thüringen, hielt sich Ende des Jahres 1766 in Wien auf, wo er sich als geschickter Diplomat erweisen sollte. Einen Monat lang hatte er dort „die beyde[n] Depechen aus Wertheim erwartet, die zu handeln ihn imstande setzten“. Nun aber erklärte er: „In der Haupt-Sache trage ich gar keine Zweifel, daß der Magistrat dießes Geld biß auf die verrufene[n] Silber-Sorten wieder herausgeben müsse. Es walten aber 2 böße Umstände vor, so die Sache auf Jahre hinaus verzögern können. Der erste ist, daß bey Reichs-HofRath wegen einer sich ergebenen gewißen Collision gar keine Müntz-Sachen mehr in Vortrag kommen, biß dieße Collision gehoben seyn wird; der andere ist, daß der Frankfurt. Magistrat keine Cabinets-Befehle hierüber von Kays. May[estä]t annehmen will.“93
Die Zuversicht Hinckeldeys, dass die Sache irgendwann für Wertheim gut ausgehe, war deshalb schon ein wenig kühn. Was die Frankfurter dem Reichshofrat vortrugen, bot eine umfassende, detaillierte und höchst solide juristische Begründung ihres Handelns, in der all jene gesetzlichen Maßgaben auftauchten, die den jüdischen Silberhandel und das Passwesen betrafen:94 nämlich der Reichsschluss vom 5. September 1667,95 zwei Beschlüsse der drei korrespondierenden Reichskreise von 1691 91 92
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StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: Facti Species. Vgl. Martin Furtwängler, Hinterlassenschaft eines Beamten- und Juristenlebens im 18. Jahrhundert: Zum Nachlaß des löwenstein-wertheim-rochefortschen Regierungs- und Kammerpräsidenten Hieronymus Heinrich von Hinckeldey (1720– 1805), in: Wertheimer Jahrbuch (1992), S. 197–216. Dieses und die nachfolgenden Zitate aus: StA WT-F Rep. 42 Nr. 26: H. H. v. Hinckeldey an Hochfürstl. L. W. Regierung, Wien, 20. November 1766. HHStA Wien Relat 92 L 5: Zu Löwenstein Fürst Carl vor sich und seine gräfl. Mitherrschaften zu Wertheim C[ontra] den Magistrat zu Frankfurt. Concl[usum] 11. Jan. [1]768. Zum Teil verweisen die Ausführungen durch Randnotizen oder in anderer Form auf Hirschs Teutsches Reichs Münz-Archiv. Vgl. Anm. 7.
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und 1693,96 ein Reskript vom 14. Februar 1760,97 das Kaiserliche Münzpatent vom 13. August 1759 Art. 10,98 die Kaiserliche Resolution für Frankfurt vom 4. März 176099 und ein zugehöriges Reskript vom 10. Februar 1761100 . Ausdrücklich hob der Frankfurter Magistrat in seiner Korrespondenz mit dem Reichshofrat die Bedeutung des Wörtchens bevorab im Reichsschluss von 1667 hervor, das in seinen Augen die Richtung für ein gänzliches Verbot vorgegeben hatte. Da die Resolutio Caesarea vom 4. März 1760 ja selbst vom Hofrat ausgegangen war, stärkte eine konsequente Einhaltung der entsprechenden Maßgaben zweifellos die Position der Reichsstadt im Prozess. Freilich stellten die Umstände, die zu besagtem Entscheid geführt hatten, für Frankfurt immer noch eine Belastung dar, die, bei genauerer Betrachtung, sogar bis in die dreißiger Jahre zurückreichte. Seit 1732 nämlich hatten Karoline zu überhöhten Kursen im Reich knapp gewordene große Silberhandelsmünzen verdrängt. Die Bezeichnung dieser Goldmünzen stammte von dem bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht, doch wurden sie rasch in stattlicher Menge nicht nur in Bayern, sondern in vielen deutschen Territorien wie auch in Frankreich in recht unterschiedlicher Qualität mit entsprechend ungünstigen Auswirkungen geprägt.101 Der Frankfurter Geldmarkt war davon durch Machenschaften „gewinnsüchtiger Christen und Juden“ in besonderem Maße betroffen.102 1736 wurden eine Reihe von Karolinen durch den Frankfurter Rat verrufen, doch schon im Jahr darauf wurden andere Goldmünzen, darunter nicht zuletzt Dukaten, auf der Frankfurter Messe im Kurs nach oben getrieben. Wegen des Handels insbesondere mit beschnittenen und dadurch minderwerten Dukaten kam es 1749 zu einer ersten kaiserlichen Untersuchung, ihr sollte eine weitere und rigidere elf Jahre später folgen. 1760 entsandte der Reichshofrat die Kommissare Christian Albrecht Casimiro Burggraf von Kirchberg103 und 96 97
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Vgl. Anm. 33. Demnach war „denen Juden [. . . ]der Silberhandel [. . . ] generaliter verbotten.“ Das Reskript ist bei Hirsch nicht abgedruckt und konnte auch im HHStA Wien nicht gefunden werden. Das Zitat folgt den Ausführungen in HHStA Wien Relat 92 L 5. LXII. Kaysers Francisci Münz-Mandat, d. d. Wien den 13. Aug. 1759: „10mò . Insonderheit aber solle in weiterer Gemäßheit des ermelten Reichs-Schlusses [vom 5. Sept. 1667] ad Punctum 2. 7. §. 4. auf die Juden ein fleißiges Aufmerken getragen und Formul ihres Eydes ausdrücklich einverleibet werden, sich aller dieser Ordnung zu wider gehender Ungebühr zu entmüßigen.“ Hirsch, Münz-Archiv, Teil 8, S. 118–123, Zitat S. 121. Vgl. Anm. 34. Vgl. Anm. 85. Vgl. Rittmann, Deutsche Geldgeschichte, S. 291–294. Schrötter, Wörterbuch, S. 296. Konrad Schneider, Karolin, in: Michael North (Hg.), Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, S. 186. Vgl. Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte 4/II, Frankfurt am Main 1925, Nachdr. Glashütten i. Ts. 1970, S. 431–439, Zitat S. 432. Christian von Kirchberg (1726–1772) wurde nach ausgedehnten natur- und rechtswissenschaftlichen Studien in Metz, Straßburg, Jena und Marburg 1745 von Kaiser Franz I. in das Amt eines Reichshofrates berufen, wo er als Vertreter der evangelischen Stände wirkte. Kirchberg war gleichermaßen wegen seiner Fachkenntnisse wie wegen seiner
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Clemenz von Möllwiz an den Main, um die „ex officio geandete[n] Mängel und Gebrechen im Münz-Wesen zu Franckfurth“ gründlich zu prüfen, Personen zur Verantwortung zu ziehen und für Ordnung zu sorgen. Es ging dabei um schlimme Auswirkungen des Heckenmünzwesens, um unlautere Machenschaften im Transportwesen, um den Handel mit verrufenen Münzen, um die ungenehmigte Einfuhr fremden Geldes in das Heilige Römische Reich und um das Einschmelzen von Edelmetallen ohne korrekten Nachweis in Form von „Schmelz-Bücheren“. Von all dem ist in der Kaiserlichen Resolution die Rede. Besonderer Stein des Anstoßes war – so im Wortlaut der Resolution – der gegen „den Juden Herz Amschel Flörßheim bey der Fürstl. Hessen-Rothenburgischen Canzley hangenden und aus sein des Magistrats Veranlassung mehrmalen verzögerten Criminal-Process.“104 Flörsheim, Angehöriger einer bedeutenden Frankfurter jüdischen Familie,105 lag seit Mitte der 1750er-Jahre im Streit mit dem Rat. Es ging um dubiose Münzgeschäfte unter Beteiligung jüdischer Geschäftsleute in Frankfurt, die der Rat nicht unterbunden, Flörsheim aber angezeigt hatte. Daraus entwickelte sich eine Prozesslawine beim Reichshofrat, in die mehrere Reichsstände verwickelt waren. Folge dieser weithin Aufsehen erregenden Wirtschaftskriminalität war auch der Umstand, dass die Reichsstadt zeitweilig völlig unter die Aufsicht der Kommissare gestellt wurde, was für das Ansehen der Messe- und Handelsstadt wie auch für ihre politische Handlungsfreiheit kaum günstig sein konnte.106 Der Vorwurf der Prozessverschleppung gegen den Anzeiger der Übelstände hatte die Lage der Frankfurter keineswegs verbessert. Nun aber bot sich für den Rat die Gelegenheit, den Reichshofrat mit einem hohen Maß an Gesetzestreue zu beeindrucken und den politischen Wind, der sich zu Beginn der 1760er-Jahre gegen Frankfurt erhoben hatte, nun für die eigenen Interessen zu kehren. Dabei stand es eigentlich außer Frage, dass der Sortenzettel,107 der im Zuge der Beschlagnahmung entstanden war, durchaus problematische Gold-Spekulati-
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diplomatischen Fähigkeiten anerkannt. 1764 wurde er Präsident des Reichskammergerichtes in Wetzlar. Vgl. Franz-Eugen Volz, Christian Burggraf von Kirchberg, Graf zu Sayn und Wittgenstein, in: Heimatverein aus dem Kreis Altenkirchen (Hg.), Lebensbilder aus dem Kreis Altenkirchen, Altenkirchen 1979, S. 52–54. LXXXIII. Extractus Reichs-Hofraths-Protocolli, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 8, S. 173. Vgl. Alexander Dietz, Stammbuch der Frankfurter Juden. Geschichtliche Mitteilungen über die Frankfurter jüdischen Familien von 1349–1849 nebst einem Plane der Judengasse, Frankfurt am Main 1907, S. 82–87, 419 f. Vgl. Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte, S. 436, 463, zur Anzeige und deren Folgen: S. 439 f. und 626. Vgl. auch André Griemert, Jüdisches Heiliges Römisches Reich. Tagungsbericht, in: hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte [Zugriff: 24.07.2008]. Griemert bereitet eine Dissertation in Marburg mit dem Thema „Jüdische Prozesse vor dem Reichshofrat. Ein diachroner Vergleich der Regierungszeiten Ferdinand III. (1637–1657) und Franz I. Stephan (1745–1765)“ vor, weswegen ich, um seine Forschungsergebnisse nicht zu beeinträchtigen, auf die von Flörsheim ausgelösten Konflikte hier nicht weiter eingehen möchte. Vgl. Anm. 41.
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onsgeschäfte der Wertheimer Juden wie möglicherweise auch ihrer Regierung anzeigte.108 Die Frankfurter gingen in ihrer Prozessschrift gründlich zu Werke. So zitierten sie mit Nachdruck den Augsburger Münz-Probations-Tag von 1760/61, eine außergewöhnlich große Versammlung von Ministern, Gesandten, Bevollmächtigten und Experten, der sich in seinem Proponendum X, also mit einer grundsätzlichen Vorgabe für die beteiligten Stände, gegen den jüdischen Silber- und Geldhandel wandte.109 Außerdem suchten sie recht geschickt einen Präzedenzfall aus der Grafschaft Oettingen anzuführen. Oettingen war dahingehend unrühmlich aufgefallen, dass dort eine Heckenmünze schlechtes Geld in Umlauf gebracht hatte. Der Fürst musste die Münzstätte beseitigen, von einer Zerstöhrung war gar die Rede. Außerdem hatte er „anerbotten“, dass er „die [. . . ] geringhaltige[n] Münzen selbst anwiederum einwechslen und umprägen lassen wolle, auch ferners allergehorsamt angezeiget, wie sich der Jud Lomle Hirsch Gerstorffer von Fürth, als Silber-Lieferant bey dieser errichteten Hecken-Münze habe gebrauchen lassen“. Am 18. März 1761 hatte der Reichshofrat schließlich „denen creyßausschreibenden Fürsten des Fränkischen Creyses befohlen“, dass der Jude „in arrest genommen und bestraffet werden solle addita ratione, weilen denen juden überhaubt besonders aber zu denen Hecken Münzstädten der Silberhandel verbotten sey.“110 Vor allem das im Falle von Oettingen statuierte Exempel konnte die Wertheimer durchaus beunruhigen. So legte denn – vielleicht schon unter dem Eindruck des Frankfurter Vortrags in Wien – der an und für sich ganz zuversichtliche Hinckeldey doch nahe, „bey dem Magistrat noch einen“ weiteren „Versuch zu thun“, die Dinge einvernehmlich zu regeln. Gleichzeitig riet er aber grundsätzliche Vorsorge zu treffen, wenn die Gelder in Frankfurt so schnell nicht freizusetzen wären; und so empfahl er zunächst einmal, dass man auch andere „gute Canäle zum Silber-Kauf aus Holland und Hamburg“ ausfindig 108
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Die Kaiserliche Resolution vom 4. März 1760 bemerkte ausdrücklich, dass „in Gemäßheit des bey dem dasigen Ober-Rheinischen Creyß im Jahr 1749 abgefasseten Schlusses und deren dieserthalben gleichfalls bestehenden Reichs-Gesetzen der Handel derer Ducaten oder anderer Geld-Sorten al Marco keineswegs gestattet“ sei. Vgl. Hirsch, MünzArchiv, Teil 8, S. 171. Auch die anderen in der Auflistung enthaltenen Goldsorten – Carolins, Max und Louis d’or wie auch die Souverains – waren von den Turbulenzen des Goldmarktes betroffen. CXXX. Schema derer bey dem Augspurgischen Münz-Probations-Tag anfänglich gegenwärtig gewesenen vortreflichen Herren Ministers, Gesandten und Bevollmächtigten, d. a. 1760 et 1761, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 8, S. 283–336, insbes. 298. Anwesend waren Vertreter des Österreichischen, Fränkischen, Bayerischen und Schwäbischen Kreises. Dokumentiert wird eine umfassende und detaillierte Beratung mit Münzmeistern und Wardeinen, in deren Verlauf auch das Geldaufwechseln von Christen und Juden sowie das Verbot jüdischer Silberlieferungen an Münzstätten erörtert wird, wobei vor allem die Vertreter des Fürstbistums Bamberg eine scharfe Position bezogen. CXXV. Reichs-Hof-Raths-Conclusum das Oettingische Münz-Wesen in specie etc. betreffend d. d. Mercurii 18. Martii 1761, in: Hirsch, Münz-Archiv, Teil 8, S. 273–275, insbes. S. 274.
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machen solle, womit er angesichts der belasteten Beziehungen nach Frankfurt sicherlich recht hatte. Er stellte fest, dass der Wertheimer „Müntz-Fundus so gut als erschöpft ist“ und dass „jede Cammer zum Silber-Einkauf noch 3.000 fl nach dem 20 fl Fuß herschieße[n]“ solle. „Sollten Grfl. Seits die Gelder fehlen, so müntzten Ihro Durchlt. nach klarem Inhalt des Müntz-Recesses einstweilen allein. Zu einer Gemeinschafftl. Geld-Aufnahme wird man wohl zu beyden Seiten die Lust verlohren haben. Wenigstens habe ich ihn ex praxi verloren“,
fügte er selbstbewusst hinzu.111 Ein Blick auf die bereits erwähnten Neuprägungen des Fürsten Carl Thomas zeigt, dass prinzipiell genau so verfahren wurde. Um aber auch in Wien voranzukommen, wollte er „bey des Hl. R[eiches] V[ice-] Cantzlers D[ur]chl[auch]t guten Rath einziehen und die Sache prepariren.“ Ansonsten musste er sich um die Zuständigkeiten kümmern, ob also das Ministerium per interpretationem authenticam Edictorum oder der Reichshofrat zuständig waren. Das umsichtige Vorgehen Hinckeldeys in Wien, der den Kaiserlichen Hofratsagenten Franz Ignatz Friedrich Ferner von Fernau als Anwalt eingeschaltet hatte, sollte schließlich wenigstens zum Teil erfolgreich sein. Der Entscheid erging erstaunlich rasch. Fernau hatte den Fall am 22. Dezember 1766 vorgetragen und schon am 10. Juli 1767 lag das Urteil vor. Die Urteilsausfertigung erfolgte am 4. August 1767 um 17.30 Uhr, sie wurde vom Reichshofrats-Türhüter Carl von Schröder im Namen Kaiser Josephs II. dem Prozessvertreter ausgehändigt. Dort hieß es: „Nachdem in denen Kaißerl. und Creyß Münz Verordnungen ausdrücklich gebotten worden, daß die Juden ganz und gar nichts mit dem Münz-Wesen zu schaffen haben, und sich des Silber Einkaufs und Lieferung auf Münzstätten enthalten sollen, Als gebieten Wir D[e]r[o] L[ie]bd[en] [dem Fürsten Carl Thomas von Löwenstein-Wertheim] hiemit gnädigst, daß Dieselbe allenthalben ersagten Kay[ser]l[ichen] und Creyß-Verordnungen zu folgen in Zukunft die Juden von dero Münzstatt abhalten sollen.“112
Dies klingt nach einem vollständigen Sieg der Frankfurter, doch kam es bei dem Urteil auf die Details an: Gewiss habe der Rat der Stadt Frankfurt „seiner Schuldigkeit ein Genüge gelieffert, daß derselbe das angehaltene Geld ohne Kay. Verordnung zu verabfolgen sich geweigert habe. Nachdem aber der Fürst hinlänglich bescheiniget habe“, wie er bei dem Silberkauf vorgegangen sei „und sich keine gefährde gegen die [. . . ] Münz-Verordnung habe zu Schulden kommen laßen“, so werde der Magistrat „bey diesen besonderen Umständen angewiesen, die angehaltenen Conventions-Gelder dem H. Fürsten anwieder“ zu übergeben, nicht jedoch die verrufenen Münzen und die zu leicht befundenen Goldsorten. Damit mussten also große Teile des beschlagnahmten Gutes zurückgegeben werden, dem Fürsten war allerdings unmissverständlich befohlen, „in Zukunfft die Juden von seiner Münz-Stadt“ abzuhalten.113 111 112 113
StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: H. H. v. Hinckeldey an Hochfürstl. L. W. Regierung, Wien 20. Nov. 1766. HHStA Wien RHR Den. re. L 16 Kart. 537. HHStA Wien Relat 92 L 5: Zu Löwenstein; StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: J. G. Reizer an Fürstl. und Gräfl. L.-W. Regierung, Wien, 10. und 22. Juli 1767.
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Die Rechnung des Wiener Anwaltes folgte erst im März des nächsten Jahres: Vom 22. Dezember 1766 bis zum 18. März 1768 waren Kosten in Höhe von 47 fl 14 xr entstanden, die der Hofratsagent Ferner von Fernau in Rechnung stellte.114 Im Vergleich zu jenen Summen, von denen bisher die Rede war, ein eher geringer Betrag, doch hätte er im Alltag der Menschen an Tauber und Main viel bedeutet: Er lag etwas über dem halben festen Jahresgehalt eines Pfarrers in einem Dorf unweit von Wertheim und entsprach – um einen weiteren Vergleich anzuführen – ungefähr dem Lohn für über eineinhalb Monate anspruchsvollerer Malerarbeit zu einem Tagessatz von 1 fl.115 Betrachtet man den Ausgang des Rechtsstreites, so ist dessen Ergebnis durchaus bemerkenswert, wenn nicht sogar überraschend. Berücksichtigt man alle rechtlichen Grundlagen, so konnte Frankfurt zu keinem anderen Handeln kommen, die Reichsstadt hatte alle rechtlichen Argumente auf ihrer Seite, überdies war nicht erst seit 1760 bekannt, dass Frankfurt sehr genau auf ein ordentliches Passwesen achtete.116 Juristisch konnten sich die Frankfurter in all dem durch das Urteil bestätigt sehen; gleichwohl folgte daraus eine andere Maßgabe, als durch die Rechtslage eigentlich vorgegeben war. Die Rückgabe des größten Teils der beschlagnahmten Dinge hätte keinesfalls veranlasst werden müssen. Kammerpräsident von Hinckeldey war sich erstaunlicherweise dessen vorab schon gewiss und hatte damit die Lage richtig eingeschätzt. Warum aber war dies so? Offensichtlich hatte der Reichshofrat seine Abwägung mit einem Ergebnis vorgenommen, das sich heutigen Vorstellungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf erstaunliche Weise annäherte; im Urteil drückt dies die Formulierung „bey diesen besonderen Umständen“ des fürstlichen Handelns aus. Berücksichtigt man diese Umstände ein wenig umfänglicher, so lassen sich zwei Gründe erkennen, die 114
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StA Wt-F Rep. 42 Nr. 26: Kaiserlicher Reichshofrat an Reg. Herren zu LöwensteinWertheim, Wien, 18. März 1768. Hofratsagent von Fernau nahm „Pro Salario vom 22t. Decembr. 1766 bis 22t. Decembr. 1767 vor ein Jahr“ 30 fl (österreichischer Konventionswährung, was 36 fl rheinisch entspräche). Die übrigen Kosten entstanden für Anzeigen, Reskripte, Extrakte, Kopien, Vollmachten sowie Post-Auslagen. StA Wt-R R 79 d 1760: Rechnung Über Einnahm und Ausgab des Bursariats [des Klosters Bronnbach bei Wertheim] von Petri cathedra 1760 bis weiterdahin 1761 geführt durch P[ater] Hyacintum. Dementsprechend erhielt der Pfarrer zu Reicholzheim an der Tauber im Jahr 85 fl 30 xr „pro Salario“ zuzüglich 4 fl „für Flachszehend“, dem „Herrn Consulenten“ waren 350 fl vergönnt worden, dem Abteikoch 45 fl, dem Schreiner 34 fl 40 xr, dem Schneider 20 fl, dem Sattler 7 fl 30 xr, dem Oberknecht 18 fl, der Obermagd 16 fl und der Hausmagd 7 fl. Die Bezahlung der Handwerker deutet an, dass es sich zum Teil um Tag- oder Stücklohn handelte, wie er im Laufe eines Jahres zusammenkam. StA Wt-R R 1 1768/69, darin die Rechnung Nr. 146 des „Anderraß [Andreas] Scheich Mahler“ mit dem Wortlaut: „Habe 9 Täg und 9 Nächte Zu Creutz Wertheim [Kreuzwertheim] am Fharhauß [Pfarrhaus] an Einer Illiminazion gemahlet. Ist Vor arbeid Lohn Jeden Tag und Nacht a 2 fl --- 18 fl, auß gelegt Vor farben und andere Zughör --- 3 fl --- Summa 21 fl“. Vgl. Konrad Schneider, Schmelzzettel, Münzpässe und Wardierzettel. Regulierung des Verkehrs mit Edelmetall und Münzgeld durch die Stadt Frankfurt a. M., in: Scripta Mercaturae (2002), S. 79–119, insbes. S. 102–115.
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zugegebenermaßen zum Teil über den Urteilstext hinausgehen, aber doch in die historische Deutung des Gesamtzusammenhangs gehören: Da ist zum Ersten die Tatsache zu nennen, dass die Wiedereröffnung der Kreismünzstätte im kaiserlichen und damit in einem aus dieser Perspektive zu verstehenden Reichsinteresse lag. Nicht anders waren die vom kaiserlichen Hof ausgehenden Maßgaben zu deuten. Dies mag ein wenig verwundern, da Löwenstein-Wertheim keine besonders reiche Grafschaft war, sodass der von dort in Gang gesetzte Münzumlauf keineswegs in der Lage war, die Münzlandschaft im Süden Deutschlands maßgeblich zu beeinflussen – soweit dieser Münzumlauf ordentlich fundiert war. Gewiss gab es andere Münzstände mit höherer Geldemission, doch Wertheim arrondierte aktiv eine größere Münzlandschaft und damit einen größeren Wirtschaftsraum. Dies galt es nicht zu gefährden. Zum Zweiten wäre ein rigoroses Vorgehen unter dem Eindruck des oettingischen Geschehens unangemessen gewesen, auch wenn die von Frankfurt deutlich bekundete Judenfeindschaft das gerne gesehen hätte. Dies hätte in den Status eines Reichsstandes auf heftige Weise eingegriffen, ja hätte ihn sogar verletzt, denn in jenem Maße, wie das in Oettingen oder auch in Frankfurt veranlasst war, in eben jenem Maße war dies im gegebenen Fall eben nicht geboten, handelte es sich doch nur um den – zu diesem Zeitpunkt – lediglich einmal festgehaltenen Zollverstoß zweier Juden in einem Nachen. Mit der Erstattung der nicht zu beanstandenden Teile der jüdischen Habe wurde also auch die Reputation des Fürsten und seiner gräflichen Mitregenten gebührend geachtet, ein Ansehen, an das ja auch der Kaiserliche Minister Wiedmann bei der Wiedereinrichtung der Münzstätte appelliert hatte. Damit ist zwar die Causa in puncto arrestatae pecuniae einigermaßen geklärt, doch gilt es noch die Folgen dieses Urteils zu betrachten – nicht zuletzt mit Blick darauf, inwieweit die Lage der Juden tatsächlich prekär war.
IV. Recht, Risiko und herrschaftliche Interessen Am 8. Oktober 1767 präsentierte Gabriel Amschel – wohl in Abstimmung mit seinen beiden Konsorten – den Regierenden Herren seine Schuldforderung bezüglich des in Frankfurt gescheiterten Silberkaufs. Die zugehörige Specification wies unter anderem Quartier-, Zehr- und Kostgeld sowie Judenzoll für zwei Personen, nämlich Fälcklein Meyer und Samuel Feiffel, eine Provision für die Firma Firnhaber & Otto sowie eine einjährige sechsprozentige Verzinsung des Kapitals von 3.000 fl in Höhe von 180 fl aus. Insgesamt ergab dies 255 fl 30 xr.117 Das Schreiben lag der evangelischen Hofkammer vor und zeigt, dass das Konsortium keineswegs bereit war, den Schaden der misslungenen Aktion 117
StA Wt-F Rep. 231 Nr. 2021: Schuldforderungen des Gabriel Amschel wegen seines Silberkaufs.
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selbst zu tragen. Da viele Verwaltungssachen in Wertheim der gemeinsamen Herrschaft wegen mehrfach ausgefertigt wurden, ändert es wenig am Ergebnis, dass die wohl entscheidende Reaktion fast 20 Monate nicht aus der Überlieferung der evangelischen, sondern der katholischen Hofkammer aufscheint, die allerdings auch den ersten Schritt zur Regulierung getan hatte. Am 23. Mai 1769 erging dort auf „mehrmaliges Andringen des hiesigen Schutz-Juden Gabriel Amschels“ hin folgender Beschluss: „Da die Juden nichts gethan haben, als was ihnen von Herrschafts-wegen aufgetragen worden; so würde äusserst unbillig seyn, sie durch den erfolgten Arrest des Gelds einen Verlust leiden zu lassen, dahingegen sie die gehabte Kösten als eine Folge eines unglücklich ausgeschlagenen Handels billig selbst zu tragen haben. Solchemnach gebühre ihnen der Zinß von ihrem am 15. Aug. 1766 beygeschossenen 3000 fl bis auf den Tag der Herausgabe des Gelds zu Frankfurt, nemlich den 7. Aug. 1767, woran jedoch 3 Wochen abgehen, als so lange die Juden den Vorschuß umsonst haben borgen sollen; folglich bleibt ihnen ein 11 Monathlicher Zinß mit 137 fl 30 xr zu vergüten. Hieran soll u. wird Fürstl. Hofkammer ihre Helfte mit 68 fl 45 xr an den Jud Gabriel bezahlen, ohne darauf zu warten, was Gräfl[ich]er Seits hierunter werde verfügt werden. Jedoch ist Gräfl[iche]r Regierung hievon in Freundschaftt Nachricht zu geben, mit dem Anfügen, wie man zu der Großmuth u. Billigkeit dero Gned[ig]sten Herrschafften das Vertrauen lebe, daß dieselbe die Ihrige Helffte gleichfalls bezahlen lassen werde.“118
Die Verfügung ist durchaus bemerkenswert: Die rechtlich prekäre Situation der Juden wurde von der Wertheimer Regierung keineswegs dazu genutzt, sich grundsätzlich aus der Verantwortung zu begeben. Allerdings kürzten die Hofbeamten – unter ihnen der schier unentbehrliche Hinckeldey – die Rechnung erheblich. Statt 180 fl Zinsen bezogen auf ein Jahr, setzten sie lediglich 137 fl 30 xr auf elf Monate an. Die Reise- und Speditionskosten erachteten sie für Teil des unternehmerischen Risikos. Wann tatsächlich die Bezahlung erfolgte, lässt sich den Akten nicht entnehmen – selbst die Kammerrechnungen besagen darüber nichts. Steht zu fragen, ob damit ein letzter Schlusspunkt unter den jüdischen Silberhandel in Wertheim gesetzt und so das Urteil des Reichshofrates tatsächlich umgesetzt wurde. Ein Blick in die Betriebsabläufe der Prägeanstalt unweit der Wohnung des Fälcklein Meyer inmitten der Stadt verrät mehr: Für den Zeitraum vom 1. Januar 1767 bis zum 31. März 1770 sind die fürstlichen Silber-Einlieferungs-Manuale überkommen, so wie sie dort neben einem Haupt- und einem Ausmünzungsbuch vom Münzverwalter geführt wurden.119 Sie enthalten in Form eines Journals unter dem jeweiligen Datum den Namen des Lieferanten, die Menge des eingelieferten Rohsilbers, dessen Umrechnung in Feinsilber, dann den Preis bezogen auf die Kölner Mark und schließlich, das heißt ab dem 6. Juni 1767, auch das Entgelt für den Lieferanten. Ganz offensichtlich hielten sich die Regierenden Herren zu LöwensteinWertheim nicht an das Wiener Urteil. Die Regelmäßigkeit jüdischer Silber118
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StA Wt-R Rep. 12 k Nr. 1039: Acta der Juden Gabriel Amschel, Fälcklein Mayer [!] und Salomon Feiffel daher pro indemnisation wegen erlittenen Schadens derer in Frankfurt verarrestirt gewesen Silber-Einkaufs-Gelder betr. StA Wt-R R 46: Einlieferungs-Manuale Hochfürstlicher Silber-Ausmünzungen.
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lieferungen zeigt dies zur Genüge. Wahrscheinlich folgte aber auch nicht die Reichsstadt Frankfurt dem höchstrichterlichen Entscheid; denn woher sonst, wenn nicht von dort, konnten die Wertheimer Juden so leicht größere Mengen Silbers beschaffen und sich dabei auf Rohstoffpreise einlassen, die jenen des Frankfurter Handels entsprachen? Besorgungen aus Hamburg, den Niederlanden oder aus der nur etwa halb so weit entfernten Silbermetropole Augsburg wären angesichts der Verkehrskosten teurer gekommen, von den Transportgefahren gerade für Juden ganz zu schweigen. Die folgende Übersicht belegt die Lieferungsanteile. Fälcklein Meyer musste, wenn er, was zu vermuten ist, wiederholt mit seinem Schiffchen in Frankfurt anlegte, dem dortigen Zoll schließlich eine vertraute Gestalt geworden sein. Seine Aktivitäten lassen sich gut beobachten: Am 16. Februar 1767, also etwa ein halbes Jahr nach seinem Frankfurter Missgeschick am 21. August 1766, wurde er erstmalig mit 6 Mark 4 Lot 2 Quentchen Rohsilber in der Wertheimer Münzstätte registriert, das entspricht rund 1,47 kg. Der Zeitpunkt lag noch vor der Urteilsausfertigung des Reichshofrates am 4. August 1767; doch schon bald danach, das heißt am 18. August, am 14. September, am 12. Oktober 1767 und fortan stetig bis zum Ende des Rechnungsjahres am 28. März 1770 fand er sich mit Silber in der Münzstätte ein. Insgesamt 46-mal brachte er seine Besorgungen zur Münze: 10-mal 1767, 13-mal 1768, 16-mal 1769 und 7-mal 1770. Er war nicht der einzige Jude, der so handelte, außer ihm gab es noch den verschiedentlich erwähnten Salomon Feiffel sowie Löw Friedberger120 , Samuel Stadecker121 und Simson Nathan122 , doch deren Beschaffungsmengen waren im Verhältnis zu jenen des jüdischen Hauptlieferanten kaum nennenswert.123 Sie alle zusammen brachten es seit dem 1. Januar 1767 auf 298,41 kg an Roh- bzw. 151,52 kg Feinsilber, das war wenig mehr als die Menge des Fälcklein Meyer mit 283,30 kg Roh- bzw. 144,47 kg Feinsilber. Die Bezahlungen an ihn wie auch an die anderen Silberhändler tauchten erst ab Juni 1767 in der Buchführung auf. Sie ergaben bis zum 28. März 1770 die Gesamtsumme von 11.173 fl 34 xr. Das zeigt erhebliche Unterschiede zu dem an, was im Silberkontrakt mit ihm und seinen Konsorten vereinbart worden war: Anstatt 300 Mark (70,2 kg) Münzsilber in zwei unterschiedlichen Feinheitsgraden betrug die 120
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Löw Friedberger begegnet in den Wertheimer Archivalien ähnlich häufig wie Gabriel Amschel (insgesamt 51-mal). Bemerkenswert sind seine Auseinandersetzungen mit anderen Juden, darunter auch mit einem Rabbiner. Samuel Stadecker hatte mit diversen, wohl nicht immer ganz einwandfreien Geschäften zu tun. Wirtschaftlich war er allem Anschein nach wenig erfolgreich. 1792 ist von „durchgefallenen Stempelkassenforderungen von 5 Gulden 16 Kreuzern in der Jud Samuel Stadeckerischen Konkurssache“ die Rede. StA Wt-R Rep. 82 Nr. 27. Über ihn bietet das Staatsarchiv Wertheim nur wenige Informationen. Konflikte mit Tuchhändlern und Tuchmachern zeigen eine entsprechende Betätigung im Textilhandel. Außerdem wird noch Meyer Wolf genannt, der jedoch in der Wertheimer Judenheit unter diesem Namen nicht zu identifizieren ist.
Silber Gesamt fl : xr
17217:16 16094:36 10448:54 17445:13 5258:00 12563:35½ 32775:50 31990:32 80205:07 20600:37 12367:57 256967:37½
Lieferungen
06.06.67–01.09.67 01.09.67–01.12.67 01.12.67–01.03.68 01.03.68–01.06.68 01.06.68–01.09.68 01.09.68–01.12.68 01.12.68–01.03.69 01.03.69–01.06.69 01.06.69–01.10.69 01.10.69–31.12.69 01.01.70–31.03.70 Sa
Tabelle 1:
15817:08 14922:55 7981:12 16390:23 5135:59 12014:25 32076:13 31082:22 79004:31 20062:08 8194:34 242681:50
Frankfurt Firnhaber & 0tto 91,9 92,7 76,4 94,0 97,7 95,6 97,9 97,2 98,5 97,4 66,3 94,4
%
1400:08 1171:41 2467:42 1054:50 122:01 549:10½ 699:37 908:10 1200:36 538:29 4173:23 14285:47½
Wertheim Gesamt 8,1 7,3 23,6 6,0 2,3 4,4 2,1 2,8 1,5 2,6 33,7 5,6
%
861:34 1078:33 900:07 1054:50 122:01 501:01 623:57 737:11 1082:40 450:30 4144:51 11557:15
Wertheim Juden Gesamt 5,0 6,7 8,6 6,0 2,3 4,0 1,9 2,3 1,4 2,2 33,5 4,5
%
710:48 876:19 900:07 1054:50 91:20 501:01 623:57 737:11 1082:40 450:30 4144:51 11173:34
Wertheim Fälcklein Meyer 4,1 5,4 8,6 6,0 1,8 4,0 1,9 2,3 1,4 2,2 33,5 4,4
%
538:34 93:08 1567:35 keine keine 48:09½ 75:40 170:59 117:56 87:59 28:32 2728:32½
Werth. diverse
3,1 0,6 15,0 ----0,4 0,2 0,5 0,2 0,4 0,2 1,1
%
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Rainer S. Elkar
Gesamtmenge an Rohsilber in unterschiedlicher Qualität 1.211 Mk 3 Lt bzw. 283,30 kg, umgerechnet in Feinsilber ergab dies 617 Mk 8 Lt 11 Gr bzw. 144,47 kg, also mehr als das Doppelte des Vereinbarten.124 Wie hoch jener Feinheitsgrad kalkuliert war, der in der Münzstätte bei der Umrechnung der Rohsilber-Anlieferungen in Feinsilber angesetzt wurde, bedarf noch genauerer Untersuchung. Möglicherweise lag er wirklich nahe bei 16 Lot (1000 %fj), in jedem Fall muss er jedoch mindestens die 13 Lt 6 Gr (833,333 %fj) für die Konventionstaler erreicht haben, die der Münzmeister für die Prägung dieser Leitmünze benötigte und die auch einen Schlagschatz ermöglichte. Der Vertrag mit den Juden sah für das erheblich weniger feine Münzsilber der Kopfstücke einen Preis von 23 fl 46 xr pro Mark und bei den halben Kopfstücken von 23 fl 42 xr vor, Erstere waren 9 Lt 6 Gr (583,333 %fj), Letztere 8 Lt (500 %fj) fein. Daraus lässt sich ein Vertragswert von 7.120 fl errechnen, der aber mit jenen 11.173 fl 34 xr um rund 57 Prozent übertroffen wurde. Anders sah es beim Preis pro Mark aus, den er für seine Lieferungen erhielt, dieser erreichte bei Weitem nicht den Ansatz des Kontraktes. Er bewegte sich zwischen 19 fl 27 xr und 19 fl 45 xr und lag damit in der Regel etwas unter dem Durchschnittswert aller Lieferungen des Gesamtzeitraumes in Höhe von 19 fl 45 xr. Das von Fälcklein Meyer abgegebene Silber wurde ebenso wie jenes aller anderen Lieferanten in der Wertheimer Münzstätte geprüft und auf die feine Mark umgerechnet, und, da die Firma Firnhaber & Otto zumeist eine höhere Qualität einbrachte, wurde diese dem Wert entsprechend höher bezahlt. Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung lässt sich nicht bemerken. Eher fällt auf, dass in einem Fall die Qualitätsangaben der Frankfurter nach der Materialprobe als geringfügig überhöht beanstandet und nach unten korrigiert wurden, was bei den Juden niemals nötig war. Dessen ungeachtet fällt der erhebliche Unterschied zum Kontrakt auf, wurde doch zu keinem Zeitpunkt ein Preis gezahlt, der sich dem auch nur annäherte, was vertraglich für die niedrigeren Silberqualitäten vorgesehen war, die für die 20-Kreuzer bzw. 10Kreuzer-Ausmünzungen benötigt wurden. Wenn Fälcklein Meyer also Verluste vermeiden wollte, musste er Sorge tragen, beim Edelmetallexport nach Frankfurt, beim Silberankauf in der Messestadt und schließlich beim entsprechenden Verkauf in Wertheim den notwendigen Gewinn zu erzielen, der sich aus jeweils unterschiedlichen lokalen Preisen ergeben konnte. Wie dieser Gewinn tatsächlich aussah, ließe sich nur dann ermitteln, wenn aus Frankfurt die dortigen Preise so überliefert wären, wie sie im Falle von Wertheim vorliegen, was nicht gegeben ist. Freilich wäre auch eine Quersubventionierung durch Gewinne aus anderen Handelsgeschäften, die ja Fälcklein Meyer ebenfalls betrieb, denkbar, doch fehlen dafür jegliche Hinweise; die beträchtlichen Mehrlieferungen sprechen zudem gegen eine solche Annahme. Risikobehaftet waren solche Unternehmungen allemal. 124
Zur Umrechnung in kg vgl. Trapp, Kleines Handbuch, S. 26.
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Die Wertheimer Juden befanden sich im Silberhandel in einer eigentümlichen Zwischenposition: Ihr Kontingent übertraf das der diversen anderen Lieferanten, soweit es sich nicht um Firnhaber & Otto handelte, erheblich. Nur der Wertheimer Münzverwalter Philipp Jacob Platz und die Hofkammer selbst reichten wiederholt kleinere Mengen ein, ansonsten tauchten etliche Gelegenheitslieferanten meist nur einmalig mit geringen Portionen auf, darunter übrigens auch der Pfarrer von Uissigheim. Was aus dem gräflichen Hause Solms rührte, wurde allem Anschein nach für eine Auftragsmünzung genutzt. Eine innerhalb der Grafschaft ansässige Konkurrenz für die Juden erwuchs aus all dem gewiss nicht. Es dürfte interessieren, welchen Gegenwert die jüdischen Silberlieferungen in dem angezeigten Zeitraum etwa besaßen: Jene 11.557 fl 15 xr hätten dem bereits erwähnten Maler Andreas Scheich rund 31 Jahre und 8 Monate Beschäftigung geboten, wenn er zwar die Wochenenden, nicht aber – wie bei der kunstvollen Ausgestaltung des Pfarrhauses in Kreuzwertheim – überdies noch die Nächte durchgearbeitet hätte.125 1766/67 hätte dies die Anschaffung von 70 Pferden ermöglicht.126 Auch wäre es wohl möglich gewesen, weite Teile der wertheimischen Bevölkerung mit feinen Hoflakaien-Hüten und Livree-Sommerstrümpfen zu bekleiden; hätte doch die Summe für rund 6.800 Kopfbedeckungen oder etwa 7.705 Paar Strümpfe gereicht.127 So beträchtlich dies alles erscheinen mag, an die Kontingente des Frankfurter Handelshauses reichte der jüdische Anteil der Silberlieferungen freilich bei Weitem nicht heran, sodass dieses Kontingent letztlich von deutlich untergeordneter Bedeutung blieb. Die Wertheimer Regierenden Herren hätten wohl leicht auf alle Einlieferungen ihrer Untertanen verzichten können. Der Vergleich zeigt dies deutlich: Die Gesamtmenge des eingebrachten Edelmetalls im gesamten Zeitraum belief sich an Rohsilber auf 4.418,843 kg bzw. 3.165,947 kg an Feinsilber. Das meiste davon, nämlich 92,1 Prozent (etwa 4.069,6 kg) bzw. 94,1 Prozent (etwa 2.979,5 kg), stellten Firnhaber & Otto, der von Juden stammende Anteil belief sich auf 6,8 Prozent bzw. 4,8 Prozent. Hinsichtlich des Wertes betrug die auch in der Tabelle ausgewiesene Relation 94,4 Prozent zu 4,5 Prozent. Die besondere Vertrauensstellung der Frankfurter Unternehmer hatte sich bereits im Rechtsstreit gezeigt, waren sie es doch, die um Bürgschaft zum Zwecke der Auslösung des beschlagnahmten Gutes bemüht worden waren. Die engen Verbindungen lagen in der Firmengeschichte begründet: Hermann Jakob und Johann Christof Firnhaber waren im 17. Jahrhundert aus Wertheim nach Frankfurt ausgewandert und hatten sich dort trotz starker Konkurrenz den 125 126
127
Vgl. Anm. 115. StA Wt-R R 1 1766/67: Rechnung über Einnahm- und Ausgabgeld bey Hochfürstlich Löwenstein-Wertheimischer Hofcammer von Georgentag 1767 bis dahin 1768, S. 23 f. Demnach erhält Jud David Joseph von Ursprüngen“ 165 fl „für ein hierher verkaufftes Pferd“ sowie 2 fl 24 xr an „Zaumgeld“. StA Wt-R Rep. 2 Nr. 233: Mit dem Jud Gabriel Amschel dahier am 15. Mai 1770 gepflogene Abrechnung, darin: „Specification Waß gelieferth habe [!] vor 14 stallbediende zür Livree“. Die Hüte kosteten das Stück 1 fl 40 xr und die Sommerstrümpfe 1 fl 30 xr.
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ersten Platz im Seidenhandel erobert. Die Brüder trennten später ihre gemeinsame Handlung. Wirtschaftlicher Erfolg und hohe Ehrenämter vor allem des älteren Hermann und seiner fünf Söhne wurden 1755 mit der Erhebung in den Reichsadelsstand ausgezeichnet. Den zweiten Teil des Firmennamens brachte im 18. Jahrhundert Christof Gotthelf Otto aus Leipzig, der in die Familie von Firnhaber eingeheiratet hatte und mit dem eine neue Firmengemeinschaft gebildet wurde, die weiterhin im Stammhaus „Zur goldenen Leiter“ zu Frankfurt saß. 1773 führte Otto unter seinem alleinigen Namen das Unternehmen fort, letztlich glücklos, musste er doch 1780 Konkurs anzeigen, allerdings – diese Firmenkatastrophe war in jenen Jahren des angezeigten Silberhandels keineswegs in Sicht.128 Die einem Liefermonopol ziemlich nahekommende Position von Firnhaber & Otto war alles andere als unproblematisch: Möglicherweise bewirkten die großen Mengen günstigere Preise, aber doch auch eine sehr riskante Abhängigkeit. So hätten die Wertheimer Regierenden Herren und ihre Spitzenbeamten durchaus überlegen müssen und hatten vielleicht sogar tatsächlich erwogen, den in eigenen Landen ansässigen jüdischen Silberhandel als eine im Notfall ausbaufähige Alternative zu pflegen. Dazu aber reichte das wirtschaftliche Potenzial eines Fälcklein Meyer und der mit ihm verbundenen Konsorten zu keinem Zeitpunkt aus, machte es doch einen erheblichen Unterschied aus, ob man in der Lage war 4,4 t oder nur knapp 0,3 t Silbers zu beschaffen und gegebenenfalls auch vorzufinanzieren. Mit Blick auf den beobachteten Zeitraum ist die ökonomisch riskante und juristisch prekäre Lage Fälcklein Meyers und seiner Konsorten unübersehbar: Wirtschaftlich waren sie im Zweifelsfall sowohl hinsichtlich der Menge als auch hinsichtlich des Preises ihrer Kontingente entbehrlich, rechtlich war ihr Tun nicht nur bedenklich, sondern im Prinzip verboten. Dass sich keine Obrigkeit an dieses Verbot wirklich hielt, änderte nichts daran, dass jenes Rosshaar, an dem das Damoklesschwert hing, jederzeit reißen oder auch durchgeschnitten werden konnte. Bleibt die Frage, warum überhaupt die Regierenden Herren und ihre Kammerverwaltungen sich auf solche Geschäfte einließen. Sowohl bei Gabriel Amschel129 wie auch bei Fälcklein Meyer130 wurde deren besonderen wirtschaftlichen Beziehungen zu den Hofkammern bereits bemerkt. Am 28. Juli 1761 erhielt Fälcklein Meyer eine Bestallung „zum Lieferanten des bey der Reichs-Armée befindlichen [. . . ] Gemeinschaftl[ich]en [löwensteinwertheimischen] Contingents“, die es ihm gestattete, „Fourages und Proviant an Brod, Holz, Stroh, Haber, Heu und übrigen Requisiten aller Orten resp: Leibs-, Zoll-, Brucken-, Pflaster, auch Accis-, Maut- und Zoll-frey sicher und ungehindert passiren und repassiren“ zu können.131 Doch dies war keine Er128 129 130 131
Vgl. Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte 4/I, Frankfurt am Main 1925, Nachdruck Glashütten i. Ts. 1973, S. 351. Vgl. Anm. 64. Vgl. Anm. 68. StA Wt-R Rep. 15 Nr. 66: Acta des Juden Fälcklein Mayers dahier Lieferung für hiesige Contingent an Montirung.
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nennung auf Dauer, sondern lediglich ein Ausweispapier zur Erledigung eines bestimmten Auftrages – nicht ganz unähnlich dem, was für den Silberhandel nach Frankfurt erforderlich war. Für ein weiteres, ähnliches Unternehmen bedurfte es dann neuer Legitimationspapiere. Zwar hatte es früher auf der katholischen Seite durchaus einen jüdischen Hoffaktor gegeben, er hieß Samuel Sinay und wurde erstmalig 1713 mit diesem Titel bezeichnet,132 doch eine ihm vergleichbare offizielle Stellung hat in den Zeiten des Fürsten Carl Thomas und der mitregierenden Grafen kein anderer erreicht. So findet sich denn auch kein Hinweis auf eine solch herausragende Position in der Fülle der Kammerrechnungen, die beide Verwaltung unermüdlich in mehrfachen Ausführungen für jeden einzelnen Herren zu produzieren hatten. Zwar begegnen in diesen Serien durchaus bereits genannte Namen von Juden, außerdem auch solche, die im gegebenen Zusammenhang keine Rolle spielten, doch ging es dabei um zuweilen recht geringe, zuweilen auch nur vereinzelte Beträge; die Bezeichnung Hofjude oder Hoffaktor begegnet zwischen 1758 und 1776 nirgends. Bemerkenswert ist, dass der gemeinschaftliche Münzbetrieb grundsätzlich in Separatrechnungen verzeichnet wurde, also nicht als Titel oder Titelgruppe im jeweiligen ,Staatshaushalt‘ aufscheint. Und so ist denn die wirtschaftliche Betätigung der Juden – wenn nicht in den dergestalt gesondert geführten Münzmanualen – vor allem in Form von zahlreichen Einzelakten
132
Vgl. Franz Busl/Ingild Janda-Busl, Samuel Sinay, Löwenstein-Wertheimischer Hoffaktor in Weseritz, ordnet im Auftrag des Fürsten Dominikus Marquard zu LöwensteinWertheim-Rochefort die herrschaftliche Oeconomie der 1730 erworbenen Herrschaft Rosenberg, in: Wertheimer Jahrbuch (2004/2005), S. 145–176. Zum Hofjudentum ist immer noch einschlägig, doch inzwischen kritisch zu nutzen: Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat. 6 Bände, Berlin 1953–1967. Ders., Das Hoffaktorentum in der deutschen Geschichte, Göttingen 1964 (Historisch-politische Hefte der Ranke-Gesellschaft; 14). Die neuere Forschungsentwicklung wird gezeichnet von: Bernd Schedlitz, Leffmann Behrens. Untersuchungen zum Hofjudentum im Zeitalter des Absolutismus, Hildesheim 1984 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 97). Kurt Schubert (Hg.), Die österreichischen Hofjuden und ihre Zeit, Eisenstadt 1991 (Studia Judaica Austriaca; 12). Vivian B. Mann (Hg.), From Court Jews to the Rothschilds. Art, Patronage, and Power 1600–1800, München 1996. Carl-Josef Virnich, Die Berliner Hofjuden. Jüdische Lebensläufe im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg 1997 (Microfiches – Edition Wissenschaft – Reihe Geschichte; 24). Selma Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts; 64). Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001 (Enzyklopädie deutscher Geschichte; 60). Rotraut Ries (Hg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, St. Katharinen 2001. Rotraut Ries/Friedrich Battenberg (Hgg.), Hofjuden. Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 25). Britta Waßmuth, Im Spannungsfeld zwischen Hof, Stadt und Judengemeinde. Soziale Beziehungen und Mentalitätswandel der Hofjuden in der kurpfälzischen Residenzstadt Mannheim am Ausgang des Ancien Régime, Ludwigshafen am Rhein 2005 (Sonderveröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim – Institut für Stadtgeschichte; 32).
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dokumentiert; diese wiederum belegen, dass der Silberhandel keineswegs im Zentrum der jüdischen Geschäftstätigkeit stand, auch wenn er bei Fälcklein Meyer eine größere Bedeutung hatte als bei Gabriel Amschel. Es lohnt, diese Betätigung in Beziehung zu den beiden Regierungen etwas genauer zu besehen: Bei Fälcklein Meyer waren es vor allem die Lieferungen für das wertheimische Militär, bestehend aus einem Kontingent zu Fuß sowie jeweils einem Kürassier- und ein Dragoner-Kontingent, die ihm eine gute Auftragslage sicherten.133 Aufschlussreicher aber noch ist die Geschäftstätigkeit des Gabriel Amschel. Zwischen 1763 und 1776 lieferte er Jahr für Jahr Waren nach Hof , die er häufig auf der Oster- und Herbstmesse in Frankfurt erwarb, ohne jedoch den Sonderstatus des Samuel Sinay zu erreichen.134 Auch schoss er der Hofkammer Bargeld vor, wobei die Verzinsung übliche sechs Prozent betrug.135 Die Bezahlung der sorgfältig spezifizierten Rechnungen wurde von Gabriel Amschel eigenhändig durch Unterschrift quittiert, nicht selten mit dem Hinweis darauf, dass die Abrechnung über das Haus Firnhaber & Otto erfolgte. So lassen diese kleinen, nur schwer lesbaren Quittungsvermerke erkennen, wie die geschäftlichen Netzwerke der Regierenden Herren zu Löwenstein-Wertheim beschaffen waren. Die faktische Stellung eines Hoffaktors wurde am ehesten von dem Frankfurter Bankhaus eingenommen, zu dem nicht nur die Hofkammern, sondern unter den Juden vor allem Gabriel Amschel beste Beziehungen unterhielt. Dieser bildete wiederum beim Silberhandel ein Konsortium mit Fälcklein Meyer; wie sehr er bei anderen Geschäften mit ihm verbunden war, lässt sich nur vermuten. Frankfurter Bank- und jüdische Warengeschäfte standen so in einer engen Verbindung, die zwar den 133
134
135
StA Wt-R Rep. 15 Nr. 263: Lieferungen und Spezifikationen 1757–1771. Fälcklein Meyer lieferte aber auch für andere Reichsstände: StA Wt-R Rep. 15 Nr. 73: Abrechnung mit dem Juden Amschel zu Weikersheim über die vom 1. Mai bis 31. Dezember 1762 verpflegte Cavallerie- und Infanterie-Contingenter der Hochgräfl. Hohenloh-Neuensteinischen Linie. StA Wt-R Rep. 2 Nr. 165: Im Zeitraum 10.02.1763–27.07.1764 eine Summe in Höhe von 1.100 fl. ebd. Nr. 178: Im Jahr 1765 691 fl 57 xr; ebd. Nr. 186: Enthält eine auf 650 fl moderierte Forderung vom 29.07.1766; ebd. Nr. 193: Abrechnung vom 09.04.1767 2.406 fl 4 xr für gelieferte Waren; ebd. Nr. 210: Abrechnung vom 09.12.1768 214 fl 49 xr; ebd. Nr. 217: 11.10.1768 Abrechnung über die vom 5. März an nach Hof gelieferten Waren 1.050 fl; ebd. Nr. 228: Abrechnung vom 01.12.1769 650 fl; ebd. Nr. 232: Abrechnung vom 14.05.1770 3.952 fl 44 xr; ebd. Nr. 233: U. a. Abrechnung vom 15.03.1770 in Höhe von 1.607 fl 44 xr sowie weitere Spezifikationen und Rechnungsbelege; ebd. Nr. 240: Abrechnung von der Ostermesse 1771 bis einschließlich Herbstmesse 1772 betr. gelieferte herrschaftliche Waren 1.607 fl 44 xr; ebd. Nr. 252: Enthält ähnliche jährliche Abrechnungen für den Zeitraum der Herbstmesse 1772 bis Ostermesse 1773 und 1774/75 sowie eine beträchtliche Fülle von Einzelabrechnungen, darunter eine bezahlte Rechnung in Höhe von 2.689 fl 13¾ xr vom 08.04.1773; ebd. Nr. 262: Dito 1775–1776, enthält ebenfalls eine große Anzahl von Einzelabrechnungen des Gabriel Amschel in Verbindung mit Salomon Feibel, darunter Beträge in Höhe von 370 fl 48 und 518 fl 33¼ xr. Laut StA Wt-R Rep. 8a Nr. 1282 beliefen sich 1763 Gabriel Amschels Schuldforderungen auf 1.650 fl, die beim Kabinett des Fürsten anstanden. StA Wt-R Rep. 2 Nr. 231: 1770 betr. verschiedene entlehnte Gelder 150 fl.
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Silberhandel der Juden durchaus hätten entbehrlich machen können, die aber doch in einem Gesamtkomplex wirtschaftlicher Betätigung einzuordnen sind, der offensichtlich jedem seine Geschäftschancen und sein Auskommen zu gewährleisten vermochte. So sich die Gelegenheit zu einem auskömmlichen Silberhandel bot, wurde sie von den Juden genutzt. Dass dies rechtsbedenklich war, kümmerte die beiden Regierungen offensichtlich wenig, hätte dies doch möglicherweise zu einer Beschädigung alt geübter und wohl erprobter Geschäftswege geführt, die den finanzknappen Häusern alles andere als gutgetan hätte. Überdies lag das Risiko solcher Geschäfte weit eher auf jüdischer denn auf hochherrschaftlicher Seite, die allerdings mit dem Prozess alles getan hatte, um ihren Status als Reichsstand gebührend zu behaupten. Bleibt noch ein weiterer Grund, der die Doppelregierung zu einem geneigten Verhalten gegenüber den Juden bewogen haben mag. Dabei ging es um anderes und vielleicht sogar um mehr als nur die Lieferungen nach Hofe. Gabriel Amschel wie auch Löw Friedberger waren prominente Angehörige der Wertheimer jüdischen Bevölkerung, Ersterer sicherlich überdies mit beträchtlichem Vermögen; dies kann gleichfalls von Fälcklein Meyer angenommen werden. Solche Persönlichkeiten waren für die Herrschaft wichtig angesichts zahlreicher weniger wohlhabender Juden im Lande, um sowohl die herrschaftlichen Einnahmen in Form des Judenzolls zu gewährleisten, als auch um dafür zu sorgen, dass die jüdische Gemeinschaft insgesamt sozial einigermaßen stabil blieb, wozu nicht nur die Übernahme von Führungspositionen in der Gemeinde, sondern auch die Fürsorge für die Ärmeren . All dies fällt in eine Zeit, in der geschriebenes, gesprochenes und praktiziertes Recht nicht notwendig übereinstimmte, woraus nicht immer nur Nachteiliges erwuchs, wie der Prozess der Regierenden Herren zu Löwenstein-Wertheim vor dem Reichshofrat lehrt. „Les juifs, le monde et l’argent“ – in der kleinen Welt der Wertheimer Grafschaft bildeten die Juden gewiss nicht die Avantgarde eines sich formierenden Kapitalismus; dafür bot das Umfeld, in dem sie lebten, nicht das Potenzial. Sie beschäftigten sich mit dem, was ihnen als auskömmlich erschien, und eben dies war angesichts der Umstände wirtschaftlich nicht selten risikoreich und juristisch zuweilen durchaus prekär. Doch diese kleine Welt zeigte sich in ihren Geschäften so sehr vernetzt, dass eben diese Juden – sicherlich weniger im Silberhandel als vielmehr in all ihren geschäftlichen Unternehmungen – auf lange Sicht zu unentbehrlichen Unternehmern für die Ökonomie der Regierenden Herren und zu wichtigen Partnern für viele Untertanen der Reichsgrafschaft wurden. So waren sie nicht nur geduldet, sondern eingebunden in beide Seiten dieser kleinen Welt, die jüdische und die christliche, als zugleich Außen- wie Innenstehende. Kaiser und Reichshofrat verkörperten ferne Größen, die – oft genug mit wertheimischen Streitsachen befasst – von Fall zu Fall in die Gegebenheiten vor Ort hineinwirkten; doch dieser Einfluss erwies sich in der Praxis als begrenzt, er war weder ohnmächtig noch übermächtig, er hatte seinen Ursprung im Anspruch der Imperialität und lief aus im Maß der Lokalität – wie so oft im Alten Reich.
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V. Bilanz Betrachtet man nun den Rechtsstreit und seinen Ausgang, so erscheint wenig daran besonders spektakulär. Das Urteil erging im Rahmen des zu Erwartenden und die Folgen wurden in Bahnen gehalten, die möglichst wenig Aufsehen erregten und allen Beteiligten möglichst wenige Nachteile brachten. Eine Sensation, verglichen mit dem, was rund ein Jahrzehnt zuvor die Reichsstadt Frankfurt in Misskredit gebracht hatte, war all dies nicht. Auch stellte die Reichsgrafschaft Wertheim keine herausragende Territorialmacht dar, selbst wenn der Kaiser aus geldpolitischen Gründen darauf drang, dass sie ihren alten Status als funktionsfähige Kreismünzstätte wieder erlangte. Eher fielen die dort Regierenden Herren beim Reichshofrat wegen ihrer überdurchschnittlichen, auch hausinternen Prozessfreude auf. Dass der Fürst und die Grafen stets auf die Wahrung der Privilegien ihres Reichsstandes bedacht waren, entsprach der politischen Rationalität ihrer Zeit und dem Gebot ihres Ranges. Fast nichts macht den Vorfall zu etwas Besonderem und gerade darin liegt das Besondere: Die Silber- und Geldgeschäfte der Juden sind – wenn überhaupt – in der Regel vornehmlich an ihrer wirtschaftlichen, politischen oder auch strafrechtlichen Bedeutung gemessen und dem entsprechend folgend behandelt worden. Studien über „die Juden, die Welt und das Geld“136 , die „Hoffinanz“ 137 , Joseph Süß Oppenheimer138 oder die Rothschilds 139 zeigen dies an; die Beispiele ließen sich fortsetzen. Auch der Verfasser dieses Beitrages ging ursprünglich davon aus, dass die von ihm betrachteten Juden für ihre Territorialherren in Geld- und Silbergeschäften unverzichtbar waren, weil dies für eine mutmaßliche Symbiose zwischen und merkantilistischer Fürstenpolitik anzunehmen sei. Doch auf genau diese Weise gründen sich Vorurteile, gerade dann, wenn das erkenntnisleitende Interesse vornehmlich das Besondere sucht und das Normale übersieht. Ökonomisch war der Silberhandel der Wertheimer Juden für den Wertheimer Territorialstaat entbehrlich. Mag sein, dass ,bei Hofe‘ das Expertentum der erwähnten Juden gefragt war, nachweisen lässt sich dies nicht; andere Experten standen in der eigenen Münzstätte und Verwaltung wie auch in Frankfurt zweifelsfrei zur Verfügung. Dass die Wertheimer Herren dennoch auf ihre Juden Rücksicht nahmen, hatte lokale Gründe, die nicht überall so gegeben waren, die aber auch keinen Überschuss an Toleranz offenbaren, sondern eher eine gewisse Zweckrationalität. Der 136 137 138
139
Vgl. Attali, Les juifs. Vgl. Schnee, Die Hoffinanz. Vgl. Hellmut G. Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer, Reinbek 1998. Robert Kretzschmar/Gudrun Emberger (Hgg.), Die Quellen sprechen lassen. Der Kriminalprozess gegen Joseph Süß Oppenheimer 1737/1738, Hörbuch mit 2 CDs, Stuttgart 2009. Vgl. Niall Ferguson, Die Geschichte der Rothschilds. Propheten des Geldes. Aus dem Englischen von Irmela Arnsperger und Boike Rehbein, 2 Bände, Stuttgart/München 2002.
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vergleichsweise ,kleine‘ Geldhandel war für die damit Befassten ein nicht unwesentlicher Bestandteil der wirtschaftlichen und sozialen Existenz, er hob sie damit um einiges über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse ihrer Mitmenschen hinaus, aber doch nicht so sehr, wenn man sie mit Christen vergleicht, die ähnlichen Tätigkeiten nachgingen. Auch das, was jene Juden in unwissentlicher oder vielleicht doch trügerischer Weise durch den Zoll zu bringen suchten, war subjektiv ein hoher Wert, objektiv jedoch – verglichen mit dem großen Geldhandel – auch später eine kleine Menge. So deutet sich hier ein sonst nur schwer zu greifendes und wohl auch immer neu zu bestimmendes Normalmaß des sozialen Umganges und wirtschaftlichen Handelns an, das eingespannt war zwischen einem tradierten, die Juden überaus benachteiligenden Wirtschaftsrecht des Reiches und einer eher alltäglichen Wirtschaftspraxis. Dabei geht es um die Darstellung des Alltäglichen in Form einer möglichst genauen und dichten Beschreibung.140 Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist dabei auf besondere Weise in der Lage, Vorurteile zu beseitigen; die hier vorgelegten Ausführungen wollen dazu beitragen. So bleibt nun – wie zu Beginn angezeigt – zu überlegen, ob sich das Geschehene mit der Vorstellung eines in die Moderne weisenden Fortschritts oder doch eher als ein Beharren in den Gegebenheiten des späten Feudalstaates verstehen lässt. Die Frage verweist zwangsläufig auf die innere Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 18. Jahrhundert. Der mächtige wissenschaftliche Eifer, mit dem vor wenigen Jahren das Ende des Alten Reiches aufgearbeitet wurde, hat den Eindruck der Rückständigkeit des Untergegangenen nicht völlig beseitigt, aber doch in mancherlei Hinsicht revidiert.141 Dabei lassen sich drei Elemente hervorheben, die durchaus zeitgemäßes reichspolitisches Handeln gewährleisteten: zum einen ein „Corpus von Rechtstexten bzw. Verfassungsbausteinen“, das die „Verteilung von Macht und Herrschaft“ sowie die politischen Spielregeln rechtlich fixierte,142 140
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Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 10 2007. Ders., Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture, in: Paul A. Erickson (Hg.), Readings for a History of Anthropological Theory, Toronto 2008, S. 318–336. Aus volkskundlicher Perspektive sind in dieser Richtung methodisch wegweisend die Forschungen von Christoph Daxelmüller, Jüdische Kultur in Franken, Würzburg 1988. Ders., Juden in Franken – jüdisches Franken, in: Werner K. Blessing/Dieter J. Weiß (Hgg.), Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte, Neustadt a. d. Aisch 2003, S. 271–288. Vgl. Thomas Nicklas, Müssen wir das Alte Reich lieben? Texte und Bilder zum 200. Jahrestag eines Endes – Revision der Literatur des Erinnerungsjahres 2006, in: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007), S. 447–474. Rainer S. Elkar, 200 Jahre und kein Ende. Bemerkungen zur öffentlichen Präsentation des Jahres 1806, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 27 (2009), S. 71–108. Vgl. Barbara Dölemeyer/Karl Härter, Die historische Verfassungslandschaft Mitteleuropas: ein Verfassungsgarten, in: Evelyn Brockhoff/Michael Matthäus (Hgg.), Die Kaisermacher. Frankfurt am Main und die Goldene Bulle (1356–1807). Aufsätze, Frankfurt am Main 2006, S. 360–375, hier S. 360. Dietmar Willoweit, Das Reich als
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Rainer S. Elkar
zum anderen ein anpassungsfähiges, immer wieder vom Reichstag erneuertes Wirtschaftsrecht143 und nicht zuletzt eine Rechtsprechung der beiden obersten Gerichte, die alles andere als ein Hort des Zurückgebliebenen und Veralteten gewesen war, sondern sogar bürgerliche Freiheiten – im Einzelfall auch den Juden – eingeräumt hat.144 Juden besaßen keineswegs nur Klagerechte beim Reichskammergericht, sondern, da sie im Prinzip dem Kaiser unmittelbar unterstellt waren, auch beim Reichshofrat, wobei sie sich als durchaus prozessfreudig zeigten.145 Will man den Stand fortschrittlicher Entwicklung ermitteln, so taugt Max Webers Idealtyp des Anstaltsstaates durchaus als Maßstab.146 Der Anstaltsstaat gründet auf der Legitimität gesatzter Ordnungen, die, wenn man jene
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Rechtssystem, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hgg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Essays, Dresden 2006, S. 81–91. Vgl. Michael North, Das Reich als Wirtschaftsraum in Europa, in: Schilling/Heun/ Götzmann, Heiliges Römisches Reich, S. 159–170. Vgl. Georg Schmidt-von Rhein/Albrecht Cordes (Hgg.), Altes Reich und neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Reichskammergerichtsmuseum und im Stadt- und Industriemuseum Wetzlar, Wetzlar 2006. Darin insbesondere die Beiträge von: Georg Schmidt-von Rhein, Über die Geschichte der Philosophie des klassischen Naturrechts, S. 15–24. Diethelm Klippel, Das deutsche Naturrecht am Ende des Alten Reiches, S. 27–41. Nicole Grochowina, Freiheit und Bürgerrechte im Alten Reich, S. 43–55. Peter Oestmann, Menschenrechte und ihre gerichtliche Durchsetzung im Alten Reich, S. 57–74. Karl Härter, Veränderungen, Reformen und Beharren im Strafrecht Zwischen Aufklärung, Reichsende und Rheinbundzeit. Eine Wende im Recht?, S. 103–114. Vgl. Friedrich Battenberg, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch. Erweiterte und veränderte Fassung des Vortrags vom 29.8.1991 im Stadthaus am Dom zu Wetzlar, Wetzlar 1992 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammerge-richtsforschung; 13), der auf S. 6–8 auch von einer jüdischen Klage gegen die Grafen Wertheim-Löwenstein berichtet. Stephan Wendehorst, Imperial Spaces. The Holy Roman Empire, the Emperor and the Jews in the Early Modern Period. Some Preliminary Observations, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2003), S. 437– 474. Der Sammelband von Gotzmann/Wendehorst, Juden im Recht, bietet eine Reihe von Beiträgen von Prozessen beim Reichskammergericht und Reichshofrat mit jüdischer Beteiligung, besonders zu erwähnen sind dabei die Studien von Leopold Auer/ Eva Ortlieb, Die Akten des Reichshofrats und ihre Bedeutung für die Geschichte der Juden im Alten Reich, S. 25–38. Gernot Peter Oberstei-ner, Fiskalische Judenprozesse vor dem Reichshofrat, S. 273–295. Annette Baumann, Jüdische Reichskammergerichtsprozesse aus den Reichsstädten Frankfurt und Hamburg, S. 297–316. Ronnie Po-Chia Hsia, Innerjüdische Konflikte und das Reichskammergericht, S. 317–331 (S. 330 f. der Hinweis auf die besondere Prozessfreudigkeit). Debra Kaplan, Elsässische Juden, Herrschaft und Recht im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse des 16. Jahr¬hunderts, S. 333– 346. Karl Härter, Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht, S. 347–379. Leider nicht zugänglich war mir: Barbara Staudinger, Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559–1670. Phil. Diss. Masch., Wien 2001. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 5 1976. Der Begriff ,Anstalt‘ wird auf S. 28
Die Juden und das Silber
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Elemente eines Rechts- und Verfassungskorpus dazu rechnen will, ansatzweise gegeben waren. Stärker noch ist die weitgehende Unabhängigkeit der Richter – zumindest im gegebenen Fall – zu würdigen, die auf der Grundlage geschriebenen Rechts – und nicht etwa höheren Weisungen folgend oder andere Interessen berücksichtigend – urteilten, selbst wenn es sich prinzipiell um einen Spruch des Kaisers handelte. Auch dies ist für Weber von hoher Bedeutung, gehört doch zum „Kosmos der rationalen Staatsanstalt“ die „moderne Justiz“, die „persönlich ganz unbeteiligt und um sachlicher Normen und Zwecke [. . . ] kraft ihrer immanenten Eigengesetzlichkeit“ ihr Urteil fällt.147 Doch sind damit bereits die Grenzen der Modernität erreicht. Gewiss könnte man eine Wirtschaftsgesetzgebung und eine dem gemäße Rechtsprechung mit der Vorstellung eines Anstaltsstaates verbinden, man könnte sogar die auf Qualität achtende Münzgesetzgebung des Reiches zur Not als modern bzw. stetig modernisierend ansehen, würde sie nicht völlig in den Bahnen einer an Personenkreisen ausgerichteten Sonderrechtsgestaltung148 verlaufen, die für den Feudal- und nicht den Anstaltsstaat typisch ist. Das Urteil des Reichshofrates vom Jahr 1768 verstärkt diesen Eindruck just im Hinblick auf die klagenden Parteien und die mitbetroffenen Juden. Doch gerade die ausbleibenden Urteilsfolgen für die Juden setzen dem von Max Weber entliehenen Maßstab einen anderen gegenüber: nämlich die Wirtschaftspraxis in einem kleinen Territorialstaat, der mit dem Urteil ganz anders umging als die personale Sonderrechtsgestaltung des Reiches dies gebot. Insofern nahm der Alltag einen anderen Verlauf als ein unangemessenes Recht dies gestattete. Die großen Institutionen – der Reichstag wie die beiden obersten Gerichte – blieben für den institutionellen Wandel im Alten Reich wichtig, neueste Forschungen haben dies nochmals eindrücklich unter Beweis gestellt;149 doch von gleicher Bedeutung war es auch, dass sich der Wandel nicht nur in den großen und weiten Bezügen vollzog und die den Feudalismus überwindende Marktwirtschaft dort ihren Durchbruch erlebte, sondern dass zugleich die kleineren ,liberalen‘ Freiheiten des Alltags vorhanden waren und nach Möglichkeiten sogar wuchsen. Hiermit hatte Juden in Deutschland gewiss größere Schwierigkeiten, sodass es auch in dieser Hinsicht wichtig ist, die Veränderungen dieser Handlungsspielräume sorgfältig zu registrieren, zeigen diese doch die tatsächliche Tiefe des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels an.
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eingeführt und ausführlicher auf den S. 254, 361, 418–429, 541–545, 819–824 behandelt. Die Verbindung zur ,modernen Theorie‘ wird auf S. 429 hergestellt. Weber, Wirtschaft, S. 361. Vgl. ebd., S. 420. Besonders nachdrücklich und einleuchtend hervorgehoben von North, Das Reich, S. 168 f.
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Jüdische Migrationen im frühneuzeitlichen Alten Reich: Rechtliche Rahmenbedingungen, Geleit und Rechtsnutzung Im Mai 1771 richtete die Regierung der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt ein Requisitionsersuchen an die Kurmainzer Landesregierung mit der Bitte, bei der Fahndung nach acht „jüdischen Spitzbuben“ mitzuwirken, die sich in die Residenzstadt eingeschlichen und beim Andreas-Markt „Beutelschneiderein“ und „Krahm Dieberyen“ begangen hätten.1 Zwar habe man versucht, die Juden in „des Juden Rabbiner Jeckofs Behausung zu Arheiligen, wo solche ihren Aufenthalt gehabt“, festzunehmen, die Gruppe sei jedoch entkommen und man vermute, zumindest die Frauen der Gesuchten würden sich im kurmainzischen Lorsch (Oberamt Starkenburg) „bey dem Jud Mayer“ aufhalten. Die Mainzer Regierung ließ umgehend Mayers Haus, in dem sich „die Herberg vor die armen Judten“ befand, visitieren, was zur Verhaftung der Jüdin Vogel (28, von Brummet) und der Juden Nathan Isaac (ihrem Ehemann, 29, von Wallertheim), Baruch Moyses (ihrem früheren Ehemann, 41, von Hüttenheim), David Feist Oppenheimer (26, von Mannheim) und Israel Simon (43, aus Westein/Sauerland) führte, die in einem inquisitorischen Untersuchungsverfahren verhört wurden. Wie in solchen Verhören üblich, versuchten die zuständigen Amtsträger nicht nur ein Verbrechen nachzuweisen, sondern sie erfragten eine Fülle von Informationen zu Herkunft, Aufenthaltsorten, Wanderungsbewegungen, Tätigkeiten und Kontakten der Jüdinnen und Juden. Meist wurden diese Informationen auch mittels Requisitionen an betroffene Obrigkeiten überprüft, um ,Daten‘ über das vermutete ,kriminelle Milieu‘ von Juden und Vagierenden zu gewinnen. Aus den in der Kriminalrelation (juristisches Gutachten mit Urteilsvorschlag) des zuständigen Mainzer Regierungsrats Lammers wiedergegebenen Verhörresultaten ergibt sich ein instruktives Bild jüdischer Migration im Alten Reich. So gab die Jüdin Vogel an, sie sei in Wallertheim bei Alzey geboren und wäre mit dem ebenfalls inhaftierten Juden Nathan Isaac verheiratet. Dieser „ernähre sich theils durch das Porcellain Flicken theils durch die Guthat seiner Freunden, hauptsächlich aber seiner Mutter, und Geschwister, welche zu Francford und Rödelheim wohnen thäten“. Er habe zwar keinen Schutz gehabt, aber „zu Francford gedient“ und sei nun etwa dreizehn Jahre von Wallertheim abwesend. Auf Nachfrage gab Vogel schließlich an, dass sie aus dem Pirmasensischen Ort „Brummet bey Straßburg“ stamme und sich an verschiedenen Orten (Flörsheim, Astheim, 1
Das Folgende nach der Kriminalrelation vom 16. Mai 1771, Bayerisches Staatsarchiv Würzburg (BStAW), Mainzer Regierungsarchiv (MRA), Kriminalakten (KA), 2836.
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Frankfurt) mit Dienen und Stricken durchgeschlagen habe. Sie habe zunächst den Geburtsort ihres Mannes als eigenen genannt, so ihre Aussage, weil sie und ihr Ehemann „nur einerley Pass“ hätten, „indeme die Frau den Orth, wo sich der Mann herschreibe, ebenfalls annehme“. Geheiratet hätten sie im Übrigen vor drei Jahren in Ilvesheim bei Mannheim und besäßen einen „Copulations-Schein“, den ihnen allerdings der Centbüttel bei der Festnahme abgenommen habe. Nach der Heirat seien sie nach „Laymen, von dar weiters nacher Brurhein gegen Bruchsal, so dan durch den Odenwaldt, als Mohsbach, Buchen, und dergleichen Orthen auff Bischofsheim, von dar forth in das Fränkische, hiernächst in das Fuldaische, und in das Hessische gegangen, in vorigem Jahr die Ostern wäre sie und ihr Mann zu Hamburg gewesen, von dar sich mit dermselben wiederumb zurück durch das Hannoverische und Hessische auf Francford begeben, wo sie sich alle Jahr Zweymahl einzufinden pflegten, und von Ihrens Manns Freundten erwehnter maaßen ein Allmosen empfingen; da es wegen dem Durchreyßen überall gar scharf gehalten werde, so habe sich derselbe zu Königsbach ohnweith Durlach von dem dasigen Ambtmann einen newen Pass geben laßen; von Königsbach seyen sie auf Bretten und Gochsheim, von dar auf Weiler, Bischofsheim im Greichgau, demnechst auf Hoffheim, und Dörrenbach, von dar auf Bayerthal, Nußloch, Laymen, Heidelberg, Schriesheim, Leuterhausen und Viernheim, so dann nacher Lorsch gegangen“.
Ähnliche Migrationsschicksale schilderten auch die anderen vier festgenommenen Juden: Der aus Mannheim stammende David Feist Oppenheimer war in Frankfurt am Main diversen Tätigkeiten nachgegangen und bis in die Niederlande gewandert, um dort einen Dienst zu suchen, musste wieder zurückkehren und hatte sich in Braunfels einen Pass geben lassen. Den dortigen Schreiber konnte er dazu bewegen, in den Pass zu schreiben, „daß er ein Jüdischer Student seye; er habe zwahr nicht studiert, könne aber gleichwohlen denen Jüdischen Kindern das A. B. C. lernen“. Trotz Pass sei er mehrfach – so auch an den Darmstädter Toren – abgewiesen worden und dennoch bis nach Michelstadt gelangt und durch den Odenwälder und Bergsträßer Raum gezogen, wo er „bey den Judten betteln gegangen seye“. Israel Simon, der aus dem Sauerland stammte, aber einige Jahre in Fürth bei Nürnberg gelebt hatte, war laut Aussage zwar erst neun Wochen unterwegs, hatte aber Fürth verlassen müssen, weil er dort als „Jüdischer Schulmeister keinen Verdienst mehr“ gehabt habe und „von dar hinweg zu begeben gezwungen worden seye“. Da sich gegen die Juden keine Verdachtsmomente im Hinblick auf die gesuchte „Diebsbande“ ergaben, die Angaben als glaubhaft erscheinen und durch „Pässe“, „Kopulationsscheine“, die Aussage des zum Verhör hinzugezogenen Höchster Schutzjuden Löw Becker und Nachfragen bei anderen Regierungen erhärtet wurden, beschloss die Mainzer Landesregierung die Ausweisung. Den Juden könne lediglich zur Last gelegt werden, dass sie „nirgendtwoh schutzhaftige Vagabunden [sein, die] von einem Orth zu anderen herumbziehen und sich mit betteln“ ernähren würden, so die abschließende Begründung. Das Fallbeispiel macht die vielfältigen Formen jüdischer Migrationen im Alten Reich sowie die Handlungsspielräume der Jüdinnen und Juden und ihren produktiven Umgang mit obrigkeitlichen Ordnungsnormen und Maßnahmen deutlich. Die Geburts-, Herkunfts- Aufenthalts- und Arbeitsorte
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der Jüdinnen und Juden lagen weit verstreut und meist im ländlichen Raum insbesondere ritterschaftlicher und gräflicher Herrschaften des Alten Reiches: Wallertheim (Grafschaft Guntersblum), Brummet bei Straßburg, Ilvesheim (Kurpfalz), Lorsch (Kurmainz), Rödelheim (Grafschaft Solms-Rödelheim), Bruchsal (Markgrafschaft Baden), Michelstadt (Grafschaft Erbach) und viele andere Orte sowie die Reichsstädte Hamburg und Frankfurt am Main als zentrale Knotenpunkte der sich über den gesamten Raum des Jüdischen Heiligen Römischen Reiches erstreckenden Wanderungs- beziehungsweise Migrationsbewegungen. Die Gründe und Formen der jüdischen Wanderungsbewegungen waren ebenso vielfältig wie die Mobilitätsräume: Verlust des Schutzes beziehungsweise fehlende Möglichkeiten, diesen zu erwerben, Arbeitssuche beziehungsweise Ausübung diverser Tätigkeiten, familiäre Beziehungen und Netzwerke sowie vor allem Armut und Gewährung sozialer Unterstützung im Rahmen der jüdischen Sozialfürsorge: „Sie seyen arme Leuth, und müßten also von einem Orth zu dem anderen ziehen“; er versuche „theils durch die Guthätigkeith seiner Freundten, theils durch Aufwartung in denen Jüdischen Bierhäuseren, theils auch durch Hin- und Wiedertragung deren Waaren einige Batzen“ zu verdienen, so begründeten Vogel und Oppenheimer ihre mobile Lebensweise. Diese konnte sich insbesondere auf die Familien, die jüdischen Gemeinden und die sogenannten Judenherbergen, aber auch auf Aufenthaltsduldung, Durchzugsgewährung, Geleitserteilungen, Heiratserlaubnis (Kopulationsschein) und Pässe unterschiedlicher Obrigkeiten stützen. Die Aussage der Jüdin Vogel macht deutlich, dass migrierende Juden wussten, wie sie das Instrumentarium der Migrationspolitik nutzen konnten, um kleine Handlungsspielräume zu erlangen. Hierin zeigt sich ein produktiver Umgang migrierender Juden mit obrigkeitlichen Ordnungsnormen und Maßnahmen. Das Fallbeispiel lässt folglich wesentliche Strukturen obrigkeitlicher Ordnungspolitik und rechtliche Bedingungen im Umgang mit jüdischer Mobilität beziehungsweise Migration im Reichssystem erkennen. Obwohl die meisten Obrigkeiten des Alten Reiches in zahllosen Ordnungsgesetzen auch die Wanderungsbewegungen von Betteljuden und Vaganten untersagt und kriminalisiert hatten, bewegte sich das Verfahren dennoch in rechtlichen Bahnen und bediente sich des reichsrechtlich fundierten Instruments der Requisition. Im Ergebnis kamen keine schweren Strafen zum Einsatz, weil sich kein ,peinlich‘ strafbares Delikt nachweisen ließ und unter fiskalisch-utilitaristischen Gesichtpunkten die Policeymaßnahme der Ausweisung (deren Wirkung hier freilich nicht verharmlost werden soll) als ausreichend erschien.2 2
Vgl. allgemein zur obrigkeitlichen Policeygesetzgebung und der Praxis ihrer Durchsetzung beziehungsweise des produktiven Umgangs damit: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000 (Ius commune: Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 129). Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Polizeiordnungen in Leonberg, Frankfurt am Main 2000. André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel Baden(-Durlach), Tübingen 2003. André Holenstein, Kommu-
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Sozialgeschichtlich lassen sich die in Lorsch festgenommenen Jüdinnen und Juden allerdings kaum mit der zeitgenössischen normativen Kategorie des Betteljuden fassen.3 Explizit gab die Jüdin Vogel zu Protokoll, „sie und ihr Mann gingen nicht in Gesellschaft deren Betteljuden“. Aus der Perspektive der Juden scheint eine differenzierte Berücksichtigung der Migrationsgründe und -formen sowie der räumlich-rechtlichen Besonderheiten des Reichssystems angemessener als die auch in der historischen Forschung verwendete Kategorisierung – die den zeitgenössischen normativen Etikettierungen folgt – in Betteljuden und sonstige mobile Juden.4 Bei den sogenannten Betteljuden handelte es sich um migrierende, meist arme Juden, die aus unterschiedlichsten Gründen keinen Schutz erwerben konnten oder diesen verloren hatten und die sich von der jüdischen Fürsorge oder ihren Familien, ambulanten Tätigkeiten, Diensten als Mägde, Knechte, Judenlehrer oder Vorsänger und anderem mehr ernährten. Die Aufenthalte konnten durchaus längere Dauer von über einem Jahr annehmen; meist jedoch mussten Juden nach einigen Tagen oder Wochen weiterziehen. Diese Schicht ,nichtsesshafter‘ Juden wuchs im 18. Jahrhundert zwar stark an, die Übergänge zu den Landjuden blieben jedoch fließend.5 Bei dem Begriff Betteljuden (auch ,Schalant- und Schnorrjuden‘) – der durchaus auch von den Juden selbst benutzt wurde – handelt es sich primär um eine obrigkeitliche Zuschreibung und Etikettierung, die etwa seit Mitte des 17. Jahrhunderts in einer wachsenden Zahl von Ordnungsgesetzen pau-
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nikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Die Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hgg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2005, S. 191–208. Vgl. Yakov Guggenheim, Von den Schalantjuden zu den Betteljuden. Jüdische Armut in Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit, in: Stefi Jersch-Wenzel/François Guesnet u. a. (Hgg.), Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa, Köln u. a. 2000, S. 55–56. Gustav Partington, Betteljuden in Lippe, in: Johannes Arndt/Peter Nitschke (Hgg.), Kontinuität und Umbruch in Lippe. Sozialpolitische Verhältnisse zwischen Aufklärung und Restauration 1750–1820, Detmold 1994 (Lippische Studien; 13), S. 253–272. Nicht akzeptabel ist die Beschreibung migrierender Juden beziehungsweise von Betteljuden als „niederes jüdisches Volk“, wie sie aufgebracht hat: Rudolf Glanz, Geschichte des niederen jüdischen Volkes in Deutschland. Eine Studie über historisches Gaunertum, Bettelwesen und Vagantentum, New York 1968. Vgl. für eine differenzierte Perspektive auf jüdische Mobilität beziehungsweise Migration: Sabine Ullmann, Das Ehepaar Merle und Simon Ulman in Pfersee. Eine jüdische Familie an der Grenze zum Betteljudentum, in: Mark Häberlein/Martin Zürn (Hgg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, St. Katharinen 2001, S. 269–291. Michaela Schmölz-Häberlein, Ausbildung – Arbeit – Angehörige. Lebenszyklische und ökonomisch-politische Anlässe für jüdische Mobilität und Migration im 18. Jahrhundert am Oberrhein, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 27 (2009), S. 41–56. Zahlenangaben, nach denen die Betteljuden 90 Prozent der Judenschaft ausgemacht hätten, sind völlig übertrieben und nicht belegt. Vgl. die ausgewogene Darstellung bei J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001 (Enzyklopädie deutscher Geschichte; 60), S. 112–116.
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schal für alle migrierenden Juden verwendet wurde, die kein Schutzverhältnis erlangen konnten und deren Migration keine ,nützliche‘ Funktion erfüllte.6 Damit war es den Obrigkeiten des Alten Reiches möglich, alle wandernden Juden auszugrenzen und zu kriminalisieren. Solche normativen Kategorisierungen besaßen durchaus Relevanz für die Praxis jüdischer Migration und die diesbezügliche obrigkeitliche Migrationspolitik, müssen aber differenziert verwendet werden. Auch in der alltäglichen Verwaltungspraxis war es für Obrigkeiten und Amtsträger schwierig zu entscheiden, ob es sich bei wandernden Jüdinnen und Juden um ,verdächtige‘ oder ,kriminelle‘ Betteljuden handelte. Ließen sich diesen keine schweren Delikte nachweisen und konnten Juden glaubhafte Migrations- und Mobilitätsgründe angeben, mussten Amtsträger und Obrigkeiten auch pragmatische, umsetzbare Lösungen finden, um insbesondere im ländlichen Bereich eine gewisse Migrationskontrolle zu realisieren. Solche bildeten beispielsweise die sogenannten Judenherbergen: obrigkeitlich zugelassenen Häuser oder Familien, in denen umherziehende Juden beherbergt werden sollten. In zahlreichen Territorien wie z. B. BrandenburgPreußen, Minden, Hessen-Darmstadt, Baden, Würzburg oder Kurmainz, in denen Schutzjuden lebten und städtische Gemeinden oder eine Landjudenschaft bildeten, wurden Judenherbergen zugelassen, die teilweise ausdrücklich genehmigt und auch in Ordnungsgesetzen erwähnt und somit rechtlich anerkannt waren. Sie bildeten insofern ein jüdisches wie obrigkeitlich-rechtliches Element von Migration, eröffneten Kontroll- und Diskriminierungsmöglichkeiten, aber auch Handlungsoptionen für migrierende Juden: In dieser Beziehung trafen sich obrigkeitliche Ordnungspolitik und jüdische Sozialfürsorge.7 6
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Ausführlich zur Ordnungsgesetzgebung und dem darin enthaltenen ,Etikett‘ des Betteljuden: Friedrich Battenberg, Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt. Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches. Eine Dokumentation, Wiesbaden 1987 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen; 8), S. 41, 125. Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, Frankfurt am Main 2005 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 190), S. 973–978. Karl Härter, Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht: Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Justizpraxis, in: Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft; 39), S. 347–379. Imke König, Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.–18. Jh.), Frankfurt am Main 1999 (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), S. 181 ff. Zu den noch wenig erforschten Judenherbergen, die dennoch in zahlreichen Darstellungen erwähnt werden vgl. Battenberg, Juden in Deutschland, S. 115. Und exemplarisch: Bernhard Post, Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz, 1774–1813, Wiesbaden 1985 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen; 7), S. 404. Johann Anton Zehnter, Zur Geschichte der Juden in der Markgrafschaft Baden-Baden, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 50 (1896), S. 337–441; 51 (1897), S. 385–436, 636–690; 54 (1900), S. 29–65, 547–610, hier Bd. 50, S. 416 f.; Bd. 51, S. 428–430; Bd. 54, S. 586 f. Bernd-Wilhelm Linnemeier, Jüdisches Leben im Alten Reich. Stadt und Fürsten-
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Die vielfältigen jüdischen Wanderungsbewegungen im Jüdischen Heiligen Römischen Reich lassen sich folglich weder mit der separierenden, obrigkeitlich-normativen Kategorie des Betteljuden beschreiben noch scheint der Begriff Mobilität auszureichen. Unterschiedliche Formen von Mobilität und Migration gehörten zu den Existenzbedingungen der Jüdinnen und Juden im frühneuzeitlichen Alten Reich und resultierten aus ihrer minoritären Situation, ihrer atomisierten Wohnweise insbesondere als Landjuden sowie in kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Praktiken, die Mobilität erforderten.8 Die Bandbreite reichte von Wanderungsbewegungen im Bereich der Bildung und des religiösen Lernens (speziell jüdische Schüler und Lehrer), zahlreichen Formen der Arbeitsmigration und ambulanter Tätigkeiten im Bereich des Handelns, Sammelns, der Dienstbotentätigkeit oder Gelegenheitsarbeit, über das dauerhafte Umherziehen der schutzlosen Juden, bis zu ,Einwanderung‘ beziehungsweise Ansiedlung mittels Privileg und Schutzgewährung sowie der Vertreibung und anderen Formen von Zwangsmigration (Ausweisung, Schutzverlust, Ausgrenzung) und ,Auswanderung‘. Die Forschung hat unter jüdischer Migration in der Vormoderne meist Migrationsformen wie Vertreibung beziehungsweise Zwangsmigration, Aufnahme in ein Schutzverhältnis und die Wanderungsbewegungen der sogenannten Betteljuden thematisiert. Der Fokus liegt dabei überwiegend auf lokal-territorial begrenzten Fallstudien und den zweifellos zentralen historischen Vorgängen Vertreibung und Sesshaftigkeit, wobei in der jüngeren Forschung zunehmend die Landjuden beziehungsweise die Siedlung in den kleineren und mittleren territorialen Einheiten insbesondere in den südwestdeutschen Regionen des Alten Reiches in den Blick gerückt sind.9 Moderne Kategorien und Begriffe wie Mobilität, Reisen, Ein- und Auswanderung oder Migration im Sinne eines dauerhaften Wechsels des Wohnsitzes lassen sich jedoch kaum stringent auf die Situation der Jüdinnen und Juden im Alten Reich anwenden. Auch der allgemein auf das Verhältnis von Juden zur
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tum Minden in der frühen Neuzeit, Bielefeld 2002 (Studien zur Regionalgeschichte; 15), S. 302–307. Wolfgang Treue, In die Jeschiwe und auf den Jahrmarkt: Jüdische Mobilität in Aschkenas in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling u. a. (Hgg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007 (Colloquia Augustana; 25), S. 191–205. J. Friedrich Battenberg, Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne. Ein Problemaufriß, in: ebd., S. 207–216. Sabine Ullmann, Regionalgeschichte und jüdische Geschichte in interdisziplinärer Perspektive, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 28 (2010), S. 17–36. Vgl. hierzu exemplarisch: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995; Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hgg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999 (Colloquia Augustana; 10). J. Friedrich Battenberg, Fürstliche Ansiedlungspolitik und Landjudenschaft im 17./18. Jahrhundert. Merkantilistische Politik und Juden im Bereich von SachsenAnhalt, in: Aschkenas 11 (2001), S. 59–85. Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hgg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin/ Bodenheim 2003.
Jüdische Migrationen im frühneuzeitlichen Alten Reich
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frühneuzeitlichen christlichen Umwelt abstellenden Kategorie des Fremden liegt letztlich nur ein vager Mobilitätsbegriff zugrunde, zumal in der Frühen Neuzeit die Grenzen zwischen Fremden und Einheimischen insgesamt völlig fließend waren.10 Grenzen, Räume, Territorien oder Staaten waren weder eindeutig noch abgeschlossen und die vielfältigen Migrationsbewegungen von Jüdinnen und Juden wie anderen Minderheiten und sozialen Randgruppen können kaum dem modernen Migrationsmodell dauerhafter Ein- und Auswanderung über Staatsgrenzen hinweg zugeordnet werden. Für das Alte Reich lassen sich weder Grenzen noch Staatsgebiete eindeutig definieren und ebenso wenig Wanderungsvorgänge zeitlich exakt befristen oder auf wenige Migrationsformen und -motive begrenzen. Jüdische Mobilität im Reichssystem bedeutet immer auch das Überqueren unterschiedlichster Grenzen, das Durchqueren und den Aufenthalt in unterschiedlichen territorialen und rechtlichen Räumen aus einer Vielzahl von Gründen, die den Migrationsbewegungen zugrunde liegen konnten. Insofern ist es notwendig, bei den Betrachtungen Wanderungsvorgänge über territoriale, politische, soziale und kulturelle Grenzen in einem offenen Zeithorizont und in vielfältigen Wanderungskontexten einzubeziehen. Hierzu zählen die begrenzte Binnenmigration mit zeitlich begrenzten Aufenthalten, zeitlich und räumlich begrenzte Schutzformen und Ansiedlung, die Ausübung ambulanter Gewerbe, Tätigkeiten und Dienstleistungen (Pferde-, Vieh- und sonstige Handelsaktivitäten, Hausieren), religiös motivierte Wanderungsbewegungen, die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte und Netzwerke, Eheschließungen und der Informationsaustausch, die Suche nach Arbeit, Armut und Betteln, fehlende dauerhafte Schutzverhältnisse, Ausgrenzung und Vertreibung und eine insgesamt mobile Lebensweise. Fanden doch gerade Juden häufig keinen dauerhaften Aufenthalt, konnten sich nicht in ein Schutzverhältnis begeben oder ,einkaufen‘ oder waren durch den meist befristeten Judenschutz und aufgrund ihres Minderheitenstatus grundsätzlich von Ausweisung, Vertreibung und Zwangsmigration bedroht. Migrationsgründe und Migrationsformen gingen zudem häufig fließend ineinander über und lassen sich nur schwierig von Kurzzeitmobilität (,Reisen‘) über kurze Entfernungen abgrenzen: Aus vorübergehenden Wanderungen konnte eine mehr oder weniger dauerhafte ,Aus- oder Einwanderung‘ beziehungsweise ein permanentes Schutzverhältnis resultieren, so wie umgekehrt Minderheitenstatus und Schutzverlust ,sesshafter‘ Juden Zwangsmigration zur Folge haben konnten.
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Barbara Staudinger, Juden als "Pariavolk" oder "Randgruppe"? Bemerkungen zu Darstellungsmodellen des christlich-jüdischen Verhältnisses in der Frühen Neuzeit, in: Margareth Lanzinger/Martin Scheutz (Hgg.), Normierte Lebenswelten. Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4/1 (2004), S. 8–25, hier S. 13–15 mit der zitierten Definition Simmels. Sowie Rainer Walz, Der nahe Fremde. Die Beziehungen zwischen Christen und Juden in der Frühen Neuzeit, in: Essener Unikate, Geisteswissenschaft 6/7 (1995), S. 54–63.
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Dieser Beitrag plädiert daher für eine weite historische Definition von Migration als einer sozialen Grundtatsache und Praxis gerade jüdischer Existenz in der Vormoderne und im Jüdischen Heiligen Römischen Reich: Migration soll folglich alle Phänomene jüdischer Mobilität einschließen, die eine wesentliche Existenzbedingung der Juden im Reichssystem bildeten.11 Auch wenn damit eine gewisse Unschärfe in Kauf genommen wird, so ergibt sich daraus eine integrative Perspektive, welche die unterschiedlichen Formen jüdischer Migrationen, die obrigkeitliche Juden- und Migrationspolitik und die rechtlichen Rahmenbedingungen, das territorial zersplitterte, gleichwohl einen rechtlichen Rahmen bietende Reichssystem und die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten der migrierenden Jüdinnen und Juden zumindest auf der Ebene eines systematischen Migrationsmodells konstitutiv berücksichtigen und in Beziehung zueinander setzen kann. Neben den sozialen, kulturell-religiösen und wirtschaftlichen Migrations- und Mobilitätsfaktoren sollen daher die rechtlich-politischen Rahmenbedingungen und die Migrationspolitik der Obrigkeiten des Heiligen Römischen Reiches einbezogen werden.12 Diese weisen zwar sowohl in ihren normativen Manifestationen – den zahlreichen Ordnungs- und Policeygesetzen zur Kontrolle oder Unterbindung von Migrationsvorgängen – als auch hinsichtlich der Maßnahmen und Sanktionen durchaus einen repressiven Charakter auf. Die Reglementierung, Unterbindung, Kriminalisierung und Verfolgung von Migrationsbewegungen beziehungsweise die obrigkeitliche Migrationspolitik zielte – sieht man vom normativen Etikett des Betteljuden ab – nicht primär auf die Juden, sondern auf alle wandernden sozialen Minderheiten und Randgruppen.13 Zumindest in dieser Perspektive kann jüdische Migrationsgeschichte im Sinne der Interaktion von Juden und christlicher Umwelt erweitert werden, weil letztere sich nicht nur auf die jeweilige Obrigkeit reduziert, sondern andere migrierende Minderheiten und Randgruppen einbezieht.14 11
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Zum hier verwendeten historischen Migrationsbegriff: Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, in: Klaus J. Bade: Sozialhistorische Migrationsforschung, hg. von Michael Bommes/Jochen Oltmer, Göttingen 2004 (Studien zur historischen Migrationsforschung; 13), S. 13–26; Klaus J. Bade, Historische Migrationsforschung, in: ebd., S. 27– 48. Harald Kleinschmidt, Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung, Göttingen 2002. Vgl. hierzu J. Friedrich Battenberg, Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium, in: Kießling, Judengemeinden in Schwaben, S. 53–79. Und allgemein: Karl Härter, Recht und Migration in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Reglementierung – Diskriminierung – Verrechtlichung, in: Rosmarie Beier-de Haan (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500– 2005. Für das Deutsche Historische Museum, Berlin 2005, S. 50–71. Karl Härter, Grenzen, Streifen, Pässe und Gesetze. Die Steuerung von Migration im frühneuzeitlichen Territorialstaat des Alten Reiches (1648–1806), in: Klaus J. Bade/Jochen Oltmer (Hgg.), Handbuch Migrationssteuerung [im Druck]. Vgl. hierzu Yakov Guggenheim, Meeting on the Road. Encounters between German Jews and Christians on the Margins of Society, in: Ronnie Po-Chia Hsia/Hartmut Lehmann (Hgg.), In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early
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Über die obrigkeitlich-repressive Perspektive hinaus gilt es auch, der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten migrierender Juden nachzugehen. Denn im territorial und politisch fragmentierten, gleichwohl rechtlich strukturierten Raum des Jüdischen Heiligen Römischen Reiches eröffneten sich auch für Juden Optionen und legal spaces, die unterschiedliche Formen jüdischer Migration ermöglichten.15 Wesentliche Voraussetzungen hierfür waren die Herrschaftskonkurrenz zwischen den Reichsmitgliedern und die Vielfalt der Herrschaftsrechte, die durch die Reichsverfassung beziehungsweise die Reichsinstitutionen garantiert und gesichert wurden. Diese unterschiedlichen, konkurrierenden Herrschafts- und Rechtsräume des Reiches, die dennoch durch den Rechtsrahmen der Reichsverfassung zusammengebunden wurden, bildeten nicht nur insgesamt eine wichtige Bedingung jüdischer Existenz im Alten Reich, sondern eröffneten auch Optionen und Handlungsmöglichkeiten für jüdische Wanderungsbewegungen.16 Dies gilt cum grano salis auch für die obrigkeitliche Ordnungsgesetzgebung, die sich nicht nur in Judenordnungen, sondern in einer Vielzahl von Policeygesetzen niederschlug, die jüdische Migrationen zwar reglementierte und teilweise auch kriminalisierte, aber in bestimmten Formen auch zuließ, konzessionierte und damit bis zu einem gewissen Grad verrechtlichte.17 Beobachtet man zunächst quantitativ die Ordnungsnormen des Reiches und neun ausgewählter Territorialstaaten (Kurfürsten Mainz, Köln, Trier Brandenburg-Preußen mit Magdeburg, Kleve-Mark und Halberstadt und Pfalz mit Neuburg, Sulzbach und Jülich-Berg sowie Pfalz-Zweibrücken, Baden, Württemberg und Bayern), so zeigt sich deutlich, dass sowohl die Ansiedlung von Juden in ländlichen Bereichen von Territorien als auch die zunehmende jüdische Migration nach der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer enormen Intensivierung der Ordnungsgesetzgebung führte, wie die folgende Graphik demonstriert. Sie zeigt vor dem Hintergrund aller Policeynormen die zunehmende Regelungsdichte derjenigen Policeymaterien, welche die
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Modern Germany, Cambridge 1995 (Publications of the German Historical Institute), S. 125–136. Vgl. grundsätzlich zu diesem Konzept, insbesondere im Hinblick auf die ,Rechtsgeschichte‘ der Juden: Stefan Ehrenpreis/Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst, Probing the Legal History of the Jews in the Holy Roman Empire – Norms and their Application, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2003), S. 409–487. Gotzmann/ Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Vgl. Kießling/Ullmann, Einleitung zu dies., Landjudentum im deutschen Südwesten, S. 13. Vgl. grundlegend Battenberg, Judenverordnungen. Exemplarische Beispiele bei: Hedwig Heider, Die Rechtsgeschichte des deutschen Judentums bis zum Ausgang des Absolutismus und die Judenordnungen in den rheinischen Territorialstaaten, Bielefeld 1973. Dina van Faassen, „Das Geleit ist kündbar“. Quellen und Aufsätze zum jüdischen Leben im Hochstift Paderborn von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1802, Essen 1999 (Historische Schriften des Kreismuseums Wewelsburg; 3).
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Abbildung 1: Ordnungsgesetzgebung ,Juden‘ Reich & 9 Territorien 1500–1799.
mobile Wirtschaftstätigkeit und die allgemeinen Wanderungsvorgänge von Juden reglementierten.18 Seit dem späten Mittelalter erließen die Obrigkeiten des Reiches – zunächst die Reichsstädte, seit Mitte des 17. Jahrhunderts dann aber zunehmend die Territorien – Ordnungsgesetze, die im Rahmen der allgemeinen Judenordnungen auch verschiedene Formen jüdischer Mobilität beziehungsweise Migration thematisierten: Verbot von Reisen beziehungsweise Wanderungsbewegungen an christlichen Sonn- und Feiertagen, Reglementierung insbesondere auch der ambulanten Wirtschaftstätigkeit jüdischer Händler, Hausierer und Gewerbetreibender, Begrenzung des Aufenthalts und Durchzugs fremder Juden, Einreise- und Aufenthaltsverbote für Betteljuden und Androhung von Landesverweisung, Regelung des Durchzugs, des Geleits und des Leibzolls sowie Ausdifferenzierung von Verwaltungs- und Kontrollmechanismen wie Meldepflicht, ,Übernachtungszettel‘, Judenherbergen, Erwerb und Mitführen von Pässen, Geleitscheinen, Taschenbriefen und Konzessionen 18
Karl Härter/Michael Stolleis (Hgg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 1–4, Frankfurt am Main 1996–2001; gezählt werden dabei nicht Gesetze, sondern die Regelungsmaterien nach dem dreistufigen Materienindex des Repertoriums. Danach sind im Folgenden die Policeygesetze nachgewiesen (mit Angabe von Territorium, Nummer, Form und Datum).
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mögen hier als Hinweise auf die einschlägigen Regelungsmaterien der in der obigen Graphik dargestellten Ordnungsgesetzgebung genügen.19 Diese diskriminierte in einer wachsenden Zahl an Ordnungsgesetzen migrierende Jüdinnen und Juden als Betteljuden. Besonders zwischen 1710 und 1779 erließen die Territorien des Alten Reiches zahlreiche Mandate, Edikte und Verordnungen, die Betteljuden gemeinsam mit vagierenden sozialen Randgruppen als ,herrenloses Gesindel‘ kriminalisierten und Einreise, Durchzug oder Aufenthalt teils mit massiven Strafen bedrohten. Alle ,unerwünschten‘ Migrationsbewegungen von armen beziehungsweise Betteljuden sollten mit repressiven Mitteln unterdrückt, verfolgt und bestraft werden.20 Neben Verboten und Beschränkungen finden sich jedoch zunehmend Normen, die – insbesondere aus fiskalischen und wirtschaftlichen Gründen – den Juden begrenzte und reglementierte Migrationen erlaubten, wobei das Judengeleit und die Konzessionierung ambulanter Gewerbe eine wesentliche Rolle spielten. Aus diesem Grund erfuhr auch die Wirtschaftstätigkeit von Juden insbesondere im Hinblick auf ambulante Tätigkeiten und Mobilität zwischen 1710 und 1780 eine intensivere Reglementierung, die sich an der obigen Graphik ablesen lässt. Dies betraf vor allem Policeynormen zu umherziehenden jüdischen Hausierern, Asche- und Lumpensammlern sowie zum Vieh-, Pferde- und Getreidehandel, die ebenfalls eine hohe Mobilität beziehungsweise Migrationsbewegungen mit sich brachten. Besonders im südwestdeutschen und fränkischen Raum des Alten Reiches mussten die im ländlichen Bereich lebenden Juden alltäglich unterschiedliche territoriale/ rechtliche Räume durchqueren und entsprechende Grenzen überschreiten, was sich in der Ordnungsgesetzgebung der betroffenen Territorien niederschlug. Grundsätzlich verfolgten zwar die meisten Obrigkeiten des Alten Reiches das Ziel, jüdische Mobilität und Migration zu beschränken und zumindest nur in eng definierten Grenzen kontrolliert zuzulassen, insbesondere auch im Hinblick auf die Konkurrenz zu entsprechenden Wirtschaftstätigkeiten der Christen. Anderseits wuchs jedoch seit Mitte des 17. und dann im 18. Jahrhunderts das Interesse, der wachsenden Zahl der angesiedelten Landjuden, die häufig keine Gemeinde bilden konnten, Mobilität zu gestatten und aus fiskalischen wie wirtschafts- und versorgungspolitischen Gründen jüdische Arbeitsmigration verstärkt zuzulassen.21 19
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Vgl. dazu nur die zahlreichen Beispiele aus der Ordnungsgesetzgebung und dem Judenrecht bei Heider, Rechtsgeschichte des deutschen Judentums. Battenberg, Judenverordnungen. König, Judenverordnungen im Hochstift Würzburg. Härter, Stellung der Juden, sowie die einschlägigen Policeygesetze in Härter/Stolleis, Repertorium Bd. 1–4. Vgl. hierzu ausführlich Härter, Stellung der Juden. Vgl. hierzu die einschlägigen Beiträge in: Kießling/Ullmann, Landjudentum im deutschen Südwesten. Und Hödl/Rauscher/Staudinger, Hofjuden und Landjuden. Weiterhin Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte; 151). Wolfgang Wüst, Juden im Augsburger Hoch- und Domstift. Eine Minderheit im Spannungsfeld zwischen ökonomischem Fortschritt,
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Insofern differenzierte und erweiterte die Policeygesetzgebung auch die rechtlichen Möglichkeiten und Handlungsoptionen migrierender Jüdinnen und Juden. So bedeutete z. B. der Erwerb einer Konzession in einem mehr oder weniger normierten Verwaltungsverfahren, dass Juden mittels Supplikationen und Anträgen mit der Obrigkeit Arbeitsmigration aushandeln und durch die obrigkeitliche Konzessionen und Zertifizierung eine (begrenzte) Rechtssicherheit erlangen konnten, die bei Konflikten durchaus den Weg zu Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eröffnete. Da freilich keine Obrigkeit des Alten Reiches alle Formen der Arbeitsmigration zuließ, sondern diese mittels Ordnungsgesetzen und Kontrollmaßnahmen begrenzte, blieb die Ordnungspolitik ambivalent, schwankte zwischen Verbot, Kriminalisierung und begrenzter Ermöglichung und bedeutete für migrierende Juden eine permanente potentielle Gefährdung. Die zunehmende Bedeutung jüdischer Migration sowie Ausgrenzung und Kriminalisierung auf der einen, Verrechtlichung und Etablierung von Verwaltungsmechanismen auf der anderen Seite resultierten in einer – durchaus ambivalenten und von Zielkonflikten geprägten – obrigkeitlichen Migrationspolitik, die auf Reichsrecht, Herrschaftsrechten und Ordnungsgesetzgebung basierte und deren wesentliche Elemente – neben den erläuterten Policeynormen – im Einzelnen folgende waren: – der sogenannte freie Zug und das spezifische Judengeleit und die damit verbundene Durchzugs- und Aufenthaltsgewährung in Form von Geleitsbriefen und fiskalischen Abgaben (Geleitszoll, Leibzoll); – die verschiedenen Formen der Reglementierung und Konzessionierung jüdischer Arbeitsmigration, insbesondere im Hinblick auf Pferde-, Vieh- und Getreidehandel sowie jüdische Händler, Hausierer und Sammler (Asche, Lumpen); – die unterschiedlichen, teilweise kaiserlich privilegierten Formen von Immunität und weltlichem Asyl, die z. B. Reichstagsgesandtschaften, Reichsritter, Reichsstädte und auch mediate Gewalten wie Universitäten gewähren konnten, sowie die damit verbundene Auslieferungs- beziehungsweise Nichtauslieferungspraxis;22
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grenzüberschreitendem Handel, konfessionskonformer Staatlichkeit und bischöflicher Mandatswillkür, in: Peter Fassl (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bd. 2, Sigmaringen 2000, S. 189–208. Linnemeier, Jüdisches Leben im Alten Reich, S. 585– 590. Vgl. z. B. zur Immunität Regensburger Reichstagsgesandtschaften und deren ,diplomatischen Asyl‘ sowie zu den Geleits- und Schutzrechten der Reichserbmarschälle von Pappenheim, die Juden einen wie auch immer begrenzten Aufenthalt ermöglichten, der sich sogar relativ weitgehend verfestigen konnte: Till Strobel, Jüdisches Leben unter dem Schutz der Reichserbmarschälle von Pappenheim 1650–1806, Epfendorf 2009 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens; 3). Allgemein zur Asylgewährung: Karl Härter, Vom Kirchenasyl zum politischen Asyl. Asylrecht und Asylpolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Martin Dreher (Hg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Köln u. a.
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– die Möglichkeit, auf die obrigkeitliche Ordnungspolitik und insbesondere Policeygesetze mit Supplikationen und Fürbitten reagieren zu können, wobei auch familiäre und politische Netzwerke und Beziehungen mobilisiert werden konnten;23 – Klagen gegen ,rechtswidrige‘ Eingriffe und Ordnungsgesetze insbesondere vor den Reichsgerichten, wobei auch Obrigkeiten als Kläger auftreten konnten, weil z. B. das von ihnen gewährte Judengeleit verletzt worden war; – und schließlich waren Formen der jüdischen Selbsthilfe und Armenfürsorge – insbesondere Judenherbergen – auch in obrigkeitliche Ordnungspolitik und einen rechtlichen Rahmen eingebunden. Die hier nur skizzierten Elemente obrigkeitlicher Migrationspolitik sollen im Folgenden exemplarisch für das Geleit näher untersucht werden, um das Zusammenspiel von Handlungsspielräumen und rechtlichen Rahmenbedingungen jüdischer Migrationen deutlich zu machen. Es versteht sich, dass obrigkeitliche normative Texte wie speziell die zahlreichen Ordnungsgesetze nur einen begrenzten Blick auf die Realität jüdischen Lebens beziehungsweise jüdischer Migration erlauben. Dennoch bildeten sie ein zentrales Element obrigkeitlicher Juden- und Ordnungspolitik und lassen Rückschlüsse auf charakteristische Interaktionsfelder und Handlungsoptionen von migrierenden Juden zu.24 Welche Relevanz diesen in der jüdischen Migrationspraxis zukam und welche Rolle weitere rechtliche Optionen wie insbesondere Klagemöglichkeiten bei den Reichsgerichten gegen obrigkeitliche Maßnahmen oder Ordnungsgesetze spielten, ist noch nicht ausreichend erforscht. Exemplarische Einzelbeispiele lassen sich jedoch in den Repertorien der Reichshofrats- und Reichskammergerichtsakten finden.25 Es versteht sich weiterhin, dass ein solcher Forschungsansatz immer auch die Grenzen der rechtlich-politischen Möglichkeiten aufzeigen und Ausgrenzung, Krimina-
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2003 (Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte; 15), S. 301–336. Karl Härter, Frühneuzeitliche Asylkonflikte vor dem Reichshofrat und anderen europäischen Höchstgerichten, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hgg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln u. a. 2007 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 53), S. 139–162. Vgl. André Holenstein, Bitten um den Schutz. Staatliche Judenpolitik und Lebensführung von Juden im Lichte von Schutzsupplikationen aus der Markgrafschaft Baden(Durlach) im 18. Jahrhundert, in: Kießling/Ullmann, Landjudentum im deutschen Südwesten, S. 97–153. So allgemein Battenberg, Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz. Allein die Durchsicht der Bände des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und des Bayerischen Hauptstaatsarchivs ergab zahlreiche Fälle zu Konflikten, die mit jüdischer Migration im Zusammenhang standen, insbesondere zur Thematik des Judengeleits und des Leibzolls; vgl. nur die entsprechenden Schlagworte in den Sachregistern: Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Bd. 1–7, Stuttgart 1993–2005. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht, Selbstverl. der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Bd. 1–13, München 1993–2006.
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lisierung und Verfolgung migrierender Juden berücksichtigen muss, auch wenn diese im Folgenden nicht im Vordergrund stehen. Die Untersuchung der rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen jüdischer Migrationen wie der Handlungsspielräume von Jüdinnen und Juden sieht sich mit einer Pluralität von Rechtsnormen und obrigkeitlicher Gesetzgebung im Alten Reich konfrontiert: Reichsrecht und Reichspoliceygesetzgebung (insbesondere die entsprechenden Abschnitte der Reichspoliceyordnungen von 1530, 1548 und 1577); unterschiedliche Ordnungsgesetzgebung der Reichsmitglieder, die von Privilegien und umfassenden Judenordnungen bis zu den zahlreichen Einzelgesetzen (Mandate, Edikte usw.) reichten; juristische und staatsrechtliche Schriften, denen ebenfalls Rechtsqualität zukam, da sie in der Gerichts- und Verwaltungspraxis herangezogen wurden. Auch wenn gerade die normativen Rechtsquellen nur einen begrenzten obrigkeitlichen Blick auf die (wie immer geartete) ,historische Realität‘ jüdischer Migration zulassen, so bildeten sie dennoch ein wesentliches Element der Praxis, nicht zuletzt, weil sie Juden einen produktiven Umgang und die Nutzung von Recht ermöglichten. Letzterer äußerte sich z. B. in Supplikationen, Fürbitten, Unterstützungsschreiben, Eingaben, Geleitsanträgen und Geleitsschreiben, Pässen und weiteren Produkten der Verwaltungskommunikation zwischen Obrigkeit und Juden sowie insbesondere in Gerichtsakten. Auch bezüglich der Justiz reicht die Bandbreite von Klagen bei den Reichsgerichten – und zwar von Juden und Obrigkeiten – bis zu Strafverfahren, die sich in Kriminalakten wie im oben dargestellten Fall niederschlugen. Eine solche Quellenbasis erlaubt es zumindest ansatzweise, die zweifellos wesentliche Perspektive obrigkeitlicher Diskriminierung, Kriminalisierung und fiskalischer Ausbeutung jüdischer Migration um Aspekte wie Handlungsmöglichkeiten, Justiznutzung und produktiven Umgang mit Normen/Recht durch Jüdinnen und Juden zu erweitern.26 In den zeitgenössischen, staatsrechtlichen und juristischen Werken, die sich mit rechtlichen Fragen jüdischer Migrationen beschäftigten, standen die Figuren des Judenschutzes und des Judengeleits im Vordergrund. Johann Jodocus Beck definierte sie nicht nur als Ausfluss des ius superiorialitas beziehungsweise der Landesherrschaft, sondern führte sie auch auf alte Gewohnheit, unvordenkliche Possession oder besondere Privilegien zurück, die auch dem landsässigem Adel, Klöstern und anderen Inhabern von Herrschaftsrechten, teils sogar intermediären Gewalten zukämen. Nach Beck durften Landstädte, 26
Dazu jetzt auch Sabine Ullmann, Die jüdische Minderheit vor dörflichen Niedergerichten in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2009), S. 534–560. Zu den hier nur angedeuteten methodischen Problemen und Modellen, wie sie insbesondere in der Historischen Kriminalitäts- und Policeyforschung verwendet werden, vgl. weiterhin: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hgg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur; 1). Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel Baden(-Durlach), 2 Bde., Tübingen 2003 (Frühneuzeit-Forschungen; 9,1 und 9,2).
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die über kein Judenregal verfügten, migrierenden Juden einige Tage Aufenthalt gestatten, damit diese Handel treiben konnten. Beck bezieht sich dabei auf das Reichsrecht und zwar insbesondere die Reichspoliceyordnungen (1530, 1548 und 1577), den Reichsabschied von 1555, kaiserliche bestätigte Privilegien, Urteile der Reichsgerichte und durch das Reich geschützte Rechte wie z. B. Vogtei, Immunität, Eigengerichtsbarkeit und Asylrecht auch der nicht reichsständischen Inhaber von Herrschaftsrechten. Juden könnten folglich gleich den Christen Schutz und Freiheit weltlicher Asyle beziehungsweise Freistätten genießen. Mit Bezug auf ein reichsgerichtliches Urteil von 1551 stellte Beck abschließend den Rechtsgrundsatz auf, Juden könnten jederzeit ihren Schutz aufkündigen und das Gebiet des jeweiligen Schutzherren verlassen; der freie Zug dürfe nicht verweigert werden. Den Juden kam folglich das Recht auf Freizügigkeit zu, das schollenpflichtige Untertanen nicht innehatten beziehungsweise nur gegen Zahlung der Nachsteuer (einer Auswanderungsgebühr) erhalten konnten.27 Allerdings darf das Recht auf freien Zug nicht überbewertet werden, denn es bedeutete den Verlust des Schutzes und konnte ein ,Leben auf der Straße‘ nach sich ziehen, wie das Beispiel der in Lorsch verhaftetet Juden deutlich macht. Hatte doch die Reichspoliceyordnung von 1577 verfügt, dass nur die Reichsstände, die das Judenregal innehatten, Juden aufnehmen und durchreisen lassen dürften: „Da aber jemand darüber Jüden auffnemmen würde/so sollen doch dieselbigen an keinem ort sicherheit noch gelait haben“.28 Aus dieser Bestimmung resultierte freilich auch, dass die Reichsstände Geleit im Sinne der Gewährung eines geschützten Durchzugs oder Aufenthalts erteilen konnten. Grundsätzlich ist das Geleit für migrierende Juden von der gelegentlich ebenfalls als Geleit bezeichneten Gewährung von dauerhaftem Schutz durch Ansiedlung zu unterscheiden.29 Das Geleit für Juden, die durch ein Territorium reisten oder sich dort aufhalten wollten, bildete eine besondere Form des allgemeinen Geleits. Im Mittelalter wurde dieses durch die jeweilige Obrigkeit, welche das Geleitsregal innehatte und durch den Kaiser per Geleitsbrief und damit als Privileg erteilt. Es basierte auf dem umfassenden, durch Reichsrecht abgesicherten und garantierten Geleitsrecht der Reichsstände, das 27
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Johann Jodocus Beck, Tractatus de iuribus iudaeorum, von Recht der Juden. Worinnen von denen Gesetzen, denen sie unterworffen, deren Heyrathen, Contracten, Wucher, Testamenten, Successionen oder Erbfolgen, Verbrechen und deren Bestraffungen [...] gehandelt wird, Nürnberg 1731, S. 50 f. sowie S. 37, 322 f. und 405 f. zum Geleit. Zitiert nach Matthias Weber, Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition, Frankfurt am Main 2002 (Ius commune: Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 146), S. 246. Vgl. dazu Karl Härter, Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert, in: Ius Commune 20 (1993), S. 61–141, hier besonders S. 113. Vgl. beispielhaft für die Funktion von ,Geleit‘ im Kontext der Schutzgewährung: Stephan Laux, Gravamen und Geleit. Tendenzen und Konsequenzen ständischer Einflussnahme auf die ,Judenpolitik‘ im Herzogtum Westfalen (ca. 1600–1850), in: Westfälische Forschungen 53 (2003), S. 131–158.
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sich in der Frühen Neuzeit zu einem Bestandteil der Landeshoheit (Geleitsregal) entwickelte, gleichwohl noch immer durch das Reichsrecht eingehegt wurde. Es konnte verschiedene Formen annehmen, vom allgemeinen Geleit für Kaufleute und dem Messegeleit über das sichere Geleit (salvus conductus) für verfolgte Straftäter bis zum sogenannten Judengeleit. Mit dem Geleit gewährte eine Obrigkeit Schutz und gegebenenfalls Schadenersatz für diejenigen Geleitsnehmer, die das Territorium durchqueren oder sich darin für eine begrenzte Zeit aufhalten wollten. Der Schutz wurde dem Geleitsnehmer durch Begleitpersonal und vor allem in Form von Schutz- beziehungsweise Begleitbriefen gewährt, wofür grundsätzlich eine Abgabe (Geleitsgeld, Geleitszoll) zu entrichten war.30 Aus der bereits für das 12. Jahrhundert nachweisbaren Praxis der Geleitsund damit Schutzerteilung per Brief oder Privileg für eine spezifische Migrationsbewegung eines (oder auch mehrerer) namentlich genannter Juden im Rahmen des allgemeinen Geleits entwickelte sich seit dem späten Mittelalter das spezifisch obrigkeitliche Judengeleit, das Durchzug und zeitlich begrenzten Aufenthalt gestattete und mit einer Abgabe – dem Leibzoll – verbunden war.31 Reichsrechtliche Voraussetzung und Basis hierfür waren das Judenregal, das Geleitsregal, die oben zitierten Normen der Reichspoliceyordnungen sowie die Bestimmung der kaiserlichen Wahlkapitulation zum Geleit und zum Verbot der willkürlichen Erhöhung der Geleitsgelder. Kaiser und Reichsgerichte gewährten auch einzelnen Juden auf deren Supplikation oder Klage hin per Privileg und Dekret spezifische Geleite beziehungsweise Migrationskonzessionen, wie das gerichtliche Geleit (zur Erledigung gerichtlicher Aktivitäten), das Schuldengeleit (zur Eintreibung von Schulden beziehungsweise zur Erledigung von Kreditgeschäften) oder das sichere Geleit für verfolgte Straftäter, die geflohen waren und Asyl gefunden hatten, aber zurückkehren wollten.32 So baten beispielsweise 1695 Alexander Senner, der einen Diebstahl begangen hatte und geflohen war, oder Amschel Ochs 1705 um freies Geleit, um auf diesem Weg im anschließenden Strafverfahren mittels Supplikationen 30
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Allgemein zum Geleit: Gebhard Weig, Das Jus conducendi der Bischöfe zu Würzburg. Eine Studie zur Rechtsstruktur, politischen Funktion und Organisation des Geleitsrechtes im Hochstift Würzburg während des 15. und 16. Jahrhunderts, Würzburg 1970. Vgl. allgemein Germania Judaica. Historisch-topographisches Handbuch zur Geschichte der Juden im Alten Reich, Tl. IV (1520–1650), Tübingen 2009, Bd. 2: J. Friedrich Battenberg, Landgrafschaft Hessen-Marburg, S. 49–52. Vgl. diesbezüglich nur die Repertorien der Akten des Reichshofrats und des Reichskammergericht unter den Schlagworten Geleit, das in der Mehrzahl auf Fälle beziehungsweise Ansuchen von Juden verweist, sowie die einschlägigen Fälle in: Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1651–1806, bearb. von J. Friedrich Battenberg, Darmstadt 2008, S. 193, Nr. 708 und S. 673–694. Siehe auch das Beispiel eines Esslinger Juden bei: Renate Overdick, Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Juden in Südwestdeutschland im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an den Reichsstädten Konstanz und Eßlingen und an der Markgrafschaft Baden, Konstanz 1965 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen; 15) , S. 146. Verordnung vom 18.7.1524, in: Battenberg, Judenverordnungen, Nr. 1, S. 59.
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agieren und eine mildere Strafe aushandeln zu können.33 Kaiser, Reichsgerichte und Reichsrecht spielten folglich auch im 18. Jahrhundert noch eine wesentliche Rolle im Geleitswesen und wurden von Juden genutzt, um sich im fragmentierten Raum des Reiches bewegen beziehungsweise migrieren zu können.34 Darüber hinaus etablierte die Ordnungsgesetzgebung der Obrigkeiten seit dem 16. Jahrhundert vermehrt Regelungen zu Durchzug und zeitlich begrenztem Aufenthalt migrierender Juden, um Bedingungen, Verwaltungs- und Kontrollmaßnahmen und auch die fiskalische Abschöpfung festzulegen: „Doch sollen die Juden, so im Furstenthumb und Gepieten nicht gesessen und sunst unser Strassen brauchen, auf yren gewonlichen Zoll zu passeren Sicherheyt und Gleyt haben one Geverde“, lautete die Bestimmung einer hessischen Verordnung aus dem Jahr 1524.35 Auch die Markgrafschaft Burgau verfügte in der Judenordnung von 1534, dass allen wandernden Juden insbesondere in rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten der „durchzug on beschwerung gestatt werden“ soll. Bedingungen waren freilich die Begrenzung auf eine Gruppe von maximal drei Personen und die Meldung beim örtlichen Gericht bei der Einreise beziehungsweise am Aufenthaltsort.36 Pfalz-Zweibrücken erließ 1557 eine erste Verordnung, die das Judengeleit regelte, und die Badische Landesordnung von 1588 gestattete, dass „die Juden durch unnser Fürstenthumb Ir Notturfft nach ziehen und wandern mögen“. Juden mussten beim Betreten des Territoriums beim nächsten Amtmann um Geleit ansuchen, der ihnen einen Geleitsbrief ausstellte, für den zwei Batzen zu entrichten waren und den sie als Ausweis mit sich führen mussten.37 Ähnliche Regelungen finden sich in der Ordnungsgesetzgebung zahlreicher Territorien, wobei die jeweils festgelegten Bedingungen zu Aufenthaltsdauer, Abgaben (Leibzoll, Judenzoll, Taschengeleit usw.), Melde-, Kennzeichnungs- und Ausweispflicht (Mitführen des Geleitsscheins und Tragens des Geleitszeichens) oder dem Kreis der berechtigten Juden erheblich differieren konnten.38 Vorwiegend durften Juden, die ein Schutzverhältnis 33 34 35 36 37
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Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Decisa, K. 331. Vgl. auch das Beispiel eines Esslinger Juden bei: Overdick, Stellung der Juden in Südwestdeutschland. Verordnung vom 18.7.1524, in: Battenberg, Judenverordnungen, Nr. 1, S. 59. Rosemarie Mix, Die Judenordnung der Markgrafschaft Burgau von 1534, in: Kießling/ Ullmann, Landjudentum im deutschen Südwesten, S. 23–57, hier S. 53. Baden-Baden 117, Landesordnung, 02.01.1588: Landts Ordnung Des Fürstenthumbs der Oberen Marggraffschafft Baaden Baaden de Anno 1588; Pfalz-Zweibrücken 44, Verordnung, 24.12.1557. Vgl. Rochus Scholl, Juden und Judenrecht im Her-zogtum PfalzZweibrücken. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte eines deutschen Kleinstaates am Ende des Alten Reiches, Frankfurt am Main u. a. 1996 (Rechtshistorische Reihe; 139), S. 116. Vgl. die folgenden territorial angelegten Studien zu Aufenthalt, Durchzug, Geleit und Leibzoll, besonders im Hinblick auf die entsprechende Ordnungsgesetzgebung: Battenberg, Judenverordnungen, passim. Ders., Quellen zur Geschichte der Juden, S. 673–694. König, Judenverordnungen im Hochstift Würzburg, S. 161–164 und 178 f. Zehnter, Juden in der Markgrafschaft Baden-Baden, ZGO 50, S. 355, 373, 413–417 und passim.
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und/oder einen wirtschaftlichen Grund nachweisen konnten, das Geleit erwerben, ein Territorium passieren oder sich einige Tage aufhalten. Insofern dehnten einige Obrigkeiten wie z. B. Pfalz-Zweibrücken den Geleitszwang auch auf eigene Schutzjuden aus, falls diese Ämter oder Verwaltungsbezirke verließen beziehungsweise durchquerten. Fremden vagierenden Jüdinnen und Juden, die als Betteljuden eingestuft werden konnten, sollte dagegen Durchzug und Aufenthalt verwehrt werden. Die meisten Ordnungsgesetze drohten Juden, die keinen Geleitsschein, Taschenbrief oder Zollzeichen vorweisen konnten, mit Geldstrafen und Ausweisung, falls es sich um Betteljuden handelte beziehungsweise diese als solche etikettiert werden konnten. Trotz ihres vielfach diskriminierenden Charakters können weder die Festlegung von Aufenthalts- beziehungsweise Durchzugsbedingungen noch die Erhebung einer Geleits- beziehungsweise Migrationsabgabe als ausschließlich auf Juden zielende und diese finanziell ausbeutende Regelungen eingeordnet werden. Auch die Migrationsbewegungen christlicher Untertanen wurden durch entsprechende Ordnungsgesetze begrenzt und besteuert; die Zahlung einer Geleitsabgabe oder Gebühr traf grundsätzliche jeden, der Geleit erhielt. Die Gegenleistung bestand in der Ausstellung eines Geleitsbriefes oder scheins, der Gewährung von Schutz (ursprünglich auch durch entsprechenden personalen Begleitschutz) und Schadenersatz, falls ein Schaden (z. B. durch Beraubung) eintrat: „der Juden-Leib-Zoll [. . . ] ist nicht anders, als eine fest bestimmte baare Abgabe, welche die Juden für ihre öffentliche Sicherheit bey einem auf eine Zeit lang gestatteten Aufenthalte oder Durchzuge an allen denen Orten in Teutschland, wo diese Abgabe rechtlich eingeführt ist, von ihrer Person ohne Rücksicht auf ihre Sachen bezahlen müssen“,
fasste Kopp 1799 zutreffend zusammen.39 Es handelte sich folglich nicht um einen Zoll wie er für Waren beim Grenzübertritt zu zahlen war – auch wenn die pejorative Bezeichnung Leibzoll dies suggeriert – sondern um eine Geleitsabgabe, wie sie für jeden Reisenden, der Schutz erwerben wollte, üblich war. Die direkte Schutzgewährung durch bewaffnete Begleiter entfiel freilich bei den Juden und sie wurden grundsätzlich per Ordnungsgesetz zur Zahlung – eines höheren Satzes – gezwungen, sobald sie ein Territorium betraten oder auch sich in diesem bewegten. Dahinter stand die rechtliche Fiktion, dass migrierende Juden – die laut Reichspoliceyordnung außerhalb des Geltungsbereiches des jeweiligen obrigkeitlichen Judenregals beziehungsweise
39
Dieter Blinn, Judenrecht im Fürstentum Pfalz-Zweibrücken. Quellen zum Recht für Juden eines Reichsterritoriums vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Eine Dokumentation, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 42 (1994), S. 31–114, hier die unter Nr. 15, 37, 48, 51, 53, 57, 62, 79, 80, 81 und 94 abgedruckten Ordnungsgesetze und Aktenstücke. Karl Anton Schaab, Diplomatische Geschichte der Juden zu Mainz und dessen Umgebung mit Berücksichtigung ihres Rechtszustandes in den verschiedenen Epochen, Mainz 1855, S. 140 ff. Ulrich Friedrich Kopp, Vom Juden-Leibzoll, in: ders., Bruchstücke zur Erläuterung der Teutschen Geschichte und Rechte, Kassel 1799, S. 97–154, hier S. 113.
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Judenschutzes „an keinem ort sicherheit noch gelait haben“ – grundsätzlich des Geleitsschutzes bedurften und folglich auch immer hierfür zahlen sollten.40 Dennoch begründeten Geleit und Leibzoll auch für die betroffenen Juden ein Rechtsverhältnis und einen Rechtsanspruch auf Schutz und Schadenersatz. Die rechtliche Grundlage bildeten die jeweiligen Ordnungsgesetze und das Reichsrecht in Gestalt der kaiserlichen Privilegien und Wahlkapitulationen41 , des Judenregals, der Reichspoliceyordnung und der Urteile der Reichsgerichte. Dieser Normenpluralismus ermöglichte migrierenden Juden die Nutzung der Reichsjustiz bei Konflikten sowie insgesamt einen produktiven Umgang mit Ordnungsgesetzgebung und Verwaltungsmaßnahmen beziehungsweise Möglichkeiten, die jeweiligen Bedingungen von Geleit und Migration auszuhandeln und damit auch die Migrationspolitik zu beeinflussen. Eine wesentliche Vorbedingung hierfür war, dass weder die zahlreichen Ordnungsnormen eindeutig formuliert waren noch der vormoderne Territorialstaat über geeignete Amtsträger verfügte, um diese vollständig umsetzen zu können. Zudem waren Ordnungsgesetzgebung und Migrationspolitik durch ambivalente, teils widersprüchliche Ziele gekennzeichnet: fiskalische Abschöpfung durch Leibzoll und andere Abgaben (z. B. Taschenbriefe), die Duldung von wirtschaftlich als notwendig angesehener jüdischer Arbeitsmigration (Pferde-, Vieh- und Getreidehandel, Hausiererhandel), die Bevorzugung einheimischer Juden und die Ausgrenzung der letztlich in der konkreten Verwaltungspraxis nur schwer eindeutig zu identifizierenden Betteljuden mögen hier als Stichworte genügen. Hinzu kamen Herrschaftskonkurrenz, territoriale Zersplitterung und Verwaltungsschwäche, die den produktiven Umgang migrierender Juden mit den Ordnungsgesetzen erleichterten. Diese ließen im Übrigen generell Dispensgesuche, Ausnahmegenehmigungen und Supplikationen zwecks Anpassung der Normen an die jeweiligen konkreten Umstände zu, machten auch von vornherein Ausnahmen für spezielle Tätigkeiten oder waren so allgemein formuliert, dass auch für migrierende Juden ein Interpretationsspielraum blieb.42 Häufig wurde die auf ein bis vier Tage festgelegte Aufenthaltsdauer interpretiert oder umgangen: Im Kurmainzer Oberamt Krautheim hatte sich beispielsweise die Praxis etabliert, dass die einheimischen den fremden Juden 40 41
42
Vgl. zur zeitgenössischen rechtlichen Konstruktion und Sichtweise: Kopp, Juden-Leibzoll; Beck, Tractatus, S. 37, 50, 322 f., 406 f. Vgl. z. B. Johann Richard Roth, Wahlkapitulation des römischen Kaisers Leopolds des Zweiten, nach dem kurmainzischen Originale zum Drucke befördert [...]. Mainz/ Frankfurt am Main 1790, Art 8 § 12. Vgl. hierzu allgemein: Holenstein, Kommunikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Ders., „Gute Policey“, S. 243–305. Härter, Policey und Strafjustiz, S. 189– 221. André Holenstein, Die Umstände der Normen – die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: Härter, Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, S. 1–46.
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entgegen den Verordnungen bis zu zehn Tage Unterkunft gewährten.43 In Baden benutzten durchziehende Juden die Geleitsbriefe und Scheine anderer Obrigkeiten, um den badischen Leibzoll zu umgehen. Die Badener Schutzjuden beklagten sich zudem über die Praxis der Leibzollerhebung von zwei Batzen an jeder Zollstation und boten an, eine einmalige Pauschalgebühr von sechs Batzen für Durchreise und Aufenthalt zu entrichten, was den Verwaltungsaufwand erheblich erleichterte, aber wiederum Möglichkeiten eröffnete, sich unkontrollierter und länger im badischen Territorium aufzuhalten. Ebenso verhandelten die Vorsteher der hessischen Judenschaft mittels Suppliken und Beschwerden mit Hessen-Darmstadt über das Messegeleit.44 Die Reichsstadt Ulm, die alle Juden vertrieben hatte, ließ nicht nur jüdische Händler aus dem Umland für die Markttage zu, sondern bei besonderen Anlässen – wie z. B. der Lieferung von Heu an den Schwäbischen Reichskreis oder Geschäften von Hoffaktoren – konnten längerfristige Aufenthaltsgenehmigungen (Judengeleite) per Fürbitte oder Supplikation erwirkt werden.45 Die Beispiele zeigen, dass sich die Juden häufig aktiv mit Supplikationen, Beschwerden und Eingaben an die Obrigkeiten wandten, um Erleichterungen oder Ausnahmegenehmigungen zu beantragen. Dispensgesuche und Supplikationen – mit denen auch Geleit beantragt werden konnte – bildeten eine wichtige Möglichkeit, um eigene Interessen einzubringen und Verwaltungsdefizite auszunutzen. So verhandelten z. B. die Esslinger Juden, teilweise unterstützt von der Reichsstadt, mit dem Herzog von Württemberg über das Geleit.46 Auch die Pfalz-Zweibrücker Juden beschwerten sich beim Herzog über Geleit und Geleitzoll in der Herrschaft Gutenberg und beantragten eine Befreiung mit dem zutreffenden Argument, die Lösung der Zollzeichen erfordere einen hohen Verwaltungsaufwand, insbesondere weil der betreffende Amtsträger häufig abwesend wäre, was lange Wartezeiten mit sich brächte und letztlich Handel und Wandel (und damit die Staatseinnahmen) eher schädige. Für Zweibrücken lassen sich mehrere solcher Aushandlungsprozesse nachweisen, die auch zu wirtschaftspolitisch oder verwaltungstechnisch motivierten obrigkeitlichen Reaktionen führten. So wurde der unmittelbare tägliche Erwerb des Geleits vor Ort durch ein jährlich zu erwerbendes Taschengeleit ersetzt, dieses dann an einen Juden verpachtet (der dann selbst für den Einzug sorgen musste) und schließlich 1773 zwecks Förderung der Viehmärkte eine sechsjährige Befreiung der dort handelnden Juden von Leibzoll und Taschengeleit verordnet, was nicht zuletzt auch dadurch motiviert
43 44
45 46
Bericht des Amtes vom 20.2.1703 und Reskript der Regierung, Konzept, 23.2.1703, BStA Würzburg, MRA Cent 4. Zehnter, Juden in der Markgrafschaft Baden-Baden, ZGO 50, S. 373; Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden, Nr. 2666; ebd. Nr. 2655, 2670, 2674, 2681, 2687, 2693, 2695, 2732 weitere Fälle des Aushandelns von Geleit und Leibzoll. Peter Thaddäus Lang, Die Reichsstadt Ulm und die Juden 1500–1803, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 8 (1989), S. 39–48, hier S. 45 f. Overdick, Stellung der Juden in Südwestdeutschland, S. 79.
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war, dass Nachbarterritorien wie Baden den Juden ähnliche Vergünstigungen gewährt hatten.47 Insgesamt führten die Verwaltungsprobleme und der aktive, produktive Umgang der Juden mit den Geleitsnormen dazu, dass die meisten Territorien mit neuen Ordnungsgesetzen reagierten und zunehmend mit unterschiedlichen Verwaltungstechniken und Verfahren experimentierten. Baden führte z. B. 1733 mit dem Handelsgeleit und dem Passagiergeleit zwei Formen des Geleits für Juden ein, die den jeweiligen Migrationsformen gerecht werden sollten, was in der Verwaltungspraxis freilich schwierig umzusetzen war.48 Auch Kurmainz griff Eingaben und Beschwerden der Judenschaft auf und wandelte den Leibzoll in eine jährlichen Abgabe (Taschengeleit) um, differenzierte aber gleichzeitig zwischen armen Juden beziehungsweise Betteljuden und solchen, die in Geschäften (Handel) unterwegs waren, denn nur letztere sollten in den Genuss der Migrationserleichterungen kommen. Viele Territorien gingen aufgrund der verwaltungstechnischen Probleme im 18. Jahrhundert dazu über, die Migrationsgebühren beziehungsweise den Leibzoll an jüdische Gemeinden oder Hofjuden zu verpachten. Würzburg verpachtete das Leibzollzeichen erstmals 1679 an die ritterschaftliche Judenkorporation für 720 fl. und 1791 für 2400 fl. an die hochstiftische Judenkorporation.49 Das Fürstentum Pfalz-Zweibrücken verpachtete ab 1756 die jährliche Leibzollerhebung an einen jüdischen Admodiator. Grund war auch der gewachsene Verwaltungsaufwand, der aus der problematischen, aber normativ vorgegebene Differenzierung von einheimischen (vom Leibzoll befreiten) und fremden Juden beziehungsweise zugelassenen Hausierern und abzuweisenden Betteljuden sowie vor allem aus der Praxis resultierte, dass jüdische Gemeinden und Einzelpersonen per Supplikation Ausnahmegenehmigung z. B. für die Überführung Gestorbener zum Friedhof oder ambulante Handelstätigkeiten beantragt hatten, was meist auch genehmigt worden war. 1775 kehrte Zweibrücken jedoch wieder zur individuellen Leibzollerhebung an der Grenze beziehungsweise den Zollstellen zurück, denn im Ergebnis habe die Verpachtung dazu geführt, dass „Juden, welche in hiesigen Landen nicht domicilirt sind und kein Schutzgeld geben, nichtsdestoweniger fast das ganze Jahr hindurch sich dahier aufhalten und Handl und Wandel treiben.“50 Ähnliche Erfahrungen machte auch der Kurfürst von Mainz: Der jüdische Pächter des Leibzolls setze nicht nur die entsprechenden Verordnungen 47 48 49
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Scholl, Juden und Judenrecht im Herzogtum Zweibrücken, S. 121 sowie für die hier nur knapp skizzierte Zweibrücker Geleitspolitik S. 115–135. Zehnter, Juden in der Markgrafschaft Baden-Baden, ZGO 51, S. 413. Vgl. die Bestätigungsurkunde vom 3.12.1795, in: Daniel J. Cohen (Hg.), Die Landjudenschaften in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins neunzehnte Jahrhundert. Eine Quellensammlung, Bd. 1–3, Göttingen 1996–2001 (Fontes ad res Judaicas spectantes), hier Bd. 2, S. 900–903. Regierungskommunikat an die Rentkammer vom 22.3.1775, gedruckt bei: Blinn, Judenrecht, Nr. 105, S. 101 f.; ebd. Nr. 48, 51, 53, 57, 62, 73, 79, 80, 81, 94 weitere Reskripte und Verordnungen zum Leibzoll und dessen Verpachtung.
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schlecht um, sondern versehe migrierende Juden mit „Frey-Zetteln“, die diese benutzen würden, um „ohne Examinierung“ die Zollstellen an den Grenzen zu passieren, beklagte die Hofkammer 1705.51 Einige Jahre später musste der Kurfürst noch immer feststellen, dass sich zahlreiche Juden „entweder mit Conniventz der Beambten/oder sonst heimblich eingeschlichen“ hätten, wobei sie von den ansässigen Juden unterstützt worden wären, die einigen Juden insbesondere durch Heirat die Ansiedlung ermöglicht hätten.52 Für die Kurmainzische Landstadt Bensheim lässt sich dies exemplarisch zeigen: Obwohl der Kurfürst eigentlich nur die Ansiedlung von drei bis vier Schutzjuden in der Stadt gestattet hatte, siedelten sich im 18. Jahrhundert im ländlichen Umfeld der Stadt, teils unmittelbar vor der Stadtmauer, teils in nahegelegen Dörfern, zahlreiche jüdische Familien an. Um 1770 zählte die Amtskellerei Bensheim 21 Schutzjuden und sechs Witwen, die meisten der 27 jüdischen Haushaltungen verfügten nur über ein geringes Vermögen.53 Auch bei Kurmainz hatte die Verpachtung des Leibzolls an jüdische Pächter ein Mehr an Autonomie54 und Handlungsoptionen für die Juden eröffnet. Hinzu kamen noch Verwaltungsdefizite, territoriale Zersplitterung und die schwierig umzusetzende Differenzierung zwischen Betteljuden und jüdischer Arbeitsmigration sowie Supplikationen und produktiver Umgang mit den zahlreichen teils auch widersprüchlichen oder ungenauen Ordnungsgesetzen und solchen Maßnahmen wie der Verpachtung des Leibzolls. Zusammen ergaben sich damit Handlungsspielräume für jüdische Migrationen, die sogar teilweise in Ansiedlung (und wenn man so möchte: in Einwanderung) mündeten, und die sich in einem rechtlichen Kontext bewegten. Dies wird auch daran deutlich, dass Juden bei Geleitskonflikten, Verletzung des Geleits durch andere Obrigkeiten, Mitreisende oder Diebe/Räuber und auch bei Nichterfüllung der Schutzverpflichtung im begrenzten Umfang gegen Bestimmungen obrigkeitlicher Ordnungsgesetze klagen konnten, die nicht dem reichsrechtlichen Rahmen gemäß waren. In den Reichshofrats- und Reichskammergerichtsakten lassen sich mehrere Geleitsfälle nachweisen, an denen Juden beteiligt waren und auch als Kläger auftraten. Die Klagemöglichkeiten vor den beiden Reichsgerichten basierten darauf, dass sowohl das Juden- als auch das Geleitsregal von Kaiser und Reich abgeleitet waren.55 51 52 53
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Kurmainz 438, Reskript (Hofkammer), 21.04.1705. Kurmainz 570, Verordnung, 10.06.1724. Post, Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz, S. 164. Karl Härter, Bensheim zwischen Dreißigjährigem Krieg und dem Übergang an Hessen-Darmstadt (1623– 1803). Verfassung, Verwaltung, soziale und wirtschaftliche Strukturen einer Kurmainzer Landstadt, in: Rainer Maaß/Manfred Berg (Hgg.), Bensheim – Spuren der Geschichte, Weinheim 2006, S. 99–135, S. 121 f. Vgl. zu dieser komplexen Figur: Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 32). Grundsätzlich sei hier darauf hingewiesen, dass Geleitskonflikte und deren rechtliche Austragung bislang noch kaum erforscht sind.
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Besonders deutlich lassen sich jüdische Handlungsoptionen, obrigkeitliche Migrationspolitik und Gewährung von Rechtsschutz durch das Reich an einem Fall aus dem Jahr 1766/67 ablesen: Kurmainz hatte aufgrund der Verwaltungsprobleme im Juni 1766 den Leibzoll abgeschafft, der von jedem fremden Juden bei jedem Durchzug oder Aufenthalt entrichtet werden sollte, und dafür per Verordnung sogenannte Taschenbriefe eingeführt. Diese Migrationskonzession sollte jeder Jude, der in das Kurfürstentum einreisen oder dieses durchqueren wollte, einmal jährlich zum Preis von 20 Gulden erwerben.56 Damit hatte Mainz allerdings die Bindung an das Modell des Schutzgeleits aufgekündigt und die umliegenden Territorien und Reichsstädte gegen sich aufgebracht, die sich über diese zusätzliche finanzielle Belastung ,ihrer Schutzjuden‘ beschwerten und wirtschaftliche Nachteile befürchteten. Die Frankfurter Judengemeinde und die Reichsstadt Frankfurt klagten dann auch beide erfolgreich beim Reichshofrat mit dem Argument, dass die Mainzer Verordnung contra „Leges Imperii & Privilegia [. . . ] Imperatorum“ sei. Der Reichshofrat gab dem statt und untersagte dem Mainzer Kurfürst die Taschenbriefe beziehungsweise die pauschale jährliche Migrationsabgabe.57 Johann Jacob Moser kommentierte in einem Schreiben vom 17. Februar 1767: Es sei „ein erfreulicher Beweis von der [. . . ] Justiz-Pflege diese Gerichts, daß auf bloßes Anrufen etlicher Juden gegen den ersten Churfürsten im Reich das gesetzmäßige Verboth der Zoll-Erhöhungen gehandhabet wird.“58 Es dauerte freilich bis 1772 und bedurfte eines rescriptum sine clausula (26.1.1767), rescriptum paritorium (28.9.1767) und einer commissio ad exequendum (10.11.1772), um das Urteil tatsächlich gegen den Kurfürsten durchzusetzen.59 Dieser schaffte das Taschengeleit dann auch erst Ende des Jahres 1775 mittels einer entsprechenden Verordnung ab, was die Kurmainzer Hofkammer bereits 1776 zu der Klage veranlasste, fremde Juden würden nun wieder im Kurstaat Handel treiben und sich niederlassen, ohne Schutzbriefe zu erwerben.60 Auch einzelne Juden konnten sich in Geleitskonflikten mehr oder weniger erfolgreich an den Kaiser und die Reichsgerichte wenden. Dies betraf die Erteilung eines Geleits durch den Kaiser, falls z. B. Obrigkeiten eine Durchreise verweigerten oder behinderten, die Verletzung des Geleitschutzes, den 56
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Kurmainz 1347, Verordnung, 28.06.1766; MNZ 1360, Protokollextrakt, 03.10.1766; weitere Verordnungen: MNZ 1372, Protokollextrakt (Hofkammer), 09.01.1767; Kurmainz 1403, Protokollextrakt (Hofkammer), 11.09.1767. Moser, nachbarliches Staatsrecht Tl. 3, S. 499 f. mit der hier zitierten Klage der Frankfurter Judengemeinde vom 26.1.1767 sowie der Klage der Reichsstadt und der Entscheidung des Reichshofrats; eine kurze Darstellung des Falles bei Knopp, S. 115 f. Zitiert nach Kopp, Juden-Leibzoll, S. 116, Anmerkung c). Die Akten, die hierfür noch nicht ausgewertet werden konnten und nur nach dem Archivbehelf zitiert werden: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Decisa, K. 2097, 2105 und 2136. Kurmainz 1709, Verordnung, 19.12.1775; Kurmainz 1715, Protokollextrakt (Hofkammer), 06.02.1776.
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eine Obrigkeit gewährt hatte, oder die Eintreibung von Schadenersatz, zu dem eine Obrigkeit, die Geleit erteilte hatte, verpflichtet war. So klagte z. B. 1732 Heyum Salomon beim Reichskammergericht auf Erfüllung des sicheren Geleits, das ihm per kaiserlichem Privileg beziehungsweise Dekret vom 9. Juli 1727 gewährt worden war und das ihm uneingeschränkte Migrationsfreiheit zur Eintreibung seiner Schulden eingeräumt hatte, indem es den Obrigkeiten befahl, „denselben aller orthen frey sicher, ohne alle Vergewaltigung, Verarretirung oder besorgende Gefahr handlen und wandlen“ zu lassen.61 In den Reichshofrats- und Reichskammergerichtsakten finden sich weitere jüdische Klagen und Bitten zu Konflikten um Geleitsgewährung und begrenzte Migrationsfreiheit zwecks Erledigung von Kreditgeschäften, Schuldeneintreibung oder sonstigen gerichtlichen Aktivitäten (sogenanntes gerichtliches Geleit); in der Regel erteilten die Reichsgerichte das gewünschte Geleit beziehungsweise ordneten dessen Gewährung und die Einhaltung an.62 Darüber hinaus klagten aber auch Obrigkeiten, falls der Juden gewährte Geleitschutz durch andere verletzt wurde oder Juden, die unter ihrem Schutz standen, von anderen Obrigkeiten bei Aufenthalt oder Durchquerung des Territoriums festgesetzt worden waren. Insofern mobilisierten auch Obrigkeiten den Rechtsschutz der Reichsgerichte und des Kaisers, wobei es ihnen primär um die Erhaltung und Demonstration der eigenen Herrschaftsrechte und Privilegien (Juden- und Geleitsregal) sowie – bis zu einem gewissen Grad – auch um wirtschaftliche und finanzielle Interessen ging, und nicht um den Schutz migrierender Juden. Beispielweise klagte Graf Hans Georg von Berlichingen 1580–1596 gegen Wolfgang von Hohenlohe vor dem Reichskammergericht gegen die Gefangennahme eines in Handelsgeschäften reisenden jüdischen Untertanen, der wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das in Hohenlohe für Juden geltende Handels- und Aufenthaltsverbot festgenommen und gepfändet worden war.63 Ähnliche Konflikte um Geleit und migrierende Juden trugen z. B. Hessen und die Kurpfalz oder die Reichsstadt Frankfurt mit Kurmainz und andere Obrigkeiten mehr aus.64 Neben der Nutzung der Reichsgerichte finden sich weitere, außergerichtliche Formen der Regulierung von Geleitskonflikten zwischen den involvierten Obrigkeiten, oft auch unter Mitwirkung von Juden, die durch Supplikationen, Fürbitten oder Mobilisierung von Einfluss und Verbindungen versuchten, migrierenden Juden, die festgenommen oder beraubt worden waren, zu helfen. 61
62 63 64
Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495–1806. Frankfurter Bestand, bearb. von Inge Kaltwasser, Frankfurt am Main 2000 (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission; 21), Nr. 749, S. 554 mit wörtlicher Wiedergabe des Dekrets. Vgl. nur den: Inventar der Akten des Reichskammergerichts. Frankfurter Bestand, Nr. 362, 687, 689, 692, 696, 704, 711, 722, 734, 743, 776, 777, 782, 837, 839, 847, 864. Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Bd. 1 , Stuttgart 1993, Nr. 250, S. 240 f. Vgl. z. B. Hess. Staatsarchiv Darmstadt, E 14 B Nr. 57/2, die Geleitskonflikte zwischen Hessen und der Kurpfalz 1556–1591; zu Frankfurt und Mainz: vgl. z. B. Inventar der Akten des Reichskammergerichts Frankfurter Bestand Nr. 362.
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So entspann sich 1798–1799 ein Konflikt zwischen den Herren von Thüngen und der zu Hessen-Kassel gehörigen Grafschaft Hanau-Münzenberg.65 Die Herren von Thüngen hatten den Juden Isaak Hertz aus Kesselstadt bei Hanau (Amt Bücherthal) in ihrem Amt Zeitlofs festgenommen und inhaftiert, um anschließend von der Familie 50 fl. Kaution für die Freilassung zu fordern. Hertz, der sich öfters in Zeitlofs aufhielt, um dort im Auftrag seiner Familie mit Vieh zu handeln, wurde der Schwängerung der Jüdin Fromd beschuldigt. Zwar hatte Hanau ihn trotz Requisitionsersuchens der Herren von Thüngen nicht ausgeliefert, Hertz hatte sich jedoch wieder nach Zeitlofs begeben müssen, um Vieh zu verkaufen. Arbeitsmigration und das Überschreiten von Rechts- und Territorialgrenzen bildeten folglich eine wesentliche Ursache des Konflikts. Das Hanauer Amt Bücherthal protestierte gegen die Festnahme, und auch die Brüder des Hertz wurden tätig und wandten sich mit Bittgesuchen an die Hanauer Regierung und argumentierten mit dem wirtschaftlichen Schaden, der auch Hanau tangiere. Die Hanauer Regierung beauftragte dann sogar den Bruder Simon Hertz, der Schutzjude in Windecken (Amt Bücherthal) war, mit der Überbringung des offiziellen Freilassungsgesuchs an die Herren von Thüngen, die brüskiert reagierten, zumal Juden formal keine offiziellen Ämter ausüben durften. Ohne an dieser Stelle näher auf den eigentlichen Kriminalfall und seinen Ausgang eingehen zu können, belegt das Beispiel deutlich die Handlungsoptionen von Juden und die partielle Interessensidentität mit der schutzgewährenden Obrigkeit bei der rechtlichen Bewältigung von Konflikten, die im Bereich jüdischer Arbeitsmigration und dem Geleitswesen entstanden. Abschließend kann folglich festgehalten werden, dass jüdische Migrationen im frühneuzeitlichen Alten Reich kaum mit einfachen Modellen von Mobilität und Repression beschrieben werden können. Ohne Zweifel zielten Policeygesetzgebung, Kontrollmaßnahmen und Leibzoll auch auf die Unterbindung jüdischer Migration, wollten diese nur in eng begrenzten Formen zulassen und fiskalisch nutzbar machen. Damit einher ging die Diskriminierung und Kriminalisierung der Betteljuden, wodurch die Obrigkeit über eine normative Etikettierung verfügte, die eine repressive Politik erlaubte und für die migrierenden Jüdinnen und Juden eine beständige Bedrohung darstellte. Die Praxis der obrigkeitlichen Migrationspolitik und der jüdischen Migrationen erweist sich jedoch als weitaus komplexer: Die zahlreichen Formen jüdischer Migrationen, der produktive Umgang der Juden mit den obrigkeitlichen Normen und Maßnahmen und ihr interaktives Handeln mittels Supplikationen oder Klagen bei den Reichsgerichten zeigen Handlungsspielräume und legal spaces, welche Juden zu nutzen verstanden. Dabei generierte das Rechtssystem des Reiches in Form des Geleits, kaiserlicher Privilegien, des Reichsrechts oder der Reichsgerichte ebenso wie die Herrschaftskonkurrenz und landesherrliche Migrationspolitik in Form von Policeynormen und Verwaltungsmaßnahmen Handlungsoptionen, die in einen ,rechtlichen‘ 65
Das Folgende nach der Kriminalakte, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 260 Hanau Nr. 1423. Für den Hinweis auf den Fall danke ich Vera Kallenberg.
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Rahmen eingebettet waren. Diese Verrechtlichung beruhte gerade auf dem Pluralismus und der Ambivalenz der obrigkeitlichen Normen, die alles andere als ein geschlossenes Juden- oder auch Migrationsrecht bildeten, und deren Etablierung und Ausdifferenzierung sich nicht nur einer planenden, sondern auch reagierenden Obrigkeit verdankt, deren Ordnungspolitik durchaus durch die differenzierten Formen jüdischer Migration und den produktiven Umgang der Juden mit den Ordnungsnormen, Verwaltungsmaßnahmen, Kommunikationsmöglichkeiten, Netzwerken oder Reichsgerichten beeinflusst war. Umgekehrt hat aber auch die obrigkeitliche Ordnungspolitik die Praxis jüdischer Migrationen im Alten Reich geprägt. Insofern lässt die weitere Erforschung des Interaktionsverhältnisses zwischen Migrationspolitik und Migrationspraxis wichtige Aufschlüsse über das jüdische Leben im Alten Reich – und insbesondere in seinen ländlichen Regionen erwarten: Beispielsweise können aus der tiefergehenden Untersuchung des Geleitswesen oder der Judenherbergen weitere Aufschlüsse über jüdische Migrationen in einer territorial übergreifenden Perspektive gewonnen und so in langfristiger Perspektive die jüdischen Migrationsräume und legal spaces im Jüdischen Heiligen Römischen Reich genauer rekonstruiert werden.
Vera Kallenberg
Der Streit um den ,Judenpurschen‘: Interagierende Herrschafts- und Handlungsräume in der deutschjüdischen Geschichte Hessen-Kassels und der Reichsritterschaft der Freiherrn von Thüngen um 1800. Ein Fallbeispiel In ihrem Beitrag zu „Regionalgeschichte und jüdischer Geschichte der Frühen Neuzeit“ stellt Sabine Ullmann fest, dass ,Raum‘ keine zentrale Kategorie innerhalb regionalgeschichtlicher Forschungen zur jüdischen Geschichte bilde und daher „vergleichsweise unreflektiert“ verwendet werde.1 Vor diesem Hintergrund plädiert sie dafür, die Ansätze der Landes- und Territorialgeschichte mit dem offenen, funktionalen Raum- bzw. Regionenbegriff der Regionalgeschichte produktiv zu machen und darin die z. T. eigenständigen jüdischen Raumstrukturen zu integrieren, um so das Ausmaß der Verflechtung von jüdischer und nichtjüdischer Geschichte in der Frühen Neuzeit ausleuchten zu können.2 Im Anschluss an die „Histoire croisée“ lässt sich zusätzlich formulieren, dass es nicht nur darum geht, zu untersuchen, welche Räume (territorial-politische, lokal-geographische, rechtliche, soziale, ökonomische und religiös-kulturelle Räume) wie verflochten sind, „sondern um die Produktion neuer Erkenntnis aus einer Konstellation heraus, die selbst schon in sich verflochten ist.“3 An diese Überlegungen anknüpfend können territorial-politisch kartierte ,Regionen‘ und lokal-geographische ,Räume‘ als stets in einem Interaktionszusammenhang mit anderen Konfigurationen und Konstellationen von sozialen, ökonomischen, rechtlichen, politischen und religiös-kulturellen Herrschafts- und Handlungsräumen vorgestellt werden. Anders formuliert: Lokal-geographische Räume erweisen sich zugleich als rechtliche, ökonomische, kulturell-religiöse, soziale und geschlechtlich kodierte Handlungsräume von Jüdinnen und Juden, die sowohl untereinander als auch mit christlich-obrigkeitlichen Herrschafts- und Rechtsräumen interagieren.4 1
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Sabine Ullmann, Regionalgeschichte und jüdische Geschichte der Frühen Neuzeit in interdisziplinärer Perspektive, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte (2010), Bd. 28, S. 17–36; hier S. 17f. Ebd., bes. S. 35f. Michael Werner/ Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) S. 607–636; hier S. 609. Zum „Spatial Turn“ Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. neu bearbeitete Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, S. 284–328.
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Vera Kallenberg
Der vorliegende Beitrag untersucht auf Grundlage eines solchen mehrfach relationalen Raumkonzeptes jüdische Lokalgeschichte aus der Perspektive der jüdischen Akteur-innen um 1800. Für die Analyse wird auf exemplarische Kriminalakten (,Strafprozessakten‘) aus Hanau zurück gegriffen, die Jüdinnen und Juden aus Hessen-Kassel und der Reichsritterschaft der Freiherrn von Thüngen um 1800 betreffen. Strafgerichtsbarkeit5 soll dabei als soziale Praxis begriffen werden, die sich analytisch trennen lässt, einmal in einen ,Herrschaftsraum‘, in dem Ungleichheit (re-)produziert und interpretiert wurde. Zum anderen soll sie als ,Handlungsraum‘ vorgestellt werden, als Ort von ,Handlungsfähigkeit‘(agency), in dem Jüdinnen und Juden agieren konnten und mussten. Herrschafts- und Handlungsraum können, im Anschluss an Alf Lüdke, über die Figur des „Kräftefeldes“, in dem die Akteure zueinander in Beziehung stehen bzw. treten, zusammen gedacht werden.6 Im Folgenden soll anhand der „Acta: Die von dem Freiherrn von Thüngen requirirte Sistirung des Judenpurschen Isai Herz von Keßelstadt an das Amt nach Zeitlofs punct. Impraegnat. 1798. 1799.“ exemplarisch die Interaktionen von lokal-geographischen Räumen mit anderen sich teils überlappenden, überschneidenden und widerstreitenden Herrschafts- und Handlungsräumen rekonstruiert werden.7
Quelle: Klassifikation und Problemlagen „Jud Isaac Nathans des Garkochs allhier Schwester, namens From, zeigte an, dass sie sich schwanger befände, und der Jude Eisig von Kettstadt sie geschwängert habe. Da er nun ein Ausländer seye, so wolle sie bitten, sie in Verhör zu nehmen, und alsdann sein Amt zu ersuchen, ihn hierher zu stellen, sich auf ihre Anklage vernehmen zu laßen, und ein Urtheil abzuwarten.“8 5
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Vgl. Karl Härter, Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht: Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Justizpraxis, in: Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007, S. 347–379. „Die Figur des ,Kräftefeldes‘, in dem Macht durchgesetzt, Herrschaft begründet oder bezweifelt wird, vermeidet eine einfache Zweipoligkeit. Den Herrschenden stehen zwar Beherrschte gegenüber – Herrschende konstituieren sich in der Definition und in der Verfügung über Beherrschte. Dennoch mögen sich die Herrschenden ihrerseits in Abhängigkeiten finden. Und auch die Beherrschten sind mehr als passive Adressaten der Regungen der Herrschenden. Ebenso zeigen sich Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche auch zwischen Herrschenden, ebenso wie zwischen Beherrschten.“ Alf Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, in: Alf Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis: Historische und sozialanthropologische Studien, S. 9–66; hier S. 12. Für sachdienliche Auskünfte und wichtige Hinweise auf Quellen und Literatur danke ich Monika Preuss, Andreas Gotzmann, Karl Härter, Friedrich Battenberg und Christophe Duhamelle. Staatsarchiv Marburg (StAM), Bestand 260 Hanau (260), Kriminalakten (KA), Nr. 1423, Actum Zeitlofs vom 28.2. 1798.
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So lautet die Einleitung eines auf den 28. Februar 1798 datierten „Actums“ aus Hanau, Amt Bücherthal. In den weiteren Dokumenten geht es vorwiegend um die verlangte Überstellung des jüdischen ,Schwängerers‘ Isaak Herz aus dem Hanauer (und damit Hessen-Kasseler) Amt Bücherthal an das Amt Zeitlofs, das im Bereich der reichsunmittelbaren Reichsritterschaft der Herren von Thüngen lag. Bis auf zwei Verhörprotokolle besteht die Akte im Wesentlichen aus den schriftlichen Korrespondenzen der Regierung in Hanau, der Herren von Thüngen und der jeweiligen Ämter. Um eine vollständige Prozessakte, die mit einem Urteil endete, handelt es sich nicht. Vielmehr erweist sich die Frage, ob der Fall überhaupt als Kriminalsache einzustufen sei, als ein wesentlicher Streitpunkt zwischen den beteiligten Ämtern bzw. Herrschaften, das unmittelbar mit dem Problem der Zuständigkeit und des Gerichtsorts verknüpft ist. Eingeordnet wurde der Fall im Hanauer Bestand unter Fornikationssachen. Diese Klassifikation trifft jedoch nur auf einen Teil des Aktenvorgangs zu, der sich in zwei Phasen einteilen lässt. In der ersten Phase geht es um ein Inquisitionsverfahren wegen ,Unzucht‘ in Zeitlofs gegen die ,Judenmagd‘ From und den ,Judenburschen‘ Herz, das in ein Requisitionsersuchen mündet. Mit Ausnahme des Verhörprotokolls des Isaak Herz, aus dem hervorgeht, dass Froms Kind bereits kurz nach der Geburt gestorben sei, sind keine Informationen über das weitere Schicksal Froms überliefert, da deren mögliche Strafverfolgung nicht Gegenstand der Akte ist.9 Die zweite Phase beinhaltet die Verhaftung des Herz und einen Jurisdiktionskonflikt. Dabei zeigt sich, dass die Interessen der Regierung in Hanau mit den Interessen der Famile Herz (,Schwängerer‘ und Brüder) z. T. zusammen fallen, genauso wie eine partielle Interessenkohäsion zwischen From und den Herren von Thüngen vorliegt. Die Akte enthält folglich mehrere Problemlagen und zwar erstens das Thema jüdische ,Unzucht‘ und die Folgen, die damit einhergehen. Dieses Thema enthält zweitens dadurch, dass der ,Beischlaf ‘ im Verhör der jüdischen Dienstmagd From als gewaltförmig geschildert wird, eine zusätzliche Dimension. Drittens fördert der Fall das Problem zu Tage, wer für die Jurisdiktion mobiler Juden zuständig sei, das sich, so die These, zu einem Jursdiktionalstreit ausweitet. Dieser Jurisdiktionalstreit könnte dahingehend interpretiert werden, dass die kleine Reichsritterschaft der Herren von Thüngen ihre Selbstständigkeit, Gerichtshoheit und die Legitimität ihres Requisitionsrechts gegenüber dem größeren und mächtigeren Hanau behaupten wollte, was schließlich erfolgreich war.
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Die Parallelakte aus dem thüng’schen Amt in Zeitlofs ist nicht überliefert, wie eine Recherche im Staatsarchiv Würzburg ergab, in dem sich das Adelsarchiv der Freiherrn von Thüngen als Depositum befindet.
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Eine problematische Konstellation: Territoriale Räume, Rechtsräume & ,Unzucht‘ Der vorliegende Tatbestand wurde als Fornikation oder Unzucht klassifiziert, gehörte damit zu den ,leichteren‘ Sexualitätsdelikten und bezeichnete den illegitimen, d.h., vorehelichen Beischlaf von Unverheirateten.10 Eine Grundproblematik in der Strafverfolgung von Unzuchtdelikten bestand darin, entwichener oder ortsfremder ,Schwängerer‘ habhaft zu werden, was mit der territorialen Struktur und den pluralen Rechtsräumen des Alten Reiches in Zusammenhang stand. Ein solcher Delinquent war in diesem Fall ein ,Judenbursche‘, wie in der zeitgenössischen Etikettierungspraxis unverheiratete männliche Juden, in der Regel unter 25 Jahren, genannt wurden, die als Schutzverwandte zu der Hausgemeinschaft eines Schutzjuden (meist des Vaters) gehörten. Im gleichen Amt findet sich noch ein weiteres Gesuch um „Sistirung“, ebenfalls bezogen auf einen Unzuchtsfall unter Juden, der strukturelle, zeitliche, lokal-geographische und herrschaftspolitische Parallelen aufweist: thüng’sches Territorium, ein Amt aus Hessen-Kassel als Widerpart und eine innerjüdische Fornikationssache mit einem ,Judenburschen‘ der Familie Herz aus Kesselstadt.11 Diese Konstellation scheint in den ausgehenden 1790er Jahren rechtliche Probleme evoziert zu haben.
Jüdische ,Unzucht‘- innerjüdischer Rechtsraum und/oder obrigkeitliche Konfliktregulierung? Insgesamt mehren sich die Anzeichen, dass man weniger von zwei völlig getrennten Rechtsphären, einer jüdischen und einer christlichen, als vielmehr von einem Ineinandergreifen von jüdischen und nichtjüdischen Rechtsräumen auszugehen hat, zumal die Vorstellung von klar abgegrenzten Kompetenzbereichen vormoderner Rechtspraxis ohnehin nicht gerecht 10
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Aus der Fülle an Literatur: Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, 2 Bde, Frankfurt am Main 2005, S. 859ff, 868–871. Stefan Breit, „Leichtfertigkeit“ und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991. Andreas Maisch, „Unzucht“ und „Liederlichkeit“. Sozialdisziplinierung und Illegitimität im Württemberg der Frühneuzeit, in: Norbert Haag/ Sabine Holtz/ Wofgang Zimmermann (Hgg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500–1850, Stuttgart 2002, S. 279–306. Isabel Hull, Sexuality, State, and Civil Society, 1700.1815, Ithaca: Cornell. Univ. Press. 1997. Ulrike Gleixner, „Das Mensch“ und „der Kerl“: Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760), Frankfurt am Main 1994. „Gesuch des gräfl. Degenfeldischen Amtes Ramholz um Auslieferung des Juden burschen David Herz aus Kesselstadt wegen angeblicher Schwängerung der Tochter des Schutzjuden Löw Hirsch aus Vollmerz 1799“ (StAM, 260, KA, Nr. 1057).
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wird.12 In der Zivilgerichtsbarkeit stellte die Anrufung eines nichtjüdischen Gerichts in innerjüdischen Angelegenheiten keine Ausnahmeerscheinung dar. Zahlreiche Fälle bezeugen, dass Juden bereits in erster Instanz nichtjüdische Gerichte anriefen, obgleich sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich an jüdische Gerichte zu wenden.13 Verfahren vor obrigkeitlichen Gerichten gingen vermutlich häufig innerjüdische Versuche schiedlicher Einigung voraus,14 was die These stützt, dass die jüdische Gerichtsbarkeit v.a. schiedlichen Charakter besaß.15 Jüdische Unzuchtsdelikte konnten als ,delicta micta‘ im Alten Reich gleich vor mehreren Gerichten, innerjüdischen wie obrigkeitlichen, verhandelt werden, wobei sich die christliche Obrigkeit die Strafkompetenz in Fornikationssachen letztlich vorbehielt. Abhängig war diese Frage auch davon, ob die Möglichkeiten einer innerjüdischen Konfliktregulierung in der jeweiligen Gemeinde überhaupt bestanden bzw. ob die christlichen Obrigkeiten daran interessiert waren, den jüdischen Gerichten größere Befugnisse zuzubilligen, etwa um die ,eigene‘ Gerichtsbarkeit zu entlasten, was regional und temporal unterschiedlich gehandhabt wurde. Die Annahme, jüdische Unzuchtsdelikte seien, sofern keine Christen involviert waren, bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein als Zeremonialsachen und damit als innerjüdische Angelegenheitem in die Zuständigkeit der Rabbinatsgerichte gefallen, trifft nicht zu, wie Andreas Gotzmann anmerkt.16 In manchen Territorien wurde der jüdischen Gerichtsbarkeit die Berechtigung, Sexualitätsdelikte zu verhandeln, nie zugesprochen oder jedenfalls immer wieder bestritten, und dies bevor die jüdische ,Rechtsautonomie‘ insgesamt zurück gedrängt wurde.17 In der freien Reichsstadt Frankfurt scheinen jüdische Unzuchtsfälle dagegen sowohl vor dem lutherischen Konsistorium als auch vor dem Rabbinat verhandelt worden zu sein.18 Aus der Perspektive 12
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Vgl. Mordechai Breuer et al. (Hg.), Die Rechtstellung der Juden, in: dies. (Hg.), Germania Judaica, 3. Bd., Tübingen 2003, S. 2190. Friedrich Battenberg, Die jüdischen Gemeinden und Landjudenchaften im Heiligen Römischen Reich. Zwischen landesherrlicher Kontrolle und Autonomie, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit, Berlin 2010 (Beiheft zu "Der Staat" 19), S. 101–142. Vgl. Mordechai Breuer et al. (Hg.), Die Rechtstellung der Juden, hier S. 2192. Asriel Schochat, Im Chillufej Tekufot. Reshit haHaskala beJahedut Germania (Beginning of the Haskala Among German Jewry), Jerusalem 1960. Vgl. Monika Preuss, „... aber die Krone des guten Namens überragt sie.“: Jüdische Ehrvorstellungen im 18. Jahrhundert im Kraichgau, Stuttgart 2005, S. 124. Vgl. Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008, S. 232–274. Grundlegend dazu Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie, bes. S. 70ff. So etwa im Kraichgau. Vgl. Monika Preuss, Jüdische Ehrvorstellungen, S. 124–135. Vgl. dies., Das Unsagbare sagen. Aussagen über Sexualität von Jüdinnen und Juden in amtlichen Verhörprotokollen, in: Rotraud Ries et al. (Hg.), Selbstzeugnisse und EgoDokumente – frühneuzeitliche Juden in Aschkenas in Selbst- und Fremddarstellungen. Beispiele, Methoden und Konzepte, Berlin 2011 (minima judaica 8), S. 167–184. Die Konsistorialprotokolle des Lutherischen Konsistoriums sind bis auf zehn Bände verbrannt. Unter den verbliebenen sind rund zehn ,Fälle‘ aus dem Zeitraum 1745 bis 1780, die jüdische ,Unzucht‘ und gebrochene Eheversprechen betreffen (Vgl. die Einträge vom
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der Obrigkeit befanden sich die christliche bzw. obrigkeitliche und die jüdische Gerichtsbarkeit freilich nicht auf der gleichen Ebene, sondern in einem hierarchischen Verhältnis, wobei die jüdische Gerichtsbarkeit im Auftrag der Obrigkeit handelte. Die Frage, welche gerichtliche ,Instanz‘ für jüdische ,Unzuchtsdelikte‘ zuständig war, verkomplizierte sich dadurch, dass die Zuständigkeit für ,Unzuchtsdelikte‘ generell umstritten war. Laut Post hat sich bei den Versuchen, die ,allgemeinstaatliche‘ Rechtspraxis auf die Juden und ihre Gemeinde anwendbar zu machen, äußerst hinderlich ausgewirkt, dass, wie in Kurmainz, „bei der christlichen Obrigkeit selbst noch nicht eindeutig definiert war, was nach Landrecht bzw. über kanonisches Recht abgehandelt werden musste. Ein ständig wiederkehrender Streitpunkt waren beispielsweise die Klagen wegen außerehelicher Schwängerung. Das Generalvikariat vertrat die Auffassung, solche Fälle gehörten in die Kompetenz der geistlichen Gerichte, da sie fast immer im Zusammenhang mit einem gebrochenen Eheversprechen stünden und damit in die Kategorie der Sponsaliensachen zu verweisen wären. Die staatliche Verwaltung hingegen wollte derlei Vergehen dem Polizeiwesen zugerechnet wissen.“19
Jüdische Fornikationssachen konnten damit gleichzeitig in drei Kategorien fallen und entsprechende gerichtliche Aktivitäten auslösen: Als religiöse Devianz und damit als Zeremonialsache fiel sie in den Bereich der innerjüdischen Konfliktregulierung. Die Obrigkeit verhandelte sie zusätzlich entweder als ,bürgerliche‘ und damit ,Policey-Sache‘ vor den Niedergerichten oder als Strafsache, die ebenfalls in ihren Kompetenzbereich fiel. Daher stellten jüdische Fornikationssachen einen juristischen Grenzfall dar, der lokal sehr unterschiedlich gehandhabt wurde und immer wieder zu Konflikten führte. Findet man innerjüdische Fornikationssachen vor obrigkeitlichen Gerichten, kann dies somit unterschiedliche Ursachen haben: sei es, dass die Obrigkeit die Strafkompetenz der Rabbinatsgerichte in Unzuchtsfällen (zunehmend) in Abrede stellte, sei es, weil Jüdinnen sich gezielt an obrigkeitliche Gerichte wandten, weil sie sich von diesen eine geringere Strafe erhofften20
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2.4. 1745; vom 20. und 29.12. 1746; vom 15.6. 1747; vom 28.5. 1748 Mai; vom 17.11. 1758; vom 4.12. 1758 Dezember; vom 21.11. 1758; vom 15.3. 1759; vom 11.7. 1780; vom 25.7. 1780; vom 1. und 8.8. 1780.) Laut Auskunft von M. Preuss ist in dem erhaltenen Protokollbuch eines der (unteren) Rabbinatsgerichte (Laufzeit ca. 1773 bis 1791ff) kein einziger Fall überliefert. Die städtischen Quellen enthalten dagegen Hinweise, nach denen die betroffenen Frauen in der Regel auf ihre Gespräche mit den Baumeistern als zuständiges Forum hinweisen. In dem Protokollbuch der jüdischen Gemeinde sind nach Aussage von Andreas Gotzmann, der eine Kopie des Protokollbuches hat, Unzuchtsfälle (bzw. Formulierungen, die auf Unzucht hinweisen könnten) aufgeführt. An dieser Stelle sei Monika Preuss für ihre zahlreichen inhaltlichen Hinweise sowie das Überlassen von Exzerpten mit Quellenangaben sehr herzlich gedankt. Bernhard Post, Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774–1813, Wiesbaden 1985, S. 321. So in der Reichsgrafschaft Kriechingen: Vgl. Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien 1999; hier S. 211–256. Dies setzt freilich voraus, dass die Rabbinatsgerichtsbarkeit auf weitere Sanktionen verzichtete.
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oder sei es, weil auswärtige Juden beteiligt waren, die man auf innerjüdischen Wege nicht oder deutlicher schwerer zur Verantwortung hätte ziehen können. Letzteres scheint im hier untersuchten Fall wahrscheinlich.21 Da Unzuchtsdelikte mit rein jüdischen Beteiligten – sowohl vor innerjüdischen Gerichten als auch vor obrigkeitlichen Gerichten – im Vergleich zu Fornikationssachen mit christlichen Akteur-innen jedoch noch kaum untersucht worden sind, müssen erst weitere Forschungen erfolgen, bevor allgemeine Aussagen getätigt werden können.
Beteiligte Herrschaften & Gerichtsorte, jüdische Siedlungsräume und Akteur-innen. Ritterschaftlicher Herrschaftsraum und jüdischer Siedlungsraum: Zeitlofs & die Freiherrn von Thüngen
Die Selbstanzeige der Jüdin From, die den Fall ins Rollen brachte, ereignete sich in Zeitlofs, das 70 km von Frankfurt entfernt liegt und 1798/ 99 zur reichsunmittelbaren reichritterlichen Herrschaft der von Thüngen gehörte, die die hohe wie niedere Gerichtsbarkeit ausübten.22 Die in mehrere Zweige aufgespaltene Adelsfamilie gehörte vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zum Kanton Rhön-Werra des Ritterkreises Franken und hatte eine bedeutende Stellung in der fränkischen Reichsritterschaft inne.23 Ferner besaßen die Herrn von Thüngen eine enge Bindung an den Kaiser.24 So bekleidete Johann Sigmund Karl von Thüngen (1730–1800) 28 Jahre als „Kaiserlicher wirklicher geheimer Rat“ das Amt des Reichskammergerichtspräsidenten in Wetzlar.25 Seit 1548 war das Judenregal an die Landesherren übergegangen, das die Freiherrn von Thüngen seitdem für sich in Anspruch nahmen. Dabei stand die Ansiedlung von Juden im Zusammenhang mit der ,Peuplierungspolitik‘ 21
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Dies lässt sich jedoch nicht belegen, da keine normativen Texte überliefert sind, die Auskunft über die rechtlichen Zuständigkeiten, insbesondere über die Rechtsangelegenheiten der Juden, in der Reichsritterschaft der Freiherrn von Thüngen geben. Der Gerichtsbezirk, als thüng’sche Cent bezeichnet, umfasste neben Zeitlofs u. a. die Orte Detter, Weißenbach, Roßbach, Rupoden und Eckerts. Hanskarl Freiherr von Thüngen, Das Haus Thüngen. Geschichte eines fränkischen Adelsgeschlechts, Würzburg 1988, S. 62. Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München, 6. Aufl., 199, S. 708. Ebd. Ferner: Rudolf Freiherr von Thüngen, Das reichsritterliche Geschlecht der Freiherrn von Thüngen. Forschungen zu seiner Familiengeschichte. Lutzische Linie, Nachdr. d. Ausg. Würzburg 1926, 2. Bd. 1997. Grundlegend zum Verhältnis von Reichsritterschaften und Reichsoberhaupt: Volker Press, Kaiser und Reichsritterschaft, in: Rudolf Endres (Hg.), Adel in der Frühneuzeit. Ein regionaler Vergleich, Köln u. a. 1991, S. 163–194. Hanskarl Freiherr von Thüngen, Das Haus Thüngen, S.97. Zu diesem Verhältnis grundsätzlich: Heinz Duchhardt, Reichsritterschaft und Reichskammergericht, in: ZfG 5 (1978), S. 315–338.
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der Reichsritterschaften, die, mit der Vermehrung der besteuerbaren Untertanen, auch zum Ziel hatte, die eigene Herrschaftsposition zu konsolidieren und auszubauen.26 Der prestigeträchtige Judenschutz besaß somit zum einen eine fiskalische Funktion, stellte jedoch zugleich auch ein verfassungsrechtliches Charakteristikum der Reichsunmittelbarkeit für die Adelsherrschaften sowie ein Kennzeichen ihrer Landeshoheit dar, deren Ende sich in den ausgehenden 1790er Jahren bereits abzeichnete.27 Juden sind in Zeitlofs seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bezeugt.28 Zunächst siedelten jüdische Familien in der Oberen und Unteren Judengasse, später wohnten die Zeitlofer Juden am Marktplatz im Dorfkern und in der Altengronauer Straße. Um 1813 lebten in Zeitlofs, das 1792 eine ,Judenschule‘ verzeichnet, vermutlich 90 Juden. Zeitlofs galt als Knotenpunkt entlang des Handelsweges im Sinntal, zwischen Rhön, Maintal und dem Vogelsberg, den zahlreiche jüdische Händler durchquerten.29 Dabei beruhte die jüdische Existenzgrundlage wesentlich auf dem Viehhandel. 1817 gaben 15 von 23 Juden, die in Zeitlofs als Inhaber von Matrikelstellen angegeben wurden, an, sich von Viehhandel, Schlachten und dem Handel mit rauhen Häuten zu ernähren.30 Die Thüngen’sche Herrschaft ist damit ein Beispiel dafür, dass für Juden im Alten Reich seit dem späten 17. Jahrhundert die besten Möglichkeiten zur Siedlung auf dem Lande in den stark zersplitterten mittleren und südwestdeutschen Herrschaften bestanden.31
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Vgl. für die Markgrafschaft Burgau Sabine Ullmann, Regionalgeschichte und jüdische Geschichte, S. 25f; Hartmut Heller, die Peuplierungspolitik der Reichsritterschaft als sozialgeographischer Faktor im Steigerwald, Erlangen 1971, bes. S. 170, S. 182–184. Ebd. Zum Verhältnis von Reichsrittern und Juden vgl. die Arbeiten von Battenberg, etwa Friedrich Battenberg, Die reichsritterschaftliche Herrschaft Dalberg und die Juden. Reflexionen zur Ausübung des Judenschutzes vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, in: Kurt Andermann (Hg.), Ritteradel im Alten Reich. Die Kämmerer von Worms genannt von Dalberg, Darmstadt 2009, S. 155–184. Vgl. Cornelia Binder/ Michael Mence, Nachbarn der Vergangenheit. Spuren von Deutschen jüdischen Glaubens im Landkreis Bad Kissingen mit dem Brennpunkt 1800 bis 1945, Schweinfurt 2004; hier S.109, S. 350f. Ebd. ferner Hartmut Heller, Peuplierungspolitik, S. 215. Dies geht aus einer Liste des Patrimonialgerichts der Freiherrn von Thüngen zu Zeitlofs vom 1.7. 1817 zurück. Dirk Rosenstock, Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenskundliche und sozialgeschichtliche Quelle, Würzburg 2008, S. 125f. Zu den beruflichen Tätigkeiten und Problemen der Viehhändler in Mainfranken vgl. Gisela Krug, Die Juden in Mainfranken zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Statistische Untersuchungen zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation, in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation. Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19. Jahrhundert, Würzburg 1987, S. 19–138; hier S. 68–72. Vgl. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001, S. 33.
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Sozio-ökonomische und geschlechtliche Räume: Die ,Judenmagd‘ From aus Zeitlofs
Bisherigen Befunden zufolge konnte lediglich ein Viertel der jüdischen Haushalte in Mainfranken Dienstboten beschäftigen (in der Regel eine Dienstmagd).32 Eine von ihnen war die 22 jährige From, die, wie aus ihrem Verhör vom 28. Februar 1798 hervorgeht, aus Reichenberg bei Würzburg stammte-, und sich als Magd im Haushalt ihres Bruders verdingte.33 Als Tochter einer kinderreichen Familie war sie ohne Vermögen und besaß entsprechend geringe Aussichten, sich zu verheiraten. Da sie als ledige Frau nicht selbstständig leben konnte, war sie offensichtlich zu Verwandten in den Dienst gegeben worden. Dagegen scheinen ledige jüdische Männer eher in ihrer Herkunftsfamilie verblieben zu sein, denn 80 Prozent aller Dienstboten zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mainfranken waren weiblich.34 Zum Zeitpunkt ihrer Anzeige musste From bereits mindestens ein Jahr in Zeitlofs gearbeitet haben, da sie im Verhör angab, bereits seit längerer Zeit den Nachstellungen Isaaks ausgesetzt gewesen zu sein und im vergangenen Sommer mit Hilfe ihrer Schwägerin einen seiner Übergriffe abgewehrt zu haben.35 Froms Bruder war Garkoch in Zeitlofs und verfügte offenbar über genügend Platz, um zu Zeiten des Viehmarkts einen oder mehrere Händler beherbergen zu können, denn Isaak war bereits mehrere Male Gast im Hause des Garkochs gewesen. Wie die meisten Juden auf dem Land war Nathan wohl auf mehrere Einkommensquellen angewiesen, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern. Über Froms Tätigkeiten erfahren wir aus dem Verhörprotokoll, dass sie in der Garküche Essen erwärmte und Getränke („Caffee“) ausschenkte sowie auf dem Viehmarkt Wein zapfte.36 Im Umfeld solcher Gasthäuser und Herbergen scheint es häufiger zu sexuellen Kontakten zwischen Dienstmägden und Gästen gekommen zu sein, aus denen auch illegitime Schwangerschaften resultieren konnten.37
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Vgl. Gisela Krug, Die Juden in Mainfranken, S. 100f. StAM, 260 Hanau, KA, Nr. 1423, Actum Zeitlofs vom 28.2. 1798. Vgl. Gisela Krug, Die Juden in Mainfranken, S. 100f. StAM, 260 Hanau, KA, Nr. 1423, Actum Zeitlofs vom 28.2. 1798. Ebd. Dies zeigt der Fall der Dienstmagd und späteren ,Kindsmörderin‘ Deige von Obenhofen, die sich ebenfalls bei einem Dienstherrn verdingt hatte, der Fremde beherbergte (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Kriminalakten, Nr. 10379 (1795). Vgl. Vera Kallenberg, „und würde auch sonst gesehen haben, wie sie sich durchbrächte.“: ,Migration‘ und ,Intersektionalität‘ in Frankfurter Kriminalakten über jüdische Dienstmägde um 1800, in: Edeltraud Aubele et alii (Hg.), Femina migrans: Frauen in Migrationsprozessen (18.–20. Jahrhundert), Sulzbach/Taunus 2011, S. 39–67.
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Hessen-Kasseler Herrschaftsraum und jüdischer Siedlungsraum: Kesselstadt & Hanau
Ein solcher Kontakt hatte sich mit dem 24 jährigen Isaak Herz ereignet, den From als ,Schwängerer‘ angab und der aus Kesselstadt bei Hanau stammte. Kesselstadt gehörte zum Amt Bücherthal der Grafschaft Hanau-Münzenberg, die 1736 an die Landgrafschaft Hessen-Kassel gefallen war.38 Das Amt Bücherthal, an deren Spitze der ,Amtmann‘ stand, wurde von der Altstadt Hanau (mit eigenen Rechten) und den umliegenden Hanauer Dörfern Hochstadt, Dörnigheim, Mittelbuchen u. a. gebildet.39 Juden unterstanden grundsätzlich nicht den Gemeindebehörden, sondern dem Amt Bücherthal.40 Aufgrund der Nähe zu Hanau waren die Geschicke der Kesselstädter Juden, die sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts dort anzusiedeln begannen, einerseits eng mit denen der jüdischen Gemeinde Hanaus verwoben, andererseits teilten sie das Los der Landjuden des Hanauer Territoriums.41 Sie lebten vorwiegend vom Viehhandel, kleineren Geldgeschäften sowie von Kleinst- und Hausierhandel, Boten- und Knechtdiensten.42 In Hanau sind Juden bereits seit Anfang des 14. Jahrhunderts bezeugt.43 Sie verfügten über eine Synagoge, einen Friedhof und einen Rabbiner.44 Nach dem Pestmassaker im 14. Jahrhunderts lebte bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts jedoch nur eine jüdische Familie in Hanau, die restlichen Juden lebten im Umland, vorwiegend in Windecken und in Kesselstadt. So besaß Kesselstadt wegen seiner Lage bzw. seines Hafens am Main – die damalige Altstadt Hanau lag an der Kinzig – im 16. Jahrhundert die attraktiveren Bedingungen für den „Handel und Wandel“ von Juden.45 Dies änderte sich mit dem Bau der Neustadt Hanau seit 1597 und dem neu angelegten Hanauer Mainhafen.46 Mit der „Stättigkeit“ (1603), die die Anlage eines ,Judenghettos‘ gestattete, avancierte Hanau rasch zum Zentrum des Judentums im Hanauer Territorium.47 Dagegen entwickelten sich Kesselstadt und Rumpenheim mit der Gründung der Hanauer Neustadt zu Siedlungsorten für arme Juden. 38
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Zu Geschichte und Entwicklung Kesselstadts vgl. Landesamt für Denkmalpflege Hessen/ Carolin Krumm (Hg.): Kulturdenkmäler in Hessen Stadt Hanau, Darmstadt 2006, S. 415–417. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 47. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 62. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 39ff. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 88. Zu Geschichte der jüdischen Gemeinde Hanaus im 18. Jahrhundert vgl. Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang, Untergang, Neubeginn, 1. Bd. 1971, S. 319–336; bes. S. 324ff. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 40. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 53. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 59f. Zur territorialen und politischen Entwicklung Hanaus vgl. Landesamt für Denkmalpflege Hessen/ Carolin Krumm (Hg.): Kulturdenkmäler in Hessen Stadt Hanau, 19–24. Ebd.
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Während die gräfliche Regierung wohlhabenderen Juden eine Genehmigung zur Niederlassung in der Hanauer ,Judengasse‘ erteilte, verwies sie arme Juden in die weniger attraktiven Landgemeinden.48 Im Zuge der Ansiedlungspolitik der hessischen Kassel’schen Landgrafen gab es um 1700 in Hanau eine jüdische Gemeinde mit 700 Mitgliedern.49
Sozio-ökonomische und geschlechtliche Räume: der ,Judenbursche‘ Isaak Herz aus Kesselstadt und seine Familie
Isaak Herz war als Viehhändler aus Kesselstadt im 70 km entfernten Zeitlofs im Auftrag seines Vaters unterwegs und hatte somit punktuell einen recht beachtlichen ökonomischen Aktionsradius.50 Zu Zeiten des Viehmarkts in Zeitlofs logierte er in einem der im Hause des Garkochs befindlichen Gästezimmer und trank „bei Gelegenheit“ Wein in Froms Garküche.51 Der Kontakt zwischen From und Isaak kam folglich über das ökonomische und soziale Umfeld des Viehhandels zu Stande. Zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung lebte Isaak Herz gemeinsam mit seinen drei jüngeren Brüdern, einer Schwester und seiner Mutter im Haus seines Vaters Herz Grebenau, wie aus der Rezensionakte seines Bruders Calman hervorgeht.52 Sein Vater Herz Grebenau, mutmaßlich um 1732 geboren, war 1764 nach Kesselstadt migriert, in den dortigen Schutz aufgenommen worden und führte dort eine bescheidene Existenz als Viehhändler.53 1784 gab er in einer Supplik an den Landesherrn zur Befreiung von den zu leistenden Abgaben an, zehn lebende Kinder zu haben.54 Bis 1779 lebte ferner noch ein Bruder von Grebenau im Haushalt der Familie, der dort als Knecht diente.55 Isaak wurde (wahrscheinlich) 1774 als dritter Sohn nach seinem zwei Jahre älteren Bruder Calmann geboren.56 Vermutlich 1778 kam sein Bruder Sander zur Welt, gefolgt von David und dem Nachzügler Joseph (um 1791). Eine Schwester heiratete vor 1798 in die Altstadt Hanau, eine andere 1793 nach Windecken. Auch der älteste Bruder Simon zog in den 1790er Jahren nach Windecken, heiratete und 48 49 50
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Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 81. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland, S. 35. Ullmann gibt für die jüdische Händlertätigkeit auf dem Land einen alltäglichen Aktionsradius zwischen 12 und 25 km an. Weiträumige Handelskontakte von bis zu 60 km seien eher punktuell erfolgt. Sabine Ullmann, Regionalgeschichte und jüdische Geschichte, S. 28. StAM, 260 Hanau, KA, Nr. 1423, Actum Zeitlofs vom 28.2. 1798, Actum Hanau vom 10.8.1898. StAM 81, Regierung Hanau E 181 XI a, Bd. 16, Actum vom 10. 8. 1798. Vgl. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, in: Neues Magazin für hanauische Geschichte II (2009), S. 39–150, hier S. 107f. StAM 81, Regierung Hanau E 181 XIa, Bd.7. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 107f. Die Angaben sind widersprüchlich. Die genannten Daten basieren auf einer Zählung der Juden von 1817. StAM 81, Regierung Hanau E 181 XI b, Bd. 4.
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wurde in den dortigen Schutz aufgenommen. Das Dauerproblem der Familie Herz teilten sie mit der Masse der Landjuden und bestand im „Streit um die Weide“57 . Dieses bestand darin, die Kühe bis zum Verkauf unterbringen und ernähren zu können. Grundbesitz konnten Juden in Kesselstadt nicht erwerben und das Gewohnheitsrecht sah pro Schutzjudenhaushalt lediglich eine Kuh in der Gemeindeherde vor. Dieser kam jedoch das alleinige Nutzungsrecht des gemeinschaftlichen Weidelands und des Gemeindewaldes zu.58 Pachtland musste daher gefunden oder das Nutzen der „Gemeinen Allmanei“ bezahlt werden. Schien die Familie Herz in den ausgehenden 1770er Jahren zu bescheidenem Wohlstand gelangt zu sein, verschlechterten sich ihre Lebensumstände in den 1780er Jahren rapide, so dass die fälligen Gemeindeabgaben, jüdische Sonderabgaben sowie die Bußgelder wegen ,illegalen‘ Weidens der Kühe nicht aufgebracht werden konnten.59 Herz Grebenau wurde wiederholt von Abgaben und Zahlungsrückständen befreit und aufgrund von ,illegaler‘ Weidenutzung verwarnt.60 Zwar verbesserten sich die Lebensverhältnisse der Herzens in den 1790er Jahren, verschärft hatten sich nun jedoch die Schutzbestimmungen für Juden. Mit der Einführung der hessischen Judenordnung (1749) im Jahr 1796 sollte nur noch der älteste Sohn in ein Schutzverhältnis aufgenommen werden.61
Geschlechterräume und Gewaltverhältnisse: (K)ein Unzuchtsdelikt?
Der Fall beginnt mit der Selbstanzeige der jüdischen Magd From aus Zeitlofs vom 28. Februar 1798. Die Vernehmung von From folgte dem üblichen, stark typisierten Fragenkatalog und wurde mittels standardisierter Fragetechnik 57
58 59 60
61
So der Titel von Sabine Ullmann, Der Streit um die Weide. Ein Ressourcenkonflikt zwischen Christen und Juden in den Dorfgemeinden der Markgrafschaft Burgau, in: Mark Häberlein (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum 15.–18. Jahrhundert, Konstanz 1999, S. 99– 136. Dies.: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999. Johannes Mordstein, Ein Jahr Streit um drei Klafter Holz. Der Konflikt zwischen Bürgerschaft und Judengemeinde im schwäbischen Harburg und um die Teilhabe der Juden an den Gemeinderechten, in: Sabine Ullmann/ André Holenstein (Hgg.), Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit, Epfendorf 2004, S. 301–324. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 109f. StAM 81, Regierung Hanau 10a, Bd. 32. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 70f, S. 110. StAM 81, Regierung Hanau E 181 XIa, Bd. 7. Zur Rechts- und Verhandlungspraxis solcher Fälle vor dörflichen Niedergerichten für Binswangen: Sabine Ullmann, Die jüdische Minderheit vor dörflichen Niedergerichten in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 35,4 (2009), S. 534–460. § III der hessischen Judenordnung (1749). Vgl. Friedrich Battenberg, Judenordnungen der frühen Neuzeit in Hessen, in: 900 Jahre Geschichte der Juden in Hessen, Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983.
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durchgeführt.62 Im Fall der Unzuchtsdelikte waren diese Frageraster zudem geschlechtlich kodiert.63 Verhörprotokolle repräsentieren die Lebensrealität von Jüdinnen folglich nicht eins zu eins, sondern geben sie in der „kulturellen Übersetzung“64 der christlichen Obrigkeiten wieder: Männliche Bürger lutherischer Konfession, die in der Regel eine juristische Ausbildung besaßen, ,übersetzten‘, so die These, jüdische Handlungen und Handlungsräume in die Sprache der zeitgenössischen Strafjustiz und passten diese in die dafür vorgesehene Form ein. Das vorliegende Verhörprotokoll entspricht denn auch den damals üblichen Vorgaben eines „artikulierten Verhörs“ mit der Unterteilung in Fragen ad generalia, in dem Angaben zur Person abgefragt wurden (Name, Alter, Vatersname und Vermögensverhältnisse) und Fragen ad specialia, die Tat und Tathergang abhandelten.65 Letztere umfassten zehn Fragen, die der Amtmann Pollich auf der Basis dieses standardisierten (geschlechtlich kodierten) Fragenkatalogs formulierte: Gefragt wurde erstens, ob die Inquisitin schwanger sei, zweitens von wem und drittens, in welchem Monat sie sei. Mit Froms Antwort auf die vierte Frage, wann er sie geschwängert habe, kommt eine neue Zeitebene hinzu, die Vorgeschichte. Demnach hat sich die Schwängerung im Juli 1797 ereignet. Standardisiert folgt auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Beischlafs die Frage nach dem Ort, an dem dieser stattgefunden habe. Diese Frage war deswegen relevant, da eine der ,Unzucht‘ bezichtigte Frau keinen aktiven Part beim Zustandekommen des ,Beischlafes‘ gehabt haben durfte, wollte sie den ,Ehrverlust‘ so gering als möglich halten bzw. sich nicht eines ,liederlichen Lebenswandels‘ oder der ,Hurerey‘ verdächtig machen und mit einer geringen Strafe davon kommen.66 Christliche Delinquentinnen inszenierten sich deshalb vor Gericht zumeist als Verführte und argumentierten, mit einem Heiratsversprechen zum ,Beischlaf ‘ gebracht worden zu sein.67 Diese Konstruktion setzte voraus, dass der Mann sie aufgesucht haben musste, so dass die Frauen in der Regel angaben, der ,Beischlaf ‘ habe in ihrer Kammer stattgefunden. So lautet denn auch 62 63 64
65 66
67
Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 423–429. Ebd., S. 861ff. Für die Arbeit mit historischen Quellen soll der „Translational Turn“ aus den Kulturwissenschaften fruchtbar gemacht werden. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 238–283. Vgl. Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 433. Vgl. Martin Dinges, Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: Sybylle Backmann (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit: Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998, S. 123–147. Renate Dürr, Die Ehre der Mägde zwischen Selbstdefinition und Fremdbestimmung, in: Sibylle Backmann (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit, S. 170–184. Monika Preuss, Jüdische Ehrvorstellungen, S. 124–135 (wie Anmerk. 13); wie Anmerk. 10 Zur frühneuzeitlichen Eheanbahnung und zur Praxis des Eheversprechens Maria Lischka, Liebe als Ritual: Eheanbahnung und Brautwerbung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe, Paderborn 2006. Renate Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1995. Heide Wunder, „Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992.
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die sechste Frage an From „wie sie zu ihm gekommen“? Als Antwort wird folgendes zu Protokoll gegeben: „Wie er nachts um 12.Uhr vors hauß vom Brunnen herunter gekommen seye, habe sie und alle ihre Leute schon geschlafen, er habe aber so lange am Haustor geklopft, bis sie aufgestanden seye, und ihm aufgemacht habe. Sie hätte ihm erst etwas Essen wärmen und caffee machen müssen. Wie er gegessen und getrunken gehabt, habe er verlangt ins bett zu gehen. Sie habe ihm den Schlüssel gegeben und d. Licht, und gesagt, er habe ja schon mehr da geschlafen und wisse sich zu finden. Allein er habe geantwortet, er könne nicht aufschließen, ohne sich etwas böses träumen zu lassen, wäre sie mit gegangen, habe das Licht auf den Fußboden gestellt und die Thüre aufgeschlossen. Als sie sich es versehen, habe er sie um den Leib ergriffen, sie so ins Bett geworfen, und ohnerwartet sie ihm wieder einmal ausgerissen, habe er die Thüre zugemacht, ihr die Pantoffel von den Füßen gethan, dass sie kainen Larmen damit machen können, und sie endlich sich seinem Willen fügen müssen, wobei er sie fast unachtlich abgemergelt habe.“68
Daraufhin möchte der Amtmann, siebtens, wissen, ob „er sie mehrmals zu seinem Willen gebracht“, worauf sie erläutert: „Er wäre ihr schon lang nachgegangen aber niemahl habe er seinen Zweck erreicht. Zweymahl seye so ihr in den Keller nachgegangen, da sie Wein auf dem Viehmarkt zapfen wollen. Vorm Jahr im Sommer habe er sie in die nemliche Kammer bei Tag auf einem Viehmarkt verfolgt, sie habe aber so gelarmt, dass ihre Schwägerin gekommen, und ihn verjagt habe.“69
Froms Schilderung der Situation, in der „sie endlich sich seinem Willen [hat] fügen müssen“, könnte nach heutigen Kriterien als Vergewaltigung bewertet werden. Auch eine strategische ,Falschaussage‘ wäre denkbar, da From verhindern musste, als ,Verführerin‘ da zustehen.70 Die Deutung als Vergewaltigung lässt sich aus der Quelle nicht weiter belegen, da die sexuelle Handlung nicht als Notzuchtdelikt angezeigt wurde, was auch vergeblich gewesen sein dürfte.71 Dabei bestand die Grundproblematik darin, dass die Beweislast für ,Notzucht‘ gemäß dem gemeinen (Straf-)Recht bei den betroffenen Frauen lag.72 68 69 70
71 72
StAM, 260 Hanau, KA, Nr. 1423, Actum Zeitlofs vom 28.2. 1798. StAM, 260 Hanau, KA, Nr. 1423, Actum Zeitlofs vom 28.2. 1798. Ob für jüdisches Gesinde der thüng’schen Reichsritterschaft die Möglichkeit bestand, die sexuelle Handlung mittels eines Eheversprechens zu legitimieren, wie bei christliche Delinquent-innen häufig anzutreffen, ist spekulativ. Denn hierzu müssten Informationen darüber vorliegen, ob Eheschließungen unter jüdischen Dienstboten in der Gemeinde überhaupt möglich waren. Aufgrund der rigiden Matrikelpolitik war es in vielen fränkischen Gemeinden zu Beginn des 19. Jahrhunderts sogar ausgeschlossen, dass jüdisches Gesinde in die Gemeinde einheiratete. Steven M. Lowenstein, Voluntary and Involuntary Fertility Limitation among Nineteenth Century Bavarian Jews, in Paul Ritterband (Hg.), Modern Jewish Fertility, Leiden 1981, S. 112–143. Vgl. Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 899. Vgl. Manuela Leutgeb, „Attentati adultery duplicis et stupri violenti 1727“. Analyse eines Gerichtsprozesses. Sexuelle Gewalt in der Frühen Neuzeit, in: Georg Schanett et al. (Hg.): Ermitteln, Fahnden und Strafen. Kriminalitätshistorische Studien vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Wien 2010, S. 39–62. Franziska Loetz: Sexualisierte Gewalt in Europa 1520–1850, in: Geschichte und Gesellschaft 35,4 (2009), S. 561–602. Maren Lorenz, "... da der anfängliche Schmerz in Liebeshitze übergehen kann...": Das Delikt der "Nothzuchtïm gerichtsmedizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, in: Christine Künzel (Hg.), Unzucht-Notzucht-Vergewaltigung: Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von
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Das Opfer hatte zu beweisen, dass es sich gewehrt hatte und schwere äußere Verletzungen vorzuweisen. Daher war eine Anzeige wegen ,Notzucht‘ nur innerhalb eines geringen Zeitraums möglich. Hinzu kam, dass auch im ausgehenden 18. Jahrhundert noch die Vorstellung fortlebte, dass der weibliche Orgasmus für eine Schwangerschaft zwingend erforderlich sei. Frauen, die schwanger geworden waren, konnten demzufolge gar nicht ,genotzüchtigt‘ worden sein.73 Eine Anzeige wegen ,Notzucht‘ konnte ferner dazu führen, dass die betroffenen Frauen selbst als ,Verführerinnen‘ bzw. ,Mitschuldige‘ angeklagt und bestraft wurden. Betroffen davon waren selbst Kinder, wie das Kurmainzer Beispiel des zehnjährigen jüdischen Mädchens Appollonia Schmidt zeigt, die ein Sattlergeselle vergewaltigt hatte. Sie wurde 1776 zu einer achttägigen Turmstrafe, gekoppelt mit Prügel und Unterricht im Christentum, verurteilt, da man ihren Fall nicht als ,stuprum violentum‘ (Vergewaltigung), sondern als ,Unzucht‘ mit einer ,Jungfrau‘ bewertet hatte.74 Aus diesem Grund wurden Fälle sexualisierter Gewalt, zumal wenn eine Schwangerschaft daraus hervorging, wie die Forschung verschiedentlich festgestellt hat, kaum als solche angezeigt bzw. eher als Unzuchtsdelikte verhandelt. Andererseits scheinen Frauen, die Opfer ,öffentlicher‘ männlicher Gewaltanwendung geworden waren, geradezu auf die obrigkeitliche Gerichtsbarkeit angewiesen gewesen zu sein, um ihre ,verlorene Ehre‘ wieder herzustellen. Auch im Hanauer Bestand findet sich ein Fall von sexualisierter Gewalt gegen eine jüdische Dienstmagd, die ihre christlichen Peiniger anzeigte.75 Dem verheirateten Unterthan und „Beder“ Johannes Krebs sowie dem ledigen „Purschen“ Conrad Stiehl wurde daraufhin wegen erwiesener und gestandener „schändlicher Thathandlung“ gegen die „Judendirne“ Jachet in Bergen, Amt Bornheimerberg, der Prozess gemacht.76 Jachet, die Dienstmagd des hiesigen Schutzjuden Baruch, war an einem Samstagabend im Juni 1776, abends zwischen neun und zehn Uhr, auf der Straße von mehreren, mutmaßlich betrunkenen Männern, die auf dem Bauholz vor der Gemeindeschmiede saßen, angegriffen worden, wobei sie auch sexuell misshandelt wurde. Man warf sie zu Boden, zog ihr den Rock über den Kopf und riss ihr die Schamhaare aus, welche „sofort zur Schau an die Schmiede an die Wand angenagelt“ wurden.77 Im summarischen Verhörprotokoll Jachets heißt es:
73 74 75 76 77
der Aufklärung bis heute, Frankfurt am Main 2003, S. 63–87. Georg Schanett, Beziehungen zwischen Körperrepräsentationen und Körperwahrnehmungen. Hohenemser Gerichtsprozesse aus dem 18. Jahrhundert, in: Ders. et al. (Hg.): Ermitteln, Fahnden und Strafen, S. 13–38. Außerhalb des Artikels 119§ der Constitutio Criminalis Carolina und einigen rechtswissenschaftlichen Texten gab es keine weiteren territorialen Ausdifferenzierungen. BStA Würzburg, Mainzer Regierungsarchiv, KA, Nr. 1777 (1776). Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 913f. StAM, 260, Nr. 733 (1776). StAM, 260, Nr. 733 (1776), Schreiben an die Regierung in Hanau vom 20.6. 1776. StAM, 260, Nr. 733 (1776), Actum Bergen vom 6.6. 1776.
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„Wie sie bemelten Abend mit ihres Brodherrs kleinen Sohn nach geendigtem Juden Sabbat einige Holzwellen, als mit dergleichen gedachter ihr Brodherr handele, dem hiesigen Policcij-aufseher Mürmann gebracht habe und in dem Zurückweg nachher Hauß bey der hiesigen GemeindsSchmidte von verschiedenen Mannsleuten, worunter der hiesige Unterthan Johannes Krebs als welche Sie gekennt, der Hauptanführer gewesen seye, auf obbemelte weise angegriffen, und behandelt, und überhaupt Viehmäßig [Herv. VK] tractiret worden seye, bathe dahero wegen dieser ehrenrührigen Beschimpfung, da Sie, ein ehrliches Mensch seye, um hinlängliche Satisfaction und bestrafung.“
In der Tat wurden Krebs und Stiehl zu einer vierwöchigen Schanzenstrafe und Bezahlung der Untersuchungskosten verurteilt.78 Ausschlaggebend für die obrigkeitliche Strafzumessung dürfte dabei jedoch gewesen sein, dass es sich bei diesen um ,Wiederholungstäter‘ handelte, deren Disziplinierung bislang noch nicht gelungen war. Der Amtskeller Schröder beschrieb Johannes Krebs so als „Säufer“ und „Spieler“, der als „unzüchtiger Mensch sattsam bekanndt, und bisher weder die oftere Geld noch Thurmstrafen gescheut, und fast incorrigible zu werden scheint.“ Conrad Stiehl sei bereits Diebstahls halber zu Schanzenarbeit „condamnirt“ worden und sei „ein liederlicher Pursch überhaupt.“79 In Froms Fall ist zu vermuten, dass es ihr lediglich darum ging, die Folgekosten der illegitimen sexuellen Handlung, wie gewaltförmig diese auch zustande gekommen sein mochte, abzumildern und dem ,Schwängerer‘ durch ein inquisitorisches Strafverfahren eine Alimentationszahlung und womöglich eine Entschädigung abzuringen. Eine Zivilklage war mutmaßlich zu teuer und wenig aussichtsreich, schließlich musste sie an dem Ort erhoben werden, an dem der Beklagte ansässig war (d.h. im 70 km entfernten Kesselstadt).80 Der Weg der Selbstanzeige stellte vielleicht die einzige Möglichkeit dar, Alimentation für das Kind und womöglich eine Entschädigungssumme zu erhalten.81 78
79 80 81
StAM, 260, Nr. 733 (1776), Decretum Hanau vom 24.6. 1776. Während zahlreiche Suppliken im Fall des Johannes Krebs keine Strafmilderung erreichten, wurde Stieles Schanzenstrafe auf die Hälfte reduziert. StAM, 260, Nr. 733 (1776), Decretum Hanau vom 7. 10. 1776. StAM, 260, Nr. 733 (1776), Schreiben an die Regierung in Hanau vom 20.6. 1776. Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 840. Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 899. Um dies in die Wege zu leiten, musste ausgeschlossen werden, dass sich die Delinquentin der „Hurerey“ bzw. der Prostitution schuldig gemacht hatte. Denn während des gesamten Inquisitionsprozesses konnten den Inquisiten über die ursprüngliche Anklage hinaus neue Delikte angelastet werden. Darauf zielten die beiden letzten Fragen, „ob er sie mit Geld oder einem Versprechen zu seinem Willen gebracht?“ (8.) bzw. „ob sie mit keiner andern Mannperson etwas zu tun gehabt?“, die sie beide verneint (StAM, 260, KA, Nr. 1423, Actum Zeitlofs vom 28.2. 1798). Beschlossen wurde das Verhör mit der Absichtserklärung Froms zu einer Eidesleistung, worauf die Inquisitin entlassen wurde. Dabei handelt es sich um einen Bekräftigungseid, der vermutlich vom Rabbi nach dem Vorbild des ,Judeneids‘ abgenommen wurde. Das Beispiel zeigt ferner, dass im 18. Jahrhundert bei ,leichteren‘ Delikten wie ,Unzucht‘ auf die Inquisitionshaft verzichtet wurde, sofern es sich um Einheimische handelte. Für Kurmainz vgl. Karl Härter: Policey und Strafjustiz, S. 430.
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Rechts- und Gerichtsräume: (K)ein Kriminalfall?
In der ersten Phase des Unzuchtsverfahrens, das mit der „Arrestirung“ des Isaak Herz in Zeitlofs im Dezember 1798 endete, entwickelte sich parallel ein für das Alte Reich charakteristischer Konflikt um das Verfahren und die Zuständigkeit.82 So informierte das Requisitionsschreiben des Amtmann Pollich aus Zeitlofs vom Juni 1798 das Amt Bücherthal über die Selbstanzeige der Jüdin From – die sie ggf. beeiden würde – und ersuchte um Überstellung des von ihr als ,Schwängerer‘ angegebenen Herz. Dabei handelte es sich um das im Alten Reich übliche Requisitionsverfahren in Kriminalsachen.83 Allerdings wurde im Falle von niedergerichtlichen Delikten in der Regel keine Auslieferung praktiziert bzw. es erschien problematisch, einen Angehörigen/ Untertan einer anderen Landesherrschaft vor Gericht zu zitieren bzw. zu „sistiren“, weshalb auf das Prinzip citatio in subsidium juris (,stellvertretende Bestrafung‘) zurückgegriffen wurde. Da ,Unzucht‘ als ein solches Policeydelikt bewertet werden konnte, entwickelte sich im Folgenden ein Konflikt zwischen den Amtmännern Iber aus Bücherthal und dem Amtmann Pollich um die Auslegung dieses Prinzips, der sogleich auf die Ebene der Regierung von Hanau bzw. der Herren Johann Carl Friedrich von Thüngen, Philipp Freiherr von Thüngen und Carl Philipp Friedrich von Thüngen übergriff. Iber argumentierte, die Voraussetzung für eine solche „Sistirung“ sei nicht gegeben. Der Beschuldigte bestreite die Vorwürfe und die reine „Besagung“ der ,Judenmagd‘ From reiche nicht aus, einen hinreichenden Tatverdacht zu begründen und ein strafrechtliches Inquisitionsverfahren einzuleiten.84 Es stehe ihr hingegen frei, am Gerichtsort Althanau vors fürstliche Ehegericht zu ziehen und eine Entschädigungs- bzw. Alimentationsklage anzustreben.85 Als zentraler Streitpunkt erwies sich somit die Bewertung des Unzuchtsdelikts als Kriminaldelikt und damit die Frage nach der Zulässigkeit eines Requisitionsverfahrens. Zu fragen ist, inwiefern dabei relevant war, dass es sich um jüdische Devianz handelte. Resultierten die Konflikte im Zusammenhang mit der Bewertung dieses Unzuchtsfalls aus den Unsicherheiten im Umgang mit jüdischer ,Unzucht‘, da es dort noch keine Erfahrung mit diesen Fällen gab? Oder kam hier eher die allgemeine Deutungskontroverse zum Tragen, ob nach der Entkriminalisierung der ,Unzucht‘ diese noch als Kriminalia, d.h., im Rahmen des Inquisitionsprozesses, oder als Ordnungsvergehen und Zivilsache einzuschätzen sei? Für diese Deutung spricht die Korrespondenz des Amtes Büchertal und der Regierung in Hanau über „die von dem gräflichen Degenfeldischen Amt Ramholz verlangte Sistirung des Juden David Herz aus Kesselstadt 1799“. David, wahrscheinlich ein jüngerer Bruder Isaaks, war von der Tochter des Schutz82 83 84 85
StAM, 260, KA, Nr. 1423, Aktennotiz Regierung Hanau vom 18.12.1798. Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 408–414. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Antwortschreiben Iber, Althanau vom 10.8. 1798. Ebd.
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juden Löw Hirsch aus Vollmerz als ihr „Impraegnator“ angegeben worden. 86 Amtmann Iber begründete seine Anfrage an die Regierung, „ob dem Amt Ramholz in seinem gesuch erga reciprocum will fahret“ oder, ob „die Geschwächte mit ihrer Satisfactionsklage hier klagbar werden solle“, damit, dass bekannt sei, „wie sehr die Rechtslehrer in Ansehung des fori delicti von einander abstehen.“87 Auch Aktenvorgänge der Nachbarterritorien wie Mainz und Hessen-Darmstadt, in denen über Zuständigkeiten verhandelt wurde und gegenseitig Verordnungen ausgetauscht wurden, würden in diese Richtung weisen.88 So gesehen erscheint Hanau als Vertreter der Entkriminalisierung von Unzuchtsdelikten, während die Thüngen’sche Herrschaft die traditionelle Position vertritt. Die zweite Phase setzte damit ein, dass der erst kürzlich in den Kesselstädter Schutz aufgenommene Callmann Herz89 , der 26jährige Bruder des Inhaftierten, der Hanauer Regierung von der „Arrestirung“ Isaaks, den er in geschäftlichen Angelegenheiten erneut nach Zeitlofs gesendet hatte, berichtete und diese um Hilfe ersuchte.90 Es ist somit die jüdische Mobilität, die gleichsam quer zu den Gerichtsstrukturen steht, die dazu führte, dass der gesuchte Delinquent bzw. ,Schwängerer‘ wieder an den ,Tatort‘ bzw. den Gerichtsort zurückkehrte und nun verhaftet werden konnte.91 Für die Freilassung aus der Sicherheitshaft, die bei fremdherrischen Personen griff, wurde eine Kaution von 50 Gulden verlangt.92 Das Amt Bücherthal stufte 86 87 88
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StAM, 260, KA, Nr. 1057, Schreiben, Hanau vom 28.9. 1799. Ebd. „Häufig fragten Nachbarterritorien in Mainz nach bestimmten Policeyverordnungen oder gesetzlich Regelungen zu bestimmten Delikten. Beispielsweise bat Hessen-Darmstadt 1793 um die Auskunft, wie delicta carnis zwischen Juden und Christen in Mainz bestraft würden. Die Landesregierung antwortete nach Darmstadt, es gebe zwar keine bestimmte Verordnung zur Vermischung von Juden Christen, doch würde dieses Delikt schärfer bestraft als die Unzucht zwischen Christen.“ (Schreiben Hessen-Darmstadt an Kurmainz, 1793, Bayerisches Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Regierung Hessen-Darmstadt 172) Karl Härter, Policey und Strafjustiz, S. 200. StAM 81, Regierung Hanau E 181 XI a, Bd. 16, Actum vom 10. 8. 1798. Da Callmann der zweite Sohn von Herz Grebenau war, hatte er für die Aufnahme in den Kesselstädter Schutz ein Dispensationsgeld von 27fl. zu entrichten. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Actum Hanau vom 18.12. 1798. Zu jüdischer Mobilität vgl. Friedrich Battenberg, Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne: ein Problemaufriss, in: Rolf Kießlinget al. (Hrsg.): Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, S. 207–216; Wolfgang Treue, In die Jeschiwe und auf den Jahrmarkt: Jüdische Mobilität in Aschkenas in der Frühen Neuzeit, in: Ebd., S. 191–206. Ebenso den Beitrag von Härter in diesem Band: Karl Härter, Jüdische Migrationen im frühneuzeitlichen Alten Reich: Rechtliche Rahmenbedingungen, Geleit und Rechtsnutzung; ferner Michaela Schmölz-Häberlein, Ausbildung – Arbeit – Angehörige: Lebenszyklische und ökonomisch-politische Anlässe für jüdische Mobilität und Migration im 18. Jahrhundert am Oberrhein, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 27 (2009), S. 41–46. Dass es sich bei der Summe um eine Vorauszahlung für den ausstehenden Unterhalt handelt, ist wenig wahrscheinlich. Denn eine (Prozess-)Kaution wurde als Ersatz für eine Bürgschaft verwandt. Dies stützt ein Blick in Geisens Darstellung zum hessischen
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diese Gefangennahme jedoch als rechtswidrig ein und verlangte die sofortige Herausgabe des „Arrestaten“. Nun war das Amt Bücherthal in Hanau am Zug, das versuchte, Isaak Herz zurück zu bekommen. Die Frage war, ob die Herrschaft von Thüngen rechtswidrig gehandelt hatte und wenn ja, welche Konsequenzen daraus zu ziehen waren.93 War die Anmaßung der Freiherrn von Thüngen so groß, dass man ernsthafte Repressalien erwägen sollte? In Rekurs auf J.J. Moser Deutsches nachbarliches Staatsrecht, das einen Vergleichsfall im Mainzischen enthält, lehnte das diesbezügliche Regierungsgutachten ernste Repressalien gegen die Freiherrn von Thüngen jedoch ab und die Regierung beschloss weitere Verhandlungen94 Unterdessen wurde der älteste Bruder des Gefangenen, Schutzjude Simon Hertz aus Windecken, im Amt Bücherthal vorstellig, um ein offizielles Freilassungsgesuch der Hanauer Regierung zu überbringen, wie Amtmann Iber in einem Aktum vom 22. Dezember festhielt.95 Dort sei er jedoch von den Amtspersonen, einschließlich Freiherrn von Thüngen selbst, zurückgewiesen und brüskiert worden („er solle sein loses Maul halten, sonsten würden sie ihm weisen, was hier wäre.“96 ). Dabei sei stets wiederholt worden, sein Bruder hätte eine Kaution zu zahlen und eine Aussage zu machen. Ferner berichtete Simon Hertz, dass sein Bruder in ein „sehr schlechtes Gefängniß“ gebracht worden sei und dort beklagenswerte Haftbedingungen habe.97 So dürfe niemand mit ihm sprechen. Eine weitere Aktennotiz, datiert auf den 4.1.1799 bezeugt, dass auch Calmann Herz sich nochmals beim Amt beschwert und um Unterstützung
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Landesrecht. Demnach müssen die Prozessparteien in einem Prozess vor Untergerichten dann keine Kaution (für Prozesskosten, mögliche Verurteilung) zahlen, wenn sie der hessischen Herrschaft (Öber-Botmäßigkeit") unterworfen und im Lande begütert sind (S. 403). Und weiter: "Wann aber ein ander Theil unserer Botmäßigkeit nicht unterworffen/ noch unter uns begütert/ oder sonst eine ledige Person wäre/ die keine gewisse bleibende Stätte unter uns hätte/ die soll auff Begehren eine ziemliche Caution, judicio sisti & judicatum solvi, gebührend angehalten werden." (IV. Buch Caput VI § 7). Vgl. Heinrich-Anton Geise, Teutsches Corpus iuris, Oder Verfassung derer, des Heil. Röm. Reichs Teutscher Nation Käyserl. Bürgerl. Peinlichen, Lehn, Geistlichen, See, Land- und Kriegsrechten : Mit Einer deutlichen Anweisung, wie in denen Gerichten von denen Richtern ... zu procedieren, Wobey zugleich Einige Chur-Fürstl. Braunsch. Lüneb. und Fürstl. Heßische Landes-Constitutiones enthalten, Hannover 1709. Auf einen jüdischen wandernden Viehhändler scheint dieser Fall zu passen. Dass bei nicht geleisteter Kaution (Sicherungs-)Haft droht, scheint folgerichtig. Auch die Hessische Peinliche Halsgerichtsordnung von 1535 fordert, wenn keine Bürgschaft geleistet wird, in Strafsachen "gefengknuß oder verwarung"(Art. 8). Vgl. Friederich Christoph Schmincke, Landgraf Philipps Hessische Halsgerichts-Ordnung von dem Jahr 1535, verglichen mit Kayser Carl des V. peinlichen Gerichts-Ordnung), in: Ders., Monimenta Hassiaca, Bd. 3, Cassel 1750, S. 137–247. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Extract fürstl. Großh. Regierungsprotokoll Hanau vom 18./ 19.12. 1798. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Extract fürstl. Großh. Regierungsprotokoll Hanau vom 19.12. 1798. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Actum Hanau vom 22.12. 1798. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Actum Hanau vom 22.12. 1798. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Actum Hanau vom 22.12. 1798.
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ersucht hatte.98 Dieser argumentierte, er leide durch diese Situation in seinem Handel großen Schaden, da zu dem Verdienstausfall durch die Abwesenheit seines Bruders noch die Kosten für Ersatzpersonal kämen. Deshalb bitte er um Entschädigungszahlungen für seinen Bruder und ihn. Doch dazu kam es nicht mehr. Am 18. Januar entschied die Landesregierung in Hanau, dass die Herren von Thüngen das Unzuchtsverfahren gegen Isaak Herz in Zeitlofs durchführen dürften.99 Da der Ort des Verbrechens und der Ergreifung zusammen fielen, bliebe dem Verhafteten keine andere Möglichkeit als sich in Zeitlofs zu verantworten, allerdings lediglich in puncto criminali und nicht in Bezug auf „Satisfaction“ und „Alimentation“. Es mag für den Ausgang dieses Falles nicht unerheblich gewesen sein, dass sich Philipp Freiherr von Thüngen zuletzt an seinen älteren Bruder wandte, der kein geringerer war als der „k.k. her(r) geheime Rath und Reichskammergerichts Präsident“ Johann Siegmund Carl von Thüngen aus Wetzlar.100 Aus einem Hanauer Regierungsprotokoll der „Acta die vom gräflichen Degenfeldischen Amt Ramholz verlangte Sistirung des Juden David Herz aus Kesselstadt 1799 betreffend“, geht hervor, dass die Akten Isaak Herz den Rechtsgutachtern im ,Folgefall‘ zur Entscheidungsfindung vorgelegt wurden.101 Die Gutachter votierten auch hier dafür, dass der zuständige Gerichtsstand für die „Privatsatisfaction der dirne“ das „hiesige Ehegericht“ sei und überlegten, ob sich David Herz „blos“ in puncto criminali vor dem degenfeldischen Amt zu sistieren habe und ob seine Auslieferung wie bei großen Verbrechen nötig oder „bloße Gefälligkeit“ sei.102 In diesem Zusammenhang argumentierten sie mit der ökonomischen Position Davids, für den eine solche „Sistirung“ mit beachtlichen Kosten verbunden sei, zumal die betreffenden Ämter weit auseinander lägen. Bereits der in diesen Fall wiederum verwickelte Amtmann Iber hatte aus der Perspektive Davids argumentiert und darauf aufmerksam gemacht, dass „der Judenpursch David Herz des Viehhandels wegen, die dasige Gegend nicht wohl, wenigstens nicht ohne den größten Nachtheil für seine brüder, in deren Nahmen er Vieh aufkaufet, meiden und es dahero geschehen kann, das derselbe auf dem betrettungsfall arretirt werden wird.“103
Ganz ,pragmatisch‘ argumentierten daher die Referenten, David Herz solle sich doch freiwillig sistieren, wenn das Betreten des Thüng’schen Territoriums aufgrund seiner Handelsgeschäfte ohnehin nicht zu vermeiden sei.104 Habe er es hingegen nicht nötig, deren Territorium aufzusuchen, habe er sich auch nicht zu sistieren. Ferner wurde erwogen, das Thüngsche Requisitionsschrei98 99 100 101 102 103 104
StAM, 260, KA, Nr. 1423, Actum Hanau vom 4.1. 1799. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Reskript Hanau vom 18.1. 1799. StAM, 260, KA, Nr. 1423, Schreiben aus Zeitlofs vom 31.12. 1798, Schreiben aus Wetzlar und Zeitlofs.vom 12.1. 1799. StAM, 260, KA, Nr. 1057, Regierungsprotokoll, Hanau vom 4.10. 1799. StAM, 260, KA, Nr. 1057, Votum, Hanau vom 9.10. 1799. StAM, 260, KA, Nr. 1057, Schreiben, Hanau vom 28.9. 1799. StAM, 260, KA, Nr. 1057, Votum, Hanau vom 9.10. 1799.
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ben nicht zu beantworten, „weil es wirklich sehr kleinlich ist, wegen einer Schwängerung auf der Sistirung eines Unterthanen eines anderen territorii zu bestehen.“105 An das Amt Bücherthal erging daher der Beschluss, David Herz sowohl über die uneheliche Schwängerung als auch darüber zu vernehmen, ob er sich freiwillig sistieren wolle.106 Dabei sei ihm mitzuteilen, dass es ihm zwar selbst überlassen bleibe, wie er sich in dieser Sache entschiede, man ihm aber nicht helfen könnte, wenn er (von den dortigen Obrigkeiten) im Thüng’schen Territorium arretiert würde. Dieses Protokoll sei an das Amt Ramholz zu senden mit dem Vermerk, die betroffene „Dirne“ müssen sich wegen einer Klage an das Hanauer Hof- und Ehegericht wenden.
Fazit Das Fallbeispiel zeigt exemplarisch den Zusammenhang von ,Lokalität‘/ Gerichtsorten, Herrschaftsräumen und territorialer Struktur mit sozialen und geschlechtlich kodierten jüdischen Handlungsräumen in der spezifischen Konstellation des Alten Reiches. Dabei lässt sich anhand der Frage, wie Jüdinnen und Juden in obrigkeitlichen Rechtsräumen agierten, sowohl die Handlungsfähigkeit jüdischer Akteur-innen als auch die Grenzen dieser Handlungsfähigkeit zeigen, je nachdem, um wen es sich konkret handelte: um Schutzjuden oder Schutzverwandte, erst- oder später geborene Söhne, mobile Viehhändler oder mittellose Dienstmägde. Die Frage nach dem Umgang mit obrigkeitlichchristlichen Herrschaftsräumen muss folglich stets zusammen mit den Rollen und Positionen, die die Akteure-innen jeweils in der Strafjustiz einnahmen bzw. einnehmen konnten, analysiert und diese Positionen in den konkreten Herrschafts- und Handlungsräumen situiert werden. Ferner ist der Fall ein Beispiel dafür, dass die jüdischen Handlungsräume auf dem Land maßgeblich über den ökonomischen Raum des Viehhandels konstituiert wurden. Dieser ökonomische Handelsraum, der ein hohes Ausmaß von Mobilität erforderte, war einerseits ein männlicher Raum, andererseits bildete er den Rahmen für die gesamte soziale Interaktion des Dorfes. Integraler Bestandteil dieser dörflichen Ökonomie war in Zeitlofs des „Juden Nathans Garküche“. Als Arbeitsraum und Ausgangspunkt der Tätigkeiten von From und ihrer Schwägerin war diese einerseits ein weiblicher Raum, andererseits ein Kreuzungspunkt, in dem sich die Wege von Männern und Frauen, Fremden und Einheimischen trafen. Voraussetzung für den Kontakt zwischen From und Isaak war ihre jeweilige soziale Ausgangsposition als ledige Jüdin aus einem kinderreichen Haushalt bzw. unverheirateter dritter Sohn eines Schutzjuden auf dem Land. 105 106
Ebd. StAM, 260, KA, Nr. 1057, Schreiben an das Amt Bücherthal vom 18.10. 1799.
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Diese sozialen und rechtlichen Positionen erzwangen einerseits jene Mobilität und Arbeitsmigration, die From nach Zeitlofs übersiedeln ließ und Isaak zu seinen Grenzübertritten in die Herrschaft der Thüngen motivierte. Andererseits bildeten sie den Hintergrund für die illegitime sexuelle Handlung, wie gewaltförmig diese auch zu Stande gekommen sein mochte. Die Schwängerung Froms war nicht zwingend das Ergebnis einer Vergewaltigung, verweist jedoch auf Hierarchien und gewaltförmige Beziehungen auch innerhalb des jüdischen Handlungsraumes. Dass jüdische Dienstmägde in gemischt-religiösen Dörfern auch der Gewalt von christlichen Männern ausgesetzt waren, zeigte ferner das Beispiel Jachets, die durch eine Anzeige bei den christlichen Obrigkeiten versuchte, handlungsfähig zu werden und ihre ,Ehre‘ wieder herzustellen. In diesem Sinn kann auch die Initiative Froms interpretiert werden, die mit der Selbstanzeige die Grenzen des jüdischen Binnenraums verließ und sich in den Rechtsraum der christlichen Obrigkeit Zeitlofs begab. Diese wiederum traten in Interaktion mit dem Amt Bücherthal und verhandelten die Frage, ob Unzuchtsdelikte als Kriminalsache oder als niedergerichtlicher Frevel und ,Policeysache‘, die quasi ziviler Art sein konnten, eingestuft werden sollten sowie, damit zusammen hängend, die jeweiligen gerichtlichen Kompetenzbereiche. Der erneute Grenzübertritt Isaaks im Zusammenhang ökonomischer Notwendigkeiten des Viehhandels führte zu seiner Inhaftierung und zur Ausweitung des Konflikts. Nun ging es um die inzwischen auf Regierungsebene ausgetragene Frage, ob die Herren von Thüngen die Grenzen ihrer Jurisdiktionsgewalt überschritten hatten, womit nicht zuletzt die Herrschaftskompetenzen der Reichsritterschaft selbst zur Disposition standen. Die Brüder des Isaak Herz versuchten diese Konstellation zu ihren Gunsten zu nutzen, traten in den jeweiligen Ämtern auf und vertraten ihre Interessen mit großer Selbstverständlichkeit. Callmann Herz forderte sogar eine Entschädigung für die durch die Inhaftierung entstandenen Nachteile. Damit brachte er den fiskalisch-ökonomischen Raum ins Spiel, indem er indirekt utilitaristisch argumentierte und andeutete, dass die Inhaftierung seines Bruders letztlich nicht den fiskalischen Interessen der Obrigkeiten entsprach. Zudem fungierte Simon Herz als Übermittler von Regierungsschreiben und erfüllte somit eine quasi-offizielle Funktion. Allerdings zeigten sich auch die Grenzen jüdischer Handlungsräume. Die Reaktion der Herren von Thüngen, die sich so interpretieren lässt, dass sie Simons Auftreten in Zeitlofs als Übertretung seines sozialen und rechtlichen Status‘ als Windecker Schutzjude verstanden, lässt sich als Interaktion einer lokalen mit einer sozialen Grenzüberschreitung deuten. Zu fragen wäre ferner, weshalb sich die Herren von Thüngen so intensiv darum bemühten, Isaak zur Verantwortung zu ziehen. Schließlich zeigten die Obrigkeiten in christlichen Unzuchtsfällen bekanntlich wenig Engagement, die beteiligten Männer dingfest zu machen. Auch die anfängliche Interessenkohäsion zwischen der Regierung in Hanau und der Familie des Isaak Herz hatte Grenzen bzw. situativ geprägt gewesen zu sein. Fielen die fiskalisch- ökonomischen und
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herrschaftspolitischen Interessen Hanaus, wie im Fall des David Herz, mit den Interessen der Familie Herz zusammen, zeigte man sich – gegen die „kleinlichen“ Thüngen – parteilich für die Sache der Juden. Gleichzeitig machte man jedoch deutlich, dass das Engagement für die jüdischen ,Unterthanen‘ begrenzt war. Daher bestand die Hanauer Regierung nicht auf die Freilassung des Isaak Herz, obgleich für diesen Zeitraum keine Fälle bekannt sind, in denen christliche Untertanen bei ,Unzucht‘ ausgeliefert worden wären bzw. eine solche Inhaftierung hingenommen worden wäre. Auch dieser Vorgang von Seiten der Herren von Thüngen ist irritierend und wäre wohl selbst bei fremdherrischen Untertanen nicht wegen einer Schwängerung eingeleitet worden. In der Festlegung einer Kaution mit 50 Gulden im Vergleich zu einer zu erwartenden Strafe von höchstens 5 Gulden lässt sich ferner (ein für Reichsritterschaften typischer) Versuch erkennen, die Juden finanziell auszubeuten. Auch wenn sich eine judenfeindliche Motivation der christlichen Obrigkeiten aus der Quelle nicht belegen lässt, könnte etwa das Handeln der Hanauer Regierung mit einer Verschlechterung des Klimas gegenüber den Juden im Hanauer Territorium in Beziehung gesetzt werden. In diesem Zusammenhang kam es Ende des 18. Jahrhunderts in Hanau zu antijüdischen Aktionen, in deren Verlauf die Synagoge mit Steinen beworfen und der Friedhof zerstört wurde.107 Dennoch scheint das ,Unzuchtsverfahren‘ für Isaak Herz keine bezeugten Auswirkungen auf seine weiteren Lebenschancen gehabt zu haben. Denn es gelang ihm, obwohl er als dritter Sohn mutmaßlich ein sehr hohes Dispensationsgeld zu bezahlen hatte, 1801 in den Kesselstädter Schutz aufgenommen zu werden.108 Er heiratete Deige Strauss, Tochter des Isik Rodenbach aus Niederrodenbach, bekam zwischen 1803 und 1807 drei Kinder und wurde 1834 in die Altstadt Hanau aufgenommen.109
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Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 109. Im Zusammenhang mit einem Handelsverbot für zwei weitere Brüder Isaaks, die die Geschäfte Herz Grebenaus fortführen wollten, sind aus dem Jahr 1805 aus dem Amt Bücherthal ferner judenfeindliche Aussagen überliefert (etwa „man müsse alle Juden vertilgen“). StAM 81, Regierung Hanau E 181 XI a, Bd.7. StAM 81, Regierung Hanau E 181 XIb, Bd.4. Eckard Meise, Juden in Kesselstadt, S. 128f.
2. Judenschaften im Kontext politischer Räume
Ursula Reuter
Zwischen Reichsstadt, Bischof, Kurpfalz und Kaiser. Zur Geschichte der Wormser Juden und ihrer Schutzherren im 16. und 17. Jahrhundert1 Die Judenschaft in „deß Heyligen Reichß Frey Statt Wormbs“ sah sich im Untersuchungszeitraum (1520 bis 1650) in Bezug auf ihre Schutzherren einer komplizierten Gemengelage gegenüber. Als unmittelbarer Schutzherr fungierte der Wormser Rat. Unter Berufung auf die sogenannte Donation oder Schenkung der Juden an die Stadt durch Kaiser Karl IV. 1348/49 fand sein obrigkeitlicher Anspruch seit Ende des 16. Jahrhunderts Ausdruck in dem rechtlichen Konstrukt der Leibeigenschaft der Wormser Juden. Daneben hatten der Bischof, der die ihm verbliebenen Machtpositionen in der Stadt zäh verteidigte, sowie die Familie von Dalberg Rechte an den Juden. Die Kurpfalz, mit der Worms durch einen Schirmvertrag verbunden war, nahm durch die Ausübung oder Verweigerung der Geleitsrechte und das Eingreifen anlässlich der Wormser Bürgerunruhen (1613–1616) Einfluss auf die Geschicke der Judenschaft. Der Kaiser als Schutzherr der Stadt wie der Judenschaft war für die Wormser Juden nicht nur oberster Schutzherr im Reich und Aussteller wichtiger Privilegien, sondern die zentrale Instanz in Krisen- und Konfliktsituationen, die allerdings vor Ort nur indirekt eingreifen konnte. Diese Strukturen sowie die wechselnden Beziehungen zwischen den genannten Akteuren boten der Wormser Judenschaft Handlungsmöglichkeiten, die sie offensiv zu nutzen verstand. Dadurch wurde ihre Existenz in der Stadt gesichert.
Unerwünschter Besuch in der Judengasse Am frühen Morgen des 15. Februar 1572 erhielt der Wormser Rabbiner Jacob ben Chajjim2 , noch während er in seinem Haus in der Judengasse 1
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Dieser Aufsatz entstand im Rahmen meiner Arbeit für das deutsch-israelische Forschungsprojekt Germania Judaica IV (www.germania-judaica.de). Für die hier nur angedeuteten oder ausgeklammerten Aspekte der Wormser jüdischen Geschichte in der Frühen Neuzeit und für genauere Informationen zu den hier zumeist nur summarisch genannten Quellen verweise ich auf meine Monographie über die Wormser Juden 1520– 1650 (in Vorbereitung). R. Jacob ben Chajjim stammte aus Isenheim im Elsass. Seit 1555 ist er in Worms nachweisbar. 1559 wurde er auf Bitten der Gesandten der deutschen Judenschaft von Kaiser Ferdinand zum Reichsrabbiner ernannt. Er starb um 1574 in Worms. Vgl. Moritz Stern,
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sein Gebet sprach, Besuch von dem kurpfälzischen Landschreiber zu Alzey und dem kurpfälzischen Geleitsmann in Worms, Conrad Flach. Die beiden forderten ihn auf, die anderen Juden zusammenzurufen. Auf die Bitte von R. Jacob erschienen daraufhin einige, wenn auch nicht alle Familienoberhäupter. Ihnen eröffnete der Landschreiber, dass sämtlichen Juden das Geleit durch die Kurpfalz aufgekündigt werden sollte, weil der Wormser Parnas (Gemeindevorsteher) Salomon zur Eichel3 vom Alzeyer Burggrafen dreimal vorgeladen worden, aber nie erschienen sei. Als der Wormser Rat von der Zusammenkunft in der Judengasse erfuhr, reagierte er prompt und heftig. Da er in der Einberufung der Judenschaft durch die kurpfälzischen Amtleute eine Schmälerung seiner obrigkeitlichen Macht erblickte, lud er etliche Vertreter der Wormser Judenschaft sowie den Rabbiner am 17. Februar 1572 auf den Bürgerhof vor und verurteilte sie zu einer empfindlichen Geldstrafe von 500 Gulden.4 Wieso diese massive Reaktion, die die Kurpfalz meinte, jedoch die Juden traf? Die freie Reichsstadt Worms, die kein eigenes Territorium besaß und auf fast allen Seiten von kurpfälzischen Gebieten eingeschlossen war, legte auf die Wahrung ihrer Souveränität gegenüber ihrem mächtigen Nachbarn großen Wert. Allerdings verfügte sie nur über geringe Handlungsspielräume: Seit 1483 schloss die Stadt in der Regel auf 60 Jahre befristete Schirmverträge mit dem Kurfürsten ab und erkannte ihn als ihren Schutzherrn an. Die traditionell enge Verbindung zwischen dem Wormser Bischof – dem Konkurrenten des Rats um die Stadtherrschaft – und der Kurpfalz zerbrach allerdings mit der Einführung der Reformation in dem Territorium seit den 1540er Jahren und vor allem dem pfälzischen Konfessionswechsel zum Calvinismus in den 1560er Jahren.5 Für die Judenschaft war die Angelegenheit heikel: Einerseits war man bereits für die Durchreise in andere Herrschaften auf das kurpfälzische Geleit
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Die Wormser Reichsrabbiner Samuel und Jakob 1521–1574, Berlin 1937, S. 15–26. David Kaufmann, R. Jair Chajjim Bacharach (1638–1702) und seine Ahnen, Trier 1894, S. 5–7. Salomon zur Eichel ist zwischen 1563 und 1595 (?) in Worms belegt. In den 1570er Jahren verhandelte er mehrfach als Vertreter der Wormser Judenschaft mit dem Wormser Rat und den kurpfälzischen Behörden. Vgl. Stadtarchiv (im Folgenden: StA) Worms Abt. 1 B Nr. 2030 (1564), 2036/14 (1570), 2019/33 (1572), 2025/42 (1595). Leopold Löwenstein, Geschichte der Juden in der Kurpfalz, Frankfurt/Main 1895, S. 59 f. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2019/32: Schreiben der Wormser Judenschaft an den Wormser Rat, undat. (vor 1572 Juni 25). ebd. 2019/33: Schreiben des Jacob Rabj (R. Jacob ben Chajim) in Worms an den Wormser Rat, undat. (vor 1572 Juni 25). Vgl. zur Reaktion des Rats gegenüber der Kurpfalz ebd. 2042/10. Vgl. Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz, 2 Bände, Stuttgart u. a. 1988–1992, Bd. 1, S. 202–205, Bd. 2, S. 82. Burkhard Keilmann, Das Bistum vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hg.), Das Bistum Worms. Von der Römerzeit bis zur Auflösung 1801, Würzburg 1997 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte; 5), S. 44–193, hier S. 171–180. Gunter Mahlerwein, Die Reichsstadt Worms im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gerold Bönnen (Hg.), Geschichte der Stadt Worms, Stuttgart 2005, S. 291–352, hier S. 306 f.
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angewiesen, das aber seit Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend erschwert oder sogar verweigert wurde.6 Andererseits konnte und wollte man es sich keinesfalls mit der Stadt verderben. Erst kurze Zeit zuvor hatten mit dem Erlass einer neuen städtischen Judenordnung am 6. Dezember 1570 die mehrjährigen Bemühungen des Rats, die Wormser Juden nach Ablauf ihres letzten Gedings (Aufenthaltsvertrag, Stättigkeit) zu vertreiben, einen vorläufigen Abschluss gefunden.7 In ausführlichen Schreiben entschuldigten sich Judenschaft und Rabbiner bei Stättmeister, Bürgermeister und Rat der Stadt Worms für die ihnen aufgezwungene Zusammenkunft in der Judengasse und betonten, sie hätten nichts getan, was die städtische Obrigkeit über die Juden in Frage gestellt oder verletzt habe. So habe man die Aufforderung des Landschreibers, sich zu versammeln, keinesfalls als obrigkeitliches Gebot, sondern als Bitte verstanden, „gleich wie sonst ein gueter freundt zu dem andern, uff beger und ruffen, zu thun pflegt“. Man habe angenommen, „das sie baide etwan des gleits halben wie und welcher maßen ein jeder daßelbig hernacher zu geprauchen haben sollte ein vergleichung suchen und treffen werden“, wie überhaupt schon öfter kurpfälzische Amtsverweser in die Judengasse gekommen seien und „von den verzielten schulden gelt gebracht und die gepurliche Chur Pfaltz schatzung dauon genomen und abgerechnet.“8
Der Kontext Worms gehörte mit Frankfurt, Friedberg und Fulda zu den wenigen urbanen jüdischen Ansiedlungen im Westen des Alten Reichs, die den Vertreibungen des 15. und 16. Jahrhunderts nicht zum Opfer gefallen waren.9 Diese Kontinuität korrespondierte mit den langfristig gewachsenen rechtlichen Rahmenbedingungen, die das Leben von Juden wie Christen prägten.10 Anders 6
Siehe unten. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2017/4. Siehe unten. 8 StA Worms Abt. 1 B Nr. 2019/32. 9 Stefan Rohrbacher, Die jüdischen Gemeinden in den Medinot Aschkenas zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, in: Christoph Cluse/Alfred Haverkamp/Israel J. Yuval (Hgg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden, Abhandlungen; 13), S. 451–463. Rotraud Ries, Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? Zur politischen Rolle der Elite in der Judenschaft des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts, in: Sabine Hödl/Peter Rauscher/ Barbara Staudinger (Hgg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin, Wien 2004, S. 91–141. Dies., Die Mitte des Netzes. Zur zentralen Rolle Frankfurts für die Judenschaft im Reich (16.–18. Jahrhundert), in: Fritz Backhaus/Gisela Engel/Robert Liberles/Margarete Schlüter (Hgg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006 (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main; 9), S. 118–130. 10 Gerold Bönnen, Die jüdische Gemeinde und die christliche Stadtgemeinde im spätmittelalterlichen Worms, in: Cluse/Haverkamp/Yuval, Jüdische Gemeinden, S. 309–340. 7
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als benachbarte Städte wie etwa Mainz konnte Worms bis zum Ende des Alten Reichs sowohl dem Wormser Bischof als auch der benachbarten Kurpfalz gegenüber seine Eigenständigkeit bewahren, nachdem um 1500 die Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Bischof um die städtische Verfassung einen letzten Höhepunkt erlebt hatten: „Im Verlauf eines dramatischen Konflikts mit den Bischöfen hatte es die Stadt Worms seit den 1480er Jahren vermocht, in enger Anlehnung an das Reich eine weitgehende Unabhängigkeit als Reichsstadt zu erringen und dabei die Rolle der Bischöfe stetig zu reduzieren.“11 In der sogenannten Pfalzgrafen-Rachtung (Vereinbarung) von 1519 und einer weiteren Rachtung von 1526 wurden die verfassungsmäßigen Grundlagen für das Zusammenspiel von Stadt, Geistlichkeit und Bischof gelegt, die Wahl und Zusammensetzung des Rats, die Besetzung der städtischen Ämter und die Gerichtsbarkeit geregelt.12 Der Bischof erkannte Worms als Reichsstadt an, dafür schwor der Rat ihm als seinem Herren die Treue. Dabei sollte es bis zum Ende des Alten Reichs bleiben: „Dem auf Grund veränderter sozialer, konfessioneller und ökonomischer Bedingungen verstärkten Anpassungsdruck gegenüber erwiesen sich die im frühen 16. Jahrhundert getroffenen Vereinbarungen zur Stadtverfassung als außerordentlich resistent.“13
Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass der Wormser Rat um 1527 die Reformation eingeführt hatte und seither eine Mehrheit von Lutheranern mit einer Minderheit von Katholiken (später auch Calvinisten) und der Judenschaft zusammenlebte.14 Kaiser und Reich spielten in dieser Konstellation als Garanten der reichsstädtischen Freiheit eine zentrale Rolle für die Stadt – was nicht zuletzt für die Politik des Rats gegenüber den Juden Konsequenzen hatte. Die Judenschaft in „deß Heyligen Reichß Frey Statt Wormbs“ sah sich im 16. und 17. Jahrhundert in Bezug auf ihre Schutzherren einem komplizierten Machtgefüge gegenüber.15 Neben der Stadt hatten der Wormser Bischof und, als seine Lehensleute, die Kämmerer von Worms gen. von Dalberg sowie der 11 12
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Gerold Bönnen, Zwischen Bischof, Reich und Kurpfalz. Worms im späten Mittelalter (1254–1521), in: ders., Geschichte der Stadt Worms, S. 193–261, hier S. 261. Vgl., auch zum Folgenden, Bönnen, Zwischen Bischof, Reich und Kurpfalz, S. 260 f. Mahlerwein, Reichsstadt Worms, S. 305–311. Fritz Reuter, Worms um 1521, in: ders. (Hg.), Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, Worms 1971, S. 13– 58. Hans-Dieter Hüttmann, Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Sozialgeschichte der freien und Reichsstadt Worms 1659–1789, Worms 1970 (Der Wormsgau, Beihefte; 23), S. 30–32. Mahlerwein, Reichsstadt Worms, S. 305. Fritz Reuter, Mehrkonfessionalität in der Freien Stadt Worms im 16.–18. Jahrhundert, in: ders./Bernhard Kirchgässner (Hgg.), Städtische Randgruppen und Minderheiten, Sigmaringen 1986 (Stadt in der Geschichte; 13), S. 9–48. Vgl. die Überblicksdarstellungen bei Fritz Reuter, Warmaisa – das jüdische Worms. Von den Anfängen bis zum jüdischen Museum des Isidor Kiefer (1924), in: Bönnen, Geschichte der Stadt Worms, S. 664–690. Ders., Warmaisa. 1000 Jahre Juden in Worms, Frankfurt am Main 2 1987 (3. Auflage Norderstedt 2009). Bönnen, Jüdische Gemeinde. Christopher R. Friedrichs, Anti-Jewish Politics in Early Modern Germany. The Uprising in Worms 1613–1617, in: Central European History 23 (1990), S. 91–152.
Zwischen Reichsstadt, Bischof, Kurpfalz und Kaiser
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Kaiser Rechte an den Wormser Juden. Zudem nutzte, wie schon gesehen, die Kurpfalz ihren Einfluss auf die Stadt auch in Bezug auf die Judenschaft aus. Während die Schutzherren teils aufeinander bezogene, teils konkurrierende Ansprüche geltend machten, war die Judenschaft ihrerseits ständig bemüht, ihre politischen (und ökonomischen) Handlungsspielräume gegenüber den verschiedenen Instanzen zu nutzen und, wenn möglich, zu erweitern.16
Die Stadt Der städtische Anspruch auf die Obrigkeit über die Juden leitete sich von der sogenannten Donation oder Schenkung der Juden durch König (ab 1355 Kaiser) Karl IV. ab.17 In einer ersten Urkunde übertrug Karl IV. am 4. Januar 1348 den Bürgern der Stadt Worms „unwiderruflich“ die Juden zu Worms mit Leib und Gut sowie allen Nutzungen und Rechten, die er und seine Vorgänger an den Juden und der Jüdischheit in Worms hatten. Zugleich versprach er, niemanden mit den Juden zu belehnen (mit Ausnahme der bisherigen Belehnungen) und sie auch an niemand sonst zu verpfänden.18 Nachdem im folgenden Jahr die jüdische Gemeinde durch das Pestpogrom am 1. März 1349 fast vollständig vernichtet worden war, schenkte Karl IV. am 29. März 1349 – gerade vier Wochen nach dem Morden – in einer zweiten Urkunde Rat und Bürgerschaft zu Worms alle Häuser, Hofstätten, Grundstücke und Bauten der Judenschaft in der Stadt und der Vorstadt Worms, da die Bürger ohne Verschulden grob geschädigt worden seien.19 Beide Urkunden wurden wiederholt bestätigt. Nach einer kurzfristigen Irritation erkannte auch König (ab 1508 Kaiser) Maximilian I. am 7. Juli 1500 den Schenkungsbrief Karls IV. von 1348 ausdrücklich an.20 Wie im Spätmittelalter, so war die Stadt auch in der Frühen Neuzeit Eigentümerin der meisten (wenn auch nicht aller) Gebäude in der Judengasse, die 16 17
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Vgl. dazu das Resümee. Vgl., auch zum Folgenden, Fritz Reuter, Worms, in: Arye Maimon/Mordechai Breuer/ Yakov Guggenheim (Hgg.), Germania Judaica, Band III: 1350–1519. 2. Teilband, Tübingen 1995, S. 1671–1697, hier S. 1672–74. Bönnen, Zwischen Bischof, Reich und Kurpfalz, S. 214–217, 251–254. Publiziert in Heinrich Boos, Quellen zur Geschichte der Stadt Worms. II. Theil. Urkundenbuch der Stadt Worms, Bd. 2, Berlin 1890, S. 258, Nr. 370. Vgl. J. Friedrich Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080–1650, Wiesbaden 1995, S. 26, Nr. 80. Publiziert in Boos, Urkundenbuch, S. 267, Nr. 385. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 268, Nr. 86. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 302, Nr. 1133 und S. 303, Nr. 1135: 1500 hatte Maximilian I. die selbstverständliche Eingliederung der Juden in das Stadtrecht zunächst in Zweifel gezogen: Die Juden gehörten direkt an das Reich und den König (1500 April 4). Darauf intervenierte die Stadt – mit Erfolg, drei Monate später erkannte Maximilian die Schenkung von 1348 ausdrücklich an (1500 Juli 7).
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sie der Judenschaft beziehungsweise einzelnen Personen gegen jährliche Zinszahlung überließ. Diese Zinszahlungen machten einen erheblichen Teil der Steuern und Abgaben aus, die die Stadt von den Juden erhob. Zu den Häusern bzw. Liegenschaften in städtischem Besitz gehörten die Synagoge und die anderen von der Gemeinde genutzten Gebäude (z. B. Mikwe und Tanzhaus) sowie der außerhalb der Judengasse im Südwesten der Stadt zwischen innerer und äußerer Stadtmauer gelegene Friedhof.21 Spätestens seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schloss der Rat mit der gesamten Judenschaft Verträge (Judengedinge und Judenordnungen), in welchen er dieser ein zeitlich befristetes Aufenthaltsrecht gewährte und unter anderem die Wirtschaftstätigkeit, Fragen der Gerichtsbarkeit und des Zusammenlebens mit den Christen regulierte. Ansonsten galt für die jüdischen wie für die christlichen Bewohner das Stadtrecht; sie hatten, wie es in der Judenordnung von 1524/25 heißt, die „gemeine Stadtrecht Ordnung und Policey“ zu achten.22 Die größte Gefährdung für die Existenz der jüdischen Gemeinde in der Frühen Neuzeit ging von der Stadt aus.23 Am 24. November 1558 ersuchte der Rat den wenige Monate zuvor in Nachfolge seines Bruders, Karl V., zum Kaiser proklamierten Ferdinand I. um die Erlaubnis, die Juden nach Ablauf des zur Zeit gültigen Gedings zu vertreiben.24 Schon am 17. Dezember 1558 bekundete der Kaiser in Prag, dass er Stättmeister, Bürgermeister und Rat der Stadt Worms seinen Konsens gegeben habe, dass diese die Juden „zu abwendung solcher hoch nachtheyligern beschwerungen und weiterer fürkommung bemelter Juden listiger verfortheylung gesuchs und Wucherlichen contract“ nach Ablauf ihres noch zwei Jahre währenden Wohnrechts das Geding aufsagen und sie „ausschaffen“ dürfe.25 Auch wenn der konkrete Anlass für den 21
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Der Bereich um die Synagoge bildete seit dem 11. Jahrhundert den Mittelpunkt jüdischer Ansiedlung in Worms. In der Zeit nach 1349, spätestens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wurde die Judengasse zu einem Ghetto im Sinn eines abgeschlossenen Viertels, in dem nur Juden, von der übrigen Stadt abgetrennt, lebten. Vgl. hierzu meine in Vorbereitung befindliche Monographie. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2017/2. Ein früherer städtischer Versuch, die Juden zu vertreiben, war 1487 am Einspruch von Kaiser Friedrich III. gescheitert. 1515/16 fand der Vorschlag von Erzbischof Albrecht II. von Mainz, die Juden aus dem Rhein-Main-Gebiet und auch aus Worms zu vertreiben, nicht die Zustimmung des Rats. Vgl. Reuter, Worms. Arye Maimon, Der Judenvertreibungsversuch Albrechts II. von Mainz und sein Mißerfolg (1515/1516), in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 4 (1978), S. 191–220. Vgl., auch zum Folgenden, Reuter, Warmaisa, S. 75–78. Sabine Frey, Rechtsschutz der Juden gegen Ausweisungen im 16. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 1983, S. 108–114. Ronnie Po-Chia Hsia, Bürgeraufstand in Worms 1614. Judenprivilegien und Bürgerrechte in der Frühen Neuzeit: Ein Widerspruch?, in: Norbert Fischer/Marion Kobelt-Groch (Hgg.), Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für HansJürgen Goertz zum 60. Geburtstag, Leiden u. a. 1997, S. 101–110, hier S. 101–103. Friedrichs, Anti-Jewish Politics, S. 101. Der wichtigste Aktenbestand zu dem Vertreibungsversuch befindet sich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv (im Folgenden: HHStA) Wien, u. a. RHR Antiqua 1143 und 1145. StA Worms Abt. 1 A Nr. 788. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 361, Nr. 1351.
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städtischen Vorstoß unbekannt ist – die Gelegenheit war günstig: Die Stellung des Bischofs war geschwächt,26 die judenfeindliche Politik der benachbarten Kurpfalz und anderer Städte und Territorien regte zur Nachahmung an, und der Kaiser war dem städtischen Anliegen gegenüber positiv gestimmt. Als Motivation für die Vertreibung wurden von städtischer Seite stereotype religiöse und sozioökonomische Argumente vorgebracht: Die Juden seien ein gottloses und irrendes Volk und verfolgten den Heiland Jesus Christus seit 1500 Jahren; sie erhielten sich mit Müßiggang und unlöblichen Hantierungen, schlössen wucherische Kontrakte ab und vermehrten sich in großer Zahl. 27 Konkret wurde die hohe Verschuldung der Wormser Bürger bei den Wormser Juden ins Feld geführt.28 Der Wormser Vertreibungsversuch gehört in den Kontext einer ganzen Reihe angestrebter oder realisierter Vertreibungen von Juden aus Territorien und Städten des Alten Reichs um die Mitte des 16. Jahrhunderts.29 Während sich in den Anfangsjahren des Konflikts der hessische Landgraf Philipp I., der Großmütige, für einen Verbleib der Juden in Worms einsetzte – beraten von dem jüdischen Arzt Lazarus von Babenhausen als Fürsprecher der Wormser Judenschaft30 –, engagierten sich auf Seiten der Stadt die beiden judenfeind26
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Mit der Einführung der Reformation in der Kurpfalz und weiteren Territorien zerbrach Mitte des 16. Jahrhunderts die mittelalterliche Kirchenorganisation des Wormser Bistums, das keine eigene ,Hausmacht‘ in Gestalt eines eigenen hochstiftischen Territoriums besaß, vgl. Keilmann, Bistum, S. 171–180. Vgl. Po-Chia Hsia, Bürgeraufstand, S. 102. Uta Löwenstein, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267–1600, 3 Bde., Wiesbaden 1989 (Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven; 1), hier Bd. 1, S. 456–459, Nr. 1485. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2042/25: Die Verschuldung von Wormser Bürgern bei der Wormser Judenschaft belief sich im Jahr 1559 angeblich auf 15.649 Gulden, 20 Schillinge und 6 Pfennige. Vgl. auch Heinrich Boos, Geschichte der rheinischen Städtekultur von den Anfängen bis zur Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung von Worms, Berlin 1897–1901, 4 Bde., hier Bd. 3, S. 164. Michael Toch, Die Verfolgungen des Spätmittelalters (1350–1550), in: Maimon/Breuer/ Guggenheim (Hgg.), Germania Judaica, III, S. 2298–2327, hier S. 2305–2307. Frey, Rechtsschutz. Rotraud Ries, „De joden to verwisen“. Judenvertreibungen in Nordwestdeutschland im 15. und 16. Jahrhundert, in: Friedhelm Burgard/Alfred Haverkamp/Gerd Mentgen (Hgg.), Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden, Abhandlungen; 9), S. 189–224. Barbara Staudinger, Ritualmord und Schuldklage. Prozesse fränkischer Juden vor dem Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, in: Gerhard Taddey (Hg.), ... geschützt, geduldet, gleichberechtigt. Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreichs (1918), Ostfildern 2005, S. 47–59. Vgl. auch Aschkenas 16/2 (2006) mit dem Themenschwerpunkt „Verfolgungen und Vertreibungen von Juden. Entwicklungen und Einzelfälle von der Antike bis zur Vormoderne“. Zu Lazarus von Babenhausen und seiner Rolle als Fürsprecher der Wormser Judenschaft vgl. J. Friedrich Battenberg, Juden um Landgraf Philipp den Großmütigen von Hessen, in: Aschkenas 14/2 (2004), S. 387–414, hier S. 400–404. Gerd Mentgen, propheten vnnd schrifft disputirt. Ein Wormser Jude im Religionsgespräch anno 1482/83, in: Der Wormsgau 18 (1999), S. 19–31, hier S. 21. Wolfgang Treue, Verehrt und angespien. Zur Geschichte jüdischer Ärzte in Aschkenas von den Anfängen bis zur Akademisierung, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 21 (2002), S. 139–203, hier S. 154 f.
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lichen Territorialmächte Kurpfalz und Herzogtum Württemberg. Dass die Vertreibung scheiterte, lag – neben der instabilen politischen Großwetterlage – jedoch in erster Linie an der entschlossenen Gegenwehr des Wormser Bischofs Dietrich von Bettendorf sowie der Herren von Dalberg einerseits und der Judenschaft andererseits. Mit seiner Zustimmung zur Ausschaffung der Juden hatte der Kaiser die bischöflichen Rechte verletzt; der Protest des Bischofs veranlasste ihn schon am 22. Juli 1559, den Konsens vorläufig bis zur Klärung der Rechtslage wieder zurückzuziehen.31 In den folgenden Jahren wurden von den involvierten Parteien unter Rückgriff auf Reichsinstitutionen zwei Alternativen zur Beilegung des Konflikts verfolgt: zum einen ein Schlichtungsverfahren durch eine vom Kaiser einzusetzende Kommission, zum anderen ein Prozess vor dem Reichskammergericht. Während eine arbeitsfähige Kommission nicht zustande kam, da sich Stadt und Bischof nicht über die Kommissionsmitglieder verständigen konnten, brachte der Bischof den Fall 1562/63 vor das Reichskammergericht, das allerdings nie zu einem Urteilsspruch gelangte.32 Der Rat versuchte angesichts der Pattsituation, die Juden, die ebenfalls eine Klage vor dem Reichskammergericht angestrengt hatten,33 durch Schikanen aus der Stadt zu drängen, wogegen diese sich durch ständige Eingaben am Kaiserhof wehrten. Langfristig hatten die Strategien von Bischof und Judenschaft Erfolg: Am 6. Dezember 1570 erließ der Rat unter kaiserlichem Druck eine neue, als vorläufig etikettierte Judenordnung (Temporal Ordnung).34 Dies bedeutete – trotz des Verweises auf das noch ausstehende Urteil des Reichskammergerichts – die Rückkehr zu einer rechtlich abgesicherten jüdischen Existenz in Worms. Nach dem endgültigen Scheitern der städtischen Vertreibungspläne war von Seiten des Rats an eine ähnliche Aktion nicht mehr zu denken. Als eine Art Kompensation gewann seit Ende des 16. Jahrhunderts bei Argumentationen über den rechtlichen Status der Wormser Juden für die städtische Obrigkeit das Konstrukt der Leibeigenschaft35 , die aus der Donation Karls IV. 31 32
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Frey, Rechtsschutz, S. 109. Frey, Rechtsschutz, S. 113. Vgl. HStAD Best. RKG Nr. NACHWEIS: Dietrich Bischof von Worms und Friedrich und Wolf von Dalberg ./. Magistrat der Stadt Worms (Mand.): Judenschutz zu Worms, 1562 (www.hadis.hessen.de). StA Worms Abt. 1 B Nr. 2054/6. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 370, Nr. 1385. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2017/4. Auch in Frankfurt spielte das Konzept der Leibeigenschaft eine Rolle in der städtischen Politik gegenüber den Juden, vgl. Wolfgang Treue, Ratsherren und Rabbiner. Eliten und Herrschaftsformen im frühneuzeitlichen Frankfurt, in: Backhaus, Die Frankfurter Judengasse, S. 200–212, hier S. 200. Der ,erste Ethnograph‘ der Frankfurter Judenschaft, Johann Jacob Schudt (1664–1722), leitet in seinem Kapitel „Von der Franckfurthischen Judischheit Knechtschafft / wie selbige der Stadt leibeigen sind“ die Leibeigenschaft historisch von der Gefangennahme und Mitführung der Juden nach Italien durch Titus ab. Von dort seien sie auch in andere Länder des Heiligen Römischen Reichs gekommen „und dannenhero als leibeigene deß Kaysers von uralten Zeiten her betrachtet“. 1349 seien die Frankfurter Juden dann mittels Verpfändung durch Karl IV. in das Eigentum der Stadt gelangt, vgl. Johann Jacob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten. Vorstellende
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abgeleitet wurde, immer größere Bedeutung.36 Dass diese Rechtsauffassung keineswegs immer nachteilig für die Wormser Juden sein musste, zeigt die Haltung des Wormser Rats gegenüber der 1606 von Kaiser Rudolf II. einberufenen Kommission, die unter der Leitung der Kölner und Mainzer Kurfürsten die angeblich hochverräterischen Beschlüsse der Frankfurter Versammlung jüdischer Gemeindevertreter (die sogenannte Rabbinerverschwörung) von 1603 untersuchte.37 Die Kommission hatte die Vollmacht erhalten, alle Juden im Reich zu zitieren und zu verhören, notfalls auch mit Haft und peinlicher Befragung, und Strafen zu verhängen. Als sie im November 1606 ihre Arbeit aufnahm, sollte sie sich zunächst auf die Judenschaften in Frankfurt und Worms konzentrieren. Der Wormser Rat wies die Vorstöße der Kommission unter Berufung auf die Donation allerdings von Anfang an entschieden zurück. Als die Subdelegierten der Kommission in Worms erschienen, mussten sie das Zitationsmandat an die Juden am Rat vorbei kraft kaiserlicher Vollmacht an die Mauern der Synagoge anschlagen lassen und schließlich unverrichteter Dinge wieder abreisen. Da man in Worms selbst nicht tätig werden konnte, wurden die Wormser Juden ersatzweise zur Befragung nach Mainz und an andere Orte vorgeladen. Was dem Rat nach 1558 nicht gelungen war, erreichten wenige Jahre vor Beginn des Dreißigjährigen Kriegs die 17 Wormser Zünfte, die sich – angeregt durch den Frankfurter Fettmilch-Aufstand – zwischen 1613 und 1616
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Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt/ sonderlich durch Teutschland/ zerstreuten Juden zugetragen. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden-Chronick ..., 4 Teile, Frankfurt 1714/17, hier Teil 2, Buch 2, Kapitel VII, S. 132–141, Zitat S. 132. Zu Schudt vgl. Yaacov Deutsch, Johann Jacob Schudt. Der erste Ethnograph der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, in: Backhaus, Die Frankfurter Judengasse, S. 67–76. Wilhelm Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, Freiburg im Breisgau 1980, S. 33–37, diskutiert zwar die gelegentlich vorkommende Anwendung des Begriffs ,Sklave‘ auf Juden (im Sinn der servitus Iudaeorum) in juristischen Schriften der Frühen Neuzeit, geht aber nicht auf den Begriff der jüdischen ,Leibeigenschaft‘ ein. Im ersten Artikel der Wormser Judenordnung von 1620 heißt es bezeichnenderweise erstmals, alle Juden sollten allein den Rat als ihre unmittelbare ordentliche Obrigkeit und „Leibsherrschaft“ ansehen, während in den früheren Judenordnungen immer nur von der Obrigkeit die Rede gewesen war, StA Worms Abt. 1 B Nr. 2018/12. Vgl., auch zum Folgenden, Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 243–293, hier S. 260–280. Birgit Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich, Hannover 2003, S. 258–279, 293–327. Dies., Die ,Frankfurter Rabbinerversammlung‘ von 1603. Vorgeschichte, Verordnungen, Folgen, in: Backhaus, Die Frankfurter Judengasse, S. 161–171. Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt (1150–1824), Bd. 1, Frankfurt am Main 1925, S. 342–357. Jetzt auch Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 32).
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gegen den Rat, in erster Linie jedoch gegen die Juden empörten.38 Am 10. April 1615 wurden sämtliche Wormser Juden und Jüdinnen von aufständischen Bürgern gewaltsam aus ihrer Heimatstadt vertrieben. Doch hatte diese Aktion, der der Rat machtlos gegenüberstand, keinen längerfristigen Erfolg. Die Kurpfalz unter Kurfürst Friedrich V. intervenierte, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, und die vom Kaiser dem Kurfürsten und dem Bischof von Speyer übertragene Kommission sorgte 1616/17 relativ schnell und effektiv für die Rückkehr zum verfassungsmäßigen status quo in der Stadt. Im Januar 1616 erfolgte die Rückführung der Juden, im darauffolgenden März wurde ein Vergleich zwischen den Zünften und dem Rat ausgehandelt. Am 22. Februar 1617 proklamierte Kaiser Matthias eine neue kaiserliche Judenordnung,39 wenige Wochen später erfolgte mit der Bestrafung der Rädelsführer der formelle Abschluss der Kommissionsarbeit. Verlauf und Ausgang der Bürgerunruhen waren in vielerlei Hinsicht – nicht allein in Bezug auf die Stellung der Judenschaft – symptomatisch für die Verhältnisse in Worms: „Die Handlungsoptionen der verschiedenen Gruppen, der regen Bürgerschaft, des nur zu geringen Zugeständnissen bereiten Rats, eines starken Schutzherrn, eines an der Beachtung von Rechten und Privilegien interessierten Kaiser, eines zurückhaltenden Bischofs spiegeln die Machtverhältnisse in und um die Stadt Worms für weite Teile des 17. und 18. Jahrhunderts wider.“40
Der Rat legte im 17. Jahrhundert großen Wert darauf, dass sich die Juden in Schriftstücken als ihre Leibsangehörigen bezeichneten. 1617 erklärten die städtischen Advokaten, früher habe der Rat auf die korrekte Unterschrift nicht so sehr gedrungen; nachdem aber vor Jahren einige Juden behauptet hätten, sie wüssten nichts von einer Donation, zwinge man sie nun, die richtige Formulierung zu benutzen.41 1619 bat die Judenschaft in einem Moderationsgesuch hinsichtlich der neuen städtischen Judenordnung, den Begriff ,leibeigen‘ 38
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Friedrichs, Anti-Jewish Politics. Ders., The Anti-Jewish Movements in Frankfurt and Worms, 1612–1617. Local Crisis and Imperial Response, in: Proceedings of the Tenth World Congress of Jewish Studies. Division B, Vol. II: The History of the Jewish People, Jerusalem 1990, S. 199–206. Mahlerwein, Reichsstadt Worms, S. 315–319. Reuter, Warmaisa – das jüdische Worms, S. 675–678. Ursula Reuter, Lebenswelt und Alltagskultur der Wormser Juden im frühen 17. Jahrhundert. Aus der Arbeit des deutsch-israelischen Forschungsprojekts Germania Judaica IV, in: Der Wormsgau 24 (2005/06), S. 21–31. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2018/9; publiziert in Gerson Wolf, Zur Geschichte der Juden in Worms und des deutschen Städtewesens, nach archivalischen Urkunden des k.k. Ministeriums des Aeussern in Wien, Breslau 1862, S. 70–77. Die kaiserliche Judenordnung stellte eine verkürzte, inhaltlich nur wenig veränderte Version früherer städtischer Judenordnungen dar. Der Rat erarbeitete in der Folgezeit eine neue, sehr ausführliche städtische Version, die nach langwierigen Verhandlungen am 1. Februar 1620 von den 91 jüdischen „Hausgesessenen“ beschworen wurde, StA Worms Abt. 1 B Nr. 2018/12. Mahlerwein, Reichsstadt Worms, S. 315. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2044/4. Dort heißt es, die Ältesten der Juden hätten erklärt, dass sie der Donation nicht widersprechen wollten, auch keine Bedenken trügen, Leibeigene des Rats zu sein, „wenn allein die burger darunter nicht begriffen seien“, die dadurch zur jüngsten „Unruhe“ bewegt worden seien. Dies habe der Rat abgelehnt, man sei aber zufrieden, wenn sie als „des Rats Leibeigene“ unterschreiben würden.
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nur in Supplikationen verwenden zu müssen, nicht aber in Schriftstücken, die Konflikte zwischen Juden und Christen betrafen, „dieweil es dem gemeinen Mann wieder zuhanden kommen muß, aller Hand ungleiche gedanckhen zu vermeiden“. Dieser nur zu verständliche Wunsch wurde – obwohl die Bürgerunruhen ja nur wenige Jahre zurücklagen – abgeschlagen.42 Im Verlauf des Dreißigjährigen Kriegs erlangte die Kontroverse um den rechtlichen Status der Wormser Juden neue Virulenz. Mit der Besetzung der Stadt durch kaiserliche Regimenter seit Sommer 1635 begann der Rat angesichts immer höher geschraubter Kontributionsforderungen, die Judenschaft mehr und mehr unter Druck zu setzen, um sie finanziell auszubeuten.43 Wie in den früheren Konflikten suchte diese Unterstützung beim Kaiser und strengte, mit Schützenhilfe des Bischofs, einen Prozess wegen der Leibeigenschaft vor dem Reichshofrat an.44 Schließlich griff der Kaiser zu dem wohlerprobten Instrument einer Schlichtungskommission, die er dem Mainzer Kurfürsten und Erzkanzler des Reichs Anselm Kasimir Wamboldt von Umstadt45 übertrug. In der von letzterem (bzw. seinen Räten) entworfenen, 1641 erlassenen kaiserlichen Judenordnung, der letzten Wormser Judenordnung im Alten Reich, blieb das Thema Leibeigenschaft ausgespart. So heißt es in der Schlussbemerkung salomonisch, dass die Ordnung nur bis zur Klärung der Frage der Leibeigenschaft wie anderer strittiger Punkte in Kraft und Wirkung bleiben sollte.46 In den folgenden Jahren kam es mehrfach erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Rat und Judenschaft über diese Frage,47 doch blieb es bis zur Zerstörung der Stadt 1689 im Pfälzischen Erbfolgekrieg bei dem status quo. Im Gegensatz zu vielen anderen Konflikten im Alten Reich wurde der um die Leibeigenschaft der Wormser Juden nach der Stadtzerstörung tatsächlich entschieden, und zwar zugunsten der Judenschaft.48 Maßgeblich dafür war die 42 43
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StA Worms Abt. 1 B Nr. 2018/11b und 2019/41. Vgl. auch ebd. 2036/70. Unter der schwedischen Besatzung (1631–1635) hatte die Judenschaft noch mit dem Argument, dass die Stadt sich ihrer als „leibsangehöriger“ Judenschaft annehmen müsse, beim Rat Unterstützung gefunden, um Geldforderungen der Schweden zu entgehen, vgl. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2044/33. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2044/25. HHStA Wien, RHR, Denegata antiqua, Kart. 181, 182. Kurfürst Anselm Kasimir Wamboldt von Umstadt (1583–1647), Erzbischof von Mainz ab 1629, war einer der eifrigsten Verfechter kaiserlicher Politik in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Kriegs, vgl. Fred G. Rausch, Anselm Casimir Wambolt von Umstadt: Kurfürst-Erzbischof von Mainz 1629–1647. Aspekte eines Lebensbildes, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 31 (2005), S. 163–201. Wolf, Geschichte der Juden in Worms, S. 93 f. Als die Juden im Oktober 1642 befragt wurden, „was sie nuhn der gesugten Leibs Befreihung halben zu thun gemeint seien“, antworteten sie, wenn sie so unterschreiben dürften wie vor 1603 (sic) üblich, würden sie den angestrengten Prozess nicht weiter betreiben; im Übrigen bekannten sie sich zur Leibeigenschaft „wie vor 100 und mehr Jahren“, StA Worms Abt. 1 B Nr. 2044/26. Vgl. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2019/44 (1645). In einer erstmals 1694 erschienenen städtischen Streitschrift, heißt es – fünf Jahre nach der Stadtzerstörung – noch programmatisch: „Die Nutzung des Bistums aber, kommet bey weitem derjenigen nicht bey, welche die Stadt auf den Juden, samt und sonders, per donationem Caroli IV. Anno 1348 & 1349. à Weceslao, Anno 1374. & à Maximiliano I.
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Intervention des 1658 in Worms geborenen kaiserlichen Hofjuden Samson Wertheimer, dessen Hilfe der Wormser Rat zur Unterstützung seiner Belange am Kaiserhof benötigte.49 In einem Vergleich zwischen der Judenschaft und dem Rat aus dem Jahr 1699, der die Bedingungen ihrer Wiederaufnahme in Worms klärte, sicherte der Rat zu, den Juden die Leibeigenschaft zu erlassen, solange die Vertragsklauseln erfüllt würden. Zukünftig sollten sich die Judenschaft und einzelne Juden nicht mehr als Leibsangehörige, sondern als untertänig gehorsamste Juden, Schutzverwandte oder Hintersassen bezeichnen.50 Das Thema blieb trotz dieser (Sprach-) Regelung auch im 18. Jahrhundert aktuell. So hob der Wormser Ratskonsulent Johann Friedrich Moritz in seiner gegen die bischöflichen Ansprüche gerichteten Stadtgeschichte von 1756 ausdrücklich die jura titulata & antiquiora der Stadt gegenüber den Juden hervor.51 Ein bizarres Nachspiel erlebte die Frage der Leibeigenschaft mit der Geschichte über die Juden Mühl: In der Judengasse war 1407–1409 von der Stadt eine Rossmühle errichtet worden, um dort bei Belagerungen und abgegrabenem Stadtbach Getreide mahlen zu können.52 Ob ihre Errichtung einen antijüdischen Hintergrund hatte, ist unklar; sicher ist, dass die Mühle in
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Anno 1500. confirmatam, hergebracht hat [...], die Juden auch sich noch dato, des Raths Leibs-Angehörige unterschreiben, und alleinig unter des Raths Verspruch stehen“, Apologia der Stadt Wormbs contra Bistum Wormbs. Nach dem alten Exemplar de Anno 1695 abgedruckt und mit einem Register versehen, Worms [1761], S. 52. Rotraud Ries, Politische Kommunikation und ,Schtadlanut‘ der frühneuzeitlichen Judenschaft, in: Rolf Kießling/Peter Rauscher/Stefan Rohrbacher/Barbara Staudinger (Hgg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007 (Colloquia Augustana; 25), S. 169–189, hier S. 182 f. (hier auch die ältere Literatur). Der Vergleich ist publiziert in Wolf, Geschichte der Juden in Worms, S. 95–99. Johann Friedrich Moritz, Historisch-Diplomatische Abhandlung vom Ursprung derer Reichs-Stätte insonderheit von der allezeit unmittelbaren und weder unter Herzoglich- und Gräflich- noch unter Bischöfflich-weltlicher Jurisdiction jemahls gestandenen Freyen Reichs-Statt Worms denen offenbaren Irrthuümern und Zudringlichkeiten des Schannats in seiner Bischöfflich-Wormsischen Historie entgegen gestellet, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1756, S. 86. Vgl. auch StA Worms Abt. 1 B Nr. 2045. Stephan Wendehorst, Das gescheiterte Projekt der jüdischen Kaiserhuldigung in Worms. Symbolische imperiale Herrschaftspraxis und jüdische Teilhabe im Römisch-Deutschen Reich, in: ders./Andreas Gotzmann (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007 (Beiheft der Zeitschrift für historische Forschung; 39), S. 245–271. Vgl. zu den Wormser Rossmühlen Heribert Isele, Das Wehrwesen der Stadt Worms von seinen Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Diss. Heidelberg 1950, S. 80. Die Rossmühlen, die seit dem 13. Jahrhundert errichtet wurden, mussten auch in Friedenszeiten instand gehalten werden und sollten nach Anweisung des Rats wenigstens einmal im Jahr gezogen werden. So ist auch folgende Notiz zur Rossmühle in der Judengasse anlässlich einer Besichtigung durch städtische Baumeister im Jahr 1603 zu verstehen: „No[ta]: die rossmühl anzustellen“, StA Worms Abt. 1 B Nr. 2024/3. Erst 1702, als die militärische Notwendigkeit nicht mehr gegeben war, wurde die letzte Mühle außer Betrieb genommen. Zur Rossmühle in der Judengasse vgl. Bönnen, Jüdische Gemeinde, S. 321. Reuter, Warmaisa, S. 91, 136.
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den Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts fast nie erwähnt wird.53 Nach dem Stadtbrand von 1689 bemühte sich Samson Wertheimer um den Erwerb der Rossmühle beziehungsweise der von ihr übrig gebliebenen Brandstatt.54 Soweit bekannt, ist der Frankfurter Schulmeister und Autor Johann Jacob Schudt der erste, der in seinen 1714 publizierten Jüdischen Merckwürdigkeiten berichtet, dass die Wormser Juden, solange die Mühle bestand, verpflichtet gewesen seien, einmal im Jahr zum Zeichen ihrer „schimpfliche(n) Servitut“ an ihr zu ziehen.55 Ob die Rossmühle tatsächlich einem solchen symbolischen reenactment der Leibeigenschaft der Wormser Juden diente, erscheint allerdings fraglich, da alle bekannten Beschreibungen dieser Praxis aus der Zeit nach ihrer Zerstörung stammen. Zweifellos geben sie allerdings Auskunft über die antijüdischen Fantasien mancher Zeitgenossen (und Nachgeborenen).
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Spätestens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts befand sich direkt neben der Rossmühle das von der Judenschaft errichtete Haus zur Kette, das als Wohnhaus des Gemeinderabbiners diente, StA Worms Abt. 1 B Nr. 2042/27. Vgl. Max Levy, Ein Kapitel Wormser Finanzgeschichte, in: Vom Rhein. Monatsschrift des Altertumsvereins für die Stadt Worms 4 (1905), S. 22–24, hier S. 24: „Ich habe ein gesuch an deroselben jüngsthin umb yberlassung der in Judengassen stehenden Roßmill gethan, welches hiermit nochmahlen wiederholle, zweifle nicht, es wird mir solche vor andern zur erbauung eines der gaßen anständtigen Haußes um billigen Werth alß eine brandtstatt überlassen, worfür die paare Bezahlung zu übermachen willig bin“. Ein von Wertheimer geplanter Neubau an dieser Stelle wurde nicht verwirklicht; noch 1760 war dort nur ein „leerer Platz“. Vgl. August Weckerling, Zur Kenntnis der Stadt Worms, ihrer Gebäude und Bewohner im 17. und 18. Jahrhundert. 1. Die Judengasse, in: Vom Rhein 6 (1907), S. 13–16, 23 f., hier S. 24, Nr. 29. Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, Teil 2, VI. Buch, Caput XV, S. 263 f. Auffällig ist, dass gerade der prononciert judenfeindliche Wormser Ratsherr Seidenbender in seiner kurz nach der Stadtzerstörung entstandenen Denkschrift die Rossmühle nicht erwähnt, vgl. August Weckerling (Hg.), Johann Friedrich Seidenbender’s Vorschläge für die Wiederaufrichtung der Stadt Worms nach der Zerstörung derselben durch die Franzosen i.J. 1689, Worms 1894, S. 34–41. Genannt wird sie dagegen in einem Schreiben des Wormser Rats an die Reichsversammlung vom 9. Juli (28. Juni st.v.) 1743, in dem es heißt, die Leibeigenschaft der Wormser Juden sei durch den Recess von 1699 keinesfalls aufgehoben worden, sondern „vielmehr die Leib-Eingenschafft bloß in einen ergiebigen jährlichen Canonem für die vorher durch Ziehung der Roß-Mühle und sonnsten praestirte höchst-beschwehrliche Leibes-Dienste, und daß sie in ihren Judicial-Schrifften nicht mehr [...] Leibs-Angehörige, sondern allein unterthänig gehorsamste Juden, oder Schutz-Verwandten, oder auch Hintersassen, sich schreiben und benennen dürfften, [...] verwandelt“, zit. in: Von der durch die Judenschafft in der Reichs-Stadt Worms suchender besonderer Huldigung eines neu erwählten Römischen Kaysers, in: Europäische Staats-Cantzley (1745), S. 250–257, Zitat S. 253. 1763 fügte Georg Friedrich Meixner eine Zeichnung der „Juden Mühl“ plus Erklärung in die Zorn-Meixnerischen Chronik (sog. Gymnasialchronik, Abschrift und Fortsetzung der Zornschen Chronik durch Georg Friedrich Meixner, 1763) ein. Vgl. StA Worms Abt. 1 B Nr. 8a, Bl. 407 RS. Vgl. auch die unkritische Darstellung bei Gerd Mentgen, Der Würfelzoll und andere antijüdische Schikanen in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 22 (1995), S. 1–48, hier S. 36 f.
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Der Bischof Grundlage der bischöflichen Rechte an den Wormser Juden war ein Vertrag aus dem Jahr 1312 zwischen Bischof, Domkapitel und Judengemeinde über die Wahl und Bestätigung des Judenbischofs und des Judenrats, unter Einbeziehung von Rat und Gemeinde als Garanten.56 Der Judenrat, der nach Jüdischem Recht richten sollte, bestand demnach aus zwölf Personen, von denen der Bischof einen zum Judenbischof (hebr. hegmon parnas) auf Lebenszeit ernannte, während das Amt des Vorsitzenden selbst monatlich rotierte (hebr. parnas hachodesch). Der Judenrat ergänzte sich durch Kooptation: Wurde ein Sitz vakant, hatten die übrigen Personen nach Stimmenmehrheit innerhalb eines Vierteljahrs einen anderen achtbaren Juden zu wählen, der vom Bischof bestätigt werden musste; danach hatte dieser den gewöhnlichen Judenratseid zu leisten. Erst wenn ein Mitglied des Judenrats länger als drei Jahre lang abwesend war, verfiel das Amt, und es wurde eine Neuwahl fällig. Während der Auseinandersetzungen um die Stadtherrschaft usurpierte der Rat 1505 mit dem Einverständnis der Judenschaft auch die bischöflichen Rechte bei der Einsetzung des Judenrats, womit er sich aber nicht durchsetzen konnte.57 Damit galten die Bestimmungen des Vertrags von 1312 bis zum Ende des Alten Reichs; sie bildeten nicht nur die Basis der bischöflichen Rechte an den Juden, sondern auch einen der zentralen bischöflichen Rechtstitel in den Auseinandersetzungen um den Einfluss in der Stadt in der Frühen Neuzeit (sowie, nicht zuletzt, die Grundlage für die Autorität der Parnassim). Um eine Schmälerung seiner Rechte zu vermeiden, erhob der Bischof – zusammen mit den Herren von Dalberg, die die bischöflichen Geleitsrechte gegenüber den Juden als Lehen besaßen (dazu unten mehr) – stets Protest, sobald es von städtischer Seite zu Maßnahmen des Rats oder der Bürgerschaft gegen die Wormser Judenschaft oder auch einzelne Juden kam. So scheiterte der städtische Versuch, die Juden zu vertreiben, in den Jahren nach 1558, wie oben erläutert, maßgeblich an der bischöflichen Gegenwehr. Auch während der Bürgerunruhen von 1613–1616 und in dem Konflikt über den Beitrag der Juden zu den städtischen Kontributionen seit Mitte der 1630er Jahre ergriffen der Bischof und die Herren von Dalberg auf Seiten der Judenschaft Partei. Nicht zufällig wurde der Bischof erstmals in der kaiserlichen, von Kurfürst Anselm Kasimir entworfenen Judenordnung von 1641 an prominenter Stelle 56
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Boos, Urkundenbuch, S. 45–47, Nr. 74. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 11, Nr. 31. Vgl., auch zum Folgenden, Reuter, Warmaisa, S. 57 f. Ders., Worms, S. 1673. Bönnen, Zwischen Bischof, Reich und Kurpfalz, S. 215 f. Abraham Epstein, Der Wormser Judenrath, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 46 (1902), S. 157–170. StA Worms Abt. 1 A Nr. 653. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 305, Nr. 1143. In den beiden Rachtungen von 1519 und 1526 wurden diese Rechte dem Bischof wieder zugesprochen. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 320, Nr. 1194.
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erwähnt: Die Juden sollten, wie es in Artikel 2 heißt, keinen Anlass zum Unwillen von Bischof, Klerus, Stadt und Bürgerschaft geben.58 Neben den Gebühren, die der Bischof für die Bestätigung der Parnassim erhielt, hatte er im 16. und im 17. Jahrhundert nur geringe Einnahmen von den Juden; Prozesse mit jüdischen Beteiligten gelangten nur in seltenen Fällen an das bischöfliche Hofgericht. Inwieweit der Bischof beziehungsweise das Domstift sich überhaupt außerhalb akuter Krisenzeiten für die städtische Judenpolitik interessierten, ist aufgrund der fragmentarischen Quellenlage schwer zu beurteilen. Der Rat jedenfalls war ängstlich darauf bedacht, dem Bischof nicht mehr als nötig Einblick in sein Tun zu gewähren, wie ein Vorfall aus dem Sommer 1619 illustriert: Nachdem man den Parnassim den Entwurf der neuen städtischen, die Juden finanziell schwer belastenden Judenordnung übergeben hatte, wandten diese sich auf der Suche nach juristischem Beistand an den bischöflichen Rat Dr. Kreisbach. Dieser leitete den Entwurf ungefragt an den Bischof weiter, der wiederum umgehend dem Rat einen Beschwerdebrief schickte. Der Vorgang löste bei den Ratsherren so große Irritation aus, dass der gesamte in Worms anwesende Judenrat einbestellt wurde. Acht Parnassim wurden der Reihe nach befragt, wer dem Bischof die Judenordnung kommuniziert habe. Alle erklärten, dass die Wahl des Anwalts nur aufgrund des städtischen Termindrucks erfolgt sei, da der Rat kurzfristig eine schriftliche Antwort von ihnen verlangt habe und der sonst von der Judenschaft zu Rate gezogene Anwalt verreist sei. Beifuß zum Korb59 fügte noch hinzu, dass man dem Bischof immer die neue Judenordnung zur Kenntnis gegeben habe, weil sie ja auch diesem „gelobt und geschworen“ seien.60 Obwohl sich in der Frühen Neuzeit die Bischöfe aufgrund ihrer Interessenlage gegenüber dem Rat stets für die Wahrung der Rechte der Wormser Judenschaft einsetzten, lassen sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts Ansätze einer anders akzentuierten hochstiftischen Judenpolitik erkennen, die allerdings schon aufgrund des fehlenden Territoriums nicht sehr weit reichte.61 58 59
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Wolf, Geschichte der Juden in Worms, S. 78–94, hier S. 79. Der wohlhabende und gelehrte Parnas Beifuß zum Korb (Eljakim b. Abraham Meschullam, gen. Feiwelmann) war eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Wormser Judenschaft zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Vielfältige geschäftliche Unternehmungen und Aktivitäten für die Judenschaft sind seit 1605 belegt. Um 1635 verließ er Worms (StA Worms Abt. 1 B Nr. 2042/o.Nr.); er starb in Nikolsburg. Vgl. Abraham Berliner, Sefer Haskarat Neschamot Kehillat Warmaisa (hebr.), in: Kobez al Jad 3 (1887), S. 15. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2019/36. Ähnlich äußerten sich auch andere Parnassim. Löw zur Kante (Josef Juda Löb Oppenheim, Sohn des Frankfurter Juden Mosche zum Schwert und Schwiegersohn des Samuel Abraham Ballin zur Kante in Worms) sagte, sein Schwiegervater habe ihm berichtet, dass 1570 die Judenordnung dem Bischof vom jüdischen Rat zugestellt worden sei, „nach diesem seie es nicht noth gewesen, weil die ordnung sonderlich nicht seien geendert worden“. Im 16. und 17. Jahrhundert besaß das Hochstift fast nur Kondominatsrechte. Erst ab 1705 kam ein größerer Gebietsaustausch zustande, so dass im 18. Jahrhundert bis zum Ende des Alten Reichs ein bescheidenes, aber annähernd geschlossenes Territorium bestand. Vgl. Meinrad Schaab, Territoriale Entwicklung der Hochstifte Speyer und Worms, in:
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Am 29. Februar 1548 erließ Kaiser Karl V. in Augsburg ein Mandat gegen den Wucher der Juden „im Stifte Worms“, das sich Bischof Dietrich 1554 ausdrücklich bestätigen ließ.62 Im selben Jahr schloss der Bischof gemeinsam mit den Grafen Philipp von Nassau-Weilburg und Adolf von NassauSaarbrücken-Lahr einen Vergleich mit der Judenschaft zu Worms „wegen der wucherischen Geldgeschäfte in den Ländern der genannten Fürsten auf 8 Jahre hinaus“.63
Die Herren von Dalberg Die Kämmerer von Worms gen. von Dalberg waren ursprünglich eine bischöflich-wormsische Ministerialenfamilie, die im späteren Mittelalter verschiedene Herrschaften erwerben konnte, darunter die Herrschaft Dalberg, in deren Alleinbesitz sie seit 1400 war. In der Frühen Neuzeit bildete die Herrschaft Dalberg ein mittleres reichsritterschaftliches Territorium. In Rheinhessen bestanden drei geschlossene dalbergische Komplexe: die Herrschaften Herrnsheim (mit Abenheim) bei Worms, Heßloch und Gabsheim.64 Sehr viel deutlicher als die Wormser Bischöfe vertraten die Herren von Dalberg in ihrem Territorium eine andere Politik gegenüber den Wormser Juden als in Worms selbst, wo sie die ihnen von den Wormser Bischöfen verliehenen Geleitsrechte für die Wormser Juden ausübten. Diese Geleitsrechte lassen sich auf das 1392 erstmals urkundlich genannte Judengericht zurückführen. Von 1406 bis 1786 wurde den Herren von Dalberg „das juedengericht zu Worms und die juden zu schirmen, als das herkommen ist“, in gleichlautenden Mannlehnsbriefen von den Wormser Bischöfen immer wieder bestätigt und erneuert.65 Während der Auseinandersetzungen zwischen Bischof und Rat um die Stadtherrschaft um 1500 wurden auch die dalbergischen Geleitsrechte zum Streitobjekt, da der Rat alle obrigkeitlichen
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Willi Alter (Hg.), Pfalz-Atlas, Textband 2, S. 760–780 (zu Karte I/61), Speyer 1972, hier S. 772–775. HHStA Wiesbaden Abt. 168 a Nr. 198 und 210 (www.hadis.hessen.de ). HHStA Wiesbaden Abt. 168 a Nr. 211 (www.hadis.hessen.de). Vgl. J. Friedrich Battenberg, Die Gerichtsverfassung in der Herrschaft Dalberg in der frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur Organisation eines reichsritterschaftlichen Territoriums, in: Archiv für Hessische Geschichte NF 40 (1982), S. 9–95. Ders., Die Entwicklung der Gerichtsverfassung in der Herrschaft Dalberg im 16. und 17. Jahrhundert, in: Regionale Amts- und Verwaltungsstrukturen im rheinhessisch-pfälzischen Raum (14. bis 18. Jahrhundert), Stuttgart 1984 (Geschichtliche Landeskunde; 25), S. 131–172. Ders., Die reichsritterschaftliche Herrschaft Dalberg und die Juden. Reflexionen zur Ausübung des Judenschutzes vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, in: Kurt Andermann (Hg.), Ritteradel im Alten Reich. Die Kämmerer von Worms genannt von Dalberg, Epfendorf 2009, S. 155–184. Battenberg, Quellen, S. 149 f., Nr. 543. Vgl., auch zum Folgenden, Battenberg, Reichritterschaftliche Herrschaft Dalberg.
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Rechte in der Stadt in seiner Hand konzentrieren wollte. In einem Mandat an die Judenschaft bestätigte im April 1508 König Maximilian I. die dalbergischen Rechte jedoch ausdrücklich, nämlich „das sy euch, wann ir gestorben iuden begraben, auch hochzeyt oder process halten wollen, durch ir diener schirmen und glaiten.“66 Doch erst 1519 wurden in einer gütlichen Einigung zwischen dem Wormser Rat und den Herren von Dalberg letzteren die weitere Ausübung des Geleits zugestanden – und damit der Rechtszustand erreicht, der bis zum Ende des Alten Reichs Bestand haben sollte.67 1563 wurden die dalbergischen Geleitsrechte unter Festlegung der Gebühren in einem Vertrag zwischen den Herren von Dalberg und der Wormser Judenschaft erneuert. Demnach hatte jeder Jude und jede Jüdin für das Geleit bei der Eheschließung einen halben Gulden, ein Auswärtiger einen ganzen Gulden zu zahlen. Analog wurde für das Geleit eines Wormser Verstorbenen zum Friedhof ein halber Gulden, für das eines Auswärtigen ein Gulden verlangt.68 So geringfügig die dalbergischen Geleitsrechte an und für sich auch waren – für den auf die Wahrung seiner Autorität bedachten Rat bedeuteten sie ein latentes Ärgernis. Während des Dreißigjährigen Kriegs kam es im Februar 1632 anlässlich der Beerdigung von Tamar Ester, Tochter des Gabriel aus Crailsheim und Ehefrau des Parnas Seklen Neiburg zur Büchs, zu einem anscheinend durchaus gewollten Eklat. Da die schwedische Besatzung die Martinspforte, das Stadttor am westlichen Ausgang der Judengasse, geschlossen hatte, der normale Weg zum Friedhof durch die Vorstadt also blockiert war, wollten die dalbergischen Knechte den Leichenzug durch die innere Stadt führen. Dies ließen die Ratsherren aber nicht zu, mit dem Ergebnis, dass die Tote 66
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Zit. nach Battenberg, Reichsritterschaftliche Herrschaft Dalberg. Als das Mandat im Mai 1508 der Judenschaft übermittelt werden sollte, erhoben zwei ihrer Vertreter Widerspruch, da ihnen der Rat verboten habe, ohne sein Wissen und seine Zustimmung Mandate von außerhalb entgegenzunehmen. Daraufhin heftete der mit der Zustellung beauftragte kaiserliche Notar eine Kopie des Schriftstücks an die Wormser Synagoge, vgl. Battenberg, Quellen, S. 307 f., Nr. 1152–1154. StA Worms At. 1 B Nr. 507. StA Worms Abt. 1 B Nr. 516/6, S. 102–105. Zur städtischen Sicht auf die Dalbergischen Rechte im 18. Jahrhundert vgl. Moritz, Historisch-Diplomatische Abhandlung, Bd. 2, S. 84: „Gedachte Beneficia sind nichts anders, als Überbleibsale von derer ehemaligen Statt-Cämmerer ihrem Amt, welche sie durch Decreta Caesarea auf der Familie zu erhalten gewust, als die Statt solche einzuziehen vorhabens gewesen.“ Battenberg, Quellen, S. 368 f., Nr. 1377. Die Kosten für das Geleit bei den Begräbnissen rechneten die Wohltätigkeitsvorsteher mit dem dalbergischen Keller in Worms ab; danach forderten sie es von den Angehörigen ein, wie verschiedentlich aus Einträgen im Grünen Buch, dem Pinkas (Protokollbuch) der Wohltätigkeitsvorsteher, hervorgeht. Das Grüne Buch wurde von 1561 bis 1811 von den Wohltätigkeitsvorstehern der Wormser jüdischen Gemeinde als Protokollbuch benutzt. Es gehörte im frühen 20. Jahrhundert zu den Beständen des Wormser jüdischen Gemeindearchivs. Das Original ist verschollen; vermutlich verbrannte es bei der Zerstörung des jüdischen Museums während des Pogroms am 10. November 1938. Es existiert aber noch ein ausführliches Exzerpt des Grünen Buchs, das in den 1930er Jahren von dem jüdischen Lehrer und Historiker Berthold Rosenthal (1875–1957) angefertigt wurde und heute im Archiv des Leo Baeck Institute in New York aufbewahrt wird.
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zunächst unbestattet bleiben musste. Erst nachdem der Gemeindevorsteher Beifuß zum Korb erklärt hatte, die Leibeigenschaft der Wormser Juden könne ja nicht durch die Rechte der Dalberger infrage gestellt werden, ließen sich die Ratsherren überreden, das Geleit des Leichenzugs durch die innere Stadt zu erlauben.69 Während sich die Herren von Dalberg in Worms für die Rechte der Juden – beziehungsweise für ihre Rechte an den Juden – engagierten, versuchten sie in ihrem eigenen Herrschaftsbereich, Kreditgeschäfte derselben Juden mit ihren Untertanen möglichst genau zu kontrollieren und gegebenenfalls zu unterbinden. 1531 erwirkte Wolf IV., der Schwarze, von Dalberg, von Kaiser Karl V. ein Gerichtsstands-Privileg, wonach dalbergische Untertanen nicht mehr an fremde Gerichte wie das Hofgericht Rottweil und, in erster Instanz, das Reichskammergericht vorgeladen werden durften, sondern alle Klagen an die Kämmerer selbst gerichtet werden mussten.70 Dies bedeutete gerade für jüdische Kreditgeber eine empfindliche Einschränkung ihrer Möglichkeiten Schulden einzuklagen.71 In dem schon erwähnten Vergleich von 1563 zwischen den Herren von Dalberg und der Wormser Judenschaft musste letztere zustimmen, dass kein Wormser Jude in Zukunft einem Untertan der Kämmerer etwas leihen sollte; darüber hinaus sollten Marktkäufe in bar abgewickelt werden.72 Dass sich die Wormser Juden auf diese ungünstigen Bestimmungen einließen, lag offenkundig an ihrer bedrängten Lage aufgrund der städtischen Vertreibungsabsicht, was die Dalberger – trotz ihrer juristischen Parteinahme für die Wormser Judenschaft – sehr pragmatisch für ihre Interessen ausnutzten.73 Allerdings hat der Vertrag von 1563 die Kreditbeziehungen von Wormser Juden mit dalbergischen Untertanen wohl nicht für lange Zeit unterbunden, wie spätere Klagen der Herren von Dalberg über „wucherliche Finanzgeschäfte“ der Wormser Juden vermuten lassen.74
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Vgl. Grünes Buch (Exzerpt Rosenthal), Bl. 107b. David Kaufmann, Sefer hamiluim hosafot wetikkunim lesefer haskarat neschamot warmaisa (hebr.), in: Kobez al Jad 5 (1893), S. 12. Vgl. Battenberg, Gerichtsverfassung, S. 18 f. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 353–355, Nr. 1318–21 und 1324 zu dem Fall des Wolf Lauer aus dem dalbergischen Dorf Abenheim (um 1555). Battenberg, Quellen, S. 368 f., Nr. 1377. Battenberg, Reichritterschaftliche Herrschaft Dalberg. Vgl. auch Wilfried Braunn (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Juden bis zum Jahr 1600 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und im Staatsarchiv Ludwigsburg, Stuttgart 1982, S. 205: In einem Reichskammergerichtsprozess von Eberhard und Wolf Kämmerer von Worms gen. von Dalberg gegen Isaac „zur Trummen, später zu der Wag in Worms“ (1558 ff.) betr. eine Schuldsache wurde von den Klägern ein Arrest auf das Vermögen des Beklagten gefordert, weil der Wormser Judenschaft die Ausweisung angekündigt und der Beklagte daher für flüchtig zu halten sei. StA Worms Abt. 159 U 59/44. Vgl. HStAD Best. B 15 Nr. NACHWEIS (www.hadis. hessen.de).
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Die Kurpfalz Im Gegensatz zum Wormser Rat, zum Bischof und zu den Herren von Dalberg basierte die Politik der Kurpfalz gegenüber den Wormser Juden nicht auf alten Rechten oder altem Herkommen, sondern auf ihren politischen und ökonomischen Machtpositionen. Seit der Vertreibung von 1390 duldete die Kurpfalz keine Juden in ihrem Territorium, allerdings mit bestimmten Ausnahmen. So lebte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine größere Zahl jüdischer Familien verstreut in kurpfälzischen Ortschaften, aus denen sie seit der Mitte des 16. Jahrhunderts jedoch wieder vertrieben wurden.75 Gegenüber den Wormser Juden spielte die Kurpfalz in der Frühen Neuzeit eine ambivalente Rolle. Insbesondere durch die Ausübung oder Verweigerung ihrer Geleitsrechte konnte sie Einfluss auf die Handlungsspielräume der Wormser Juden nehmen, zumal die pfälzische Geleitszuständigkeit über die Grenzen des zersplitterten Territoriums hinausreichte.76 Mitte des 16. Jahrhunderts mussten alle Juden, die in oder durch die Pfalz reisen wollten, ihr Geleit bei einem kurpfälzischen Amtmann in Worms erwerben.77 1543 legte die Wormser Judenschaft beim Rat gegen eine neue Ordnung Protest ein, die „ausländischen“ Juden die geschäftliche Tätigkeit in Worms verbot. Man fürchte, so die Verfasser des Schreibens, dass die fremden Juden annehmen würden, die Wormser Juden hätten diese Ordnung initiiert. Sie könnten daher ihre Obrigkeiten veranlassen, ihrerseits gegen die Wormser vorzugehen und ihnen den Handel in ihren Herrschaften zu verbieten. Besonders aber habe man vor der Ungnade des pfälzischen Kurfürsten, „unserm gnedigsten hern“, Angst. In Worms sitze der kurpfälzische „Zoller“, bei dem alle Juden, die in oder durch die Pfalz reisen wollten, ihr Geleit nehmen müssten. Diese Einnahme aber würde wegfallen („durch welches dan hochgedachtem unserm gnedigsten hern dem Churf. am gleit auch abgon wurdet“), wenn die fremden Juden Worms nicht mehr betreten dürften.78 Mit dem Ende der Tolerierung jüdischer Ansiedlung intensivierte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die judenfeindliche Politik der Kurpfalz wieder. Eine Schlüsselrolle spielte hierbei Herzog Ottheinrich, der designierte Nachfolger von Kurfürst Friedrich II. (1544–1556), der 1552/53 75
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Zur Vertreibung 1390: Franz-Josef Ziwes, Territoriale Judenvertreibungen im Südwesten und Süden Deutschlands im 14. und 15. Jahrhundert, in: Burgard/Haverkamp/Mentgen, Judenvertreibungen, S. 165–187, hier S. 168–173. Zum 16. Jahrhundert: Löwenstein, Kurpfalz, S. 36–54. Stefan Lang, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492–1650), Ostfildern 2008, S. 100, 192 f. Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 1, S. 202–205. Die kurpfälzische Geleitstation in Worms war der Schönauer Hof; Geleitsstreitigkeiten gab es nicht nur wegen der Juden, vgl. Ernst Merkel, Kurpfalz und Worms am Beispiel der nachbarschaftlichen Beziehungen zu Frankenthal, in: Der Wormsgau 14 (1982/86), S. 31–39, hier S. 32–34. StA Worms Abt. 1 B Nr. 2019/23.
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alle Juden aus seinem Territorium Pfalz-Neuburg austreiben ließ.79 Mit dem Übergang der Kurwürde von Friedrich auf seinen Neffen Ottheinrich verbindet sich eine rätselhafte Episode, in die auch ein Wormser Jude verstrickt war.80 Kurz vor dem Tod des alten Kurfürsten (er starb am 26. Februar 1556) war – so die briefliche Mitteilung der kurpfälzischen Räte an Ottheinrich – im Januar 1556 ein Jude namens Lazarus aus Heidelberg in Alzey erschienen, wo der Kurfürst krank darnieder lag. Dieser habe dem Hofprediger Ottmar Stab erklärt, „daß er seit etlichen Tagen und Nächten seltsame Phantasien und Träume habe, die ihn so beunruhigten, daß er weder essen, trinken noch schlafen können“81 , und ihm dann einen fantastischen Plan vorgetragen: Da zu erwarten sei, dass Herzog Ottheinrich die Judenschaft nicht weiter dulden werde, solle die Kurfürstin noch einige Zeit an der Regierung bleiben; dann könne der König von Frankreich heraufziehen und die Kurfürstenwürde seinem zukünftigen Schwiegersohn (und Neffen der Kurfürstin) Karl von Lothringen übergeben. Herzog Ottheinrich und die anderen Prätendenten werde man sicher mit Geld abfinden können. Wie kaum anders zu erwarten, wurde daraus nichts. Lazarus wurde verhaftet, unter der Folter nannte er vier weitere Juden als Mitwisser, darunter Lemlin von Worms, Jakob in Münster an der Nahe und Josef in Godramstein sowie als eigentlichen Anstifter Rabbi Schmul von Landau. Im Folgenden wurde auch Lemlin inhaftiert, im Gefängnis versuchte er sich umzubringen. Wie die Sache ausging, ist nicht überliefert; neben der diesseitig-realistischen Furcht vor den Auswirkungen der judenfeindlichen Politik Ottheinrichs (1556–1559) mögen auch messianische Spekulationen Lazarus und seine Genossen zu ihrem Vorgehen motiviert haben. Die veränderte Politik der Kurpfalz bekamen in besonderem Maße die Wormser Juden zu spüren, denen zur Unterstützung der städtischen Vertreibungspläne das kurpfälzische Geleit zunehmend verweigert oder zumindest erschwert wurde.82 In diesen Zusammenhang gehört auch die oben beschriebene Einberufung der Wormser Judenschaft am 15. Februar 1572. Im Rückblick legte Pfalzgraf Johann Casimir, ein Sohn von Kurfürst Friedrich III. (1559–1576), im Jahr 1577 dar, wie unter Kurfürst Friedrich II. (1544–1556) und seinen Nachfolgern das Geleit wiederholt untersagt, dann aber wieder gestattet worden sei. So habe sein Vater zur Unterstützung der Stadt Worms 79 80
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Wilhelm Volkert, Die Juden im Fürstentum Pfalz-Neuburg, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 26 (1963), S. 560–605, hier S. 576–579. Vgl. zum Folgenden Löwenstein, Kurpfalz, S. 55. Friedrich von Weech, Zur Geschichte des Kurfürsten Ottheinrich, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 25 (1873), S. 236–279. Julian Landsberger, Politische Bestrebungen einiger Juden der Kurpfalz in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 32 (1883), S. 379–384. von Weech, Geschichte, S. 242. So teilte Lemlin von Worms, jetzt von Hechingen, 1560 dem Wormser Rat mit, dass er von der Kurpfalz kein Geleit erhalten habe, um den Konflikt mit seinem Schuldner Werner Schadeck von Neuleiningen vor Ort zu lösen, StA Worms Abt. 1 B Nr. 2019/25b.
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das Geleit für mehrere Jahre ganz aufgehoben. Nachdem aber der Bischof die Oberhand behalten, der Rat in seinem Eifer nachgelassen und man überdies gesehen habe, dass die Juden auch ohne pfälzisches Geleit nach Frankfurt und anderswohin gelangten, habe er das Geleit wieder gestattet.83 Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts bahnte sich ein längerfristiger Wandel in der Geleitsfrage an. Aus einem Mittel der Politik, das vor allem dem Fernhalten von Juden aus dem kurpfälzischen Herrschaftsbereich zu dienen hatte, wurde nun (wieder) ein fiskalisches Instrument, mit dem die Staatskasse regelmäßige Einnahmen erzielen konnte. 1598 sprach Kurfürst Friedrich IV. den Juden auf zwei Jahre freies Geleit in der Kurpfalz zu, wofür sie jährlich pauschal 1.200 Gulden zu entrichten hatten. Sie durften allerdings nicht länger als einen Tag an einem Ort bleiben, keinen Wucher treiben oder Märkte besuchen. Überall, wo sie hinkamen, mussten sie sich von pfälzischen Amtleuten einen Geleitsschein ausstellen lassen, für den sie pro Person einen Batzen zu entrichten hatten.84 Vielleicht schon zu dieser Zeit, spätestens 1618 gelang es der Wormser Judenschaft, das kurpfälzische Geleit zu pachten und unter anderem durch Weiterverkauf an benachbarte Judenschaften zu vermarkten.85 Nur kurze Zeit später sorgte der pfälzische Kurfürst Friedrich V., der während der Wormser Bürgerunruhen eine so wichtige Rolle bei der Befriedung des Konflikts und der Rückführung der vertriebenen Juden und Jüdinnen gespielt hatte, für eine dramatische Verschiebung der Mächtekonstellationen im Wormser Umland. Mit der Annahme der böhmischen Königskrone (1619) brachte er seit 1620 den Krieg mit dem habsburgischen Kaiser Ferdinand II. und der katholischen Liga in seine Kernlande.86 Aufgrund der exponierten Lage der Stadt waren damit auch die Bewohner von Worms schon frühzeitig von den Auswirkungen des Dreißigjährigen Kriegs betroffen. Um bei Reisen durch die Kurpfalz einen gewissen Schutz vor den Kriegsleuten zu erlangen, wandte sich die Wormser Judenschaft daher um 1621 an den Kaiser. Dieser ließ seine Feldherren anweisen, die pfälzischen und andere Juden zu schützen.87 In späteren Jahren mussten die Wormser Juden jährlich Geleitbriefe von den spanischen Besatzungsbehörden erwerben, wie der Wormser Gemeindediener Juspa Schammes in seinem Minhagim-Buch berichtet.88 Da die Ausgaben da83 84 85 86 87 88
Löwenstein, Kurpfalz, S. 55–60. Vgl. auch Ernst Merkel, Juden in Frankenthal 1623–1689, in: Frankenthal – einst und jetzt, Heft 1/1982, S. 15–18, hier S. 15. Löwenstein, Kurpfalz, S. 62–68. Ebd., S. 69–72. Vgl., auch zum Folgenden, Ursula Reuter, Die Wormser Judenschaft im Dreißigjährigen Krieg, in: Der Wormsgau 26 (2008), S. 7–24. HHStA Wien, RHR, Schutzbriefe, Konv. 7, Karton H–J, Fasz. 7, Juden A, Bl. 19–26. Diese Angabe bezieht sich vermutlich auf die Zeit der zweiten spanischen Besatzung der linksrheinischen Kurpfalz ab etwa 1637, vgl. Anna Egler, Die Spanier in der linksrheinischen Pfalz 1620–1632. Invasion, Verwaltung, Rekatholisierung, Mainz 1971, S. 179– 182. Anfang der 1640er Jahre waren Frankenthal, Oppenheim, Alzey und Kreuznach in spanischen Händen. In den drei letztgenannten Städten verdrängten 1644 französische Soldaten die Spanier; Frankenthal blieb dagegen bis 1652 spanisch besetzt.
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für sehr hoch waren, ernannte die Wormser Judenschaft eigens zwei Gabbaim (Aufseher) für das Geleit, die von allen Reisenden einen Anteil an den Geleitskosten zu erheben hatten. Diese Ämter waren so unbeliebt, dass sie jährlich neu besetzt werden mussten.89 Kein Wunder also, dass der Wormser Rabbiner Moses Samson Bacharach anlässlich der endgültigen Räumung Frankenthals durch spanische Truppen im Mai 1652 ein Lobgedicht verfasste.90 Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs und der Wiedererlangung der Kurwürde durch Karl I. Ludwig, den Sohn Friedrichs V., kam es zu einer Erneuerung der lukrativen Pacht des kurpfälzischen Geleits durch die Wormser Judenschaft, allerdings unter stetig schwieriger werdenden Bedingungen. Nach 1689 ging die Pacht der Taschengeleite an jüdische Einzelpersonen außerhalb von Worms über.91
Der Kaiser Trotz der weitgehenden Abgabe des Judenregals an die Territorialherrschaften und die verstärkte Einbeziehung der Juden in deren Untertanenverbände erhoben die Kaiser des 16. und 17. Jahrhunderts prinzipiell den Anspruch, oberste Schutzherren aller Juden im Reich zu sein.
„Die Zuordnung der Juden zu Kaiser und Reich erfolgte in der Frühen Neuzeit im Wesentlichen über den Anspruch auf eine allein dem Kaiser zustehende Judensteuer (,Krönungssteuer‘ und ,Goldener Opferpfennig‘), die Nutzung der Reichsgerichte durch Juden, die Berufung auf die prinzipielle Entscheidungskompetenz des Kaisers über den weiteren Verbleib der Juden im Reich und über das kaiserliche Privilegienrecht, auch wenn das Reichsoberhaupt seinen Zugriff auf die Juden – wie zum Beispiel im Fall der Besteuerung – oft nicht durchsetzen konnte.“92
Am engsten war die Bindung der Juden und Judenschaften an den Kaiser in den kaisernahen Regionen wie den Reichsstädten; so hatten auch die Kaiser 89
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Benjamin Salomon Hamburger u. a. (Bearb.), Wormser Minhagbuch des R. Jousep (Juspa) Schammes. Nach Handschriften des Verfassers zum ersten Male vollständig herausgegeben, mit Ergänzungen von Rabbiner Jair Chajim Bacharach, Oberrabbiner zu Worms (hebr.), 2 Bände, Jerusalem 1992, hier Bd. 2, S. 155 f. Vgl. Shlomo Eidelberg, Das Minhagbuch von Juspa Schammes, in: Der Wormsgau 14 (1982/86), S. 21–30, hier S. 26. Vgl. Löwenstein, Kurpfalz, S. 73. Das Gedicht trägt als Akrostichon den Namen von R. Moses Samson Bacharach. Erst 1650 verließen die letzten französischen und schwedischen Truppen Worms; weitere zwei Jahre später zog die spanische Garnison aus Frankenthal ab. Auch Juspa Schammes erwähnt den Abzug der Spanier aus Frankenthal in einer ausführlichen Notiz, vgl. Reuter, Judenschaft, S. 24. Vgl. Löwenstein, Kurpfalz, S. 72–75 und 98. Reuter, Warmaisa, S. 120 f. Samson Rothschild, Die Abgaben und die Schuldenlast der Wormser jüdischen Gemeinde 1563–1854, o.O. o.J. (1924), S. 4. H. E. Ullmann, Mittheilungen zur Geschichte der israelitischen Gemeinde dahier (aus dem israelitischen Gemeindebuch von 1546–1798), in: Mitteilungen an die Mitglieder des Vereins für Geschichte und Altertumskunde in Frankfurt a.M. 5 (1874–79) (= N.F. Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 5), S. 103–113, hier S. 104–106. Staudinger, Ritualmord und Schuldklage, S. 48.
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nach der Donation von 1348/49 zu keiner Zeit gänzlich auf ihre Rechte an den Wormser Juden verzichtet.93 Umgekehrt konnte die Stadt Worms schon aufgrund der Tatsache, dass sie auf Kaiser und Reich als Garanten ihrer reichsstädtischen Freiheit angewiesen war, ihre Judenpolitik nicht gegen den Kaiser durchsetzen – trotz aller Ansprüche auf vollständige Verfügungsgewalt. Im 16. und 17. Jahrhundert waren der Kaiser sowie die Institutionen von Reichshofrat und Reichskammergericht die zentralen Instanzen, an die sich einzelne Wormser Juden und die Judenschaft als Kollektiv bei Konflikten und in Krisenzeiten sowie zur Bestätigung ihrer Privilegien wandten.94 Besondere Bedeutung kam dem den Juden des Reichs am 3. April 1544 auf dem Reichstag zu Speyer verliehenen Generalprivileg Karls V. zu, das diesen ihre bereits zugestandenen Freiheiten, unter anderem die freie Religionsausübung in ihren Synagogen, Reise- und Handelsfreiheit, das Recht, höhere Zinsen als Christen zu nehmen, und den Schutz vor ungerechtfertigten Ritualmordanklagen, bestätigte.95 Mindestens fünf Versionen dieses Privilegs für die Wormser Judenschaft sind erhalten, so gibt es je eine Bestätigung des Privilegs von Ferdinand II. aus dem Jahr 156296 , von Maximilian II. aus dem Jahr 1566 und von Rudolf II. aus dem Jahr 1577.97 Eine beglaubigte Abschrift der Bestätigung des Privilegs durch Kaiser Matthias vom 11. August 1612 ließ
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Adolf Kober, Die deutschen Kaiser und die Wormser Juden, in: Zum 900jährigen Bestehen der Synagoge zu Worms. Eine Erinnerungsgabe des Vorstands der Israelitischen Religionsgemeinde Worms 1934 (Sonderheft der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland; 5 [1935]), S. 54–71, hier S. 59–64. Vgl. zur kaiserlichen Privilegienpolitik J. Friedrich Battenberg, Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hgg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997, S. 139–190, hier S. 160–165. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 343, Nr. 1285. StA Worms Abt. 1 A Nr. 796. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 365, Nr. 1364. Auch Mosse von Orb ließ für seinen Schwagers Abraham zum Bock, der wegen eines Ritualmordverdachts 1563/64 inhaftiert wurde, eine beglaubigte Abschrift des Privilegs anfertigen, StA Worms Abt. 1 B Nr. 2030, S. 212–242. Zu der Affäre vgl. Ronnie Po-Chia Hsia, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven/London 1988, S. 164–196. J. Friedrich Battenberg, Die Ritualmordprozesse gegen Juden in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Verfahren und Rechtsschutz, in: Rainer Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigungen gegen Juden, Berlin 1993, S. 95– 132, hier S. 123–129. StA Worms, Bestand Jüdisches Gemeindearchiv A 3 und 2d. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 375, Nr. 1406. Moritz Stern, Ein Copialbuch der jüdischen Gemeinde zu Worms, in: Zeitschrift für die Geschichte des Judentums in Deutschland 1 (1886), S. 277–280. Das Archiv der jüdischen Gemeinde Worms befindet sich seit 1957 in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Die im Stadtarchiv Worms vorhandenen Mikrofilmaufnahmen des Archivs sind seit 2004 auch in digitalisierter Form verfügbar. Zur Überlieferungsgeschichte siehe Gerold Bönnen, Beschlagnahmt, geborgen, ausgeliefert. Zum Schicksal des Wormser jüdischen Gemeindearchivs 1938–1957, in: Robert Kretzschmar (Red.), Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart; Essen 2007, S. 101–115.
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sich die Wormser Judenschaft 1615 anfertigen.98 1663 wurde ein Transumpt der Privilegien von 1544, 1551 und 1612 durch Kaiser Leopold I. zugunsten der Juden in Worms ausgestellt.99 Zwar bildeten Judensteuern in der Frühen Neuzeit „kein zentrales Thema kaiserlicher Finanzpolitik“, doch gab es im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder punktuelle Bemühungen, den kaiserlichen Anspruch auf eine regelmäßige Besteuerung der Juden im Heiligen Römischen Reich durchzusetzen. In der Praxis hatten die Ansprüche auf reichsweite Steuern allerdings schon seit dem späten Mittelalter immer weniger Erfolg. Daher konzentrierte man sich bei den in unregelmäßigen Abständen unternommenen Steuererhebungen in der Regel auf die kaisernahen Regionen – wobei die Judenschaften in Frankfurt und Worms fast immer an erster Stelle standen.100 Im frühen 16. Jahrhundert griff Kaiser Karl V. zudem noch einmal zum einem besonderen Mittel, das zuletzt seine Vorgänger im 15. Jahrhundert angewandt hatten, um die kaiserliche Steuerpolitik zu befördern: die Ernennung eines Reichsrabbiners.101 Inwieweit der auf dem Wormser Reichstag 1521 zum „generalraby uber all raby der obberirten Judischheyt im heiligen reich“102 ernannte Wormser Rabbiner Samuel ben Elieser Mise(a) (gest. 1543) den kaiserlichen Erwartungen gerecht wurde, ist aufgrund der fragmentarischen Quellensituation schwer zu sagen. Zweifellos stand er, was die Vertretung der jüdischen Interessen gegenüber Kaiser und Reich anging, im Schatten von Josel von Rosheim, doch genoss er hohes Ansehen in der Judenschaft des Reichs. Sein Nachfolger in diesem Amt war ebenfalls ein Wormser Rabbiner, Jacob ben Chajjim (gest. um 1574) – jener Jacob Rabj, der 1572 unerwünschten Besuch von den kurpfälzischen Amtleuten bekam. Obwohl R. Samuel Mise(a) schon 1543 starb, wurde R. Jacob ben Chajjim erst 1559 von Kaiser Ferdinand II. ernannt, und zwar auf ausdrückliche Bitten der Gesandten der Gemeinen Judenschaft des Reichs. Als seine Aufgabe wurde nun nicht mehr die Erhe98 99
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StA Worms Abt. 1 A Nr. 884. Vgl. Battenberg, Quellen, S. 441, Nr. 1661. StA Worms Abt. 1 A Nr. 1016a. Selbstverständlich kamen auch einzelne Personen bzw. Familien aus Worms in den Genuss kaiserlicher Schutzbriefe, vgl. dazu die Einzelnachweise in Germania Judaica IV (in Vorbereitung). Vgl., mit zahlreichen Beispielen, Peter Rauscher/Barbara Staudinger, Widerspenstige Kammerknechte. Die kaiserlichen Maßnahmen zur Erhebung von ,Kronsteuer‘ und ,Goldenem Opferpfennig‘ in der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas 14 (2004), Heft 2, S. 313–363, Zitat S. 314. Vgl., auch zum Folgenden, Stern, Wormser Reichsrabbiner. Yacov Guggenheim, A sui paribus et non aliis iudicentur. Jüdische Gerichtsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christliche Herrschaft und die obersten rabi gemeiner Judenschafft im heilgen Reich, in: Cluse/ Haverkamp/Yuval, Jüdische Gemeinden, S. 405–439, hier S. 421–424. Ries, Herausforderungen, S. 100–103. Chawa Fraenkel-Goldschmidt (Hg.), The Historical Writings of Joseph of Rosheim. Leader of Jewry in Early Modern Germany, Leiden 2006, S. 135– 137. Siehe zu Samuel Mise(a)s Biographie auch Kaufmann, R. Jair Chajjim Bacharach, S. 5. Stern, Wormser Reichsrabbiner, S. 1.
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bung kollektiver Steuern, sondern die Verhütung von Streitigkeiten zwischen Juden beziehungsweise zwischen Juden und Christen definiert. Auch wenn ihm dies nicht immer gelang, erfreute er sich, wie sein Vorgänger, im Großen und Ganzen großer Reputation unter den Juden im Reich.103 Mit seinem Tod aber erlosch das Amt des Reichsrabbiners, das angesichts der fortschreitenden Territorialisierung und der zunehmenden Organisationsvielfalt (und Interessendivergenz) der frühneuzeitlichen Judenschaft im Alten Reich keinen Platz mehr hatte. Abgesehen von den periodisch erhobenen Steuerforderungen war die kaiserliche Politik bezüglich der Wormser Judenschaft im Allgemeinen nicht initiativ, sondern reaktiv. Der auf Vorschlag des Kölner Kurfürsten Ernst von Bayern 1606 von Kaiser Rudolf II. eröffnete Hochverratsprozess gegen die Judenschaft des Reichs, in dessen Schusslinie auch die Wormser Juden gerieten104 , blieb die große Ausnahme. Als probates Mittel kaiserlicher Politik zur Lösung von Konflikten vor Ort galt die Delegation an Kommissionen, da keine durchsetzungsfähige kaiserliche Exekutivgewalt im Reich existierte.105 Doch hing der Erfolg der Kommissionen, wie gesehen, nicht nur von dem Verhandlungsgeschick und der Durchsetzungsfähigkeit der Kommissare ab, sondern auch von der Bereitschaft der Konfliktparteien, sich überhaupt auf sie einzulassen. Mit diesen Einschränkungen aber erwies sich das kaiserliche Wohlwollen gegenüber der Wormser Judenschaft – aus wohlverstandenen politischen wie fiskalischen Interessen106 – als wichtige stabilisierende Konstante ihrer Existenz in der Frühen Neuzeit.
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Vgl. zu seiner Rolle in dem Streit zwischen Simon Günzburg und Nathan Schotten bzw. den schwäbischen und den Frankfurter Rabbinen Stefan Rohrbacher, Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hgg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999, S. 192– 219. Lang, Ausgrenzung, S. 235–257. Siehe oben. Bei den Kommissaren handelte es sich zumeist um benachbarte Reichsstände, die (bzw. ihre Vertreter) aufgrund ihrer Vertrautheit mit den lokalen bzw. regionalen Gegebenheiten tätig wurden und, im Idealfall, dem Kaiser ein für alle Seiten zustimmungsfähiges Ergebnis vorlegen konnten. Vgl. zur Funktionsweise der Kommissionen allgemein Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576), Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz , Universalgeschichte; 214: Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches; 18). Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657), Köln u. a. 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 38). Zur projüdischen kaiserlichen Politik im Dreißigjährigen Krieg vgl. Jonathan Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism, 1550–1750, London, Portland/Oregon 3 1998, S. 72–86, speziell zu Worms S. 85. Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: ders./Michael Graetz, Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780, München 1996, S. 85–247, hier S. 97–100.
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Resümee Zum Abschluss möchte ich noch einmal einen Blick auf die Geschichte der Wormser Juden und ihrer Schutzherren in der Frühen Neuzeit werfen – diesmal jedoch aus der Perspektive der Wormser Judenschaft als Akteur in vielgestaltigen politischen Kommunikationsprozessen.107 Zunächst gilt es, eine Selbstverständlichkeit zu betonen, die jedoch angesichts der ungleichmäßigen Quellenüberlieferung leicht aus den Blick geraten kann: Die großen Konflikte, die hier im Mittelpunkt der Darstellung standen, waren nicht der Normalfall. ,Normal‘ war das relativ friedliche und unspektakuläre alltägliche Miteinander von Minderheit und Mehrheit. Für die alltäglichen Probleme und Konflikte der jüdischen und christlichen Bevölkerung waren der Rat und dessen Amtsträger zuständig, die als Vertreter der städtischen Obrigkeit ständig vor Ort präsent waren. Die Kommunikation der Judenschaft mit dem Rat erfolgte zum einen durch direkte mündliche Ansprache, wobei persönliche Beziehungen und häufig auch Abhängigkeiten zwischen den Gesprächspartnern zum Tragen kamen.108 Auf einer stärker formalisierten Ebene spielten Befragungen, zu denen Vertreter der Judenschaft oder bestimmte Individuen vorgeladen wurden, sowie schriftliche Eingaben und Supplikationen eine wichtige Rolle, so z. B. bei den Verhandlungen über die städtischen Judenordnungen, die Aufnahme fremder Juden oder auch den baulichen Zustand der Häuser in der Judengasse. Über Form und Frequenz der mündlichen und schriftlichen Kommunikation zwischen der Judenschaft und dem Bischof beziehungsweise der bischöflichen Bürokratie sowie den Herren von Dalberg ist aufgrund der Quellensituation wenig bekannt. Vermutlich war sie im Alltag weitaus weniger intensiv als die mit dem Wormser Rat, doch bestanden auch hier offensichtlich vielfältige persönliche, in der Regel auf ökonomischen Interessen und Beziehungen basierende Netzwerke, die im Notfall aktiviert werden konnten. Ein für die Beziehung zwischen bischöflichem Schutzherr und Judenschaft sowie für die innere Organisation der jüdischen Gemeinde zentrales politisches Ritual fand zudem – unter Einschluss zumindest der jüdischen Öffentlichkeit – im bischöflichen Herrschaftsbereich fand: die Zeremonie, in der die neugewählten Parnassim vor dem Bischof beziehungsweise seinem Vertreter ihren seit dem Vertrag von 1312 vorgeschriebenen Amtseid ablegten.109 107
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Ries, Politische Kommunikation. Christopher R. Friedrichs, Jews in the Imperial Cities. A Political Perspective, in: Ronnie Po-Chia Hsia/Hartmut Lehmann (Hgg.), In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany, Washington/Cambridge 1995, S. 275–288. Nicht von ungefähr forderte der judenfeindliche Ratsherr Seidenbender in seiner nach der Stadtzerstörung entstandenen Denkschrift, man müsse den Ratspersonen nachdrücklich bedeuten, dass sie sich aller Gemeinschaft mit den Juden zu enthalten hätten, vgl. Weckerling, Johann Friedrich Seidenbender’s Vorschläge, S. 35. Epstein, Der Wormser Judenrath, S. 165 f.
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Im Gegensatz zu den bisher Genannten kommunizierten die Vertreter der Kurpfalz mit der Wormser Judenschaft beziehungsweise ihren Vertretern im Regelfall nicht in schriftlicher Form – entsprechend der indirekten Einflussnahme der Kurpfalz auf die Geschicke der Wormser Juden. In dem Konflikt über die Versammlung in der Judengasse am 15. Februar 1572 erklärte ein kurpfälzischer Amtsträger bezeichnenderweise dem Wormser Rat, es sei des Kurfürsten unwürdig, den Juden selbst zu schreiben110 – wobei der Rat allerdings der Ansicht war, dass jegliche Kommunikation dieser Art nur über ihn zu erfolgen hatte. Dementsprechend führten die kurpfälzischen Vertreter, die sich in den Jahren 1615–1617 um die Beilegung des Wormser Bürgeraufstands bemühten, keine direkte Verhandlungen mit den Juden (im Gegensatz zu den Zünften als Vertretung der Wormser Bürger). Der Kaiser schließlich war der wichtigste ,Ansprechpartner‘ der Judenschaft nach dem Rat, doch war er (außer in Ausnahmefällen, z. B. bei Reichstagen) weit entfernt, eine direkte mündliche Kommunikation ad hoc gar nicht möglich. Die Kommunikationswege waren lang, trotz des Anschlusses der Stadt Worms an das Taxis’sche Postsystem111 , die Abläufe am Kaiserhof zeitintensiv, aus der Ferne kaum transparent und mit hohen Kosten verbunden.112 Eine wichtige Rolle spielte daher, vor allem zu Krisenzeiten, das System der Schtadlanut (Fürsprache), sei es – um nur zwei Beispiele zu nennen – durch „Gesandte der gemeinen Judenschaft deutscher Nation“ wie in der Zeit des städtischen Vertreibungsversuchs (1558–1570), sei es durch eine Delegation Wormser Gemeindeführer nach der Vertreibung 1615. Die Handlungsspielräume der Wormser Judenschaft (mutatis mutandis gilt dies auch für die anderen städtischen Gruppen in Worms) wurden durch die im Alten Reich herrschenden „constitutional realities“113 definiert. Um innerhalb dieses insgesamt erstaunlich stabilen, im Einzelnen aber labilen und störanfälligen Systems von Rechten, Privilegien, altem und neuem Herkommen erfolgreich zu agieren, war neben materiellen Ressourcen und, darauf basierend, persönlichen Beziehungsnetzen vor allem politische Kompetenz vonnöten. Dazu gehörten die Kenntnis der Zuständigkeiten und Befugnisse sowie der Stärken und Schwächen der verschiedenen Herrschaften, die Einschätzung der politischen Gegebenheiten und der Möglichkeiten, die die Reichsinstitutionen boten, und nicht zuletzt die Beherrschung der notwen110 111
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StA Worms Abt. 1 B Nr. 2042/10. Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte; 189), S. 90 f. Zur Poststation in Bobenheim, die von den Wormser Juden zumindest im 17. Jahrhundert eifrig genutzt wurde, vgl. auch StA Worms Abt. 1 B Nr. 2031/41. Ähnliches galt auch für das in Speyer domizilierende Reichskammergericht, das aber aufgrund der räumlichen Nähe für die Wormser Juden von besonderem Interesse war. Wieso sich diese in manchen Fällen an das Reichskammergericht, in anderen an den Reichshofrat wandten, ist eine Frage, die noch einer genaueren Analyse bedarf. Friedrichs, Anti-Jewish Politics, S. 152.
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digen Etikette – Eigenschaften, die es der Wormser Judenschaft im 16. und 17. Jahrhundert ermöglichten, ihren Status in der Stadt Worms und darüber hinaus zu festigen.
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Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal zwischen Reich und Territorium1
I.
In der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches verkörpern die Ganerbschaften recht altertümliche Gebilde, die sich nur schwer den sich seit dem 16. Jahrhundert herausbildenden und verdichtenden Landesherrschaften zuordnen lassen. Bisweilen finden sie Anschluss an die in der gleichen Zeit entstehenden Reichsritterschaften.2 In der überwiegenden Anzahl jedoch ordnen sie sich wie die Masse des ritterschaftlichen, niederen Adels überhaupt als landsässige Untertanen den Landesfürstentümern zu.3 Doch was aus heutiger Sichtweise wie eine klare Zuordnung eines Entweder-Oder aussieht, war für die Zeitgenossen keineswegs klar – zumal sich das Rechtsbewusstsein des entweder reichsunmittelbar oder landsässig erst sehr allmählich herausbildete und sich meist überhaupt nur anhand der Zuständigkeit in der Steuerverpflichtung gegenüber dem Land oder dem Reich festmachen ließ. Nicht selten versuchten ganerbschaftliche Gebilde einer gewissen territorialen Ausdehnung sich zwischen den beiden Optionen zu bewegen und den einen Schutzherren gegen den anderen auszuspielen, um womöglich am Ende ohne Besteuerung davonzukommen. Dass sich diese Zwitterstellung auf die Untertanen auswirken musste und deshalb auch auf die dort wohnenden Juden, falls solche überhaupt dort wohnen konnten, versteht sich von selbst. Im Bereich des Oberfürstentums Hessen – dem kurz Oberhessen genannten landgräflichen Gebiet um die Residenz- und Universitätsstadt Gießen –, gab es gleich drei solcher ritterschaftlichen Ganerbschaften: Diejenigen zu 1
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Für weiterführende Hinweise und Korrekturen bin ich Frau Dr. Saskia Rohde/Hamburg zu großem Dank verpflichtet. Ein besonderer Dank gilt auch Dr. Stephan Wendehorst/ Wien, der mich bei meinen Recherchen im Wiener Reichshofratsarchiv in liebenswürdiger Weise unterstützt hat. Der bis heute informativste Überblick findet sich bei: Volker Press, Reichsritterschaften, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pöhl/Georg-Christoph von Unruh (Hgg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 679–689. Volker Press, Führungsgruppen in der deutschen Gesellschaft im Übergang zur Neuzeit um 1500, in: Johannes Kunisch (Hg.), Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze von Volker Press, Berlin 1997 (Historische Forschungen; 59), S. 515–557, hier S. 525.
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Lindheim4 und Staden5 in der Wetterau, die jeweils unter dem Einfluss verschiedener örtlicher Adelsfamilien standen, letztere namentlich der Herren von Schlitz gen. von Görtz und der Grafen von Isenburg-Büdingen, dazu diejenige des Buseckertals östlich von Gießen,6 inmitten des Territoriums der Landgrafen von Hessen-Darmstadt (bis 1604 zunächst von Hessen-Marburg) gelegen. Gemeinsam war ihnen, dass sie sich weder einer der neuen Landesherrschaften zuordnen ließen, noch von einem der regionalen Dynasten beherrscht werden konnten. Alle versuchten bis zum Ende des Alten Reiches unter Anschluss an die Reichsritterschaft eine Schutzbeziehung zum Kaiser aufrechtzuerhalten oder neu aufzubauen – mit unterschiedlichem Erfolg, verfassungsrechtlich jedenfalls niemals eindeutig geklärt. Ihnen ist weiter gemeinsam, dass in ihnen im Vergleich zu den umliegenden größeren Territorien eine recht hohe Zahl von Juden wohnte, die offensichtlich im Schutz der ganerbschaftlichen Obrigkeit recht günstige Lebensbedingungen vorfand.7 Was aber zeichnet eine solche Ganerbschaft verfassungsrechtlich aus? Trotz einer großen Anzahl älterer lokal- und regionalgeschichtlicher Arbeiten zu einzelnen solcher Gebilde8 ist das Phänomen dieser Pseudostaaten – nach der staatsrechtlichen Terminologie der Zeit Quasi-Territorien – noch nie umfassend untersucht worden, nicht zuletzt auch deswegen, weil ihre Vielfältigkeit wohl einer systematischen Erfassung im Wege steht.9 Nach der im Allgemeinen verwendeten Definition handelt es sich um eine rechtlich ungeteilte ritterschaftliche Erbengemeinschaft, die auch vertraglich mit dem Ziel der Erhaltung des Familienguts begründet werden konnte.10 Der um 1700 lebende Nürnberger Advokat und Publizist Samuel Oberländer drückte es in seinem Lexikon Juridicum Romano-Teutonicum so aus: „Ganerbinatus, die Gan-Erbschaft, ist nichts anders als die Vereinigung etlicher Familien, die 4
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Karl E. Demandt, Die Reichsganerbschaft Lindheim in der Wetterau, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte Bd. 6, (1956), S. 77–137 [Teil 1] und Bd. 10 (1960), S. 149–211 [Teil 2]. Friedrich Zimmermann, Geschichte der Ganerbschaft Staden, in: Archiv für hessische Geschichte, [AF], Bd. 13 (1874), S. 1–77. Dazu jetzt noch ungedrucktes Manuskript von Friedrich Battenberg, Die Stadt Florstadt in der Wetterau – Geschichte und Bedeutung. Festvortrag aus Anlass der Wiederverleihung der Stadtrechte am 15. März 2007 [zum Druck vorgesehen in: Archiv für hessische Geschichte; 68 (2010)]. Hierzu vor allem Günter Hans, Buseck. Seine Dörfer und Burgen, Buseck 1986. Nachweise dazu bei: J. Friedrich Battenberg (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1651–1806, Teil 1: Quellen, Teil 2: Index, Wiesbaden 2008 (Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven; 4), zu den Stichworten „Buseckertal“, „Lindheim“ und „Staden“. Siehe die Nachweise unter den Fußnoten 3 bis 5. Siehe dazu den Beitrag von Werner Ogris, Art. „Ganerben“, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl., Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1928–1930. Es gibt lediglich eine ältere Monographie von Eduard Wippermann, Kleine Schriften juristischen und rechtshistorischen Inhalts I. Über Ganerbschaften, Wiesbaden 1873. So nach Gerhard Köbler, Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte, 4. Aufl. Gießen 2007, S. 250 f. Ders., Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, München 1997, S. 174.
Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal
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über die Succession in ihren Gütern wie auch über andere Dinge pacisciren und zusammen auf einem Schloß wohnen.“11 Es handelte sich demnach um eine auf unterschiedlichen Ursprüngen beruhende adelige Nutzungsgemeinschaft, die allen Familienmitgliedern beziehungsweise Vertragspartnern die gleichberechtigte Teilhabe an dem gemeinschaftlich „zur gesamten Hand“ verwalteten, mit gewissen Hoheitsrechten ausgestatteten Gut zugestand.12 Verwandten, die durch unebenbürtige Heirat ihrer Vorfahren nicht als gleichberechtigt anerkannt wurden, wurde die Aufnahme in die Ganerbschaft verweigert.13 Berufen konnten sich die Ganerben dabei auf ein – von späteren Kaisern immer wieder bestätigtes Privileg Kaiser Friedrichs III. von 1478.14 In ihm wurde bestimmt, dass niemand zum Ganerben aufgenommen werden sollte, „er seye dann von seinen vier Ahnen edel und zum Schild geboren“. Auch wenn Verwandtschaft, Vorfahren und Familie zu Beginn der Entwicklung eine bedeutende Rolle spielten, trat an deren Stelle in der Frühen Neuzeit die vertragliche Beziehung, die familienfremde Mitglieder einbeziehen konnte. Ein solcher förmlicher Vertrag wurde regelmäßig unter eidlicher Bekräftigung als „Burgfriedensvertrag“ beziehungsweise pactum ganerbinaticum geschlossen, mit dem außer Fragen der Nutzung des Ganerbenguts auch Fragen der Friedenswahrung und der Verteidigung, der Erbfolgen, von Wohnberechtigungen, von Veräußerungs- und Teilungsverboten sowie der Bedingungen einer Auflösung geregelt wurden. Unter den hier geregelten Nutzungsrechten tauchten vielfach auch Schutzrechte über die Juden sowie deren Partizipationsrechte innerhalb des Burgfriedens auf.15 11
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Samuel Oberländer (Hg.), Lexikon Juridicum Romano-Teutonicum. Unveränderter Nachdruck der 4. Auflage, Nürnberg 1753. Hg. und eingeleitet von Rainer Polley, Köln/ Weimar/Wien 2000, S. 325. Die erste Auflage des Werkes war schon 1720 erschienen. Das in seiner Zeit beliebte Werk, mit dem das Anliegen des praxisorientierten Usus modernus Pandectarum fortgeführt werden sollte, war zunächst in lateinischer Sprache erschienen und ist erst 1724, nach dem Tode Oberländers, von Johann Friedrich Reiger übersetzt worden (Einzelheiten dazu bei Polley, S. XIII f.). Ogris, Ganerben. Drei Mitglieder der Familie von Buseck, nämlich Wilhelm Eitel, Sohn des Volprecht von Buseck, Johann Friedrich und Karl Ludwig von Buseck genannt Brand, mussten sogar noch im 18. Jahrhundert vor dem Reichshofrat ihre Aufnahme in den Verband der Ganerbschaft erkämpfen, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Decisa 1117 (949) B 257 und Decisa 1124 (956) B 260. Über die Belehnung der Söhne Wilhelm Eitels kam es in der gleichen Zeit zum Streit mit Landgraf Ernst Ludwig von Hessen, da wegen der reichshofrätlichen „Bedenken“ in Bezug auf die nicht nachgewiesenen hochadeligen Ahnen auch eine Investitur mittels commissio perpetua auf Widerspruch stieß, StAD, E 12 Nr. 55/1, Jahre 1735 bis 1737. Privileg von 1478 Mai 16, StAD, B 14 Nr. 89. Von allen späteren Kaisern bestätigt bis einschließlich 1742. So etwa schon in einem Dokument von 1438, enthaltend einen Burgfriedensvertrag für die Ganerbschaft Butzbach, mit dem zugleich die Privilegien der ganerbschaftlichen Juden bekräftigt wurden, bei J. Friedrich Battenberg (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080–1650, Wiesbaden 1965 (Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven; 2), S. 219 Nr. 815.
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Bildete sich in den sich zu Landesherrschaften fortentwickelnden Territorien des Hochadels oder der Geistlichkeit eine sich jeweils in einer Person konzentrierende obrigkeitliche Gewalt heraus, der hierarchisch Hof und Verwaltung zugeordnet waren, so stand an der Spitze der Ganerbschaften stets eine Vielheit von gleichberechtigten Personen, die die Ausübung der Regierung vertraglich regeln mussten. Jedes durch Erbgang oder durch Anteilserwerb neu hinzukommende Mitglied musste durch Aufschwörungen auf die ganerbschaftliche Verfassung, den Burgfriedensvertrag, verpflichtet werden.16 Eine obrigkeitliche Gewalt, Kennzeichen der landeshoheitlichen Gewalt seit dem 16. Jahrhundert, konnte sich unter diesen Umständen allenfalls in Ansätzen entwickeln. Zwar gab es in der Regel in der Form von Baumeistern eine Art Kollegialorgan, die die Regierungsgeschäfte im Auftrag der übrigen Ganerben führte. Doch war dieses Direktorium, unter welcher Bezeichnung es auch immer in den Urkunden auftrat, in erster Linie ein zur internen Befriedung eingesetztes Gremium, das nur die vertraglich vereinbarten Befugnisse in Abhängigkeit von der theoretisch immer ,zur gesamten Hand‘ tätigen Ganerbschaft ausüben konnte. Der Erwerb weiterer Befugnisse, die dem damaligen obrigkeitlichen Amt inhärent waren, war schwierig, wenn nicht gar ausgeschlossen. Folglich konnte weder ein territorium clausum mit Ausschließlichkeitscharakter gebildet werden, noch waren die Ganerbschaften in der Lage, über die durch Privileg erworbenen, überkommenen Rechte hinaus neue Rechte zu erwerben, mit denen sie eine zeitgemäße, moderne Regierung mit Justiz- und Verwaltungsapparat hätten aufbauen können. Letztlich sind es die antiquierten Erscheinungsformen der Ganerbschaften, die dazu geführt haben, dass sich die moderne Forschung mit ihnen nicht wirklich mehr auseinandergesetzt hat. Hatten sie im kleinteiligen, von winzigen Herrschaften im Umkreis fester Burganlagen durchsetzten Reichsgebiet noch ihre Berechtigung, so wurden die Ganerbschaften spätestens mit der Entstehung der Landesfürstentümer marginalisiert. Die Ausbildung der landesfürstlichen Obrigkeit, dem deutschen Pendant zu der von den Juristen diskutierten superioritas territorialis17 , hat den Ganerbschaften tendenziell die Existenzgrundlage entzogen, indem diese vielfach von einem einheitlichen Untertanenverband aufgesogen wurden. Diese obrigkeitliche Gewalt, die erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts als Landeshoheit bezeichnet wurde und damit feste rechtliche Konturen erhielt,18 wurde zugleich stärker eingebunden 16
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Zahlreiche Nachweise zu den Aufschwörungen auf den Burgfriedensvertrag der Ganerbschaft Buseckertal von 1430 bei: J. Friedrich Battenberg (Bearb.), Archiv der Familie von Buseck und der Ganerbschaft Buseckertal (Bestände B 14 und F 28), Darmstadt 2000 (Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt; 46), Register S. 308, zum Stichwort „Aufschwörung“. Der Burgfriedensvertrag von 1430 (ebd., S. 27 Nr. 60) erwähnt ausdrücklich die Juden als Pfandleiher und Darlehensgeber. Dietmar Willoweit Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln/Wien 1975, S. 170. Ebd., S. 170 f.
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in das System des Reiches, das von der Reichsstaatsrechtslehre der Zeit in unterschiedlicher Weise definiert wurde. Theodor Reinkingk, als landgräflichhessen-darmstädtischer Rat und Professor der Jurisprudenz an der Universität Gießen eine herausragende Autorität dieser Zeit, erklärte in seinem 1619 erschienenen Tractatus de Regimine Seculari et Ecclesiastico19 : „Mihi superioritas et jurisdictio territorialis, deß Landesfürstliche oder Landes Hohe Obrigkeit, nihil aliud est, quam jus et exercitium summi, post principem seu Imperatorem, imperii, eique annexorum regalium, quod in omnes territorii istius septis inclusos homines, tanquam subditos [...] competit.“20
Territorialgewalt bedeutet seiner Ansicht nach nichts anderes als das Recht und die Ausübung des summum imperium, der höchsten Befehlsgewalt über die in einem Territorium lebenden Menschen, die er als Untertanen bezeichnet. Das Ganze geschieht aber, wie er ausdrücklich hervorhob, nur im Rahmen der vom Kaiser hergeleiteten Legitimität. An anderer Stelle führte er aus, dass er unter dem römisch-deutschen Reich die vierte und letzte Universalmonarchie der Weltgeschichte verstand, der die Landesfürsten untergeordnet waren.21 Wie auch immer die Verteilung der Hoheitsgewalt zwischen dem Reich und den Landesfürsten gestaltet war: Ritterschaftliche Ganerbschaften hatten darin keinen definierten Platz mehr, da sie weder eine eigenständige obrigkeitliche Gewalt im Sinne der Reichsstaatslehre der Zeit ausbilden konnten, noch sich der auf diese bezogenen Untertanenschaft zuordnen ließen. Am Verstaatungsprozess, an dem kleinere Stände wie die Grafen ebenso sie Stifte und Abteien teilhatten,22 konnten sie nicht teilhaben, da ihnen die Einheitlichkeit der Herrschaftsspitze fehlte. Wohl aber waren sie im Zuge der Verrechtlichung aller Verfassungsverhältnisse des römisch-deutschen Reiches einer Sogwirkung ausgesetzt, dem Zwang nämlich, sich zuordnen zu müssen.23 Was dazu hinsichtlich der Ritterschaft der bekannte Reichsjurist Samuel von Pufendorf 1667 in seinem berühmten Traktat De Statu Imperii Germanici geäußert hatte, galt 19 20
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Dazu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1: Reichspublizisitik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 218–221. Willoweit, Rechtsgrundlagen, S. 126, nach Reinkingk, Tractatus de regimine, Lib. I, Class. V, Cap. III n. 3, Frankfurt am Main 1663, S. 460 (übersetzt: „Nach meiner Überzeugung ist die Landeshoheit nichts anderes, als das Recht und die Ausübung der höchsten Befehlsgewalt nach dem Landesfürsten oder dem Kaiser und der damit verbundenen Regalien, und zwar gegenüber allen dort befindlichen Menschen als den Untertanen“). Stolleis, Geschichte, S. 219, nach Reinkingk, Tractatus de Regimine, Lib. I, Class II, Cap. VII – IX. Siehe dazu auch Notker Hammerstein, ,Imperium Romanum cum omnibus suis qualitatibus ad Germanos est translatum‘. Das vierte Weltreich in der Lehre der Reichsjuristen, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 3 (1987), S. 188–202. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, S. 107–111. Dieser ab 1500 verstärkt einsetzende Prozess des Zuordnungszwangs wird beschrieben bei Heinz-Dieter Heimann, Europa 1500 ,Ordnung schaffen‘ und ,sich einordnen lassen‘ als Koordinaten eines Strukturprofils, in: Winfried Seibt/Winfried Eberhard (Hgg.), Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, Stuttgart 1987, S. 526–563, hier insb. S. 549–563.
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auch für sie: „Equestris Ordinis in Germania duplex est conditio: pars enim immediate Imperatori et Imperio subest, pars alios Status dominos agnoscit.“ Die Ritterschaft hatte also für ihn eine zweifache Stellung: Sie unterstand zu einem Teil unmittelbar dem Kaiser und dem Reich, zum anderen Teil erkannte sie die Oberherrschaft anderer Stände an.24 Dem Druck der neuen verfassungsrechtlichen Verhältnisse gab der Reichshofrat mit seiner Entscheidung vom Januar 172525 nach, in der er dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt eine commissio perpetua mit dem Recht übertrug, die Herren von Buseck namens des Kaisers mit den Reichslehen Buseckertal zu investieren.26 In Ausführung dieses Urteils übertrug Kaiser Karl VI. 1726 an Landgraf Ernst Ludwig das Recht, „nicht nur von Fällen zu Fällen mit der landesfürstlichen Obrigkeit in und über dem Bußeckerthal mit aller derselben anklebenden Regalien und Rechten in forma et jure feudi antiqui, und zwar mittelst Abstattung des gewöhnlichen Leheneydes und übrigen Schuldgkeiten, für dießmahl allein, [. . . ] bey allen künftigen Lehensfällen aber mit denen fürstlichen hessischen Lehen zugleich zu belehnen, sondern auch perpetuam commissionem sämbtlichen Ganerben des Bußeckerthals mit dem von unß und dem Reich von Alters her zu Lehen getragenen Reichslehen in gedachtem Thal von Fällen zu Fällen von unßerer und des Reichs wegen zu belehnen.“27
Die eigentliche Grundfrage der landesfürstlichen Obrigkeit blieb offen, wurde nur faktisch zugunsten der Landgrafschaft entschieden. Juden, die in einer solchen Ganerbschaft wohnten, gerieten ipso iure in die Zwänge dieses Koordinatensystems. Unter Umständen bot ihnen die weiterhin offene Verfassungssituation zusätzliche, im Zeichen merkantilistischen Denkens geldwerte Chancen der Lebensgestaltung. Umgekehrt konnte diese Lage für sie auch bedrohlich werden, da nicht ohne Grund befürchtet werden durfte, dass der Streit um die doppelten Loyalitäten der ganerbschaftlichen Herrschaft auf ihrem Rücken ausgetragen wurde.28 Als in einem umfangreichen Prozess der ,Eingesessenen‘ des Buseckertals gegen Landgraf Ernst Ludwig von Hessen vor dem Reichshofrat in den Jahren 1734 bis 1739 um Klagen der Gan24
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Samuel von Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches [Genf 1667]. Hg. und übersetzt von Horst Denzer, Frankfurt am Main/Leipzig 1994 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens; 4), S. 80 f. Urteil von 1725 Januar 19, Battenberg, Archiv, S. 188 Nr. 532. Reichshofratsprozess überliefert Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Decisa 1119 (952) B 259, 1721–1731. Reskript von 1726 März 14, StAD, E 12 Nr. 54/2 Bl. 213–214. Zu einer solchen Bedrohung wurde im 16. Jahrhundert in einer vergleichbaren Herrschaftssituation die von der Schutzgewalt über die Juden unabhängige, sich konstituierende landesfürstliche Gewalt in der Gemeinherrschaft Assenheim in Oberhessen. Dazu J. Friedrich Battenberg, Assenheimer Judenpogrome vor dem Reichskammergericht. Die Prozesse der Grafschaften Hanau, Isenburg und Solms um die Ausübung des Judenregals 1567–1573, in: Christiane Heinemann (Hg.), Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen; VI), S. 123–149. In diesem Fallbeispiel führte die doppelte Herrschaft über die Juden zu einer doppelten Besteuerung und zu Repressalien für den Fall der Nichtzahlung.
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erben wegen Eingriffen in ihre hoheitlichen Gerechtsame gestritten wurde, ging es auch um die Busecker Juden.29 Sie beklagten sich darüber, dass sich die Landgrafen „einer so grossen Übermacht und Gewalt über Christen und Juden im Buseckerthal zu gebrauchen [unterständen], obwohlen Vierern und Ganerben die ohnumschränckte Criminal-Iurisdiction oder hohe leut- und fraisliche Obrigkeit zustehet.“30 Die Situation der Juden in den ritterschaftlichen Ganerbschaften des Reiches kann in diesem thematisch begrenzten Beitrag nicht umfassend dargestellt werden. Es soll stattdessen in einer Fallstudie das Beispiel des Buseckertals herausgegriffen werden, da dieser Fall in den Quellen recht gut dokumentiert ist.31 Auch wenn in der landeskundlichen Literatur behauptet wird, dass sich die Ganerben „1724 endgültig der hessischen Landeshoheit [haben] beugen müssen,“32 so ergeben doch die Prozessakten und andere Dokumente, dass die Frage bis zum Ende des Alten Reiches 1806 unentschieden blieb.33 Insofern ist das Beispiel Buseckertal repräsentativ für andere Fälle dieser Art in Oberhessen, wie die erwähnten Ganerbschaften Linden und Staden.
II. „Das Busecker Thal ist ein klein Palästina, wiewohl von der schmutzigsten Gattung.“ Mit diesen Worten kommentierte der von Ideen der Aufklärung beeinflusste Staatsrechtslehrer und hessen-darmstädtische Leitende Minister Friedrich Carl von Moser34 1776 die Situation der Juden im Busecker29
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Nachweise siehe unten Anm. 39. Laut umfangreicher Klagschrift des buseckischen Anwalts Johann Heinrich Souffrein von 1734 November 10 (abschriftlich StAD, E 12 Nr. 55/3 Bl. 14–25 und 68–68v). Ebd., Bl. 22v-23, unter Verweis auf umfangreiche Prozessakten in einem Sodomie- und Zaubereiprozess sowie einem Prozess um eine Kindstötung im Buseckertal, beide Verfahren vor einem ganerbschaftlichen Gericht, dessen Kompetenz in Sachen der Hohen Gerichtsbarkeit aber von der Landgrafschaft bestritten wurde. Die meisten einschlägigen Quellen befinden sich im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt (im Folgenden: StAD). Zitiert wird in der Regel das Inventar. Es sei darauf hingewiesen, dass alle Nachweise auch über Internet verfügbar sind, und zwar unter: www.hadis.hessen.de. So Karl E. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, 2. Aufl. Kassel/Basel 1927 (= ND Kassel 1980), S. 472, auch ebd., S. 308. Die Jahreszahl ist willkürlich genannt; gemeint ist wohl 1725, das Jahr der Entscheidung des Reichshofrats zugunsten der Landgrafen von Hessen (commissio perpetua). Bezeichnenderweise ließen sich die Ritter von Buseck noch mit Urkunde von 1745 Januar 4 die von Kaiser Maximilian II. ihnen erteilten Privilegien von der kaiserlichen Reichskanzlei (Reichsregistrator J. H. von Alpmanshoven) nach der Vorlage des Originalkonzepts der Reichsregistratur beglaubigen, StAD, F 28 Nr. 4, Battenberg, Archiv, S. 224. Barbara Dölemeyer, Friedrich Carl von Moses Reformprogramm für Hessen-Darmstadt, in: Bernd Heidenreich (Hg.), Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte, Wiesbaden 1999, S. 151–162.
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tal,35 und charakterisierte damit – noch ohne judenfeindliche Implikation – die zweideutige Situation des Alltags der Juden im Buseckertal: Einerseits die von ihrer Obrigkeit gewährten günstigen Rahmenbedingungen, andererseits aber die dennoch bestehende Unordnung („Schmutz“) – resultierend daraus, dass Juden unter dem Joch des weiterhin bestehenden Schutzverhältnisses nicht in der Lage zu sein schienen, ihre Lebensumstände angemessen einzurichten. Es kann mit guten Gründen vermutet werden, dass Moser das ein Jahr vorher veröffentlichte Gutachten des Darmstädter Oberappellationsgerichtsrats und landgräflichen Regierungsrats Friedrich Jakob Schöndorf36 kannte, das ebenfalls im Geist der Aufklärung die Juden der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt – und damit auch des Buseckertals – durch erzieherische Maßnahmen zu ,nützlichen Untertanen‘ formen wollte. Hierzu seien detaillierte regulierende Maßnahmen erforderlich um „bei dem an sich fruchtbaren Volck“ eine geregelte Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.37 Moser war im Interesse einer Sanierung des Staatshaushalts wie aus Gründen der Vernunft durchaus ein Befürworter solcher Maßnahmen. Nur stellte sich die Frage, inwieweit die Juden des Buseckertals überhaupt in das Reformprogramm der hessen-darmstädtischen Beamtenschaft einbezogen werden konnten. War etwa der ,paradiesische‘ Zustand jüdischer Existenz, der von Moser mit Misstrauen beobachtet wurde, vielleicht Folge der verfassungsrechtlichen Unordnung, die zu beseitigen sich die hessen-darmstädtischen Beamten gerade zur Aufgabe gemacht hatten? Der verfassungsrechtlich bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 nie ganz geklärte Status der vollkommen von hessischem Hoheitsgebiet umschlossenen Ganerbschaft Buseckertal, deren adelige Herren sich selbst als Mitglieder der Mittelrheinischen Reichsritterschaft – mit Sitz auf der nahegelegenen Reichsburg Friedberg – fühlten,38 von den Landgrafen von Hessen jedoch als landsässige Mitglieder ihres Hoheitsgebiets angesehen wurden.39 Die 35
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Rosy Bodenheimer, Beitrag zur Geschichte der Juden in Oberhessen von ihrer frühesten Erwähnung bis zur Emanzipation, Gießen 1931, S. 25, nach einem heute verlorenen Gutachten im StAD. J. Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. II: Von 1650 bis 1945, 2. Aufl. Darmstadt 2000, S. 89 f. Dazu im Einzelnen Jürgen Rainer Wolf, Zwischen Hof und Staat. Die Juden in der landgräflichen Residenzstadt des 18. Jahrhunderts, in: Eckhart G. Franz (Hg.), Juden als Darmstädter Bürger, Darmstadt 1984, S. 78–80, hier S. 70–72. Hierzu J. Friedrich Battenberg, Zwischen Reich und Territorialstaat. Zur Situation der Reichsritterschaft im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 7 (1986), S. 29–59 (zu einer vergleichbaren Situation in der Herrschaft Schlitz in Oberhessen). Bezeichnenderweise befindet sich eine Abschrift der Urkunde über die Vereinigung der Mittelrheinischen Reichsritterschaft im Archiv der Ganerben des Buseckertals (StAD, F 28 Nr. 434), beschrieben bei: Battenberg, Archiv, S. 306. Wilhelm Lindenstruth, Der Streit um das Busecker Tal. Ein Betrag zur Geschichte der Landeshoheit in Hessen, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 18 (1910), S. 85–132, und ebd., 19 (1911), S. 67–238 (im Folgenden als Teil 1 beziehungsweise Teil 2 zitiert), hier insb. Teil 2, S. 100–143.
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bis zum Reichshofrat in Wien mit wechselseitigen Erfolgen geführten Prozesse, u. a. um den Schutz der Judenschaft,40 hatten unmittelbare Auswirkungen auf die alltäglichen Lebensbedingungen der ganerbschaftlichen Juden. Wie so häufig in vergleichbaren Herrschaftsverhältnissen, deren Ursache zumeist in Fiskalinteressen der Obrigkeit lag, konnten die Juden auch hier nicht unerheblich von einem verfassungsrechtlichen Schwebezustand profitieren, bis mit einer im Jahre 1797 erfolgten Belehnung der Busecker Ganerben durch Landgraf Ludwig X., der sich ausdrücklich auf die commissio perpetua Kaiser Karls V. von 1725 berief,41 der hessische Landesherr als Schutzherr der Busecker Juden faktisch an die Stelle des Kaisers getreten war.42 Das Edikt des Großherzogs Ludwig I. von Hessen vom 1. Dezember 1807 hob endgültig das Recht zur Aufnahme von Juden (ius recipiendi iudaeos) durch adelige Gerichtsherren, auch derer des Buseckertals, auf.43 Entsprechend wurde ab 1809 die Zuständigkeit für die Erhebung der Judenschutzgelder im nunmehr so genannten Patrimonialgericht Buseckertal als einem integrativen Bestandteil des Großherzogtums Hessen neu geregelt.44 Erst damit entschied sich ein Jahrhunderte währender Streit zugunsten der Landeshoheit – jetzt freilich in einer neuen Situation, in der eine Reichsgewalt nicht mehr bestand und durch ein Ne-
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Der in diesem Zusammenhang wichtigste Prozess zwischen den Eingesessenen des Buseckertals und dem Landgrafen Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, der in den Jahren 1734 bis 1739 am Reichshofrat geführt wurde, muss leider als verloren gelten. Die diesbezüglichen Reichshofratsakten wurden laut Vermerk vom 3. August 1858 vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien an den Darmstädter Archivdirektor Dr. Ludwig Baur extradiert (in der dortigen Registratur Vermerk in Rep. I, 13, Bd. 1; ehemals Reichshofratsarchiv, Decisa B 260). Der äußerliche Gang des Prozesses lässt sich anhand der Resolutionsprotokolle des Reichshofratsarchivs, Deutsche Expedition (jeweils zwei Bände pro Jahrgang), verfolgen: Einträge vom 11. Februar 1734 (Bl. 69 und 70), 13. März 1734 (Bl. 224v), 3. Juli 1734 (Bl. 3–3v), 9. August 1734 (Bl. 96v-97), 7. Februar 1735 (Bl. 87), 25. April 1735 (Bl. 290v), 17. Mai 1735 (Bl. 372v), 15. Juli 1735 (Bl. 37–37v), 19. August 1735 (Bl. 195v), 27. März 1735 (Bl. 372v), 15. Juli 1736 (Bl. 39), 20. September 1737 (Bl. 286v287), 10. Januar 1738 (Bl. 13v), 6. Mai 1738 (Bl. 385v-386), 17. Juli 1738 (Bl. 42), 30. Oktober 1739 (Bl. 431–432v). Der hessen-darmstädtische Anwalt Daniel Hieronymus von Praun scheint allerdings regelmäßig an den landgräflichen Hof in Darmstadt berichtet zu haben (Mitteilung der beiden abschließenden Reichshofratsresolutionen vom 30. Oktober 1739 in StAD, E 12 Nr. 54/8), so dass es durchaus möglich ist, dass der Prozess aus den Korrespondenzen des Landgrafen Ernst Ludwig von Hessen rekonstruiert werden kann. Erhalten haben sich einige Akten der Regierung Gießen, besonders Berichte der Regierung an den Landgrafen und Reskripte des landgräflichen Hofes an die Regierung: StAD, E 12 Nr. 54/3, 1729 bis 1738. Urkunden von 1725 Januar 19 und Juli 3, Battenberg, Archiv, S. 188 Nrn. 532 und 533. Der darüber entstandene Reichshofratsprozess befindet sich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Decisa 1119 (952) B 259, für die Jahre 1721 bis 1731. Urkunde 1797 August 22, Battenberg, Archiv, S. 211 Nr. 596. Hinsichtlich der gerichtsherrlichen Rechte über die Juden zog sich der Streit jedoch noch bis 1848 hin, s. Lindenstruth, Der Streit, Teil 2, S. 138–143. Gutachten von ca. 1810, StAD, F 28 Nr. 29. StAD, F 28 Nr. 213, Battenberg, Archiv, S. 264.
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beneinander souveräner Bundesstaaten (zunächst im Rheinbund, später im Deutschen Bund) ersetzt wurde. War die Äußerung des Ministers Moser noch von einem aufklärerischen Impetus und dem Bestreben getragen, die damals wohl 63 Familien – und damit vielleicht 350 bis 400 Personen45 – umfassenden Juden des Buseckertals46 in die zu reformierende Landgrafschaft zu integrieren, um damit in kameralistischem Interesse eine intensivere Kontrolle über sie als nützliche Untertanen auszuüben,47 wurde mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert der Paradiescharakter (s. dazu sogleich) eher negativ konnotiert. Dafür steht eine in den Jahren 1928/29 entstandene Abhandlung des bekannten Verfassungshistorikers Wilhelm Arnold, der sich unter Berufung auf ihm zugetragenen Klagen des im Buseckertal wirkenden Pfarrers Hermann Andreas Hoffmann48 über die Busecker Juden äußerte:49 „Man liebte einen billigen Prunk; es fand sich mehr Geflitterdärm als Ächtheit und Gediegenheit. Der Jude ist eben der morgenländischen Art treu geblieben, wie er auch gleich den stammesverwandten orientalischen Völkerschaften viel auf Schmückung des Körpers hält [...]. Der Jude ist eben überall Jude.“
Für Arnold jedenfalls bestätigte der offensichtliche Wohlstand der ganerbschaftlichen Juden sein Bild vom verachteten „orientalischen Juden“, einem judenfeindlichen Stereotyp dieser Zeit.50 Ob sich zumindest der Eindruck einer wohlhabenden jüdischen Bevölkerung in dieser Region anhand der Quellen bestätigen lässt, kann hier nicht abschließend beurteilt werden, zumal es an Vergleichsuntersuchungen zu benachbarten Regionen nach wie vor fehlt.51 Vorerst lassen sich die Alltagsge45
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Für die jüdischen Familien, zu denen auch weitere Haushaltsangehörige gezählt werden können, kann für die Zeit des späten 17. und des 18. Jahrhunderts von einem Umrechnungsfaktor von 6 bis 7 ausgegangen werden; hierzu J. Friedrich Battenberg, Strukturen jüdischer Bevölkerung in Oberhessen im 17. Jahrhundert, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 7 (1996), S. 267–298, hier S. 280 f. Es soll in diesem Beitrag die Schreibweise „Buseckertal“, also jeweils in einem Wort, gewählt werden, da dies der regelmäßigen Schreibweise in den Quellen entspricht. Bodenheimer, Beitrag, S. 25. Nach ihr (und den Aussagen des von Moser’schen Gutachtens) lebten damals im gesamten Oberfürstentum Hessen (außer Gießen selbst) nur 63 jüdische Familien, so dass das kleinräumige Buseckertal für den hessischen Landesfürsten als fiskalisch außerordentlich interessant erscheinen musste. Hermann Andreas Hoffmann aus Gießen (1656–1742), 1668 an der Landesuniversität Gießen immatrikuliert, ab 1680 Pfarrer in Rödgen. Wilhelm Diehl (Hg.), Hessen-Darmstädtisches Pfarrer- und Schulmeisterbuch, Friedberg 1921 (Hassia Sacra; I), S. 271. Wilhelm Arnold, Historisch-topographische Beschreibung des Buseckertals und seiner Bewohner. Ms. im StAD, C 1 C Nr. 68; dort Kapitel „Über die Juden im Buseckertal“, S. 57–66, Zitat S. 63 (= Bl. 35). Zur angeblichen ,Orientalisierung‘ der Juden s. Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 242–246. S. auch: Nicoline Hortzitz, Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (1450–1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation, Heidelberg 2005, insb. S. 185–188. Die einzige moderne Untersuchung, die sich der Situation der Juden des Buseckertals in der Frühen Neuzeit widmet, stammt von Günter Hans, Juden im Busecker Tal, in: ders.,
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schichte der Juden des Buseckertals und ihre historischen Grundlagen kaum analysieren. Der im Folgenden geschilderte Prozess vor der landgräflich-hessischen Regierungskanzlei in Gießen dürfte pars pro toto für die Einschätzung der Gesamtsituation diese treffend wiedergeben. Es wird sich so zeigen lassen, dass die Busecker Juden nicht nur Objekte der hessischen Machtpolitik in Oberhessen waren, sondern auch als aktiv Handelnde den Aktionsradius ihrer Situation abzustecken wussten. ,Paradiesische Zustände‘ mögen es nicht gewesen sein, die sie erreichen konnten, wohl aber eine gewisse Sicherheit im Rahmen einer Machtbalance zwischen schutzherrlicher und landesfürstlicher Obrigkeit.
III. Das wohl erstmals 1265 erwähnte iudicium de Buchesekke (Gericht Buseck)52 befand sich spätestens im Jahre 133753 als Reichslehen in Händen der miteinander verschwägerten oberhessischen Adelsfamilien der Ritter von Buseck und von Trohe.54 Als sogenannte Ganerben waren sie Inhaber einer ritterlichen Gemeinschaft zur gesamten Hand, die nicht geteilt werden konnte.55 Zur dieser Ganerbschaft zählten Rechte über neun Dorfschaften, namentlich: Großen-Buseck und Alten-Buseck, Beuern, Rödgen, Reiskirchen, Burkhardsfelden, Oppenrod, Albach und Bersrod, alle gelegen zwischen den beiden landgräflich-hessischen Städten Gießen und Grünberg.56 Erstmals 1357 hatten die beteiligten Familien sich in einem Burgfriedensvertrag organisiert,57 der 1430 dann seine endgültige Form erhielt, auf die alle späteren Mitglieder der Familie vereidigt wurden.58 Seither wählten sie jeweils zwei Mitglieder der Adeligen von Buseck und von Trohe aus ihrer Mitte als Vierer, die über die Einhaltung des Burgfriedens zu wachen hatten. Sie
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Buseck, S. 44–69. Für die Situation der Juden in Oberhessen insgesamt ist nur noch auf die Dissertation von Rosy Bodenheimer, Beitrag hinzuweisen. Urkunde von 1265 Oktober 31. Abdruck bei: Lindenstruth, Der Streit, S. 181 Nr. 2. Battenberg, Archiv, S. 1 Nr. 1. Damit ist eine andernorts auf 1245 datierte Quelle gemeint: Ludwig Jung, Heimatbuch der Gemeinde Großen-Buseck, Heuchelheim-Gießen 1951, S. 120 f. Lehensbrief Kaiser Ludwigs des Bayern von 1337 April 28, Battenberg, Archiv, S. 1 f. Nr. 3. Stammtafeln zu den beiden Familien von Buseck und von Trohe (angefertigt von Elke Noppes) bei: Battenberg, Archiv, Tafeln I-VIII (nach S. 348). Siehe die einleitenden Ausführungen zur Ganerbschaft o. Kap. I, und die Ausführungen von Ogris, Ganerben, Sp. 1928–1930. Gutachten von ca. 1810, StAD, F 28 Nr. 29. Urkunde von 1357 März 29, Battenberg, Archiv, S. 3 Nr. 6. Abdruck bei: Lindenstruth, Streit, Teil 2, S. 186–190 Nr. 10. Urkunde von 1430 November 19, Battenberg, Archiv, S. 27 Nr. 60. Abdruck bei: Lindenstruth, Streit, Teil 2, S. 204–206 Nr. 31.
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galten als eine Art niederer Obrigkeit, die über ihre Untertanen gerichtsherrliche Rechte des Banns, des Jagd- und Fischereiregals, aber auch des Judenregals innehatten. Einige Urteile des Hofgerichts König Sigmunds von 1417 und 141859 anerkannten unter Bestätigung von 1398 erteilten und 1414 erneuerten Königsprivilegien60 die Reichsunmittelbarkeit der Ganerbschaft. Kaiser Friedrich III. bezog sich darauf, als er 1467 in einem großen Privileg den Ganerben der Familien von Buseck und von Trohe bescheinigte, dass sie nur „uns und dem heiligen Reiche on mittel underworfen sein und auch von uns und dem heiligen Reiche nimmermer geschiden werden dürfen.“61 Seit 1544 wurden die jeweils vereidigten Mitglieder beider Familien in die neu gebildete Mittelrheinische Reichsritterschaft aufgenommen.62 Infolge weiterer Bedrängungen durch die im Schmalkaldischen Krieg geschwächten hessischen Landgrafen erlangten sie von Kaiser Karl V. 1547 erneut kaiserlichen Schutz.63 In sehr feierlich ausgefertigten Privilegienbriefen verlängerten danach noch einmal die Kaiser Ferdinand I. 155964 , Maximilian II. 156665 und zuletzt Kaiser Karl VI. 171866 das Schutzverhältnis zum Reich. Nach seinem Tode bestätigten zwar die beiden Reichsvikare und Kurfürsten Herzog Karl Albrecht von Bayern, der spätere Kaiser Karl VII., und Pfalzgraf Karl Philipp bei Rhein 1742 nochmals alle Privilegien.67 Spätere Kaiser knüpften an diese Praxis jedoch nicht mehr an. Bezeichnenderweise ließ sich die Reichskanzlei unter Kaiser Franz I. 1745 nur auf eine Beglaubigung des älteren Privilegs aus dem Jahre 1566 ein,68 nicht mehr auf eine Neuausstellung. Im gleichen Zusammenhang steht, dass Kaiser Karl VI. 1725 unter Erteilung einer entsprechenden Kommission (commissio perpetua) an Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt69 die Vierer und Ganerben des Buseckertals anwies, die Investition ihrer Reichslehen zukünftig durch die Landgrafen von Hessen entgegenzunehmen.70 Dies bedeutete zwar keine Änderung der kaiserlichen Schutzpolitik gegenüber den Ganerben, wohl aber eine Anerkennung der 59 60
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Urteile von 1417 Juni 23, Dezember 1, 1418 März 14, August 1 und August 7, Battenberg, Archiv, S. 17–23 Nrr. 42–47. Urkunden König Wenzels von 1398 Januar 6, August 7 und November 6 sowie König Sigmunds von 1414 Juli 27, 1415 März 20 und März 26, Battenberg, Archiv, S. 6–8 Nrr. 14, 17 und 18 und S. 12–16 Nrr. 30, 36 u. 37. Privileg von 1478 Mai 16, Battenberg, Archiv, S. 68–70 Nr. 171. Nachweise bei Lindenstruth, Streit, Teil 2, S. 107 f. Zum Archiv der Mittelrheinischen Reichsritterschaft im StAD: www.hadis.hessen.de. Urkunde Kaiser Karls V. von 1547 September 30, Battenberg, Archiv, S. 111 Nr. 298. Urkunde Kaiser Ferdinands I. von 1559 Mai 29, Battenberg, Archiv, S. 118 f. Nr. 323. Urkunde Kaiser Maximilians II. von 1566 Mai 10, Battenberg, Archiv, S. 122 f. Nr. 334. Urkunde Kaiser Karls VI. von 1718 März 29, Battenberg, Archiv, S. 186 Nr. 526. Die Privilegien der Ganerben des Buseckertals wurden bis dahin von allen Kaisern regelmäßig feierlich erneuert, Nachweise ebd. Urkunde der Reichsvikare von 1742 Januar 17, Battenberg, Archiv, S. 195 f. Nr. 554. Beglaubigung von 1745, Battenberg, Archiv, S. 224, Dokument F 28 Nr. 4. Urkunde von 1725 Januar 19, Battenberg, Archiv, S. 188 Nr. 532. Urkunde von 1725 Juli 3, Battenberg, Archiv, S. 188 Nr. 533. Siehe zur commissio perpetua auch weiter oben Anm. 24 und 25.
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inzwischen wesentlich zugunsten der hessischen Landesfürsten verschobenen Machtverhältnisse. Es hat also den Anschein, als sei schon im 16. Jahrhundert unter Karl V. über die Zuordnung des Buseckertals zur Reichsritterschaft und damit über die unmittelbare Beziehung zu Kaiser und Reich endgültig entschieden worden, als habe nur das Erstarken der landeshoheitlichen Gewalt unter Landgraf Ernst Ludwig und das gute Verhältnis, das das Haus Hessen-Darmstadt seit Karl VI. zum Kaiserhof pflegte,71 dazu geführt, dass seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine förmliche Erneuerung der ganerbschaftlichen Reichsunmittelbarkeit vermieden worden sei. Doch sollte sich bald zeigen, dass dieses Rechtskonstrukt, dessen Existenz im Rahmen des spätmittelalterlichen, noch offenen Reichssystems seine Berechtigung gehabt hatte, vor dem Hintergrund der rechtlichen Konstituierung und machtpolitischen Erstarkung der landesfürstlichen Gewalt schon lange vor Landgraf Ernst Ludwig keinen Bestand mehr hatte. Juden lebten in der Ganerbschaft nachgewiesenermaßen erst ab etwa 1560.72 1574 kam es erstmals zum Konflikt darüber mit der Landgrafschaft. Die Ganerben beschwerten sich damals bei der damals in Marburg ansässigen hessischen Regierung Landgraf Ludwigs IV., dass die Beamten zu Gießen einen „ohngewönlichen und des Ohrts unerhörten Judenzoll und Geleit angestellt und vorgenommen“ hätten, obwohl die Ganerbschaft Buseckertal kraft kaiserlicher Privilegien davon befreit sei.73 Eine Klärung unterblieb; die Judenschutzrechte, die keines der vorgelegten Privilegien ausdrücklich erwähnte, doch von den Ganerben als Ausdruck ihrer reichsunmittelbaren Stellung in Anspruch genommen wurden, blieben umstritten.74 Selbst ein gleichzeitig darüber geführter Reichshofratsprozess führte zu keinem Ziel.75 Dies mussten auch die Landgrafen von Hessen so sehen, auch wenn sie es rechtlich niemals zugestanden.76 71
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Dazu Friedrich Battenberg, Eine persönliche Grenzüberschreitung. Bischof Josef von Augsburg als Landgraf von Hessen, in: Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/David Petry (Hgg.), Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit, Augsburg 2008 (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben; 100), S. 193– 213, hier S. 203 f. Erschlossen aus Zeugenaussagen von 1620, StAD, E 12 Nr. 21/2. StAD, E 12 Nr. 28/10 Bl. 53. Immerhin ließ Landgraf Ludwig VIII. im Rahmen von Verhandlungen mit den Ganerben um die Errichtung einer Synagoge in Großen-Buseck eine Erklärung von 1687 zu den Akten nehmen, die ein Gewohnheitsrecht zur Abgabenfreiheit der ganerbschaftlichen Untertanen einschließlich der Juden anerkannte: „Vermöge uralter Buseckerthalischen Observance haben alle Underthanen, so aus dem Buseckerthal ins hochfürstlich-hessen-darmstädtische Landt sich begeben und ihr Vermögen darinnen transferiren, einen freyen Überzug“. Prozess Ganerben des Busecker Tals gegen Landgraf Ludwig IV. von Hessen, 1575, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Alte Prager Akten 7/4 Bl. 549–589 (alt: 5 B 1). Ein um 1810 entstandener Bericht spricht allerdings davon, dass „die Ganerben auch das Jus Recipiendi Judaeos“ hatten, das 1807 aufgehoben wurde, StAD, F 28 Nr. 29.
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Als Landgraf Georg II. von Darmstadt 1643 für das Oberfürstentums Hessen einen Konvent zur Missionierung aller ihm unterstehenden Juden einschließlich derer des Buseckertals nach Gießen einberief, musste ihm sein Amtmann Georg Heinrich Gerlach berichten, dass diese trotz erfolgter Ladung nicht erschienen seien, da „deren sich die Ganerben angenommen“ hätten.77 Aus den Archivquellen lässt sich entnehmen, dass der von den Ganerben über die Juden des Buseckertals in Anspruch genommene Schutz und die daraus resultierenden Einnahmen Hauptgründe waren, ihnen den Besuch des oberhessischen Konvents zu verbieten. Die Einnahmen an Schutzgeldern allein, zu denen außerdem noch Rezeptions- und Neujahrsgelder sowie weitere Sonderabgaben78 erhoben wurden, betrugen für die ganerbschaftliche Verwaltung in den letzten zehn Jahren ihres Bestands jährlich durchschnittlich 430 rheinische Gulden.79 Diese Summe – die auch im 17. Jahrhundert bedeutend gewesen sein muss – bedeutete für die Ganerben einen beträchtlichen Einnahmeposten, auf den man keinesfalls verzichten wollte. Dies war in der Ganerbschaft Buseckertal nicht anders als in anderen reichsritterschaftlichen Herrschaften.
IV. Im Jahre 1619 kam es zwischen der Gemeinde Großen-Buseck und ihrer Obrigkeit, den „Vierern und Ganerben des Buseckertals“80 , sowie dem dortigen Juden Salomon zu einem Appellationsprozess vor der landgräflich-hessischen Regierungskanzlei in Gießen um ein von den Juden in Anspruch genommenes und von den Ganerben gewährtes Nutzungsrecht an der gemeindlichen Allmende.81 Hintergrund war ein 1611 in einem Konflikt zwischen der Gemeinde und den Juden zu Großen-Buseck von den Vierern erlassener Bescheid, der einen modus vivendi zwischen den Parteien herstellen sollte. Hier heißt es u. a.: 77
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Leider zählt der Bericht zu den Kriegsverlusten des StAD. Zitiert bei: Wilhelm Diehl, Kirchenbehörden und Kirchendiener in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt von der Reformation bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 1925 (Hassia sacra; II), S. 612. Bei fast jeder Gelegenheit hatten die hessen-darmstädtischen Juden Sonderabgaben zu leisten. Die Verordnungen von 1692 und 1719 zur Einführung der Neujahrsgelder bei Friedrich Battenberg, Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt. Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches. Eine Dokumentation, Wiesbaden 1987 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen; VIII), S. 90 Nr. 32 und S. 141 Nr. 104. Einnahmeregister für die Jahre 1796 bis 1805 in: StAD, F 28 Nr. 213. So lautet die regelmäßig gebrauchte Titulatur dieser ,Quasi-Obrigkeit‘. Die Akten dazu im StAD, G 26 Anr. 493/2. Soweit im Folgenden keine Einzelnachweise gegeben werden, wird aus diesen Akten zitiert. Der Prozess ist kurz besprochen bei: Hans, Juden, S. 48.
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„Sofern die Juden keine rotzige oder sonsten ohntrechtige Pferdte ahn die Weyde spannen, auch der Übermaß mit solcher Anspannung sich endthalten, dass ihnen zu vergönnen sey, nach Gelegenheit mit andern Nachbauren der Weydt, einer mit einem Pferdt, sich zu geprauchen haben.“
Man kann daraus entnehmen – was auch durch andere Quellen bestätigt wird –, dass die Juden des Buseckertals gleichberechtigt mit den christlichen Untertanen an der Allmendenutzung beteiligt waren und in diesem Zusammenhang ihre Pferde auf gemeindlicher Weide grasen lassen durften. Offensichtlich hatte sich im Laufe der Jahrzehnte seit dem späten 16. Jahrhundert eine Gewohnheit herausgebildet, mit der gemeindliche Rechte kaum verletzt wurden, da es eben nur noch wenige Juden in der Region gab. Dies änderte sich als auf Initiative der ganerbschaftlichen Obrigkeit weitere Juden in das Buseckertal zogen, nachdem ihnen die von ihr ausgestellten Schutzbriefe berechenbare Bedingungen der Ansiedlung zusicherten,82 und sie nun ebenfalls zur Sicherung ihres Lebensunterhalts Anteil an den Nutzungen der Dorfgemeinschaft erhalten wollten. Erst jetzt fühlten sich die christlichen Mitglieder der Dorfgemeinde in ihrer Existenz bedroht. Nachdem erste Beschwerden bei den Vierern und Ganerben des Buseckertals gegen die Juden keinen Erfolg hatten, reichten sie im Oktober 1619 eine Supplikation bei der landgräflich-hessen-darmstädtischen Regierung in Gießen ein.83 Hier beschwerten sie sich darüber, dass inzwischen etliche Juden in der Gemeinde ansässig seien, die vorher „niemals nicht geweßen; also ist ein gantz unerhört Werck, dass selbige dero Gemeinde [zustehenden] Nutzbarkeiten iemals fähigen geweßen oder mit gebraucht haben sollten.“ Nun aber habe sich der Jude Salomon, wie es weiter heißt, unterstanden, seine beiden Pferde in der gemeindlichen Wiese weiden zu lassen, obwohl ihm dies verboten worden sei; trotz mehrmaliger Abmahnung „ist er bey seinem Thun halsstarrigen verblieben“. Deshalb habe die Gemeinde nun eines seiner Pferde gepfändet. Sie forderte deshalb die Gießener Regierung auf, ihre Obrigkeit zur Einhaltung und Absicherung der gemeindlichen Rechte zu veranlassen. Weiter trug die Gemeinde vor, dass Salomon wegen der Pfändung dem Ganerben Hans Georg von Trohe d.Ä. „nachgelaufen“ sei und seinerseits bei diesem Klage eingereicht habe. Dieser habe bei 20 Reichstalern Strafe 82
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Dies ergibt sich aus einem Bericht des Amtmanns Daniel Stamm an die Regierung Gießen vom 21. Februar 1620 (StAD, E 12 Nr. 21/12), in dem mitgeteilt wurde, dass sich inzwischen 5 Judenfamilien im Buseckertal befänden (Schmuel zu Alten-Buseck sowie Hutz, Isaak, Salomon und Mosche zu Großen-Buseck, die aber den Landgrafen kein Schutzgeld entrichten müssten, wohl aber jährlich 10 Gulden an die Ganerben. Es hätten seit „60 undt mehr Jahren Juden darin sich ufgehalten“. Dies stimmt mit den gleichzeitig aufgezeichneten Zeugenaussagen überein, wonach die Ansiedlung zwischen 1550 und 1560 begann (ebd.). Der aus Hallerndorf im Bamberger Land stammende Großen-Busecker Jude Isaak, Schwiegersohn ersten im Buseckertal siedelnden Juden Gerst (Gerson) gibt an, dass er anfangs nur ein Jahrgeld von 6 fl, danach von 8 fl und schließlich von 10 fl habe geben müssen, obwohl inzwischen auch 14 oder 16 fl üblich seien. Die Supplikation ist nicht datiert, aber am 1. November 1619 bei der Regierung eingegangen, muss also im Oktober abgefasst worden sein.
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die Freilassung des Pferdes angeordnet und darüber hinaus verfügt, dass die Gemeinde „hinkünftigen undt zu allen Zeiten einem jeden Juden zwey Pferde auf gemeinen Gebrauch füren zu lassen gestatten sollte“. Im Übrigen war die Gemeinde der Ansicht, dass der erwähnte Busecker Ganerbe damit unzulässigerweise „eine newe Gerechtigkeit sich dardurch erzwingen will“. Wasser und Weide, um die es hier ginge, ständen aber nicht den Vierern und Ganerben, sondern allein der Gemeinde zur Nutzung zu.84 Nach Eingang der Beschwerde forderte die Regierung die Vierer zu einem Bericht auf.85 Erst danach veranlasste die Gemeinde eine förmliche, in einem Instrument des Gießener Ratsverwandten und Notars Konrad Weiß protokollierte Appellation gegen den ihrer Ansicht nach rechtswidrigen Bescheid ihrer Obrigkeit.86 Der gemeindliche Anwalt Staffenburger führte hier namens der Gemeinde aus, „wie lenger dan einem Menschen uff dem ganzen weiten Erdtkreiß gedenket, Wasser, Weidt, Trifft undt alle andere zu dem gemeinem Gebrauchen gehörige Sachen vor unser [scil. der Gemeinde] selbst, proper und eigenthumbliches Gut geachtet und gehalten“. Nur den Einwohnern selbst, keinen Fremden, sei nach ihrer „Einfahrtsordnung“ die Nutzung gestattet. Der Jude Salomon sei aber kein Gemeiner. Der von den Ganerben erteilte Bescheid gereiche der Gemeinde „zu grosem Praejudiz, Schaden und Nachtheil“, so dass sie jetzt um Restitution ihrer Rechte bitte.87 Die Ganerben hatten die Grundsatzbedeutung des Konflikts als eines Streits um die obrigkeitlichen Befugnisse zur Beschränkung der gemeindlichen Allmende sehr wohl erkannt und mussten nun befürchten, dass die oberhessische Regierung der Gemeinde Recht geben würde, um damit auch die Judenschutzrechte des Landgrafen zu sichern.88 Deshalb nahmen sie die Herausforderung an und bezogen mit Schreiben vom 10. November zur Beschwerde Stellung. Sie argumentierten, dass sie seit langer Zeit, wie ihre Dokumente und Register besagten, in ihren Dorfschaften Alten- und Gro84
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Hier beruft sich die Gemeinde auf eine alte Tradition ausschließlich gemeindlicher Nutzung von Wasser und Weid, die aber gerade durch die Entstehung obrigkeitlicher Gewalt in Zweifel gezogen wurde. Siehe etwa Karl Siegfried Bader, Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf, Wien/Köln/Graz 1973 (Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes; III), S. 235–252. Reskript von 1619 November 1, mit dem Bemerken, „daß die Pfändung an sich selbsten verboten“. Appellation von 1619 November 4, beurkundet November 8, aufgesetzt auf Betreiben des gemeindlichen Syndikus Mag. Hedderich Staffenburger. Die in der Appellationsschrift ausführlich beschriebenen Argumente werden in einem weiteren Schriftsatz der Gemeinde, der am 23. November 1619 bei der Regierung einging, wiederholt und teilweise erweitert. Wichtig ist der Gemeinde das Argument, dass der Jude Salomon „doch bei uns kein Gemeiner ist“ und daher nicht „der gemeinen Nutzungen und Gebäuchen theilhaftig“ sein könne. Der Streit um die von der Obrigkeit beanspruchte Mitnutzung und damit Beschränkung der Allmende wird beschrieben bei Karl S. Bader, Die Rechtsgeschichte der ländlichen Siedlung, in: Karl S. Bader/Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im Alten Europa, Berlin u. a. 1999, S. 3–250, hier S. 231–233.
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ßen-Buseck „jegen gewohnliches Schutzgeldt [...] Juden gehalten“ haben.89 Ihnen hätten sie erlaubt, „Wasser undt Weydt, gleich andern umbliegenden und ahngrentzenden Obrigkeiten [...] zimblicher und gebührender Maßen zu gebrauchen“. Bis zur Stunde seien die Busecker Juden „in exercitio und Gebrauch solches Rechtens“ geblieben. Da aber die Aufnahme der Juden und die „Verstattung deroselben zu Wasser und Weydten, welche negst andern von römischer kayserlicher Mayestät wir zu Lehen tragen, gleich wie bey andern Obrigkeyten zu unser freyen Willkühr stehet, wir auch darbey den Judten nie noch keine beschwerliche Übermaß verstattet“, stehe ihnen als einer Obrigkeit auch das Recht zu, Maßnahmen der Pfändung zu verhindern. Sie seien allerdings bereit, dafür sorgen zu wollen, den Juden „bey dem Gebrauch des Weydens keine Übermaß oder Missbrauch zu verstatten, sondern sie dahin anzuweißen, das keiner etwas über ein oder zwey gesundte, tüchtige Pferdt und der Weydt ohne Schaden halten darf “. Um eine Klärung der Grundsatzfrage darüber, wem die Judenregalien im Buseckertal zustünden und wer folglich über zugehörige Nutzungsrechte bestimmen könne, herbeizuführen, sandte im März des folgenden Jahres Daniel Stamm, Amtmann zu Gießen, eine gutachtliche Stellungnahme an Landgraf Ludwig V.90 Seit etwa 60 Jahren hätten, so führte er aus, die Vierer und Ganerben des Buseckertals gegen Einzugs- und jährliches Schutzgeld Juden im Buseckertal aufgenommen. Da dort aber die „landtsfürstliche Hoheit und das regale superioritatis territoralis“ unzweifelhaft dem Landgrafen von Hessen zustehe und aus den Abschieden des Heiligen Reiches klar hervorgehe, „dass niehmant Juden aufzunehmen Macht haben solle, dan welche vom Reich regalia haben oder sonderbar darumb befreyet seyen“,91 komme dieses Recht zur Judenaufnahme allein der landesfürstlichen Obrigkeit zu. Die Vierer und Ganerben seien aber nur Untergerichtsherren, und auch ihre vom Reich verliehene Civil- und Criminal-Jurisdiction beinhalte nicht den Judenschutz, da dieser „vielmehr vom regali territorialis jure dependiret. Das regale recipiendi sive protegendi judaeos“ stehe folglich den Vierern und Ganerben nicht zu. Erst nach Abschluss des formlos verlaufenen Beschwerdeverfahrens und nach dem Eingang der angeforderten Berichte begann der eigentliche und förmlich nach den Regeln des Kameralprozesses92 geführte Appellationspro89 90 91
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Einschlägige Akten haben sich im Archiv der Familien von Buseck/von Trohe nicht ermitteln lassen und konnten in diesem Prozess auch nicht vorgelegt werden. Bericht von 1620 März 7, in der landgräflichen Kanzlei in Darmstadt eingegangen am 10. März, StAD, E 12 Nr. 21/12. Daniel Stamm bezieht sich hier auf entsprechende Bestimmungen der 1548 und 1577 erlassenen Reichspoliceyordnungen; dazu: J. Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlichen Situation der Juden in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 545–599, hier S. 572. Ders., Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium, in: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana; 2), S. 53–79, hier S. 71. Unter einem Kameralprozess versteht man insbesondere das am Reichskammergericht praktizierte Verfahren, das aber auch an anderen obersten Gerichten der Landesfürsten
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zess bei der Regierung Gießen als der Berufungsinstanz für das Oberfürstentum Hessen.93 Auf Seiten der Gemeinde Großen-Buseck wurde er von ihrem Syndikus Mag. Hedderich Staffenburger geführt, auf Seiten ihrer Gegner von dem Gießener Kanzleiprokurator Henning Kitzelius.94 Zu ihnen gesellte sich ein Mag. Konrad Vietor, der sich namens der übrigen Gemeinden des Buseckertals – erwähnt wurden hier Alten-Buseck, Beuern, Bersrod, Reiskirchen, Burkhardsfelden, Ober-Albach, Oppenrod und Rödgen – der Appellation anschloss und prozessrechtlich als Intervenient auftrat.95 Das nun folgende, als sogenannter Artikelprozess im Sinne der Reichskammergerichtsordnung von 1548/5596 geführte Verfahren zog sich über zwei Jahre hin. Es soll hier kurz seinem Verlauf nach paraphrasiert werden. Staffenburgers Klagschrift vom 11. Mai 1620 legt in 60 Artikeln dar, dass die Gemeinde Großen-Buseck „eine eigene Einfardtsordtnung“ habe, u. a. des Inhalts, dass diejenigen, „welche in dero Gemeinde nicht begrieffen noch darunter gezehlet sein, solcher dero Dorfschaft zuständiger Gueter und Gebrauch in Wälden, Wiesen, Trieften, Wegen undt Weyden sich nicht underziehen noch dessen genießen sollen“. Diese Ordnung sei auch von den Regierungskanzleien in Marburg und Gießen bestätigt worden. Da der Jude Salomon aber „in die Gemeinde daselbst niemals recipiret noch uffgenommen“ worden sei, habe er auch kein Recht zur Nutzung der Gemeindeweide.97 Dem widersprach Anwalt Kitzelius mit zwei Exzeptionsschriften vom 5. Oktober 1620. Er verwies hier auf die Bescheide vom 3. Juni 161198 und 1. November 1619, die den Ganerben vorläufig Recht gaben. Die acht intervenierenden Gemeinden hätten sich „durch die Gemeindt zue Grossen-Buseck alß unruhge Appellanten uffwiegeln lassen“. Klage samt Intervention seien daher „mit dießem ihren zancksüchtigen Suchen zurückzuweißen“. Brachte dieser Schriftsatz im Grunde nichts Neues, so lässt eine Replikschrift Staffenburgers erkennen, dass der
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eingeführt wurde; hierzu Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, Köln/Wien 1981 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 10), insb. S. 198–208. Die einzelnen Prozessschritte sowie Entscheidung des Gerichts sind ausführlich in einem Protokoll am Beginn der Akte StAD, G 26 A Nr. 493/2 festgehalten. Prozessvollmacht von 1620 Mai 13 erhalten; Henning Kitzelius trat die Nachfolge des verst. Anwalts Mag. Johann Stockhausen an, verstarb aber seinerseits laut Protokoll im März 1622. Undatierte Interventionsschrift, bei der Regierung eingegangen 1620 Mai 11. Dazu Dick, Entwicklung, S. 205 u. a. Zur Übertragung der Grundsätze des Artikelverfahrens (artikulierte Klage, die so formuliert sein muss, dass auf jede Aussage nur mit ja oder nein reagiert werden kann) auf das landgräflich-hessische Gerichtswesen s. Friedrich Battenberg, Der Streit um einen Sattelhof am ehemaligen Mühlturm zu Darmstadt. Ein Prozeß des Landschreibers Hans Friedrich von Gernsheim vor dem Stadtgericht Darmstadt und dem Hofgericht Marburg 1548–1550, in: Archiv für hessische Geschichte NF 37 (1979), S. 187–213, hier S. 192 f. Klagschrift von 1620 Mai 11, Art. 7, 9, 12, 15. Lt. Protokoll wurde in der Sitzung vom 21. Februar 1622 festgestellt, dass dieser Bescheid nicht 1611, sondern 1613 ergangen sei.
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Streit tiefer ging und Fragen des nachbarschaftlichen Lebens im Dorf berührte. Es sei darauf deshalb etwas ausführlicher eingegangen. Staffenburger entgegnete in seiner Replikschrift, dass das Dorf GroßenBuseck keineswegs die andern Dörfer des Buseckertals aufgewiegelt habe, vielmehr seien diese ebenfalls aus eigenem Recht betroffen. Die Pfändung und Bestrafung der die Weide nutzenden Juden sei keinesfalls eine unzulässige Neuerung, man habe daher den ebenfalls betroffenen Juden Isaak „seines begangenen Frevels halben“ mit einer Buße in Höhe eines halben Guldens belegt.99 Die Gemeinde sei deshalb nicht verpflichtet, „deme gottschendlichen Juden den halben Gulden zu restituiren“. Ihm sei die Buße „umb solches sein Verbrechtens willen“ auferlegt worden, weil „er kein Gemeiner [sei] und gleichwohl der Gemeindte Nutzbarkeiten hat geniesen wöllen.“100 Der Bescheid von 1611 sei widerrechtlich ergangen, „ist demnach nicht die Gemeindte Grossenbußeck, sondern Vierer und Gahnerben selbst dieses Streits alleintzige Ursach“. In seiner Antwort vom 15. März (Duplikschrift) ging Anwalt Kitzelius nochmals auf die Rechtmäßigkeit des Bescheids ein, an den sich die Appellanten lange Zeit gehalten hätten. Er betonte jetzt erneut die ausschließliche Zuständigkeit der Ganerben für Angelegenheiten von Wasser und Weide im Buseckertal; die Gemeinde Großen-Buseck sei „in keiner Posession vel quasi“ der Weidegerechtigkeit und habe daher nicht rechtmäßiger Weise gegen die zur Nutzung berechtigten Juden vorgehen können.101 In den ,Schlussschriften‘ der beiden gegnerischen Anwälte, die am 6. September und am 6. Dezember bei der Regierung eingingen, wird nur noch um den Bestand der Weidegerechtigkeit gestritten. Staffenburger behauptet hier, es sei „notori[sch] und clar“, dass das Dorf dieses Recht habe: „Dann je kein Dorfschaft, so klein im Fürstenthumb Hessen, deß Buseckerthals zu geschweigen, welches nicht seine Gemeindteweydte und -trifft auch diejenige, so wider selbiger Willen, darauf mit ihrem Vieh hüeten und weiden wöllen“, bestrafen könne. Ihnen könne also nicht befohlen werden, „die gottlose Juden uff gemeinen Wiesen und Weyden mit ihren Pferden [...] zu leiden“. Kitzelius erläutert in seiner Schlussschrift den gegenteiligen Standpunkt nochmals in aller Ausführlichkeit. Die von Großen-Buseck ad notorietatem totius Hassiae bestehende Gewohnheit gäbe es nicht. Als Obermärker des Buseckertals seien die Vierer und Ganerben vielmehr selbst Inhaber der Weidegerechtigkeit, und das Dorf habe nicht das Recht, dem Befehl und dem Dekret ihrer Obrigkeit entgegen „die Juden von den gemeinen Weiden zu verstossen und die Pferde abzup99 100 101
Es ist dies der erwähnte Isaak, Schwiegersohn des Gerst, aus Hallerndorf, s. Zeugenaussage von 1620 Februar 25, StAD, E 12 Nr. 21/12. Die Behauptung, Isaak sei kein Gemeiner (Gemeindemitglied) und habe daher unberechtigter Weise die Allmende genutzt, wird mehrfach wiederholt. Der Gebrauch dieser aus dem römischen Recht entstammende Klausel posessio vel quasi sollte hier nur bedeuten, dass nicht nur der förmliche Besitz, sondern auch alle anderen Formen der ,Gewalthabe‘ ausgeschlossen werden sollten.
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fänden“. Isaak, Salomon und die anderen Juden des Buseckertals übten ihre Rechte auch nicht im Übermaß aus. Zu einer rechtsförmlichen Entscheidung in der Sache kam es nicht mehr. Zwar wurde noch in einer Verhandlung vom 28. März 1622 ein Bescheid zur Beibringung weiterer Urkunden protokolliert, doch konnte dieser nicht mehr wegen des Anwalts „Henning Kitzelii tödtlichen Abgang publicirt“ werden.102 Allem Anschein nach jedoch konnten sich die Dorfschaften des Buseckertals mit ihrem Ansinnen auf Ausschluss der bei ihnen wohnenden Juden aus der gemeindlichen Allmende nicht durchsetzen. Die rechtlich an dem sogenannten kleinen Hof zu Großen-Buseck haftende und den Ganerben zustehende Obermärkerschaft im Buseckertalbot für die Obrigkeit den geeigneten Hebel, die Grenzen der Gemeindenutzungen festzulegen und die ganerbschaftlichen Schutzjuden daran teilhaben zu lassen.103 Die Berufung der Gemeinden auf anders lautende Gewohnheitsrechte in der Landgrafschaft Hessen blieb ohne Folgen.
V. Der bei der landgräflich-hessischen Regierung in Gießen geführte Prozess, der mit hohem emotionalem Einsatz unter Nutzung aller gemeinrechtlichen Regeln verfolgt wurde, hat zugleich ein Schlaglicht auf die Lebensverhältnisse der Juden des Buseckertals werfen können. Die bis zum Ende des Alten Reiches bestehende Unklarheit über die verfassungsrechtliche Zuordnung der Juden und das Bestreben der Ganerben, sich wo immer es ging als Obrigkeit kraft einer reichsunmittelbaren Stellung zu etablieren, schuf für die Juden einen gewissen Freiraum, den sie zu nutzen wussten und in dem sie allem Anschein nach auch zu Wohlstand kamen. Es wohl war keine Seltenheit, dass Mitglieder der ganerbschaftlichen Obrigkeit von ihnen größere Darlehenssummen aufnahmen, wie Obristleutnant Friedrich Ludwig von Buseck 1757 bei dem Juden Jonas David zu Großen-Buseck104 , dessen Witwe Anna Charlotta von Dernbach 1760 bei Sara, der Ehefrau des Handelsjuden Beifuß Josef zu AltenBuseck zur Ausrüstung ihres in württembergischen Kriegsdiensten stehenden Sohnes105 sowie schließlich Charlotta von Buseck geb. von Nordeck zur Rabenau 1760 bei eben dem Juden Jonas David.106 Die beträchtlichen Sum102 103 104 105
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Notiz im Gerichtsprotokoll vom 3. Oktober 1622, womit zugleich das Protokoll endet. So nach Gutachten vom 4. September 1767, StAD, E 12 Nr. 16/19. Hierzu auch Hans, Juden, S. 44. Schuldbrief von 1757 Oktober 19 über 150 Gulden, bestätigt von der Regierung Gießen 1758 Oktober 23, StAD, F 28 Nr. 191. Schuldbrief von 1760 November 21 über 535 Gulden 30 Kreuzer, bestätigt von der Regierung Gießen 1760 November 22, StAD, F 28 Nr. 191. Battenberg, Quellen, Teil 1, S. 558 Nr. 2157, nach StAD, G 28 A Nr. 473/24. Schuldbrief von 1760 Januar 24 über eine Summe von 300 Gulden, bestätigt von der Regierung Gießen 1762 Dezember 15, bei Battenberg, Quellen, Teil 1, S. 559 Nr. 2159,
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men, die als Kapitalien ohne Weiteres zur Verfügung gestellt wurden, belegen zugleich das zwischen den Juden der Ganerbschaft und der Familie von Buseck bestehende gute Verhältnis. Der Darlehensfluss freilich wurde von der landgräflichen Obrigkeit kontrolliert, wie sich aus dem Erfordernis der Genehmigung durch die Regierung Gießen ergibt. Die Dörfler der neun Gemeinden des Buseckertals sahen sich seit dem späteren 16. Jahrhundert, als sich die landesherrliche Obrigkeit allenthalben als geschlossene Landeshoheit zu verfestigen begann, mit einer neuen Bevölkerungsgruppe konfrontiert, deren Aufnahme in die Dorfgemeinschaften sie nicht steuern konnten. Insofern ist es zunächst verständlich, dass sie sich gegen die Nutzung der wichtigsten dörflichen Ressourcen, der Allmende mit ihren Nutzungsmöglichkeiten für alle Dorfbewohner, zu wehren versuchten.107 Sie sahen die Juden als Fremde an, die nicht die gleichen Teilhaberechte erhalten sollten wie die christlichen Bewohner. Für die Ganerben des Buseckertals mag der fiskalische Nutzen, aber auch die Chance, durch Ausübung von Judenschutzrechten ihre eigene obrigkeitliche Stellung in Auseinandersetzung mit den Landgrafen von Hessen zu etablieren, ausschlaggebend gewesen sein. Ihre Ansiedlungspolitik konnte nur erfolgreich sein, wenn sie ,ihren‘ Juden auch günstige Lebensbedingungen boten. Dass die Ansiedlung von Schutzjuden im Buseckertal nicht das Ergebnis einer planmäßigen ,Peuplierungspolitik‘ war, sondern die Folge von Erfahrungen, die die ersten Siedler im späten 16. Jahrhundert gemacht hatten, ergibt sich aus einigen im Auftrag der landgräflichen Regierung 1620 erhobenen Zeugenaussagen.108 Demnach konnten die ersten jüdischen Siedler – es waren dies der um 1614 verstorbene Jude Gerst aus Langsdorf sowie der 1583 zugewanderte Jude Hirtz aus Münzenberg – nach und nach weitere jüdische Familien zur Ansiedlung gewinnen, unter ihnen um 1600 einen gewissen Isaak, einen aus Hallerndorf zugezogenen Schwiegersohn des Gerst, und den Salomon, einen Sohn des erwähnten Hirtz. Weitere Juden zogen aus angrenzenden Dörfern wie Staufenberg und Münzenberg zu. Auffallenderweise nahmen die Ganerben die zuerst angeworbenen Juden anfangs in dem nicht zu den Dorfschaften des Buseckertals zählenden Trohe auf, wo sich einer ihrer Herrenhöfe befand.109 Erst nach Ablauf einer gewissen ,Probezeit‘ wurde die Ansiedlung in den Dörfern Großen-Buseck, Beuern110 und AltenBuseck zugelassen, sehr viel später auch in den übrigen Dorfschaften des Bu-
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nach StAD, G 26 A Nr. 493/47 Bl. 5. Für den Erhalt dieser Summe verpfändete Charlotta die ihr als Wittum nach dem Tode ihres Ehemanns Ludwig Georg Friedrich von Buseck 1754 zugewiesenen Güter an Jonas David. Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 59–61. Berndt Schild, Art. „Allmende“, in: HRG 1, Sp. 169–180. Auch bei Bader, Rechtsformen, S. 247 f. Zeugenprotokoll von 1620 Februar 2 bis März 1, StAD, E 12 Nr. 21/12. Trohe an der Wieseck liegt auf halbem Wege zwischen Alten-Buseck und Rödgen nordöstlich von Gießen und ist damit umgeben von ganerbschaftlichen Gemarkungen. Harald Klaus, Jüdisches Leben im Schatten des Kirchturms, Beuern 2002, S. 2 (erster Nachweis 1594).
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seckertals. Von diesem Zeitpunkt, also seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, datieren die ersten Auseinandersetzungen um die Nutzung gemeindlichen Weidelands. Offensichtlich wurde es als ganz selbstverständlich angesehen, dass die Juden des Buseckertals im Besitz von Pferden waren, die sie wohl für ihre geschäftlichen Reisen und sicher weniger zu landwirtschaftlichen Zwecken hielten. Anfangs genossen sie – mit Ausnahme der politischen Partizipationsrechte – aufgrund obrigkeitlicher Gestattung die gleichen Rechte wie die anderen Gemeindeangehörigen (Gemeine) der Taldorfschaften. Man kann sogar davon ausgehen, dass sie in diesem Umfang auch in die dörfliche Gemeinschaft integriert waren, zumal sie anfangs wohl angesichts ihrer noch geringen Anzahl keine eigenständige Gemeinde bilden konnten. Erst die Zunahme der Juden des Buseckertals auf fünf Familien, die insgesamt wohl mehr als 30 Köpfe umfassten, führte dazu, dass die Gemeinden sich wehrten.111 Zu spät mussten sie feststellen, dass die von ihrer Obrigkeit den Juden zugestandenen Partizipationsrechte nicht mit ihren alten Gewohnheiten in Übereinstimmung zu bringen waren. Jetzt plötzlich setzten sie das ganze ihnen geläufige judenfeindliche Vokabular ein, um die vermeintliche Verletzung dörflicher Allmenderechte wirksam auf die Tagesordnung setzen zu können. Letztlich konnten sie aber damit am status quo innerhalb der Ganerbschaft Buseckertal nichts mehr ändern. Für die am Schicksal der ländlichen Juden in Oberhessen interessierte Nachwelt macht dieser Konflikt aber deutlich, dass bei vorhandenem Interesse einer Obrigkeit friedliche Nachbarschaft zwischen Juden und Christen auf der Ebene des Dorfes zwar möglich war, aber nicht ohne Widerstände der alten Dorfgemeinschaft.
VI. Für den Landgrafen von Hessen-Darmstadt bot die im Konflikt von 1619/1620 entstandene Situation, dass sich die Untertanen einer ritterschaftlichen Obrigkeit an ein landgräfliches Gericht, nämlich die Regierung zu Gießen, wandten, um dort ihren Konflikt um die Nutzung dörflicher Allmende durch Juden entscheiden zu lassen, neue Chancen, um die landeshoheitlichen Rechte nun auch in einer vom eigenen Territorium umschlossenen Adelsherrschaft zu etablieren und damit zugleich mehr als bisher an den Judenschutzrechten zu partizipieren. Landgraf Georg II. wandte sich zu diesem Zweck im Juli 1658 mit der Bitte um Rechtsauskunft an seinen Kasseler Vetter Landgraf Wilhelm VI., in dessen Gebiet sich ebenfalls zahlreiche Adelsherrschaften befanden.112 Dieser 111 112
Zur Größe jüdischer Haushalte in Oberhessen um 1650 s. Battenberg, Strukturen, S. 278–281. Schreiben von 1658 Juli 5 im Wortlaut nicht erhalten, wohl aber in der Antwort von 1659 Januar 13 inhaltlich zitiert, StAD, E 12 Nr. 21/12.
Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal
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beauftragte seinerseits die eigene Regierung in Kassel mit der Erstellung eines Gutachtens, das ihm gegen Ende des Jahres 1658 übersandt wurde.113 Die Kasseler Räte stellten dort zunächst fest, dass die in der Landgrafschaft „Gesessene[n] von Adel von sehr langer Zeit und unüberdencklichen Jahren des juris recipiendi Judaeos sich gebrauchet und in dessen possessione val quais annoch begriffen seind, andere von Adel hergegenitzo und seither einiger Zeit Juden gleichfalß angenommen und unter sich wohnhaft haben, dass sie es aber à tempore immemoriati herbracht, wohl nicht mögen dociren und beybringen können.“
Weiter heißt es in diesem Gutachten: „Ob nun wohl diß Jus recipiendi Iudaeos unter die den Ständen des Reichs zukommende Regalia nicht unnbillich gezehlet wird und von keinem andern alß ein Regale usurpiret noch acquiriret werden kann, so mag es doch gleich andern geringen Stücken auch von andern, alß Reichsständen per concessionem vel praescriptionem erlanget werden, welchenfalß alßdann solche regalie ihren Nahmen verliren und gleich alß andere jura von den Edelleuten besessen undt exerciret werden, allermaßen ein solches bey der freyen Reichsritterschaft in Schwaben, Francken und an dem Rheinstrom, welche ebenso wenig status imperii seind und doch viele verschiedene Jura [...] männiglichen unverhindert exerciren, weniger nicht alß anderen Mediat-Edelleuthen im Reich hin und wieder die Erfahrung bezeuget.“
Es wurde also darauf verwiesen, dass es neben den nur den Reichsständen zukommenden Regalien auch weitere durch Verleihung erworbene Judenschutzrechte geben kann, was besonders für die freie Reichsritterschaft gelte. Daran solle man, weil „die itzige Zeiten böß und gefährlich und alles dasjenige, so zu Ernewerung der vorigen, kaum vor wenig Jahren hin- und beygelegten Irrsalen Gelegenheit und Anlaß geben könne“, vorerst nichts ändern. Die weiterhin gültige landgräflich-hessische Judenordnung von 1539114 sei aber hinsichtlich derjenigen Juden, die vom Landgrafen Schutzbriefe erhalten hätten und auf die Ordnung vereidigt worden seien, anzuwenden, obwohl „darinnen keiner unter denen von Adel wohnenden Juden in specie gedacht wird“. Letztlich plädierte damit die Kasseler Regierung für die Aufrechterhaltung des status quo, die Sonderstellung der Adelsherrschaften wurde anerkannt, freilich mit der Maßgabe, dass dort lebende Schutzjuden, falls sie auf die hessische Judenordnung vereidigt worden waren, auch in landgräflichem Schutz und damit innerhalb der Landeshoheit standen. In seiner Antwort an Landgraf Georg II. von Darmstadt vom Januar 1659115 bezog sich Wilhelm VI. von Kassel auf dieses Gutachten und musste zugeben, dass den betroffenen Adelsherrschaften zu viel an Rechten gegenüber den dort wohnenden Juden eingeräumt worden sei, was man nun aber nur schwer rückgängig machen könne: „Nachdem man aber dem Adel hirbey in dergleichen Judenufnahm durch Ubersehung zu viel eingereumet und sie zu weit in possessione vel quasi hat kommen lassen, so dörfte es darbey wieder in die Sträcke zu bringen nunmehr schwerer alß man vermuhtet, wo nicht gar zu spät fallen.“ 113 114 115
Gutachten von 1658 Dezember 21, StAD, E 12 Nr. 21/12. Abdruck bei: J. Friedrich Battenberg, Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt, S. 49– 51 Nr. 2. Schreiben von 1659 Januar 13, StAD, E 12 Nr. 21/12.
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J. Friedrich Battenberg
Deshalb stellte er ihm anheim, sich nach der Judenordnung Landgraf Philipps des Großmütigen und den späteren, in Hessen-Darmstadt publizierten Judenordnung zu richten. Es sei allerdings wichtig, dass man sich auf eine neue Judenordnung in beiden Landesteilen einige, in der entsprechende, hier nicht näher erläuterte Bestimmungen aufgenommen werden sollten „(es vielmehr mit vor gut, nütz- auch nötig ansehen, dass uf gewisse zulängliche ingredientia einer Judenordtnung nechstens gedacht, und sich darin zwischen unß umb mehrern Nachdrucks willen einer Conformitet verglichen und selbige forters von jedtwederm à part in seinem Antheil Fürstenthumbs ausgelassen und publicirt werde)“.
Auch wenn sich aus den Quellen nichts darüber ergibt, ob Landgraf Georg II. oder seine Nachfolger im Rahmen der für die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt geltenden Judenordnung116 eigene Schutzrechte gegenüber den Juden der Ganerbschaft Buseckertal geltend machte, so ist es doch wahrscheinlich, dass man das Recht der ganerbschaftlichen Obrigkeit zur Aufnahme von Juden als vor unvordenklicher Zeit erworbenes Recht vorerst nicht in Zweifel zog und die sich aus den ritterschaftlichen Privilegien ergebenden Rezeptionsrechte stillschweigend anerkannte. Dieser modus vivendi, der sich an den jeweiligen Zuständigkeiten nach Maßgabe der Schutzbriefe orientierte, scheint in der kommenden Zeit durchaus beachtet worden zu sein. Als sich nämlich z. B. die in ganerbschaftlichem Schutz stehende Jüdin Schönle, die Ehefrau des Berle zu Alten-Buseck, an die landgräfliche Regierung in Gießen wandte, um in einem Konflikt mit ihrem Schuldner Hans Adam von Buseck zu ihrem Recht zu kommen,117 wies diese die Vierer und Ganerben des Buseckertals mit Reskript von 1662 an,118 dafür zu sorgen, dass die Supplikantin „wider Gebühr nicht getrieben noch gravirt“ werde, sondern ihre Beschwerden abgestellt würden, da es „sich geziemen will, dass den Juden in billichen Dingen gebührlicher Schutz geleistet werde“. Nicht die Regierung, sondern die Ganerbschaft sollte damit den Schutz gewährleisten. Auf das Vorbringen des Hans Adam von Buseck, der sich unter anderem darüber beschwerte, „waß die Juden für verlogene Gesellen seindt“, ging die Regierung mit keinem Wort ein: Eine eigene gerichtliche Untersuchung der Vorgänge leitete die landgräfliche Justizbehörde nicht ein, da es allein um die Umsetzung der ganerbschaftlichen Schutzzusage gegenüber den dortigen Juden ging.
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Mit Edikt von 1629 Februar 20 hatte Landgraf Georg II. eine neue Judenordnung publiziert, die er selbst nochmals mit Edikt von 1661 Januar 17 erneuerte, Druck bei: Battenberg, Judenverordnungen, S. 75–78 Nr. 13 und S. 86 Nr. 23. StAD, F 28 Nr. 100, Battenberg, Archiv, S. 250. Auch bei Battenberg, Quellen, Teil 1,, S. 251 Nr. 922. Als Hans Adam von Buseck bekannt wurde, dass sich Schönche an die Regierung in Gießen gewandt hatte, um dort ihre Schuldforderung geltend zu machen, ließ dieser – wie sich aus einer weiteren Beschwerde ergibt – durch seine Schützen abends zwischen neun und zehn Uhr die Haustüre in Schönchens Wohnung eintreten und aus den Angeln heben. Reskript von 1662 Juli 1, F 28 Nr. 100.
Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal
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Die Sonderstellung der ganerbschaftlichen Untertanen und besonders der Juden des Buseckertals im Rahmen der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt hielt sich allem Anschein nach noch bis mindestens zur Mitte des 18. Jahrhunderts, wurde aber durch zweiseitige Übereinkommen und Erklärungen langsam eingeschränkt. Dies ergibt sich etwa aus einer Erklärung des Kraft Adam Münch von Buseck von 1687, die gemäß einer Anweisung Landgraf Ludwigs VIII. von Hessen-Darmstadt an seinen Hofarchivar Johann August Buchner von 1742 als rechtliches Dokument zu den Akten genommen werden sollte.119 Hierin wurde festgestellt:120 „Vermöge uraltem Buseckerthalischen Observance haben alle Underthanen, so aus deme Buseckerthal ins hochfürstliche Hessen-Darmbstättische Landt sich begeben und ihr Vermögen darinnen transferiren, einen freyen Überzug, und wirt denenselben wegen Zehnten Pfennigs oder sonsten nichts allhier abgefordert, welches uf Begehren der Wahrheit zu Stewer hiermit attestiret wirt.“
Dies heißt, dass das Buseckertal weiterhin als nicht vollständig in das Landesfürstentum integrierte separate Adelsherrschaft anerkannt wurde, dass aber gleichzeitig der Vermögenstransfer in die Landgrafschaft – und wohl auch umgekehrt – durch Befreiung von der üblichen Steuer erleichtert wurde. Dies musste insbesondere für Juden gelten, obwohl sie hier nicht ausdrücklich genannt wurden. In einem anderen Fall wurde eine landgräflich-hessische Verordnung von 1731 erlassen, die Juden, die vor dem 25. Lebensjahr heiraten wollten, eine Dispensgebühr in doppelter Höhe gegenüber derjenigen, die Christen zu tragen hatten, auferlegte.121 Diese stillschweigend auch für die Untertanen des Buseckertals eingeführte Ordnung wurde dort nach den Ermittlungen des landgräflichen Konsistoriums in Gießen jedoch nur von Christen, nicht aber von den Busecker Schutzjuden beachtet. Landgraf Ludwig VIII. sah sich deshalb in einem 1740 ausgegangenen Reskript veranlasst, die Regierung in Gießen um strikte Umsetzung der Dispensordnung von 1731 im Buseckertal zu bitten, da „die darin wohnende[n] Juden hierunter keineswegs einen Vorzug praetendiren können.“122 Dem entsprechend erließen die Regierung und das Konsistorium in Gießen zu Beginn des Folgejahres eine Ausführungsverfügung an die Beamten des Oberfürstentums.123
VII. All diese Nachrichten machen ausreichend deutlich, dass die frühere Eigenständigkeit der Ganerbschaft Buseckertal als reichsritterschaftliche, 119 120 121 122 123
Reskript Landgraf Ludwigs VIII. von 1742 Februar 29, StAD, E 12 Nr. 55/7 Bl. 23. Attestat von 1687 Januar 25, ebd., Bl. 24. Verordnung von 1731 April 6, Battenberg, Judenverordnungen, S. 177–179 Nr. 154. Verordnung von 1740 Dezember 5, Battenberg, Judenverordnungen, S. 202 Nr. 185. Verordnung von 1741 Januar 21, StAD, E 3 A Nr. 45/13 Bl. 25v.
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dem Kaiser unmittelbar zugeordnete Herrschaft – und damit zugleich die Sonderstellung der dortigen Juden – im Zuge des weiteren Ausbaus der Landeshoheitlichen Gewalt allmählich ausgehöhlt und durch Einbindung in die moderneren Strukturen des Landesfürstentums Hessen de facto aufgehoben wurde. Die Rechte der Ganerben wurden gleichsam privatisiert und ihrer hoheitlichen Funktion entkleidet. Dies zeigt sich exemplarisch anhand des 1739 bis 1742 andauernden Synagogenstreits zwischen den Ganerben des Buseckertals und dem Konsistorium Gießen,124 in dem die Ritter von Buseck und von Trohe nur noch als „adeliche Vasallen“ behandelt wurden,125 obwohl sie rechtlich gesehen nach wie vor Lehnsleute des Kaisers waren.126 In diesem Streit ging es um die von den Ganerben den Juden zu GroßenBuseck und zu Beuern gestattete Errichtung von Versammlungsräumen. Ob und inwieweit diese als Synagogen neu errichtet oder nur unter Verwendung älterer Bauten als Judenschulen „umgewidmet“ wurden, lässt sich heute nicht mehr beurteilen, da ihre Lage zwar bekannt,127 sie aber in der Substanz offenbar nicht mehr erhalten sind.128 Die Vierer und Ganerben begründeten das Recht zur Errichtung einer Synagoge, als das Konsistorium Gießen Rechtsbedenken anmeldete, damit, „dass die Judenschaft im Buseckerthal wie alle ihre Glaubensgenossen anderswo je und allwege das frey Exercitium Religionis gehabt“;129 die Errichtung einer Synagoge stelle sich demnach keineswegs als eine unzulässige Neuerung dar. Dies aber ließ das Konsistorium nicht gelten, sondern beharrte auf der landesfürstlichen Zuständigkeit zur Errichtung neuer Synagogen. Zunächst argumentierte das Gießener Konsistorium formal damit, dass gemäß den fürstlichen Verordnungen nur der Landgraf selbst die Errichtung neuer Synagogen erlauben könne.130 Entscheidender war aber ein anderes rechtliches Argument: Es sei zwar außer Zweifel – so die Konsistorialräte –, dass den Ganerben das Jus recipiendi Judaeos zustehe. Daraus folge jedoch 124 125 126
127 128 129 130
Kurz dargestellt bei Hans, Buseck, S. 62 f. So ein Bericht von 1742 Januar 25 an den Landgrafen Ludwig VIII., StAD, E 12 Nr. 55/7; vgl. Battenberg, Quellen, Teil 1, S. 846 Nr. 3313. Letzter kaiserlicher Lehnsbrief stammt von Kaiser Karl VI. von 1717 Dezember 24, Battenberg, Archiv, S. 185 Nr. 523. Diesen Lehnsbrief haben nach dessen Tod nochmals mit Urkunde von 1741 Oktober 13 die beiden Reichsvikare Herzog Karl Albrecht von Bayern und Pfalzgraf Karl Philipp bei Rhein erneuert (ebd., S. 193 f. Nr. 550). Doch durch die commissio perpetua Karls VI. von 1725 zugunsten Landgraf Ernst Ludwigs (ebd., S. 188 Nr. 532) wurde die Befugnis zur Investitur in die Reichslehen an die Landgrafschaft abgetreten. Pläne bei Hans, Buseck, S. 62 f. Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, 2. Aufl. Königstein 2007, S. 197–199 Nrr. 63 und 64. Zitiert im Konsistorialgutachten von 1741 September 5, StAD, E 12 Nr. 55/7. Bezug genommen wurde vermutlich auf die 1736 neu verkündete Judenverordnung von 1697 März 11, die ihrerseits auf ein Privileg Landgraf Ernst Ludwigs von 1795 August 21 zur begrenzten Errichtung von jüdischen Gebetsräumen verwies, Druck bei: Battenberg, Judenverordnungen, S. 92 f. Nr. 37 (Privileg von 1795), S. 95 Nr. 39 (Judenordnung von 1697 März 11) und S. 194 Nr. 175 (Neuverkündung der Judenordnung von 1736).
Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal
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keineswegs, dass dies auch das Recht zur Ausstattung von Synagogen (Jus adornandi Synagogas) einschließe. Vielmehr sei dies ein Recht, das allein ad superioritatem territorialem, also der Landeshoheit, zuzurechnen sei, die dem Landgrafen Ludwig VIII., nicht den Ganerben, zukomme. Und zu dieser Landeshoheit zählten auch die kirchlichen Rechte (Jura ecclesiastica). Damit stellten die vom Landesfürsten nicht bewilligten Maßnahmen zur Errichtung neuer Synagogen „höchst praejudicirliche territorial Eingriffe“ dar. Auf diesen Bericht hin wies Landgraf Ludwig die Konsistorialräte an, die Ganerben wegen der berichteten Neuerungen abzumahnen („von aller Innovation nachdrücklich dehortiret“),131 denn im Buseckertal komme, wie er nochmals betont, „das Ius circa Sacra sowohl als die Landesfürstliche Hohe Obrigkeit ohnstreitig“ dem Landgrafen zu. Das Konsistorium stellte auf dieses Reskript hin umfangreiche Erhebungen über den Bau neuer Synagogen insbesondere in adeligen Herrschaften unter der Oberhoheit der Landgrafen von Hessen an,132 um dann in einem sehr umfänglichen Gutachten vom September 1741 detailliert darüber zu berichten.133 Auffallend ist darin, dass die Juden des Buseckertals vor dem Hintergrund der landeshoheitlichen Rechte rechtlich nicht anders eingestuft wurden als die Juden in landsässigen adeligen Herrschaften des Landes. Vor allem wurde erneut wortreich und unter Allegation einer größeren Anzahl juristischer Autoritäten (darunter Christian Thomasius) betont, dass das „Jus Concendi Synagogas Judaicas an und vor sich zur Landesfürstlichen Hoheit gehöhre“. Ob die von den Konsistorialräten vorgeschlagene Vernehmung der Betroffenen und die Aufforderung zur Anerkennung der landesfürstlichen Rechte durch die Ganerben tatsächlich durchgeführt wurde beziehungsweise Erfolg hatte, ist anhand der Akten nicht mehr festzustellen. Der Streit zog sich bis Anfang 1742 hin, ohne dass ein greifbares Ergebnis im Sinne der Landgrafschaft zustande kam. Wie der Streit letztendlich ausging, erscheint vor dem Hintergrund der hier diskutierten Frage sekundär. Allein die vom Landesfürsten bestätigte Argumentationsweise der Konsistorialräte in Gießen zeigt, in welche Richtung die landgräfliche Politik ging: Adelige Herrschaften, zu denen auch die Ganerbschaften in Oberhessen zählten, wurden ohne Rücksicht auf etwaige Anbindungen an die Reichsritterschaft und damit unter Negierung der vormals beanspruchten Reichsunmittelbarkeit als ,gewöhnliche‘ adelige Landsassen behandelt und so rechtlich in das Landesfürstentum eingebunden. Um eventuellen Präjudizien vorzubeugen, mussten die Regierungsjuristen gegen jede ,Neuerung‘ vorgehen – unabhängig davon, ob diese im Interesse des Rechtsfriedens faktisch geduldet wurde. Zu einem Abriss der wohl bereits fer131 132
133
Reskript von 1739 Dezember 20, StAD, E 12 Nr. 55/7. Zu dem Synagogenbau in folgenden Städten und Gemeinden der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt wurde auf Grund verschiedener Amtsberichte Stellung bezogen: Allendorf an der Lumda, Angerod (auch von den Juden aus Alsfeld benutzt) Breidenbach, Geis-Nidda, Höringshausen, Kestrich, Rabenau, Rülfenrod und Storndorf. Gutachten von 1741 September 5, StAD, E 12 Nr. 55/7.
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tig errichteten Synagogen hätte dem Landgrafen im Übrigen der notwendige polizeiliche Apparat gefehlt.
VIII. Der Streit um die Ausübung des Jus recipiendi Judaeos durch die Ganerben des Buseckertals war mit dem geschilderten Synagogenstreit noch keineswegs abgeschlossen. Nachdem in einem dem Streitgegenstand nach nicht näher bekannten134 Prozess der Gemeinden des Buseckertals gegen Vierer und Ganerben daselbst vor der Regierung Gießen um die Ausübung des Rechts zur Aufnahme von Juden ein Urteil zugunsten der Gemeinden ergangen war, war es zu einem Appellationsprozess vor dem landgräflich-hessischen Oberappellationsgericht in Darmstadt gekommen. Die Appellation der Ganerben wurde jedoch in einem 1770 verkündeten Urteil unter Verweis auf ein landgräfliches Reskript zurückgewiesen, nach dem das Recht zur Aufnahme von Juden beschränkt wurde.135 Auch ein Streit um das Judenbegräbnis auf der Feldgemarkung von Großen-Buseck, das der Judenvorsteher Süßmann zu Großen-Buseck für die Judenschaft des Buseckertals („Judenschaft Buseckerthals“) in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts von den Erben des 1750 ohne männliche Nachkommen verstorbenen Friedrich Ludwig Münch von Buseck für 150 Gulden käuflich erworben hatte, bot der landgräflichen Verwaltung einen willkommenen Anlass, die Rechte der Ganerben über die Juden weiter zu beschränken. Da die Vierer und Ganerben des Tals ebenso wie die Gemeinde Großen-Buseck kraft konkurrierenden Vorkaufsrechts das Friedhofsgelände für sich beanspruchten,136 griff die landgräfliche Regierung in Gießen zugunsten der von ihr angerufenen Gemeinde ein.137 Die Appellation der Ganerben beim Oberappellationsgericht in Darmstadt führte zu keinem Erfolg, so dass die mit den Interessen der landgräflichen Obrigkeit konform gehenden Vorkaufsrechte der Gemeinde Großen-Buseck bestätigt wurden. Dies hatte zur Folge, dass die Judenschaft in Zukunft Begräbnisgebühren in Höhe von einem Gulden 24 Albus pro Todesfall138 an die Gemeinde und nicht mehr die Ganerben zu zahlen hatte.139
134 135 136 137 138 139
Die Prozessakten sind gem. Vermerk auf dem erhaltenen gebliebenen Dokument ausgeschieden 1886, d.h. vernichtet worden, StAD, G 23 E Nr. 106. Urteil von 1770 Dezember 4, in dem ein – dem Wortlaut nach nicht bekanntes – Reskript von 1766 Mai 31 zitiert wurde, StAD, G 23 E Nr. 106. Protokoll von 1768 September 29, StAD, G 23 E Nr. 107. Reskript von 1769 Juli 10, zitiert in Urteil von 1773 November 2, StAD, G 23 E Nr. 107. Aufstellung von 1773 Februar 20, StAD, G 23 E Nr. 107. Urteil von 1773 November 2, StAD, G 23 E Nr. 107.
Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal
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IX. Wenn Günter Hans in seinem Beitrag zur Geschichte der Juden des Buseckertals davon spricht, ein solches adeliges Einsprengsel in ein landesherrliches Territorium habe sich für die dortigen Juden als eine „Insel des Glücks“ dargestellt,140 so hat er damit Richtiges angesprochen und sich damit zugleich in die Tradition des hessischen Staatsministers Karl Friedrich von Moser gestellt, der ja von einem „Paradies“ für Juden gesprochen hatte.141 Durch zahlreiche Nachrichten in den archivischen Quellen lässt sich diese Ansicht durchaus belegen. Nicht auf alle diese Nachrichten konnte in vorliegendem Beitrag eingegangen werden – nicht auf die recht vielfältige beruflichen Betätigungsfelder der Juden des Buseckertals,142 nicht auf ihre von den Ganerben unterstützten Rechte zum Erwerb von Grund und Boden,143 und auch nicht auf die ungewöhnlich günstigen Möglichkeiten zur Aufnahme in den ganerbschaftlichen Schutz.144 Inwieweit die Judenschaft Buseckertals, die spätestens im 18. Jahrhundert ihrer ganerbschaftlichen Obrigkeit als eine geschlossene, weitgehend autonome Korporation gegenübertrat, die verfassungsrechtlichen Veränderungen in Richtung auf eine allmähliche Integration des Tals in das landgräfliche Oberfürstentum Hessen wahrnahm, ist unklar. Als der namens der Gesamtjudenschaft agierende jüdische Großen-Busecker Vorsteher Süßmann durch Erwerb einer dortigen Feldgemarkung die Rechte zur Einrichtung und Unterhaltung eines Judenbegräbnisses an die Judenschaft ziehen wollte, geriet er in eine Konkurrenzsituation zwischen Ganerben und Gemeinde. Am Ende musste er sich nach einem langwierigen Rechtsstreit der (christlichen) Gemeinde unterordnen, und zwar zu den Bedingungen, die nun von der landgräflichen Regierung in Gießen diktiert wurden – ohne das die Ganerben darauf noch Einfluss nehmen konnten. Auch das stets freie Recht der Ganerben zur Aufnahme von Juden wurde auf Druck der (christlichen) Gemeinden spätestens seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts von der landgräflichen Regierung beschränkt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit der – nie rechtlich vollendeten, aber doch faktisch vorangetriebenen – verfassungsrechtlichen Integration der ritterschaftlichen Ganerbschaft in das Landesfürstentum Hessen sich spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch die Bedingungen jüdischer Existenz im Buseckertal wandelten. Auch wenn die dortigen Juden formal rechtlich weiterhin Schutzjuden der Ganerben blieben und diesen ihre Schutzgelder zahlten, wurden sie doch allmählich von der landgräflichen Regierung in Gießen den Rahmenbedingungen der hessischen Judenordnungen sowie den vielen speziell für Juden geltenden Policeyverordnungen unterstellt. 140 141 142 143 144
Hans, Juden, S. 50. Siehe oben Kap. II. Hierzu Hans, Juden, S. 56–60. Ebd., S. 56–62. Ebd., S. 48–56.
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J. Friedrich Battenberg
Obwohl den Landgrafen von Hessen-Darmstadt klar war, dass sie über keinen ausreichenden Rechtstitel verfügten, weshalb sie noch 1767 versuchten, durch Erwerb des sogenannten ,Kleinen Hofes‘ zu Großen-Buseck aus der Erbschaft des Ganerben Friedrich Ludwig Münch von Buseck eine Legitimation für Judenschutzrechte zu erhalten,145 war es doch längst klar, dass diese faktisch von der landesfürstlichen Administration in Anspruch genommen wurden. Selbst für innerjüdische Streitigkeiten wurden am Ende des Jahrhunderts das landgräfliche Hofgericht und das Konsistorium in Gießen in Anspruch genommen.146 Letztlich hatte die in den Staatsaufbau der modernisierten Landgrafschaft, die als territorium clausum nicht länger Sonderrechte innerhalb seines Hoheitsgebiets dulden wollte, nicht mehr passende Ganerbschaft als überlebtes Gebilde der alten Adelsgesellschaft keine Chance, mit eigenständigen Hoheitsrechten zu überleben. Als sogenanntes Patrimonialgericht bestand sie nach 1806 im Großherzogtum Hessen zwar noch einige Zeit bis 1828 fort, ohne seither jedoch eine eigenständige Politik betreiben zu können. Für die Juden des Buseckertals war diese Entwicklung freilich weitgehend bedeutungslos; auch ohne das Zwischenglied der Ganerben konnten sie bald an der rechtlichen Emanzipation teilhaben. Trotz dieser im 18. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung blieben, wie der Staatsminister Friedrich Karl von Moser hatte feststellen können, die Lebensbedingungen für die Judenschaft des Buseckertals bis zum Ende des Alten Reiches vergleichsweise günstig: Resultat einer bis zum Ende der Landgrafschaft ungeklärten verfassungsrechtlichen Konstellation, die letztlich unter der Schutzgarantie des Kaisers stand und damit eine ,Insel des Glücks‘ schuf, ihrerseits Ursache für eine im späten 17. Jahrhundert einsetzende, ungewöhnlich schnelle Expansion der jüdischen Bevölkerung dieses Raums innerhalb weniger Jahrzehnte. 145
146
Nach einem Gutachten der Regierung Gießen von 1767 September 4 (E 12 Nr. 16/19) sollte an diesem Hof die sog. Obermärkerei haften, und damit zugleich auch einige mehrere Gerechtsame in Ansehung derer Juden und deren Aufnahme in den Schutz. Zu dieser Angelegenheit siehe Hans, Juden, S. 50. Für Unterhaltsangelegenheiten (sog. Schwängerungssachen) war generell das – teilweise mit dem Hofgericht personell identische – evangelische Konsistorium zuständig, da Familiensachen als Angelegenheiten der Geistlichen Gerichtsbarkeit behandelt wurden. In Ermangelung eines besonderen für Juden zuständigen Konsistoriums nahm dieses Gericht auch für Juden eine Zuständigkeit in Anspruch. Drei solcher Prozesse sind im StAD nachgewiesen: Bechte, Tochter des Jonas Aron zu Alten-Buseck ./. Heyum Levi daselbst, 1794 (G 26 A Nr. 473/29), Merle, Tochter des Hertz Salomon zu Allendorf an der Lumda ./. Wolf Jonas zu Alten-Buseck, 1796 (G 26 A Nr. 468/59) und Italia, Tochter des Josef Süßmann aus Gedern, zu Alten-Buseck ./. Kaufmann Jonas zu AltenBuseck, 1799 (G 26 A Nr. 473/35). Auch Appellationsprozesse der Juden Itzig Levi zu Alten-Buseck von 1777 (G 26 A Nr. 473/16) und Scheme Katz zu Alten-Buseck von 1786 (G 26 A Nr. 473/25) gegen christliche Beklagten beziehungsweise Appellaten am Hofgericht Gießen geben Auskunft darüber, dass das oberhessische Hofgericht durchaus auch von Busecker Juden als ordentliche Gerichtsinstanz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts akzeptiert wurde.
Die Judenschaft der Ganerbschaft Buseckertal
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Damit zeigt das Beispiel der Ganerbschaft Buseckertal, dass es noch im 17. und 18. Jahrhundert, trotz des Ausbaus einer landeshoheitlichen Gewalt, Chancen der Einflussnahme kaiserlicher Politik gab, wenn in der Region eine ritterschaftliche Familie existierte, die des kaiserlichen Schutzes zur Zurückdrängung der landesfürstlichen Expansionsbestrebungen bedurfte.
Gerhard Rechter (†)
Judenschutz als reichsritterschaftliche Statuspolitik. Die Familien Crailsheim und Seckendorff als Fallbeispiele Wenden wir uns zunächst den beiden Familien zu, die als Beispiel für die vorliegende Untersuchung dienen sollen. Ausgehend von ihren alten Besitzungen Erkenbrechtshausen, Gröningen, Hornberg und Morstein konnte die 1221 mit Walther von Croelsheim erstmals genannte, ursprünglich Stift Ellwangische Ministerialenfamilie im Laufe des 16. Jahrhunderts einen umfangreichen Güterbesitz im heutigen bayerischen Franken erwerben. Nach den Sitzen in Stübach (1510), das aber nie an Bedeutung gewinnen konnte, und Walsdorf (1524) erwarben verschiedene Familienmitglieder diejenigen in Fröhstockheim (1543), Neuhaus (1545), Sommersdorf (1550), Thann (1565), Rödelsee (1573) und Rügland (1584) mit ihren Zugehörungen. Damit wuchs die Familie im 16. Jahrhundert zu einem der besitzstärksten Niederadelsgeschlechter Frankens heran.1 Während die Crailsheim im Bereich des heutigen bayerischen Frankens also geradezu Newcomer waren, saßen die nach dem Ort Seckendorf bei Cadolzburg benannten (beziehungsweise sich nennenden) und im Dienst der Burggrafen von Nürnberg und späteren Markgrafen von Brandenburg aus dem Hause Zollern groß gewordenen Seckendorff bereits seit dem 13. Jahrhundert hier. Indes hatte das wohl zahlen- und besitzstärkste Ritteradelsgeschlecht Frankens zu Beginn des 17. Jahrhunderts seinen herrschaftlichen Zenit überschritten und von den einst vierzehn Linien blühten (bis heute übrigens) noch ganze drei: Rinhofen, die seit Anfang des 18. Jahrhunderts allerdings über kein eigenes Rittergut mehr verfügten, Gutend – mit seinem, seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert eindeutigen Besitzschwerpunkt Meuselwitz im heutigen Thüringen – und Aberdar.2 Letztere nannten mit Obernzenn, Unternzenn und Sugenheim drei größere Rittergüter ihr Eigen und werden im Folgenden, vor allem mit den Ministern Christoph 1
2
Vgl. von Crailsheim, passim. Die Archive der Familienstiftung von Crailsheim. Familienkonsulentie und Herrschaft Rügland. Altes und Neues Archiv (bearb. von Gerhard Rechter unter Mitarbeit von Jürgen Wyschkon) (Bayerische Archivinventare 55/I, II), München 2007, S. XV–XXV. Vgl. Gerhard Rechter, Die Seckendorff. Quellen und Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte. I. Stammfamilie mit den Linien Jochsberg und Rinhofen, Neustadt/A. 1987 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe IX/36/I). Ders., Die Seckendorff II. Die Linien Nold, Egersdorf, Hoheneck und Pfaff, Neustadt/A. 1990 (ebd.; Bd. 36/II). Ders., Die Seckendorff III. Die Linien Aberdar und Hörauf, Neustadt/A. 1997 (ebd.; Bd. 36/III.1–3). Ders., Die Seckendorff IV. Die Linien Abenberg, Obersteinbach und Gutend, Würzburg 2008 (ebd.; Bd. 36/IV,1–4).
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Gerhard Rechter (†)
Friedrich von Seckendorff-Aberdar zu Unternzenn (1679–1759)3 und Christoph Ludwig von Seckendorff-Aberdar zu Obernzenn (1709–1781),4 immer wieder als Beispiel herangezogen werden. Dies wird auch durch die gute Quellenlage, insbesondere bei der Rechnungsüberlieferung, begünstigt. Dem Reichsritter kam unbestritten das Judenschutzregal zu. Bei den Beispielfamilien setzte, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, ein größerer Zuzug jüdischer Hausgenossen oder gar Hausbesitzer aber erst im ausgehenden 17. Jahrhundert ein – wobei die Wirkung des Dreißigjährigen Krieges und die Bedingungen außerhalb des Reiches noch zu diskutieren wären – um dann nach dem ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts zu einem freilich durch die Bedingungen der Schutzgewährung wie der wirtschaftlichen Verhältnisse stets kanalisierten Strom anzuschwellen. Dieser Zuzug war keineswegs gleichmäßig verteilt, beispielsweise konnte für die mit (um 1800) mehr als 180 zugehörigen Anwesen größte der crailsheimischen Herrschaften, Rügland, in den herangezogenen Quellen nur für das Jahr 1698 ein einziger Schutzjude nachgewiesen werden. Beim Gut Sommersdorf-Thann hatte nach Aussage der für diese Untersuchung herangezogenen Akten und Amtsrechnungen überhaupt kein Jude um Aufnahme nachgesucht. Dagegen verfügten Fröhstockheim mit Rödelsee sowie Neuhaus mit Adelsdorf über zahlenmäßig nicht unbeträchtliche jüdische Gemeinden.5 Eine absolute Ausnahmestellung nahm Walsdorf ein, dessen spätestens 1632 errichteter Friedhof als Begräbnisort für die jüdischen Gemeinden in Bamberg, Bischberg, Burgebrach, Trunstadt und Viereth diente und dessen Judenschaft seit 1732 eine Synagoge ihr Eigen nennen konnte. Die Zahl der jüdischen Familien nahm von zwölf im Jahr 1740 auf 28 (mit rund 120 Personen) im Jahr 1804 zu, während die Anzahl der Häuser nur von neun auf vierzehn gestiegen war. Dabei ist der Zwang zur Aufteilung der Anwesen unübersehbar, wobei sich die beengten Wohnverhältnisse in der Regel dadurch zunehmend verschlechterten, dass weitere Glaubensgenossen mit ihren Familien als Mieter aufgenommen wurden. Die Lebensbedingungen dürften sich von den von Ernst Schubert bewegt geschilderten kaum unterschieden haben.6 3
Ders., Christoph Friedrich von Seckendorff-Aberdar (1679–1759), Standesherr zu Unternzenn und Sugenheim, in: Fränkische Lebensbilder, Neustadt/A. 2000 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe VII A/18), S. 137–153. 4 Rechter, Seckendorff III, S. 218–223. Eine Biographie von Frau Florence de PeyronnetDryden, Bamberg, ist in Vorbereitung. 5 Gerhard Rechter, „... hat sich um Schutz beworben“. Beobachtungen zu den jüdischen Gemeinden in den Herrschaften der Freiherrn von Crailsheim im nachmals bayerischen Franken, in: Festschrift für Gerhard Taddey, Württembergisch Franken 86 (2002), S. 249– 296. 6 Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt/A. 1983 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe IX/26). Die vielfach äußerst beengten Wohnverhältnisse führten zuweilen auch zu Aggressionen, die – wie nur an Beispielfällen aus Obernzenn gezeigt werden soll – vor Gericht endeten: 1665 musste Schmuel Jud zu Obernzenn 1664 3 fl 5 lb Strafe be-
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Ähnlich lagen die Verhältnisse bei den Seckendorff, wo für die Güter Obernzenn, Sugenheim und Unternzenn jüdische Schutzgenossen in nennenswerter Zahl – mithin ,gemeindetauglich‘ – ebenso erst seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zu belegen sind. Dies bestätigt nicht nur die Erwerbung eines Stück Ödlands für den Judenfriedhof bei Obernzenn durch die Judenheit von Lenkersheim, Ickelheim und Obernzenn-Egenhausen7 sondern lässt sich auch in prosopographischen Forschungen zu Untertanen und Schirmholden der Güter Unternzenn und Egenhausen nachvollziehen.8 Gleiches gilt für Sugenheim, wobei hier die erhaltenen Amtsrechnungen erst eine Analyse ab den 1730er Jahren gestatten.9 Keineswegs in allen ritterschaftlichen Herrschaften haben Schutzjuden gelebt,10 denn die Möglichkeiten, die das Judenregal bot, waren dabei nicht nur von seinen rechtlichen Grenzen (und dem Willen der Gutsherrschaft) bestimmt, sondern auch und vielleicht noch mehr von ganz praktischen Aspekten. So stand, um bei den Gütern der Herren von Crailsheim zu bleiben, das Gut Rügland bei einer Ansiedlung von Schutzjuden in starker Konkurrenz zu jener Judenschaft, die in enger Nachbarschaft bei den Seckendorff in Egenhausen und in Obernzenn saß, sowie zu den seit 1603 bezeugten Schutzjuden des Deutschordens-Komturs auf Virnsberg in Ickelheim. Eine ritterschaftliche, seit 1659 markgräflich-ansbachische Gemeinde fand sich in Jochsberg bei Leutershausen, wobei letzteres ebenfalls Juden in seinen Mauern beherbergte.11 Für Sommersdorf-Thann aber kann die starke Judenheit im markgräflichen (bis 1618 ritterschaftlichen) Bechhofen als Konkurrenz benannt werden. Viel günstiger erwiesen sich hingegen die Verhältnisse bei den Gütern Fröhstockheim und Neuhaus, wo in den herrschaftlich gemischten Orten die Kondominatsherren beziehungsweise Nachbarn Schutzjuden nur zu gleichen
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zahlen, da er seinen Schwiegervater gestochen und diesen nebst seinem Schwager zum Haus hinaus geschlagen hat (Rechter, Seckendorff IV, S. 1052 f.). 1769 beleidigt Abraham Schlammel Levi, gen. Frommelein, den Barnas Samuel Levi in der Judenschule grob und stößt dessen Sohn Jakob Levi, gutendschen Schutzjuden, die Judenschulstiege hinab und schlägt ihn auf der Gasse. Jakob Levi beschimpft und ohrfeigt den Frommelein ebenfalls (ebd., S. 708). 1713 kauft David Jud der kleine das halbe Haus, das an sein halbes Anwesen anstößt, um 57 Reichstaler. Die Herrschaft kauft 1713 den Anteil des Frajum; da dieser streitsüchtig war, ließ ihn die Herrschaft etliche Stunden zur Schweinsmutter sperren, worauf er wieder nach Ickelheim zog (ebd., S. 708). Rechter, Seckendorff III, S. 93–95, 505–1060. Rechter, Seckendorff III, S. 489–811. Vgl. Karl Ernst Stimpfig, Die Juden in Obernzenn und Egenhausen. Eine Dokumentation, Privatdruck Herzogenaurach 2003. Rechter Seckendorff III, S. 835–1225. Vgl. ders., Kronsteuer und Weihnachtspfennig. Wiederherstellung kaiserlicher Rechte oder imperiale Herrschaftsverdichtung im Reich unter Karl VI. (1711–1740), in: Axel Gotthard/Andreas Jakob/Thomas Nicklas (Hgg.), Studien zur politischen Kultur Alteuropas. Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag, Berlin 2009 (Historische Forschungen; 91), S.495–508. Vgl. Karl Ernst Stimpfig, Die Juden in Leutershausen, Jochsberg, Colmberg und Wiedersbach, Leutershausen 2000, passim.
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Bedingungen aufnehmen konnten und somit keine der Herrschaften allein einen Vorteil genießen konnte. Bestand jedoch einmal eine kleine Gemeinde, so kam ihr zweifellos aus religiösen wie sozialen Gründen wachsende Anziehungskraft zu. Daran änderte sich auch nichts, wenn keine der Herrschaften Wesentliches zur Hebung der Wirtschaftskraft beitragen konnte. Die schon im 18. Jahrhundert beobachtete Zunahme der jüdischen Bevölkerung – die zum einen wohl trotz hoher Kindersterblichkeit dem allgemeinen Bevölkerungszuwachs folgte, zum anderen vielleicht aber noch mehr das Ergebnis regionaler Bevölkerungsverschiebungen beziehungsweise -konzentrationen war – führte zu einer allgemeinen Absenkung ihres Lebensstandard. Hierfür stehen die Betteljuden, deren Anzahl wohl immer größer war als die ihrer wohlhabenden Glaubensbrüder. Schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren die jüdischen Bettler für die crailsheimischen Judengemeinden zu einer Belastung geworden; zahlreiche dieser Namenlosen fanden ihre letzte Ruhe auf dem Friedhof zu Walsdorf, wo zuweilen bis zu einem Fünftel der Beerdigungen für Betteljuden ausgerichtet werden musste.12 Die Reichsritterschaft bildete sich unter anderem als Reaktion auf die Reichsreform Maximilians, die zu einer Institutionalisierung des Reiches – etwa mit Reichskammergericht und Reichskreisen – geführt hatte. Den Reichsrittern kam als Korporation freilich bis zum Ende des Alten Reiches keine Reichsstandschaft zu, ebenso wenig waren sie als Stand auf den Kreistagen vertreten.13 Im Quartier Franken hatten sich die Reichsritter in sechs Kantonen – Altmühl, Baunach, Gebürg, Odenwald, Rhön-Werra und Steigerwald – organisiert, die jeweils über einzelne Kanzleien verfügten und sich jährlich beim VI-Orte-Konvent in Nürnberg trafen.14 Für die Kantone soll hier nur die Feststellung gelten, dass sie mehr als Dienstleister für die Gutsinhaber fungierten, denn als übergreifendes oder vorgesetzte Kompetenzen hantierendes 12 13
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Rechter, Schutz, S. 264–266. Vgl. Rudolf Endres, Die Reichsritterschaft – die voigtländische Ritterschaft, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, begründet von Max Spindler, neu herausgegeben von Andreas Kraus, 3.1 Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 3 1997, S. 739–750. Cord Ulrichs, Vom Lehnhof zur Reichsritterschaft. Strukturen des fränkischen Niederadels am Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit, Stuttgart 1997 (VSWG Beihefte 134). Vgl. Johann Kaspar Bundschuh, Versuch einer Historisch-Topographisch-Statistischen Beschreibung der unmittelbaren Freyen Reichs-Ritterschaft in Franken nach seinen sechs Orten, Anhang von Band 4 des Geographisches Statistisch-Topographisches Lexikon von Franken oder vollständige alphabetische Beschreibung aller im ganzen Fränkischen Kreis liegenden Städte, Klöster, Schlösser, Dörfer, Flecken, Höfe, Berge, Thäler, Flüsse, Seen, merkwürdiger Gegenden usw., Ulm 1801 (unveränderter fotografischer Nachdruck, München 1979). Erwin Riedenauer, Die fränkische Reichsritterschaft, in: Alfred Wendehorst (Hg.), Erwin Riedenauer, Fränkische Landesgeschichte und Historische Landeskunde. Grundsätzliches – Methodisches – Exemplarisches, München 2001 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte; 14), S. 135–140. Ders., Kontinuität und Fluktuation im Mitgliederstand der fränkischen Reichsritterschaft. Eine Grundlegung zum Problem der Adelsstruktur in Franken, in: wie vor, S. 141–196.
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Organ. Die Verteidigung der eigenen Souveränität galt für den Reichsritter eben auch gegenüber Seinesgleichen.15 Und er hatte einiges zu verteidigen: Die Halsgerichtsbarkeit, vor allem aus markgräflicher Sicht ein zentraler Punkt der superioritas territorialis,16 kam dem Ritteradeligen zuweilen – wie im seckendorffischen Sugenheim – schon seit alters her zu.17 Ebenso hatte er sich im 16. Jahrhundert das Steuerkollektionsrecht erkämpfen können und die sogenannten Römermonate für die königliche Schatulle nahmen im Laufe der Zeit den Charakter einer regelmäßigen Steuer an. Das Jus reformandi wird im Westfälischen Frieden 1648 (Art. V § 28) auch für die Reichsritter ausdrücklich als „ein der Territorialhoheit anhängiges Recht“ und damit auch deren Kirchenhoheit in ihren Patronatspfarreien anerkannt.18 Somit hatte sich der Ritteradelige nicht allein aus eigener Perspektive und noch heute aus landesgeschichtlicher Sicht nachvollziehbar rechts- wie territorialpolitisch als immediater Reichskavalier auf eine Ebene mit den Fürsten gestellt.19 Wie ihren ritterschaftlichen Standesgenossen, so kam auch den Crailsheim das Recht zu, Schutzjuden aufzunehmen, und wie diese machten sie davon in unterschiedlicher Weise Gebrauch. Wenden wir uns nun der konkreten Einnahmeseite zu. Das verlangte Schutzgeld lag durchweg in einer Höhe von fünf fränkischen Gulden und war damit fünf Mal so hoch wie bei christlichen Schirmholden, wobei die jüdischen Hausbesitzer zudem die üblichen Abgaben wie Gülten, Zinsen und Frongelder zu leisten hatten. Bei Zuzug war ferner ein einmaliges Receptionsgeld fällig, das mit bis zehn Reichstalern wesentlich über den von Christen verlangten vier Gulden lag und von den Juden 15
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Gerhard Rechter, Zum Plan eines reichsritterschaftlichen Konsistoriums in Franken, in: Festschrift für Rudolf Endres, Jahrbuch für fränkische Landesforschung 60 (2001), S. 318–332. Vgl. dazu Staatsarchiv Nürnberg, Fürstentum Brandenburg-Ansbach, Historica, Nr. 233 § 10. Vgl. Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien zu Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, München 1963 (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte; 3). Gerhard Rechter, Das Land zwischen Aisch und Rezat. Die Kommende Virnsberg Deutschen Ordens und die Rittergüter im oberen Zenngrund, Neustadt/Aisch 1981 (Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde und allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg; 20), S. 440–446. In Sugenheim als Reichsafterlehen seit 1500 Mai 3. Rechter, Seckendorff III v.a. S. 121– 154. Ders., Die Archive der Grafen und Freiherren von Seckendorff. I. Die Urkundenreihen der Schloßarchive Obernzenn, Sugenheim, Trautskirchen und Unternzenn (Bayerische Archivinventare 45–47), München 1993, hier Bd. 1, Reg. 658. Zur Freiung Neuhaus (1508): Sigmund von Crailsheim, Die Reichsfreiherrn von Crailsheim, I. Band, München 1905, S. 224–232. Michael E. Graf von Matuschka, Adelsdorf im Aischgrund und die angeschlossenen Ortschaften. Vom Ritterdorf zur Großgemeinde, Bamberg 1999, S. 338–461. Klaus Schlaich, Jus reformandi, in: Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte 5, Berlin 1978, Sp. 498–502, Zitat Sp. 500. Vgl. Gerhard Rechter, Der fränkische Reichsadel. Eine ständische Utopie oder eine historische Realität, in: Werner K. Blessing/Dieter J. Weiß (Hgg.), Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte, Neustadt/A. 2003 (Franconia, Beihefte zum Jahrbuch für fränkische Landesforschung 1), S. 179–191.
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zu Recht als starke Belastung empfunden wurde. Hinzu kamen noch Schreibgebühren und Douceurs für den Amtmann, der den Antrag des Bittstellers möglichst wohlwollend an den Konsulenten weiterreichen sollte, der ihn wiederum den Fideikommissinhabern zur endgültigen Genehmigung vorzulegen hatte.20 In der seckendorffischen Herrschaft Sugenheim waren nach Auskunft der Amtsrechnungen 30 fl zu leisten, was ebenfalls wesentlich höher als die entsprechende Gebühr für Christen war.21 1791 bat die Judenschaft zu Walsdorf die Gutsherrschaft erfolglos um Minderung der Rezeptions- und Schutzgelder.22 Im Gesamtetat der Rittergüter spielten die Einnahmen aus dem Judenschutz dennoch nur eine untergeordnete Rolle, wie die Auswertung der Amtsrechnungen für Unternzenn und Obernzenn zeigt.23 So ist dem Rechnungsband 1755/56 des Blauen Schlosses zu Obernzenn für die Einnahmen zu entnehmen, dass für Neuaufnahme 2 fl 30 kr anfielen, für Schutzgeld 205 fl 17 kr, für Neujahrsgeld 11 fl 30 kr, für Grabgelder 8 fl 37 kr 2 d (für neun Erwachsene und fünf Kinder) und für Zungengelder 2 fl 22 kr 2 d (für 19 Rinderzungen, wobei fünf in natura geliefert wurden). Die Summe von 230 fl 17 kr macht bei einem Gesamtetat von 14.305 fl – wovon allerdings 9.439 fl aus einem Zuschuss der Herrschaft für nötige Baumaßnahmen stammten, mithin ,anrechenbare‘ 4.866 fl verbleiben – nur einen Anteil von 4,5 % der Einnahmen aus. Dies korrespondiert in etwa mit dem Anteil an den Einnahmen von 1662 bis 1682 (s. Abb. 1). Deutlich geringer sind die Erträge aus dem Judenschutz hingegen bei den beiden anderen Gütern in Obernzenn, dem Hinteren und dem Vorderen Schloss, wobei die Einnahmerechnung der entscheidenden Jahre 1589 bis 1600, als erstmals Juden in Obernzenn belegt sind, für ersteres einen Anteil von 2,5 % ausmachen (s. Abb. 2), für letzteres in den Jahren der ,Wiederansiedlung‘ nach dem 30jährigen Krieg nur von einem Prozent ausmachen (s. Abb. 3). In der Zeit von 1724 bis 1739, für die sich mangels Quellen für das große oder heutige Blaue und das Hintere Schloss keine soliden Aussagen machen lassen, stammten dann wohl 1,5 % der Einkünfte aus dem Judenschutz (s. Abb. 4). Auch wenn bis zum Ende des Alten Reiches beim Blauen Schloss der Anteil einmal auf über 8 % steigen sollte (1761/62; s. Abb. 5), bedeutet dies keine absolute Steigerung, sondern weist nur auf stark gesunkene anderweitige Einkünfte hin.24 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch beim 20 21 22 23
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Crailsheim, Reichsfreiherrn, Bd. 1, S. 252. Vgl. Staatsarchiv Nürnberg, Herrschaft Sugenheim, Nr. 1892–1961 (Inneres Schloss 1717–1800) und 2004–2055 (Äußeres Schloss 1710–1800). Archive Crailsheim, Nr. 1347. Rechter, Seckendorff III, S. 812–834 und Seckendorff IV, S. 58–80, 1061–1117. Bei der Auswertung konnte leider keine genaue Gegenrechnung mit den Schutzgeldermäßigungen erfolgen, da diese zuweilen summarisch über mehrere Jahre hinweg beziehungsweise erst etliche Jahre später vorgenommen wurden. Rechter, Seckendorff IV, S. 1065. Dort Gesamteinkünfte 1759/60: 12.429 fl, 1760/61: 5330 fl, 1761/62: 3367 fl, 1762/63: 9369 fl. Die Schwankungen wurden durch Einnahmeausfälle
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benachbarten Gut Unternzenn beobachten, wo in den entscheidenden Ansiedlungsjahren zu Beginn des 17. Jahrhunderts die entsprechenden Anteile kaum einmal mehr als 1,5 % betrugen; auch hier resultiert die Steigerung auf 3,5 % (1656/57)25 aus dem Rückgang der sonstigen Einnahmen. Von 1668 bis 1710 lassen sich in der Herrschaft keine Juden finden; erst ab 1711 ließen sich wieder einzelne hier nieder (s. Abb. 6). Aus den hier gewonnenen Ergebnissen kann gefolgert werden, dass für die Zeit bis in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts, als die jüdischen Gemeinden schon stärker angewachsen waren, die Einnahmen aus dem Judenschutz für die hier herangezogenen ritterschaftlichen Herrschaften kaum von großer ökonomischer Bedeutung waren. Ferner muss davor gewarnt werden, die aus den inzwischen verfügbaren statistischen Materialien für das frühe 19. Jahrhundert ermittelten jüdischen Bevölkerungsanteile von bis über 50 Prozent in die Frühe Neuzeit zurückzuprojizieren, zeigen Einzeluntersuchungen über den hier zugrunde gelegten Zeitraum, zumal im Vergleich mit den christlichen Neusiedlern, doch kaum ein rasant und auffällig zu nennendes Wachstum. Zudem wurden die Einnahmen aus dem Judenschutz immer wieder durch Nachlässe und Freistellungen geschmälert, die aufgrund der Armut der Schutzbefohlenen gewährt wurden. Derlei Nachlässe sind insbesondere bei Witwen und erwerbsunfähig gewordenen alten Personen zu beobachten, die sich nicht länger als Betteljuden durchschlagen konnten, wie der 1776/77 in Walsdorf genannte Hirsch Jakob, der nachdrücklich als arm und krank bezeichnet wurde und 1781 verstarb. Sehr selten scheint auch ein Schutzjude durch die Maschen der Verwaltung geschlüpft zu sein, wie Abraham Meyer in Walsdorf, über den 1799 festgehalten wurde, dass er schon mehr als 20 Jahre als Schutzjude in der Herrschaft lebe, aber in den Rechnungsgebühren nie vorgekommen sei. Weitere Beispiele für Nachlass und Ermäßigung von Schutzgeldern finden sich unschwer.26
25 26
im Bereich der Grundherrschaft (Handlöhne) sowie durch zurückgefahrene Zuschüsse der Herrschaft hervorgerufen. Ders., Seckendorff IV, S. 814. Einnahmen von 20 fl, in den beiden Jahren vorher von je 19 fl. Rechter, Schutz, S. 268. 1747 waren Seligmann David, Elkan, Abraham und Hirsch Josef zu Rödelsee vom Schutzgeld befreit, da sie nur ein halbes Haus hatten und dafür Dienstgeld zahlen mussten (Staatsarchiv Nürnberg, Archive der Familienstiftung von Crailsheim, Herrschaft Fröhstockheim, Rechnungen, Nr. 6). 1727 erhielt die Ehefrau Vögele des Eisig Jud Almosenbrief, da sie sich durch allzu schweres Packtragen ... einen wirklich incurablen Leibsschaden zugezogen. 1742/43 erhielt David zu Obernzenn lebenslange Schutzgeldermäßigung auf 6 fl 15 kr rh, 1744 Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Moses Isaak, gest. 1763, elend und Stock blind; 1752/53 wurde Samuel Levi [Lehrberger], bis 1756 wegen Hausbaus vom Schutzgeld befreit; Samuel Levi gest. 1782 April 21, die Witwe Jendel wurde bis zu ihrem Tod 1799 wegen Armut vom Schutzgeld befreit. Der 1762 verstorbene Baruch hatte ein Vermögen von immerhin 1153 fl 42 kr 2 d rh; die Witwe Jendel, stokblind, lebte mit der Tochter Schönla zusammen, die für Lebzeiten der Mutter Schutzgeld befreit worden ist, die Mutter gest. 1789 Mai 20; Schönla blieb wegen Armut vom Schutzgeld befreit (alle Beispiele Rechter, Seckendorff IV, S. 1053 f.).
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Abbildung 1
Wie oben erwähnt, gab es natürlich auch wohlhabendere Mitglieder in den jüdischen Landgemeinden. Diese Reichen hatten für die Ärmeren einzustehen, dies nicht immer zu ihrem Vergnügen: So lautete ein Vorwurf der von 1773 bis 1800 mit der Amtsführung ihres Vorstehers, des Parnas Moses Oscher, ständig unzufriedenen Gemeinde Altenschönbach auf ungerechtfertigte Belastung durch Abgaben und die Aufnahme von Betteljuden.27 Vereinzelt konnten diese wohlhabenderen Schichten auch auf ein Netz weiter gespannter Beziehungen zurückgreifen. So bat 1727 die Ehefrau Bohnla des 27
Archive Crailsheim, Nr. 1300.
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Abbildung 2
Kussel, man möge die Testamentsvollstrecker Männel und Moses des vermögenden Hofjuden in Mannheim anschreiben, der zur ihrer Freundschaft gehört habe, damit ihr in ihrer schwierigen Lage mit einer ergiebigen Beysteuer geholfen werde.28 Die bislang bekannten, von Vollständigkeit allerdings weit entfernten jüdischen Biographien für die crailsheimischen und seckendorffischen Schutzjuden lassen eine starke Bindung an die Region, nicht aber an die Herrschaft vermuten. Die Zuzügler kamen in der Regel aus der Nachbarschaft; eine Mobilität innerhalb der Herrschaften gab es dagegen ebenso wenig wie eine eigene Organisation der Judenschaft mit einem Judenvogt 28
Rechter, Seckendorff IV, S. 1053. 1752 lebte der Schwager Pinechas Levi des Schlammel Jud zu Egenhausen in Hamburg (ders., Seckendorff III, S. 166). 1771 lebten die Söhne Hirsch und Schmey der Witwe Sorla des Moses Jud zu Obernzenn in London. Ders., Seckendorff IV, S. 602.
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Abbildung 3
oder einem Landrabbiner. Der Barnas, also der Gemeindevorsteher, vertrat die jüdische Gemeinde gegenüber der Herrschaft. Bei den Crailsheim zu Walsdorf kauften sich nur zwei Mal Fremde ein, 1734 der Judenschulmeister Meyer Salomon aus Böhmen und 1748 Marx David aus Mähren.29 Hierzu passt, dass Auswanderungen in entferntere Städte des Reiches oder gar in andere Länder, wie die des Hirschlein Mannes nach London 1749, nur selten belegt sind.30 Dies war zweifellos nicht nur eine Frage der verfügbaren Informationen, sondern auch eine des Geldes: Die Erwerbsmöglichkeiten ließen wohl keine genügende Kapitalakkumulation für solche Vorhaben zu. Hier unterschied sich die Lage der crailsheimischen Schutzjuden ebenfalls nicht 29 30
Rechter, Schutz, S. 261–268. Ebd.
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Abbildung 4
von derjenigen ihrer Religionsgenossen in anderen reichsritterschaftlichen oder in landesherrlichen Orten. Am Schluss der Untersuchung soll die Überlegung stehen, ob die ökonomische Komponente zur Erklärung der Ansiedlung von Juden durch Reichsritter ausreichend ist. Das immer wieder zitierte Schlagwort von der jüdischen Bevölkerung mit ihren Schutzgeldern als sicherer Geldquelle darf bei der Betrachtung reichsritterschaftlicher Judenpolitik nicht zu einseitig in den Vordergrund gestellt werden, was bei genauerer Analyse adeliger Budgets, mit dem relativ geringen Beitrag der Einkünfte aus dem Judenregal im Verhältnis zu den Gesamteinnahmen eines Gutes rasch deutlich wird.31 Gegen eine aktive Peuplierungspolitik der genannten Herrschaften mit Juden spricht auch, dass die Gutsinhaber allem Anschein nach nicht agierten, sondern 31
Vgl. dazu Rechter, Seckendorff III, S. 812–823. Ders., Seckendorff IV, S. 1061–1117.
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Abbildung 5
reagierten. Die jüdischen (wie christlichen) Schirmholden baten ihrerseits um Schutzaufnahme, sie wurden nicht gebeten. Wohl aber reagierten die Herrschaften auf ,Erwerbsengpässe‘ wie Zwistigkeiten, und das im Vergleich zu Christen hohe Zuzugsgeld kann durchaus im Sinne einer ökonomischen Auslese interpretiert werden. Für eine antijüdische Grundhaltung ließen sich in den herangezogenen Quellen keine Indizien finden, genau genommen, konnten aus den überlieferten Korrespondenzen keinerlei Schlussfolgerungen hinsichtlich der Grundlagen und Beweggründe einer ,crailsheimischen oder seckendorffischen Judenpolitik‘ gezogen werden. Eine solche war offensichtlich weder bei der – mit der Neuhaus-Walsdorfer-Stiftung (1702) und der Krafft-von-Crailsheimischen-Fideikommiß-Stiftung (1705) durchaus zentralistisch ausgerichteten – Verwaltung der crailsheimischen Güter als einheitliche Größe vorhanden, noch bei den individuell als Gutsinhaber agierenden Seckendorff. Dies gilt im Übrigen auch für die Güterpolitik im Allgemeinen. Ohne den finanziellen Aspekt der jüdischen Zuzugs- und Schutzgelder gänzlich aus den Augen zu verlieren (wie auch die mögliche Absicht der Reichsritter, sich für den ,Fall eines Falles‘ eines abhängigen Kreditvermittler
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Abbildung 6
zu versichern),32 ist die Ausübung des Judenregals– gleich den Gerichts- und Patronatsrechten in die Reihe ritterschaftlicher Gerechtsame, die zur Wahrung des dem fränkischen Baronatsadel eigenen Selbstverständnisses als immediater Reichscavalier – doch von diesem selbst als wichtig angesehen worden. Dies bestätigen die Vorgänge um die von Kaiser Karl VI. geforderte Kronsteuer 172233 ebenso wie die Abwehrhaltung der Herren von Crailsheim gegen die 1808 verordnete Abführung der Schutzgelder an den bayerischen Fiskus, dies nicht allein aus Ärger über die zu erwartenden finanziellen Einbußen,34 sondern weit mehr aus dem auch nach dem Ende des Alten Reiches noch lange nicht abgelegten Selbstverständnis heraus, Angehöriger der Reichsritterschaft zu sein,35 selbst wenn die Argumentation gegenüber der Finanzdirektion in Ansbach hauptsächlich auf den finanziellen Aspekten aufbaute. 32
33 34 35
Die vor allem in Krisenzeiten ritterschaftlicher Einnahmen zweifellos nicht unwillkommen waren, so sind sechs Gulden aus dem Judenschutz 1644/45 bei 158 fl Gesamteinnahmen für die Gutsherrschaft in Obernzenn sicherlich anders zu werten, als 176 fl bei 9827 fl im Rechnungsjahr 1749/50 (Rechter, Seckendorff IV, S. 1061–1065.) Rechter, Kronsteuer, S. 496–500. Archive Crailsheim, Nr. 1334. Rechter, Reichsadel, S. 190 f.
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Die für Seckendorff gewonnen Ergebnisse zeigen sich auch bei Crailsheim, so verzeichnet die Amtsrechung Walsdorf für 1763/64 insgesamt Einnahmen von 4.893 fl fr, wovon 14 fl 6 kr aus dem Judenschutz und 25 fl 36 kr aus den jüdischen Begräbnisgeldern stammten.36 Dagegen erlöste man allein aus dem Getreideverkauf 1.030 fl 46 kr, aus dem Holzverkauf gar 2.278 fl 16 kr 2 d. 1771/72 brachte der Judenschutz 21 fl 18 kr und das Begräbnisgeld 65 fl 36 kr, was gegenüber den Einnahmen aus Getreide- (2.541 fl 37 kr 2 d) und Holzverkauf (1.499 fl 41 kr) erneut keine beträchtlichen Summen darstellten. Die Erbzinsen schlugen (ähnlich wie 1763/64) mit 367 fl 52 kr 2 d und die Güterverpachtungen mit 560 fl 18 kr zu Buche.37 Von den Einnahmen des Gutes Fröhstockheim mit 2.639 fl 49 kr 2 / d im Jahr 1747/48 stammten nur 43 fl 8 kr von den Schutzjuden, wozu weitere 19 fl 30 kr von den behausten Juden kamen, was insgesamt 62 fl 39 kr ausmachte.38 In Walsdorf erlangten lediglich die Einnahmen aus den Beerdigungsgeldern eine gewisse Wichtigkeit, wohingegen die Einnahmen aus dem Bereich der Gerichtsherrschaft nicht überschätzt werden dürfen. Wie so oft, lässt sich natürlich auch hier eine Ausnahme anführen, etwa als „der kleine Jud“ Schlammel von Egenhausen 1745 wegen Einfuhr verseuchten Viehs aus der Rothenburger Landwehr mit 550 fl rh und sogar dessen Helfer Jessel mit stolzen 100 fl bestraft wurden; das Geld wurde unter den betroffenen Bauern verteilt.39 Gemeinhin gilt auch die Tätigkeit von Juden im Geldverleihgeschäft als ein besonderer ökonomischer Faktor für Herrschaft und Untertanen. Indes ist dies weder bei Crailsheim, noch bei Seckendorff in nennenswertem Umfang belegt. In der Regel hatte die jüdische Bevölkerung beider Herrschaften wohl nicht genug Kapital, um die doch großvolumigeren Kreditwünsche der Herrschaft befriedigen zu können40 – und die Holden konnten ihrerseits so-
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Staatsarchiv Nürnberg, Archive der Familienstiftung von Crailsheim, Herrschaft Walsdorf, Rechnungen, Nr. 59. Ebd., Nr. 67. Ebd., Herrschaft Fröhstockheim, Rechnungen, Nr. 6. Rechter, Seckendorff III, S. 542. Siehe unten S. . Wobei es natürlich ganz vereinzelt auch wohlhabende jüdische Familien gab: 1742 erwarb der Sohn Schlammel Levi (ca. 1719) des Frejum Jud zu Ickelheim das sog. Zennsengut zu Obernzenn um 675 fl rh; 1754 September 10 war er verstorben; die Witwe zahlte für eine Kuh 12 fl rh Hauptrecht, und von 3581 fl Sterbhandlohn, der freilich ermäßigt wurde (ders., Seckendorff IV, S. 707). 1771 ehelichte die Tochter Theila den Jakob Elias Jud zu Mainbernheim, Nachsteuer von 1165 fl 4 kr rh Heiratsgut und Aussteuer, auch die anderen Kinder erhielten gute Mitgiften, so 1772 die Tochter Bohla, welche den bambergischen Schutzjuden Moses Schlam zu Lonnerstadt ehelichte und 1100 fl rh Heiratsgut und Aussteuer im Wert von 200 fl rh erhielt, 1776 die Tochter Schlammes, die Isaak Jud zu Uehlfeld heiratete und mit Heiratsgut und Aussteuer im Wert von 1068 fl rh versehen wurde. 1799 fielen den Erben der Witwe immerhin noch 2040 fl 53 kr rh zu (ebd.).
Judenschutz als reichsritterschaftliche Statuspolitik
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wohl auf die Herrschaft, als auch auf andere Kreditgeber, wie solvente andere Holden oder die Kirchenvermögen, zurückgreifen.41 Nach gängiger Meinung konnten sich fränkische Landjuden seit dem 16. Jahrhundert. – außer als Geldverleiher – nur als Vieh- und Hausierhändler ernähren. Dennoch gab es sehr wohl auch für Christen arbeitende Handwerker wie den Juden Schlam, der 1588 für die Herrschaft Fenster reparierte,42 oder Kleinbauern wie Salomon und Berlein, die in Ickelheim nach dem Dreißigjährigen Krieg ein Gütlein mit 2 3/4 Morgen Acker bewirtschaften konnten.43 Bei den vorgenommenen Mikroanalysen ritterschaftlicher (und anderer) Dörfer mit einem größeren jüdischen Bevölkerungsanteil wird deutlich,44 dass die Landjuden im Nahrungserwerb mit den im 18. Jahrhundert so stark angewachsenen unterbäuerlichen Schichten, den Kleingütlern und Häuslern, konkurrierten. Als Beispiele mögen hier nur die eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten für Häusleranwesen sowie die Beteiligung an der dörflichen Allmende dienen.
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Gerhard Rechter, Ländliche Kapitalmärkte im Fürstentum Brandenburg-Ansbach, in: Zeitschrift für Sparkassen-Geschichte 2 (1988), S. 35–50. Rechter, Seckendorff IV, S. 1052. Staatsarchiv Nürnberg, Rentamt Windsheim, Abg. 1930, Nr. II Tit. XV Nr. 7 (Salbuch des Deutschordensamtes Ickelheim 1687, mit Nachträgen). Ähnliches ließ sich auch beim markgräflichen Kastenamt Külsheim nachweisen, wo seit ca. 1700 Josef Levi und Salomon einen Hof mit mehr als 30 Morgen Acker und 2 1/2 Tagwerk Wiesen innehatten. Ebd., vorbayerisch, Nr. 260 und 270; Ansbacher Archivalien, Nr. 4822. Zu den ritterschaftlichen Dörfern s. Anm. 8 und 9. Darüber hinaus ist eine Darstellung der zur Deutschordenskommende Virnsberg wie zum markgräflichen Amt Külsheim gehörigen Anwesen in ca. 90 Dörfern im Bereich von Zenn- und Aischgrund in Arbeit.
3. Die Integrationskraft der Reichsgerichte als Faktor jüdischer Lokalgeschichte
André Griemert
Zwischen Krieg und Frieden – Jüdische Prozesse am Reichshofrat unter Ferdinand III.1 Die Judischheit teutscher Nation, der Kaiser und der RHR „Zu allen Zeiten haben in besonders vordringlicher Weise Juden die rechtsprechende Tätigkeit des [Reichshofrats] in Anspruch genommen.“2 Trotz dieser Feststellung Oswald von Gschließers über die jüdische Inanspruchnahme des Reichshofrats muss für das Verhältnis der Juden im Reich zum römisch-deutschen Kaisertum mittels des Reichshofrates (RHR) postuliert werden, dass dieses bisher kaum einer intensiven Betrachtung unterzogen wurde. Die Verbindung zwischen gemeiner Judischheit teutscher Nation und Reichsoberhaupt blieb zwar bis zum Ende des Alten Reiches eine wesentliche Komponente jüdischen Lebens im Reich,3 doch die Beurteilung der Rahmenfaktoren von Kaiser und Reich für die Rechts- und Lebensverhältnisse der Juden stellen bis dato ein Desiderat dar. Analog zur borussisch geprägten Geschichtsschreibung des Alten Reiches standen die Territorialstaaten in Betrachtung der normativen Elemente des Judenrechts bis vor Kurzem im Zentrum des allgemeinen Forschungsinteresses.4 Das Urteil Ronnie Po-Chia Hsias zu Beginn der 1990er Jahre, dass die „bisherige Forschung [. . . ] vergleichende Untersuchungen zur jüdischen Geschichte auf überregionaler, auf Kaiser und Reich bezogener Per1
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Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des durch die Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Promotionsprojektes ,Jüdische Prozesse am Reichshofrat. Ein diachroner Vergleich der Herrschaftszeiten Rudolfs II. und Franz I. Stephans‘. Die Archivarbeit in Wien unterstützte die Adolf-Schmidtmann-Stiftung (Marburg) mit Sachmittelzuschüssen. Der Autor dankt Prof. Dr. Christoph Kampmann sowie Sarah Bäcker, Boris Queckbörner M.A. und Oliver Teufer für die kritische Durchsicht des Textes. Zitat Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich; 33), S. 35. Siehe Arno Herzig, Die Judischeit teutscher Nation. Zur Krise der deutschen Judenheit im Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: Aschkenas 1 (1994), S. 127–132. Vgl. bspw. Peter Rauscher, Der lange Weg aus dem Mittelalter. Die beginnende Emanzipation der Juden im Alten Reich um 1800, in: Peter Claus Hartmann/Florian Schuller (Hgg.), Das Heilige Römische Reich und sein Ende 1806. Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte, Regensburg 2006, S. 140–150. Vgl. zur Forschung kurz Stephan Wendehorst, Advocatia Imperatoris Judaica. Der Kaiser, das Reich und die Juden in der Frühen Neuzeit, in: ders./Siegrid Westphal (Hgg.), Lesebuch Altes Reich, München 2006 (bibliothek altes Reich; 1), S. 222–228, hier S. 223–225.
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spektiven zu sehr vernachlässigt“ habe, hat daher bis heute Bestand.5 Dabei verspräche vor allem eine Analyse jüdischer Rechtspraxis am RHR, der für die Erforschung des Verhältnisses zwischen Judenschaft im Reich und Kaisertum eine prominente Stellung einnimmt, einen enormen Erkenntnisgewinn.6 In den vergangenen dreißig Jahren stand das Reichskammergericht im Rahmen der Neubewertung des Alten Reiches seit den 1960er Jahren7 im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Für die Forschungslage zum RHR ist demgegenüber bezeichnend, dass erst seit den rechtshistorischen Studien Wolfgang Sellerts das Bemühen einsetzte, den RHR in seiner Bedeutung angemessen zu würdigen.8 Dieses Gericht, das nominell unter direktem 5
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Siehe Ronnie Po-Chia Hsia, Die Juden im Alten Reich, in: Georg Schmidt (Hg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Beihefte; 29), S. 211–221, Zitat S. 212. Vgl. hierzu Stefan Ehrenpreis/Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst, Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis. Ein neuer Zugang zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich?, in: Aschkenas 11 (2001), S. 39–58. Und dies., Probing the Legal History of the Jews in the Holy Roman Empire. Norms and their Application, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2003), S. 409–487. Hierzu kritisch Barbara Staudinger, Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis. Eine Stellungnahme zu einem Forschungsvorhaben zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich, in: Aschkenas 13 (2003), S. 107–115. Siehe auch dies., Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hgg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich [= QFhGAR]; 37), S. 119–140, hier S. 125 f. Vgl. jüngst den Forschungsüberblick zum 200. Jahrestag des Endes des Alten Reiches bei Thomas Nicklas, Müssen wir das Alte Reich lieben? Texte und Bilder zum 200. Jahrestag eines Endes. Revision der Literatur des Erinnerungsjahres 2006, in: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007), S. 445–474. Edgar Liebmann, Die Rezeptionsgeschichte des Alten Reichs im 19. und 20. Jahrhunderts, in: Wendehorst/Westphal, Lesebuch, S. 8–12. Winfried Schulze, ,Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters‘. Entwicklung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 3–18. Vgl. insgesamt Karl Härter, Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Jus Commune 21 (1994), S. 215–240; Edgar Liebmann, Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit im Spiegel der Forschung, in: Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hgg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, Köln/Weimar/Wien 2007 (QFhGAR; 52), S. 151– 172. Eva Ortlieb/Siegrid Westphal, Die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich. Bedeutung, Forschungsentwicklung und neue Perspektiven in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 123 (2006), S. 291–304. Für die Veröffentlichungen Wolfgang Sellerts zum RHR seien hier stellvertretend genannt ders., Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N.F.; 18). Sowie ders., Über die Zuständigkeit von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Aalen 1965 (Untersuchungen zur deutschen Staat- und Rechtsgeschichte, N. F.; 4). Jüngst ders., Gewalt, Macht oder Recht? Die Reichsjustiz als Garant der Friedensordnung, in: Hartmann/Schuller, Reich, S. 38–50.
Jüdische Prozesse am Reichshofrat unter Ferdinand III.
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Einfluss des Kaisers stand, behandelte die kaiserlichen Reservatsrechte und repräsentierte die kaiserliche Stellung als oberster Lehnsherr und Richter im Reich. Der RHR hatte die politischen Leitlinien des Geheimen Rates und des Kaisers zu berücksichtigen, der sich bei den Entscheidungen des RHR ein Mitspracherecht sicherte. Der RHR wiederum trat als beratendes Organ sowie als Verwaltungs-, Gerichts- und Regierungskolleg in reichspolitischen Fragen auf.9 Aus jüdischer Perspektive kam dem RHR gleichermaßen eine erhebliche Bedeutung zu.10 Im Wesentlichen beruhte diese auf der mittelalterlichen kaiserlichen Kammerknechtschaft der Juden sowie auf der Funktion des Reichsoberhauptes als ihr oberster Schutzherr. Grundlegend für dieses Verhältnis war ein Zusammenspiel aus Reichsrecht und Reichsherkommen mit den administrativen und jurisdiktionellen Funktionen des kaiserlichen Amts.11 Zugleich erwuchs hieraus eine Schutzverpflichtung des Kaisers, die dem territorialen Judenrecht de iure übergeordnet war. Dies wiederum gab Anlass für Konflikte zwischen Reichsoberhaupt und Territorialherren, da diese bemüht waren, ihre jurisdiktionellen Zugriffsrechte auf die Juden zu erweitern und sie in die allgemeinen Territorialisierungs- und Staatsbildungsprozesse einzubinden.12 Die Verbindung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit zur Reichspolitik einzelner Herrscher nimmt in dieser Perspektive eine zentrale 9
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Vgl. Wolfgang Sellert (Hg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766, Bd. 2 (= RHR-Ordnung 1654), Köln/Weimar/Wien 1980–1990 (QFhGAR; 8), S. 129–173, hier Tit. II, §§ 1 f., S. 140 f. Leopold Auer, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hgg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997, S. 117–130, S. 117. Kurz Gabriele Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“. Der Reichshofrat und die Reichspolitik des Kaisers, in: Harm Klueting/Wolfgang Schmale (Hgg.), Das Reich und seine Territorialstaaten im 17. und 18. Jahrhundert. Aspekte des Mit-, Neben- und Gegeneinander, Münster 2004 (Historia profana et ecclesiastica. Geschichte und Kirchengeschichte zwischen Mittelalter und Moderne; 10), S. 23–42. Vgl. kurz Peter Moraw, Reichshofrat, in: Handwörterbuch Deutsche Rechtsgeschichte 4, 1990, Sp. 630– 638, hier Sp. 630, 633–635. Vgl. hier einführend Andreas Gotzmann/Stefan Ehrenpreis/Stephan Wendehorst (Hgg.), Jüdisches Heiliges Römisches Reich, Erfurt/Frankfurt am Main/ Leipzig 2006/7, S. 12 f. Vgl. Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 545–599. Ders., Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte; 60), S. 14. Siehe hier auch Volker Press, Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: Friedrich Battenberg/Filipp Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Weimar/ Köln/Wien 1994, S. 349–363, S. 352. Staudinger, Resolutionsprotokolle, S. 126–127. Vgl. bspw. Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluss der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 243–293. Vgl. auch Heinz Duchhardt, Karl VI., Die Reichsritterschaft und der Opferpfennig der Juden, in: Zeitschrift für Histo-
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Stellung ein. Sie ist indes trotz wegweisender Pionierstudien noch weitgehend unbeachtet geblieben.13 Auf dem Gebiet einer bisher nur in Ansätzen erforschten kaiserlichen Judenpolitik auf Reichsebene mit ihren möglichen Verbindungslinien zur Reichspolitik liegen erste Ansätze vor,14 die einer detaillierten Überprüfung anhand von Fallstudien noch weitgehend harren. Bei einem solchen Vorhaben müssen jedoch die Reichshofratsprozesse mit jüdischer Beteiligung im Kontext von Recht und Politik verortet werden, um so das Verhältnis von kaiserlicher Herrschaft und Juden des Reiches am und über den RHR aufdecken zu können. Dabei gehen jüngste Schätzungen von ca. 2.500 bis 3.000 Causen unter jüdischer Beteiligung aus, die an den RHR herangetragen wurden.15 Dieser Prämissen nehmen sich nachstehende Ausführungen am Beispiel
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rische Forschung 10 (1983), S. 149–167. Hingegen anderer Meinung Battenberg, Juden, S. 8–11. Vgl. insbesondere Michael Hughes, Law and politics in eighteenth century Germany. The imperial Aulic Council in the reign of Charles VI., Woodbridge 1988 (Royal Historical Society, Studies in History; 55). Und ders., The Imperial Aulic Council („Reichshofrat”) as Guardian of the Rights of Mediate Estates in the later Holy Roman Empire. Some Suggestions of further Resarch, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 56), S. 192–201. Martin Fimpel, Reichsjustiz und Territorialstaat. Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis (1648–1806), Tübingen 1999 (Frühneuzeit-Forschungen; 6). Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten, 1648–1806, Köln/ Weimar/Wien 2002 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 43). Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657), Köln/Weimar/Wien 2001 (QFhGAR; 38). Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Bern u. a. 1999 (Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit; 4). Ralf-Peter Fuchs, Ein ,Medium‘ zum Frieden. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, München 2010 (baR; 4). Stefan Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionenkonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612, Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; 72). Siehe hier vor allem Stephan Wendehorst, Imperial Spaces as Jewish Spaces – The Holy Roman Empire, The Emperor and the Jews in the Early Modern Period. Some Premilinary Observations, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Institut 2 (2003), S. 437–474. Ders., Die Kaiserhuldigungen der Frankfurter Juden im 18. Jahrhundert, in: Fritz Backhaus/ Gisela Engel/Robert Liberles/Margarete Schlüter (Hgg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006 (Schriftenreihe des Jüdischen Museums am Main; 9), S. 213–235. Ders, Das gescheiterte Projekt der jüdischen Kaiserhuldigung in Worms. Symbolische imperiale Herrschaftspraxis und jüdische Teilhabe im Römisch-Deutschen Reich, in: Andreas Gotzmann/ders. (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beihefte; 39), S. 245–272. Siehe Eva Ortlieb, Die Erschließung der Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: André Griemert, Tagungsbericht Jüdisches Heiliges Römisches Reich. 09.12.2007– 10.12.2007, Wien, in: H-Soz-u-Kult, 20.02.2008, , [10.12.2008].
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der Herrschaft Ferdinands III., die in einem überschaubaren Zeitrahmen die Konjunkturen und Krisen des Kaisertums umfasst und damit unterschiedliche Rahmenbedingungen reichshofrätlicher Tätigkeit umschreibt,16 die durch Ferdinand III. mit einer neuen und bis 1806 gültigen Reichshofratsordnung auf ein neues Fundament gestellt wurde.17 Da das oberstrichterliche Amt des Kaisers das wichtigste Mittel seiner Einflussnahme auf das Reich darstellte, soll mittels einer Quantifizierung aller jüdischen Betreffe vor dem RHR anhand der Resolutionsprotokolle18 sowie der exemplarischen Analyse eines Falles aus der elsässischen Reichsstadt Schlettstadt,19 dem heutigen französischen Sélèstat, der Frage nachgegangen werden, wie sich die kaiserliche Oberherrschaft20 über die Juden in einer Phase des Reiches mit Zäsurcharakter manifestierte und ob sich Verbindungen zwischen einer kaiserlichen Judenpolitik am RHR zur Reichspolitik herauspräparieren lassen beziehungsweise welche Rolle jüdische Prozesse in dieser Phase der Reichsgeschichte am und für den RHR spielten? Nicht zuletzt soll damit zur Differenzierung der in der Forschung seit Langem diskutierten Frage beigetragen werden, wann die ,Rückkehr des Kai-
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Ähnlich Ortlieb, Auftrag, S. 59. Zur Publizierung der Reichshofratsordnung von 1654 siehe Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (= HHStAW), Reichshofrat (= RHR), Protocollarum Rerum Resolutarum (= Prot. Rer. Res.), 17. Jahrhundert (= XVII) 160 (1654): fol. 203r-203v (17.3.). Zur Entstehungsgeschichte der Reichhofratsordnung von 1654 siehe Sellert, Prozessgrundsätze, S. 69–76. Zu Ferdinand III. Matthias Schnettger, Ferdinand III., Kaiser, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 18 (2001), Sp. 423–429 (hier URL: , [27.10.2008]). U. Karl Eder, Ferdinand III., in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 85 f. Ausführlicher Konrad Repgen, Ferdinand III. 1637– 1657, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hgg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918, München 1990, S. 142–167. Vgl. Lothar Höbelt, Ferdinand III. (1608–1657). Friedenskaiser wider Willen, Graz 2008. Für diesen Hinweis danke ich Frau Britta Kägler M.A. Zu den Protokollen Lothar Groß, Reichshofratsprotokolle als Quellen niederösterreichischer Geschichte, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 26 (1936), S. 119–123. Siehe kurz mit weiterer Literatur Barbara Staudinger, Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrates (RHR), in: zeitenblicke 3, 2004, 3, [13.12.2004], URL: , [07.12.2006]. Vgl. HHStAW, RHR, Denegata antiqua (= Den. ant.), Karton (= K.) 177 und 178. Die hier im Zentrum des Interesses stehenden Prozessakten liegen in Karton 178. In Karton 177 sind ausführliche Verhörprotokolle der Kommission zum Prozess zu finden. Diese werden nicht herangezogen, da sie bereits von Barbara Staudinger im Rahmen eines Vortrags bearbeitet wurden. Vgl. Birgit E. Klein, Perspektivenwechsel. Ego-Dokumente. Selbst- und Fremddarstellungen frühneuzeitlicher Juden. Zusammenfassung der Beiträge. Interdisziplinäres Forum ,Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit‘: 4. Arbeitstagung, 28. Februar–2. März 2003, Ev. Akademie Mülheim/Ruhr; hier: Barbara Staudinger, Ein Mosaik jüdischen Lebens? Die Verhörprotokolle im Prozess um Hirtz Reinauer, Mosche Rossa und die Elsässer Juden (1650–1654) als Quellen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, auf URL: , [24.10.2008]. Vgl. für das 16. Jahrhundert: Debra Kaplan, Kooperation und Konflikt. Elsässische Juden, Herrschaft und Recht im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse des 16. Jahrhunderts, in: Gotzmann/Wendehorst, Juden im Recht, S. 333–346.
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sers in das Reich‘ mit einer erstarkenden kaiserlichen Reichspolitik begann.21 Gerade die Analyse des Schlettstadtfalles ist von besonderem Interesse, weil der Kaiser hier zum einen als Stadtherr auftrat,22 zum anderen aber durch die Bestimmungen des Westfälischen Friedens habsburgische Hausrechte an der Landvogtei Hagenau, die hauptsächlich in der Schutzvogtei über die zehn elsässischen Reichsstädte (Dekapolis23 ) bestanden,24 an Frankreich abgetreten werden mussten. Gleichzeitig behielten die Reichsstände des Elsass auch nach 1648 die von Frankreich im Friedensvertrag garantierte Reichsstandschaft, so dass hier verschiedene Herrschaftsträger vertikal und horizontal aufeinandertrafen.25 Zu fragen gilt, ob sich Ferdinand III. in dieser skizzierten politischen Konstellation Eingriffsmöglichkeiten zur Bestätigung seines Amtes als oberstem Richter und Mediator zu allen Seiten boten, oder ob der Prozess zu einem diplomatischen und reichspolitischen Vabanquespiel zu werden drohte? Die mit der exemplarischen Untersuchung eines Falles verzahnte quantitative Analyse eignet sich besonders,26 nicht nur um die Kräfteverteilung zwischen Kaiser 21
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Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und der Reichstag, in: Hermann Weber (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Abt. Universalgeschichte, Beihefte 8: Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches; 2), S. 113– 153. Vgl. Harm Klueting, Das Reich und Österreich 1648–1740, Münster 1999 (Historia profana et ecclesiastica; 1), S. 89–95. Siehe vor allem Volker Press, Österreichische Großmachtbildung und Reichsverfassung. Zur kaiserlichen Stellung nach 1648, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 98 (1990), S. 131–154. Ders., Reichshofrat, S. 349–363. Ders., Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740. Versuch einer Neubewertung, in: Schmidt, Stände und Gesellschaft, S. 51–80. Vgl. Thomas Lau, Die Reichsstädte und der Reichshofrat, in: Wolfgang Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, Köln/Weimar/Wien 1999 (QFhGAR; 34), S. 129–153. Siehe Christian Ohler, Zwischen Frankreich und dem Reich. Die elsässische Dekapolis nach dem Westfälischen Frieden, Frankfurt am Main 2002 (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte; 9). Vgl. kurz Paul Stintzi, Die Habsburger im Elsaß, in: Friedrich Metz (Hg.), Vorderösterreich. Eine geschichtliche Landeskunde, Freiburg 1967, S. 505–564, hier S. 560–562. Insgesamt Joseph Becker, Geschichte der Reichslandvogtei im Elsaß, Straßburg 1905. Vgl. Barbara Staudinger, Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559– 1670, ungedr. Diss. Phil. Wien 2001, S. 158 f. Gotzmann/Ehrenpreis/Wendehorst, Jüdisches Heiliges Römisches Reich, S. 12. Vgl. auch Ulrich Eisenhardt, Zu den historischen Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Friedrich Battenberg/ Filippo Ranieri (Hg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 17–38, hier S. 26. Sowie ders., Der Reichshofrat als kombiniertes Rechtssprechungs- und Regierungsorgan, in: Jost Hausmann/Thomas Krause (Hgg.), ,Zur Erhaltung guter Ordnung‘. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 245–267, hier S. 264–267. Tatsächlich kann die Bedeutung des Reichhofrats im Allgemeinen und für die kaiserliche Position im Reich im Besonderen letztlich nur über die Rechtspraxis, d.h. über die Auswertung von Fallbeispielen geschehen. Vgl. ebenso Härter, Literatur, S. 221, 225 f.,
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und Reichsständen, sondern auch die Möglichkeiten kaiserlicher Politik im Allgemeinen zu beleuchten. Schließlich kann auf diese Weise gleichsam auf einer Mesoebene eine Verbindung von Regional- und Reichsgeschichte hergestellt werden, um mit Hilfe regionaler Modelle ein vertieftes Verständnis des Reiches erarbeiten zu können.27 Die Studie beansprucht indessen nicht, generelle Aussagen über das Verhältnis Reichsoberhaupt – Judenschaft des Reichs über die Herrschaftsjahre Ferdinands III. hinaus zu treffen, sondern beschränkt sich auf die Jahre 1637 bis 1657.
Quantifizierung – Totalaufkommen und Prozessfrequenz jüdischer Prozesse am Reichshofrat Das Totalaufkommen jüdischer Prozesse am Reichhofrat von 1637–1657
Mehr als die rechtsnormativen Grundlagen der RHR–Ordnungen28 kann vor allem die Analyse der quantitativen Inanspruchnahme des RHR Aussagen über dessen Tätigkeit und Funktionsweisen liefern. Insbesondere eine Studie, die das Verhältnis und die Funktionsweise kaiserlicher Oberherrschaft über die Juden mittels des RHR auf Reichsebene aufhellen will, muss eine systematische Erfassung und Beschreibung aller jüdischen Belange für das gesamte Gebiet des sogenannten Reichstagsdeutschlands der Untersuchung von Fallbeispielen vorschalten, die nur unter Berücksichtigung der Ausprägung
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239. Um indessen einen vollständigen Überblick über die jeweils gewählte Thematik zu erhalten, ist eine vorgeschaltete Quantifizierung unabdingbar. Wie Ortlieb, Auftrag, S. 49–52. Siehe hierzu unten Kap. 2.1. Vgl. Dietmar Schiersner, Überblick von unten – oder: ein kleines Reich. Was hat die Regionalgeschichte der Reichsgeschichte zu sagen?, in: Johannes Burkhardt u. a. (Hgg.), Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling, Konstanz 2006, S. 295–322. Sowie ders., Mesogeschichte. Modellerzählung zwischen Region und Reich, in: Vortrag in der Sektion ,Brauchen wir eine neue deutsche Meistererzählung? Perspektiven aus der Frühen Neuzeit‘ auf dem 47. Deutschen Historikertag in Dresden zum Thema Ungleichheiten. Schiersner machte darauf aufmerksam, dass aus einer Betrachtung von regionalen Vernetzungen und Zusammenhängen deren Ergebnisse auf das gesamte Reich bezogen werden könnten. Gleichzeitig mahnte er, dass es sich hierbei nur um Erklärungs- und Verständnisansätze handele, nicht jedoch um eine genaue Projektion der regionalen Erkenntnisse auf das Ganze. Siehe Anuschka Tischer, Tagungsbericht HT 2008. Brauchen wir eine neue deutsche Meistererzählung? Perspektiven aus der Frühen Neuzeit. 30.09.2008–03.10.2008, Dresden, in: H-Soz-u-Kult (24.10.2008), URL: , [29.10.2008]. Der RHR besaß in rechtsnormativer Hinsicht weit mehr Spielraum als das RKG. Zwar verweisen alle RHR-Ordnungen auf die RKG-Prozessordnungen, betonten aber ansonsten, dass der RHR ausdrücklich seinen politischen Aufgaben nachzukommen habe und damit an keine „unnöthige GerichtsSolennia“ (Zitat RHR-Ordnung 1645, Tit. II, § 9, S. 143; Gschließer, Reichshofrat, S. 40 f.) gebunden sein sollte.
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des statistischen Gesamtphänomens methodisch sinnvoll analysiert werden können.29 Da die Erschließung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien erst am Anfang steht,30 bilden die beinahe vollständig überlieferten Resolutionsprotokolle (Protocolla rerum resolutarum) für eine erste quantitative Übersicht über die reichshofrätliche Tätigkeit betreffs jüdischer Prozesse die Grundlage.31 Die hier erstellte Quantifizierung greift auf bewährte methodische Vorgehensweisen älterer Studien zurück32 und berücksichtigt für die Jahre 1637 bis 1657 durchgängig in Reinschrift vorliegenden Protokollbände.33 Allerdings mussten die Protokolle unter Ferdinand III. vollständig durchgesehen wer29
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31
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So auch die Vorgehensweise der wegweisenden Studie Ortlieb, Auftrag, S. 15 f., 125. Zum Begriff Reichstagsdeutschland Georg Schmidt, Das Frühneuzeitliche Reich. Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation?, in: Matthias Schnettger (Hg.), Imperium Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; 57), S. 246–277, hier S. 274–276. Siehe bspw. Eva Ortlieb, Die Formierung des Reichshofrats (1519–1564). Ein Projekt der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Zusammenarbeit mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: Amend/Baumann/Wendehorst/Westphal, Gerichtslandschaft, S. 17–25. Zum Göttinger Erschließungsprojekt der RHR-Akten vgl. URL: u. , [beide 02.03.2008]. Vgl. Ortlieb, Auftrag, S. 52 f. Thomas Fellner/Heinrich Kretschmayr, Die österreichische Zentralverwaltung. I. Abteilung. Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der Österreichischen mit der Böhmischen Hofkanzlei (1749), Bd. 1: Geschichtliche Übersicht, Wien 1907 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs; 5), S. 225 f. spricht von einer „nahezu lückenlosen” Überlieferung. Lothar Groß, Die Reichsarchive, in: L[udwig] Bittner (Hg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1, Wien 1936 (Inventare österreichischer staatlicher Archive V [IösA V]; Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs = IWHHStA; 4), S. 273–394. Ders., Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei 1559–1806, Wien 1933 (IösA V; IWHHStA; 5), S. 252, zu den Resolutionsprotokollen S. 247–256. Vgl. Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, Bd. 1, Köln/Wien 1985 (QFhGAR; 17/I), S. 108–124. Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse, Köln/ Weimar/Wien 2001 (QFhGAR; 36), S. 11–16. Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657), Köln/Weimar/Wien 2001 (QFhGAR; 38), S. 49–57, 64–68. Sabine Ullmann Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576), Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; 214), S. 44–48, 53, 67. Siehe auch Staudinger, Juden, S. 174– 188 mit einer ähnlichen Vorgehensweise. Sie wählte allerdings für die Prozessfrequenz Zehn-Jahres-Schritte und kann damit detaillierte Frequenzen für die einzelnen Kaiser nicht ermitteln, obgleich dies auch nicht im Sinne der Studie steht, die sich eher auf den Aspekt der Judenfeindschaft konzentriert. Siehe insgesamt HHStA, Wien, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 110–173; für die Erhebung wurden HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 111, 126, 114–116, 119, 122, 126, 129, 130, 133, 135, 138, 141, 145, 148, 149a, 151, 152, 155, 156, 158–160, 163, 165, 166, 169, 170, 173 verwendet.
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den, da die Register oftmals nicht vorhanden oder nur lückenhaft überliefert sind. Da die Tätigkeit des RHR an die Herrschaftszeit des jeweiligen Kaisers gebunden war, richtete sich die Erhebung aller am RHR verhandelten Prozesse mit jüdischer Beteiligung nach Beginn und Ende der Regierungszeit Ferdinands III.34 Erhoben wurden nur die Prozesse, in denen die Streitparteien eindeutig zu zuordnen waren. Bei nicht greifbarer Feststellung der jüdischen Identität blieben die Prozesse unberücksichtigt, obgleich für das 17. Jahrhundert die Identifikation zumeist durch Zusätze wie ,Jud‘, ,Jude‘ oder ,Judenschaft‘ möglich war. Es handelt sich daher bei allen Erhebungen stets um Mindestzahlen.35 Im Folgenden ist zunächst das Totalaufkommen jüdischer Prozesse am RHR zu besprechen. Bei diesem ersten Schritt wurden die Ergebnisse der Erhebung mittelst der Resolutionsprotokolle mit den Angaben aus den verschiedenen Findbehelfen des reichshofrätlichen Archivs abgeglichen.36 Die Gesamtzahl der Prozesse wurde dann nach den Kategorien ,Juden c. Juden‘, ,Juden c. Christen‘ sowie ,Gratialangelegenheiten‘ eingeteilt37 , um danach die Kategorie ,Juden c. Christen‘ einer näheren Betrachtung zu unterziehen und die hier gegebenen Fälle vor allem in die Kategorien ,Juden c. christliche Privatpersonen‘ und ,Juden c. Obrigkeiten‘ zu differenzieren. Mit dieser Vorgehensweise sollen jedoch keine religiösen Deutungsmuster eingeführt werden. Vielmehr liegt der Einteilung das frühneuzeitliche Standesdenken zu Grunde, in welcher die Juden trotz ihrer Pariastellung schon durch die kaiserlichen Privilegien einen festen rechtlichen Platz einnahmen.38 Letztlich 34 35 36
37
38
Siehe RHR-Ordnung II, Tit. I, § 10, S. 135. Für Ferdinand III. erhebt die Studie alle Protokolleinträge zwischen dem 15. Februar 1637 und dem 2. April 1657. Vgl. hierzu Ortlieb, Auftrag, S. 57. Ähnlich Staudinger, Juden, S. 187 f. In den Tabellenüberschriften mit dem in Klammern gesetzten Kürzeln RP (= Resolutionprotokolle) und WR (= Wolf ’sche Repertorium) gekennzeichnet; neben dem digitalisierten Hauptfindbehelf, dem Wolf ’schen Repertorium (vgl. Gross, Reichsarchive, S. 273–394. Siehe v.a. Barbara Staudinger, Die Reichshofratsakten als Quelle zur Geschichte der österreichischen und böhmischen Länder, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hgg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.– 18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien/ München 2004 [Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband; 44], S. 327–336. Leopold Auer, Such- und Erschließungsstrategien für die Prozessakten des Reichshofrats, in: Sellert, Reichshofrat und Reichskammergericht, S. 211–219, sind dies die ebenfalls digitalisierten Alten Prager Akten. Vgl. hierzu Eva Ortlieb, Die ,Alten Prager Akten‘ im Rahmen der Neuerschließung der Akten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 51 [2004], S. 593– 634. Jetzt der erste gedruckte Findbehelf Wolfgang Sellert (Hg.), Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR). Serie: Alte Prager Akten. Band I: A-D, bearb. v. Eva Ortlieb, Berlin 2009; die Judicalia Miscellanea und die Revisiones. Die Antiqua mussten dagegen physisch ausgewertet werden. In die Kategorie ,sonstiges‘ wurden Causen eingeordnet, an denen zwar Juden beteiligt waren, die aber keine eindeutigen Konstellationen auswiesen. Siehe hierzu unten Kap. 3. Vgl. ähnlich Marta Keil, Jüdinnen als Kategorie? Jüdinnen in obrigkeitlichen Urkunden des deutschen Spätmittelalters, in: Rolf Kießling/Peter Rauscher/Stefan Rohrbacher/
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Abbildung 1: Prozessverteilung nach Totalaufkommen 1637–1657 (n = 64)
rekurriert die vorgenommene Kategorisierung auf die zeitgenössischen Einträge in den Protokollbänden, in welchen die Juden im 17. Jahrhundert in der Regel als solche bezeichnet wurden. Insgesamt erbrachte die Erhebung eine Gesamtzahl von 64 Prozessen für die Regierungszeit Ferdinands III. (Abb. 1). Zu 12 dieser 64 Prozesse konnte kein Aktenbestand mehr ermittelt werden, was einer Verlustrate von 18,8 % gemessen am Gesamtbestand entspricht.39 Insgesamt ergab sich für die 64 Causen, von denen sieben (10,9 %) nicht eindeutig zuordbar waren und insofern in die Kategorie ,sonstiges‘ einsortiert werden mussten, folgende Verteilung: Klagen zwischen jüdischen Konfliktparteien spielen mit vier Prozessen in dieser Phase eine verschwindend geringe Rolle (6,3 %). Die Gratialsachen dagegen nehmen mit acht Causen einen quantitativ sichtbaren Stellenwert ein (12,5 %). In der Kategorie Gratialsachen befinden sich vornehmlich Gesuche von Juden um kaiserliche Geleitbriefe sowie Insinuationen von Privilegien der Frankfurter Gemeinde im Namen der Judenschaft im Reich.40 Auffällig ist,
39 40
Barbara Staudinger (Hgg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300– 1780, Berlin 2007 (Colloquia Augustana; 25), S. 335–361, hier S. 336. Keil betont, dass die Kategorie Religion stets mit einbezogen werden muss. Siehe zur ständischen Eingebundenheit der Juden prägnant Michael Stolleis, Von der Rechtsnorm zur Rechtspraxis. Zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Gotzmann/Wendehorst, Juden im Recht, S. 11–24, hier S. 22 f. Hierzu Sellert, Prozessgrundsätze, S. 437, Anm. 112. Siehe HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 114 (1638), fol. 358v (23.7.): „Judenschafft im Reich, petit confirmationem privilegiorum quorum copiam apponit; 2. die Judenschafft zu Franckfurt petit confirmationem ihrer Settigkeit, wie solche von Chur Maintz und Hessen Darmstatt aufgerichtet, und von Römischen Kayßern confirmirt worden“; in ebd., XVII 114 (1638), fol. 458v (2.9.), fol. 477v-478r (14.9.) beschwert sich die Frankfurter Judenschaft dagegen über die zusätzliche Auferlegung von Abgaben durch den Senat, die gegen § 9 der Stättigkeit von 1616 verstoße.
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dass nur ein in der Tendenz judenfeindliches privilegium contra judaeos,41 insinuiert von der Reichsritterschaft in Franken, für die Herrschaft Ferdinands III. belegbar ist. Unweigerlich fällt der Blick auf die größte Rubrik ,Juden c. Christen‘ (Abb. 2) mit 45 Prozessen (70,3 %). Die Prozesse mit Beteiligung christlicher Privatpersonen befinden sich deutlich in der Minderheit (13 von 45 Fälle; 28,9 %) im Gegensatz zu solchen, in denen sich Juden und Obrigkeiten gegenüber stehen (28 von 45 Fälle; 62,2 %). Während im letzten Fall Juden wesentlich häufiger als Kläger denn als Beklagte auftraten, stehen sich Juden und Privatpersonen als Kläger beziehungsweise Beklagte fast gleich oft gegenüber. Die Mehrheit der unter Ferdinand III. verhandelten Fälle in der Kategorie Juden ca. Obrigkeiten kam mit neun Causen aus den Reichsstädten (22,2 %) wie Worms42 , Fried41
42
Siehe HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 155 (1652), fol. 282r-282v (15.5.). Das Privileg im Wortlaut in HHStAW, RHR, Gartialia et Feudalia, Confirmationes privilegorum deutsche Expedition, K. 175/4: „Des Heiligen Römischen Reichs ohmittelbahre Freye Ritterschafft der Sechs Ort in Franken/ Erneuerte/ vermehrte und Confirmirte Ordnungen/ Samt deroselben Von denen Römischen Kaysern und Königen Allerhöchstlöblicher Gedächtnuß erlangten/ Renovirten und Confirmirten Privilegien und Befreyungs-Brieffen Auch kayserlichen Rescripten. Gedruckt im Jahr Christi 1696, hier Wegen der Juden/ und ihrer wucherlichen Contracten, mit denen Ritterschafftlichen Unterthanen Kaysers Rudolphi II. Privilegium“, S. 71–76. Die Identifizierung dieses Privilegs wirft einige Unklarheiten auf: Zunächst handelt es sich um ein Verbot des jüdischen Wuchers. Vgl. Friedrich Battenberg, Die privilegia contra Iudaeos. Zur Privilegienpraxis der römisch-deutschen Kaiser in der Frühen Neuzeit, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hgg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, Frankfurt am Main 1999 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 125), S. 85–115, hier S. 88. Des Weiteren sollten aber alle Schuldklagen von jüdischer Seite gegen säumige Angehörige der fränkischen Reichsritterkantone vor fremden Gerichten unterbunden und die alleinige Jurisdiktion in diesen Fällen der Reichsritterschaft in Franken obliegen, ansonsten jedoch den Juden ein korrekter Handel zugestand und ihnen diesbezüglich auch Klagen vor auswärtigen Gerichten gestattet werden. Damit ergeben sich zwei weitere Klassifikationsmöglichkeiten für dieses ,Mischprivileg‘: Zum ersten wäre eine Identifizierung als Gerichtsstandsprivileg denkbar, das insbesondere im Spätmittelalter von der Gerichtsbarkeit dritter Gerichte, v.a. von den königlichen Hofgerichte befreite. Vgl. hierzu ders., Die Gerichtsstandsprivilegien der deutschen Kaiser und Könige bis zum Jahre 1451, Bd. 1, Köln/Wien 1983 (QFhGAR; 12/1), S. 11–17, zu den einzelnen Privilegienarten in dieser Kategorie S. 17–22, die hier zutreffende Kategorie S. 117 f. Als zweites ist die Einordnung in die Gruppe der privilegia de non appellando möglich, da nach Ulrich Eisenhardt, Kaiserliche Privilegia de non appellando, Köln/Wien 1980 (QFhGAR; 7), S. 12– 24 es solche gab, die wie in diesem Fall bei Klagen in puncto debiti nur gewisse Fälle umfassten. Vgl. den Verhandlungsverlauf in HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 110 (1637), fol. 77r-77v (7.2.); ebd., XVII 111 (1637), fol. 12r (30.4.), fol. 23r (7.5.), fol. 79r-79v (22.6.); ebd., XVII 116 (1639), fol. 15r-20r (20.1.); fol. 106v (9.5.), fol. 111v (16.5.), fol. 154r-154v (14.7.); ebd., XVII 119 (1640), fol. 91r-91v (29.3.), fol. 125v (10.5.), fol. 197v (14.8.); ebd., XVII 122 (1641), fol. 148v-150r (4.5.), fol. 365r-366r (28.11.); ebd., XVII 126 (1642), fol. 20r-21r (3.2.), fol. 46v-47r (28.2.), fol. 148v (14.7.); ebd., XVII 130 (1644), fol. 114r-114v (29.4.), fol. 234r-234v (22.9.); XVII 133 (1645), fol. 18v (13.1.). In den Verhandlungen ging es insbesondere um die Leibeigenschaft der Wormser Juden, die von Rat behaup-
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Abbildung 2: Prozessverteilung ,Juden c. Christen‘ (1637–1657) (n = 45).
berg43 , Frankfurt44 und Schlettstadt45 . Auffallend ist, dass nach 1648 nur ein Fall, nämlich der Schlettstädter, intensiver verhandelt wurde. Alle anderen reichsstädtischen Prozesse schliefen nach 1648 mehr oder weniger ein oder blieben einfach auf dem Berichtsweg liegen.46 Daneben weist die Herrschaft Ferdinands III. einige Besonderheiten auf, wie folgende Aufstellung in Abbildung 3 derjenigen Prozesse verdeutlicht, in denen sich Obrigkeiten und Juden gegenüberstanden. Elf Prozesse aus der Obrigkeits–Kategorie kamen vom Obersthofmarschallamt als Revisionsprozesse vor den RHR, was gemessen an der Gesamtzahl aller Prozesse immerhin 24,4 % ausmacht (Kategorien ,Adel [landsässig]‘ und ,Wiener Hof- und Funktionselite‘). Hier standen sich vor allem kaiserliche Hofjuden und Mitglieder der Wiener Hof- und Funktionselite gegenüber,
43
44 45
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tet, indessen vom Wormser Bischof und ihren Kämmerern, den von Dalberg sowie vom Kaiser angezweifelt wurde. Vgl. hierzu Wendehorst, Projekt, S. 248–259. Vgl. den Verhandlungsverlauf in HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 135 (1646), fol. 162v (8.6.), fol. 366r-366v (20.12.); ebd., XVII 138 (1647), fol. 88v-89r (26.3.), fol. 100v (12.4.), fol. 112r-113r (2.5.), fol. 166r (1.7.), fol. 175r (11.7.), fol. 193v-194r (14.8.), fol. 221r-221v (1.10.), fol. 222r-222v (3.10.), fol. 223r (4.10.); ebd., XVII 141 (1648), fol. 10r10v (14.1.); ebd., XVII 156 (1652), fol. 197v (4.10.), fol. 198r-199r (7.10.). Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 130 (1644), fol. 119r (10.3.), fol. 184r (26.7.). Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653), fol. 389r-389v (9.12.); ebd., XVII 163 (1654), fol. 59v-60v (3.9.), fol. 88r-88v (18.9.), fol. 109r-109v (28.9.). Siehe hierzu Kapitel 3. Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653), fol. 271v-272r (20.10.): „Pragerische und Wienerische Juden contra die Statt Regenspurg. Der Fall gehörte eigentlich in deß Marschalken jurisdiktion.“ Gemeint ist der Reichserbmarschall, dem der Schutz der sog. Reichstagsjuden oblag. Vgl. hierzu Till Strobel, Jüdisches Leben unter dem Schutz der Reichserbmarschälle von Pappenheim 1650–1806, Epfendorf 2009 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens; 3).
Jüdische Prozesse am Reichshofrat unter Ferdinand III.
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Abbildung 3: Ständische Verteilung beteiligter Obrigkeiten 1637–1657 (n = 32).
die allein der Jurisdiktion des Obersthofmarschalls unterstanden.47 Wurden diese Prozesse bereits vor 1654 oftmals ohne weiteres Urteil vom RHR an den Obersthofmarschall zurückgewiesen, so nahmen sie mit der neuen RHR–Ordnung nach 1654 allmählich ab, da der RHR zu einer alleinigen Reichsinstanz durch die im Westfälischen Frieden den Habsburgern gewährten Exemptionsprivilegien für die Erblande wurde.48 Daneben prozessierte 47
48
Vgl. Staudinger, Juden, S. 163–173. Vgl. zum Hofmarschallamt kurz Jaroslava Hausenblasová, Der Hof Kaiser Rudolfs II. Eine Edition der Hofstaatsverzeichnisse 1576–1612, Prag 2002 (Fontes Historiae Artium; 9), 99 f. Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 111 (137), fol. 148r (17.8.): Juden Clement Gutscher c. Juden von Wien; fol. 202v-203r (17.9.): Erben des Dr. Johann Ulrich Funck c. Erben des Abraham Risens; ebd., XVII 114 (1638), fol. 106r (1.3.), fol. 106v-107r (2.3.): Jüdin Anna Perlheffter c. Maria Justina von Santilier; fol. 175r-175v (26.3.), fol. 250v-251r (7.5.): „hofJüdin“ Anna Perlheffter c. Johan Gottfried Stubecken; fol. 302r (11.6.): Hofjuden Falck und Konsorten c. Hofhandelsmann Achilles Mazzollini; ebd., XVII 116 (1639), fol. 22v (24.1.): Jude Löw Kalstatt c. Hofhandelsmann Hieronymus Bonacina; fol. 135r (16.6.): Negroni Joesphus, Canonicus zu Breßlau c. Israel Wolf Juden; fol. 199v (29.8.): Franz Magno c. Hofjude Marx Lawan; ebd., XVII 119 (1640), fol. 14v (13.1.), fol. 43r-43v (13.2.), fol. 46r-46v (16.2.), fol. 130v (14.5.), fol. 253v (5.10.) u. ebd., XVII 140 (1648), fol. 34r (13.2.): „v. Warttenberg Graf Ernst Beno, siue dessen Gewalttrager Heinrich Krane contra Clement Gutscher Juden“; ebd., XVII 138 (1647), fol. 94r (29.3.): „Widerholt Gabriel Conradt, sub praesentato hodierno, beschwert sich d[as] der Herr Ob[e]rHofmarschalch auf Anklag Salomon Flach Judens Ihne under sein Jurisdiction ziehen wolle.“ Der Eintrag ebd., XVII 149a (1650), fol. 131r (25.10.): „Rohe Valentin contra Aaron Monckh Juden“ ist der letzte Prozess unter Beteiligung des Hofmarschalls in der Regierungszeit Ferdinands III. Vgl. zu diesem Komplex Staudinger, Juden, S. 150 f. Fellner/Kretschmayr, Zentralverwaltung I/1, S. 232 nennen dagegen das Jahr 1679; die RHR-Ordnung 1654, Tit. II, § 10 schloss jedoch bereits Appellationen vom Hofmarschall an den Reichshofrat von „Juden in der Juden-Stadt zu Wien“ (Zitat ebd.) gänzlich aus, so dass sich in den Jahren nach 1654 bis 1657 nur noch vereinzelt erbländische Juden als Appellanten am Reichshofrat finden lassen. Siehe Sellert, Prozessgrundsätze, S. 64 f. Klueting, Reich, S. 52 wertet die Ab-
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der Fiskal am RHR in den Jahren 1637 bis 1657 in drei Prozessen gegen Juden RHR (8,9 %). Insbesondere sei hier der Prozess gegen den Hamburger sephardischen Juden Diego Teixera49 sowie die Frage nach der Erhebung des Goldenen Opferpfennigs und der Kronsteuer erwähnt.50 Interessanterweise verfolgte der RHR diese Prozesse nur sehr dilatorisch und ließ sie nach 1648 zumeist vollkommen unbeachtet.51 Neben den Reichsstädten fällt zudem die hohe Beteiligung derjenigen Gruppe auf, die auch als traditionelle kaiserliche Klientel bezeichnet werden kann. Insofern liegt der Schwerpunkt der geographischen Herkunft der beteiligten Obrigkeiten in den territorial kleinräumigen Gebieten im Süden und Westen des Reichs.52 Hierauf wird jedoch später noch einmal einzugehen sein. In Betrachtung dieser Zahlen auf der Folie der jüdischen Population im Reich, über die zuverlässige Daten allerdings nicht vorliegen, können einige Aussagen zum Totalaufkommen von jüdischen Prozessen am RHR getroffen werden: Im gesamten Reich lebte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine jüdische Bevölkerung von ca. 50.000 Einwohnern. Schätzungen nehmen 18 bis 20 Millionen Personen Gesamtbevölkerung für das Reich insgesamt an. Die jüdische Population machte hieran demnach einen verschwindenden Anteil von ca. 0,5 % aus.53 Die jüdischen Bevölkerungszahlen in Relation zum Prozessaufkommen gesetzt, ergibt ein Wert von 0,13 % relativem Anteil der jüdischen Gesamtpopulation, die an Reichshofratsprozessen beteiligt waren. Juden am Reichhofrat stellten demnach in der Zeit Ferdinands III. innerhalb der jüdischen Gesamtbevölkerung und im Bezug auf die Reichsbevölkerung,
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50
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52 53
koppelung der Erblande vom RHR als Ausdruck einer generellen Distanzierungspolitik Habsburgs gegenüber dem Reich und einer sukzessiven österreichischen Großmachtpolitik. Siehe HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 148 (1650), fol. 157v (1.4.); ebd., XVII 151 (1651), fol. 92r-92v (16.2.). Vgl. zum Prozess gegen Teixera Peter Obersteiner, Fiskalische Judenprozesse vor dem Reichshofrat, in: Gotzmann/Wendehorst, Juden im Recht, S. 273–295, hier S. 278–287. Zum Fiskalat insgesamt Peter Obersteiner, Das Reichshoffiskalat 1596 bis 1806. Bausteine zu seiner Geschichte aus Wiener Archiven, ungedr. Diss. phil. Wien 1992. Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 111 (1637), fol. 203v-204r (18.9.). Vgl. Barbara Staudinger/Peter Rauscher, Widerspenstige Kammerknechte. Die kaiserlichen Maßnahmen zur Erhebung von ,Kronsteuer‘ und ,Goldenem Opferpfennig‘ in der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas 14 (2004), S. 313–363. Vgl. bspw. auch HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 111 (1637), fol. 100v-101r (3.7.); ebd., XVII 114 (1638), fol. 67r (12.2.); ebd., XVII 119 (1640), fol. 261v (9.10.), fol. 264v (13.10.), fol. 267r (15.10.), fol. 275r (22.10.): „Fiskal in specie Belljoyeuse und Wolff Jud zu Blumen zu Franckfurt c. de Nouille“. Als Prozessmaterien sind vorwiegend solche mit ökonomischem Hintergrund zu nennen. Siehe zu den Zahlen Battenberg, Juden, S. 8–10, 33. Vgl. zu den Gesamtzahlen der Reichsbevölkerung Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648, Berlin 1998 (Siedler Deutsche Geschichte; 5), S. 54–57. Und ders., Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763, Berlin 1998 (Siedler Deutsche Geschichte; 6), S. 77 f.
Jüdische Prozesse am Reichshofrat unter Ferdinand III.
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zumal des Übergewichts erbländischer Juden, eine insgesamt genommen marginale Größe dar.54
Prozessfrequenzen – Das jährliche Aufkommen jüdischer Prozesse am Reichshofrat 1637–1657
Anders als bei der Totalerhebung werden bei der Darstellung der Prozessfrequenz der Jahre 1637 bis 1657 allein die Angaben aus den Resolutionsprotokollen herangezogen und damit nur die Prozesse zugrunde gelegt, die auch tatsächlich im RHR zur Sprache kamen. Dabei wurden bei der graphischen Darstellung Jahresschritte gewählt. Damit soll nicht die Illusion exakter Zahlen beschworen werden. Allerdings erscheint es auf diese Weise möglich, neben zufälligen Schwankungen langfristige Entwicklungen aufzuzeigen und mit markanten Verlaufspunkten der Herrschaft Ferdinands III. zu vergleichen. Eine Erhebung allein nach Prozessbeginn erscheint methodisch wenig sinnvoll, da einige der Prozesse über das Ende der Herrschaft Ferdinands III. hinausreichen oder deren Anfänge weit zurückliegen. Daher orientiert sich die Erhebung an den tatsächlich verhandelten Causen am RHR pro Jahr, wobei sie jeden Prozess pro Jahr einmal zählt. Wie obige Erhebung, so zeigt auch Abbildung 3, dass von Prozessen mit jüdischer Beteiligung am RHR unter Ferdinand III. als einem Randphänomen gesprochen werden muss. In der Betrachtung der Prozessfrequenz fällt in Betrachtung der schwarzen Trendlinie die beständige Abnahme der Causen mit jüdischer Beteiligung auf, die im Jahr 1655 sogar den Wert ,null‘ erreicht: Der stetige Abwärtstrend jüdischer Prozesse wurde nur kurzfristig durch politische Ereignisse durchbrochen, die mit den beginnenden Friedensbemühungen im Reich in Zusammenhang gebracht werden können und in der Grafik mit dunkelblauen Jahresbalken hervorgehoben sind.55 1640 wurde in 54
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Schon Staudinger, Juden, S. 191 stellte eine nur durch die Jahre 1610 bis 1640 unterbrochene beständige Abnahme der Prozesszahlen nach 1600 fest. Ähnlich Ortlieb, Auftrag, S. 74. Ullmann, Geschichte, S. 74 f. kommt zu ähnlichen Ergebnissen für die Zeit Maximilians II. In den Jahren 1564 bis 1576 waren es insbesondere sozial privilegierte Juden wie Simon von Günzburg aus dem schwäbisch-vorderösterreichischen Raum mit besonderen Beziehungen zum kaiserlichen Hof in Wien. Vgl. Karsten Ruppert, Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß (1643–1648), Münster 1979 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte; 10), S. 65–138. vgl. Press, Kriege, S. 250–258. Sowie Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008, S. 128–170. Vgl. Leopold Auer, Die Ziele der kaiserlichen Politik bei den Westfälischen Friedensverhandlungen und ihre Umsetzung, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998 (Historische Zeitschrift, Beiheft; 26), S. 144–173. Siehe auch Karl Eder, Ferdinand III., in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 85 f. U. Konrad Repgen, Ferdinand III. 1637–1657, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hgg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918, München 1990, S. 142–167, hier v.a. S. 149–
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Abbildung 4: Prozessfrequenz I – Jährlich verhandelte Prozesse 1637–1657.
Regensburg erstmals nach 1608/1356 erneut ein Reichstag einberufen, dessen Beratungen ein Jahr später in die Hamburger Präliminarien und damit in den Beschluss konkreter Friedensverhandlungen mündeten. Der zweite Ausschlag in den Jahren 1644 bis 1648 ist dann mit Sicherheit auf die Revitalisierung der Reichsinstitutionen und die einsetzenden Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück zurückzuführen. 1652 trug dann wiederum der nahende Reichstag in Regensburg 1653/54 zum höheren Prozessaufkommen bei, wenn auch die Zahlen im Vergleich zu denen der Gesamtprozessfrequenz (1653: 143; 1654: 99) in diesen Reichstagsjahren beinahe verschwindend gering sind.57 Alle aufgezählten Ereignisse in jenen Jahren mögen den Weg der wenigen Juden an den RHR mit unterstützt haben. Aber selbst der Wille dieser Wenigen, vor dem kaiserlichen Gericht zu klagen, wurde angesichts 14 nicht verhandelter Fälle vom Gericht insbesondere nach 1648 nicht aufgegriffen. Barbara Staudinger wies in ihrer Dissertation für die Jahre nach 1600 eine stetige Abnahme der Prozesse mit jüdischer Beteiligung am Reichshofrat nach, die lediglich für die Herrschaftsjahre Ferdinands II. durchbrochen wurde. Nach Ausweis der beiden Erhebungen spricht demnach vieles dafür, die Abnahme der jüdischen Causen unter Ferdinand III. von ihrem rapiden An-
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154. Siehe jüngst Höbelt, Ferdinand III., S. 125–292. Vgl. demnächst Mark Hengerer, Kaiser Ferdinand III. (1608–1657). Vom Krieg zum Frieden, Wien 2008. Insbesondere Winfried Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1987 (Neue Historische Bibliothek; 1268), S. 188–191. Siehe ähnlich Eva Ortlieb/Gert Polster, Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519– 1806), in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 26 (2006), S. 189–216, hier S. 196, 213 f.
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Abbildung 5: Prozessfrequenz II – Sämtliche Verhandlungstage jüdischer Belange 1637–1657.
stieg während der Herrschaft seines Vaters Ferdinand II. aus zu analysieren.58 Hatte schon der ansonsten politisch eher schwach agierende Matthias I. intervenierend für die jüdischen Gemeinden in Frankfurt, Worms oder Wetzlar angesichts ihrer erfolgten beziehungsweise drohenden Vertreibung eingegriffen,59 so musste der machtvoll agierende Ferdinand II. insbesondere nach dem Restitutionsedikt von 1629 um so mehr als machvoller politischer Garant60 einer sich stabilisierenden jüdischen Rechtsstellung nach den Vertreibungen des 15. und 16. Jahrhunderts erscheinen und die Entscheidung für den Weg nach Wien den jüdischen Prozessbeteiligten erleichtert haben. Ferdinand III. dagegen gelangte zu einem Zeitpunkt an die Herrschaft, als sich die kaiserliche Position seit dem Prager Frieden 1635 militärisch und politisch bereits erheblich verschlechtert hatte. Eine Änderung der politischen Zielsetzungen auf Seiten der Wiener Hofburg hin zu Ausgleich und Kompromiss gegenüber den Kronen Frankreichs und Schwedens sowie zu den 58
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Vgl. den Anstieg der Prozessfrequenz unter Ferdinand II. bei Staudinger, Juden, S. 191. Siehe auch Matthias Schnettger, Ferdinand II., Kaiser, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 18 (2001), Sp. 414–423 (hier URL: , [28.10.2008]). U. Dieter Albrecht, Ferdinand II. 1619–1637, in: Schindling/ Ziegler, Kaiser, S. 125–141. Vgl. Battenberg, Juden, S. 20 f. Vgl. zum Machtverlust des Kaisers Volker Press, Matthias, Kaiser, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 403–405, hier S. 404 f. Und ders., Kriege, S. 184–195. Eva Ortlieb konnte zeigen, dass Ferdinand II. bezüglich der reichshofrätlichen Kommissionstätigkeit um ein Wesentliches politischer agierte als sein Sohn. Siehe Ortlieb, Auftrag, S. 117–123, hier S. 117 f., 123. Hier auch die Diskussion mit weiterführender Literatur, inwiefern es sich hierbei um einen ,Reichsabsolutismus‘ handelte.
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Reichsständen schien unabdingbar,61 zumal das Vertrauen in das Kaisertum bis ins Mark erschüttert war und sich gemäß den Erhebungen von Eva Ortlieb und Gerd Polster auch negativ auf die Prozessfrequenz des RHR in jenen Jahren auswirkte.62 Die Juden waren hiervon sicherlich nicht ausgenommen, vor allem weil sich in den Jahren nach 1640/41 der Krieg in den Westen des Reiches verlagerte. Hier lagen Regionen mit traditionell hoher jüdischer Population, so dass Juden den Auswirkungen des Krieges ähnlich dramatisch ausgesetzt waren wie die übrige Bevölkerung. Die Verschlechterung der militärischen Situation Kaiser Ferdinands III. ließ eine Wendung an den RHR im Sinne der Justiznutzung daher zusätzlich auch in den Augen der Juden als wenig aussichtsreich erscheinen und machte den Weg nach Wien noch gefährlicher, als er für sie ohnehin schon war. Auch die Tatsache, dass durch die Kriegsauswirkungen viele Juden verarmten und in den Status von Bettel- oder Wanderjuden absanken, dürfte dazu beigetragen haben, dass immer weniger Juden auf Grund ökonomischer Erwägungen in den Jahren um 1648 vor dem RHR ihr Recht suchten.63 Bevor den Argumentationen des Gerichts, welche die skizzierte Entwicklung aufhellen können, im folgenden Kapitel nachgegangen werden soll, müssen organisatorische Aspekte in der Tätigkeit des Gerichts als Ursache angeführt werden: Wie bereits angedeutet, kam es in den 1640er Jahren zu einer sukzessiven Reaktivierung der Reichsinstitutionen. Die ehemaligen Feinde verhandelten miteinander und suchten einen Ausgleich, der in einen Frieden münden sollte. Hierin sah sich der RHR involviert.64 Im Rahmen 61 62
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Siehe Ortlieb, Auftrag, S. 63. Vgl. hier sowie im Folgenden auch Schnettger, Ferdinand III. u. Kampmann, Europa, S. 103–127. Vgl. hier bspw. Ottmar von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806. Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648–1684), Stuttgart 1993, S. 19. Siehe ansonsten zur Gesamtprozessfrequenz unter Ferdinand III. Ortlieb/Polster, Prozessfrequenz, S. 196, 202. Vgl. v.a. Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715, München1991 (Neue Deutsche Geschichte; 5), S. 204–218. Siehe Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: ders./Michael Graetz (Hgg.), Deutsch-Jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780, München 2000, S. 97 f., 100. Zur jüdischen Bevölkerung der Juden im Westen des Reiches kurz Battenberg, Juden, S. 12 f. Ähnlich Ortlieb, Auftrag, S. 62. Vgl. bspw. HHStAW, Prot. Rer. Res., XVII 116 (1639), fol. 6v-7r (17.1.), fol. 77v-78r (31.3.), fol. 129v (9.6.), fol. 156v-157r (15.7.), fol. 215r-215v (10.9.), fol. 252r (11.10.): „Hessische Friedens tractate“; ebd., XVII 119 (1640), fol. 246r (27.9.), fol. 261v-263r (11.10.): „Schwedische und französische Friedenhandlungen im Reich“; ebd., XVII 122 (1641), fol. 8r-8v (10.1.), fol. 21r-21v (19.1.), fol. 125v-126r (20.4.), fol. 141v-144v (30.4.), fol. 147v-148v (4.5.): „Schwedische Friedens tracte“; ebd., XVII 133 (1645): fol. 9r (9.1.), fol. 11r (10.1.), fol. 13r (11.1.), fol. 13v-14r (11.1.), fol. 15v-16r (12.1.), fol. 46r-47v (9.5.), fol. 115r (5.7.), fol. 115v-116r (6.7.): „Friedenstractate im Reich“; ebd., XVII 133 (1645): fol. 97v-98r (13.6.), fol. 117r (7.7.), fol. 117v (8.7.), fol. 118r (10.7.), fol. 122r (14.7.), fol. 126r (18.7.), fol. 126v (19.7.), fol. 130r (21.7.), fol. 142v-143r (3.8.), fol. 145r (7.8.), fol. 145v (7.8.), fol. 147r-147v (9.8.), fol. 148r (18.8.), fol. 150ar-150av (25.8.), fol. 151r152r (26.8.), fol. 152v-153v (29.8.), fol. 163v-165r (22.9.), fol. 165r (23.9.), fol. 169v-173v (27.9.), fol. 174r-175v (28.9.), fol. 180r-180v (3.10.); in ebd., XVII 141 (1648) und in ebd., XVII 145 (1649) beschäftigt sich der RHR beide Male 37-mal mit dem „Friedenschlusß
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der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden entfaltete das Gremium eine rege Beratertätigkeit.65 Es gab Gutachten zu strittigen Punkten ab, die auf dem Deputationstagen zuerst in Frankfurt (1642 ff.)66 und dann in Nürnberg (1649 ff.)67 diskutiert wurden, beriet in schon vor Kriegsbeginn virulenten und bis dato liegen gebliebenen Fälle wie bspw. in der Causa ,Jülich, Kleve, Berg‘68 oder beschäftigte sich mit Fragen der amnestia generalis69 . Eva Ortlieb hielt fest, dass sich die aktive Beteiligung einiger Reichshofräte an den Friedensverhandlungen negativ auf das Prozessaufkommen auswirkte, weil sie ihre gerichtliche Tätigkeit hintanstellen mussten.70 Angesichts der gestiegenen Arbeitsbelastung konnten nicht alle am RHR einlangenden Angelegenheiten gleichermaßen intensiv behandelt werden. Mit dem herannahenden Reichstag in Regensburg 165371 verbanden sich dann diese Problemlagen mit den offengelassenen Fragen des Westfälischen
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im Reich“. Sellert, Prozessgrundsätze, S. 65 f. verwies die Aufgaben des RHR bereits nach 1559 allein in den Bereich des Gerichtswesens. Allerdings sollten angesichts dieser und anderer Belege aus den Resolutionsprotokollen die Aufgabenbereiche des RHR differenzierter zwischen Regierungsbehörde sowie Gerichtsinstanz angelegt werden (vgl. Eisenhardt, Reichshofrat). Vgl. bspw. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 133 (1645) verzeichnet 21 Beratungstage zum Westfälischen Frieden; HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 141 (1648) verzeichnet 35 Causen die Friedensverhandlungen betreffend; HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 145 (1649) führt 37 Fälle auf; HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 158 (1653) enthält acht Einträge zum Friedensschluss im Reich. Vgl. bspw. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 129 (1643): 10 Beratungstage; ebd., XVII 133 (1645): 10 Beratungstage. Vgl. hier allein Antje Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649–1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte; 17). Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 116 (1639): 18 Beratungstage; HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 119 (1640): 19 Beratungstage; HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 122 (1641): 12 Beratungstage; HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 158 (1653): 4 Beratungstage; HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653): 10 Beratungstage. Zum Fall ,Jülich, Kleve, Berg‘ vgl. Press, Kriege, S. 174–184. Vgl. ausführlich Fuchs, Medium. Bspw. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 129 (1643), fol. 279v-280r (28.9.), fol. 280r (28.9.), fol. 284v-285r (2.10.), fol. 288v-289v (5.10.), fol. 291v (6.10.), fol. 292r-293r (8.10.), fol. 298r (13.10.), fol. 299r (15.10.), fol. 299v-300r (16.10.), fol. 302r-302v (20.10.), fol. 305v-306r (22.10.); ebd., XVII 133 (1645), fol. 31v-32v (31.03.), fol. 39r (2.5.), fol. 59v63r (16.5.), fol. 70v-71r (22.5.), fol. 75r-76r (29.5.), fol. 78r-78v (1.6.), fol. 83v-91r (9.6.), fol. 96r-97v (13.6.), fol. 100r-100v (16.6.), 103r (16.6.), fol. 110v-111r (28.6.), fol. 128v130r (21.7.), fol. 143r-144v (3.8.), fol. 181v-182v (3.10.), fol. 189r (9.10.), fol. 199r-199v (31.10.). Vgl. Ortlieb in Verena Kasper, Tagungsbericht Höchste Gerichtsbarkeit in Kriegszeiten. 02.04.2008–04.04.2008, Wien, in: H-Soz-u-Kult, 26.05.2008, , [22.10.2008]. Sowie dies., Auftrag, S. 62 f. Vgl. bspw. die biografischen Notizen bei Gschließer, Reichshofrat, hier S. 237, 239, 242 f., 250, 252, 260 f. Allein in HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 158 (1653) beschäftig sich der RHR 46 und in ebd., XVII 159 (1654) 13-mal allein mit diversen Reichstagsangelegenheiten; hinzu kommen sechs Verhandlungstage, an denen über die ,Hessischen Friedenstraktate‘ beraten wurde.
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Friedenswerkes insbesondere bezüglich der Umsetzung der Normaljahrsregelung72 und den damit verbundenen Restitutionsfragen oder den Belehnungen der schwedischen Krone im Reich.73 Von dieser Seite her ist dann auch nach dem Friedensschluss der mittelfristige Prozessanstieg in der Gesamtfrequenz bei Ortlieb und Polster zu verstehen, gab es doch Jahre, wo diese Fälle beinahe ausschließlich die reichshofrätliche Rechtsprechung beschäftigten. Den im Krieg aufgestauten Konfliktregulierungsbedarf galt es abzuarbeiten und den neuen Frieden mit Hilfe des RHR zu sichern. In dieser Situation und angesichts drängender Problemlagen wie der friedlichen Umsetzung der Normaljahrsregelung stellte der RHR die jüdischen Prozesse hinten an. Damit können politische Ereignisse als eine Ursache für eine tendenziell gegen null tendierende Prozessfrequenz jüdischer Belange identifiziert werden. Die Ursachen hierfür sind insofern zu klären, als zwar der Dreißigjährige Krieg sich wie erwähnt negativ auf die Prozessfrequenz in toto auswirkte, jedoch nach der Erhebung von Ortlieb und Polster anhand der Wolf ’schen Repertorien mit ca. 80 verhandelten Prozessen pro Jahr annähernd stabil blieb und ein Niveau erreichte, das bis zum Ende des Alten Reiches nicht mehr wesentlich unterschritten wurde.74 Im Hinblick auf obige Ergebnisse, d.h. sowohl einer sinkenden Prozessfrequenz, als auch der Nichtbehandlung von immerhin 14 Fällen unter jüdischer Beteiligung seitens des RHR sowie der Tatsache, dass der Dreißigjährige Krieg trotz aller Schrecken einen rapiden Wandel für die jüdischen Gemeinden in Richtung Wachstum oder doch Stabilisierung mit sich brachte,75 stellt sich um so dringlicher die Frage, warum ausgerechnet die jüdischen Belange Nichtbeachtung vom kaiserlichen Gericht erfuhren. Insgesamt spricht Ortlieb ja von der Überwindung einer ,Vertrauenskrise‘ der kaiserlichen Rechtsprechung, die in den 1650er Jahren mit steigender Prozesszahl wirksam wurde und gleichsam Ausdruck eines gestiegenen kaiserlichen Einflusses im Reich war.76 Warum fallen die jüdischen Belange aber derart deutlich aus dieser Beobachtung heraus? Diese Frage zu klären gelingt nur, wenn ermittelt werden 72 73
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Vgl. hierzu Fuchs, Medium. Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653) verzeichnet 13 Verhandlungstage, an denen sich der RHR mit Angelegenheiten des Friedensschlusses und deren Umsetzung im Rahmen des Regensburger Reichstages beschäftigte. Vgl. Press, Kriege, S. 262 f. Vgl. hierzu Ralf-Peter Fuchs, Die Normaljahrsrestitutionen 1648–1653: das Projekt der Umsetzung des Westfälischen Friedens durch Schweden, Reichshofrat und Reichsstände. Vortrag in Wien auf der Konferenz: ,Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation: Institutionen, Personal und Techniken‘ 08./09.12.2007, veranstaltet vom Österreichischen Staatsarchiv (Haus-, Hof- und Staatsarchiv), von dem Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien und von der Kommission der Geschichte der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Siehe Ortlieb/Polster, Prozessfrequenz, S. 206–209, 213 f. Im Detail Ortlieb, Auftrag, S. 63 f. Siehe Breuer, Aufbruch, S. 98–100. Vgl. Ortlieb, Auftrag, S. 63 f. Siehe Schnettger, Ferdinand III.
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kann, welche politische Priorität oder eben Marginalität diesen Fällen von Seiten des RHR zuerkannt beziehungsweise prinzipiell abgesprochen wurde und warum dies geschah. Die quantitativen Ergebnisse sind daher mittelst einer qualitativen Analyse des Prozesses gegen den Juden Hirtz Reinauer aus der Reichsstadt Schlettstadt zu ergänzen.
Der Prozess des Hirtz Reinauer aus der Reichsstadt Schlettstadt vor dem Reichshofrat 1653–1655 und die politische Situation im Heiligen Römischen Reich in einer Zeit zwischen Krieg und Frieden Die österreichische Hofkammer regte 1652 einen Inquisitionsprozess gegen Hirtz Reinauer an, geführt von einer Hofkammerkommission aus dem vorderösterreichischen Freiburg. Erst Versuche von Seiten der Kommission, den Fall unter Umgehung der ersten Instanz an den RHR zu bringen und ein kaiserlich approbiertes Urteil zu erlangen, brachte das kaiserliche Gericht in Zugzwang. Da ein ausführliches votum ad Imperatorem vorliegt, in dem der RHR eindringlich die in diesem Fall steckenden Gefahren für die kaiserliche Politik aufzeigte und mögliche Auswirkungen auf die kaiserliche Reichspolitik diskutierte, können gerade an ihm Reichweite und Grenzen kaiserlicher Politik gegenüber den Juden des Reiches dieser Jahre eindeutig skizziert werden. Doch worum handelte es sich nun bei diesem Fall? Was war geschehen?
Der Prozessverlauf
Konkret ging es um den Juden Hirtz Reinauer, dem andere Juden diverse Straftaten vorwarfen. Die Anschuldigungen lagen in einer Zeit mitten im Krieg und reichten bis zum Anfang der 1630er-Jahre zurück. Für die exakte Erfassung der Verwicklungen zwischen den Juden, ihre Stellung zu einander und ihre Verortung im sozialen Kontext der jüdischen Gemeinden im Elsass aber auch die detaillierte Rekonstruktion dessen, was man dem Hirtz Reinauer vorwarf, wäre die detaillierte Auswertung der umfangreichen Zeugenprotokolle notwendig gewesen,77 was an dieser Stelle auch angesichts der hier verfolgten Fragestellung indessen nicht geleistet werden konnte. Wichtig erscheint zunächst, dass es allem Anschein nach vor allem innerjüdische Konflikte waren, die den sozialen Aufstieg Hirtz Reinauers vom armen Landjuden zu einer im elsässischen Raum allseits geachteten Persönlichkeit 77
Siehe hier Anm. 19.
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mit vorzüglichen Kontakten insbesondere zum Stift Straßburg78 zum Hintergrund hatten.79 Grob umrissen warfen in mehreren Verhören einige Juden Reinauer als Hauptanschuldigung vor, 1631 einem Juden Namens Mosche Rossa aufgelauert, ihn überfallen, gewaltsam in sein Haus verschleppt und um „etlich tausendt“ Thaler Falschgeld beraubt zu haben. Diese brachte Hirtz dann als echtes Geld unter die Leute. Darüber hinaus habe er zwei Juden angestiftet, mehrere Pferdediebstähle durchzuführen. Auch betrog er – so die Anschuldigung – einen Viehhändler um Geld.80 Zudem soll Hirtz neben der Entwendung von Silberschmuck kleine Kinder und einen Schafshirten bestohlen und auch den gemeindlichen „AllmoßenCasten außgelährt“ haben.81 Die Angriffe und Anschuldigungen führten dazu, dass die österreichische Hofkammer über die vorderösterreichische Hofkammer in Freiburg82 von diesen Vorkommnissen Kenntnis erhielt und im Zuge dessen sich ex officio bemüßigt sah, hier einzugreifen. Insofern hatten die Kontrahenten Hirtz Reinauers ihre Beschuldigungen klug gewählt, musste der „kays[erliche] Fiscus“ an diesen Anschuldigungen, die laut RHR gegen einen großen Teil der Reichsgesetzgebung verstießen, sein Interesse bekunden.83 Die Prozessentwicklung ist aus dem Aktenmaterial nicht ganz klar ersichtlich, zumal sich auch im Finanz- und Hofkammerarchiv keinerlei Hinweise zur Frühgeschichte des Falles finden ließen. Bereits im Dezember 1652 befand sich Johann Wilhelm von Goll, Rat und Kammerdirektor der vorderösterreichischen Regierung in Freiburg,84 in jener Angelegenheit als leitender 78
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Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 574r: „Attestation von Ihr hochfürst[liche] d[urchlauc]ht Erzherzog Leopold Wilelmb Bischoff[en] zu Straßburg. Regierung zue Elsas Zabern, für Hirtz Juden“ (14.07.54). Vgl. bspw. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 584r u. 585r: „Attestation von Reinaw, für Hierzen dem Juden“ (12.8.1653) weist darauf hin, dass Hirtz vor dem Krieg ein armer Jude gewesen sei, während des Krieges durch allerlei Geschäfte, von denen die Stadtväter allerdings nicht wussten, welcher Art sie waren, zu Reichtum kam. Hirtz selbst spricht von seinen „todtfeindt und wiedersacher“ in HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 613r614r: „Jud Hirtzen von deß H[eiligen] Reichs Statt Schlettstatt pro relaxando personalj et realij aresto“ (Präsentationsdatum im RHR = Praes. 21.04.1654), Zitat fol. 613r. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 562r-565r: „Extractus vidimatus gehaltenen Prothocolls verhörter zweyer gezeugen“, Zitat fol. 562r, auf fol. 562v wird eine Zahl von 3000 Duplonen genannt. Vgl. ebd., fol. 566r-568r: “Copia Examinis Testium gehalten ad rei memoriam 16. Junij 1651“. Vgl. zu dem letzte Punkt HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 515r-520r: „Reichshofraths guetachten in causa deß zu Schlettstatt verarrestierten Hirz Juden“, fol. 516r, Zitat ebd. Die übrigen Anklagepunkte, mit Ausnahme des Betrugs am Viehhändler, siehe hier ebenfalls. Hier HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, hier fol. 515r. Ebd., Zitat ebd.; zu den Aufgaben des RHR-Fiskalats, die viele der oben aufgeführten Vorwürfe abdecken, siehe Obersteiner, Fiskalische Judenprozesse, S. 274–278. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 613r-614r: „Jud Hirtzen von deß H[eiligen] Reichs Statt Schlettstatt pro relaxando personalj et realij aresto“ (Praes. 21.4.1654), hier fol. 613r. Zu Goll Erich Pelzer, Zwischen Habsburg und Bourbon. Der Elsässisch-breisgauische Adel nach dem Übergang an Frankreich 1648, in: Martin Wrede/Horst Carl (Hgg.), Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legiti-
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Kommissar in Schlettstadt und führte nach Ausweis der Akten mehrere ausführliche Verhöre sowohl christlicher als auch jüdischer Zeugen durch.85 Die Verhöre erhärteten zunächst die Verdachtsmomente gegen Hirtz Reinauer, den Goll schon vor den Verhören verhaftet hatte. Des Juden Besitz, insbesondere dessen Schuldbücher, beschlagnahmte Goll ebenfalls. Die geschäftlichen Machenschaften und Betrügereien sollten komplett aufgedeckt werden. Das Gutachten des RHR spricht davon, dass er dies auf „kays[erlichen] befehll“ getan habe, indessen betonte das Gremium jedoch ausdrücklich, dass man diesen Befehl in den Akten vermisse.86 Angesichts der Sachlage, die sich dem kaiserlichen Hof aus den Verhörprotokollen darbot und die auf die Schuld des Juden deutete, schrieb Ferdinand III. am 31. März 1653 in Regensburg eine offizielle inquisitions commission auf von Goll aus, der ermitteln solle, ob der kaiserliche Fiskal in dieser Angelegenheit befugt sei, tatsächlich gegen den Juden am RHR zu prozessieren. Wenn Goll die Sachlage sondiert habe, solle er einen Bericht an den kaiserlichen Hof senden, um dann die Entscheidung des Kaisers entgegenzunehmen.87 Am 13. Mai stellte die Hofkammer dem Kaiser und dem Reichsvizekanzler Graf Kurtz von Senftenau die ersten Ergebnisse der Verhöre zu.88 Gemäß der Anschuldigungen sah man in Wien „starckhe muetmassungen“ dazu, noch am selben Tag zwei Schreiben Ferdinands III. rausgehen zu lassen, die das Interesse des kaiserlichen Fiskus am Fall feststellten, sowie das bisherige und zukünftige Vorgehen von Golls legitimierten und auf die gesamte Region rund um Schlettstadt ausweiteten: In dem einen Schriftstück befahl der Kaiser angesichts erhärteter Fakten der Reichsstadt Schlettstadt Wilhelm von Goll in seinem Inquisitionsprozess gegen den Juden zu unterstützen und erklärte die Verhaftung des Juden nachträglich als rechtens. Die Hofkammer setzte man hiervon ebenfalls in Kenntnis.89 Das zweite Schreiben richtete sich dann als ein Patent ins Reich an sämtliche Reichs-
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mationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise, Mainz 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beihefte; 73), S. 299–313, hier S. 306. Siehe HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 515v. Ebd., fol. 515v, 516r. Vgl. auch HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 613r-614r: „Jud Hirtzen von deß H: Reichs Statt Schlettstatt pro relaxando personalj et realij aresto“ (Praes. 21.4.1654), fol. 613r. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 515r (Zitat eins), 516r (Zitat zwei). In den Beständen des RHR- und Fiskalarchivs ließen sich keine Hinweise zu diesem frühen Stadium des Prozesses finden. Im Hofkammerarchiv fanden sich sowohl in den Akten, als auch in den Protokollbänden der österreichischen Hoffinanz und in den Reichsgedenkbüchern keine Hinweise auf die Vorkommnisse, die zur Kommissionseinsetzung führten. Das Kommissionsschreiben ist als Kopie in den Akten vorhanden vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 657r: „Copia kay[serlicher] Commission“ (31.3.1653). Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 513r. Siehe HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 552r-552v (Zitat fol. 552r): „An die Statt Schlettstatt Hanß Wilhelmen von Gollen in inuermelter inquisitions commission zu assistiren“ (16.5.1653).
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stände der betreffenden Region, die der Kaiser aufforderte, Goll in seinen Untersuchungen bestmöglich zu unterstützen.90 Doch trotz nachhaltiger, nun offizieller Verhöre sowohl christlicher als auch mehrerer jüdischer Zeugen, die bis zum Ende des Jahre 1653 liefen, konnte Goll bis zum Herbst 1654 keine eindeutigen Ergebnisse bezüglich der Schuld Reinauers erbringen. Die Kommission kam über Indizien nicht hinaus.91 Hinzu kam, dass Reinauer gegenüber der Reichsstadt und dem RHR beharrlich jegliches Geständnis verweigerte, auf seine Unschuld pochte und von Goll sogar Kompetenzüberschreitung vorwarf, obgleich dieser jegliche Verteidigungspunkte jedes Mal als geradezu lächerlich diffamierte.92 Zudem regte sich allmählich vehementer Widerstand gegen die Vorgehensweise Golls im gesamten Elsass: Bereits kurz nach der Kommissionseinsetzung opponierte der Bruder des Hirtz Reinauers, Isaac von Westhausen, gegen die kommissarische Vorgehensweise und betonte, Hirtz stünde als Schutzjude der Reichsstadt Schlettstadt unter deren Obrigkeit und somit ihrer erstinstanzlichen Jurisdiktion. Die Reichsstadt sah ebenfalls schon zu Beginn der ganzen Angelegenheit im Frühjahr 1653 die Gefahr, der kaiserliche Hof könne sie in ihren Rechten einschränken und verwies auf das „priuilegium weilandt kayßers Friderici Tertij, Crafft desßen ihnen Juden auff unt anzunehmen, auch deren Verbrechen selbst abzustraffen gebühren und das der kays[erliche] Fiscus in prima instantia hierüber keine cognition habe; sondern solche der Statt alß einem Reichßstandt zugehörig seye“.
Goll konnte zu diesem frühen Zeitpunkt die Stadt noch davon überzeugen, dass seine Kommission die städtischen Privilegien keineswegs beeinträchtige und sich so der städtischen Unterstützung vergewissern.93 Aber bereits im August94 und im Oktober 1653 regte sich erneuter Protest seitens der Reichsstadt. Im Rahmen des Reichstages wendete sie sich über ihren Reichstagsgesandten in Regensburg, dem schlettstädtischen Ratsmitglied Johann Georg Heinrichs, und ihren Reichshofratsagenten Johann Graas direkt an den Kaiser und gab 90 91 92
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HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 550r-551r: Patent ins Reich dem von Gollen in seiner obhabenden inquisitions comission zu assisitiren“ (13.5.1653). Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 515v. Siehe HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 613r-614r: „Jud Hirtzen von deß H: Reichs Statt Schlettstatt pro relaxando personalj et realij aresto“ (Praes. 21.4.1654), fol. 613v. Bereits in HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 542r-546v: „Underthänige, hochfleißige Supplicatione Pro Intercessione, et restitutione in Integrum cum omni causa Juncta petitione Mein Ihm Arrest begriffenen Hirtzen Judenß in p.° Commissionis Caesareae“ (sine dato) versuchte Hirtz Reinauer seine Unschuld gegenüber der Reichsstadt zu beweisen. Vgl. zu den neun Verteidigungspunkten HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 601r601v: „Hirz Juden Petita an die Statt Schlettstatt“; siehe die Widerlegung dieser Punkte durch von Goll in ebd., fol. 604r-606v: „Continuatio informationis loco prothocolli mit angehefftem unuorgreifflichen gutachten, in p.° inquisiti Judai“. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 516r-516v (Zitat ebd.); vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653), fol. 289r (9.12.). HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 540r-541r: „Extract[us] Außm Schlettstattischen Schreiben den 14t. Augustj A.° 1653“.
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ihre Bedenken sehr eindringlich zum Ausdruck.95 Sie forderte angesichts des Privilegs Kaiser Friedrichs III. von 147996 offen die Remittierung der Angelegenheit, zumal dies eine Policeysache sei und damit in die erstinstanzliche Kompetenz eines immediaten Reichsstandes falle, an die städtischen Instanzen als „ordentliche Obrigkheit“ und erbat sich „relaxierung des personal und real arrest“ des Juden. Bis zum Herbst 1654 wiederholte die Stadt in mehreren Eingaben diese Forderungen und mahnte, der kaiserliche Hof möge der Stadt „wegen ihrer bottmäßigkheit über den Juden kein nachtheyll geschehen lassen.“97 Die Stadt fürchtete demnach, durch diesen Präzedenzfall ihre Rechte als immediater Reichstand hinsichtlich ihrer erstinstanzlichen Jurisdiktionsgewalt als einem Herrschaftsrecht zu verlieren.98 Dabei gab der Stadtrat seiner Argumentation dadurch enormes Gewicht, indem er den drohenden Verlust von städtischen Herrschaftsrechten mit einem möglichen Eingriff des französischen Landvogts in Breisach aufgrund von Kompetenzübertretungen des Kommissars Goll verknüpfte. Der Landvogt habe andeuten lassen, er wolle zu Gunsten des Juden intervenieren, wenn dieser gemäß des hergebrachten vorderösterreichischen Instanzenzuges sich an die Landvogtei wenden sollte.99 Dies gelte aber auch, sobald es zu einer Schmälerung städtischer Rechte käme. Zur Stützung dieser Argumentation brachte Agent Graas mehrere Auszüge landvogteilicher Schreiben beim RHR ein.100 Falls die Kommission weiter über die Maßen auf ihre Rechte poche und 95
HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653), fol. 389r (9.12.). Das Privileg ist in den Akten nicht vorhanden, befindet sich aber abgedruckt in Elsäissche Stadtrechte. Veröffentlicht von der Kommission zur Herausgabe elsässischer Geschichtsquellen, Schlettstadter Stadtrechte, bearbeitet von Joseph Gény, erster Teil, Heidelberg 1902, Nr. 138: Kaiser Friedrich gewährt der Stadt Schlettstadt das Privileg, die Juden nach Belieben aufzunehmen oder abzuweisen, Graz 1479 Dez. 12., S. 152 f. 97 Zu den städtischen Eingaben siehe zunächst HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHRGutachten, fol. 517r-517v (Zitate ebd.). Siehe die städtischen Eingaben ebd., fol. 548r-549r: Bürgermeister und Rat der Stadt Schlettstadt am 4.10.53 an den Kaiser (Praes. 18.10.1653); fol. 557r: Schlettstädtischer Reichstagsgesandter an Johann Graas vom 24.11.1653; fol. 624r: Desgleichen am 20.1.1654; fol. 650r-650v: Desgleichen am 11.2.1654. Siehe zusammenfassend HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653), fol. 389r-389v (9.12.). Vgl. die Eingaben des RHR-Agenten Graas HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 570r (Praes. 18.10.1653), fol. 554r-554v (Praes. 3.11.1653), fol. 560r560v (Praes. 4.11.1753); fol. 556r-556v (Praes. 27.11.1753); fol. 653r (Praes. 14.2.1654), fol. 623r-623v (Praes. 22.1.1654), fol. 649r-649v (Praes. 14.2.1654), fol. 617r-617v (Praes. 4.3.1654), fol. 619r-622v, hier fol. 621v-622r (Praes. 17.9.1654). 98 HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 540r-541r: „Extract[us] Außm Schlettstattischen Schreiben den 14t. Augustj A.° 1653“, fol. 540r. 99 HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653), fol. 389r (9.12.): „d[as] der Französische Gubernatur zu Preisach Prinz Harwurt alß Französischer Landtvogt handt anzulegen sich vernehmen lassen“; fol. 548r-549v: Bürgermeister und Rat der Stadt Schlettstadt am 4.10.53 an den Kaiser (Praes. 18.10.1653) sprechen von der Möglichkeit, dass „der Jud daß Landtvögtische Recht anruffen“ könne (fol. 549r). Siehe auch das städtische Schreiben an den Agenten Graas vom 24.11.1653, fol. 557v. 100 HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 540r-541r: „Extract[us] Außm Schlettstattischen Schreiben den 14t. Augustj A.° 1653“, hierin ein Auszug aus dem Schreiben des Land96
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der Jude sich an den französischen Landvogt wende, schien dies – den Schilderungen der Stadt nach zu beurteilen –, je länger der Prozess dauerte, nicht unwahrscheinlich zu sein,101 so würde der Landvogt die Angelegenheit an sich ziehen, d.h. es drohe die offene französische Herrschaft über einen „immediaten obrigkeitlichen standt“ und damit die Schmälerung des Reiches sowie der kaiserlichen Herrschaft.102 Indem die Stadt und ihr Reichstagsgesandter darauf hinwiesen, dass mit einer Remittierung des Falles an die Reichsstadt diese „von den Frantzößischen Ministris verschont bleiben möchten“, von denen die Bürger Schlettstadts nur „Alleß Ungemach“ zu erwarten hätten,103 brachten sie den RHR in Zugzwang. Dieser trat angesichts der Ereignisse bereits Anfang Dezember 1653 mit der kaiserlichen Hofkammer in Kontakt und forderte einen Bericht von Goll.104 Die Hofkammer kam dem Wunsch am 29. Dezember nach und übersendete unter anderem Auszüge oben erwähnter Zeugenverhöre mit dem Hinweis, man lege die Sache zwar nun in die Hand des Kaisers und des RHR zur weiteren Entscheidung, vertrat aber die Rechtmäßigkeit der Kommission und deren Vorgehen gegen den Juden.105 Im Februar 1654 verfasste Goll schließlich einen ausführlichen Bericht, in dem er die Situation umriss und sandte ihn an den kaiserlichen Hof.106 In diesem betonte er klar die Schuld Reinauers und meinte, die Indizien sprächen allemal dafür, den Inquisitionsprozess gegen den Juden auf eine neue Stufe zu stellen und diesen nun dem peinlichen Verhör zuzuführen, was außerdem mit der schlettstädtischen Prozessordnung107 übereinstimme. Da er bereits vor längerer Zeit die Verhörprotokolle an den kaiserlichen Hof übersandt habe, erwarte er nun in dieser so „Clare[n] sach“ endlich den diesbezüglichen kaiserlichen Befehl, damit die „kay[serliche] ho-
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vogts fol. 540r-540v. Fraglich ist natürlich, inwiefern der Auszug wirklich vom Landvogt stammte oder vielleicht nicht doch von der Stadt fingiert war. Vgl. hierzu aber Kap. 3.2. Der Rat weist in HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 626r-626v: „Extractus Schreibens Von deß hey: Reichs Statt Schlettstatt sub dato den 10ten. Januarij A°. 54; Ahn dero habendten Abgesandten zue Regensp: Abgangen“. die Stadt darauf hin, dass der Jude stets bei ihr sollizitiere und sich nur noch schwer auf eine kaiserliche Entscheidung vertrösten lasse, die ja schon so lange ausbleibe; vgl. auch HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 540r-541r: „Extract[us] Außm Schlettstattischen Schreiben den 14t. Augustj A.° 1653“, hier fol. 541r, in dem die Stadt noch beteuerte, dass trotz des Angebots des französischen Landvogts der Jude die Angelegenheit gerne vor die städtischen Instanzen anbringen möchte. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 623v (Zitat ebd.): RHR-Agent Johann Graas an den RHR (Praes. 22.1.1654). Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 624r-624v: Reichstagsgesandter Johann Georg Heinrichs an RHR-Agenten Johann Graas am 21.1.1654, Zitat ebd. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 159 (1653), fol. 389v (9.12.); HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 647r-648r: Schreiben der Schlettstädtischen Reichstagsgesandten Johann Georg Heinrichs an die kaiserliche Hofkammer. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 648v. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 515v. Vgl. zu den unterschiedlichen Prozessordnungen und zu den Appellationsprivilegien bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts siehe Elsässische Stadtrechte, bearb. v. J. Gény, Teil 2, S. 642–660.
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heit auch ihren respect erhalte, und nit etwa der fiscus vernachteilt würde“. Falls dem RHR Informationen fehlten, könne dieser sich auch an Isaac Volmar wenden.108 Mit Verweis auf diese bedeutende, aus dem Elsass stammende und in der vorderösterreichischen Regierung in Ensisheim vor 1630 wichtige Positionen innehabenden Persönlichkeit109 blieb Goll im Bericht vom 07. August 1654 bei seiner Argumentation und verteidigte die bisherige Vorgehensweise gemäß des Kommissionsbriefs vom März 1653 unter inbrünstiger Zuhilfenahme zeitgenössischer judenfeindlicher Stereotype.110 Die Art und Weise seiner Ausführungen musste gegenüber dem RHR mehr als deutlich machen, dass sich Goll seiner Sachen äußerst sicher war und einen Schuldspruch geradezu notwendigerweise erwartete. Er schlug sogar vor, „den Juden ahn kay[serlichen] hoff zu auocirn.“111 Kaiser und Geheimer Rat dagegen sahen die Sache in ihrem Verlauf gar nicht mehr so eindeutig wie zu Anfang und gaben am 22. August 1654 beim RHR ein Reichshofratsgutachten in dieser Angelegenheit in Auftrag, was dieser am 27. August zur Kenntnis nahm.112 Die Entscheidung wurde, wie es im Gutachten später hieß, insbesondere durch die – in den Akten aber nicht vorliegenden – direkten Stellungnahmen des französischen Landvogts, des Grafen von Harcourt, zu Gunsten des Juden Reinauers befördert. Durch sie bekam die Angelegenheit zusammen mit den städtischen Bedenken hinsichtlich eines französischen Eingreifens zusätzlich eine virulente und akute diplomatische Note. In diesem Sinne kam der RHR in seiner Sitzung am 3. September 1654 zu folgendem eindeutigen Entschluss, der die Linie des Gutachtens, das bereits am 2. September vorlag,113 klar skizziert: „Fiat votum ad Caesarem Reichshofrath befinde diese sach sowohl in p[uncto] juris dictionis alß in materialibus ipsis der gestalt beschaffen, d[as] mit derselben weiter nit zuverfahren, in bedenckhung soviel die jurisdiction anbelangt [. . . ] in geheimen auch die ReichsStätt vermög friedenschlußes jura Fisci selbsten haben, und was gleich einig verbrechen und bestraffung wieder den gefangenen Schlettstettischen Juden heraus kommen 108
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Siehe HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 615r-616v: „v[on] Gollen H[err] Jo[hann] Wilhelms auß Freyburg wegen einer Ihme aufgetragenen Juden Commißion“ (3.2.1654; Praes. 15.2.1654), Zitate fol. 615v. Vgl. zu Volmar kurz Wolfgang Hans Stein, Formen der österreichischen und französischen Herrschaftsbildung im Elsaß im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Vergleich, in: Hans Maier/Volker Press (Hgg.), Vorderösterreich in der Frühen Neuzeit, Sigmaringen 1989, S. 285–313, hier S. 287 f. Siehe Hermann von Egloffstein, Isaac Volmar, in: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896), S. 263–269. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 592r-608v: von Goll an Kaiser Ferdinand III. (7.8.1654), hier fol. 592r-593v, zur judenfeindlichen Argumentation fol. 592v-593v, 594r. Vgl. auch den beinahe gleichlautenden Bericht HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 628r-629v, 645r-646v: von Goll an Ferdinand III. (07.8.1654; Praes. 25.9.1654). HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 517r (Zitat ebd.). Ferdinand III. in HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 590r-590v: „Decret an ReichshoffRath umb guetachten, in der dem von Gollen aufgetragenen inquisitions Commission wid[er] gewisser Juden“ (22.8.1654); ebd., fol. 588r-588v: Reichsvizekanzler Ferdinand Graf Kurz an den RHR am 22.8.1654 (Praes. 27.8.1654). Siehe HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 519v.
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solte dannach der kay[serliche] Fiscus die straff nicht wurden einziehen können, sondern solche der Statt Schlettstatt selbst gebühre, derowegen und weilen auch in materialibus auf den Juden nichts bestendiges erwießen worden, sondern etliche Zeügen für ihn außsagen, und bey den benachbarten Ständen wegen dieser fiscalischen process allerhandt nachdincken, alß wann der kay[serliche] Fiscus wider ihre habende regalia und privilegia ihnen eingeweissen wolte, verursachen werde; So were Reichshoffrath der gehor[sambisten] meinung Ihr Kay[serliche] M[ajestä]t möchten dieses Commissionsprocess (widoch ohne einige meldung ob dero Fisci Jurisdiction fundirt, oder die sach an den Rath zu Schlettstatt zu remittiren seye) per rescriptum Caes[arum] so wohl an kay[serliche] Commissarium alß an den Rath zu Schlettstatt, aufheben, und dem kay[serlichen] Commissario allerg[ne]d[ig]st recribiren, d[as] Ihr Kay[serliche] M[ajestä]t die Commission widerumb aufgehebt hatten.“114
Die Wiener Entscheidungsträger dann endgültig in Zweifel gesetzt haben vermutlich die von dem Juden Matthis Dreyfuß am 17. September 1654 eingereichten Attestationen für Hirtz Reinauer.115 Diese fielen allesamt positiv aus und beschrieben Reinauers Ruf als zu allen Zeiten als tadellos. Für Reinauer musste sich besonders vorteilhaft auswirken, dass Erzherzog Leopold Wilhelm116 in seiner Eigenschaft als Bischof von Straßburg für ihn bürgte. Zusammen mit fünf anderen hochrangigen Persönlichkeiten beziehungsweise Orten des Elsass, unter dessen Schutz Reinauer im Laufe seines Lebens stand,117 betonte der Erzherzog, dass er Reinauer lange kenne und – so Dreyfuß zusammenfassend –, „d[aß]Er sich nicht allein in seinem thuen wohl verhalten sondern auch den gemeinen und underthanen und wehrenden Kriegswesen und nach erlangtem frieden mit vorstreckhung geldts und geldtswerth ohne einiges unziemblichen vortheil widerumb aufgeholffen habe.“118 114 115
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HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 163 (1654), fol. 59v-60v (3.9.) (Zitat ebd.). HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 517v; HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 572r-573r: „Schreiben Matthiß Trifueß, schirmsverwanther Judt zue Schlettstatt“ (17.9.1654), zum RHR-Gutachten fol. 572r. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 574r: „Attestation von Ihr hochfürst[lichen] d[urch]l[auc]ht Erzherzog Leopold Wilelmb Bischoff[en] Straßburg. Regierung zue Elsas Zabern, für Hirtz Juden (14.7.54). Zu Leopold Wilhelm siehe Christoph Brandhaber, Leopold Wilhelm, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 27 (2007), Sp. 859–869 (hier URL: , [10.12.2008]). Hierzu zählen Johann Jacob von Rappoltstein am 24.7.1654, der sogar darauf hinweist, dass der schwedische „Gubernatore zu Bernfelden, Herrn Friedrich Moßer von Filßeckh“, dem Hirtz einen ausgezeichneten Leumund attestierte (HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 576r-577r, hier fol. 576v), Rat Erzherzog Leopold Wilhelms und Obrister Rudolf Neienstein am 2.7.1654 (HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 578r), „Attestation von herrn Statthalter der StattVogteij: undt dem Rath zu Rappolzweier für Hirtz Juden“ [27.7.1654] in HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 580r-580v), Johann Ludwig von Bulch, Amtmann von Bernfelden im Stift Straßburg am 3.8.1653 (HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 582r-582v), Schultheiß, Stadtmeister und Rat von Reinau am 12.8.1653 (HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 584r-585v). Siehe hier auch die verschiedenen Aufenthaltsorte des Hirtz Reinauer. HHStAW, RHR, Pro. Rer. Res., XVII 163 (1654), fol. 88r (18.9.) (Zitat ebd.); HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 572r-573r: „Schreiben Matthiß Trifueß, schirmsverwanther Judt zue Schlettstatt“ (17.9.1654) (Zitat ebd.).
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Es musste dem RHR bei der Lektüre dieser Empfehlungsschreiben, die zugleich Ausweis einer erstaunlichen diplomatischen Vernetzung der elsässischen Juden mit der christlichen obrigkeitlichen Welt sind,119 das Bild einer allseits geachteten Persönlichkeit entstehen, die sich um das Elsass in Kriegs- wie in Friedenszeiten sowohl bei Christen als bei Juden verdient gemacht hatte. Eine Supplikation des Reinauers untermauert dieses Bild120 und widersprach zugleich dem, was Goll über ihn als einem wucherischen und gotteslästerlichen Juden äußerte. Matthis Dreyfuß forderte daher die vollständige Restitution Reinauers, dessen Lage nach über einem Jahr Haft nicht nur von der Stadt und Matthis Dreyfuß,121 sondern von Reinauer selbst in familiärer,122 gesundheitlicher und geschäftlicher Hinsicht als äußerst prekär und ruinös geschildert wurde.123 Angesichts dieser Zusammenhänge, die das Gremium in seinem Gutachten berücksichtigte,124 bezog der RHR nur einen Tag nach Matthis Dreyfuß Supplikation, am 18. September, nach Approbierung des Gutachtens durch den Kaiser eindeutig Stellung gegen die Aufnahme des Prozesses. Aufgrund der allgemeinen politischen Linie, die er hiermit vorgab, soll der betreffende Abschnitt des Gutachtens in Gänze wiedergegeben werden: 119
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Vgl. zur jüdischen ,Diplomatie‘-Geschichte Yosef Hayim Yerushalmi, „Diener von Königen und nicht von Diener von Dienern“. Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden, München 1995 (Carl-Friedrich von Siemens Stiftung, Themen; 58). Siehe zu den Juden im Elsass jüngst Jean Daltroff, Les juifs de Metz et d’Alsace au XVIIe siècle. Statut juridique et rôle économique, in: Jean-Pierre Kintz (Hg.), 350e anniversaire des Traités de Westphalie 1648–1998. Une genèse de l’Europe, une société à reconstruire. Actes du Colloque International tenu à l’initiative de l’Université Marc Bloch, Université des Sciences humaines et de la ville de Strasbourg. Strasbourg, Palais de l’Université, Salle Tauler, 15 au 17 octobre 1998, Strasbourg 1999, S. 459–465. Zumal Hiertz selbst in HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 613r-614r: „Jud Hirtzen von deß H: Reichs Statt Schlettstatt pro relaxando personalj et realij aresto“ (Praes. 21.4.1654), fol. 613v-614r darauf hinwies, dass er „kein [. . . ] Vagant, der hin und wieder im Reich sein Stuckh brodt, wie etwan andere Juden thun müßen, suche; sondern mit Weib undt Kindern, auch allem meinem haab und Guth, im obgdachter Ew: Kay: undt des Hey: Röm: Reichß Statt Schlattstatt, nach dero habenden kayserlichen Special Privilegien, mich gantz undt gar der Jurisdiction gleichsamb mit burgerlichen genießenden Rechten untergeben, nieder gelaßen, undt meine beständige Wohnung, ad dies vite daselbsten genommen“. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 572r-573r: „Schreiben Matthiß Trifueß, schirmsverwanther Judt zue Schlettstatt“ (17.9.1654), zur Lage Hirtz fol. 572v. Ebd., RHRGutachten, fol. 517v. Seine Frau soll schwanger gewesen sein: siehe HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 626r-626v: „Extractus Schreibens Von deß hey: Reichs Statt Schlettstatt sub dato den 10ten. Januarij A°. 54; Ahn dero habendten Abgesandten zue Regensp: Abgangen“, hier fol. 626r. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 613r-614r: „Jud Hirtzen von deß H: Reichs Statt Schlettstatt pro relaxando personalj et realij aresto“ (Praes. 21.4.1654), hier fol. 613r-613v. Vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 163 (1654), fol. 88v (18.9.): [Resolution:] „Diese zwey letztere anbringens demselben zu adjungiren“.
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„Nuhn hat E[wre] kays[erliche] May[es]t[ae]t gehorsambiste Reichshoffrath sich in den Actis alles Vleiß ersehen, undt weiln vermög der Reichßconstitutionen in dergleichen verbrechen, welche in des hey[ligen] Reichß: Chur: fürst: undt Standen territorijs furüber gehen die cognition und bestraffung den Ständen selbst, dem Kays[er] aber alß dann erst, wann die Stände seummig, in agiren beuohrstehet, in specie aber die Juden betreffendt Chur: fürst: undt Stande vermög der Cammergerichts undt Policey Ordnung entweder in Crafft habender regalien, oder von den Romischen Kayßsern erlangten sonderbahren priuilegien, Juden einzunehmen und zuhalten, alß derselben ordentlichen Obrigkeit zubestrafen gebührt, gestaltt dann der Rath zu Schlettstatt deßwegen ein priuilegim von weilandt Kayßer Friderico Tertio produciert, und das Er in bestraffung der jüdischen verbrechen nachläßig geweßen, noch niemahnd ahn gebracht oder conuincirt worden. Alß seht Reichsßhoffrath nicht wie der kays[erliche] Fiscus der commission wider den Schlettstettischen Juden werde behaubten können, oder auch witter fort zu sezen uhrsach habe.“125
Insbesondere die Widersprüchlichkeiten der Zeugenaussagen gaben dem RHR Anlass zu der Vermutung, dass bei einer Fortführung des Prozesses „nichtß sonders straffmeßiges herauß kommen, derentwegen er ad torturam des Commissarij andeuten nach zuerkennen wehre.“126 In diesem Sinne beschloss der RHR:
„Dießem nach ist Reichsßhoffrath der gehorsambisten undmaßgebigen meynung das zwahr dem Rath zu Schlettstatt mit der gebettenen remission nicht zuwillfahren, damit ins künfftig dieße remission nicht in andern fällen, da der Fiscus fundiert pro praeiudicio angezogen werde, Sondern die commission selbsten durch ein Kay[serliches] rescript ahn den von Gollen ohne anregung der Ursachen undt motiuen, widerumb auffzugeben, wehren mit dem befehl das Er den Hirz Juden wider auff freyen fueß stelle, undt ihm seine mobilia undt Schuldtbücher erfolgen laße. Damit aber auch inßkünfftig den Ständen des Reichß zu newen klagen alß wann mann sie von dem kays[erlichen] Hoff auß wider ihre iura, und priuilegia beschwehren, und eintrag thun wolte, keine Uhrsach gegeben werde, so stellet Er kay[serliche] M[aies]t[ae]t dero gehorsambiste Reichshoffrath allerunderthaingst ahnheimb ob Sie ahn dero loblichen HoffCammer die allergnadigste erinnerung abgehen laßen wollen, das die selbe in iustitz, auch iura et priuilegia statuum betreffenden sachen mit dem Rreichßhoffrath hinführo communicirn thue, zu kays[erlichen] hulden und gnaden sich allerunderthenigst entpfeldent.“127
Mit dieser Stellungnahme berief sich der RHR gegenüber der Hofkammer auf seine alleinige Entscheidungskompetenz in dieser Sache und riet zur Aufgabe des Prozesses, allerdings unter genereller Wahrung der kaiserlichen Autorität und Kompetenz. Ausschlaggebend für diesen Ratschlag war die Ansicht des RHR, dass der status quo des Westfälischen Friedens gewahrt bleiben musste, die Stände also in ihren Rechten nicht eingeschränkt werden durften. Dies erschien jedoch beim vorliegenden Fall gegeben zu sein, womit zugleich die Gefahr bestand, dass sich der Kaiser einer erneuten Opposition im Reich gegenüber sah. Vielmehr komme dem Kaiser in der aktuellen Situation eine ausschließliche Aufsichtsfunktion zu, die ihm ein Eingreifen nur dann erlaube, wenn die Stände ihre Pflichten bezüglich des Judenschutzes vernachlässigten, was in diesem Fall nicht erwiesen sei.
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Zitat HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 517v-518r. Zitat HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 518v. Zitat HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178: RHR-Gutachten, fol. 519r-519v.
Jüdische Prozesse am Reichshofrat unter Ferdinand III.
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Noch am 25. September kam Kommissar Goll abermals mit einem Bericht, datiert auf den 7. August 1654, beim RHR ein und insistierte auf die Schuld Reinauers, versuchte sogar mit neuen Beweisen, die er in Beilagen beibrachte, die Entscheidung des Gremiums zu revidieren:128 Hirtz habe einen ehemaligen Soldaten erschießen lassen wollen.129 Allerdings ließ sich der RHR nicht mehr in seiner Entscheidung umstimmen, zumal auch diese neue Beweislage und die Zeugen, die Goll anführte, sich äußerst wackelig und zweifelhaft gebärdeten. Am 28. September erging gegenüber Goll daher folgender Beschluss: „Adjungatur priori voto R[eichs]hoffrath finde keine Ursach von dem vorigen guetachten abzuweichen, noch etwas dorin zu ändern, weilen me[r]mahlen keine solche indicia verhanden d[as] der Jud zur tortur zuerkennen, auch die aniezo beygebrachte newe Zeügen aussag diesen defectibus [. . . ], in denne d[er] angegebene Zeüg selbst bekennt, d[as] Er sich zu dem praetendirten assassino umb geldt bestellen lassen wollen, und zuvorhin einen lothringischen Soldaten erschossen habe.“130
Der Kaiser und der Geheime Rat waren der gleichen Auffassung und schlossen sich dem Gutachten des RHR an. Am 10. Oktober 1654 fertigte die Reichshofkanzlei ein Schreiben Ferdinands III. an Wilhelm von Goll aus, in dem der Kaiser die Kommission ohne Nennung von Gründen kassierte und dem Kommissar befahl, den Juden Hirtz Reinauer samt beschlagnahmten Schuldbüchern freizulassen.131 Zeitgleich erging an die Stadt Schlettstadt ein kaiserliches Schreiben, in dem Ferdinand III. die Reichsstadt über die Aufhebung und die vollständige Restitution des Juden informierte.132 Damit endete der eigentliche Prozess mit einer klaren kaiserlichen Entscheidung, die ganz im Rahmen der reichspolitischen Möglichkeiten lag, die der RHR in seinem Gutachten skizziert hatte.133 Wie sahen diese nun aus und was hieß das für die jüdischen Prozesse am RHR? 128
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Auch die Schilderungen des Juden Hirtz selbst gegen Anlass zu der Vermutung, von Goll sei eher darauf bedacht gewesen, den Prozess zu verschleppen. Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 613r-614r: „Jud Hirtzen von deß H: Reichs Statt Schlettstatt pro relaxando personalj et realij aresto“ (Praes. 21.4.1654), fol. 613v. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 163 (1654), fol. 109r-109v (28.9.). Vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 628r-646r: von Goll an Ferdinand III. (7.8.1654; Praes. 25.9.1654). Zitat HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 163 (1654), fol. 109v (23.9.). Siehe HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 670r-670v: „Ahn Johann Wilhelm von Gollen in p.° Commissionis ad inquirendum die Judenschafft im Elsass betr.“ (10.8.1654). HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 671r-671v: „Notific[ati]onsschreiben ahn den Rath zu Schlettstat den alda verhafften Juden Herzen betr.“ (10.8.1654). Hinsichtlich der Kommissionskosten gab es indessen noch ein kleines Nachspiel am RHR rund ein Jahr später. Johann Wilhelm von Goll kam zweimal beim Gremium ein und bat, man möge ihm doch die Kosten in Höhe von 967 fl (vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 662r-668v: „Raiß undt Uncosten In der Commission so Ihr kay: May: in p.to inquisitionis et processus cont: Jud Hirzl den Rheinawer mit allergdsten anbefohlen“) seiner Arbeit erstatten. An diesem Punkt kam dann zum Vorschein, dass trotz kaiserlichem Entscheid von Goll immer noch von der Schuld Hirtz Reinauers überzeugt war, argumentierte er doch, dass der Jude sich zur Zeit brüste, vollkommen unschuldig angeklagt und eingesperrt worden zu sein. Damit beeinträchtige er die kaiserliche Autorität. Damit wenigstens eine Teilschuld ihm zugesprochen werde, schlug Goll vor, der
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Die Causa Schlettstadt als Gradmesser für die kaiserliche Politik gegenüber den Juden des Reiches in einer Zeit zwischen Krieg und Frieden
Der Fall Schlettstadt barg seine Brisanz in dem Umstand, dass er in einer Zeit geführt wurde, in der sich die habsburgischen Besitzungen und Rechte im Elsass in französischen Händen befanden – den Vereinbarungen des Westfälischen Friedens entsprechend. Wie weit genau die französischen Rechte im Elsass an den dortigen Reichsständen allerdings reichten, war im Vertragstext von 1648 äußerst unklar formuliert. An sich verblieben die Reichsstädte im Reich und behielten damit ihre Reichsunmittelbarkeit; das übergeordnete Recht, das vom Reich stammte, blieb unberührt. In der Tat schloss der Vertragstext mit seinen Interpretationsräumen des ita tamen aber ein französisches Eingreifen im Sinne von Herrschaftserweiterung nicht aus und stellte jedenfalls ein Konfliktpotential dar.134 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts umfasste das Elsass als Zwischenregion ineinander verschachtelte Territorien. Dies machte auch die konfessionelle Landkarte dieses Gebietes schwer überschaubar. Hinzu kam seit der Teilung des burgundischen Besitzes zwischen Frankreich und Habsburg spätestens im Jahr 1493 durch den Vertrag von Senlis der Jahrhunderte bestehende Konflikt über die Oberhoheit dieses Gebiets, in dem sich zugleich konkurrierende politische Systeme gegenüberstanden: das nach Zentralisierung sowie Machtausbau strebende Königtum Frankreichs und das insbesondere unter Karl V. nach universaler Macht strebende Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches.135
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Jude könne doch die Kosten tragen (vgl. HHStAW, RHR, Den. ant., K. 178, fol. 521r522v: von Goll an Ferdinand III. [6.7.1755; Praes. 30.9.1755]). Erst ein Vierteljahr später, nach einer erneuten Supplikation von Golls mit gleichen Inhalt (siehe ebd., fol. 675r676v) und nachdem die Hofkammer ebenfalls beim RHR in dieser Angelegenheit einkam, überwies dieser die Sache am 27. Februar 1656 an den Reichsvizekanzler Kurz, der mit der Hofkammer wiederum Rücksprache halten sollte. Noch am selben Tag erging ein Dekret, in dem der Vorschlag von Goll angenommen wurde. Hirtz Reinauer war zwar frei, er musste aber dennoch die Kommissionskosten übernehmen. Vgl. ebd., fol. 672r-672v: „Decret für d[en] von Gollen, die Commissions Unkosten in causa des Hirtz Judens von Schlettstatt betr.“ (27.10.1656). Vgl. Ruppert, Politik, S. 184–199; Andreas Kraus, Die Acta Pacis Westphalicae. Rang und geisteswissenschaftliche Bedeutung eines Editionsunternehmens unserer Zeit, untersucht an Hand der Elsaß-Frage (1640–1646), Opladen 1984 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vorträge; 269), S. 32 f. Pelzer, Habsburg und Bourbon, S. 299 f. Vgl. auch Stein, Formen, S. 286 f. Zum Westfälischen Frieden – z. T. aus katholischer Sicht – siehe Klueting, Reich, S. 19–26. Siehe Georges Livet, Frontières et limites en Alsace aux XVIIe et XVIIIe siècles. Comment se fait et se défait une frontière?, in: Jean-Marie Demarolle (Hg.), Frontières en Europe occidentale et médiane de l’Antiquité à l’an 2000. Actes du colloque de l’Association Interuniversitaire de l’Est tenu à l’Université de Metz, 9–10 décembre 1999, Metz 2001, S. 491–513. Vgl. insgesamt Konrad Krimm (Hg.), Zwischen Habsburg und Burgund. Der Oberrhein als europäische Landschaft im 15. Jahrhundert, Stuttgart 2003 (Oberrheinische Studien; 21). Siehe insbesondere Rainer Babel, Frankreich und Karl V. (1519–1556), in: Alfred Kohler/Barbara Haider/Christine Ottner (Hgg.), Karl V. 1500–
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In diesem Rahmen bewegte sich der Prozess gegen Hirtz Reinauer: Die Reichsstadt Schlettstadt wies beständig darauf hin, der Landvogt wolle eingreifen, wenn sich der Jude im Rahmen des gegebenen Instanzenzuges136 an ihn wende. Dies zeigt, dass sich Frankreich durchaus über die Rechte, die mit der Landvogtei verbunden waren, im Klaren war.137 Dass Schlettstadt als eine derjenigen Reichsstädte, die während des Krieges die französische Protektion nur äußerst unwillig annahmen, hiergegen sogar opponierte und dafür von Frankreich hart bestraft wurde,138 ebenso wie die anderen elsässischen Reichsstädte sich noch 1654 mit mehreren Beschwerden gegen die französische Krone an den Kaiser wandten,139 zeigt, wie akut die Gefahr eines französischen Eingriffes nach 1648 für die Zeitgenossen140 auch wegen fortwährender Einflussnahmen Frankreichs in den Städten war.141
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1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, Wien 2002 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Historische Kommission, Zentraleuropa-Studien), S. 577–610. Stein, Formen, S. 290 betont, dass es im Bereich der Justizbehörden eine personelle Kontinuität gab, auf deren Wissen von der Region und den gegebenen Instanzenzügen sich die französische Lokalverwaltung stützen konnte. Vgl. Rainer Babel, Deutschland und Frankreich im Zeichen der habsburgischen Universalmonarchie 1500–1648, Darmstadt 2005 (Deutsch-Französische Geschichte; 3), S. 99. Vgl. insgesamt Kraus, Die Acta Pacis Westphalicae, S. 30. Siehe auch Franz Bosbach, Die Elsaßkenntnisse der französischen Gesandten auf dem Westfälischen Friedenskongreß, in: Francia 25 (1998), S. 27–49. Die Belastungen der Besatzung waren noch nach 1648 deutlich für die finanziell anscheinend ruinierte Stadt spürbar; hinzu kam die Verhaftung der Bürgermeister und eine Vertreibung von über 200 waffenfähigen Männern durch die Franzosen sowie unzählige Tote und Flüchtlinge angesichts einer Hungersnot sowie neben dieser sozialen Auflösung der Stadt der vollkommene Verlust von politischer Unabhängigkeit. Vgl. Hans Stein, Protection Royale. Eine Untersuchung zu den Protektionsverhältnissen im Elsaß zur Zeit Richelieus. 1622–1643, Münster 1978 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte; 9), S. 397v399, 418 f., 421 f., 452 f. Mehrmals wendete sich die Stadt nach 1648 an den Kaiser bezüglich der zu zahlenden Römermonate und bat um deren Minderung. In den Briefen schildert der Rat der Stadt eindringlich die Opfer, die Schlettstadt während des Krieges zu beklagen hatte und verwies auf die stete Loyalität zum Kaiser. Vgl. hierzu u. a. die städtischen Schilderungen des Kriegsjahre in Österreichisches Staatsarchiv (= ÖS), Finanz- und Hofkammerarchiv (= FHA), Hofkammer, Reichsakten, K. 44/A, 44/B (Schlettstadt), fol. 708r-709v und 714v: „Ahn Die Röm[ische] Kay[serliche] Auch zue Hungern und Böheimb König[liche] May[estaet] Ferdinandt den dritten ec. Unßern Allergnedigsten Kayß[er] König undt Herren. Allerunderthänigstes, demüethigstes supplicieren des heyligen Reichß Statt Schlettstatt, umb Nachlaß des halben Theilß, der beuortstehenden Römer Monathen, und Manutention Kay[ßer] Caroli quinti Priuilegij wegen der Reichsß Anschlägen)“. Vgl. HHStAW, Staatenabteilung, Frankreich, Varia, K. 6 (unfoliert): „Memoriale Civitatum imperialium Alsatia“ (20.5.1654). Auf die oben angedeuteten Ängste weist auch Julius Friedrich Scharffenstein Historische General=Beschreibung von Ober= und Nieder=Elsaß samt dem Sundgau, Frankfurt am Main/Leipzig 1734, S. 187 f. hin. Vgl. auch ÖS, FHA, Hofkammer, Reichsakten, Fasz. 9/A, fol. 551r-552r: „Memorial der zehn Reichsstädte im Elsaß“ (1653), in dem diese mit Bitte an den Kaiser um Hilfe darauf hinweisen, dass „zur Zeith da man von der könig[lichen] frantzösischen Regie-
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Die Grenze zwischen dem Reich und Frankreich war nach 1648 alles andere als eine festgelegte Souveränitätslinie und auch die Übernahme eines Konglomerats von Rechtstiteln wie im Fall des habsburgischen Besitzes im Elsass schuf noch keine klaren Herrschaftskompetenzen. Insgesamt ging es Frankreich darum, Habsburg und seinen Einfluss, der sich für Frankreich auch im Kaisertum und dessen Ressourcen äußern konnte, im Rahmen einer umfassenden europäischen Politik aus der elsässischen Region zurückzudrängen. Eine kaiserliche Dominanz musste wie im Reich erst recht im Elsass aus französischer Sicht vermieden werden.142 Insofern scheinen die Motive der Reichsstadt, sich für den Juden Hirtz Reinauer einzusetzen, weniger im Bestreben gelegen zu haben, sich vom kaiserlichen Machtzugriff zu emanzipieren. Im Gegenteil stand die stets katholisch gebliebene Stadt seit der Reformation eng an der Seite des Kaisers und hatte während des Krieges auch gegen die schwedische Besatzung revoltiert.143 Vielmehr galt es für die Stadt angesichts der aus Kriegszeiten herrührenden guten Beziehungen der Schlettstädter Juden zum Landvogt in Breisach144 , Prinz Harcourt145 , dessen
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rung zu Breysach die von der Zeith des geschloßenen friedens außständige Stattsteuern abzurichten gewaltsammer weiß angehalten worden, mit hochbeschwerlichen Executionen beladen werden sollen, wordurch nothwendig Stätte undt felder erbärmlich öde gelaßen werden müsten.“ Zur Einschränkung und Wandlung des Protektionsverhältnis im Elsass zur offenen militärischen Besatzung und Herrschaft Babel, Deutschland und Frankreich, S. 93. Paul Wentzcke, Geschichte der Stadt Schlettstadt, Tübingen 1910, S. 13 betont, dass Ludwig XIV. schon früh darum bemüht war, seinen Einfluss auf die Reichsstädte auszudehnen. Vgl. insgesamt zur Opposition Schlettstadts gegen die französische Protektion Stein, Protection Royale, S. 329, 379, 382 f., 385–395, 398, 400 f., 450–453, 456, 486–488. Frankreich zwang die Bürger sogar zur Huldigung des Königs und bestätigte damit die Besatzung (ebd. S. 384). Vgl. Babel, Deutschland und Frankreich, S. 82, 93, 95, 166–169. Zu den Grundlinien französischer Außenpolitik um die Mitte des 17. Jahrhunderts vgl. Klaus Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zum Einfluß französischer politischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der Frühen Neuzeit, Marburg 1994 (Marburger Studien zur Neueren Geschichte; 4), S. 286–302. Vgl. insgesamt Anuschka Tischer, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongress. Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin, Münster 1999 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte; 29). Vgl. Wentzcke, Schlettstadt, S. 10 f., 13 f. Siehe vor allem Joseph Gény, Die Reichsstadt Schlettstadt und ihr Antheil an den socialpolitischen und religiösen Bewegungen der Jahre 1490–1536, Freiburg 1900, (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes; 1,5/6), S. 186–211. Ähnlich Stein, Protection Royale, S. 379. Siehe auch Stein, Formen, S. 300, der mit diesem Verhalten aber auch ein Selbstständigkeitsstreben verbindet. Vgl. Stein, Protection Royale, S. 452. Nachdem die Stadt ihre politische Unabhängigkeit verloren hatte, genossen die Juden den zunächst den Schutz des französischen Gouverneurs und dann bis 1648 den des Intendanten, dem sie dafür auch den Judenzins entrichten mussten. Harcourt, seit 1649 Gouverneur im Elsass, stand während der Fronde treu auf Seiten Mazarins und des Königs, siehe hierzu Orest Ranum, The Fronde. A French Revolution 1648–1652, New York, London 1993, S. 321, 322, 345. Nach 1652 nahm er aber im Elsass eine oppositionelle Position ein mit dem Versuch, eine eigene Herrschaft zuer-
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Eingriff zu verhindern. Seine Intervention hätte nichts anderes bedeutet, als einen Präzedenzfall für die Übernahme von Jurisdiktionsbefugnissen als Herrschaftsrecht durch Frankreich zu schaffen.146 Hinzu kam, dass im Rahmen der innenpolitischen Krise im Frankreich jener Jahre, der Fronde, der französische König auch im Elsass die Lehensschraube anzog, um die neuen Besitzungen zu stabilisieren.147 Im Kern ging es im Falle Schlettstadts also auch darum, im welchem Ausmaß das Elsass als Zwischenregion zu einer noch stärker von Frankreich kontrollierten Zone wurde und die französische Krone mit Hilfe der Reichslandvogtei eine Herrschaftsintensivierung erreichen konnte.148 Wollte man ebendies, soweit in den Kräften Wiens und des Reiches stehend, verhindern,149 war von kaiserlicher Seite aus klar, dass eine aggressive Interessenspolitik gegenüber einer der Garantiemächte des Westfälischen Friedens nicht ratsam erschien. Hätte Wien die schlettstädtischen Privilegien umgangen und den Prozess vor den RHR gezogen beziehungsweise die Kommission weiterverfolgt, wäre Frankreichs Eingriff in diesem Fall auf die Stärkung des ständischen Gewichts und damit auf die Schwächung des Kaisers im Reich hinausgelaufen.150 Wenn Wien auch die habsburgischen
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richten, so dass Frankreich 1654 gegen ihn vorging. Vgl. Stein, Formen, S. 289, 294 f. Ein möglicher Einfluss Harcourts im Sinne von eigener Territorialbildung und die drohende Intervention Frankreichs mussten die Bedenken der Stadt noch verstärken, aber auch am kaiserlichen Hof die Alarmglocken schrillen lassen. Siehe hierzu auch Scharffenstein, General=Beschreibung, S. 183–187. Auch während der militärischen Auseinandersetzungen mit Herzog Karl von Lothringen, bei der die Einnahme Schlettstadts durch dessen Truppen drohte, lehnte die Reichsstadt vehement die Hilfsangebote des französischen Generalleutnants de Rosa am 21. und 27. Januar 1652 ab (vgl. HHStAW, Kriegsakten, K. 140 [alt 183, 184, 185], 1650–1653, Konv. III, 1653, Nr. 9 [unfoliert]: „Anerbieten des Generalleutnants de Rosa der Stadt Schlettstadt mit den unterstehenden französischen und Landvölkern gegen einen Einbruch der Lothringer zu Hilfe zu kommen“). Ob allein die militärischen Motive hinter dem französischen Hilfsangebot standen, ist ungewiss und müsste anhand der französischen Parallelüberlieferung eruiert werden. Gleiches gilt für die städtische Überlieferung im Archives Municipales Sélèstat. Im Staatsarchiv Freiburg waren dagegen von Seiten der vorderösterreichischen Regierung keine Akten zu ermitteln. Vgl. Krause, Acta Pacis Westphalicae, S. 34 f.: „Bekanntlich gelang es Servien, mit dem passis ita tamen die an sich, trotz der endgültigen Abtratung zu souveränem Besitz, eindeutige Begrenzung auf habsburgische Rechte und habsburgischen Besitz zu verschleiern und eine Rechtsvorbehalt in den Friedenstraktaten hineinzubringen, der alle Reichsstände im Elsaß bedrohte und schließlich unter Anwendung des Souveränitätsbegriffs des französischen Staatsrechts Ludwigs XIV. den Vorwand für die Reunion gab“ (Zitat S. 34). Siehe Pelzer, Habsburg, S. 302, 304 f. betont die Verstärkung des politischen Drucks auf den elsässischen Adel durch Frankreich. Vgl. zum historischen Konflikt um das Elsass zwischen Frankreich und Habsburg kurz auch Babel, Deutschland und Frankreich, S. 77, 82 f., 92 f. Vgl. ebenso Stein, Formen, S. 301, 304, 307. Vgl. zur Passagenpolitik Babel, Deutschland und Frankreich, S. 92. U. Malettke, Frankreich, S. 300–302. Siehe Babel, Deutschland und Frankreich, S. 95.
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Rechte im Elsass realistisch als verloren betrachtete,151 so wollte es doch zumindest die Beachtung und damit Bestätigung der städtischen Privilegien als von kaiserlichen Gnaden erscheinen lassen und damit die Kontrollfunktion des Reiches auch gegenüber dem französischen König als habsburgischen Rechtsnachfolger im Elsass in Evidenz halten. Im Falle Schlettstadts musste der Kaiser als oberster und das hieß vor allem neutraler Richter mit reichspolitischer Rücksicht auf die Reichsstände auftreten – so die Kernintention des reichshofrätlichen Gutachtens.152 Indem der RHR betonte, dass man zwar den Städten im Friedenschluss von 1648 de facto die jura Fisci jurisdictionis zugestanden habe, jedoch ausdrücklich hervorhob, dass man den Prozess ohne Begründung und damit Nennung dieses Umstandes beenden solle, verweist auf eine doppelgleisige Strategie Wiens: nämlich die Beachtung der Bestimmungen des Westfälischen Friedens ohne gleichzeitige, unnötige Selbstbeschränkung eigener Handlungsoptionen. An diesem Punkt verbindet sich aus historiographischer Sicht der regionale Aspekt mit der Reichsdimension, war doch die Causa Schlettstadt mit Rücksicht auf dem Regensburger Reichstag 1653/54 in ihren möglichen Auswirkungen im Reich höchst bedenklich. Hier sollte schließlich über die Aufnahme des Westfälischen Friedenswerks in das System der Reichsgesetze entschieden werden, die Wahl Ferdinands IV. zum römisch-deutschen König erreicht und mit der Publizierung einer neuen Reichshofratsordnung aus eigener Machtvollkommenheit zugleich der Bedeutungszuwachs des Kaisers im Reich demonstriert werden. Parallel galt es, das Misstrauen der Reichsstände gegenüber dem Kaiser weiter abzubauen. Alle Handlungen, welche die im Westfälischen Vertragswerk erfolgreich erreichte und stabilisierte, allerdings noch fragile politische Stellung des Kaisers im Reich nach 1648 hätten stören können, galt es, so der Tenor des Reichshofratsgutachtens, ausdrücklich zu vermeiden. Lothar Höbelt fasste die Grundlinie kaiserlicher Politik im Reich nach 1648, die sich auch im obigen Reichshofratsgutachten wieder findet, jüngst prägnant zusammen: „Es galt also, vorsichtig vorzugehen und jede überflüssige Opposition zu vermeiden.“153 Hierzu gehörte auch größere Rücksichtnahme auf die traditionelle kaiserliche Klientel wie Reichsritter oder Reichsstädte, in deren Territorien die Mehrzahl der jüdischen Population lebte 151 152 153
Siehe Babel, Deutschland und Frankreich, S. 98. Siehe hierzu Kraus, Acta Pacis Westphalicae, S. 31 f. Vgl. v.a. Stein, Formen, S. 304. Ähnlich Krause, Acta Pacis Westphalicae, S. 33. Siehe Höbelt, Ferdinand III., S. 310 f., Zitat S. 310, zur kaiserlichen Politik auf dem Reichstag in Regensburg S. 305–320. Siehe auch Aretin, Reich I, S. 160 f., 164, zum Reichstag S. 172–184, zur Erlassung der Reichshofratsordnung aus kaiserlicher Machtvollkommenheit als Ausweis einer stabilisierten kaiserlichen Position gegenüber den Reichsständen S. 183. Zum Machtausweis des Kaisers durch die Symbolsprache auf dem Reichstag von 1654/55 siehe jüngst Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reichs, München 2008, S. 137– 223, hier S. 222 f. Ähnlich Klueting, Reich, S. 26 sowie S. 45–52 zum Reichstag und zur Reichshofratsordnung.
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und die nach Abbildung 4 am häufigsten in Prozesse gegen Juden involviert waren. Während der Kriegsjahre und insbesondere in der letzten Phase der militärischen Auseinandersetzung wurde diese Klientel von Seiten der Wiener Hofburg entweder nicht mehr beachtet154 oder stand, wie die überwiegend protestantisch geprägte Reichsritterschaft in Franken, im gegnerischen Lager.155 Nach 1648 war Ferdinand III. aber auf sie unbedingt angewiesen, wollte er im Reich seinen Einfluss wahren. Angesichts politischer Rücksichtnahmen auf die kaiserliche Klientel konnten die kaiserlichen Prärogative über die Juden ihr gegenüber nicht allzu offensiv betont werden.156 RHR und Kaiser verfolgten vielmehr gegenüber den in den jüdischen Prozessen involvierten Obrigkeiten wie im Schlettstadtfall einen Konsenskurs.157 Prozesse, die Streitigkeiten bezüglich ungeklärter Judenschutzrechte hätten evozieren können, galt es demnach unter allen Umständen zu vermeiden.158 Die Causa Schlettstadt drohte, wenn sie eskalierte, diesen Vertrauensaufbau zu stören.
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Vgl. zur kaiserlichen Politik gegenüber der kaiserlichen Klientel vor 1648 kurz Höbelt, Ferdinand III., S. 308 f. Vgl. hierzu Rudolf Endres, Die Friedensziele der Reichsritterschaft, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte, München 1998 (Beiheft Historische Zeitschrift; 26), S. 565–578, hier S. 567 f., 577 f. Siehe auch Volker Press, Kaiser und Reichsritterschaft, in: Rudolf Endres (Hg.), Adel in der Frühneuzeit. Ein regionaler Vergleich, Köln/Wien 1991 (Bayreuther Historische Kolloquien; 5), S. 163–194. In diesem Sinne wurden die von Juden gegen Reichsritter angestrengten Prozesse vom RHR und Kaiser äußerst defensiv verfolgt. Vgl. HHStA, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 122 (1641), fol. 377r-377v (9.12.); ebd., 141 (1648), fol. 37r (10.2.); ebd., 145 (1649), fol. 41r41v (5.7.). Auf dem Deputationstag in Frankfurt und während der Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück wurde kurzzeitig der Vorschlag des Reichskammergerichts (vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 141 [1648], fol. 126v [4.7.]) diskutiert, die Juden des Reiches an der Finanzierung des Gerichts heranzuziehen; dies scheiterte am Widerstand kaisertreuer Reichsstände (vgl. HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 133 [1645], fol. 66r-66v [16.5.]; ebd., XVII 134 [1645], fol. 120r [8.8]). Der RHR betonte in einem votum ad Imperatorum, dass die Stände den Plänen nicht zustimmen würden und sich bereits beklagt hätten, dass Ihre Regalien hierdurch beeinträchtigt würden und lehnte die Pläne ab (vgl. ebd., XVII 135 [146], fol. 217r-221r [19.7.], hier fol. 218r). Ferdinand III. stimmte diesem Gutachten zu (vgl. ebd., XVII 135 [1646], fol. 235r-236r [31.8.], hier fol. 235r). Dementsprechend urteilte der RHR gegenüber dem Reichskammergericht, dass er „nit sehe mit waß fundament wider der Ienigen Stendte, so Juden under sich haben, willens und gefallen die Juden Capitation enzutreiben und zur hand zubringen“ (Zitat ebd., XVII 135 [1646], fol. 242r [4.9.]). Vgl. hierzu Johann Jacob Moser, Von der teutschen Justiz-Verfassung. Zweyter Theil, Frankfurt/Leipzig 1774 (Neues teutsches Staatsrecht; 8/2), S. 470–571, hier v.a. S. 474 f. In diesem Sinne verhielt sich der RHR in solchen Fällen zurückhaltend. In HHStAW, RHR, Prot. Rer. Res., XVII 173 (1657), fol. 112v-113r (28.3.) beschwert sich Graf Joachim Ernst von Öttingen, Reichshofratspräsident (Vgl. Gschließer, Reichshofrat, S. 237), dass das Rottweiler Hofgericht ungeachtet kaiserlicher Exemptionsprivilegien einen seiner Schutzjuden in die Acht erklärt habe. Seine Bitte um ein Rescriptum Cassatorium et inhibitorium wurde vom RHR mit Fiat ut petitur beschieden.
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Angesichts dieser Sachlage schien dem RHR eine Deeskalationsstrategie unbedingt ratsam. Ob der Schlettstadtfall eine alleinige Erklärung für die Nichtbeachtung jüdischer Betreffe am RHR jener Jahre insgesamt liefern kann, muss angesichts der schmalen quantitativen Basis für die Herrschaftsjahre Ferdinands III. und den wenigen ausführlich verhandelten Fälle dahingestellt bleiben, dies obgleich die deutlichen Worte des RHR ein helles Licht auf die Bewertung von jüdischen Prozessen durch den kaiserlichen Hof werfen. Dass Prozesse unter jüdischer Beteiligung in der damaligen politischen Lage erhebliche Sprengkraft besaßen, wurde indessen aber auch von anderen Reichsständen so gesehen. 1651 baten Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Worms den Trierer Kurfürsten Philipp Christoph von Sötern, ihnen im Prozess gegen die Wormser Judenschaft behilflich zu sein und für sie zu attestieren.159 Nachdem Sötern das städtische Gesuch höflich, aber sehr bestimmt abgelehnt hatte,160 meldete er die Angelegenheit dem Kaiser mit folgenden eindeutigen Worten: „Wann ich dan nit zweiffele, es Ew[re] Kay[serliche] May[estät] geheimben unndt Reichshoffraht, weniger deroselben intention gahr nit geweßen ged[achte]r Freye ReichsStatt oder auch Chur-Fürsten unnd Stände underthanen unndt angehörige gegen den Münsterischen frieden, alle Reichsconstitutiones unndt könig[liche] Capitulation, beuorab gelobte Underthanen von Ihrer Herrschafft abweichen, darauß nur newe zuesammensetzung und Unruhe entstehen könne, Do habe ich ein solches gantz unuorgrifflich uff ged[achte]r Statt Wormbs begehren hiermit Allerunderthenigst ubersenden wollen.“161
Sötern, als spanischer Gefangener bis zu den Westfälischen Friedensverhandlungen direkt vom Kriegsgeschehen betroffen und an sich in der Reichspolitik nach seinen Avancen mit den Franzosen zu Beginn der 1630er sowie nach seiner Rückkehr ins Kurstift Trier in den 1640er Jahren allseits als Störenfried im Reich diskreditiert,162 betrachtete die Prozesse mit jüdischen Betreffen ebenfalls als Störfaktoren des Reichsfriedens. Angesichts der politisch angespannten Lage in Kurtrier ist der Brief Söterns verständlich, lag der Kurfürst doch seit Jahrzehnten mit seinem Domkapitel im Streit, der sich auch in Konflikten 159
160 161 162
Vgl. HHStAW, RHR, Antiqua, K. 1145 (Worms)/11, fol. 1r-4v: „Bürgerschaft und Zünfte der Reichsstadt Worms c. Bürgermeister und Rat daselbst; diverso. gravam. die Ausschaffung der Juden betrf.“ (1614, 1616, 1651); hier: Brief Bürgermeister und Rat der Stadt Worms an Kurfürst v. Sötern am 10.6.1651, hier fol. 2r. Vgl. zur Situation der Wormser Judengemeinde Christopher R. Friedrichs, Anti-Jewish Politics in Early Modern Germany. The Uprising in Worms, 1613–1617, in: Central European History 23 (1990), S. 91–152. Ebenda; hier: v. Sötern an den Bürgermeister und Rat der Stadt Worms am 28.06.1651, fol. 3r. Ebenda; hier: Brief v. Söterns an den Kaiser vom 28.6.1651, fol. 1r (Zitat ebd.). Siehe Höbelt, Ferdinand III., S. 310; zum Interesse Frankreichs an Sötern und dessen Protektionsverhältnis zur Krone Babel, Deutschland und Frankreich, S. 83, 88 f. Sowie ausführlich Hermann Weber, Frankreich, Kurtrier, der Rhein und das Reich 1623–1635, Bonn 1969 (Pariser Historischer Studien; 9). Zu Sötern siehe ausführlich Karlies Abmeier, Der Trier Kurfürst Philipp Christoph von Sötern und der westfälische Frieden, Münster 1986 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte; 15). Für diesen Hinweis danke ich Herrn Hofrat Hon.-Prof. Dr. Leopold Auer.
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über die kurfürstlichen Juden im Stift manifestierte. Auch die Stadt Trier, die erst in den 1580er Jahren endgültig in ihrem Bemühen, reichsunmittelbar zu werden, gescheitert war, forderte regelmäßig die Ausweisung der wenigen in Trier lebenden Schutzjuden. Eine Situation wie in Worms, wo sich sozialpolitischer Protest der Bürgerschaft zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch gegen die Juden der Stadt richtete, über deren Schutz die Reichsstadt, der Bischof von Worms und deren Kämmerer von Dalberg in einem langwierigen Streit lagen, schien für Sötern auch in Trier durchaus im Bereich des Möglichen.163 An sich wirft der Brief allerdings viele Fragen auf, die freilich an dieser Stelle nicht diskutiert werden können, auf die aber hingewiesen sei. Der Brief wurde zu einer Zeit verfasst, als Sötern mit seinem in den 1630er-Jahren verfolgten Ziel, als absolutus Dominus im Stift regieren zu können, gegenüber dem Domkapitel durch den Rezess einer Reichskommission von 1650 gescheitert war und die Regierung längst mit dem Koadjutor Karl Kasper von der Leyen hatte teilen müssen. Zudem wurde der Brief zwar im RHR präsentiert; ob ihn das Gremium aber diskutierte und dies vielleicht sogar Wirkung auf die reichshofrätliche Entscheidung im Schlettstädter Fall gut vier Jahre später entfaltete, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden.164 In diesem Zusammenhang belegt der Brief aber klar, dass die Bedenken des RHR bezüglich möglicher Widerstände im Reich bei den Reichsständen hinsichtlich Prozessen von Juden am kaiserlichen Gericht auf einer durchaus, zumindest in den Augen der Wiener Hofburg, realen Grundlage beruhten. Angesichts der immer noch unsicheren und störanfälligen politischen Situation im Reich nach 1648, die viele Zeitgenossen als eine Phase zwischen Krieg und Frieden empfanden und die ja in der Tat weiterhin von akuten oder drohenden militärischen Auseinandersetzungen geprägt war, kontroversen Restitutionsfragen, kriegerischen Auseinandersetzungen in Lothringen oder dem Assoziationsversuch von sechs Reichskreisen unter Führung des Mainzer Kurfürsten, verfolgte der RHR auch und vor allem in Prozessen mit jüdischer Beteiligung eine Politik, die das Misstrauen im Reich gegenüber dem Kaiser abbauen sollte. In diesem Rahmen bewegt sich die Entscheidung in der Causa Schlettstadt und in diesem Rahmen müssen die obigen quantita163
164
Vgl. zum Konflikt zwischen Kurfürst und Domkapitel Abmeier, Sötern, S. 203–257. Zur Geschichte der Juden in Trier siehe Richard Laufner, Geschichte der Jüdischen Gemeinde Triers, in: Juden in Trier. Katalog einer Ausstellung von Stadtarchiv und Stadtbibliothek Trier März–November 1988, unter Mitwirkung von Horst Mühleisen und Bernhard Simon, bearbeitet von Reiner Nolden, Trier 1988 (Ausstellungskataloge Trierer Bibliotheken; 15), S. 11–28, hier S. 15–17. Auf dem Landtag Kurtriers erhoben sich immer wieder Proteste gegen die Juden, vgl. hierzu Gustav Knetsch, Die landständische Verfassung im Kurstaate Trier vornehmlich im XVI. Jahrhundert, Bonn 1909, S. 66–68. Zur Geschichte Triers siehe Gabriele Clemens/Lukas Clemens, Geschichte der Stadt Trier, München 2007, S. 115–124. In den Exhibitenprotokollen sind keine Hinweise zu finden, ob eine Reaktion des kaiserlichen Hofes auf den Sötern-Brief erfolgte. Vgl. zu den letzten Regierungsjahren Söterns Abmeier, Sötern, S. 222–257, insbesondere S. 256.
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tiven Ergebnisse sicherlich eingeordnet werden. Bei diesen Prozessen musste der Kaiser und der RHR Schadensbegrenzung vornehmen, um die oben skizzierte politische Agenda Wiens im Reich nicht durch eine prinzipielle offensive Betonung kaiserlicher Prärogative über die Juden zu gefährden.165 Ähnlich der konsequenten Nichtbehandlung religiöser Konfliktfelder bspw. in Reichsstädten, wie sie jüngst Thomas Lau skizzierte,166 verfolgten RHR und Kaiser als Kontrollinstanz für den Westfälischen Frieden gegenüber den in den jüdischen Prozessen involvierten Obrigkeiten einen ebenso flexiblen wie sensiblen Konsenskurs. Prozesse, die grundlegende Streitigkeiten bezüglich ungeklärter Judenschutzrechte in einer fragilen Phase zwischen Krieg und Frieden hätten evozieren können, galt es unbedingt zu entschärfen.167
Zusammenfassung – Jüdische Prozesse am Reichshofrat und die Rückkehr des Kaisers in das Reich nach 1648 Durch die Abwendung des französischen Eingriffs in der Causa Schlettstadt, die Bestätigung kaiserlicher Privilegien durch die Rücknahme der Kommission und die gleichzeitige Teilnahme am Reichstag 1653/54 konnte Schlettstadt nochmals für kurze Zeit seine alte reichsstädtische Unabhängigkeit stabilisieren. Dies war auch ein Erfolg für den Kaiser. Allerdings wurden ab 1654 neue französische Verwaltungsstrukturen eingeführt, die insbesondere im Aufbau einer französischen Justizverwaltung mit dem Conseil souverain als Revisionsgericht in Zivilsachen und Aufsichtsinstanz für Strafgerichte 1658 im Elsass zum Ausdruck kam und damit zur Intensivierung französischer Herrschaftsrechte führte. Fraglich ist, ob dies auch auf Grund von Erfahrungen aus dem Schlettstadtfall geschah?168 Dies müsste anhand weiterer Prozesse auch ohne jüdische Beteiligung aus dem Elsass jener Jahre nach 1648 in einer vergleichenden Dimension von RHR und Reichskammergericht unter Abgleich französischer Quellen geklärt werden. Bereits Eva Ortlieb arbeitete heraus, dass Ferdinand III. die Möglichkeiten reichshofrätlicher Kommissionstätigkeit zwar zu nutzen gewillt war und dabei das Instrument Kommission im Sinne der Wahrung des Reichs- und 165 166
167 168
Aretin, Reich I, S. 19, 166 f. Vgl. zu den Restitutionsfragen am RHR Fuchs, Medium. Siehe Thomas Lau, Vom Religionstyrannen zum Hüter des Rechts. Bürgerklagen vor dem Reichshofrat in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Verena Kasper, Tagungsbericht Höchste Gerichtsbarkeit in Kriegszeiten. 02.04.2008–04.04.2008, Wien. In: H-Soz-u-Kult, 26.05.2008, , [18.10.2008]. Vgl. Ralf-Peter Fuchs, Dem Westfälischen Frieden verpflichtet? Der Reichshofrat und der Normaljahrskrieg 1651, in: Kasper, Tagungsbericht Höchste Gerichtsbarkeit. Ähnlich Stein, Formen, S. 301. Vgl. zum Aufbau eines Instanzenzuges Wentzcke, Schlettstadt, S. 14. U. Stein, Formen, S. 289, 291 f., 308. Aretin, Reich I, S. 31.
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Rechtsfriedens einsetzte. Für die jüdischen Prozesse am RHR, insbesondere für diejenigen mit politischer Brisanz, gilt Ähnliches. Ihre vorsichtige Behandlung oder sogar bewusste Nichtbehandlung jenseits einer offenkundigen kaiserlichen Interessenspolitik leistete einer neuen Konsensorientierung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern Vorschub und stabilisierte auf diese Weise die kaiserliche Stellung im Reichsverband. Zugleich unterstrichen der RHR mit seinem Gutachten und die sich hieran anschließende Reaktion des kaiserlichen Hofes die Funktionsfähigkeit des Kaisertums.169 Das Beispiel Ferdinands III. zeigt, wie in einigen Regionen des Reiches konkrete politische Konstellationen auf die reichshofrätliche und kaiserliche Judenpolitik zurückwirkten und eine kaiserliche Oberherrschaft über die Juden, die nicht prinzipiell aufgegeben wurde, präfigurierte. Insofern müssen die jüdischen Prozesse in einem Komplex kaiserlicher Judenpolitik im Reich am RHR sowie damit durchaus als Teil der kaiserlichen Reichspolitik an sich gelesen und verstanden werden. So zeigt das Reichshofratsgutachten in Verbindung mit dem Sötern-Brief, dass die Handlungsmöglichkeiten und der Wille zur Aktion auf Seiten des Kaisers im Wesentlichen von den Rahmenbedingungen im Reich abhingen. Vor 1648 ging es Ferdinand III. darum, seine kaiserlichen Rechte als Landesherr in den Reichsstädten bezüglich der Judenschutzrechte zu wahren, jedoch im Hinblick auf die übrigen Prozesse den einsetzenden Friedensprozess nicht zu stören. Nach 1648 galt es, den fragilen Rechtsfrieden im Reich nicht zu gefährden. Eine offensive Judenpolitik konnte Ferdinand III. nicht betreiben. Dem stand nach dem Krieg die Rückführung der dringend benötigten traditionellen Klientel in das kaiserliche Lager als Grundlage einer effektiven zukünftigen Reichspolitik entgegen. Die politische Grundlinie der kaiserlichen Seite verfuhr nach dem Grundsatz, den als politischen Erfolg bewerteten Westfälischen Frieden nicht durch eine offensive Inanspruchnahme einer kaiserlichen Oberherrschaft über die Juden des Reiches zu gefährden, das Misstrauen in den Kaiser abzubauen und das Kaisertum als relevanten Faktor in der Reichspolitik in Evidenz zu halten.170 Die angesichts einer relativ konstanten Gesamtinanspruchnahme somit politisch motivierte Nichtbeachtung von Prozessen mit jüdischer Beteiligung durch den RHR in den Jahren 1637 bis 1657 mag dazu geführt haben, dass die Juden ihrerseits allmählich davon abgingen, sich hilfesuchend an den RHR zu wenden. In diesem Rahmen muss die oben diskutierte quantitative Abwärtskurve jüdischer Belange am RHR in den Jahren 1637 bis 1657 eingeordnet werden. Aufgrund seiner Fähigkeit neutral als oberster Richter und Rechtswahrer im Reich durch den RHR Recht zu sprechen und damit das Amt des Reichs169
170
Vgl. Ortlieb, Auftrag, S. 346–363. Ähnlich dies., Reichshofrat und kaiserliche Kommissionen in der Regierungszeit Kaiser Ferdinands III. (1637–1657), in: Wolfgang Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, Köln/ Weimar/Wien 1999 (QFhGAR; 34), S. 47–81, hier S. 78–81. Vgl. Ruppert, Politik, S. 362. Vgl. auch Auer, Ziele, S. 172 f. Ortlieb, Auftrag, S. 64. Aretin, Reich I, S. 63, 160.
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oberhauptes als ausgleichende Größe ins Reich zurückzuführen, schaffte Ferdinand III. die defensive, gleichsam die realen Verhältnisse im Reich beachtende Basis für kommende Kaiser. Anton Schindling drückt dies wie folgt aus: „Der reichsrechtliche Spielraum [. . . ] eröffnete dem Kaiser die Wege zur Rückkehr in das Reich. Und die habsburgischen Kaiser der Barockzeit [. . . ] haben diese Chance auch konsequent ausgenützt. Zunächst gab es eine Phase des Zauderns und des Abtastens der Kräfteverhältnisse im Reich. Unmittelbar nach Abschluß des Westfälischen Friedens war das Kaisertum ja auf einen Tiefpunkt seines Ansehens abgesunken.“171
Der stärker als sein Vater auf Ausgleich bedachte Ferdinand III. musste als ,Geburtshelfer‘ dieser Rückkehr das Machbare im Auge behalten, aber zugleich darauf bedacht sein, dass der RHR als Instrument der Betonung kaiserlicher Prärogativen im Reich zu einem Repräsentanten der Reichseinheit wurde und das bedeutete die unbedingte Friedenswahrung mit Hilfe des RHR als allseits anerkanntem Mediator im Reich auf der Grundlage des Westfälischen Friedens. Ferdinands III. unbedingter Wille zum Frieden bildete die Grundlage für die offensive Rückkehr des Kaisers in das Reich, dessen Realisierung Leopold I. oblag.172
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Vgl. Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und der Reichstag, in: Hermann Weber (Hg.), Politische Ordnung und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches; 8/2), S. 113–153, hier S. 146–150, Zitat S. 146. Siehe hierzu Christoph Kampmann, Reichstag und Reichskriegserklärung im Zeitalter Ludwigs XIV., in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 40–59, hier S. 59. Vgl. auch Eder, Ferdinand III., S. 86. Ortlieb/Polster, Prozessfrequenz, S. 203. Aretin, Reich I, S. 22, 155, 160. Sellert, Gewalt, S. 49 f. Klueting, Reich, S. 52.
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Die Integrationskraft des Streits – Buchaus Juden vor dem Reichshofrat Die Kommandanten der württembergischen Kreistruppen rechneten mit Widerstand, als sie zu Beginn des Jahres 1749 in die Reichsstadt Buchau einrückten. Zuvor hatten Berichte aus der Stadt Anlass zur Sorge gegeben. Angeblich habe man den Rat als Geisel genommen und drohe ihn im Falle einer Erstürmung Buchaus zu ermorden. Auch war von einer Bürgerwehr die Rede, die jedem Angriff trotzen werde.1 Als die erdrückende militärische Übermacht des Reichskreises vor den Toren der Stadt erschienen war, zeigten sich die Bürger jedoch überraschend zuvorkommend.2 Ein weiteres Mal wurde Johann Jakob Mosers Diktum bestätigt, demzufolge reichsstädtische Oppositionsbewegungen, die vom rechtsförmigen Konfliktaustrag abwichen, keine Aussicht auf Erfolg hatten, darüber hinaus sogar damit rechnen mussten, einen hohen Preis zu bezahlen.3 Als die kaiserlichen Subdelegierten die Stadt schließlich einige Monate später wieder verließen, hatten die Kosten der militärischen Exekution, die Rechnungen von Advokaten und Reichshofratsagenten sowie die Bußgelder der verurteilten Rädelsführer und Oppositionsangehörigen Buchau in einen Schuldensumpf gestürzt. Nur eine Gruppe innerhalb der Stadt schien von der Situation zu profitieren – die jüdischen Einwohner. Die um ihre Landeshoheit fürchtende Reichsstadt war nunmehr stärker als je zuvor auf diese Gruppe angewiesen. In den nächsten fünf Jahrzehnten wurde daher aus einer Minderheit ein (auch zahlenmäßig) mächtiger innerstädtischer Akteur, der in wachsendem Maße in politische und ökonomische Interaktionsprozesse innerhalb der Stadt integriert war. Im Folgenden wird auf Ursachen und Konsequenzen dieser Entwicklung unter den besonderen Strukturbedingungen eines extrem kleinen reichsunmittelbaren Standes eingegangen.4 Buchau am Federsee war eine der kleinsten Reichsstädte und vereinigte in ihren Mauern wie in einem Brennpunkt die Strukturprobleme des urbanen 1 2 3 4
Eine Sammlung angeblicher Äußerungen und Rechtsverstöße von Seiten der Bürgerschaft: StadtA Buchau 2, 1. StadtA Buchau 2, 16, 1 ff. Einen kurzen Überblick der Ereignisse gibt: Hans Garbelmann, Als die Biberacher den Buchauern zu Hilfe eilten, in: Zeit und Heimat 3 (1973). Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht, Frankfurt a. M. und Leipzig 1750, 41. Theil, S. 213. Das Verhältnis zwischen der bankrotten Obrigkeit und der jüdischen Minderheit in der Reichsstadt Buchau war daher – ungeachtet der territorialen Nachbarschaft – von anderen Rahmenbedingungen geprägt als jene in der von Sabine Ullmann untersuchten Markgrafschaft Burgau: Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650–1750, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 151), S. 66–112.
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Lebens unter dem Reichsadler. Etwa 120 Familien lebten vornehmlich von Ackerbau und kleineren Handwerksarbeiten.5 Zwar war eine asymmetrische Verteilung des sozialen, ökonomischen und symbolischen Kapitals zwischen ihnen unverkennbar, von einer städtischen Elitenkultur konnte jedoch kaum die Rede sein.6 Einer der beiden Bürgermeister Buchaus, so stellten die Kommissare später missfällig fest, sei ein Schneider und der andere ein alter Soldat, dessen einziges Verdienst darin bestünde, dass er an der Eroberung Ofens durch kaiserliche Truppen beteiligt gewesen sei.7 Die kleine Zahl der am Regiment beteiligten Familien verfügte kaum über die Möglichkeiten, ihren privilegierten Ressourcenzugang durch Systeme des Ressourcenausgleichs zu legitimieren und zu perpetuieren.8 Auch Zwangsmittel standen ihnen aufgrund der schmalen finanziellen Ausstattung der Obrigkeit nicht zur Verfügung – das städtische Militär bestand aus zwei Soldaten.9 Die Bürger reagierten auf diese Rahmenbedingungen mit einer permanenten Steuerverweigerung, die das Gemeinwesen in finanzielle Turbulenzen führte. Vor allem die Abführung der Kreis- und Reichsabgaben wurde zu einem drückenden Problem.10 Um es zu lösen, griffen die Räte zunehmend zur Möglichkeit der Kreditaufnahme bei einflussreichen Nachbarständen und Angehörigen des Ratsregiments. Abgesehen davon, dass die Bonität Buchaus stetig abnahm, wuchs auf diese Weise die Zinslast des Reichsstandes beständig an. Mitte des 18. Jahrhunderts überstiegen die Passiva die Activa um nahezu das Dreifache. Politische Handlungsspielräume wurden in Anbetracht dieser Lage immer enger. Nur mühsam und mit massiver Unterstützung der Reichsstadt Biberach konnten etwa die beständigen Versuche des kaiserlichen Landgerichts zu Ravensburg abgewehrt werden, sich als Appellationsinstanz 5
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Vgl. u. a. das Mandatum Procuratorum, das Namen und Berufsbezeichnungen der Kläger enthält: StadtA Buchau 2, 10. Sowie die Verhörprotokolle der Bürgerschaft: StadtA Buchau 2, 2. Kommissare sprechen von Bürgerdemonstrationen, die um die 400 Teilnehmer hatten: StadtA Buchau 2, 16, 6. StadtA Buchau 2, 32. Gegendarstellung von Seiten Bürgermeister Bohners: StadtA Buchau 4, 9. Eine Aussage zu den Ver-mögensverhältnissen der Bürgerschaft: StadtA Buchau 2, 2, Interr. 64. Zur Bedeutung der symbolischen Kapitalakkumulation und der Fähigkeit Herrschaft auf einem agonalen Feld zeremoniell zu repräsentieren auch für den Statuserhalt gegenüber den Bürgern: André Krischer, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). Techniken trotz mangelnder Zwangsmaßnahmen eine Berechenbarkeit von Entscheidungsabläufen zu gewährleisten: Rudolf Schlögl (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004 (Historische Kulturwissenschaft; 5). StadtA Buchau 2, 16, 27. Zu den schärfsten Drohungen der Bürger gegenüber dem Rat gehörte die Ankündigung, man werde die Senatoren von der Verteilung der Holzdeputate ausschließen. StadtA Buchau 1, 1. Zu dieser Problematik ausführlich: Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Schwäbisch-Hall und Mühlhausen in der Frühen Neuzeit, Bern 1999 (Freiburger Studien zur frühen Neuzeit; 4), S. 11–47. StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 7. StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 37–38.
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für Entscheidungen des städtischen Rates zu etablieren.11 Auch hinsichtlich der Interessenvertretung gegenüber dem Reich, dem unmittelbar an die Stadt angrenzenden Stift Buchau oder dem mächtigen kreisausschreibenden Reichsstand Württemberg war man auf diese Hilfe angewiesen. Buchau, so klagten die Bürger, gerate in immer stärkere Abhängigkeit von der Nachbarstadt.12 Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern und die finanzielle Situation der Stadt zu verbessern, hatten die Senatoren Ende des 16. Jahrhunderts begonnen, Juden in der Stadt aufzunehmen. Ob bereits vor 1577 – jenem Jahr, in dem sie erstmals in einem Vertrag mit dem Damenstift Buchau erwähnt wurden – eine kleine jüdische Gemeinde bestanden hatte, ist unklar.13 Unstrittig ist indes, dass sie von diesem Zeitpunkt an beständig wuchs. Mit jeder, meist kriegsbedingten neuen Zahlungskrise kamen weitere jüdische Familien ins Land, die durch ihre Aufnahmegelder und Schutzsteuern den städtischen Fiskus erheblich entlasteten. Mehr noch, die zumeist als Händler, vor allem als Pferdehändler, im Vorösterreichischen tätigen Immigranten wurden für die bäuerliche und handwerkliche Produktion der Bürger zu einem wichtigen Nachfragefaktor.14 Juden kurbelten die Wirtschaft an und halfen die finanzielle Situation des Stadtsäckels zumindest zu mildern.15 Von Seiten der Bürgerschaft wurde der jüdische Zuzug dennoch mit Misstrauen verfolgt. Als es 1748 zur Konfrontation zwischen Rat und Opposition kam, stand die Forderung nach einer Einwanderungsbegrenzung – nicht etwa einer Vertreibung der Gemeinde – zunächst ganz oben auf der Liste der Forderungen an die Obrigkeit.16 Anders als etwa in den protestantischen Reichsstädten Frankfurt am Main oder Mühlhausen in Thüringen, in denen neue ökonomische Interessensgegensätze, aber auch intraprotestantische, theologische Rivalitäten dem christlich-jüdischen Antagonismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts neue Schärfe verliehen hatten,17 traten Beschwerden 11 12
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StadtA Buchau 2, 16, 3. StadtA Buchau 89. Zur Interessenvertretung der Reichsstädte und deren sinkenden fiskalischen Spielräume: Georg Schmidt, Die Städte auf dem frühneuzeitlichen Reichstag, in: Bernhard Kirchgässnerk/Hans-Peter Becht (Hgg.), Vom Städtebund zum Zweckverband, Sigmaringen 1994 (Südwestdeutscher Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung; 30), S. 29–44. Allgemein: J. Friedrich Battenberg, Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium, in: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana; 2), S. 53–80. Charlotte Mayenberger, Juden in Buchau, Bad Buchau 2008 (Geschichte und Kultur/Landkreis Biberach; 8). Johann Daniel Georg von Memminger (Hg.), Beschreibung des Oberamts Riedlingen, Stuttgart 1827. Theodor Selig, Die ältesten Juden in Buchau, in: Riedlinger Zeitung 1929, Nr. 224, 226, 238, 242, 249, 250. Karl Heinz Burmeister, Der Jüdische Pferdehandel in Hohenems und Sulz im 17. und 18. Jahr¬hundert, Wiesbaden 1989 (Veröffentlichungen der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; 3). Dazu die Argumentation des Rates: StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 8. StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 6. Gerald L. Soliday, A Community in Conflict. Frankfurt Society in the 17th and early 18th Centuries, Hanover NH 1974. Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt (1150–
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gegen die jüdische Minderheit im katholischen Buchau allerdings rasch in den Hintergrund.18 Aussagen, wie jene der Mühlhäuser Bürgerschaft aus dem Jahre 1719, die den Kaiser aufforderte, er möge dem Beispiel des Kaisers Vespasian folgen und eine Million dieser nutzlosen, von Geburt an mit einem Hass gegen die Christen versehenen menschlichen Blutegel töten, sucht man hier vergeblich.19 Die Juden waren in den Augen der Buchauer offenbar nicht das Hauptproblem der Stadt.20 Ihre wachsende Zahl versinnbildlichte lediglich die Politik einer Obrigkeit, die als ungeordnet, ja, unnatürlich gebrandmarkt wurde. Bürgermeister und Räte Buchaus, so unterrichteten die Führer der Bürgeropposition auswärtige Vermittler und kaiserliche Subdelegierte, benähmen sich wie Tyrannen.21 Sie hätten die Stadt heruntergewirtschaftet und sich nach Belieben am städtischen Vermögen bereichert. Wenn sie sich nicht gerade betränken oder weiteren Juden Siedlungsplätze anböten, nähmen sie Befehle von ihren Frauen entgegen.22 Wer Ohren habe zu hören, der wisse doch, dass die eigentliche Herrin der Stadt niemand anderes als die Bürgermeisterin Bohner sei.23 Das Bild eines den Juden freundlich gesonnenen, korrupten Weiberregiments, das hier gezeichnet wurde, erfüllte wie bei ähnlichen Oppositionsbewegungen innerhalb und außerhalb des Reiches (an dieser Stelle sei nur auf Basel verwiesen) eine legitimierende und mobilisierende Funktion.24
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1824), Bd. 1, Frankfurt am Main 1925. Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in der Reichsstädten Schwäbisch-Hall und Mühlhausen in der Frühen Neuzeit, Bern 1999, S. 264 ff. Theodor Wotschke, Georg Christian Eilmars Kampf für die Orthodoxie, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 27 (1926/27) S. 93–117. Ders., Mühlhäuser Superintendentenbriefe, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 25/26 (1924/25), S. 241–281. Der Rat selbst spricht von einer höchst erfolgreichen illegalen Kooperation zwischen Bürger- und Judenschaft beim Holzhandel; StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 25. StadtA Mühlhausen, S 30/41b, 127r–142r. Im Gegensatz zu protestantischen Reichsstädten wurde die Anwesenheit von Juden nicht als Angriff auf die eigene Ehrbarkeit wahrgenommen. Auf die Problematik der Gefahr der Ehrverletzung geht ein: Sabine Ullmann, Kontakte und Konflikte zwischen Landjuden und Christen in Schwaben während des 17. und zu Anfang des 18. Jahr¬hunderts, in: Sibylle Backmann/Hans-Jörg Künast/B. Anne Tlusty/Sabine Ullmann (Hgg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998 (Colloquia Augustana; 8), S. 288–315. StadtA Buchau 1, 28. Als Konsequenz widerriefen sie ihren Treueeid auf den Rat: StadtA Buchau 2, 16, 10. Besonders deutlich in: StadtA Buchau 2, 32. StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 19 ff., StadtA Buchau 1, 18 StadtA Buchau 3, 48– 49. „Und die Weiber und in specie die Bürgermeisterin Bohnerin führe das Regiment, und lasse sich ohne Scheu verlauten, wie dieses oder jenes geschehen müsse oder werde“ (StadtA Buchau 1, 28). Dazu die Darstellung Bohners: StadtA Buchau 4, 9. Zum Fall Basel: Susanna Burghartz, 1691 – ein Ende mit Schrecken, in Esther Baur Sarasin u. a. (Hgg.), Bildgeschichten. Aus der Bildersammlung des Staatsarchivs Basel-Stadt, 1899– 1999, Basel 1999, S. 103–105. Dies., Frauen – Politik – Weiberregiment. Schlagworte zur Bewältigung der politischen Krise von 1691 in Basel, in: Anne-Lise Head-König/ Albert König (Hgg.), Frauen in der Stadt, Zürich 1993 (Schweizerische Gesellschaft für
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Der Rat erschien als Vertreter des Urbösen, als Wolf im Schafspelz, als eine diabolische Einheit, der nicht zu trauen war.25 Vermeintliche oder tatsächliche Bedrohungen individueller und kollektiver Besitzstände wurden damit pauschal seinem Wirken zugeordnet. Ob es um verlorene Rechtsstreitigkeiten, abgeholzte Wälder oder die verkürzten Öffnungszeiten der Wirtshäuser ging – schuld war in jedem Falle die Heimtücke der Senatoren. Die, so teilte man einem Vertreter des Kreises mit, drohten durch ihre Schuldenpolitik und ihre undurchsichtigen Kooperationen mit Biberach zudem die Zukunft der Stadt zu verspielen.26 Unzufriedenheit, Furcht und eine nebulöse Angst vor dem Kommenden, dem unvermeidlichen Abstieg, aber auch dem Sittenverfall und der daraus folgenden Gottesferne wurden in den von 1748 an vorgetragenen Protestschriften kunstvoll zu einem Feindbild verschmolzen, das die fragmentierte Bürgerschaft zu einer Kampfgemeinschaft vereinen sollte.27 Deren einziges konkretes Ziel bestand im Wechsel des Ratsregiments.28 So war es auch kaum verwunderlich, dass an der Spitze der Bewegung zwei ehemalige Bürgermeister der Stadt standen, die bei einer der jährlichen, am Martinstag vollzogenen Neubesetzungen des Senats übergangen worden waren.29 Ein in ihren Augen ungeheuerlicher Vorgang, der zu korrigieren sei. Juristischen Rat hatte man sich bei einem Procurator aus dem Umland sowie dem Bürgermeister von Biberach Sättlin geholt.30 Gleich ob die Bürger in den Gesprächen mit ihren Rechtsberatern nur das gehört hatten, was sie hören wollten, oder ob sie bewusst getäuscht worden waren, in jedem Falle waren sie zu einer fatalen Fehleinschätzung ihrer juristischen Handlungsspielräume und den zu erwartenden Reaktionen seitens des Reiches gelangt.31 Der Reichshofrat, so waren die Führer der Opposition überzeugt, habe gegen Veränderun-
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Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 11), S. 113–134. Vgl. auch mit ausführlichen Literaturangaben: Thomas Lau, „Stiefbrüder“. Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656–1712), Köln 2008, S. 341 ff. Gegenvorwürfe des Rates, der seine segensreichen Policeymandate mit dem Ungehorsam der Bürger kontrastierte: StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 27. Sie seien durch puren Eigennutz getrieben: StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 36. StadtA Buchau 3, 1, 7. Gert Sommer, Zur Psychologie von Feindbildern, in: Hartmut Voit (Hg.), Geschichte ohne Feindbild?, Erlangen 1992 (Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften; 61), S. 13–31. Christian Geulen (Hg.), Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002. Zur Konstruktion des absoluten Feindes konzeptionell interessant: Bernhard H. F. Taureck, Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung. Eine Streitschrift, Hamburg 2006. Der sich zunächst im Kampf gegen den Stadtschreiber, später gegen Bürgermeister Bohner manifestierte: StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 10–11. Anspielung darauf: StadtA Buchau 1, 18, StadtA Buchau 3, 19. Vgl. auch: StadtA Buchau 1, 28, Beylage A. Sowie vor allem: StadtA Buchau 2, 16, 34. StadtA Buchau 1, 11. Zur Eskalation des Konfliktes aus Sicht des Rates: StadtA Buchau 1, 19. Reaktion des Kreises: StadtA Buchau 1, 22. Zur Funktion der Anwälte: Thomas Lau, Der Rechtsanwalt und das juristische Argument, in: Albrecht Cordes (Hg.), Juristische Argumentation – Argumentation der Juristen, Wien 2006 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 49), S. 75–96.
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gen in der Ratswahl und der stärkeren Beteiligung der Bürger am Regiment nichts einzuwenden. Gegenüber dem staunenden Vertreter des schwäbischen Kreises, der nach einem Hilferuf des Rates in der Stadt erschienen war, verwies man auf das Beispiel der Stadt Frankfurt.32 Einer Intervention des Kreises werde man im Übrigen erbitterten Widerstand leisten, denn weder der Erzbischof von Konstanz noch der Herzog von Württemberg, sondern einzig der Kaiser sei Herr der Reichsstadt Buchau. Hinweise darauf, dass jeder Angriff auf den Rat als Bruch des Landfriedens – für dessen Schutz der Kreis sehr wohl zuständig sei – gewertet werde, wies man zurück.33 Der Rat wurde vor den Augen des Kreisvertreters zunächst gedemütigt, dann bedroht und schließlich zum Rücktritt gezwungen. Gegenüber dem Reichshofrat rechtfertigte man sich mit dem Hinweis, die Obrigkeit habe ihr Amt freiwillig abgetreten und den Bürgern daher keine andere Wahl gelassen, als die Neubesetzung selbstständig vorzunehmen.34 Alle vorangegangenen Proteste seien im Übrigen Akte der Notwehr gewesen, da man nur durch schnelles Handeln den Untergang des Gemeinen Wesens habe verhindern können.35 Wien zeigte sich von dergleichen Argumenten kaum beeindruckt. Noch bevor der Kreis selbstständig handeln konnte, wurde eine Exekutionskommission damit beauftragt, den Rat wieder in seine Ämter einzusetzen und den Aufruhr in der Stadt zu beenden. Darüber hinaus sollten die kaiserlichen Subdelegierten Vorschläge für eine Reform des Gemeinwesens erarbeiten und damit die Ursachen der innerstädtischen Antagonismen beseitigen.36 Letztere Aufgabe erwies sich als ausgesprochen schwierig.37 Keine der gängigen Lösungsformeln griff.38 In Anbetracht der geringen Größe der Stadt war weder die Einrichtung eines permanenten Bürgerausschusses (wie in Frankfurt) noch die Verwaltung der Stadt durch akademisch gebildete Fachleute (wie in Augsburg) zu bewerkstelligen.39 Stattdessen versuchte man, einen Kompromiss zwischen den Streitparteien hinsichtlich der schwelenden Finanzprobleme der Stadt – die durch die Kreisexekution noch deutlich an 32
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Bericht der Biberacher Kommission, die im Auftrag des Kreises in der Stadt agierte: StadtA Buchau 1, 28. Der Advokat der Bürgerschaft Sättelin hatte das Frankfurter Verfahren der Rechnungsprüfung als wegweisend für Buchau ins Feld geführt: StadtA Buchau 2, 2, Interrog. 39 & 40. Vgl. zum Parallelfall Mühlhausen: StadtA Mühlhausen, Gegen J, No. 22, 46r. StadtA Buchau 2, 16, 19 ff. StadtA Buchau 1, 31. (Mit Verbesserungen und Streichungen versehener Bericht der Biberacher Kommission). Dazu: StadtA Buchau 4, 1. StadtA Buchau 2, 16, 42 ff. Zur Leitlinie der Reichshofrates: NHStA, Hann 9 h, Nr. 160, 60r. Vgl. auch: Paul Hohenemser, Der Frankfurter Verfassungsstreit 1705–1732 und die kaiserlichen Kommissionen, Frankfurt am Main 1920 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt am Main; 8). Ingrid Batori, Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert. Verfassung, Finanzen und Reformversuche, Göttingen 1969 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 22). StadtA Buchau 5, 1.
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Brisanz gewonnen hatten – herbeizuführen.40 Als Lockmittel gegenüber der Bürgerschaft diente das Versprechen, sich für einen weitgehenden Erlass der ruinösen Bußgelder einzusetzen, die der Reichshofrat gegen die Angehörigen der Opposition verhängt hatte.41 Der so erzeugte Druck führte tatsächlich zum Erfolg. Man einigte sich auf erhöhte Zölle, pünktliche Steuerzahlungen, vor allem aber auf die Aufnahme weiterer jüdischer Familien. Neun Söhne und Töchter von Buchauer Juden sollten eine Heiratserlaubnis und – gegen großzügige Gebühr – die Möglichkeit erhalten, sich in der Stadt niederzulassen.42 Darüber hinaus versprach man der jüdischen Gemeinde, dem Bau einer seit langem geplanten Synagoge zuzustimmen.43 Angesichts der kostspieligen Alternativen zu diesem Projekt und der mangelnden wirtschaftlichen Antagonismen zwischen Bürgern und jüdischen Einwohnern erlahmte der Widerstand der Opposition rasch.44 In den folgenden 40 Jahren stieg die Zahl der jüdischen Familien auf über 45 an. Über ein Drittel aller Einwohner Buchaus waren in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts Juden, weit über die Hälfte der städtischen Einkünfte wurde von ihnen bestritten und das Wirtschaftsleben war wesentlich von ihren Viehhändlern bestimmt. Trotz aller Impulse, die von der gestärkten jüdischen Gemeinde ausgingen, ergaben sich aus der wirtschaftlichen, zahlenmäßigen und kulturellen Stärke der jüdischen Gemeinde, die sich nicht zuletzt in der Anstellung eines Rabbiners und der Bildung einer Selbstverwaltungskörperschaft niederschlug, auch neue Probleme. Aus einer Randgruppe war – wie die Bürger bereits 1748 befürchtet hatten – ein Machtfaktor geworden, der nicht mehr länger ignoriert werden konnte. Ein erstes Beispiel für das neue – keineswegs spannungsfreie – Verhältnis zwischen den Bürgern und jüdischen Einwohnern war bereits 1751 zu beobachten. Entgegen ihren Erwartungen betrafen die Zollerhöhungen, die der Rat im Rahmen einer neuen Ökonomieordnung beschlossen hatte, auch die jüdischen Einwohner. Angesichts der städtischen Schuldenlast (die sich durch die Übernahme der Bußgeldforderungen durch den Stadtsäckel noch weiter gesteigert hatte) sei deren bisherige Privilegierung – so hieß es – nicht mehr aufrecht zu erhalten.45 Mit einem Male saßen Bürger und Juden in einem Boot und begannen gemeinsam zu agieren. Eine solche neue Belastung, so 40 41 42 43 44
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StadtA Buchau 3, 7. StadtA Buchau 3, 5. Verhandlungen mit der Judenschaft: StadtA Buchau 5, 33. StadtA Buchau 3, 1. StadtA Buchau 4, 10. Eine entsprechende Protestschrift aus dem Jahre 1751 war weniger gegen den Zuzug der Juden gerichtet als vielmehr auf eine Neuverteilung der Prozesskosten und Bußgelder innerhalb der Bürgerschaft. Auch in diesem Falle war das Reden über die jüdische Minderheit ein Reden über die richtige Ordnung innerhalb der Bürgergemeinschaft: StadtA Buchau 5, 26. Vgl.: Günter Wagner, Dinkelsbühl contra Dinkelsbühl. Innere reichsstädtische Konflikte zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Reichsdeputationshauptschluß, in: Rainer J. Müller (Hg.), Reichsstädte in Franken. Aufsätze 1, Verfassung und Verwaltung, München 1987 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur; 14–15), S. 328–337.
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hieß es in der Stellungnahme einer nicht näher spezifizierten jüdischen Deputation, könne die Judenschaft ebenso wenig tragen wie die Bürgerschaft. Werde sie nicht zurückgenommen, so könne man „allhier nimmer stehen oder hausen“, sondern müsse „gänzlich mit ihren Bürgern zu grundt gehen, wo nicht gar etliche den orth vollkommen quittieren und anderwärths Hilf und Underkommen suchen müssen“. Gemeinsam mit der christlichen Bürgerschaft bitte man daher darum, die neuen Zölle abzuschaffen.46 An einer dazu notwendigen juristischen Intervention in Wien werde man sich selbstverständlich beteiligen. Die Drohung mit einem Auszug der Juden – eine Vorstellung, die mittlerweile offenbar auch die Bürgerschaft in Angst und Schrecken versetzte – tat ihre Wirkung.47 Der Rat lenkte ein und versprach, sich im Sinne der Petenten beim Reichshofrat zu verwenden.48 Die jüdische Gemeinde, das zeigte sich an dieser Stelle, war durchaus in der Lage, eigene Interessen zu formulieren und sie in Kooperation mit Teilen der Bürgerschaft durchzusetzen. Für den Rat mochte diese Erkenntnis durchaus beunruhigend sein. Aus zahlenden Gästen waren mächtige Akteure auf der wirtschaftlichen und indirekt auch auf der soziopolitischen Bühne der Stadt geworden – Akteure, die sich der Einflussnahme und der Kontrolle durch den Rat weitgehend entzogen. Dies, so beschloss man, müsse sich ändern. Mit dem Jahr 1765 wurde eine neue Judenordnung erlassen, in der die Autonomierechte der jüdischen Gemeinde eingeschränkt wurden.49 Neben einer intensiveren Kontrolle bei der Wahl der Vorsteher war die Obrigkeit darum bemüht, ihre Position als oberstes städtisches Gericht in straf- und zivilrechtlichen Fragen auch gegenüber der Judenschaft durchzusetzen.50 Klagen von Juden gegen Juden wegen zivilrechtlicher Streitigkeiten vor dem städtischen Gericht hatte es in Buchau schon zuvor gegeben.51 Sie waren jedoch eine Ausnahme gewesen.52 Erst Mitte der 80er Jahre sollte sich dies ändern. Nahezu zeitgleich wurden vor dem Rat zwei – auf den ersten Blick eher belanglose – Fälle verhandelt, 46 47
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Zu aufgelaufenen Kosten und Versuchen, diese zu decken, vgl. auch: StadtA Buchau 6, 5. Die Drohung mit dem Auszug der nicht verbürgerten Bevölkerungsgruppen gehörte zum symbolischen Repertoire innerer Auseinandersetzungen in den Reichsstädten: HHStA Wien, RHR, Obere Registratur, K. 832/7, Nürnberg, Stadt, 1727, den von denen Metzgersknechten erregten Aufstand betr. StadtA Buchau 5, 36. Eine klassische Darstellung zum Thema: Louis Finkelstein, Jewish Self-Government in the Middle Ages, New York 1924. HHStA Wien, RHR, Decisa, K. 1067 (alt B 241), AB I/1 (alt AB 48) Bd. 3/Buchau 37, Beylage 1. Artikel Vornach sich die schutzverwandte Judenschafft zu achten hat (23. Mai 1765): „Sollen sich die Schutzverwandten Juden insgesamt und ein Jeder insbesondere nicht unterfangen, einig unter Ihnen alleinfahls beschehend verbottenend Frevel, Contract Streit und Unhändel eigenmächitg und ohne vorwissen des Löbl. Bürgermeister Amts auszumachen, zu vergleichen oder gar zu bestraffen, nicht weniger der gleichen unerlaubte Vertusch- und Verfeelungen, Betrügereiyen unter was vor Praetext solche immer seyn mögen, unter sich selbst nicht vor nehmen, sondern all der gleichen vorfallenheiten bey ihrer vorgesetzten Schutzobrigkeit fürzubringen“. StadtA Buchau 160. Vgl. hingegen für die 90er Jahre: StadtA Buchau 127, StadtA Buchau 129.
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die rasch weite Kreise ziehen sollten. An beiden Rechtsstreitigkeiten war eine führende Familie innerhalb der Buchauer Gemeinde maßgeblich beteiligt – die Einsteins, uns heute bekannt vor allem durch ihren illustren Nachfahren.53 Einer von ihnen, Hirschel Einstein, hatte 1785 seinen Sohn Leopold (die Einstein neigten zu einer Namenswahl, die ihre Integrationsbereitschaft in ein nichtjüdisches Umfeld signalisierte) mit der Abwicklung eines Pferdehandels in Riedlingen betraut. Das Geschäft scheiterte indes am Misstrauen des Käufers. Dieser, ein vorderösterreichischer Untervogt, berichtete von Warnungen eines jüdischen Glaubensgenossen namens Bernhard Moses hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit des Einsteinschen Handelsgebarens. Einstein verklagte nun Moses in einer Injurienklage auf Schadensersatz und forderte ein Einreiseverbot für den Rivalen.54 Der nun beginnende Prozess wurde, obwohl der Rat dem Beschwerdeführer rasch recht gab, geradezu zu einer unendlichen Geschichte, in deren Verlauf die Prozesskosten den Streitgegenstand um ein Vielfaches überstiegen. Neben der Buchauer Obrigkeit wurde noch das Stift Buchau und das kaiserliche Landgericht in die Affäre hineingezogen.55 Hier – so konnte dem aufmerksamen Beobachter kaum entgehen – ging es offenbar um mehr als die geschädigte Ehre eines Geschäftsmannes. Hier ging es um einen erbitterten Fraktionskampf innerhalb der Judenschaft, der nach den Vorstellungen Einsteins nur mit der Ausweisung Moses enden konnte. Dies waren Brüche, die dem Rat zweifellos neue Handlungsoptionen eröffneten. Gleichwohl hatte der Prozess auch die Risiken einer interventionistischen Politik gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil deutlich werden lassen. Die Senatoren bewegten sich bei innerjüdischen Prozessen in einem Bereich, dessen Interessenlagen und ungeschriebene Regeln ihnen weitgehend unbekannt waren. Die ökonomischen, die sozialen und politischen Verflechtungen zwischen den Ratsfamilien und den jüdischen Viehhändlern waren hinreichend ausgeprägt, um einen Informationsfluss zu ermöglichen. Brüche innerhalb der jüdischen Gemeinde allein reichten nicht aus, um dieses Defizit zu überwinden. Dies galt umso mehr als es der Rat mit Akteuren zu tun, die auch auf Konkurrenzfeldern jenseits der städtischen zu agieren pflegten. Die Gefahren einer Fehlsteuerung im Konfliktmanagement waren hier geradezu mit Händen zu greifen.56 Wie groß diese waren, sollte sich in einem zeitgleich beginnenden Verfahren zeigen, das personell und sachlich mit der besagten Injurienklage
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Vgl. auch: StadtA Buchau 60. Für Hinweise und Korrekturen bei der Analyse dieses Rechtsstreites danke ich Frau Ursina Rathgeb. StadtA Buchau 169. Zur engen Verflechtung christlicher und jüdischer Rechtsprechung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung unterschiedlicher Rechtskulturen: Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit, Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 32).
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verknüpft war.57 Am 24. Juli 1784 stellte die jüdische Gemeinde den Antrag, einen Ausschuss bilden zu dürfen, der ihre Belange gegenüber Meyer Kuhn vertrat – einem Juden, der einen Bauplatz nahe der Synagoge gekauft hatte. Gegen dessen Vorhaben, ein Haus an dieser Stelle zu errichten, trug man schwerwiegende Bedenken und bat darum, diese dem Rat vortragen zu dürfen. Dem Antrag wurde statt gegeben. Es kam zu einer Baubegehung, in deren Verlauf man sich – wenn man dem Ratsprotokoll Glauben schenken darf – auf eine einvernehmliche Lösung einigte. Doch bereits wenige Tage später erschien ein Notar an der Baustelle und untersagte jeden weiteren Erdaushub. Die zehn Ausschussmitglieder hatten Klage vor dem kaiserlichen Landgericht zu Ravensburg erhoben – ein Gremium dessen Gerichtshoheit vom Rat massiv angezweifelt wurde. Als Begründung hatte man den vom Rabbi als zu gering bemängelten Abstand zwischen dem Neubau und der Synagoge angegeben, ein Einwand, auf den der Rat angeblich nicht reagiert habe. Der wiederum erhob Gegenklage beim Reichshofrat: Weder sei die Judenschaft berechtigt, ihre Obrigkeit in Ravensburg zu verklagen, noch besitze das Landgericht die Kompetenz, den Fall zu verhandeln. Wien stimmte dieser Position zu. Mittlerweile hatten sich die Fronten in Buchau allerdings in bemerkenswerter Weise verschoben. Der Streit zwischen der jüdischen Gemeinde und Kuhn war durch die Vermittlung des Rabbiners und nicht etwa des Rates beigelegt worden; man hatte sich auf einen Grundstückstausch geeinigt. Gleichzeitig hatten die zehn Ausschussmitglieder begonnen, politische Forderungen an den Rat zu stellen: So verlangte man eine Stärkung der Gemeindeautonomie, die Achtung der jüdischen Rechtsprechung in Eheangelegenheiten, eine klare und verbindliche Begrenzung der Aufnahme- und Schutzgeldzahlungen – und die Zulassung einer Revisionsklage des Bernhard Moses. Der Rat gab nach – die Judenordnung von 1765 wurde in wesentlichen Punkten korrigiert und auch ein Revisionsverfahren in der Causa „Einstein“, die für den Rat bedrohliche Ausmaße anzunehmen drohte, vor dem Rat der Stadt Biberach zugelassen.58 Der eigentliche Streit zwischen Rat und Judenschaft hatte damit jedoch gerade erst begonnen. Stein des Anstoßes war die Belastung der jüdischen Gemeinde durch Abgaben, die deutlich höher lagen als jene, die 1785 vom Rat zugesagt worden waren. 1793 entschloss man sich zur Klage, dieses Mal direkt vor dem Reichshofrat.59 Der jüdische Ausschuss, dem nun auch 57 58
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Zum Folgenden die umfangreichen Prozessprotokolle des Reichshofrats: HHStA Wien, RHR, Obere Registratur, K. 150/6 (alt B 1), AB I/1 (alt AB 48) Bd. 3 Buchau 36. HHStA Wien, RHR, Decisa, K. 1067 (alt B 241), AB I/1 (alt AB 48) Bd. 3/Buchau 37, Beylage 2. Verordnung von 1785: „Hat man sich ab Seiten des Magistrats in die Jüdische Ceremonien, Religions- und Kirchen Sachen niemals gemischt und überlässt solche auch für die zukunft der Anordnung der Judenschaft selbsten, was aber die Klage betrifft, so ein Jud gegen den andern enthebt, so hat es bey denen der Judenschaft bereits untern 23ten May 1765 zu ihrer schuldigsten Nachahmung zugestellt gewordenen Artikeln 4 und 10 derohalben auch in Zukunft sein Bewenden.“ HHStA Wien, RHR, Decisa, K. 1067 (alt B 241), AB I/1 (alt AB 48) Bd. 3/Buchau 37, Klageschrift.
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Leopold Einstein angehörte, forderte Rechtssicherheit und warf dem Rat vor, seine Policeyhoheit zu missbrauchen: Die in den letzten Jahren vorgenommenen Steuererhöhungen seien unverhältnismäßig hoch, ja ruinös. Sie seien sachlich nicht zu begründen und völlig willkürlich erhoben worden. Die Judenschaft sei nicht die Melkkuh des Rates, die für Kosten (vornehmlich jene der Kreisexekution) aufkommen müsse, mit denen sie nichts zu tun habe. Ein Einigungsvorschlag der jüdischen Gemeinde aus demselben Jahr wiederholte diese Forderungen, fügte jedoch weitere hinzu. Der Rat, so hieß es dort, möge alle bestehenden Zuzugsbeschränkungen fallen lassen und die Rechtsautonomie der Judenschaft anerkennen.60 Es zeigte sich, dass die Versuche des Rates, Einfluss auf innerjüdische Streitigkeiten zu nehmen, gescheitert waren. Jene, gegen die der Rat sich gestellt hatte (Bernhard Moses) wurden zu erbitterten Gegner und jene, die er unterstützte, wechselten rasch wieder die Seiten. Warum dies so war, ließ die Argumentation des besagten Klageschreibens von 1793 erkennen. Ende des 18. Jahrhunderts war die jüdische Gemeinde zu groß und zu wohlhabend geworden, als dass sie als kleine, in sich geschlossene Einheit noch ein Nischendasein neben der Bürgergemeinschaft fristen konnte Die dank eines Konflikts innerhalb der Bürgerschaft gewachsene Gemeinde wurde immer stärker in das politische, juristische und ökonomische System der Stadt integriert. Aufhalten ließ sich dieser Prozess kaum. Je stärker die Gemeinde wuchs, umso mehr stellte sich die Frage, warum der reichere und mächtigere Teil der Stadt durch den schwachen und nur bedingt kompetenten bürgerlichen Senat regiert werden sollte. Eine solche, vom Rat erbittert verteidigte Konstellation widersprach dem Interesse aller jüdischer Einwohner der Stadt. Sie begrenzte das Wachstum der Gemeinde, gefährdete die Rechtsposition ihrer Mitglieder und führte zu permanenten Kompetenzstreitigkeiten. Ein möglicher langfristiger Ausweg aus dieser Situation war in der Klageschrift von 1793 60
StadtA Buchau 179: Vorgeschlagene Vergleichspunkte:„2. Soll niemahl die Anzahl der jüdischen Familien unter 45, wohl aber können derer mehr sein [. . . ] 3. Sollen jüdischen Ceremonien Religions und Kirchensachen der Judenschafft ohne anderwärtige Einmischung überlassen und so auch 4. die Händel Jud contra Jud den jüdischen Vorgesetzten, wie auch anderwärte gebräuchlich, zur Erledigung auch eingestelt bleiben. Sonderheitlich und 5. sollen die Verlassenschaftsverhandlungen, mithin Obsignation, Inventur und Theilung nach Anleitung der Artikel von 1786 und sonstigem Hertringen von ermelt jüdischen Vorgesetzten ungestört besorgt werden. 6. Soll die weibliche Freiheit der Jüdinnen, so wie diese auch an anderen Orten nach Anleitung des mosaischen Rechts anerkannt wird, nimmer gekränkt werden. 7. Soll das Rechtsmittel der Revision gegen Erkenntnisse wohllöbl. Magistrats den Juden reichsgesetzmäßig verbleiben. 8. Protokolar auszüge oder sonstige Aktenstücke an deren Einsicht der Judenschaft gelegen ist, sollen auf Verlangen gegen gebühr jederzeit mitgetheilt werden. 9. das Schlachten zu ihrem Hausbrauch soll ihr das ganze Jahr hindurch gestattet sein, und die Hintere Viertel, so selbe nicht genießen darf, in ganzen an allhiesige Bürger verkauft werden. 10. der Waidgang soll die Judenschaft wie bisher zu genießen haben. 11. Soll auch selber erlaubt sein, Handelschaft, wie sie immer heißen möge Spezerei allein ausgenommen, ungestört zu treiben.“ Weitere Forderungen beziehen sich auf die Festschreibung des Schutzgeldes und die Zollbefreiung der Juden.
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zwar versteckt, aber deutlich zur Sprache gebracht wurde, als man den Reichshofrat auf die ungleichen Belastungen von Bürgern und Juden hinwies. Hier deutete sich bereits die Option einer forcierten Integration, einer Rechtsangleichung ab. Einklagbar war eine solche Zielvorstellung im Rechtssystem des Reiches kaum; doch musste, das hatten die letzten 50 Jahre in Buchau gezeigt, nicht jeder Strukturwandel auf dem direkten Klageweg durchgesetzt werden. Kleine Reichsstände, wie Buchau, waren finanziell zu schwach und zudem zu ungenügend vernetzt, um Ansprüche des kaiserlichen Landgerichts effizient abwehren, das Verhalten des Kreises einschätzen und langwierige Reichshofratsprozesse durchstehen zu können. Die Drohung mit einem Prozess, mit einer Beschwerde, mit einer Klage gegen einen beliebigen Akt obrigkeitlichen Handelns konnte bereits hinreichenden Druck auf den Magistrat ausüben, um politische Forderungen durchzusetzen, die mit dem Klagegegenstand an sich nichts zu tun hatten. Gerade in den kleinen, artifiziell am Leben erhaltenen Reichsstädten konnten daher auf Betreiben ökonomisch und politisch starker Interessengruppen Strukturveränderungen vollzogen werden, die eine erstaunliche Dynamik aufwiesen. In Buchau war die jüdische Gemeine eine solche starke Interessengruppe, die kurz vor dem Ende des Alten Reiches die Möglichkeiten einer partiellen juristischen Emanzipation mit der Bürgerschaft auslotete.
Stefan Ehrenpreis
Jüdische Ansiedlungen, lokale Konflikte und imperiales Rechtssystem. Der Synagogenbau in Bruck bei Nürnberg 1706–1717 Die lokale Situation Zu den zahlreichen Konflikten um Grenzen und Hoheitsrechte im Raum Nürnberg gehört der jahrhundertelange Streit zwischen den Markgrafen von Ansbach-Bayreuth und der Reichsstadt Nürnberg um das Dorf Bruck im heutigen Stadtgebiet von Erlangen. Hier überschnitten sich die obrigkeitlichen Rechte der Markgrafschaft mit den lokalen Rechten, die dem reichsstädtischen Magistrat als Schutzherr des Nürnberger Reichswaldes, eines großen Waldgebiets rund um das reichsstädtische Areal, zustanden. Der Rat beaufsichtigte seine Waldrechte mit hoher Aufmerksamkeit, bildeten sie doch die Grundlage für fast alle bedeutenden wirtschaftlichen Aktivitäten der Stadt. Der Holzbezug war für die Versorgung der Gewerbe mit Energie, für den Bau von Häusern und zur Brennholzversorgung lebensnotwendig, ebenso bot der Wald den Raum für die Honiggewinnung als Grundlage der Lebkuchenherstellung. Die Konflikte wurden seit dem frühen 17. Jahrhundert durch die Teilung der hohenzollerischen Markgrafschaft in eine Ansbacher und eine Bayreuther Linie zusätzlich verkompliziert, gehörte doch Erlangen und seine Umgebung zum südlichsten Außenposten des Bayreuther Territoriums und stieß damit unmittelbar an reichsstädtisches Gebiet an. Im bayreuthischen Oberamt Baiersdorf lag auch die Ortschaft Bruck, ein im Spätmittelalter zum Pfarrdorf gewachsenes ehemaliges Forstgut. Schon im 13. Jahrhundert hatten die hohenzollerischen Markgrafen den Ort als kaiserliches Lehen aufgetragen erhalten, die Kirchenhoheit lag jedoch beim Nürnberger Landalmosenamt. Die komplizierte Besiedlungsgeschichte und die Entwicklung der Grundherrschaft führten dazu, dass in Bruck zwei große Gruppen von Lehensuntertanen wohnten: einerseits bayreuthische Untertanen (1778: 48), andererseits reichsstädtische Lehensleute (1778: ca. 60).1 Die Gerichtshoheit war wohl ursprünglich an die Pfarrei gebunden, zu Schöffen sollte die gleiche Anzahl nürnbergische und markgräfliche Bauern gewählt werden. Mit der Reformation wurde der bisherige größere Pfarreiverbund 1
Christian Strohm, Geschichte des Marktes Bruck (1906), ND hg. von Erich Birkholz, Eltersdorf 2008, S. 48 f.
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mit umliegenden Ortschaften jedoch aufgelöst und die Gerichtshoheit ging an die markgräfliche Landesherrschaft über.2 Die reichsstädtische Hoheit über den Reichswald, der das Dorf Bruck umgab, bot Anlass für zahlreiche Streitigkeiten. Jede neue Ansiedlung und auch jede Wirtschaftstätigkeit dort wurde von Nürnberger Amtsträgern misstrauisch beobachtet. Über Urteile des reichsstädtisch kontrollierten Forstgerichts suchte der Nürnberger Rat sich mit juristischen Mittel gegen einen Ausbau des Ortes in Stellung zu bringen. Auch wurde am Beginn des 17. Jahrhunderts mehrfach der Versuch, in Bruck ein Brauhaus zu errichten, durch Gewaltmaßnahmen Nürnberger Soldaten verhindert.3
II. Die Brucker Judenschaft Der Beginn einer ersten jüdischen Ansiedlung in Bruck lässt sich nicht genau feststellen. Allerdings wird der Anlass wohl die endgültige Ausweisung der Juden aus dem Gebiet der Reichsstadt Nürnberg 1499 gewesen sein. Bereits im 16. Jahrhundert besaßen Juden in unmittelbarer Nachbarschaft der Brucker Kirche ein Haus (Nr. 12) samt Waldrecht, in dem in den 1980er Jahren eine Mikwe wiederentdeckt wurde.4 Die datierbaren Befunde weisen auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts und decken sich mit der vermutlich ersten schriftlichen Erwähnung von Juden in Bruck um 1540.5 1568 wird im Kirchenbuch eine „Judengasse“, 1633 in besagtem Haus auch eine „Judenschul“ erwähnt. Ob es sich bei letzterer schon um eine Synagoge handelte, ist unsicher. 1619 sollen sechs jüdische Hausbesitzer, 1673 auf Grund der Kriegsereignisse nur vier jüdische Familien ansässig gewesen sein, deren Zahl vielleicht sogar noch abnahm.6 Allerdings bestand schon seit mindestens 1653 wieder ein Versammlungs- und Unterrichtsraum im Haus Nr. 12, der laut späteren Zeugenaussagen als „Judenschul“ fungierte. Aus dieser Zeit stammt auch ein Synagogenvorhang mit der Jahreszahl 1682. 1660 entstand ein erster Konflikt um die Abgaben zwischen der Gemeinde Bruck und der ansässigen Judenschaft. Letztere betonte, zu allen Wach- und Botendiensten beigetragen zu haben, und bezeichnete die nicht bestrittene Abgabe von einem Gulden jährlich pro Familie als ein Schutzgeld, während die Gemeinde auf ihrer Interpretation einer Umlage für gemeinsam genutzte Einrichtungen bestand. Der Streit wurde durch den Bayreuther Amtsrichter zu Baiersdorf entschieden, der die Zahlungsverpflichtung bestätigte, die Ju2 3 4
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Ebd., S. 71 f. Ebd., Anhang S. 65. Beschreibung und Abbildung bei Andreas Jakob/Ralf Rossmeissl, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde von Bruck, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Landesforschung 36 (1988), S. 173–196, hier S. 174–179. Ebd., S. 176. Ebd., S. 180 f.
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den aber von der Handfron bei Gebäudediensten befreite. Nur zu Boten- und Wachdiensten durften sie herangezogen werden.7 Ein zweiter Streit von 1692 resultierte aus den Beschwerden der Gemeinde, die Juden wollten den christlichen Bewohnern Krämereigeschäfte verbieten und würden zu viel Vieh (aus ihrem Viehhandel) auf den Gemeindewiesen grasen lassen.8 In den nach der letzten Beschwerde folgenden Jahren veränderte sich im Fürstentum Bayreuth die Lage für Juden maßgeblich, und dies hatte erhebliche Folgen für die Situation in Bruck. Markgraf Christian Ernst erteilte am 5. September 1695, wohl unter Einfluss des jüdischen Hoffaktors Samson Salomon, der Gesamtjudenschaft einen Schutz- und Freiheitsbrief inclusive der Gewerbe- und Handelsfreiheit. Sie sollten in religiösen Angelegenheiten ähnlich günstig wie in Brandenburg-Ansbach behandelt werden. Gegen eine jährliche Schutzabgabe pro Familie von 10 fl. war der Aufenthalt im Fürstentum erlaubt. Das Konsistorium der lutherischen Landeskirche beschwerte sich hierüber bitterlich und verlangte erfolglos, wenigstens die Familienzahl und die Wohnorte zu beschränken.9 In Bruck scheint die Zahl der niedergelassenen Juden sprunghaft angestiegen zu sein, was die schon vorhandenen Konfliktlinien im Dorf verhärtete. Durch Zuzug lebten 1719 schon 28 jüdische Familien am Ort, deren Zahl sich zur Mitte des 18. Jahrhunderts auf über dreißig erhöhte. 1763 erreichte ihre Zahl mit 37 Familien wohl den höchsten Stand, und sank 1776 auf 31 und 1800 auf 22 Haushaltungen ab.10 Im 18. Jahrhundert brachte die wirtschaftlich wohl nicht sehr wohlhabende Brucker Judengemeinde immerhin den Gelehrten David ben Joel Dispeck (1715–1793) hervor, der zunächst ab 1735 als Rabbiner in Bruck amtierte, später in Fürth lehrte und in Metz eine Talmudschule leitete. Er kehrte im Alter in seine Heimat zurück und hatte ab 1784 das Amt des bayreuthischen Landesrabbiners in Baiersdorf inne.11
III. Der Synagogenstreit und der Reichshofratsprozess Mit der markgräflichen Zuzugs- und Wohnsitzerlaubnis für Juden stellte sich auch die Frage der zugelassenen Religionsausübung. Ähnlich wie schon bei der Aufnahme der Hugenotten und der Begründung eines hugenottisch-reformierten Gemeindeverbandes entschied sich die Regierung für eine aufnah7 8 9
10 11
Strohm, Bruck, S. 18. Jakob/Rossmeisl, Gemeinde, S. 184. Adolf Eckstein, Geschichte der Juden im Markgrafentum Bayreuth, Bayreuth 1907, S. 39 f. Zur Person des Bayreuther Hoffaktors Samson Salomon siehe Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, Bd. 3, Berlin 1955, S. 222 f. Strohm, Bruck, S. 18; Jakob/Rossmeissl, Gemeinde, S. 192. Vgl. Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 1988, S. 363.
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mefreundliche Regelung, die volle Religionsrechte vorsah. Die Folge waren die Synagogenbauten von Uehlfeld 1696, Schornweisach 1704 und Burgbernheim 1711.12 Der Bau in Bruck barg im Gegensatz zu den drei anderen allerdings erheblichen Konfliktstoff. Der Bau von Synagogen spielte bei dem Widerstand gegen jüdische Ansiedlungen oftmals eine besondere Rolle. Einerseits war die Synagoge ein bauliches Zeichen für den Willen der lokalen Judenschaft, dauerhaft am Ort Wohnrechte wahrzunehmen. Andererseits wurde die Synagoge Symbol für die öffentliche und damit rechtmäßige Ausübung der jüdischen Religion und der Rechtstellung der Gemeinde. Insofern waren Synagogen, ähnlich wie Gottesdienstorte christlich-konfessioneller Minderheiten, räumlich verankerte Kulminationspunkte öffentlicher Auseinandersetzungen um Rechte von Juden.13 Schon 1609 hatte die Erlaubnis zum Bau einer Synagoge in Baiersdorf, einem damaligen Hauptort jüdischen Lebens im Fürstentum Bayreuth mit ca. 30 Prozent jüdischem Bevölkerungsanteil, zu erbittertem Widerstand der Landstände geführt, die argumentierten, das Amt Baiersdorf sei mit Juden überbelegt.14 Der Fall des Brucker Synagogenbaus ist ein Musterbeispiel für die Konflikthaftigkeit, aber auch für den interessegeleiteten Umgang aller Parteien mit den Fragen jüdischer Existenz. Am 27. September 1706 setzte der Brucker Pfarrer Johannes Wodiecke ein Schreiben an seine Vorgesetzten im Nürnberger Landalmosenamt auf mit der Erinnerung, schon mehrfach wegen der Zunahme jüdischer Familien in Bruck an sie berichtet zu haben. Während er bei seinem Amtsantritt vor neun Jahren nur drei Häuser von Juden besetzt vorgefunden habe, so hätten diese nun schon zehn Häuser in ihrem Besitz. Die Verkäufer seien durchweg markgräfliche Untertanen, die wegen hoher Steuern keine christlichen Käufer fänden. Durch den Verlust bäuerlichen Grundbesitzes an Juden würde auch das Einkommen der Pfarre geschädigt. Er bat daher um Einflussnahme auf die bayreuthische Regierung, den Hauskauf durch Juden zu verbieten oder zumindest eine allgemeine, auch von den Juden erhobene Abgabe für Kirche und Schule anzuordnen.15 Dieses erste Dokument aus der Überlieferung des Falles macht eine Reihe von lokalen Problemen deutlich, die mit der Zuwanderung von Juden nach Bruck zusammenhingen. Einerseits war der Pfarrer, der wichtigste nürnbergi12 13
14 15
Eckstein, Bayreuth, S. 38. Vgl. beispielsweise Eike Dienert, „. . . der Messias werde von hier kommen.“ Die Auseinandersetzungen um den Bau der Synagoge in Gelliehausen in den Jahren 1777 bis 1785, in: Göttinger Jb 50 (2006), S. 33–39; Günther Hein, „Mit dem gnädigsten Befehl, das Gebäude . . . demolieren zu lassen“. Über drei Versuche, auf dem Moritzberg im 18. Jahrhundert eine Synagoge zu erbauen, in: Hildesheimer Jb 65 (1994), S. 124–142. Eckstein, Bayreuth, S. 24 f. Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Reichsstadt Nürnberg, Differentialakten Nr. 333, fol. 2– 3 (im folgenden abgekürzt: STAN, Diff. 333). – Dieser Aktenband war schon die Quellengrundlage für die Publikation von Jakob und Rossmeissl, wird von mir aber für eine andere Fragestellung ausgewertet und mit dem Wiener Aktenmaterial ergänzt.
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sche Amtsträger im Dorf, aus Eigeninteresse dazu motiviert, seine Obrigkeit gegen die Brucker Judenschaft in Stellung zu bringen. Zweitens scheint die jüdische Zuwanderung in der dörflichen Gesellschaft zu einer Spaltung geführt zu haben: die landesherrliche Förderung der jüdischen Ansiedlung traf vor allem die bayreuthischen Untertanen, die jedoch keine Möglichkeit zum legalen Protest besaßen. Für die nürnbergischen Hintersassen stellte sich jedoch verstärkt die Frage nach dem Zwiespalt zwischen Landesherrschaft und Grundherrschaft. Während die bayreuthischen Lehensleute, den Maßgaben ihrer Regierung folgend, sich passiv verhielten und vor den wirtschaftspolitischen Kontexten der Entwicklung zu resignieren schienen, erlebte der nürnbergische Bevölkerungsteil eine politische Mobilisierung: Sechs Monate nach der ersten Beschwerde ihres Pfarrers wandten sich alle nürnbergischen Lehensleute Brucks gemeinsam an den Nürnberger Rat und baten um Intervention in Bayreuth.16 Die Leitung des Landalmosenamtes, zwei Verwalter aus den Nürnberger Patriziergeschlechtern Volckamer und Furer, gaben das Schreiben an den reichsstädtischen Rat mit der Bitte weiter, die Reaktion zu erörtern. Schon wenige Tage später am 28. Oktober erstattete ein Ratskonsulent, d.h. ein juristischer Berater des Rates, einen Vermerk, der schlaglichtartig die allgemeine Bedeutung des Brucker Falles für die Rechtstellung der fränkischen Juden klarmacht.17 Der Konsulent empfahl, bei benachbarten Territorien Informationen einzuholen, wie es mit der Entrichtung von Pfarrabgaben von Juden gehalten werde, und auch die Akten zu Fürth durchzusehen. Es sei zu erwägen, ob man wegen der „nunmehr einreissenden gravaminis“ alle Nachbarherrschaften anfrage, wie sie es mit den Juden hielten. Erkundigungen solle man sich auch beim Hochstift Bamberg, ob Juden katholischen Geistlichen Gebühren entrichteten. Dieser Vorschlag zur Vorgehensweise weist eine Mischung von Maßnahmen auf, die auch die zukünftige Haltung des Nürnberger Rates bestimmten. Man suchte nach konkreten Möglichkeiten zur Verbesserung der nürnbergischen Stellung in Bruck, wollte aber gleichzeitig eine generelle Haltung gegenüber der Zunahme der jüdischen Minderheit entwickeln, die man in unmittelbarer Nachbarschaft in Fürth erlebte, aber regional auch in den fürstlichen Territorien Bamberg, Ansbach und Bayreuth sowie in zahlreichen fränkischen Grafschaften und reichsritterschaftlichen Gebieten beobachtete. Im März 1707 meldete Pfarrer Wodieck erstmals an das Landalmosenamt, dass die Brucker Juden die markgräfliche Erlaubnis erhalten hätten, auf einem erworbenen Bauplatz eine Synagoge zu errichten. Sollte dies gelingen, würde sich die Zahl der Juden sicherlich erhöhen. Erneut bat Wodieck, verfügbare Mittel zu nutzen, um den Bau zu verhindern.18 Kurze Zeit später berichtete auch das zuständige Waldamt an den Rat über ein Gespräch, dass ein Bru16 17 18
Ebd., fol. 13–14. Ebd., fol. 6–7. Ebd., fol. 8–9.
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cker Jude mit dem lokalen Förster geführt habe. Demnach wollten die Brucker Juden auf einem von Samson Salomon gekauften Grundstück eine Synagoge errichten. Der Bauplatz sei neu erschlossener Grund und die Steine zum Bau sollten aus dem Reichswald besorgt werden. Der Brucker Jude bot dem Förster ein Bestechungsgeld an, sollte dieser kooperieren.19 In der zeitgleich erstellten Erklärung der nürnbergischen Einwohner Brucks fanden dann auch erstmals antijüdische Stereotype Eingang: Die Brucker Juden hätten durch betrügerischen Handel und gottlosen Wucher schon viele Christen vertrieben, die ihnen ihre Güter überlassen mussten. Mit dem Synagogenbau wollten sie ihr Ziel erreichen, alle christlichen Einwohner zu vertreiben.20 Der Nürnberger Rat beschloss auf der Grundlage der Berichte und Eingaben zunächst nur, die Akten zum Fürther Synagogenbau auf rechtliche Argumente durchzusehen und weitere Erkundigungen über den Stand der Bauarbeiten in Bruck anzustellen. Sollte sich erhärten, dass der Bauplatz die kaiserlichen Privilegien der Reichsstadt und die kaiserliche Waldordnung verletze, solle man den Grundstücksverkäufer, das Kloster Frauenaurach, auf die Unrechtmäßigkeit hinweisen.21 Dieses zurückhaltende Vorgehen deutet darauf hin, dass die Beschwerden des Brucker Pfarrers und der Einwohnerschaft keineswegs von der Nürnberger Obrigkeit lanciert worden waren, um territoriale Interessen durchzusetzen oder politische Vorkehrungen gegen Juden in der Nachbarschaft zu treffen. Vielmehr waren im Brucker Fall soziale und wirtschaftliche Spannungen innerhalb der Dorfgesellschaft, zwischen Landes- und Grundherren und zwischen christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit ausschlaggebend, zu deren Lösung die konkurrierende Obrigkeit angerufen wurde. Die Bayreuther Seite hatte langfristig die lokalen Gegebenheiten auf ihrer Seite, da sie die Ämterverwaltung und die Gerichtsbarkeit in der Hand hatte. In den kommenden Monaten ließ sich die Bayreuther Regierung, die dem Streit hohe Aufmerksamkeit schenkte, diesen Vorteil nicht nehmen. Nachdem der zuständige Förster Anfang Mai 1707 über den Beginn der Baumaßnahmen berichtet hatte, reagierte der Nürnberger Rat mit Schärfe: Wenn Bayreuth nicht einlenke, so wolle man überlegen, den Bau gewaltsam einzureißen oder am kaiserlichen Hof ein Mandat gegen ihn zu erwirken. Alternativ könne man auch ein Nürnberger Zutrittsverbot gegen alle Juden verhängen, bis der Bau eingestellt sei.22 Die juristischen Argumente fasste der Ratskonsulent Dr. Peller auf der Grundlage historischer Dokumente als Beweismittel zusammen. Da die Landeshoheit Bayreuths aber nicht zu bestreiten sei, sollte man den nürnbergischen Untertanen befehlen, keine Güter an Juden zu veräußern und den Brucker Juden das Betreten reichsstädtischen Gebiets 19 20 21 22
Ebd., fol. 10–11. Ebd., fol. 13–14. Das Schreiben wurde am 16. April in einer Nürnberger Ratssitzung behandelt. Ebd., fol. 15, Ratsverlaß vom 16. April 1707. Ebd., fol. 17–18, Ratsverlaß vom 16. Mai 1707.
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verbieten.23 Der Vorschlag, Repressalien gegen Juden als Hebel anzuwenden, um den Bau zu verhindern, zeigt bereits eine Verschiebung in der Nürnberger Wahrnehmung an: nicht mehr die Bayreuther Regierung, sondern die Juden waren der eigentliche Gegner. Ende Mai erhielt man in Nürnberg konkrete Nachricht über die Situation vor Ort: Das Bauholz war aus einer zum Hochstift Bamberg gehörigen Waldung bezogen worden, neben der Synagoge sollte auch eine jüdische Schule (nach anderen Berichten möglicherweise die Wohnung des Schulmeisters) als separater Anbau errichtet werden.24 Am 20. Juni 1707 fanden sich zu einer Konsultation drei Ratsmitglieder, der zuständige Waldamtmann und acht Nürnberger Ratskonsulenten ein. Dem ausführlichen Protokoll kann man entnehmen, dass der bauausführende Werkmeister, ein Nürnberger, sich vor dem Rat zu verantworten hatte, und man sich mit einer Klage an den Kaiserhof wenden wollte. Gewaltmaßnahmen wollte keiner der Juristen befürworten, da man Nachrichten erhalten hatte, dass sich brandenburgisch-preußische Soldaten in Erlangen befänden.25 Als man am 4. Juli den Bauhandwerker vernahm, gab er an, die Arbeiten eingestellt und an andere Maurer übergeben zu haben. Zu seinen Gunsten sprach, dass er detaillierte Informationen über den Bau weitergab.26 Das Nürnberger „Kriegsamt“ – die Militärkommandantur der Stadt – meldete kurze Zeit später, dass tatsächlich eine Kompanie Kurländer und eine Kompanie bayreuthischer Grenadiere, insgesamt 200 Mann, in Erlangen im Quartier lagen; daher sah der Rat von einer gewaltsamen Abrissaktion ab. Einige Soldaten wurden bei Baubeginn im August 1707 dann auch auf der Baustelle eingesetzt.27 Daher überlegte man wieder, bis zum Austrag des Streits allen Juden aus dem Fürstentum Bayreuth den Eintritt in die Mauern Nürnbergs zu verwehren. Außerdem wollte man versuchen, die Bayreuther Unterbeamten in Baiersdorf für ein heimliches Hintertreiben des Baus zu gewinnen.28 Am 11. August tagte erneut eine Konferenz von Räten und Konsulenten über das reichsstädtische Vorgehen.29 Die Juristen beklagten sich erbittert, dass alle Beschwerden bei Bayreuth nichts nutzten, weil die Markgrafschaft „in Praepotenz auf kgl Majestät in Preußen sich verlasset“. Den Handel von markgräflichen Juden in Nürnberg zu unterbinden sei gefährlich, weil Bayreuth und möglicherweise auch Ansbach Repressalien gegen reichsstädtische Händler folgen lassen würden. Man wollte also lieber den Rechtsweg einschlagen und sandte deshalb dem Nürnberger Reichshofratsagenten Dr. Hochmann in Wien Rechtsgutachten und die Supplikation auf ein kaiserliches Mandat zu. 23 24 25 26 27 28 29
Ebd., fol. 22–24 Bedenken und Konzeptschreiben von Dr. Peller, 23. Mai 1707. Ebd., fol. 25 Reichswaldamt Sebald, actum Nürnberg 25. Mai 1707. Ebd., fol. 31–34 Consultatio habita den 20. Juni 1707, nürnberg Protokoll. Ebd., fol. 47 Protokoll Waldamt Sebald 4. Juli 1707. Ebd., fol. 66 Mittilung Waldamt Sebald 9. August 1707. Ebd., fol. 55 f. Kopien Ratsverlässe 11. Juni und 14. Juli 1707 sowie fol. 65 Kopie Ratsverlass 9. August 1707. Ebd., fol. 73–75 Protokoll Consultation 11. August 1707.
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Das Schreiben an Dr. Hochmann, durch den Konsulenten Dr. Falckner verfasst, überrascht im Ton durch einen offenen Antijudaismus, der die Nürnberger Stimmung spiegelt. Nicht die Übertretung des Bebauungsverbots sei der Anlass der Klage, sondern die „Anhäuf- und immer mehrere Einnistung der stadt- und landschädlichen Juden“ in Bruck, wo sie „sogar eine verdammte Synagoge aufzubauen intentioniert“. Auch in Fürth brächten die Juden immer mehr christliche Häuser an sich und wollten den Geistlichen keine Gebühren mehr entrichten.30 Das Waldamt hatte Mitte August auch die näheren Brucker Umstände erfahren: den Bauplatz hatte der Brucker Rabbi Aaron Michel von einem verschuldeten Christen gekauft und an die Judengemeinde weiterverkauft. Später hieß es allerdings, der Bayreuther Hoffaktor Samson Salomon habe 400 fl. zum Bau der Synagoge vorgeschossen.31 Zur selben Zeit erhielt man erstmals eine offizielle Reaktion der Bayreuther Regierung, die sich auf ihre Landeshoheit berief und behauptete, dass es auch schon früher in Bruck eine Synagoge gegeben habe und der Bau keine Veränderung darstelle. Im übrigen sei die Grenze zum Waldrand eingehalten worden und man weise die Drohungen, den Bau gewaltsam niederzureißen, als friedbrüchig zurück.32 Der Rat ordnete an, dieses Schreiben dem Wiener Agenten zuzuleiten „und deroselben beyzurucken seyn wird, wie die Juden sich meistens von hiesiger Stadt nehren, derselben ab, weil sie sich stark vermehren, ein große Überlast seyen, v.d. burgerschafft viel ungelegenheit zuziehen“.33 Der zuständige Förster bescheinigte, dass „das jüdische Gesindlein zu Pruck“ früher seine Zusammenkünfte in einem Privathaus hatte.34 Im Herbst 1707 diskutierte man in Nürnberg erneut Gegenmaßnahmen. Nachdem ein nürnbergischer Untertan zu Buck angeregt hatte, eine Brücke auf dem Weg zwischen der Reichsstadt und Erlangen zu sperren, lehnte der Rat solche Vorschläge ab, die den nachbarlichen Frieden der Territorien beeinträchtigten. Stattdessen berichtete das Kriegsamt über Warnungen, die es den Baiersdorfer und Brucker Juden hatte zukommen lassen, dass sie Nürnberg nicht mehr betreten dürften. Die Juden hätten sich damit entschuldigt, dass der Streit mit dem Bayreuther Fürsten Christian ausgemacht werden müsse, nicht mit ihnen. Das Kriegsamt legte dem Rat außerdem dar, dass von besagten Juden fast nur der Hoffaktor Samson Salomon und dessen Söhne nach Nürnberg hinein kämen und immer behaupteten, im Auftrag des Fürsten Christian zu handeln. Brucker Juden kämen nur auf den Viehmarkt. Was Samson Salomon angehe, „welcher sich sehr intoniert aufführet, und als ein bayreuth[ischer] Resident tractiert seyn wolle,“ so solle genau geprüft wer30 31 32 33 34
Ebd., fol. 84 Konzeptschreiben an Dr. Hochmann in Wien, von Dr. Falckner 22. August 1707. Ebd., fol. 87 Waldamt Anzeige an Rat, 22. August 1707 und fol. 112 Kopie Ratsverlaß 14. Oktober 1707. Ebd., fol. 90–91 Bayreuth Regierung an Nürnberg Rat, Bayreuth 20. August 1707. Ebd., fol. 92 Kopie Ratsverlaß 26. August 1707. Ebd., fol. 98 Anzeige Waldamt Sebald vom 3. September 1707.
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den, ob ihm zukünftig der Stadteintritt verweigert werde.35 Anscheinend ist letzteres nie erfolgt. In den folgenden Monaten konzentrierte man sich auf den Prozess am kaiserlichen Hof und die lokale Situation entwickelte sich im bayreuthischen Sinne. Erst Anfang Februar 1709 kam wieder Bewegung in die Sache, da sich die nürnbergischen Untertanen Brucks mit einem dramatischen Appell an den Rat wandten. Sie erinnerten nochmals daran, dass sich früher nur drei bis vier Juden in Bruck niedergelassen hätten, sich aber in den letzten elf Jahren diese Zahl auf 12 Haushalte erhöht habe und diese nun auch noch eine Synagoge besitzen. Es würde „von hohen gnädigsten Landesfürsten und hiesiger Orths hohe Obrigkeit die christliche Kirche und Schul nicht consideriret und diesem ein gewissenen Unheil fördersambst Christenmild vorgebauet und unterbrochen werden sollte; angemerckt zwey Juden wieder aufs Neue bey uns sich einzukauffen vorhabendt seyn, welche alle in dem Selbige mit keiner handarbeit, sondern lediglich mit s.v. Betrug und List sich ernehren. Die armen Christen und underthanen mit fast ehebevor nie erhört gewordenen Wucher höchststrafbahr belegen, und dergestalt ebenfalls das leut aussaugen, daß sie von haus und Hoff und in den bettelstab gehen müssen, da dann, wann nur ein Gütlein Hoff oder haus in das hochfürstloich Bayreuthische gehörig, verkauft wird, dieJuden zu 100–200 fl und mehrer, so gegen denen Christen, welche solch hinauff getriebene Kauff-Summe, zu geniessen und den von dem Gut zu geben habenden Canon, Steuer und anderes mit samt aller ihrer großen Mühe und blut sonder arbeit zu erschwingen nicht vermögen, dafür bezahlen, in ihre Hände bekommen und hernach die Felder und Wiesen für frey eigene stuck umb theuer geld davon wieder hingeben und ein weit mehrers als ihren Ankauf-Schilling daraus erlösen.Wodurch unser Kirch, welche an und für sich selbsten kein einkommen hat, noch andere dörffer ausser pruckenhoff eingepfarrt seyn, geschwächt, und wann solche durch ungefähren Wetterschlag oder sonsten verunglücket werden sollte, welches Gott in gnaden verhüten wolle, niemand solche retten noch auferbauen, auch ins künfftige weder Pfarrer noch Schulmeister bey uns nicht mehr bestehen, noch sich erhalten, über dieses auch die bechwehrich Zeiten mit den bottenlauffen, durchzügen und Einquartierungen, welche beede letztere sie Christen blut igel zwar mit geld abrichten, und allein aufgetrungen würde, und wir dabey Leib und Leben auch hauß und hoff wagen und aufsetzen müßten.“
Sie baten den Rat gegen den Untergang der christlichen Religion um Hilfe und Rettung und forderten, dass „das gott verworffene Judengesindlein wieder ausgeschafft wird.“ Zumindest sollten keine Juden neu zugelassen, ihre Synagoge wieder eingerissen, und alle Gebühren für Pfarre und Schule von ihnen mitgetragen werden.36 Den nürnbergischen Untertanen gelang es mit ihren antijüdischen Invektiven, den Rat nochmals zur Überprüfung der Akten von Schulbau und Stolgebühren in Fürth zu bewegen, um Vergleichsfälle zu finden. Das Gutachten eines Ratskonsulenten kam dabei zum Schluss, dass die Pfarre Fürth durch die „unmäßige zunahme“ der Juden dort angeblich sehr geschädigt worden sei.37 35 36 37
Ebd., fol. 110–111 Actum Kriegsamt 12. Oktober 1707. Ebd., fol. 118–120 Ganze nürnberg. Gemeinde zu Bruck an den Rat, Präsenzvermerk 9. Februar. 1709. Ebd., fol. 124–25 Gutachten eines Consulenten 30. März 1709.
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Auch an den Wiener Agenten ließ der Rat wegen der neuen Beschwerden, die das „verderbliche Judengeschmeiß“ verursache, schreiben.38 Wie reagierte man am Kaiserhof auf diesen Streit und welche Rolle wiesen die Parteien und der Kaiserhof den Juden zu? Am 11. Oktober 1707 beschloss der Rat, ein von den beiden Konsulenten Peller und Falckner entworfenes Konzept einer „Supplicatio pro mandato demolitorio“ gegen den Bayreuther Markgrafen in Wien einreichen zu lassen. Schon acht Tage später schrieb Dr. Hochmann aus Wien, er habe alle Unterlagen erhalten und gebe sie in die Reichshofkanzlei.39 Wann dies genau erfolgte, lässt sich weder den Nürnberger noch den Wiener Akten entnehmen. Sicher ist, dass die Angelegenheit erst im November 1709 im Reichshofrat debattiert wurde. Die im Namen des reichsstädtischen Syndicus eingereichte Klageschrift argumentierte juristisch mit den Privilegien der Reichsstadt zum Schutz der Reichswälder seit Kaiser Karl IV. und führte auch einige Fälle an, in denen markgräfliche Beamte zum Bau von Gebäuden die Erlaubnis des Waldamtes eingeholt hatten. Der Protest des Rates beruhte aber nicht nur auf Eigeninteressen, sondern auch auf den Bitten der Brucker Untertanen. Bei der Aufzählung der Argumente heißt es: „III. bey so großer Überheuffung der Jüden es anderst nicht seyn kann, als daß die arme einfältige Bauersleuth zu Pruck, die mehrern theils der Statt Nürnberg und den Bürgern zustehen, mithin dieselb aus dieser Neuerung den größten Schaden zu befürchten haben, durch ihre vielfältige Hallstrick und Lockungen (. . . ) zu ihrem zeitlichen und oftmahls ewigen Verderben nach und nach verfallen müssen.“
Die „inutilia terra pondera“ lebten von Christenschweiß und beschwerten die nürnbergischen Untertanen und saugen sie bis aufs Blut aus. Das, was durch unbarmherzige brandenburgische Beamte übrig gelassen werde, zögen Juden an sich und diese würden wie zu Fürth u a. Orten geschehen, von der Obrigkeit schließlich Förderung erzwingen. Daher solle der Abriss der Synagoge angeordnet werden.40 Zu den umfangreichen Beweismitteln, die als Beilagen eingereicht wurden, gehörten auch die Beschwerden der Brucker nürnbergischen Gemeinde, die den sozialen Konflikt im Dorf offen legten. Als der Reichshofrat am 29. September 1709 die Erteilung eines vorläufigen Rechtsschutzes durch ein Mandat beschloss, hatte Bayreuth noch keine Stellung nehmen wollen. Am 4. Dezember 1709 genehmigte man im Reichshofrat ein entworfenes Mandat, das an den Kläger ausgehändigt wurde.41 Im Februar 1710 konnte der 2. amtierende Bürgermeister Sigmund Pfinzing das kaiserliche Mandat bei einem Notar insinuieren lassen, der es nach Bayreuth weiterleiten sollte.42 Zwar legte der bayreuthische Agent Pomeresch im Sep38 39 40 41 42
Ebd., fol. 128 Gutachten Dr. Falckner 11. April 1709. Ebd., fol. 103–108, 113. Haus- ,Hof- und Staatsarchiv Wien, Reichshofrat, Denegata recentiora 834/2, undatierte Klageschrift des Nürnberger Syndicus. Ebd., Konzept des Mandats vom 4. Dezember 1710. Ebd., Notariatsinstrument Nürnberg 25. Februar 1710.
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tember 1710 eine Gegenschrift vor, die unter Hinweis auf die Landeshoheit in Bruck dem Mandat widersprach, aber dies führte nur noch zu langwierigen Repliken, Dupliken und Tripliken beider Seiten, die von ihrem jeweiligen Rechtsstandpunkt nicht abwichen. Der Prozess endete schließlich im Sommer 1717 ohne weiteres Engagement einer Seite. Damit hatte Bayreuth schließlich einen Erfolg erzielt: Das Verfahren vor dem Reichshofrat zog sich hin und wurde von seinem Agenten verschleppt, während man vor Ort vollendete Tatsachen schuf. Der Schlüssel für das Nürnberger Verhalten liegt im Mandat des Reichshofrats, das zwar unter Verweis auf die Waldprivilegien Nürnbergs den Abriss des Synagogenbaus anordnete, allerdings die Frage der Zulassung von jüdischer Zuwanderung der bayreuthischen Landesobrigkeit anheim stellte. Auf die angeblichen jüdischen Anschläge gegen Christen und die angebliche Ausrottungsstrategie der Juden gegen Christen ging der Reichshofrat nicht ein, sondern stellte ganz auf die alte Waldordnung Kaiser Karls IV. ab. Das kaiserliche Gericht stellte also die bayreuthische Judenpolitik nicht in Frage und wollte so offensichtlich zur Beruhigung des Falles beitragen. Allerdings nahm die Bayreuther Regierung dies zum Anlass, die Ausführung des Mandats einfach zu verweigern, womit die Nürnberger zu Tätlichkeiten gezwungen gewesen wären, die sie selbst ins Unrecht gesetzt hätten. Die relativ knappen Wiener Akten lassen nicht erkennen, ob den Reichshofräten dies alles bei ihrer Entscheidung bewusst war, allerdings ist deutlich, dass sie sich von antijüdischen Invektiven nicht beeindrucken ließen.
IV. Zusammenfassung: Kaiserliche Rechtsprechung und lokaler Konfliktaustrag Der Brucker Konflikt um den Bau einer Synagoge hatte seinen Ausgangspunkt in sozialen Spannungen und den Strukturproblemen, die die Zersplitterung lokaler Herrschaftsrechte in Franken mit sich brachten. Durchaus nicht ungewöhnlich für einen solchen Kontext, suchte eine soziale Gruppe (mit dem Pfarrer an der Spitze) eine der konkurrierenden Obrigkeiten für sich zu instrumentalisieren. Der Konflikt wurde damit allerdings sehr schnell über die Ebene der Untertaneninteressen hinaus zu einer Sache der beteiligten Obrigkeiten. Der Grund für die Ausweitung lag nicht nur an den zu wahrenden allgemeinen, diametral gegeneinander stehenden Rechtspositionen zu Fragen der herrschaftlichen Kompetenzen. Vielmehr war dem Konfliktfall ein zusätzliches Movens inhärent: die jüdische Frage. Sie führte zu einer Aufladung des juristischen Streits, weil sich der Gegenstand verschob: von Bau- und Waldrechten hin zu Fragen der Akzeptanz jüdischen Lebens. Vor allem die Nürnberger Seite vertrat eine aggressive antijüdische Haltung, die anhand des Brucker Falles generelle Regelungen zur Ansiedlung von Juden
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und ihrer Stellung innerhalb weltlicher Gemeinden klären wollte. Insofern kam der Konflikt einer politischen Selbstvergewisserung gleich. Der inhaltlichen Ausweitung des Konflikts ging eine in der Sphäre des Politischen einher. Durch die Einschaltung der kaiserlichen Reichsgerichtsbarkeit kam eine über den lokalen Kontexten stehende Dimension ins Spiel. Das den Territorien übergeordnete Rechtssystem des Reiches, das auf integrativ und pazifizierend wirkende Verfahren abstellte, trennte die juristische und die politische Auseinandersetzung, entschied die erstere und wies die Ansprüche der zweiten zurück. Die Delegitimation antijüdischer Argumente im juristischen Streit sollte nicht vorschnell als Judenschutz interpretiert werden, obwohl der kaiserliche Reichshofrat in anderen Fällen für ein Existenzrecht der „kaiserlichen Kammerknechte“ eintrat.43 Die Reduktion des Konflikts auf den Schutz des Reichswaldes und der Nürnberger Privilegien ohne Verweis auf die angebliche jüdische Verdrängung von Christen nahm den Nürnbergern den Hebel für einen allgemeinen Angriff auf die Juden.
43
Vgl. Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte.
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Zwischen Magistrat und Kaiser − rechtliche Handlungsspielräume der Frankfurter Jüdischen Gemeinde am Ende des 18. Jahrhunderts Nach dem ,imperialen Faktor‘ in der frühneuzeitlichen Lokalgeschichte jüdischer Gemeinden zu fragen, lenkt den Blick ganz unmittelbar auf die institutionelle Ebene des Alten Reichs, vor allem dessen Höchstgerichte Reichskammergericht (RKG) und Reichshofrat (RHR), in deren Aktenbeständen sich mehrere tausend weitgehend noch unbearbeitete Prozesse mit jüdischer Beteiligung finden.1 Insbesondere der Reichshofrat als besonders kaisernahes Höchstgericht – da vom Kaiser finanziert, besetzt und zudem für dessen administrative, die kaiserlichen Reservatrechte betreffende Rechtsgeschäfte zuständig – ist dabei in den letzten Jahren auch im Kontext der jüdischen Geschichte vermehrt Gegenstand historischer wie rechtsgeschichtlicher Untersuchungen geworden.2 Wenn im Folgenden die rechtlichen Handlungsspielräume der Frankfurter Judenschaft zwischen Frankfurter Magistrat und Kaiser im ausgehenden 18. Jahrhundert beleuchtet werden, so soll dies anhand von Reichshofratsverfahren mit einer speziellen Personenkonstellation und Prozessform geschehen, die auch für die Fragestellung nach dem Ineinandergreifen von 1
2
Siehe dazu einleitend: Leopold Auer/Eva Ortlieb, Die Akten des Reichshofrats und ihre Bedeutung für die Geschichte der Juden im Alten Reich, in: Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007 (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 39), S. 25–38. Friedrich Battenberg, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch, Wetzlar 1992. Wolfgang Sellert, Einblicke in bisher kaum genutzte Quellen, URL: http://www.uni-goettingen.de/de/48536.html (letzter Abruf 21.09.2009). Beginnend mit Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 243–293. Dann vor allem Barbara Staudinger, Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559–1670, Wien 2001 (ungedr. phil. Diss.). Dies., Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hgg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Köln/Wien/Weimar 2001, S. 119–140. Verena Kasper, Die Frankfurter Judengemeinde und der Reichshofrat unter Joseph II. (1765–90), Graz 2009 (ungedr. phil. Diss.). Aus rechtshistorischer Perspektive bereits früh Sabine Frey, Rechtsschutz der Juden gegen Ausweisungen im 16. Jahrhundert, Frankfurt am Main/Bern/New York 1983.
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Reichs- und Lokalebene besonders bezeichnend erscheinen. Es sind dies Appellationsverfahren der Frankfurter jüdischen Gemeinde in corpore gegen den Frankfurter Magistrat, genauer gegen vorinstanzliche Urteile des Frankfurter Schöffenrates.3 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ähnlich den bereits besser erforschten reichshofrätlichen Kommissionsverfahren, die jeweils vor Ort, meist mediativ wirkten und oftmals mit lokal ansässigen Kommissaren arbeiteten,4 auch die in Wien verhandelten Appellationsverfahren eine Klammer zwischen territorialer beziehungsweise im Falle Frankfurts reichsstädtischer und kaiserlicher Regierungsebene durch deren Jurisdiktionsorgane herstellten.5 Denn in diesen Verfahren wurden ganz explizit lokale Regelungsmechanismen und Normsetzungen hinterfragt, legitimiert oder aber in ihrer Wirksamkeit aufgehoben und durch die reichshofrätliche Spruchtätigkeit neu überformt. Bereits die Einlegung eines Appellationsverfahren an sich unterstrich und verstärkte dabei den kaiserlichen Machtanspruch, nach wie vor in die lokalen Geschicke lenkend, legitimierend oder korrigierend eingreifen zu können, formulierte es doch immer wieder die Notwendigkeit eines kaiserlichen übergeordneten Steuerungselements. Folgt man den beim momentanen Stand der Aktener3
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Wenn nicht anders ausgewiesen, sind die Ergebnisse dieser Studie der Dissertation der Verfasserin (siehe Anm. 2) entnommen. Dabei wurden die während der Regierungszeit Josephs II. (1765–1790) anhängigen oder neu eingereichten Verfahren (23 Appellationen, 5 erstinstanzliche Verfahren) von und gegen die Frankfurter Jüdische Gemeinde formal und argumentationsanalytisch untersucht.Siehe zur Frankfurter Gerichtsstruktur Barbara Dölemeyer, Frankfurter Juristen im 17. und 18. Jahr¬hundert, Frankfurt am Main 1993 (Ius commune : Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 60), S. XXXIXLVI. Otto Ruppersberg, Der Aufbau der reichsstädtischen Behörden, in: Heinrich Voelcker (Hg.), Die Stadt Goethes. Frankfurt am Main im XVIII. Jahr¬hundert, Frankfurt am Main 1932, S. 51–82. Zur Kommissionstätigkeit des RHR siehe vor allem Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657), Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 38). Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576), Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz : Abteilung für Universalgeschichte, 214. Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches; 18). Martin Fimpel, Reichsjustiz und Territorialstaat. Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis (1648–1806), Tübingen 1999 (Frühneuzeit-Forschungen; 6). Seit November 2008 läuft ein FWF-Projekt der Kommission für Rechtsgeschichte der ÖAW, das erste Grundlagenarbeit zu den Appellationsverfahren am RHR zu leisten verspricht. Siehe http://www.rechtsgeschichte.at/reichshofrat-appellationen.html (21.09.2009). Parallelen jedoch nicht Übereinstimmungen zum RKG sind anzunehmen, siehe daher Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland, Köln/Wien/Weimar 1976 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; 4). Hauptsächlich normativ zum Revisionsverfahren am RHR arbeitet Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N.F., 18), S. 373–412.
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schließung noch nicht nachprüfbaren Schätzungen,6 dass jede dritte oder vierte Streitsache der etwa 70.000 erhaltenen Verfahren am RHR ein Appellationsverfahren darstellte,7 so wäre das Ausmaß dieser Verklammerung kaum mehr als Randphänomen zu bezeichnen. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass „politische Macht sich in der Kompetenz niederschlägt, Recht auszulegen und den eigenen Rechtsvorstellungen Geltung zu verschaffen,“8 wird deutlich, dass Verfahren, insbesondere Appellationsverfahren am RHR, zugleich das politische Machtpotential des kaiserlich oberstrichterlichen Amts perpetuierten. Gleichwohl sind gerade die Appellationsverfahren am RHR bislang noch kaum erforscht. Äußerst wenig ist bekannt über deren genaue Häufigkeit, inhaltliche Gewichtung und Wirkung, ebenso wie über die Prozessform selbst, also den idealtypischen Verlauf, formale Erfordernisse, Unterschiede zum erstinstanzlichen Verfahren und vieles mehr. Appellationsverfahren mit jüdischer Beteiligung herauszugreifen, stellt daher einen Anfang dar, der bislang noch nicht kontextualisiert werden kann, der aber – neben der Wirkmächtigkeit kaiserlicher Jurisdiktion auf das jüdische Gemeindeleben im Reich, speziell in Frankfurt – auch nach Besonderheiten des Appellationsverfahrens am RHR fragen kann, nach formalen oder institutionellen Mechanismen, die sich möglicherweise besonders für Juden an diesem Gericht positiv oder negativ auswirken konnten.
Jüdische Präsenz am RHR Waren es während des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts besonders böhmische, mährische und österreichische Juden, die den Weg an den Reichshofrat fanden,9 so verlagerte sich dies zum 18. Jahrhundert hin beinahe gänzlich von den Erblanden ins Reich, vor allem in die kaisernahen Reichsstädte und reichsritterschaftlichen Gebiete im Süden.10 Damit ging 6
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Die Aktenerschließung des reichshofrätlichen Archivs steht im Gegensatz zum Reichskammergericht völlig am Anfang. Jüngst ist der erste Band einer Reihe der Göttinger Akademie der Wissenschaften erschienen, die die Arbeit eines 18jährigen Großprojektes dokumentiert, während dessen die ersten 30 % der RHR-Aktenbestände erschlossen werden sollen. Wolfgang Sellert (Hg.), Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR), Serie I: Alte Prager Akten, Band 1: A-D, bearbeitet von Eva Ortlieb, Berlin 2009. So Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942, S. 35. Zu der Schätzung des Gesamtvolumens des reichshofrätlichen Archivs siehe Auer/Ortlieb, Akten des Reichshofrats, S. 29. Gabriele Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“. Der Reichshofrat und die Reichspolitik des Kaisers, in: Harm Klueting/Wolfgang Schmale (Hgg.), Das Reich und seine Territorialstaaten im 17. und 18. Jahrhundert. Aspekte des Mit-, Neben- und Gegeneinanders, Münster 2004, S. 24. Staudinger, Juden am Reichshofrat, S. 193–200. Kasper, Frankfurter Judengemeinde, S. 34–38.
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zugleich eine deutliche Erhöhung an Prozessen mit jüdischer Beteiligung am RHR einher. Konnten für den Zeitraum von 1559–1669 etwa 1250 Verfahren mit jüdischer Beteiligung ermittelt werden, wovon rund ein Drittel noch auf Gratialia, also nicht judiziale Verfahren entfiel,11 so erhöhte sich diese Anzahl im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf 1385 ermittelte Verfahren mit einem nunmehr verschwindend geringen Anteil an gratialen Vorgängen.12 Damit kann bezüglich der jüdischen Präsenz am RHR von etwa 5 % des Gesamtprozessaufkommens ausgegangen werden, was angesichts des verschwindend geringen jüdischen Bevölkerungsanteils im Reich13 als eine deutlich überproportionale Inanspruchnahme eingestuft werden muss. Die Verteilung der Prozessfrequenz zeigt dabei eine Kongruenz mit den Regierungszeiten der Kaiser, reagiert sowohl auf Neubesetzungen des Amtes wie auf konkrete Ereignisse und lässt die Regierungszeiten der Kaiser Karl VI. (1711–1740) mit 479 und Joseph II. (1765–1790) mit 364 Prozessen mit jüdischer Beteiligung als Zeiträume besonders intensiver jüdischer Prozesstätigkeit am RHR hervortreten.14 Ein Hauptteil der Prozesse umfasst dabei die Schuldenprozesse jüdischer, oftmals als Hoffaktoren tätiger Einzelpersonen, jedoch treten auch im 18. Jahrhundert immer wieder jüdische Gemeinden am RHR als Prozesspartei auf. Dies relativiert das bislang angenommene, allzu homogenisierende Bild, dass die Höchstgerichte beziehungsweise insbesondere der RHR zunehmend nur noch der jüdischen Finanzelite offen gestanden hätten. Besonders die jüdische Gemeinde in Frankfurt rief, ebenso wie ihre Gemeindemitglieder, im Verlauf des 18. Jahrhunderts überproportional häufig und konstant den RHR an – von etwa 500 Prozessen mit Beteiligung von Frankfurter Juden entfiel rund ein Fünftel auf Gemeindeklagen. Als eine der häufigsten und konstantesten Konfliktkonstellationen sind dabei die bereits erwähnten Appellationen der Frankfurter Judenschaft gegen den Frankfurter Magistrat zu verzeichnen. Diese setzten sich vielfach mit zunehmenden 11 12
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Staudinger, Juden am Reichshofrat, S. 188–192. Kasper, Frankfurter Judengemeinde, S. 34. Wobei es sich in beiden Studien (Staudinger, Kasper) um zwar präzise aber dennoch unumgängliche Schätzungen handelt, da jüdische Prozessbeteiligte möglicherweise nicht als solche in den Findmitteln und Protokollbüchern des RHR ausgewiesen wurden und insofern potentiell mehr Verfahren mit jüdischer Beteiligung anzunehmen sind. Laut verschiedenen Schätzungen betrug der jüdische Bevölkerungsanteil im Alten Reich in der Frühen Neuzeit zwischen 0,2 bis max. 1,4 % der Gesamtbevölkerung. Siehe Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahr¬hundert, München 2001 (Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 60), S. 10, 11, 78, 79. Ders., Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium, in: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana; 2), S. 53–79, hier S. 62. Mordechai Breuer/Michael Graetz (Hgg.), Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. I: 1600– 1780, München 1996, S. 147. Sergio DellaPergola, Demographische Entwicklung der europäischen Juden, in: Elke-Vera Kotowski/Julius H. Schoeps/Hiltrud Wallenborn (Hgg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 2, Darmstadt 2001, S. 15–17. Kasper, Frankfurter Judengemeinde, S. 40–48. Siehe dort auch die entsprechende statistische Aufschlüsselung der Daten.
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Eingriffsversuchen des Magistrats in innerjüdische Gemeindeangelegenheiten auseinander wie etwa der Mitgliederaufnahme, Immobilienverkäufen und Bannverhängungen oder aber mit restriktiven städtischen Verordnungen etwa bezüglich der jüdischen Handelstätigkeit und des christlich-jüdischen Miteinanders. Es handelte sich durchweg um die Weiterführung städtischer Konflikte zwischen den Frankfurter jüdischen Gemeindevorstehern als Repräsentanten der Frankfurter jüdischen Gemeinde und dem Frankfurter Magistrat sowie oftmals auch einzelnen jüdischen Gemeindemitgliedern unter umgekehrten Vorzeichen.15 Zwei unterschiedliche Personenkonstellationen lagen dabei den Verfahren in erster Instanz zugrunde: Handelte es sich um gemeindeinterne Konflikte, so waren es zunächst meist die betroffenen jüdischen Gemeindemitglieder, die sich individuell gegen eine gemeindeinterne Verordnung oder aber ein Urteil des Rabbinatsgerichts wehrten und den Fall vor das christliche lokale Gericht brachten. Hier wurde die jüdische Gemeindeleitung in der Lokalinstanz sodann als beklagte Partei involviert und wechselte entsprechend in der Appellation am RHR vom Beklagten zum Kläger. Handelte es sich hingegen um externe Konflikte, beispielsweise um magistratische Verordnungen bezüglich der jüdischen Handelstätigkeit, so folgte auf diesen administrativen Vorgang eine juristische Klageerhebung der jüdischen Gemeindeleitung gegen das betreffende städtische Amt beziehungsweise den Magistrat als übergeordnete Institution. Oftmals hatten dabei die magistratischen Verordnungen ebenfalls zunächst einzelne Gemeindemitglieder betroffen, im lokalen Gerichtsverfahren ebenso wie in der Appellation am RHR jedoch schaltete sich dann die Gemeinde als Korporation vor.
Formale Mechanismen − Handeln ohne Worte In den Forschungen zum RHR beinahe unbeachtet blieben bisher formale Verfahrensmechanismen der Prozesse, wie sie sich nicht auf normativer Ebene, sondern in der reichshofrätlichen Prozesspraxis darstellen. Über eine systematische Analyse von Prozessverläufen kann jedoch das formale Agieren der Prozessparteien untersucht werden, das in vielen Fällen einer zweiten argumentativen Handlungsebene gleichkommt, die nicht unbedingt mit den inhaltlich formulierten Forderungen übereinstimmen muss. Im Hinblick auf das 15
Siehe dazu Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 32), der zentrale Konfliktstellungen der Frankfurter Jüdischen Gemeinde mit dem Magistrat, die sich über die gesamte Frühe Neuzeit hinziehen, aus der Perspektive der innergemeindlichen und städtischen Wahrnehmung heraus analysiert. Die reichshofrätliche Überlieferung bietet dazu in vielen Fällen die dritte Ebene oder Perspektive vor dem übergeordneten kaiserlichen Gericht, die einen wieder anderen Argumentationsrahmen durch die Neupositionierung der Akteure ergab und dadurch ebenfalls die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster beeinflusste.
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Gericht ergeben sich daraus zugleich wichtige Erkenntnisse über die konkrete Verfahrensführung. Anhand einer Formal-Analyse der 28 während der Jahre 1765–1790 anhängigen RHR-Verfahren mit Beteiligung der Frankfurter Gemeinde(-leitung) konnten unter anderem zwei zentrale formale Mechanismen herausgearbeitet werden: (1) Wie bereits erwähnt, waren in einigen Fällen zunächst einzelne Gemeindemitglieder von magistratischen oder gemeindeinternen Verordnungen betroffen, bevor die Baumeister im Namen der Gemeinde in die Verfahren am Frankfurter Schöffenrat sowie die Appellationen am RHR involviert wurden. Waren in der Vorinstanz zunächst noch einzelne Gemeindemitglieder und/ oder ein städtisches Amt als Prozessparteien aktiv, wechselte dies am RHR gänzlich und es standen sich nun die Frankfurter jüdische Gemeindeleitung und der Frankfurter Magistrat als Obrigkeit beziehungsweise das Schöffengericht als Vorinstanz gegenüber. Ähnliche Konstellationsveränderungen waren analog auch in Verfahren einzelner Gemeindemitglieder gegen die Frankfurter jüdische Gemeindeleitung zu beobachten, in denen sich in der reichshofrätlichen Appellationsinstanz die Frankfurter Baumeister nunmehr dem Frankfurter Magistrat beziehungsweise dem Schöffengericht als Konterpart gegenübersahen, während die einzelnen Gemeindemitglieder nicht mehr prozessaktiv wurden und sich somit ein Wechsel der beklagten Prozesspartei vollzog. Formal geschah dies am RHR durch das Mittel der informatorischen Voranhörung, dem sogenannten ,Schreiben um Bericht‘ an die lokale Obrigkeit, das bereits aus erstinstanzlichen Verfahren am RHR bekannt ist16 und ganz besonders häufig dann eingesetzt wurde, wenn es sich um Klagen von Untertanen gegen ihre Obrigkeit handelte. Dieser (Vor-)Verfahrensschritt ermöglichte es dem Gericht, den Beklagten noch „vor Eintritt in ein formelles Verfahren zur Klage zu hören“, und da gerade in solchen Konflikten „regelmäßig mit politischen Auswirkungen zu rechnen war, schien hier eine vorprozessuale Klärung der anstehenden Auseinandersetzung angebracht.“17 Zu diesem Konfliktbereich wurde offensichtlich auch das teils problematische Verhältnis zwischen Frankfurter Magistrat und Judenschaft gezählt. Wann immer daher die Frankfurter jüdische Gemeinde ein Appellationsverfahren gegen Urteile der städtischen Vorinstanz einreichte, konnte sie davon ausgehen, dass ein reichshofrätliches Reskript ,Schreiben um Bericht‘ an den Frankfurter Magistrat ergehen und sie diesem daher im (Vor-)Verfahren gegenüber stehen würde. Es bestand also seitens des RHR eine erstaunliche prozessrechtliche Flexibilität, die für die jüdischen Kläger weitreichende Konsequenzen nach sich zog: Zum einen konnte beziehungsweise musste eine neue Argumentation mit eventuell neuen Beweisen geführt werden und der Magistrat wurde, wiewohl eigentlich Obrigkeit, zum gleichgeordneten Diskutanten, der zu einem konstruktiven, rechtlich klar argumentierten Konfliktlösungsversuch am 16 17
Siehe dazu Sellert, Prozeßgrundsätze, S. 181–191. Ebd., S. 182.
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RHR gezwungen werden konnte. Zum anderen mussten vom RHR Lösungen gefunden werden, die nicht nur für einzelne Gemeindemitglieder, sondern für die ganze jüdische Gemeinde Geltung beanspruchen konnten. Somit wurde bei externen Konflikten potentiell der Schutz Einzelner durch das kollektive Handeln der Gemeinde ermöglicht. (2) Als zweiter formaler Mechanismus zeigte sich in allen untersuchten Verfahren, dass die Appellationseinlegung zu gravierenden und unmittelbar spürbaren Rechtsfolgen führte. Wurde nämlich eine Appellation beim RHR eingeleitet, so konnte das Verfahren an keinem anderen Gericht, so etwa am RKG, mehr anhängig gemacht werden (Präventionswirkung). Vor allem aber konnte, so in den vorliegenden Fällen, vom Magistrat als städtischer Obrigkeit beziehungsweise dem Schöffenrat als Gericht der Vorinstanz, bis zur Erlangung eines Entscheids am RHR in der zu verhandelnden Sache nichts weiter unternommen werden.18 Bereits gefällte Urteile der Vorinstanz wurden in ihrer Wirkung suspendiert.19 So lange daher ein Verfahren am RHR anhängig war, konnte die Rechtswirksamkeit von städtischen Verordnungen und erstinstanzlichen Urteilen, gegen die appelliert worden war, in der Schwebe gehalten werden. Auch wenn die Möglichkeiten, ein Verfahren letztendlich für sich zu entscheiden, für die Judenschaft aus vielfältigen Gründen begrenzt gewesen sein mochte, konnte durch eine langwierige Appellation am RHR die Rechtswirksamkeit von städtischen Verordnungen zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt werden. Währenddessen konnte im ungünstigeren Fall eine außergerichtliche Lösung, beispielsweise ein Vergleich,20 gesucht oder aber im günstigen Fall vom RHR zu ihren Gunsten entschieden werden. Insofern war es gerade bei Prozessen, deren Ausgang ungewiss war, ganz genuin im Interesse zumindest einer, und meist der jüdischen Prozesspartei, die Verfahren so lange wie möglich zu verschleppen. Dadurch wird erst klar, in welch großem Umfang Prozesse am RHR für jüdische Prozessparteien Rechtsschutz bedeuten konnten und ihnen eine erstaunliche lokale Handlungsfreiheit eröffneten. Dass die Verfahren nicht automatisch vom Gericht weiter befördert oder die Verschleppung nicht sanktioniert wurde, lag einerseits daran, dass der RHR, zumindest in den vorliegenden Verfahren, 18
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Sellert, Prozeßgrundsätze, S. 226, 386–390. Laut Sellert war die Suspensivwirkung umstritten und wurde in der Wahlkapitulation Karls VI. aufgehoben (siehe S. 389). Sie scheint später aber wieder in Kraft getreten zu sein, da in den vorliegenden Verfahren der Suspensiveffekt ganz selbstverständlich geltend gemacht wurde. Für Revisionen von erstinstanzlichen RHR-Urteilen war der Devolutiveffekt jedoch de facto ausgesetzt, da diese ebenfalls am RHR verhandelt wurden. Siehe Manfred Uhlhorn, Der Mandatsprozess sine clausula des Reichshofrates, Wien 1990, S. 156–158. Gerhard Buchda, Art. Appellation, in: HRG I, Berlin 22008, Sp. 196–199, hier bes. Sp. 196. Diestelkamp beschreibt etwa die pazifizierende Wirkung als hauptsächliche Begründung für lange Prozesse am RKG, siehe Bernhard Diestelkamp, Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich, Frankfurt am Main 1999 (Ius commune : Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 122), S. 257 f.
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meistens nicht von selbst, sondern nur auf Antrag der Prozessparteien weiterverhandelte, andererseits konnte aber auch die Nichtsanktionierung einer durchaus deutlichen Willensbekundung gleichkommen, insbesondere in den Fällen, in denen Terminmahnungen der Gegenpartei über Jahre einfach ignoriert wurden. Sowohl dem Gericht, als auch den Parteien war es daher möglich, formal ,ohne Worte‘ zu handeln, was gleichwohl nicht mit Passivität, Ineffizienz oder zwangsläufiger Pazifizierungstendenz des RHR verwechselt werden darf.
Argumentieren vor Gericht Verlässt man die formale Ebene und wendet sich der inhaltlichen Argumentation der Prozessparteien zu, so wird deutlich, dass sich die jüdischen Kläger zu ihrem Schutz vor christlichen Gerichten in weit größerem Umfang verschiedener Rechtsquellen bedienen konnten, als bislang gedacht. Wurden bisher vor allem Privilegien und Judenordnungen als Faktoren diskutiert, die die rechtliche Fundierung jüdischen Lebens im Reich (ab-)bildeten und sie zugleich von ihrer christlichen Umgebung abgrenzten, zeigen die rechtlichen Argumentationsmuster der Frankfurter jüdischen Gemeinde vor dem RHR, dass sich diese wesentlich umfassender in die allgemeine Rechtsordnung sowohl auf Reichs- wie auf Stadtebene integriert sah und dies am RHR auch geltend machen konnte. Wenngleich die kaiserlichen Privilegien und im Falle Frankfurts besonders die Stättigkeit von 1616 stets den Ausgangspunkt der Argumentationen bildeten, wurden darüber hinaus jedoch zahlreiche andere Rechtsquellen hinzugezogen. Einige markante Beispiele seien nachfolgend herausgegriffen.
Observanz Observanz, d.h. gewohnheitsrechtliche Elemente auf verschiedenen Ebenen, tritt als eine zentrale Rechtsquelle in den Appellationsverfahren der Frankfurter Jüdischen Gemeinde hervor. Sie wurde, wie die zum Teil noch erhaltenen Voten der betreuenden RHR-Referenten zeigen, vom kaiserlichen Gericht im Untersuchungszeitraum 1765–1790 noch als völlig gleichwertig zu schriftlichen Gesetzen angesehen. Observanz, auch Gewohnheitsrecht, Herkommen und consuetudo genannt, ist eine aus heutiger Sicht besonders fremde Rechtsquelle, deren Bedeutung für das frühneuzeitliche mitteleuropäische21 Rechtsverständnis jedoch zentraler nicht sein könnte. Thomas 21
Different gestaltete sich etwa die Entwicklung im angelsächsischen Raum, wo mit dem Common Law und Case Law gewohnheitsrechtliche Elemente gänzlich anders
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Simon22 etwa zeigte auf, dass es bis weit ins 18. Jahrhundert keine trennscharfe Unterscheidung zwischen den Normtypen Gesetz und Gewohnheitsrecht gab, beide bezogen – zunehmend seit dem 17. Jahrhundert – ihre Verbindlichkeit aus der Vorstellung vom Willen des Gesetzgebers, im Falle des Gewohnheitsrechts wurde eine stillschweigende Zustimmung angenommen.23 Schriftliche Gesetze konnten dabei auch als Unterkategorie von Gewohnheitsrecht begriffen werden, als lediglich schriftlicher Ausdruck eines bereits bestehenden mündlichen Gesetzes, als Unterschied in der Form.24 Inhaltlich unterschieden wurde dies jedoch in der Beweislast vor Gericht. Für das Gemeine Recht wurde hier die Observanz vorausgesetzt, Gewohnheitsrecht hingegen musste, wenn nicht gerichtsnotorisch, also vor Gericht bereits anerkannt, bewiesen werden – durch Zeugen, andere Beweismittel oder gerichtliche Praxis.25 Gleichwohl galt Gewohnheitsrecht, wenn entsprechend ,bewiesen‘, im Konfliktfall als gleich-, wenn nicht höherwertige Rechtsquelle vor frühneuzeitlichen Gerichten, insbesondere weil es als besonders traditionsreiches, altes und damit positiv besetztes Recht angesehen wurde.26 Wenn Erler ausführt, dass Observanz „das innerhalb eines zur Autonomie berechtigten Verbandes geltende Gewohnheitsrecht“ sei, im weiteren Sinne „das in irgendwelchen Körperschaften gebildete Gewohnheitsrecht“ meine,27 so wird zudem deutlich, dass auch gruppenspezifisch gewohnheitsrechtliche Elemente ausgebildet werden konnten. Dass etwa die Frankfurter Judenschaft als eine solche Körperschaft vor dem RHR angesehen wurde, hatte zur Folge, dass sie ihre gemeindeeigenen Observanzen, die sich mit den Minhagim, also religionsrechtlichen Gewohnheiten und Traditionen überlagern konnten, als Gewohnheitsrecht geltend machen konnte. Immer wieder wurden sie in den Entscheidungsfindungen des RHR als Gewohnheits- beziehungsweise Partikularrecht dem Gemeinen Recht vorangestellt. Der Kodifikationsdruck von Recht, von dem bislang angenommen wurde, dass er am Ende des
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akzentuiert wurden als in Kontinentaleuropa. Zur Diskussion siehe Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. II Anglo-amerikanischer Rechtskreis, Tübingen 1975, bes. S. 5–10, 77 f., 146. Thomas Simon, Geltung. Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts, in: Rechtsgeschichte 7 (2005), S. 100–137. Siehe zu dieser Thematik auch: Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahr¬hunderts, Stuttgart 1984 (Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 4 Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz : Abt. Universalgeschichte; 112). Wolfgang Wiegand, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit, Ebelsbach 1977 (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung; 27). Simon, Geltung, S. 102 f. Ebd., S. 103, 106 f. Ebd., S. 115. Siehe zu dieser Thematik besonders Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt am Main 2002 (Rechtsprechung; 18), bes. S. 6 ff. Adalbert Erler, Art. Observanz. In: HRG, Bd. III, Berlin 1984, Sp. 1174 f.
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18. Jahrhunderts bereits vielfach das nichtschriftliche Recht verdrängt hätte, hatte hinsichtlich der reichshofrätliche Rechtsprechung zumindest in diesem Kontext offenbar noch keine Wirkung gezeitigt. Ein Beispielfall möge dies veranschaulichen: Auf eine Beschwerde verschiedener Mehlhändler und Bäcker beim Frankfurter Rechneyamt erging 1738 ein Dekret, dass Juden zukünftig kein Weißmehl mehr in der Gasse handeln dürften. Besonders betraf diese Verordnung die drei jüdischen Mehlhändler Samuel Löw im rothen Huth, Samuel Maaß im rothen Schild, David Abraham Hecht in der Stadt Güntzburg sowie die Frankfurter jüdische Mehlhändlerin Moele Maaß zum fröhlichen Mann, die sich daraufhin an den Frankfurter Schöffenrat wandten. Gleichzeitig schaltete sich ebenfalls die jüdische Gemeindeleitung in dieses Verfahren ein und wandte sich, nachdem auch eine von den Baumeistern erbetene Untersuchung durch das Rechneyamt das Urteil unverändert ließ, im April 1739 per Appellation an das kaiserliche Gericht in Wien. Ein Vergleichsversuch des Magistrats, der auf einem von den christlichen Mehlhändlern vorgelegten Regelungsentwurf basierte, scheiterte. Nach dem vom RHR wie üblich eingeforderten Bericht des Magistrats, der ganz im Sinne der Bäcker und Mehlhändler argumentierte, blieb der Fall zunächst liegen. 1770, nach über 20 Jahren, kam der Magistrat erneut mit der Bitte um einen Entscheid ein und der RHR forderte nun den Gegenbericht der Jüdischen Baumeister. Dieser erfolgte 1771 und stützte sich ebenso wie die Klageschrift von 1739 unter anderem explizit auf die Rechtsquelle der Observanz: „1tens in facto warhafftig und gewiß, daß diese geringe weiß Meel Verkauff in der Juden Gasse nicht etwa nur von 30.40.50.60. und mehr, sondern sogar von unerdencklichen Jahren von den Juden also in Observanz geweßen, und getrieben worden, mithin diese Arme Leuthe hieraus ein jus quaesitum hätten, quia observantia habetur pro lege. Sondern seye auch 2tens aus denen alten Büchern der Meel Waage noch zu ersehen, daß ehedeßen die Juden das Weiß Meel sogar daselbst und aus der ersten hand gekaufft und nachgehends in der Gasse an Juden wieder in das Kleine verkaufft, mithin solchen Handel in weit größerer Quantität getrieben hätten, als Sie jetzo bey ihrem Kleinen Cram thäten. 3.) wäre notorisch, und Stadt kundig, daß vor ungefehr 20. jahren kein Christ in der Juden Gasse Weiß Meel feil gehabt, sondern dieser Weiß Meel Handel ledigliche bey denen Juden bestanden, und privativè von Ihnen getrieben worden.“28
Von besonderem Interesse ist hierbei, welche Bedingungen für die Gültigkeit von Observanzen postuliert wurden, ermöglichen sie doch wertvolle Rückschlüsse auf die zeitgenössischen Zuschreibungen und Vorstellungen von gewohnheitsrechtlichen Rechtsquellen. So wurde in obigem Quellenzitat et28
HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 276/3: “zu Franckfurth Gemeiner Judenschafft Baumeister contra Bürgermeister und Rath, in specie das Recheney-Amt daselbst Appellationis, den Verkauf und Crämerey des Weismehls in der Juden-Gass betreffend“, Laufzeit laut Findbuch 1738–1801, o.F. [Kasper, S. 46–48]. Da die Originalquellen nur in seltenen Fällen eine zeitgenössische Foliierung oder Paginierung aufwiesen, wurde eine Neupaginierung durchgeführt, die jeweils nach der archivsystematischen Zitation in Klammern die Belegstelle mit entsprechender Seitenangabe nachweist. Siehe hierzu Kasper, Frankfurter Judengemeinde, S. 115.
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wa auf die Kontinuität und lange Dauer über viele Jahrzehnte beziehungsweise „vor unerdenklichen Jahren“ als auch auf eine lokalisierbare Öffentlichkeit, nämlich „Stadt kundig“, als Geltungskriterium der Observanz hingewiesen. Neben diesen Hauptkriterien, die fallübergreifend immer wieder genannt wurden, verwies man in verschiedenen Fällen auf weitere Bedingungen, um eine Observanz gültig werden zu lassen, z. B. dass sie nicht gegen das kaiserliche Gesetz gerichtet sei oder die Rechte anderer nicht einschränke, eine (begrenzte) Öffentlichkeit und Bekanntheit habe sowie, dass sie, der Vernünftigkeit folgend, dem Gemeinen Nutzen dienend sowie einen genau definierten Personenkreis umfassend sei. So konnte etwa im Falle einer spezifisch ,jüdischen Observanz‘ diese entweder für die Frankfurter Juden oder aber für alle Judengemeinden, nicht hingegen für Christen gültig sein. Belegt oder bewiesen wurden Observanzen wie im vorliegenden Beispiel durch Verweise auf schriftliche Quellen wie das städtische Mehlbuch, in anderen Fällen aber auch durch Rechtsanwendung, so bei innerjüdischen Fällen auch durch eine jüdische Rechtsanwendung im weitesten Sinne, und durch Beispielfälle. Ebenso konnte sie wiederum durch gegenteilige Beispielfälle oder aber durch Nichteinhaltung delegitimiert werden. Als Beweis konnten zudem Zeugenaussagen dienen, worauf etwa im vorliegenden Fall des Mehlhandels 1770 zurückgegriffen wurde. Nachdem die Hauptprozessbeteiligten nach 20 Jahren, in denen das Verfahren zum Erliegen gekommen war, nicht mehr in Amt und Würden oder gestorben waren, wurde eine Rekonstruktion der Observanz über Zeugenaussagen vorgenommen. Man habe, so die jüdischen Kläger, „einige der ältesten Jüdischen Gemeinde Glieder“ befragt und diese seien zu einem „leiblichen Eyd anheischig“, „daß von jeher, und so lange es Menschen gedencket, jederzeit in der Juden-Gasse Leute gewesen sind, und zwar Juden, welche den Meelkram unter ihnen geführet haben.“29 Die von einem kaiserlichen Notar durchgeführte und beglaubigte Befragung der Gemeindemitglieder Mayer Wormbs (85 Jahre), Benedict Daub (93 Jahre) und Isaac Schwarzschild (90 Jahre), die als Anlage beigefügt wurde, ergab entsprechend, dass diese sich bereits seit ihrer jüngsten Kindheit an Mehlhändler in der Gasse erinnern und jene auch mit Namen und Wohnort benennen konnten.30 Damit seien denn die Haupterfordernisse eines Gewohnheitsrechtes bereits belegt – lange Dauer und Kontinuität. Den hohen Stellenwert gewohnheitsrechtlicher Normen formulierte man seitens der jüdischen Kläger auch 1771 dabei ganz konkret: „So lange es noch ein jus non Scriptum in der Welt giebt; so lange die Rechtsregel gelten mag, daß die consuetudo tamquam lex zu consideriren ist; so lange lex posterior, etiam non scripta, legi priori, quantumvis scriptae, derogire, wenn die übrige zu einer introductione consuetudinis et observantiae nöthige requisita vorhanden sind.“31
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HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 276/3, o.F. [Kasper S. 427 f.]. HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 276/3, o.F. [Kasper S. 438–443]. HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 276/3, o.F. [Kasper S. 423–425].
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Es wurde also argumentiert, dass die Observanz gleich dem (schriftlichen) Gesetz anzusehen sei, insbesondere wenn das nicht schriftliche vor dem schriftlichen Recht bereits existiere und entsprechend belegt werden könne.
Das Recht des Richters – Präjudizien Rechtsanwendung sowohl auf kaiserlicher, als auch auf städtischer und innergemeindlicher Ebene zeigt sich ebenfalls als eine dominierende Rechtsquelle in den Argumentationsmustern vor dem RHR. Die vielfache Heranziehung von Präjudiz- und Beispielfällen am RHR veranschaulicht dabei zum einen, welch hohe Bedeutung dem Recht des Richters von allen Prozessparteien zugemessen wurde, zum anderen aber, im Hinblick auf die jüdische Prozesspartei, dass man sich der potentiellen Bedeutung von RHR-Verfahren sehr wohl bewusst war und diese auch aus strategischen Gründen einzubringen wusste. So ermöglichte die Einreichung mehrerer inhaltlich ähnlich gelagerter Appellationen darauf eine ordentliche Klage über ein gravamen continuum aufzubauen, diese an den RHR zu bringen und damit das Verhältnis von jüdischer Gemeinde und Magistrat auf einer vom Einzelfall abstrahierenden grundsätzlichen Ebene der rechtlichen Beurteilung zu unterwerfen. Besonders evident wird das rechtliche Argumentieren mit Präjudizien in Verfahren bezüglich Immobilienveräußerungen innerhalb der Judengasse im Falle von ausstehenden Gemeindeschulden der vorherigen Inhaber. In diesen Fällen durfte − nach Ansicht der jüdischen Gemeindeleitung − mit der Verweigerung der für den Verkauf erforderlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung der Gemeindekasse, im Falle von Vermietungen mit einer Bannverhängung vorgegangen werden, um die vorherige Ableistung ausstehender Gemeindeabgaben zu gewährleisten. So wurden am RHR im Zeitraum zwischen 1774 bis 1789 sechs Appellationen gegen entsprechende Schöffenratsdekrete eingelegt, die die Ausfertigung dieser Bescheinigung beziehungsweise die Aufhebung eines damit einhergehenden Bannes hatten erzwingen wollen. In vier Fällen lag den lokalen Verfahren das aktive Handeln betroffener Gemeindemitglieder zugrunde, die sich aus unterschiedlichen Gründen gegen die ihnen ungerechtfertigt erscheinende Gemeindeentscheidung gewehrt hatten. Sie hatten sich an das christliche Gericht mit der Bitte um Aufhebung des Gemeindeentscheids gewandt und bekamen in allen Fällen umgehend Recht zugesprochen, woraufhin die jüdische Gemeindeleitung jeweils Appellationsverfahren am RHR eingereicht hatte. In zwei Verfahren hingegen waren es christliche Gläubiger, die sich als Nichtgemeindemitglieder zu Unrecht von den Folgen dieses gemeindeinternen Vorgehens betroffen sahen und dies ebenfalls vor das lokale Gericht in Frankfurt brachten. Fünf Verfahren nun waren noch anhängig sowie eines durch einen Vergleich beendet als die Gemeinde 1789 mit einem erstinstanzlichen Ersuchen um ein rescriptum sine clausula und dem Petitum einkam, dass eine Aufhe-
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bung der schöffenrätlichen Dekrete allein nicht mehr ausreiche, sondern vielmehr ein grundsätzlicher Strafbefehl von Nöten sei: „Die kundbahresten Reichsgesäzen bestimmen bekanntlich in solchen Fällen Kaiserliche Strafgebotte, um dem eigenmächtigen Fürschritten eins Theils Gränzen zu sezen, die Gerechtsame und den quasi Besiz des andern aber zu sichern.“32
Und um ein solch eigenmächtiges Vorgehen, das nur dazu diene, ihre Rechte zu schmälern, handle es sich: „In dieser Rücksicht sowohl, als auch durch öftere leidige Erfahrung belehret, daß der Magistrat zu Frankfurth seinen Grundsäzen getreü verbleibet, und diese Jüdische Befugnisse bey jedem Anlaß zu hemmen und abzustriken sucht [...].“33
Unter expliziter Bezugnahme und Verweis auf die oben genannten sechs – wohlgemerkt nur während des Regierungszeitraumes Josephs II. − zuvor eingelegten Appellationen, deren Argumentationen, Rechtsquellen und Beweisführung, zeichnete man nun also eine Handlungsstrategie des Magistrates gegen die Frankfurter Judenschaft. Geschickt verknüpfte man diese Argumentation mit dem Hinweis auf die durch derartige Eingriffe in die jüdische Jurisdiktions- und Exekutionskompetenz bedrohte Finanzleistung der Gemeinde, an deren Erhalt auch der kaiserliche Schutzherr ein genuines Eigeninteresse besaß. In einer konstruierten Frontstellung zwischen Magistrat und jüdischer Gemeinde konnte von der jüdischen Gemeindeleitung damit sehr selbstbewusst nicht nur die jurisdiktionelle wie exekutive Autonomie in Gemeindesteuerangelegenheiten eingefordert werden, sondern auch eine harte und grundlegende Bestrafung der obrigkeitlichen Einmischung. Mit jeder Appellation am RHR schuf man sich daher potentiell neue Präjudizfälle und machte Konflikte zunehmend rechtlich greifbarer. Selbst wenn diese Verfahren am RHR (noch) nicht zu einem für die Judenschaft günstigen Abschluss gekommen waren, so reichte offenbar bereits ihre bloße Existenz für das Einklagen eines gravamen continuum und des von konkreten Einzelfallbezügen losgelösten beziehungsweise übergeordneten Grundkonfliktes aus. Für diesen Befund sprach auch, dass von den jüdischen Klägern vor dem RHR ohne Probleme Aktenstücke, nicht nur Urteile, von jahrzehntealten RHR-Prozessen vorgelegt werden konnten, wie es die notarielle Beglaubigung oftmals auswies. Dies wiederum legte nahe, dass die Gemeinde über ein gut sortiertes Gemeindearchiv verfügt haben muss und man diesen Akten bereits den präjudizierenden Wert zuschrieb, der ihnen tatsächlich zukommen sollte. Zugleich kam dadurch auch der Einlegung scheinbar geringfügiger Appellationen am kaiserlichen Gericht strategische Bedeutung zu.34 32
33 34
HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 278/3: „Zu Frankfurth Bau- und Kastenmeister der gemeinen Judenschafft contra Den Magistrat der Reichsstadt Frankfurth Die Verbietung des Schulbanns gegen saumselige Gemeindsgläubiger, dann die Ausfertigung der Chelude betr.“, Laufzeit laut Findbuch 1789–1800, o.F. [Kasper S. 57]. HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 278/3, o.F. [Kasper , S. 6 f.]. Siehe dazu auch Gotzmann, Autonomie, S. 404, 458, der ebenfalls die Wahrnehmung einer strategischen Justiznutzung des RHR durch Frankfurter Juden in Aussagen städtischer Gutachter in Frankfurt am Beginn des 18. Jahrhunderts dokumentieren kann.
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Willensintention des kaiserlichen Gesetzgebers Dass eine durch konkrete Einzelregulierungen charakterisierte Rechtsquelle wie die Frankfurter Stättigkeit von 1616 offensichtlich zunehmend als diskrepant und unzureichend zur sich verändernden Lebenswelt erfahren wurde, zeigte ein Großteil der Verfahren, in denen Stättigkeitsparagraphen entweder strittig wurden oder aber Regulierungen gänzlich fehlten, so etwa wenn ein neuer Handelszweig entstanden war oder gemeindliche Steuerleistungen neue Kontrollinstrumente erforderten. Die normative Lücke, die sich dadurch ergab, bot nun Interpretations- und Handlungsspielräume sowohl für die jüdische Gemeinde wie auch den Magistrat, die man auf beiden Seiten zugunsten des eigenen Machterwerbs oder zumindest der Kompetenzerweiterung nutzen wollte. Während dem Magistrat durch seine Jurisdiktion dazu ein konkretes Handlungsinstrument zur Verfügung stand, nutzte die jüdische Gemeinde unter anderem ihren direkten Zugang zum kaiserlichen Höchstgericht, um Verordnungen des Magistrats zu blockieren und im positiven Fall zu ihren Gunsten zu verändern. Vor dem RHR, dessen jurisdiktionelle Zuständigkeit im Übrigen in keinem der Verfahren hinterfragt wurde, wurde die kaiserliche Willensmeinung, oder moderner ausgedrückt die gesetzgeberische Intention, zum Schlüsselindikator der Interpretationsansprüche. Beide Seiten, sowohl die jüdischen Baumeister als auch der Magistrat, versuchten sich dabei als alleiniger kaiserlicher Interessensvertreter zu etablieren. Die jüdische Gemeindeleitung tat dies über die Gleichsetzung ihrer Rechte mit den kaiserlichen Rechten: Indem sie ihre Rechte gegen die Übergriffe des Magistrats verteidige, wahre sie zugleich die Reservatrechte des Kaisers. Dabei wurden in zweierlei Hinsicht Gegenseitigkeitsverhältnisse aufgebaut: zum einen ein Gehorsam-Schutz-Prinzip mit dem Kaiser, zum anderen aber auch ein Gehorsam-AutonomiewahrungsPrinzip mit dem Magistrat. Nur wenn dieser nämlich eine umfassende Wahrung der Gemeindeautonomie entsprechend der von ihm vermeintlich im Sinne des Kaisers ausgelegten strittigen Privilegienrechte anerkenne, könne man seinen Anordnungen als Obrigkeit Folge leisten. Andernfalls würden diese legitim durch Nichtbeachtung oder Klage am RHR ausgesetzt. Dabei legte man die Vorstellung zugrunde, dass der Magistrat und die jüdische Gemeinde im Hinblick auf die Stättigkeit, die das gemeinsame Miteinander regle, Vertragspartner seien, also hierarchisch auf gleicher Stufe stünden. Die dem Magistrat unterstellte aggressive Handlungsstrategie, durch seine Jurisdiktion die kaiserlichen Rechte wenn nicht auszusetzen, so doch zumindest zu seinen Gunsten zu erweitern, konnte dieser Vorstellung zufolge als unrechtmäßig, weil nicht in seiner Macht stehend, reklamiert werden. Im bereits erwähnten Verfahren bezüglich des Mehlhandels in der Judengasse formulierten die jüdischen Kläger dies etwa wie folgt: „Wenigstens kann Magistrat nicht wissen, was der Kaiser für einen mentem et intentionem
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gehabt habe, und ist es etwas voreilig darüber zu judicieren, ohne sich bey dem Supremo Legislatore, welcher die Stättigkeit gegeben, genau zu erkundigen.“35 „Allein posito, sed non concesso hoc argumento, so bleibet dieser Schluß doch immer falsch, wenn man die Geschichte der Stättigkeit zum Grund leget. Der Anfang des 17.ten Jahrhunderts, oder der Jahre 1600. waren der Stadt Franckfurth und auch den Juden sehr fatal. Ein gefährlicher Aufruhr, der auf die letzte Blut kostete, entstunde damahls. Die Judengasse wurde geplündert, die Juden selbst vertrieben. Der Rath war zu schwach, der Rebellion zu widerstehen, und die Kaiserliche Allerhöchste Hülfe muste implorirt werden, und stunde der rechtmäßigen Obrigkeit gegen die Rebellen so kräfftig bey, daß diese endlich ihre Schuld mit dem Leben bezahlen musten. Wie nun Ihro glorreiche Kayserliche Majestät auf diese Weise die Ruhe unter Rath und Bürgerschafft hergestellet, so bemüheten sich auch Allerhöchstdieselbe, die Judenschafft auf einen gewissen Fuß zu setzen. Unter allerhöchsten auspiciis wurde die Stättigkeit verfertiget, und beyde Theile, Magistratus et Cives auf einer, Judaei auf der andern Seite, fügten sich derselben in allerunterthänigster Ehrfurcht; daher dieselbe dann auch einestheils zwar, et quidem potissimum Respectu ad Augustissimum habito, pro lege, anderntheils aber hauptsächlich pro pacto inter Christianos, Magistratum et Cives ab unã, et Judaeos ab alterã parte, zu achten ist. Es ist also nicht hinlänglich zu sagen, Magistratus habe hanc vel illam mentem et intentionem geheeget, sondern wird auch, wie bey allen pactis, nöthig seyn zu erweisen, daß compaciscentes, sive pars altera, gleichermassen diese intention geheeget hat [...].“36
Zunächst wird also ausgeführt, dass die magistratische Intention nicht gleichzusetzen sei mit der kaiserlichen Intention, denn der Kaiser als Oberster Richter, Supremus Legislator, gebe und verleihe die Stättigkeit, d.h. der Magistrat empfange sie ebenso wie die Judenschaft. Da dies als einseitiger Vorgang dargestellt wird, nämlich vom Gebenden zum Nehmenden, könne der Magistrat nicht die kaiserliche Intention kennen, wenn sie ihm nicht explizit mitgeteilt werde. Dies wird durch die Entstehungsgeschichte der Frankfurter Judenordnung von 1616, der Stättigkeit, zu belegen versucht, in der deutlich geworden sei, dass der Rat nicht der (alleinige) kaiserliche Willensträger oder gar Träger des kaiserlichen Schutzes der Untertanen sein könne, denn er sei ja bereits damals „zu schwach“ und nicht gegen Rebellion gefestigt gewesen, so dass er zur Niederschlagung der Rebellion um den kaiserlichen Schutz selbst habe ansuchen müssen. Der Schutz geht also in dieser Interpretation allein vom Kaiser aus. Insofern stelle auch die Stättigkeit aus Sicht der Beteiligten vielmehr einen Vertrag zwischen Christen, worunter gleichgestellt Bürger und Magistrat subsumiert werden, und Juden dar. Die Vorstellung eines Vertragscharakters der Stättigkeit suggeriert also gleichwertige Vertragspartner, woraus geschlossen wird, dass dabei der eine Teil nicht mehr Träger der kaiserlichen Intention als der andere sein könne, vielmehr beide sich als Untertanen in den Gehorsam gegenüber dem Kaiser fügen müssten, der dafür den Schutz verleihe. Dem setzte der Magistrat freilich eine gänzlich andere Argumentationsstrategie entgegen. Aus seinem kaiserlich privilegierten Obrigkeitsrecht, aus 35 36
HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 276/3, o.F. [Kasper S. 397–399]. HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 276/3, o.F. [Kasper S. 398–401].
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reichsständischen Rechten sowie als Gewalthaber der Policeyaufsicht versuchte er, auch vor dem Reichshofrat seine umfassende Entscheidungsbefugnis sowohl über christliche wie jüdische Untertanen zu behaupten. Dass er dabei stets im Sinne der kaiserlichen Gesetzgeberintention handle, fundierte er zum einen in einem religiösen Bezugsrahmen, indem er nämlich in erster Linie die (Vorzugs-)Rechte der christlichen Bürger schützen und bei der Auslegung strittiger Regulierungen diese daher immer in deren Sinne interpretieren müsse, zum anderen aber in einem mehr politischen als rechtlichen, aufgeklärt-absolutistischen Verweissystem auf das Gemeine Beste, den Gemeinen Nutzen und die Vernünftigkeit, in das nicht nur die Rechte der jüdischen Gemeinde, sondern aller Bürger miteinbezogen werden müssten. In dieser Vorstellung konnten die Abwehrversuche der jüdischen Gemeinde von magistratischen Regulierungen als Strategie gewertet werden, sich bewusst und zunehmend der magistratischen Jurisdiktion zu entziehen und eine eigene, konkurrierende Rechtsprechung aufzubauen, die die Gemeinde abschotte und unkontrollierbar mache, wie es mehrfach mit dem Bild des statum in statu veranschaulicht wurde. Indem sie per se eine Gleichsetzung der Wahrung ihrer konkreten Privilegienrechte mit den kaiserlichen Rechten vollzog, konnte die Frankfurter Jüdische Gemeinde auf eine Gehorsam-Schutz-Gegenseitigkeit verweisen, die immer wieder fallentscheidend werden sollte. Der RHR folgte dieser Argumentation mehrfach und bestätigte in den Voten teils explizit das von den jüdischen Klägern konstruierte Bild des Magistrats als reichsständischem Aggressor, der zunehmend versuche, kaiserliche Gesetze und Kompetenzen zu untergraben, um kaiserliche Machtbefugnisse für sich zu beanspruchen. Dass in diesem Argumentationskontext sowohl die jüdischen Kläger als auch der Magistrat mehrfach auf die kaiserliche Rechtsanwendung in anderen Fällen verwiesen, lässt vermuten, dass dahinter die Annahme stand, die Intention des Gesetzgebers könne vor allem über das vom Gericht gesetzte Recht erschlossen werden. Insbesondere die kaiserlichen Kommissionsabschiede im Frankfurter Verfassungsstreit zu Beginn des 18. Jahrhunderts traten dabei als Normquelle immer wieder in den Vordergrund.37
Zusammenschau − Gemeindeautonomie durch kaiserlichen Schutz Dass die jüdischen Kläger zahlreiche Rechtsquellen neben Privilegien und Judenordnungen für sich geltend machen konnten, von denen hier nur einige ex37
Siehe dazu vor allem Paul Hohenemser, Der Frankfurter Verfassungsstreit und die kaiserlichen Kommissionen 1705–1732, Frankfurt 1920. Gerald Lyman Soliday, A community in conflict. Frankfurt society in the seventeenth and early eighteenth centuries, Hanover NH 1974.
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emplarisch herausgegriffen wurden,38 verweist auf zweierlei: Zum einen sahen sie sich selbst offenbar als in die sie umgebende Rechtsordnung integriert und versuchten aktiv sowie in versiertem Umgang mit den verschiedenen Rechtsquellen einen höheren Schutz und eine rechtliche Besserstellung innerhalb der Rechtsordnung zu erreichen. Zum anderen gelang ihnen dies über den RHR auch in weit größerem Umfang als bislang gedacht, und wurde durch die reichshofrätlichen Entscheide festgeschrieben und perpetuiert. Insofern kann der RHR unter anderem auch als Forum gewertet werden, in dem die Frankfurter jüdischen Kläger, zwar nicht in einem öffentlichen Diskurs, aber doch auf Ebene der wichtigsten Entscheidungsträger und Funktionseliten im Reich, sowohl ihre Frankfurter Gemeindeautonomie als auch eine rechtliche Besserstellung – in letzter Konsequenz nicht nur für sich selbst, sondern für jüdische Gemeinden an sich – aktiv erfolgreich behaupten beziehungsweise einfordern konnten. Dass dabei in überwiegendem Maße auf traditionelle Rechtsquellen und konservative juristische Argumentationselemente zurückgegriffen wurde, während zeitgenössische naturrechtliche und aufklärerische Ansätze fast nie zum Tragen kamen, mag angesichts der jüdischen Gruppe, die dabei agierte – nämlich die Frankfurter traditionellreligiöse Elite – nicht verwundern; es zeigt vielmehr wie versiert mit den bestehenden ,alten‘ Rechtsvorstellungen und -quellen funktional umgegangen werden konnte. Dies verweist zudem darauf, dass das frühneuzeitliche Rechtssystem durchaus keinen starren, nicht-verhandelbaren Rahmen bildete, sondern sich in der reichshofrätlichen Rechtsprechung zumindest für jüdische Einzelgruppen, wie die Frankfurter Gemeinde, flexibel erweisen und ihnen damit neue oder erweiterte Handlungsspielräume eröffnen konnte. Stärker als das RKG, das von Juden und vermutlich vor allem jüdischen Gemeinden wesentlich seltener als der RHR angerufen wurde,39 entwickelte sich daher letzterer im 18. Jahrhundert insbesondere in kaisernahen Gebieten zum Wahrer jüdischer Gemeindeautonomie und damit deren traditioneller Gemeinde- und Gesellschaftsstrukturen. Der politische Umbruch durch das Ende des Alten Reiches 1806 musste damit gerade für diese jüdischen Gemeinden, die sich unter anderem mit Hilfe des kaiserlichen Gerichts noch eine gewisse Autonomie hatten bewahren können, zunächst einmal den Verlust rechtlicher Stabilität und bewährter Handlungsstrategien bedeuten. Gleich38
39
Siehe zu weiteren Rechtsquellen, die in den RHR-Prozessen der Frankfurter Gemeinde hinzugezogen wurden, wie etwa Römisches Recht, Jüdisches Recht, Naturrecht, Öffentliches Recht, Juristische Literatur, oder auch Verfahrensrecht: Kasper, Frankfurter Judengemeinde, S. 109–266 sowie den transkribierten Quellenanhang S. 315–667. Siehe dazu Battenberg, Rechtliche Rahmenbedingungen, S. 61 f. Ders.: Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch, Wetzlar 1992, S. 6. Frey, Rechtsschutz, S. 48. Für Frankfurt und Hamburg siehe besonders Annette Baumann, Jüdische Reichskammergerichtsprozesse aus den Reichsstädten Frankfurt und Hamburg. Eine quantitative Annäherung, Gotzmann/Wendehorst, Juden im Recht, S. 297–316.
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wohl war dieser kaiserliche Schutz stets limitiert gewesen, war er doch an den Zugang zum kaiserlichen Gericht gebunden und damit regional sehr unterschiedlich wirksam. Zudem blieb er immer auf konkrete Konfliktsituationen beschränkt und verfolgte (noch) zu keinem Zeitpunkt die Intention einer grundsätzlichen Veränderung der gegebenen jüdischen Lebensbedingungen und der sie betreffenden rechtlichen Ordnung.
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Freies Wohnrecht für Juden? Ein Hamburger Fall vor dem Reichskammergericht im Zeitalter der Französischen Revolution I. Einleitung Gegenstand dieses Beitrags ist der Versuch des Hamburger Juden Salomon Levin Fürst, mit Hilfe des Reichskammergerichts das den Hamburger Juden bis dahin vorenthaltene freie Wohnrecht in Hamburg als ein ihm vorenthaltenes Bürgerrecht einzuklagen. Das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts brachte der Reichsstadt Hamburg ebenso wie dem Reich viele Neuerungen. Die Stadt profitierte nach dem Ausbruch der Französischen Revolution von der wachsenden Wirtschaftskraft Deutschlands und den ökonomischen Veränderungen im Zeichen der Französischen Revolution. Gerade in diesem Zeitraum knüpften die Hamburger Kaufleute weltweite Verbindungen. Neue Warenströme wurden auf Grund der westeuropäischen Entwicklungen nach Hamburg geleitet und brachten der Reichsstadt die bis dahin größte Wirtschaftsblüte. Die Verflechtung der Stadt mit den dänischen Nachbargemeinden Wandsbeck und Altona nahm weiter zu.1 Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung Hamburgs im Zeitraum von 1787 bis 1794 auf 130.000 Einwohner an. Das bedeutete, dass durch die Zuwanderung und den wachsenden Bedarf an Lager- und Wohnraum in der wirtschaftlichen Hochkonjunkturphase beides in Hamburg extrem knapp wurde und die allgemeinen Lebenshaltungskosten stiegen.2 Armut breitete sich aus und führte zu Revolten. Im Jahre 1791 fand ein großer Gesellenaufstand statt. Die Initiative dazu war von den Schlossergesellen ausgegangen. Alle Handwerksgesellen in Hamburg legten die Arbeit nieder3 . Es folgten weitere Unruhen, die erst mit Hilfe des Militärs niedergeschlagen werden konnten4 . 1799 nahm der Wirtschaftsboom nach Spekulationen, Überproduktion und zu großer Lagerhal1 2
3
4
Erich von Lehe, Heinz Ramm, Dietrich Kausche (Hgg.), Heimatchronik der Freien und Hansestadt Hamburg. 2. Auflage Köln 1967, S. 349. Ellermeyer, Jürgen: Hanseatische Liberalität und Wohnrecht der Hamburger Juden um 1800, in: Silke Urbanski, Christian Lamschus, Jürgen Ellermeyer (Hgg.), Recht und Alltag im Hanseraum. Gerhardt Theuerkauf zum 60. Geburtstag. Lüneburg, S. 71–124, hier S. 72. Franklin Kopitzsch, Zwischen Hauptrezeß und Franzosenzeit 1712–1806, in: Werner Jochmann, Hans-Dieter Loose (Hgg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Bd. I. Von den Anfängen bis zur Reichsgründung. Hamburg 1982, S. 369. Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Teil 1–2, Hamburg 1982, S. 183.
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tung ein plötzliches Ende.5 In diesem Jahr fallierten 152 Handelshäuser. Ein Handelskrieg zwischen England und Frankreich hatte zur Folge, dass 1803 die Elbe durch die Engländer blockiert wurde. Die 1806 verhängte französische Kontinentalsperre wirkte sich auch auf Hamburg aus. Einen Anteil am Wirtschaftserfolg Hamburgs hatten auch verschiedene Minderheiten in der Stadt.6 Hamburg hatte im Mittelalter keine jüdische Gemeinde besessen. Jüdisches Leben begann vielmehr erst mit der Einwanderung der sogenannten Marranen, in Portugal und Spanien zwangsbekehrte Juden, die über die Niederlande nach Hamburg gelangten und sich dort seit etwa 1570 niederließen. Nach einem Übergangszeitraum begannen sich diese wieder zum Judentum zu bekennen.7 Die Bürger Hamburgs erkannten, dass die neuen Fremden keine katholische Christen, sondern Juden waren und verlangten deshalb die Ausweisung aus der Stadt. Dies versuchte der Rat zu verhindern, da er sich von dem Aufenthalt der Juden große wirtschaftliche Vorteile versprach.8 Im Ergebnis kam es zu einem befristeten und mit Auflagen beschwerten Niederlassungsrecht, das immer wieder verlängert wurde. Im 17. Jahrhundert schwankte die Anzahl der sephardischen Juden je nach Konjunkturlage stark.9 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wirkte eine kaiserliche Kommission mit Kardinal Damian von Schönborn an der Spitze in Hamburg, die die Verfassungskonflikte zwischen Bürgerschaft und Senat regelte.10 Diese Kommission ordnete auch die Rechtsverhältnisse der Juden neu. Sowohl die unter ihrer Mitwirkung erlassene städtische Verfassung, der sogenannte „Hauptrezess“ als auch das Judenreglement besaßen mit Ausnahme der französischen Herrschaftsperiode bis weit ins 19. Jahrhundert Gültigkeit.11 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte sich der Charakter der jüdischen Einwohnerschaft geändert. Zahlreiche sephardische Juden waren auf Grund restriktiver Maßnahmen des Hamburger Senats bereits in den 1690er Jahren aus Hamburg weggezogen. Viele aschkenasische Juden, die in den Jahren zuvor in Hamburg nur als Bedienstete der Sepharden geduldet worden waren, 5 6 7 8 9
10 11
Ebd., S. 183. Joachim Whaley, Religious Toleration and Social Change in Hamburg, 1529–1819, Cambridge 2002. Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 100. Jutta Braden, Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590–1710, Hamburg 2001, S. 84. Anette Baumann, Jüdische Reichskammergerichtsprozesse aus den Reichsstädten Frankfurt und Hamburg. Eine quantitative Annäherung, in: Andreas Gotzmann, Stephan Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte im Alten Reich, Berlin 2007, S. 297–316. Gerd Augner, Die kaiserliche Kommission der Jahre 1708 bis 1712. Hamburgs Beziehung zu Kaiser und Reich zu Anfang des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1983, S. 172 f. Siehe hierzu Johannes Klefeker (Hg.), Sammlung der hamburgischen Gesetze und Verfassungen in bürger- und Kirchlichen, auch Cammer-, Handlungs- und übrigen PoliceyAngelegenheiten und Geschäften samt historischen Einleitung, Hamburg Bd. 1–12, 1765–1774, vor allem Band 4, 1767.
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siedelten nun von Altona und Wandsbeck nach Hamburg um. Die sephardische Ära war zu Ende; aschkenasische Juden bestimmten jetzt in Hamburg das Fortbestehen der jüdischen Gemeinde. Ausdruck hierfür ist der Zusammenschluss der Juden aus Altona, Hamburg und Wandsbek zur sogenannten Dreigemeinde.12 Um 1800 gab es schließlich rund 6500 Juden in der Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek, die eines der bedeutendsten jüdischen Zentren Mitteleuropas bildete. Dabei gestaltete sich die rechtliche und soziale Stellung der Juden in den drei Orten sehr unterschiedlich. In Altona war der Status der Juden relativ eindeutig und großzügig durch Privilegien geregelt, die der dänische König, der über Altona als Herzog von Holstein herrschte, verlieh. In Hamburg dagegen lagen die Verhältnisse weitaus komplizierter.13 Grundlegende Fragen der rechtliche Stellung der Juden – Salo Wittmayer Baron spricht von einem „Grundgesetz“ in Hamburg im 18. Jahrhundert waren durch das „Judenregelement“, einen Bestandteil des „Hauptrezesses“ von 1710 geregelt.14 Darin waren in 23 Artikeln Rechte und Pflichten der Juden festgelegt. Das „Judenreglement“ ist geteilt und richtete sich getrennt an die sephardischen und aschkenasischen Juden. Gegenstand der ersten Artikel ist die Religionsausübung von Juden und Christen. An Sonn- und Feiertagen hatten sich die Juden still und zurückgezogen zu verhalten. Es war ihnen verboten, Christen zu beleidigen. Gleichzeitig wurde ihnen die Ausübung der Religion und die Abhaltung religiöser Zusammenkünfte gewährt. Allerdings durften die Juden ihren Gottesdienst nur in privaten Häusern abhalten. Das „exercitium religionis publicum“ blieb ihnen verwehrt. Der jüdische Gottesdienst sollte leise und diskret ohne „Läutens, Gerufs und Blasens auf Hörnern und Posaunen“ geschehen.15 Das „Judenreglement“ betraf auch die Begräbnisse der Juden. Unter den Bestimmungen, die das Zusammenleben mit Christen regeln, ist bemerkenswert, dass den Juden auch christliche Dienstboten zugestanden wurden, mit der Auflage, dass diese nicht an ihrer Religionsausübung gehindert werden dürften.16 Weitere Artikel behandeln das Wirtschaftsleben der Juden, vor allem das Vorgehen bei wirtschaftlichen Verfehlungen. Hinsichtlich der zu leistenden Abgaben wurden Juden zu allen „ordinaire und extraordinaire Stadt onera und Auflagen“ 12
13
14 15 16
Günter Marwedel, Aschkenasische Juden im Hamburger Raum, in: Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990. Wiss. Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“ hrsg. von Arno Herzig in Zusammenarbeit mit Saskia Rohde, Hamburg 1991, S. 41–60, hier S. 47. Franklin Kopitzsch, Zwischen Hauptrezeß und Franzosenzeit 1712–1806, in: Werner Jochmann, Hans-Dieter Loose (Hgg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Bd. I. Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, S. 396; Stephan Wendehorst, Imperial Spaces as Jewish Spaces. The Holy Roman Empire, the Emperor and the Jews in the Early Modern Period. Some Preliminary Observations, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/ Simon-Dubnow-Institute Yearbook 2 (2003), S. 436–475. Salo W. Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß, Wien/Berlin, 1920, S. 35. Klefeker, Sammlung der hamburgischen Gesetze und Verfassungen, Bd. 4, Artikel 5. Ebd., Artikel 7.
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herangezogen, wie die anderen Bürger und Einwohner auch, gleichzeitig sollten mit „anderen Contributionen aber, unter was Prätext es auch sey, nicht beschweret werden“17 . Außerdem verpflichtete sich die Stadt, den Juden obrigkeitlichen Schutz und Hilfe zukommen zu lassen. Weitere Artikel verboten den Christen, die Juden an der Ausübung ihrer Religion zu hindern oder sie öffentlich zu diskriminieren. Darauf folgten Bestimmungen, die die wirtschaftlichen Aktivitäten der portugiesischen Juden betrafen.18 Die letzten Artikel behandelten die rechtliche Stellung der Juden. So waren die Juden bei geistlichen und weltlichen Streitfällen, außer bei Vormundschaftsangelegenheiten, den Statuten und Gesetzen der Stadt Hamburg und des Heiligen Römischen Reiches unterworfen. Dabei wurde ausdrücklich die Zuständigkeit der Reichsstadt Hamburg in Policeyangelegenheiten betont.19 Die Statuten, die ausschließlich die aschkenasischen Juden betrafen, bestimmten zudem, dass diese ihre Vermögensveranlagung selbst vornehmen sollten, um die von der Stadt erhobenen Steuern zu begleichen. Hamburg konnte diese Steuern auch per Exekution eintreiben. Juden, die sie nicht bezahlten, sollten dagegen „aber sofort aus der Stadt geschaffet werden“.20 Richtet man den Blick auf Hamburgische Juden und ihre Nutzung des Reichskammergerichts, so können folgende quantitative Aussagen gemacht werden: Insgesamt machen jüdische Prozesse einen Anteil von 4.8 % vom gesamten Prozessaufkommen in Hamburg aus. Leider sind die jüdischen Einwohnerzahlen bestenfalls annäherungsweise zu ermitteln, so dass ein Vergleich nur unzulänglich sein kann. Man schätzt, dass 1790 rund 4 % der hamburgischen Gesamtbevölkerung Juden waren.21 Der erste Prozess mit jüdischer Beteiligung aus Hamburg stammt aus dem Jahre 1574. Der Faktor des Königs von Portugal in Antwerpen, Jacentin, verklagte den portugiesischen Juden Maciel wegen des Arrests von 254 Säcken Pfeffern, wobei das Reichskammergericht nicht wegen der Pfändung, sondern wegen der Versendung von Akten an eine Juristenfakultät angerufen wurde.22 Der Anteil der Prozesse mit jüdischer Beteiligung stieg schließlich auf über 4 % des gesamten Prozessaufkommens im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts.23 17 18 19 20 21
22
23
Ebd., Bd. 4, Artikel 14. Ebd., Bd. 4, Artikel 20 ff. Ebd., Bd. 4, Artikel 23. Ebd., Bd. 4, Artikel 23. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 175–213, hier S. 184. Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, Teil 1–4: Titelaufnahmen. A–H, I–R, S–Z, Indices, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg XIII, 1 bis XIII, 4), Hamburg 1993–1995, und Hermann Kellenbenz, Sephardim an der Unterelbe, Wiesbaden 1958, S. 26. Anette Baumann, Jüdische Reichskammergerichtsprozesse aus den Reichsstädten Frankfurt und Hamburg. Eine quantitative Annäherung, in: Andreas Gotzmann, Stephan
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Danach erfolgte ein Einbruch, der eng mit dem Streit um das Niederlassungsrecht der sephardischen Juden zusammenhing, ab 1620 stiegen jedoch die Eingangszahlen am Gericht wieder und erreichten einen Anteil von 3 % des gesamten hamburgischen Geschäftsaufkommens.24 In den folgenden Jahren blieb die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch die Juden abhängig von der Wirtschaftskraft der Stadt und schwankte sehr. So hatte Hamburg durch den Dreißigjährigen Krieg wenig Verluste hinzunehmen mit der Folge, dass die Anzahl der Prozesse von Juden in dieser Zeit mit 12 % oder 13 % ihren Höhepunkt erreichte. In den 1670er und 1680er Jahren wurden dagegen kaum Prozesse von Juden am Reichskammergericht geführt; aber allmählich stiegen die Eingangszahlen wieder. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wuchs die Anzahl der jüdischen Prozesse auf 6 %, ging allerdings in den 1740er Jahren wieder auf rund 2 % zurück.25 Von der Mitte des Jahrhunderts bis 1779 pendelte sich das Hamburger jüdische Prozessaufkommen auf einem stabilen Anteil von 9 % ein, reduzierte sich jedoch dramatisch um zwei Drittel in den 1780er und 1790er Jahren. Hier machte sich vor allem die Hamburger Wirtschaftskrise bemerkbar.26 Unmittelbar vor dem Ende des Heiligen Römischen Reiches stieg der Anteil der Hamburger Prozesse jedoch erneut an. Vergleicht man also das Prozessaufkommen mit jüdischen Prozessbeteiligten mit dem Gesamtaufkommen aus der Reichsstadt Hamburg, so wird deutlich dass in Hamburg die Anzahl der jüdischen Prozesse einerseits den allgemeinen Schwankungen folgte. Erklärbar ist dies mit der starken sozioökonomischen Verflechtung gerade der portugiesischen Juden mit Hamburg. Andererseits sind auch Abweichungen vom Gesamttrend zu konstatieren, die sich aus den besonderen Verhältnissen der Juden erklären, etwa der Nähe des nicht-reichsstädtischen Umlandes, in erster Linie Altonas, das ihnen Schutz vor Restriktionen seitens der Stadt bot. So nutzten gerade die sephardischen Juden Ausweichmöglichkeiten in benachbarten Territorien der Reichstadt Hamburg.27 Ein kurzer Blick auf die Streitgegenstände zeigt zum einen die enge wirtschaftliche und rechtliche Verflechtung mit der städtischen Wirtschaft und zum anderen die große Bedeutung von Zuständigkeitsfragen. 33 % betrafen die Zuständigkeit des Reichskammergerichts. Hamburg bemühte sich bereits mitten im Dreißigjährigen Krieg, den Zugang zum Reichskammergericht
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Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte im Alten Reich, Berlin 2007, S. 301. Ebd., S. 301. Ebd., S. 49. Arno Herzig, Die Emanzipationspolitik Hamburgs und Preußens im Vergleich, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780– 1870), Hamburg 1989, S. 261–278, hier S. 268. Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 100.
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mittels eines Appellationsverbots einzuschränken.28 Man beabsichtigte, das schon immer umstrittene Appellationsprivileg, das die Reichsstadt auf Kaufmannssachen besaß, von 600 rheinischen Gulden auf 700 Goldgulden zu erhöhen.29 Das Appellationsprivileg wurde jedoch am Reichskammergericht nicht anerkannt, so dass sich das Gericht auf diese Beschränkungen gar nicht einließ.30 Auf Grund dieser unklaren Situation waren natürlich Streitigkeiten mit dem Reichskammergericht vorprogrammiert. Festzustellen ist bei der Untersuchung der Streitgegenstände, dass bestimmte Segmente fast vollständig fehlen: Auseinandersetzungen über die rechtlichen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz, insbesondere das Bleiberecht, und die Abgabepflichten der Juden, wurden im Hamburg bis auf den im Folgenden zu schildernden Fall nicht ausgetragen.
II. Der Prozess des Salomon Levin Fürst gegen Gottfried Joachim Pacher und den Senat der Stadt Hamburg Jochim Kellinghausen, Sohn eines Oberalten, der in dem damals wie heute zu Hamburg gehörenden Eppendorf von seinen Zinserträgen lebte, vermietete eines seiner Häuser im Frühjahr 1791 an den Juden Levin Salomon Fürst. Das Haus, das sowohl als Wohn- und Geschäftshaus diente, lag an der Ostseite des Schaarmarktes, auf halber Strecke zwischen der St. Michaelis-Kirche und dem Hafen.31 Levin Salomon Fürst war ein verheirateter aschkenasischer Jude und stammte aus der Altonaer Gemeinde. Sein Vater war früh in Armut gestorben. Er selbst hatte sich im Laufe seines Lebens Sprachkenntnisse und kaufmännisches Wissen erworben. Er arbeitete zuerst als Dolmetscher und später als Kaufmann. Um seine Geschäfte besser betreiben zu können und da er gerade geheiratet hatte, suchte er einen Wohnort, der nahe bei seinen Geschäften am Hafen lag.32 Fürst hatte sich dafür den Schaarmarkt ausgesucht, der sich in der Hamburger Neustadt befand. Sie war in den Jahren 1616 bis 1628 im Wege der Stadterweiterung entstanden. Im Norden des Quartiers 28 29
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Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse (QFHG 36), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 43. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia de non Appellando (QFHG 7), Köln/Wien 1980, S. 85 und Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht (QFHG 4) Köln/Wien 1980, S. 255ff. Anette Baumann, Jüdische Reichskammergerichtsprozesse aus den Reichsstädten Frankfurt und Hamburg. Eine quantitative Annäherung, in: Andreas Gotzmann, Stephan Wendehorst (Hgg.), Juden im Recht.Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte im Alten Reich, Berlin 2007, S. 309. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 74. Staatsarchiv Hamburg, Reichskammergericht J 44, Q 9, § 6.
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befanden sich die Wohnhäuser wohlhabender Bürger, im Süden, Richtung Elbufer, die Wohnungen der Hafenarbeiter. Juden wurden in diesem Viertel grundsätzlich nicht geduldet. Allerdings war die Frage der Niederlassungsmöglichkeiten für Juden in Hamburg alles andere als eindeutig geklärt: 1768 und erneut 1773 legte die Stadt einen Plan vor, nach dem den Juden Wohn- und Grundeigentumsrechte nur in fünf Straßen der Altstadt und in 14 Straßen der Neustadt zugestanden werden sollten. Diese Pläne führten zwar nicht zur Einrichtung eines formellen, von Mauern umschlossenen Ghettos, beschränkten die Juden aber auf diese Wohngebiete.33 Die zunehmend dichtere Wohnbebauung und die konjunkturellen Schwankungen im 18. Jahrhundert wirkten sich auf die gesamte Wohnsituation Hamburgs aus und verstärkten bereits vorhandene soziale Spannungen.34 Andere Hausbesitzer waren Kellinghusen gefolgt und hatten ihre Wohnungen am Schaarmarkt an Juden vermietet, obwohl die Gegend nicht zu den Gebieten in Hamburg zählte, in denen Juden wohnen durften. Gegen diese Vermietungen wehrten sich Gottfried Joachim Pacher und weitere 16 Personen. Sie wandten sich mit einem Schreiben an den Senat und verlangten, die Mietkontrakte zu lösen.35 Der Hamburger Rat war bereit, sich dem Ansinnen der Anwohner zu beugen, und verbot Kellinghusen sowie den anderen Vermietern, Wohnungen am Schaarmarkt an Juden zu vermieten. Kellinghusen war damit jedoch nicht einverstanden. Er hatte mit Fürst einen zweijährigen Mietvertrag abgeschlossen und argumentierte, dass er ihm erst danach kündigen könne, sonst müsse er einen Prozess gegen den Juden anstrengen. Schließlich gäbe es kein ausdrückliches Verbot für Juden, am Schaarmarkt zu wohnen. Der Eppendorfer war nur bereit, den Juden aus dem Haus zu schaffen, wenn ihm daraus kein Schaden entstünde. Der Senat setzte sich darüber hinweg und wies den Juden an, sein Haus innerhalb von 14 Tagen zu räumen.36 Levin Salomon Fürst ließ sich davon nicht beeindrucken.37 Er argumentierte, dass er wegen seiner Geschäfte an der Wasserseite der Neustadt wohnen müsse und er bereits zuvor unbeanstandet am Stubbenhuk – einem Wohnge33 34 35
36 37
Salo Wittmayer Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß. Auf Grund vom zum Teil ungedruckten Quellen dargestellt, Wien/Berlin, 1920, S. 35. Ortwin Pelc, Artikel: Neustadt, in: Das Jüdische Hamburg. Ein historisches Nachschlagewerk, Göttingen 2006, S. 198. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 75. Ebd., S. 76. Friedrich Jakob Dietrich von Bostell, Rechtliche Darstellung der Nondevolution und Frivolität einer unter der Rubrick des Hamburgischen Juden Levin Salomon Fürst gegen den Hamburgischen Bürger Pacher und Consorten auch Herrn Burgermeister und Rath der Kaiserlichen freyen Reichsstadt Hamburg bey dem höchstpreißlichen kaiserlichen Reichskammergerichte verhandelten Appellationssache, Wetzlar 1801, S. 14.
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biet, das ebenfalls nicht für Juden ausgewiesen worden war – gewohnt habe, wo er sowohl Wachtgeld als auch Armenzulage entrichtet habe. Außerdem merkte er an, dass er durchaus in einer Gegend leben wolle, wo Juden wohnten, jedoch sei dort kein freier Wohnraum zu bekommen. Überhaupt habe er nicht gewusst, dass er am Schaarmarkt als Jude nicht wohnen dürfe; schließlich gäbe es darüber keine ausdrücklichen Bestimmungen.38 Fürst hoffte, mit dieser Argumentation den Senat zu einer Aufhebung des Befehls bewegen zu können. Außerdem konnte er nachweisen, dass nicht 16 Personen, sondern nur der Schreiber des Waisenhauses Pacher Einwände gegen ihn als Nachbar hatte. Die übrigen hätten nur auf Drängen von Pacher als „Consorten“ die Bitte an den Senat unterschrieben.39 Im Senat der Hansestadt beschäftigte sich der Senator Schulte mit dem Fall. In einem umfangreichen Gutachten empfahl er, Fürst zum Auszug zu nötigen. Grundlage für seine Entscheidung waren die Bestimmungen des Senats aus den Jahren 1650 und 1697, die forderten, dass in der Stadt die Juden möglichst zusammen wohnen sollten. Die Bestimmungen von 1710, die die Frage der Niederlassungsfreiheit ausgeklammert hatten, ignorierte er. Fürst wandte sich mit einer neuerlichen Bittschrift an den Senat. Darin spielte er auf die aktuelle politische Lage in Frankreich und die dortige Erklärung der Bürger- und Menschenrechte an, die bezeichnenderweise auch „Neger“ und „Mulatten“ einschloss, und hob hervor, dass die Vernunft siegen müsse.40 Das Gesuch blieb während der Sommermonate beim Senat liegen. Die gegnerische Partei hatte genügend Zeit, Maßnahmen gegen Fürst zu ergreifen. Allerdings war die Zahl der Beschwerdeführer gegen Fürst inzwischen auf elf gesunken.41 Einige der früheren Unterstützer Pachers hatten ihre Meinung geändert. Am 12. November 1791 beschloss der Senat ein weiteres Mal, dass Fürst ausziehen müsse und untersagte ihm weiteres Supplizieren bei Strafe von 10 Reichstalern. Daraufhin wandte sich Fürst an das Reichskammergericht.42 Er musste sich dazu einer besonderen Prozessform bedienen, der sogenannten Extrajudizialappellation, ein Rechtsinstrument, das ursprünglich aus dem Kanonischen Recht stammte. Extrajudizialappellationen konnten nur unter der Voraussetzung in Anspruch genommen werden, dass die anzufechtende Verfügung außergerichtlich war. Nach dem reichsgerichtlichen Verständnis 38
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Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 84. Ebd., S. 84. Friedrich Jakob Dietrich von Bostell, Rechtliche Darstellung der Nondevolution und Frivolität einer unter der Rubrick des Hamburgischen Juden Levin Salomon Fürst gegen den Hamburgischen Bürger Pacher und Consorten auch Herrn Burgermeister und Rath der Kaiserlichen freyen Reichsstadt Hamburg bey dem höchstpreißlichen kaiserlichen Reichskammergerichte verhandelten Appellationssache,Wetzlar 1801, S. 16.
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der Außergerichtlichkeit fielen darunter alle Verfügungen, die (noch) nicht in einer gegenseitigen Erörterung gerichtlich verhandelt wurden, sondern im vorbereitenden Teil des Verfahrens lagen. Mit Hilfe der Extrajudizialappellation konnten Untertanen Policeysachen, die nicht am Reichskammergericht appellabel waren, vor die Reichsgerichte bringen, wenn eine Justizsache und keine reine Policeysache vorlag.43 Das Hauptproblem für die Assessoren am Reichskammergericht lag also darin, zu prüfen, ob die Extrajudizialappellation überhaupt zulässig war.44 Ein Blick auf die Prozessbeteiligten macht deren Verankerung im aufgeklärten Milieu der Reichsstadt bzw. am Reichskammergericht deutlich. Mit ihrer Vertretung am Reichskammergericht hatten Gottfried Joachim Pacher, seine Mitstreiter und der Hamburger Rat den Prokurator Friedrich Jakob Dietrich von Bostell gewählt. Bostells Familie stammte aus Hamburg. Mindestens einer seiner Vorfahren war dort Senator gewesen. Die Familie Bostell war bereits seit 1739 in Wetzlar und hatte sich noch unter Lukas Andreas von Bostell (1708–1783) eine gut gehende Anwaltskanzlei aufgebaut. Sein Sohn Friedrich Jakob Dietrich von Bostell (1744–1810) studierte von 1763 bis 1766 in Tübingen, Göttingen und Gießen.45 Bostell stand der Aufklärung und auch den Freimauern sehr nahe. Er zählte zu den Gründungsmitgliedern der Wetzlarer Loge „Joseph zu den drey Disteln“, einer Tochterloge der Mainzer Loge, in der er zuvor Mitglied gewesen war. Bostell hatte in Mainz sogar das Amt des Sekretärs innegehabt hatte.46 Später war er Angehöriger der Loge „Joseph zu den drey Helmen“ in Wetzlar, die von Mainz unabhängig war. Bostell strebte eine Karriere innerhalb der Freimaurerkreise an und war darum bemüht, für die Wetzlarer Loge die Unabhängigkeit zu erlangen und weitere Tochterlogen zu gründen.47 Bostell wurde Provisor der VII. Ordensprovinz Oberdeutschland und Kontaktperson für Landgraf Carl von Hessen und Fürst Ferdinand von Braunschweig. Außerdem besaß er bei der Gründung der Wetzlarer Loge den Rang eines deputierten Meisters vom Stuhl, den er aber kurz nach der Gründung an den Assessor von Ditfurth abgab.48 Bostells Kanzlei zählte am Ausgang des 18. Jahrhunderts zu den bedeutendsten, konnte aber nicht ganz mit den führenden Kanzleien von Zwierlein und Hofmann mithalten. Hofmann hatte, trotz des allgemeinen Rückgangs an Mandanten elf Neuzugänge
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Tilmann Seeger, Die Extrajudizialappellation (QFHG 25), Köln/Weimar/Wien 1992, S. 204. Ebd., S. 203. Bundesarchiv Berlin, AR 1-IV B 2 Bd. 15. Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1803) (QFHG 51), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 148. W. Ebertz, Geschichte des Orients Wetzlar, Wetzlar 1893, S. 50. Hermann Schüttler, Der Wilhelmsbader Freimauererkonvent im Spiegel der Illuminaten, in: Joachim Berger und Klaus-Jürgen Grün (Hgg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 175–184., hier S. 179.
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pro Jahr, während Bostell jährlich durchschnittlich nur acht Neuzugänge verzeichnete. Die Mandanten Bostells kamen meist aus dem Norden.49 Caspar Friedrich Hofmann zählte nach dem Anwalt Zwierlein zu den bedeutendsten Anwälten am Reichskammergericht. Wie Bostell stammte er aus einer alteingesessenen Anwaltsdynastie. Sein Großvater hatte beim Neubeginn des Reichskammergerichts in Wetzlar 1693 als Prokurator aufgeschworen. Zu Hofmanns Mandanten zählten die preußischen Könige und die württembergischen Herzöge. Auch die Reichsstadt Frankfurt vertrat er vor dem Reichskammergericht. Eigentlich war Hofmann eher daran interessiert, bedeutende Reichsstände als Parteien zu gewinnen statt einfache Privatparteien. Die Motivation für die Mandatsübernahme ist also nicht ganz klar. Es ist denkbar, dass die Annahme Fürsts als Mandanten auf Hofmanns aufklärerische Gesinnung zurückzuführen ist. Hofmann war der Freimaurerei verbunden,50 gehörte den Illuminaten an,51 und ließ keine Zweifel an seiner fortschrittlichen politischen Einstellung aufkommen. So war er aufgrund der sogenannten Lütticher Affäre und der Aachener Unruhen gut mit dem preußischen Aufklärer Christian Wilhelm Dohm bekannt und teilte dessen Ansichten. Beide waren im Fürstbistum Lüttich im Sinne Preußens aktiv gewesen und hatten dort eng zusammengearbeitet.52 In Lüttich hatte sich der Streit um eine Spielbankkonzession in dem Heilbad Spa entzündet. Hinzu kam zur Jahreswende 1788/89 eine Hungersnot, die die Untertanen des Fürstbischofs von Lüttich vollends gegen die Herrschaft aufbrachte. Sie verlangten einen neuen Magistrat. Der Fürstbischof gab nach, floh aber dann aus seinem Fürstbistum und verklagte sie vor dem Reichskammergericht wegen Landfriedensbruch. Das Reichskammergericht wollte den alten Magistrat wieder einsetzen und beauftragte zur Exekution den Westfälischen Reichskreis. Aber unter den Direktoren, zu denen auch Preußen gehörte, herrschte Uneinigkeit über den Befehl. Preußen befürchtete, dass bei einer Exekution das Fürstbistum Lüttich unter habsburgische Einflusssphäre käme. Schließlich marschierten 1790 preußische Truppen in Lüttich ein. Es herrschte der Eindruck, Preußen 49 50 51 52
Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1803) (QFHG 51), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 37. W. Ebertz, Geschichte des Orients Wetzlar, Wetzlar 1893, S. 50. Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischer Kultur in Deutschland, Frankfurt am Main 1996, S. 100f. Ilsegret Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1974, S. 295. Siehe auch Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1803) (QFHG 51), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 61 f.; Horst Carl, Die Aachener Mäkelei 1786– 1792. Konfliktregelungs-mechanismen im Alten Reich, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 92 (1985), S. 103–187; Monika Neugebauer-Wölk Preußen und die Revolution in Lüttich. Zur Politik des Christian Wilhelm von Dohm 1789/90, in: Otto Büsch/Monika Neugebauer-Wölk (Hgg.), Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789, Berlin/New York 1991, S. 59–76.
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verbünde sich mit den Aufständischen. Hinzu kam, dass gerade zu diesem Zeitpunkt Kaiser Joseph II. starb. Schließlich zog sich Preußen aus Lüttich zurück. Inwieweit Hofmann zu radikalen Ansichten neigte und deshalb sogar zu den deutschen Jakobinern zu rechnen ist, muss offen bleiben. Die Vertretung Fürsts sowie ein Ereignis in Wetzlar machen dies jedoch wahrscheinlich: Hofmann nahm in der Nacht vom 2./3. März 1790 an einem in den Straßen der Stadt stattfindenden aufsehenerregenden Umzug zu Gunsten der französischen Revolution teil. Bei dem unter der Mitwirkung der Stadtmusikanten Ackermann und Maas lautstarken Spektakel wurden auch die Marseillaise und das Revolutionslied „ca ira“ gesungen. Außerdem riefen die am Umzug beteiligten Personen „Vive la république“. Diese nächtliche Unternehmung sorgte für beträchtliches Aufsehen, da man den Ausbruch einer „Wetzlarer Revolution“ befürchtete. Die Revolutionsgesänge waren die Folge eines größeren Zechgelages, zu dem sich unter anderen zwei Söhne des Prokurators Greß, ein Kanzlist des Gerichts, verschiedene Kaufmannssöhne aus dem Wetzlarer Bürgertum und eben auch Caspar Friedrich Hofmann zusammengefunden hatten. Der Gastwirt Hinkel hatte die Zechgesellschaft aus Besorgnis um seine anderen Gäste aus seinem Lokal geworfen; die Zechkumpane mussten ihr munteres Treiben auf der Straße fortsetzen.53 Hofmann war wenig in der örtlichen Reichskammergerichtsgesellschaft verwurzelt. Dies zeigt sich daran, dass er seine Frau weder aus den Kreisen des Reichskammergerichts noch aus der städtischen Bürgerschaft wählte. Vielmehr heiratete er Johannette Freudenberg, die aus Hachenburg im Westerwald, einer Hochburg der Freimaurerei stammte. Die Familie Freudenberg besaß zahlreiche Eisenhütten und gehörte dem aufstrebenden neuen Bürgertum an.54 Fürst hatte, wie üblich, nicht nur einen Prokurator in Wetzlar, sondern auch einen Anwalt vor Ort in Hamburg, namens Rütger Martin Tode. Tode war zuvor schon für Fürst als Konzipient von Eingaben an den Hamburger Rat in Anspruch genommen worden. Tode als „advocatus causae“55 und Hofmann arbeiteten, wie Ellermeyer schlüssig belegen kann,56 eng zusammen, um Fürst zu seinem Recht zu verhelfen. Hofmann nahm dabei regen Anteil an der Verfassung der Schriften. Er war keinesfalls nur der Übermittler der Schriftstücke an das Reichskammergericht. Rütger Martin Tode scheint in der Nähe von Fürst gewohnt zu haben. Weiteres konnte über ihn nicht in Erfahrung gebracht werden. 53 54 55
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Hans-Werner Hahn, Die Stadt Wetzlar im Zeitalter der Französischen Revolution 1789– 1803, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins 34, 1989, S. 85–143, hier S. 124. Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1803) (QFHG 51), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 139. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 86. Ebd., S. 86.
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Der Senat der Stadt Hamburg hatte dagegen keinen weiteren „advocatus causae“ zur Hand. Schriftsätze auf hamburgischer Seite wurden durch Senator Schulte verfasst, der sich immer eng mit Bostell beriet. Auch wenn der Rat der Stadt nur als Nebenkläger in den Akten des Reichskammergerichts aufgelistet wird, führten in erster Linie Schulte und der Senat der Stadt Hamburg den Prozess; der Beklagte Gottfried Joachim Pacher trat dabei immer stärker in den Hintergrund. Daneben ist noch auf eine Reihe anderer Personen in Hamburg hinzuweisen, die sich auf die eine oder andere Seite der Beteiligten schlugen und dies auch vor dem Reichskammergericht kundtaten. Der Prozess erregte Aufsehen und erreichte damit auch die hamburgische Öffentlichkeit. Hamburger Zeitungen beschäftigten sich ausführlich mit dem Problem der Niederlassungsfreiheit der Juden. Das alles scheint neben Nachbarn auch bedeutende hamburgische Bürger und Geschäftsleute veranlasst zu haben, für Fürst Partei zu ergreifen und für sein Bleiben einzutreten.57 Dazu gehörte beispielsweise ein Verwandter von John Parish, einem englischen Geschäftsmann, der sich in Hamburg niedergelassen und dort ein gewaltiges Vermögen erworben hatte. Parish organisierte von Hamburg aus 1795 sämtliche Truppentransporte nach Westindien für die englische Regierung Außerdem vertrat er als erster Konsul die Vereinigten Staaten von 1793 bis 1796 auf dem europäischen Kontinent.58 Ein weiterer Verbündeter von Fürst war sogar ein Angehöriger des Hamburger Senats, Bürgermeister Sienen. Er setzte sich energisch für Fürst ein und konnte sogar einen Aufschub der Räumung der umstrittenen Wohnung durch den Hamburger Senat erwirken. Sienen kannte die Familie Fürst. Er hatte vom Vater des Appellanten ein Haus gekauft.59 Fürsprecher war auch Dr. med. Christoph Nicolaus Leppentin. Er brachte sogar eine Erklärung zu Papier, in dem er seine Vorurteile gegen Juden revidierte und Pacher der Hetze beschuldigte. Leppentin hatte ursprünglich zu den 16 Mitklägern Pachers gehört. Der Arzt appellierte nun an die allgemeine Vernunft, indem er schrieb: „Ich wünsche von Herzen, daß diese Erwägungen (Freiheit, Gleichheit Anmerkung der Autorin). . . denen aufgeklärten Rechtsgelehrten, die in dem Zwist entscheiden sollen, einige Ideen der Mäßigung einflößen mögen . . . “60
Nachdem sich Fürst entschlossen hatte, vor dem Reichskammergericht zu klagen, verfasste er eine „schedula appellationis“ mit der Erklärung, dass er sich durch die ergangene Entscheidung des Senats in seinen Rechten unzulässig beschwert fühle. Er ersuchte einen Hamburger Notar darum die nötigen Schritte einzuleiten, nämlich den Senat als das Untergericht bekanntzugeben und diesen zu bitten, die entsprechenden Unterlagen wie Vorakten und 57 58 59
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Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 27. Jan-Jasper Fast, Artikel: John Parish, NDB 20, S. 68–69, hier S. 69. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 92. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 23.
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Entschädigungsgründe fristgerecht an das Obergericht, in diesem Fall das Reichskammergericht, weiterzugeben.61 Der Notar präsentierte die „schedula appellations“ im Wohnhaus des präsidierenden Bürgermeisters und einen Tag später im Rathaus. Der Senat blieb jedoch bei seiner Haltung. Er war nicht bereit, in dieser seiner Meinung nach internen Policeysache, die Akten an das Reichskammergericht weiterzugeben. Inzwischen hatte sich Tode bereits mit dem Prokurator Hofmann in Wetzlar verständigt und dieser reichte am 1. April 1792 das Dekret des Senats sowie das Notariatsinstrument an das Reichskammergericht ein. Gleichzeitig beantragte Hofmann einen Monat Fristverlängerung, um sich über die genauen Umstände informieren zu können.62 Noch im gleichen Monat übergab schließlich Hofmann die Supplik63 und die von Tode konzipierte Beschwerdeschrift mit zahlreichen Beilagen.64 Das Reichskammergericht bat zunächst – wie üblich – um einen Bericht seitens des Senats.65 In Hamburg ließ man sich damit Zeit. Senator Schulte verfasste schließlich den angeforderten Bericht und schickte ihn zu Friedrich Jakob Dietrich von Bostell, der mit dem Text die Abschlagung des Prozesses wegen Unstatthaftigkeit der Appellation erwirken sollte.66 In dieser Zeit gingen die Repressalien gegen Fürst in Hamburg weiter; der Senat setzte eine Frist auf den 17. Mai zum Auszug fest. Er zog jedoch nicht aus, da Bürgermeister Sienen für ihn einen Aufschub bis zur nächsten Woche erwirkt hatte, und wandte sich in seiner Bedrängnis mit einem Schreiben direkt an seinen Prokurator Hofmann in Wetzlar. Der Geschäftsmann wollte resignieren. „Das Schreckliche meiner Läge läßt sich nur empfinden, nicht beschreiben, meine Frau von der Last des Kummers überwältigt, liegt gefärlich krank danieder, meine eigenen Sinne werden so zerrüttet, daß ich fast zu meinen Geschäften untüchtig gemacht werde“.67
Hofmann tröstete Fürst und verpflichtete sich, sich der Sache besonders anzunehmen. Das Reichskammergericht erließ nun eine Temporal-Inhibition und verbot dem Hamburger Senat, Fürst weiter zu bedrängen. Ein solches Verbot hätte schon mit dem Schreiben um Bericht beschlossen werden können, falls 61
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Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 85 ff. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 87. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 8. Ebd., Q 9. Ebd., SpPr Eintrag 27. April 1792. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 91. Hauptstaatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 13 Anlage 15.
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Gefahr im Verzuge drohte. Dies war aber bisher nicht geschehen. Mit dem Vorgehen des Senats war jedoch unzweideutig Gefahr in Verzug gegeben. Zudem reichte Hofmann die zweite Appellation Fürsts nach und bat um den von der gegnerischen Seite eingereichten Bericht, um darauf antworten zu können.68 Der Bericht lag dem Gericht allerdings noch gar nicht vor. Er war zwar aus Hamburg schon längst bei dem zuständigen Prokurator Bostell in Wetzlar eingetroffen. Dieser hatte aber aus taktischen Überlegungen auf eine Eingabe beim Gericht vorerst verzichtet. Er wollte lieber die Insinuation der Klageschrift abwarten, um sie sogleich widerlegen zu können.69 Der Senat zeigte sich von dem Verbot des Reichskammergerichts, weitere Handlungen vorzunehmen, unbeeindruckt: Am 31. Mai 1792 setzten ein Gerichtsdiener und zwei Soldaten Fürst und seine Familie auf die Straße. Gleichzeitig war der Hamburger Senat über die Vorgehensweise Bostells verstimmt, der den Bericht der Stadt noch immer nicht dem Reichskammergericht vorgelegt hatte. Da Fürst eine zweite Appellation beim Senat eingereicht hatte, sah man sich veranlasst, einen Nachtrag zum Bericht zu verfassen, der wiederum von dem Senator Schule entworfen und an Bostell geschickt wurde. Man ging davon aus, dass Bostell den ersten Bericht jetzt bereits abgegeben hatte. Bostell wies die Kritik des Senats zurück und wies darauf hin, dass er keine Abschrift des ursprünglichen Berichts erhalten habe. Schließlich übergab Bostell dem Kammerrichter den verschlossenen Bericht mit einem Begleitschreiben, das die Hoffnung ausdrückte, dass die Appellation abgewiesen werde. Am gleichen Tag kam Hofmann beim Reichskammergericht mit einer Bitte um ein Mandat sine clausula ein, als Reaktion auf die Ausweisung Fürsts, dessen Ehefrau inzwischen ein Kind geboren hatte.70 Das Mandat sollte dem Zweck dienen, das aus der Sicht des Klägers widerrechtlich Geschehene aufzuheben und weitere Unrechtmäßigkeiten ihm gegenüber zu verhindern. Für ein Mandat sine clausula, also ein unbedingtes Mandat, galten strenge Voraussetzungen, wie zum Beispiel ungerechtfertigte Handlungen, unwiederbringlicher Verlust, Schaden für das Gemeinwesen oder Gefahr im Verzug.71 Der Erlass bedeutete, dass dem Hamburger Senat die Gelegenheit zur Einrede verwehrt worden wäre. Hofmann verlangte, dass Fürst wieder in seine Wohnung eingewiesen werde und er dort bis zum Ausgang der Sache vor dem Reichskammergericht wohnen bleiben könne. Auch sollte man ihm alle Schäden und Kosten ersetzen.72 In der Tat wurde noch am gleichen Tag das Mandat durch die Assessoren des Reichskammergerichts beschlossen. Referent war Karl Bernhard Schüler 68
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Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 93. Ebd., S. 93. Hauptstaatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 18. Manfred Hinz, Artikel: „Mandatsprozess“. In: HRG III, Spalte 232–240. Hauptstaatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 18.
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von Senden, der seit 1784 Assessor am Reichskammergericht war.73 Hofmann konnte am gleichen Tag zudem erwirken, dass er endlich Einblick in den Bericht des Hamburgischen Senats erhielt.74 Auch der Nachtrag des Senats wurde Hofmann zugänglich gemacht, obwohl Bostell dies gerne verhindert hätte, damit Hofmann diesen nicht für seinen Gegenbericht nutzen konnte. Hofmann wurde allerdings bei der Aushändigung des Nachtrags dahin beschieden, dass die Gerichtskanzlei bis auf weitere Verordnung mit Aushändigung einer Ausfertigung des Mandats warten solle.75 Bostell und der Hamburger Senat hatten also nicht auf ganzer Linie verloren. Man hatte für diese Wendung der Dinge einige Energie aufgewandt und die Person des referierenden Assessors herausgefunden, obwohl dies nach den Bestimmungen des Gerichts geheim zu halten war und ihn überredet, die Ausfertigung des Mandats zu verzögern.76 Leider sind hierzu keine weiteren Details bekannt. Hofmann jedoch drängte zur Eile und bat die Kanzlei, ihm das bereits beschlossene Mandat zur Insinuation auszufolgen, und forderte mit dem Hinweis auf Bostells Bitte, das Mandat zu kassieren, da nun die Regeln der Appellation gelten müssten.77 Der Hamburger Senat war auf das höchste alarmiert und auf seinen Prokurator Bostell nicht besonders gut zu sprechen. Senator Schulte wurde beauftragt, privat mit dem Prokurator von Bostell zu korrespondieren. Einig war man sich, dass vor allem der referierende Assessor davon überzeugt werden musste, dass es sich in dieser Angelegenheit um eine Policeysache handle.78 Im Laufe des Sommers 1792 herrschte in der Sache Stillstand. Hofmann erbat eine Fristverlängerung von drei Monaten zur Verfassung des Gegenberichts, wofür ihm nur sechs Wochen gewährt wurden. Bostell seinerseits zeigte sich von der Rüge des Hamburger Senats unbeeindruckt und verzögerte die Eingabe von Schriften an das Gericht weiterhin. Hofmann bat schließlich noch einmal um eine Fristverlängerung von sechs bis acht Wochen, da der Gegenbericht des Hamburger Senats sehr weitläufig sei und er „dermalen mit Arbeit überhäuft (sei) auch noch über einen und anderen . . . Umstand mit dem advocato cause correspondiren (müsse)“.79 Hofmann lieferte am 5. November 1792 seinen Gegenbericht. Am 14. Januar 1793 wurde die Appellation vorläufig für zulässig erkannt und das Mandat vom 9. Juni 1792 ausgehändigt.80 73
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Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines der höchsten Gericht im Alten Reich (QFHG 26) Bd. 2, Teil 2, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1433. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 23. Ebd., Q 33. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 102. Ebd., S. 103. Ebd., S. 103 f. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 29. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 34.
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Bostell meldete am 15. Januar 1793 seinen Mandanten die für seine Partei schlechte Nachricht. Seine vielfältigen Bemühungen waren vergeblich gewesen. Er resignierte jedoch nicht, sondern schlug ein ganzes Bündel an Maßnahmen zur Weiterführung des Prozesses vor. Dabei erschien ihm die beste Strategie, die Verteidigung ganz auf den Punkt der Policeysache zu konzentrieren. Außerdem wollte er versuchen, dass die Akten im Judizialverfahren einem anderen Senat vorgelegt würden.81
III. Die Argumentation der Parteien Der appellierende Teil, also Hofmann, Fürst und Tode, stellte seine Strategie vollständig auf die neuen Ideen einer bürgerlichen Gesellschaft und der Position der Juden darin ab, wie sie durch die Französische Revolution verbreitet wurden. Schon in der Supplik spielten Fürst und seine Anwälte darauf an. So heißt es in der Einleitung: „Voll Zuversicht auf die diesem höchstpreislichen kaiserlichen und Reichs-kammergerichte beywohnende ruhmvollbekannte gerade durchgehende Rechtspflege, auch jedem getreuen Reichs-Unterthan, ohne Rücksicht seines Bekänntnißes zu dieser oder jenen im heiligen Römischen Reiche rezipirten kirchenpartey, weniger mit Beachtung seines Standes, die Rechte der Menschlichkeit in der natürlichen Billigkeit thätigst angedeyhen zu laßen, unerwiedert sich Anwald, namens seines appellantischen Prinzipalen, Levin Salomon Fürst, jüdischen Glaubens, vorliegende anher interponierte Appellation in Betreff einer von dem Stadt-hamburgischen Hochedlen Magistrat ihm verweigerten Wohnung in einem gewissen Bezirk der Stadt, nunmehr tiefschuldigst und unter Vorbedingung der Rechtswohlthat . . . zurechtfertigen.“82
In weiteren Schriften83 wird dies noch deutlicher. So wird gefordert, dass nur wenn alle Bürger „durch Erleichterung des Gewerbes durch gleiche Gerechtigkeit und die möglichste Freiheit der Handlungen“84 sicher sein könnten, dies auch dem Gemeinwohl aller diene. Dabei wird betont, dass die Juden in ihren Rechten eingeschränkt und zwar aus Gründen, „die der gesunden Vernunft unbegreiflich“85 seien. Die Argumentation geht auf die Benachteiligung der Juden näher ein, wobei gefragt wird, wie es geschehen könne, dass man im Zeichen der Aufklärung weiterhin die „Abneigung zwischen Christen und Juden“86 fördern wolle.
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Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig (Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 104 ff. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 9. Ebd., Q 73. Ebd., Q 73. Ebd., Q 73. Ebd., Q 73.
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„Wären die Juden bloßer Meinung wegen, und weil sie auf eine andere Art das höchste Wesen verehrten, weniger Menschen als wir? Der Genuß der gleichen Bürgerrechte würde sowohl der Juden als auch der Christen Vorurtheile längst getilgt . . . “87 .
Der Appellant und seine Anwälte vertraten hier Forderungen, die auch Moses Mendelsohn erhoben hatte. Es ging nicht allein um das Wohnrecht des Juden, vielmehr forderten sie nicht weniger als die Aufhebung der Grundlagen der überlieferten Gesellschaftsordnung mit dem Argument, dass nur dies dem Gemeinwohl diene. Freiheit wird hier als eine allgemeine Freiheit verstanden, die nicht zur Ungleichheit, sondern zur rechtlichen Gleichheit führte.88 Die eigentliche Frage des freien Wohnrechts für Juden wird als Teil eines ganzen Bündels von Rechten gesehen, die durch das Judenreglement 1710 geregelt worden seien. So heißt es weiter: „Das Judenreglement von 1710 sichere ihnen ausdrücklich gleiche statuarische Rechte mit den übrigen Bürgern dieser Stadt zu, zu denen natürlichen Rechte es gehöre, in dem Theile der Stadt zu wohnen, der ihnen gefalle“89 .
Und die Schrift führt weiter aus, dass die Stadt den Juden einen besonderen Platz ausdrücklich hätte zuweisen müssen „wo sie hätten zusammen wohnen sollen“90 . Aber dies sei selbst in „den Tumultarischen Zeiten, die eine Kaiserliche Kommission nothwendig gemacht“91 , nicht der Fall gewesen, vielmehr „sey es den Juden überlassen worden, ihre Wohnungen zu nehmen, wo sie solche hätten finden können“.92 . Allerdings, so schränkt die Schrift ein, hätten sich die Juden darum bemüht, in diesen gefährlichen Zeiten zusammenzuwohnen, aber „befehlen habe man es ihnen nicht gekonnt“.93 Schließlich wird nicht versäumt, auch die Frage „Policey- oder Justizsache“ abzuhandeln. Die appellierende Partei glaubt, dass dies durch das Judenreglement von 1710 geregelt sei. Scharf wird darauf hingewiesen, dass Magistrat und Bürgerschaft diese Gesetze nicht aufheben könnten und keine Willkür dagegen ausüben dürften. Ältere Gesetze müssten demgegenüber zurückstehen. Hofmann sieht die Berufung der gegnerischen Partei auf die „Policey“ als einen oft genommenen Vorwand für Willkür. Der Hamburger Rat übe kein Recht, sondern bloß Macht aus. Außerdem könne ein „natürliches und bürgerliches Recht schon an sich keine Policeysache sein. Schließlich gehe es um die Freiheit von Mieter und Vermieter, also um die Rechte Dritter, was die Reduzierung auf eine Polizeisache ausschlösse“.94 87 88
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Ebd., Q 73. Peter Oestmann, Menschenrechte und ihre Durchsetzung im Alten Reich, in: Georg Schmidt-von Rhein, Albrecht Cordes (Hgg.), Altes Reich und Neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit (Ausstellungskatalog), Wetzlar 2006, S. 57–74, hier S. 70. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 73. Ebd., Q 73. Ebd., Q 73. Ebd., Q 73. Ebd., Q 73. Jürgen Ellermeyer, Schranken der Freien Reichsstadt, in: Peter Freimark, Arno Herzig
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Auch zur Frage der Appellation und der Zulässigkeit hat sich die appellierende Partei geäußert. Hamburg besaß ein beschränktes Appellationsprivileg, das am 12. Dezember 1791 nochmals bestätigt worden war und das auf 700 Goldgulden begrenzt war. Das bedeutete, dass nur Streitigkeiten mit dem Wert über 700 Goldgulden an das Reichskammergericht gelangen konnten.95 Fürsts Partei argumentierte, dass das Wohnrecht nicht mit einer Geldsumme zu bewerten sei, da es finanziell gar nicht hoch genug eingeschätzt werden könne, und dass deshalb das privilegium de non appellando nicht zu Tragen kommen könne.96 Man sieht, die appellierende Partei verfolgt bei ihrer Argumentation eine Linie, die natürliche Rechte und das Gemeinwohl anspricht. Am wichtigsten scheint die Betonung der Menschenrechte in Frankreich, der freien Bürgerrechte für alle Menschen, welcher Religion sie auch angehören. Allenfalls die Frage, welche Norm für die Diskussion der Freiheit des Wohnrechts97 relevant zu sein scheint, wird noch kurz angeschnitten und der Zusammenhang mit der kaiserlichen Kommission, die dieses Judenreglement erließ, betont. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass nur von Juden im Allgemeinen die Rede ist. Fürst als Einzelperson wird nicht explizit erwähnt. Die gegnerische Seite hat dagegen andere Prioritäten. Hier stehen uns nicht nur die handschriftlichen Aufzeichnungen aus der Prozessakte zur Verfügung, sondern auch eine Druckschrift98 . Sie fasst alle Argumente der gegnerischen Partei zusammen und wurde im Auftrag des Hamburger Senats von Bostell 1801 publiziert, als der Prozess zur Revision anstand.99 Die gegnerische Partei geht darin nicht auf Bürger- und Menschenrechte ein, vielmehr zieht sie sich auf eine formale Positionen zurück, die vor allem zum Machterhalt des Senats diente. So wird die Angelegenheit als reine Policey- und Verfassungsangelegenheit der Reichsstadt Hamburg gesehen. Grundlage für die Argumentation
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(Hgg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870), Hamburg 1989, S. 116. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln/Wien 1980, S. 84f. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht J 44, Q 73. Peter Oestmann, Menschenrechte und ihre Durchsetzung im Alten Reich, in: Georg Schmidt-von Rhein, Albrecht Cordes (Hgg.), Altes Reich und Neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit (Ausstellungskatalog), Wetzlar 2006, S. 72 f. schreibt: „Bei den sonstigen Freiheitsrechten ist zeitgemäß zwischen der Freiheit der Person und der allgemeinen natürlichen Freiheit zu unterscheiden. Die Freiheit der Person erkannte das Reichskammergericht mindestens seit den 1750er Jahren als Grundsatz an. Für diese Freiheit sprach nach Ansicht der Assessoren eine begründete Vermutung. Allerdings konnte diese Vermutung widerlegt werden“. Friedrich Jakob Dietrich von Bostell, Rechtliche Darstellung der Nondevolution und Frivolität einer unter der Rubrick des Hamburgischen Juden Levin Salomon Fürst gegen den Hamburgischen Bürger Pacher und Consorten auch Herrn Burgermeister und Rath der Kaiserlichen freyen Reichsstadt Hamburg bey dem höchstpreißlichen kaiserlichen Reichskammergerichte verhandelten Appellationssache,Wetzlar 1801. Die Schrift ist nur in zwei Exemplaren überliefert. Ein Exemplar befindet sich im Staatsarchiv Hamburg, das andere in der Universitätsbibliothek Göttingen.
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ist, dass die Juden „nicht einmal Indigenatrechte, weniger jura civium“ besitzen.100 Das vom Reichskammergericht erlassene Mandat wird nur mit dem Satz abgetan: „Als es inzwischen hierüber zur Untersuchung zur weiteren Verhandlung kam; hatte der Jude das unerwartete Glück bey diesem höchsten Reichsgerichte AppellationsProzesse und ein Mandatum attentatorum s. c. zu erwürcken“101 .
Bezüglich der freien Wohnungswahl, auch für Juden, heißt es bei Bostell: „Diese in Teutschland so zu sagen, fast allgemeine Anwendung und Bestimmung der Juden Wohnungen hat . . . ihren guten natürlichen Grund in der Verschiedenheit der Lebensart, der Gesinnungen und des Gottesdienstes der Christen und Juden, ferner in der gewöhnlichen Unwissenheit der lezteren und der wechselseitigen Abneigung dieser beiden Religionsparteyen“.102
Die Schrift führt weiter aus, dass es die Pflicht der Obrigkeit sei, die „öffentliche Recht und Sicherheit stöhrenden Uneinigkeiten zu unterbinden und so die gemeine Ruhe, Ordnung und Wohlfahrt des Staates zu bewahren.“103 Danach folgt eine ausführliche Begründung, warum es sich bei dieser Angelegenheit um eine Policeysache handle. So sehen Bostell und der Hamburger Senat „das Halten der Juden, und die Bestimmung der Schrancken überhaupt und in Betref ihres Beisammenwohnens insonderheit, ein von dem freyen Willen des solche aufnehmenden Reichsstandes abhängendes landesherrliches Recht und Regal“.104
Bostell hält die Einführung des freien Wohnrechts schließlich für eine Sache, die die gesetzliche Verfassung Hamburgs sowie für alle anderen Orte in Deutschland aufheben würde. Als Gegenargumente werden Bestimmungen aus dem Westphälischen Frieden und der kaiserlichen Wahlkapitulation angeführt. Nachdem Bostell glaubt, bewiesen zu haben, dass es sich um eine reine Policeysache handle, führt er aus, dass diese eben nicht an das Reichskammergericht appellabel sei. Auch auf die appellantischen Gründe wird ausführlich eingegangen. So verurteilt Bostell Hofmanns Appell an die neuen Zeiten scharf. Er schreibt: „Ausserdem sind auch noch die Gründe, womit der Appellant seine Berufung zu unterstützen sucht, ganz unerheblich. Denn, so sollen A) die gegen die Juden getroffene Verfügungen den jetzigen toleranten Zeiten nicht angemessen seyn, besonders aber nicht in Hamburg, wo der Duldungsgeist von dem Grösten bis zum Geringsten allgemein herrsche. Die dabey von dem appellantischen Sachwalter geführte Sprache ist ganz den Grundsätzen gemäs, welche über Europa so vieles Unglück verbreitet haben. Allenthalben findet man Exclamationen von ungezweifelten Menschenrechten, Freyheite und Gleichheit. Aber Hamburgs Einwohner sind von diesem Hirngespinste nicht angesteckt!“105 100 101 102 103 104 105
Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht, J 44 Q 53, § 32. Ebd., § 29. Ebd., § 34. Ebd., § 34. Ebd., § 39. Ebd., § 50.
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Weiter führt Bostell aus: „Die abgedroschenen Predigten von Freyheit, Gleichheit, und Menschenrechten stehen um so mehr hier am unrechten Orte, als die Juden zu Hamburg in den ihnen zur Wohnung ausgewiesenen Gassen, da diese stark vermehrt worden, und darin täglich noch neue Gebäude errichtet werden, ihrer Zunahme ohngeachtete Raum genug haben, und darin bequem wohnen können“.106
Bostell stellt also die Sache grundsätzlich als völlig unnötig und überflüssig dar und folgt damit den üblichen Argumenten, indem er sich auf das geltende Recht stützt. Bostell schränkt das Freiheitsrecht Fürsts gar nicht ein, er hält die Argumentation in dieser Richtung für schlechthin abwegig. Danach folgen weitere Begründungen. So bestreitet Bostell, dass durch das Judenreglement von 1710 die älteren Bestimmungen außer Kraft gesetzt worden seien. Hofmann hatte in seiner Prozessschrift aus dem gedruckten Reglement von Klefeker zitiert. Bostell hält dies für unzulässig. „Ueberdem bleibet Klefeckers Werck, welches er nicht einmal unter seinem eigenen Namen herausgegeben hat, immer nur ein Privatwerck, und er, ob er gleich Hamburger Syndicus war, nur ein Privat=Autor, folglich seine Meinung auch nur eine Privat = Meinung.“107
Bostell nutzte hier den Umstand, dass die Prokuratoren die Gesetzeslage in den Reichsständen dem Reichskammergericht nachweisen müssen. Grundsätzlich erfolgte die Insinuation des sogenannten „ius proprium“ unabhängig von einem Prozessverfahren.108 Die Prokuratoren mussten nur den originalen Rechtstext mitsamt einer Abschrift dem Reichskammergericht vorlegen. Das Gericht überprüfte dann die Buchstabentreue der Abschrift und archivierte die Kopie bei den Lesemeistern in der Kanzlei. Danach wurde eine Bescheinigung für die Insinuation ausgestellt. Die Übergabe der Rechtsquelle stellte dabei einen formalen Vorgang dar, der dem Gericht offiziell eine bestimmte territoriale Rechtsquelle zur Kenntnis gab.109 Bostell spielte mit seinen Ausführungen darauf an. Klefekers Druckschrift war wohl nicht das Dokument, das dem Reichskammergericht vorgelegt worden war. Die Argumentation wird dann aber von Bostell nicht weiter verfolgt. So bleibt unklar, ob das Gericht tatsächlich von dem Judenreglement von 1710 auch offiziell nichts gewusst haben soll, zumal Bostell selbst zu einem späteren Zeitpunkt auf Klefekers Sammlung der Hamburgischen Gesetze und Verfassungen Bezug nimmt.110 Es scheint hier nur ein Mittel zu sein, die Arbeitsweise von Hofmann und seiner Partei zu diskreditieren. Zwar will auch Bostell nicht abstreiten, dass es wohl Juden gab, die auch außerhalb der ausgewiesenen Straßen wohnten, aber er bestreitet, 106 107 108 109 110
Ebd., § 50. Ebd., § 52. Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularecht im Alten Reich, Frankfurt am Main 2002, S. 158. Ebd., S. 158. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht, J 44 Q 53, § 55.
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„daß die Juden überhaupt, die dasige Judenschaft daher ein Recht, und zwar ein vollkommenes Recht herleiten könne, ihre Wohnungen in einem jeden Theil der Stadt nach Willkühr zu verlegen.“111
Bostell bezweifelt, dass daraus eine Observanz112 , also ein altes Herkommen, abgeleitet werden könne, da ein geschriebenes Gesetz dem entgegensteht und deshalb „schlechterdings nicht gültig“ sei.113 Schließlich greift Bostell noch einmal das Argument der reinen Policeysache auf, da es ihm am besten erscheint. Bostell stellt es so dar, dass sich 17 Einwohner beim Magistrat über den Juden beschwert hätten, weil er sich verfassungswidrig am Schaarmarkt niedergelassen habe. Diese Policeysache könne nur innerhalb des Territoriums geklärt werden, „keineswegs aber als ein Object einer gerichtlichen Verhandlung angesehen werden . . . , womit die höchsten Reichsgerichte behelligt werden dürfen.“114
IV. Die Rechtsprechung Der Prozess zog sich nun einige Jahre hin. Details des Verfahrens, die vor allem in Verzögerungstaktiken seitens der appellatischen Partei bestanden, aber auch den Revolutionskriegen geschuldet waren, sollen hier nicht weiter erörtert werden. Schließlich gelangte der Prozess in den dritten Judizialsenat, wo er 1801 entschieden wurde. Der Judizialsenat war zu diesem Zeitpunkt mit den Assessoren Dalwigk, Ullheimer, Martini, Ulmenstein, Branca, Cramer und Linden besetzt. Referent war Karl Friedrich August Philipp Freiherr von Dalwigk, der 1796 durch eine kurbrandenburgische Präsentation an das Gericht kam.115 Dalwigk hatte also die Anfänge des Verfahrens nicht miterlebt. Er stammte aus Rinteln und war, obwohl Lutheraner, auch in kurmainzischen Diensten tätig gewesen. Der Mainzer Erzbischof hatte ihn unter anderem damit beauftragt, die Umstände um die Gründung der Mainzer Republik infolge der Französischen 111 112
113 114 115
Ebd., §57. „Observantia, Ehrerbeitung. Item das Herkommen, wird genennet die unbeschriebene Gesetze Teutschlands, welche durch einen Gebrauch von undencklichen Zeiten eingeführet, und gleichsam heimlich ferblichene Weise zwischen dem Kayser und den Stände, oder bißweilen auch nur zwischen diesen allein beliebet worden, und durch die verschiedene das Reich oder dessen Glieder betreffende Angelegenheit, entweder entschieden, oder die Art, wie solches zu thun, darinnen determiniret wird . . . werden auch altes Herbringen, allgemeine Gebräuche, allgemeine durchgehende Gewohnheiten genennet.“ Siehe Samuel Oberländer (Hg.), Lexicon Juridicum Romano Teutonicum, hrsg. und eingeleitet von Rainer Polley, Köln/Weimar/Wien 2000, Stichwort Observantia. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Reichskammergericht, J 44 Q 53, § 57. Ebd., § 60. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines der höchsten Gericht im Alten Reich (QFHG 26), Bd. 2, Teil I, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 350.
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Revolution zu untersuchen.116 Dalwigk verließ bereits 1804 das Gericht, um in dem neuen Herzogtum Nassau erst Geheimer Rat, dann Präsident des gemeinschaftlichen nassauischen Oberappellationsgerichts zu werden.117 Er war auch der erste Präsident der Wiesbadener Casinogesellschaft.118 Sigrid Jahns, die sich am intensivsten mit den Biographien der Richter der Spätzeit beschäftigt hat, beschreibt Dalwigk als „traditionsgebunden“, was man besonders an seiner Staats- und Gesellschaftskonzeption sähe. So weise sein Denken starkes polizei- und wohlfahrtsstaatliches Denken auf. Zwar trete Dalwigk für religiöse Toleranz ein, sie erstrecke sich aber nur auf die drei christlichen Konfessionen.119 Zudem sei er sehr an der Bewahrung der traditionellen Sozialordnung orientiert gewesen120 und habe sehr konservative staats- und rechtspolitische Ansichten gehabt.121 Der Korreferent Dr. Joseph Ullheimer stammte aus Bamberg und wurde vom Fränkischen Kreis am Reichskammergericht präsentiert. Ullheimer kam zur Zeit des Ausbruchs der Französischen Revolution 1789 an das Gericht, konnte also den Prozess vom Anfang an verfolgen. Er wird von Jahns als richtiger „Aufsteiger“122 bezeichnet, da er aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte. Er war u. a. Professor an der Universität Bamberg und Wirklicher Geheimer Rat gewesen. Nach der Auflösung des Gerichts wechselte er als bayerischer Direktor an die oberste Justizstelle in Franken.123 Sowohl Ullheimer als auch Dalwigk beteiligten sich nach jetzigem Wissenstand nicht an freimaurerischen und illuminatorischen Aktivitäten. Der Assessor Maximilian von Martini war dagegen Freimaurer. Er hatte aber eine Außenseiterrolle inne, die dem Lebenswandel und dem Verhaltenskodex der Assessoren widersprach. Dies geschah nicht auf Grund irgendwelcher freimaurerischer Aktivitäten, sondern Martini hatte sich bei den Prokuratoren von Zwierlein und Ruland hoch verschuldet. Er galt als nicht besonders fleißig und überschätzte seine Arbeit maßlos.124 Zudem 116
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Hans-Kurt Mees, Karl Friedrich August Philipp Freiherr von Dalwigk. Gründungspräsident der Wiesbadener Casino-Gesellschaft, in: Wiesbadener Casino-Gesellschaft (Hg.), 175 Jahre Wiesbadener Casino Gesellschaft. Wiesbaden 1991, S. 83–89, hier S. 84. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines der höchsten Gericht im Alten Reich (QFHG 26), Bd. 2, Teil I, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 354. Otto Renkhoff, Nassauische Biographie, Regest Karl Friedrich August Freiherr von Dalwigk. Eckhardt, Treichel, Der Primat der Bürokratie. Bürokratischer Staat und bürokratische Elite im Herzogtum Nassau 1806–1866, Stuttgart 1991, S. 92. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines der höchsten Gericht im Alten Reich (QFHG 26), Bd. 2, Teil I, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 355 ff. Ebd., S. 357. Ebd., S. 796. Ebd., S. 802. Jahns führt aus, dass mit der Präsentation von Martini vor allem sein bedeutender Vater gewürdigt wurde, ebd., Bd. 2, Teil I, S. 548.
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wurde er der häuslichen Gewalt bezichtigt. Auch bei den Freimaurern wurde er nur geduldet. Sie überlegten zeitweise, ihn aus der Gemeinschaft auszuschließen.125 Ein weiterer Freimaurer im dritten Senat war Johann Albrecht David von Cramer. Sein Vater war schon Assessor gewesen und später sogar in den Reichshofrat aufgestiegen. Cramer war der Wetzlarer Loge „Joseph zu den drei Helmen“ bereits 1767 zu seiner Zeit als Praktikant beigetreten.126 Assessor Franz Ignaz von Linden kam auch aus Kurmainz und gelangte vor allem durch die Empfehlung des kurmainzischen Hofkanzlisten von Albini an das Gericht. Dieser hatte direkt beim Kaiser für von Linden interveniert.127 Linden stammte aus bäuerlichen Kreisen und kam deshalb in Konflikt mit dem Standesdünkel der Assessoren. Seine Qualifikation als Jurist war jedoch hervorragend. Karl Ludwig Freiherr von Branca kam 1791 an das Reichskammergericht. Er zeichnete sich durch besonders ausgeprägten Adelsdünkel aus.128 Eine Zugehörigkeit zum Geheimbund der Freimaurer ist nicht überliefert. Dies ist auch bei Christian von Ulmenstein der Fall, der aus einer Reichskammergerichtsfamilie stammte. Er wurde vom Fränkischen Kreis präsentiert.129 Die Analyse der Biographien zeigt, der Senat bestand aus Assessoren, die mit Ausnahme von Ullheimer und Lindner aus im Reich etablierten Familien stammten. Sie können als typische Aufsteiger gelten, die sich bemühten, in der Ständegesellschaft nicht negativ aufzufallen. Die Relation Dalwigkes zu dem Fall Fürst gegen Pacher und den Senat der Stadt Hamburg ist sehr ausführlich. Dalwigk beginnt wie üblich mit den Species facti, indem er einige historische Daten über die Juden in Hamburg aufführt, bevor er sich dem eigentlichen Rechtsfall widmet.130 Wichtig ist ihm festzuhalten, dass die Juden vor allem wegen ihrer wirtschaftlichen Potenz in Hamburg aufgenommen wurden. 1650 hätten sie jedoch gewisse Ordnungen und Gesetze erhalten, um die Sicherheit und Policey zu gewährleisten und Beschwerden abzuwenden. 1710 habe es dann in dem Judenreglement geheißen: „In allen anderen geist- und weltlichen Fällen so allhie ausdrücklich nicht exprimiert sind, soll es der Juden halber bey dieser Stadt Statuten, auch das Heilige römische Reichs- und dieser Stadt Policey-Ordnung auch gemeinen kaiserlichen Rechten allerdings sein Verbleiben haben“.131
Damit folgt Dalwigk vollständig der Argumentationskette, die Bostell und der Senat der Stadt Hamburg vertraten. Dalwigk weist ausdrücklich auf die Praxis des Hamburger Rates hin, der es duldete, dass die Juden in verschiedenen 125 126
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Eric Oliver Mader, Die „letzten Priester der Gerechtigkeit“, Berlin 2005, S. 167 ff. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines der höchsten Gericht im Alten Reich (QFHG 26), Bd. 2, Teil II, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1113. Ebd., Bd. 2, Teil II, S. 204. Ebd., Bd. 2, Teil II, S. 880. Ebd., Bd. 2, Teil I, S. 683f. Bundesarchiv Berlin, AR 1/ I 377, Generelles Factum § 1–13. Ebd. § 6.
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Gegenden der Stadt zogen und selbst Häuser erwarben. Die Bürgerschaft beklagte sich darüber kaum. Nach dieser ausführlichen Einleitung gelangt Dalwigk zu der eigentlichen rechtlichen Diskussion des Falls und widmet sich zuerst formalen Fragen. So bemängelt der Referent, dass, obwohl Salomon Fürst alleiniger Appellant sei, „Dr. von Hofmann dennoch . . . nicht nur den Appellanten, sondern auch die Hamburgische Judenschaft bey dem Rechte und Besitze in allen Strassen der Stadt zu mehren, zu schützen bittet“. Dalwigk führt hierzu an, dass „weder in voriger noch dieser Instanz die Judenschaft in corpore zu diese Sache erschienen seien“. Deshalb sei „die Judenschaft (wenn sie gleich hinter den Kulissen zu stehen scheint) nicht litigierender Theil“.132 Danach fragt er, „ob die Gerichtsbarkeit des kaiserlichen Kammergericht für begründet zu halten sei“? Dalwigk führt aus, dass der Magistrat der Stadt Hamburg dies verneine und aus formalrechtlichen Gründe argumentiere, „weil der Appellant . . . Restitution gesucht und solche abermals denegirt worden“ sei und weil es sich um eine „Policeysache“ handle. Er verurteilt die formale Behandlung des Falles durch den Hamburger Rat heftig und bemerkt spitz: „In dem den Voracten beiligenden Protocollo Decretorum findet sich nit ein einziges Communications Decret auf die vom Appellanten übergebene Vorstellungen, wohl aber bloße abschlägige Decrete. ... Hielt aber der Magistrat die Sache nicht zur gerichtlichen Cognition geeigenschaftet, glaubte er sie als Policeysache behandeln und hiernach decretieren zu müssen, wie kann er die Behauptung aufstellen, daß Appellant, weil er sich aller Rechtsmittel bedienet nun nicht mehr appellieren dürfe? . . . “133
Danach geht Dalwigk auf die eigentliche Kernfrage ein, die sich als Dreh- und Angelpunkt des Prozesses erweist, nämlich ob es sich in dem Fall um eine Justiz- oder Policeysache handle. Der Assessor betont, dass den Reichsständen die Policeygewalt zustünde und die Reichsgerichte nur aktiv werden dürften, „so lang nicht jemand dadurch gekränkte Rechte ausspricht, so lange nicht das gesellschaftliche durch die Reichsgesetze geknüpfte Band des Ganzen darunter Gefahr läuft“.134
Dalwigk folgt der gängigen zeitgenössischen Meinung, dass die natürliche Freiheit des Einzelnen für die „Erhaltung“ des Ganzen „aufzuopfern“ sei, und weiter heißt es, „so bestimmen sich hieraus wieder die Fälle, wo natürliche Freiheit, Besitzstand und wirkliche Rechte, keine Beschwerde gegen eine Policey-Ordnung begründen können, worüber aber doch die Untersuchung, wenn sich darauf berufen wird der höchsten Gewalt des Staates in Teutschland, also den Reichsgerichten, zustehen muss“.135
Schließlich wird gefolgert, dass die Policeygerichtsbarkeit nicht ganz der Reichsgerichtsbarkeit entzogen sei. Dalwigk folgt damit den Grundsätzen, die Cramer in seinen Wetzlarer Nebenstunden aufgestellt hat. 132 133 134 135
Bundesarchiv Berlin, AR 1/ I 377, Votum § 4. Ebd., Specielles Factum § 5. Ebd., Specielles Factum § 8. Ebd., Specielles Factum § 8.
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Entscheidend sei jedoch in dem Fall, dass es sich bei dem Kläger um einen Juden handle und Dalwigk formuliert deshalb die Frage, „Welche Befugnisse stehen dem Landesregenten über die Juden nach staatsrechtlichen Grundsätzen zu, in welchem Verhältnis stehen sie zum Staate und zu den übrigen Staatsbürgern?“136
Auch hier folgt Dalwigk den Ausführungen Cramers in den Wetzlarer Nebenstunden, der dort feststellt, dass die Juden nicht „de civitate“, sondern nur „in civitate“ seien, da sie keinen Bürgereid leisteten, keine Ämter hätten und auch „am wenigsten zu den öffentlichen Lasten beitragen, welches eigentlich die charakteristische Nota eines Bürgers“ sei137 . Der Referent folgert daraus, dass Juden zwar Schutz genössen und nicht willkürlich vertrieben werden könnten, wenn sie einmal „redigiert“ seien. Gleichzeitig handele es sich jedoch nur um tolerierte Untertanen, die nach besonderen Gesetzen zu behandeln seien; außerdem seien sie den landesfürstlichen Verfügungen über Abgaben, Ankauf von Immobilien und Wohnungen „lediglich unterworfen . . . , worüber sie sich als bloße Schutzverwandte nicht beschweren können“138 . Dalwigk versäumt dabei nicht, auch auf die Auflistung Hofmanns und seiner Partei einzugehen, die eine ganze Anzahl meist sephardischer Juden aufzählten, die sogar mit „Ratsherren unter einem Dache wohnten“. Das Argument lässt er jedoch nicht gelten: „daraus aber den Schluß machen zu wollen, also sind die Juden und in specie der Appellant allenthalben in Hamburg zu wohnen berechtigt, das betrachte ich als fallaciam consequentiae allen staatsrechtlichen Grundsätzen schnurstracks zuwider laufend“.139
Dalwigk spricht hier sogar von fallacia, in Deutsch Täuschung oder Betrug. Er hält also Hofmanns Schlussfolgerung nicht nur für falsch, sondern sogar für betrügerisch. Außerdem verneint er für Fürst entschieden ein „Jus quaesitium“, also ein wohlerworbenes Recht. Schließlich beschwört Dalwigk die Gefährdung des Gemeinwohls durch das freie Wohnrecht eines Juden, aber im gegenteiligen Sinn, als es die appellantische Partei tut. Dalwigk führt aus: „. . . Bey denen einmal bestehenden Volksvorurtheilen bei der so ausgezeichneten Lebensart, Gesinnungen und Gottesdienst der Juden deren bürgerliche Verbesserung so schon auch Dohm in seiner Schrift über diesen Gegenstand geschrieben hat, nach ad pia desideria gehört, ist es auch keinem Staate zu verdenken, wenn er die Juden unter seine spezielle Aufsicht nimmt und in gewisse Gassen der Stadt verweiset, wo er ihre Handlungen mehr übersehen und manchem Verbrechen oder Vergehen, welche bey den meisten die übele Erziehung der Juden erzeugt, vorbeugen kann. Die Unmenschlichkeit der Juden . . . ist kein Phantom. . . . und wenn es gleich nach der Parömie des lüttischen Rechtes le petit hom136 137
138 139
Ebd., Specielles Factum § 10. Ebd., Specielles Factum § 14 und Johann Ulrich Cramer, Wetzlarische Nebenstunden. Worinnen auserlesene beym höchstpreißlichen Cammergericht entschiedene RechtsHändel zur Erweiter- und Erläuterung der teutschen in Gerichten üblichen Rechts-Gelehrsamkeit angewendet werden. 123 Teile. Ulm 1755–1772, hier Teil III, S. 97. Bundesarchiv Berlin, Ar 1 / I 377, Specielles Factum § 15. Ebd. § 14.
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me est Roitelet dans sa Maison140 von jedem Hausbesitzer abhängen würde, einen Juden in sein Haus aufzunehmen, und mit ihm zu leben; so würden sich doch bey 3000 Judenfamilien und 150000 christlichen Einwohnern in Hamburg gewiß in jeder Gasse mehrere Christen zur Aufnahme jüdischer Familien zum Nachteil der übrigen Bürger verstehen. Da nun einer guten Policey an der Reinlichkeit, öffentlichen und privat Sicherheit der Juden (welche bey dem Haß der Christen gegen sie, und bey der ausschweifenden Lebensart der Juden, ohne daß sie beisammen wohnen, nicht erreicht werden kann) allerdings gelegen seyn muß, so ist auch gewiss bey dem Verbot in bestimmten Straßen zu wohnen oder bey der auf gewisse Gassen der Stadt eingeschränkten Wohnung der Juden nun so weniger etwas zu erinnern, da es lediglich ins Gebiet der Policey und des Sanitäts Collegii gehört, ob eine solche Einrichtung der Gesundheit der Einwohner zuträglich ist, oder nicht?“141
Die Meinung Dalwigks wird hier offenbar. Dalwigk stimmt Dohm insoweit zu, dass die Juden erst erzogen werden müssen, lehnt es aber im Gegensatz zu Dohm ab, ihnen hierzu die bürgerlichen Rechte zu gewähren. Die gleichen staatsbürgerlichen Rechte für Juden sind für ihn ein frommer Wunsch und damit unrealistische Schwärmerei. Indirekt verurteilt er Hofmann und seine „radikalen“ aufklärerischen Ansichten scharf, indem er auf die Lütticher Ereignisse anspielt, in die ja Dohm und Hofmann sowie das Reichskammergericht involviert waren. Außerdem weist er nach, dass die Frage, wo Juden wohnen, eben aufgrund der „Unmenschlichkeit der Juden“ keine Frage des freien Wohnrechts sei, sondern vielmehr aufgrund des Sozialverhaltens der Juden nur eine Gesundheitsfrage und damit letztendlich eine Policeysache. Die Frage nach dem Gemeinwohl wird beantwortet, indem Dalwigk eben das Wohl der Christen und nicht das der Juden als in erster Linie erstrebbar interpretiert.142 Schließlich äußert sich Dalwigk auch zur Judenpolitik Kaiser Josephs II. von 1782, die er scharf verurteilt. Er meint sogar, dass der Kaiser dadurch den Juden „besondere Freiheiten“, also Freiheiten über die natürlichen Freiheiten hinaus gewährt hätte. Ein Hinweis auf Juden, die dann schließlich von Joseph II. sogar geadelt wurden, wie der getaufte Tabakpächter Karl Abraham Wetzlar von Plankenstein, bleibt nicht aus, weist aber auch gleichzeitig auf die Forderung hin, dass Juden sich nur emanzipieren könnten, wenn sie zu Christen würden. Zum Schluss bezweifelt der Referent, dass das Interesse des Appellanten, am Schaarmarkt zu wohnen überhaupt den Gegenwert der Appellationssumme von 700 Goldgulden besäße. Auf Hofmanns Argument, dass Freiheit nicht mit einer Geldsumme zu vergleichen sei, geht Dalwigk nicht ein. Der will die Appellation abschlagen und das Mandat zurückrufen.143 140 141 142
143
Es handelt sich hier um ein französisches Sprichwort, das übersetzt lautet: „jeder kleine Mensch ist Zaunkönig in seinem Haus“. Bundesarchiv Berlin, Ar 1 / I 377, Specielles Factum § 23. Siehe hierzu auch Peter Oestmann, Menschenrechte und ihre Durchsetzung im Alten Reich, in: Georg Schmidt-von Rhein, Albrecht Cordes (Hgg.), Altes Reich und Neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit (Ausstellungskatalog), Wetzlar 2006, S. 72 ff. Bundesarchiv Berlin, Ar 1 / I 377, Specielles Factum § 26.
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Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Korreferent Ullheimer stimmt der Relation Dalwigks voll zu. Er meint, dass er den Juden „in seinen eingebildeten Menschenrechten nicht schützen könne. Es gehört dermalen zu Mode, daß unsern neuen juridischen Dilettanten alles zu unveräußerlichen Menschen Rechte stempeln wollen, ohne daß sie imstand sind, einen ächten Begriff des Menschen zu bilden, und aus diesem ein ordentliches Raisonnement ein einzelnes angeborenes Recht des Menschen herzuleiten. Ein Machtspruch - dies gehört zu den Menschenrechten - ist freylich leichter als in jure zu philosophieren. . . . “
Auch Ullheimer hält sich mit direkter Kritik an Hofmann nicht zurück. Er beleidigt Hofmann und seinen Mandanten sogar. Ullheimer ist wie Dalwigk nicht bereit, einen rechtlichen Entscheidungsspielraum der Assessoren zu nutzen. Ullheimer argumentiert weiter: „Zu den Menschenrechten eines Juden, die Freyheit zu wohnen, wo er will zu nehmen, gehört zu dem Übertriebenen, das sich Dohm (itzo Herr von Dohm) über die bürgerliche Verbesserung der Juden geschrieben hat, man sowohl in der Theorie als auch in manche Staatspraxis zum dienen sah. . . . Die Freiheit zu wohnen gehört nicht zu den Rechten des Menschen, sondern nur des Bürgers . . . “144
Ullheimer zeigt hier deutlich, wie wenig die Idee, dass auch Juden Menschen sind bei Teilen der juristischen Elite des Reiches trotz Aufklärung und Französischer Revolution angekommen ist. Dalwigk und Ullheimer sind eng in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft verhaftet. Dabei argumentieren sie streng nach rechtlichen Grundsätzen und Regeln. Sie sind aber nicht bereit, Spielräume, die das Recht bietet, zugunsten einer neuen Gesellschaftsordnung zu nutzen. Die übrigen Assessoren stimmen ohne weitere Kommentare den Ansichten von Ullheimer und Dalwigk zu. Mandat und Appellation werden nach Hamburg zurückverwiesen. Zwar wird von Hofmann noch eine Revision angestrengt, die aber mit Bezug auf die Relation von Dalwigk 1802 ebenfalls abgewiesen wird. Über das weitere Schicksal von Fürst und seiner Familie ist nichts bekannt.
V. Fazit Der Hamburger Jude Fürst erscheint als Wegbereiter einer Neuordnung der Stellung der Juden im Verhältnis zu ihrer nichtjüdischen Umwelt in Anlehnung an die Forderungen der Französischen Revolution. Sein Ansinnen auf freies Wohnrecht wurde dabei in Hamburg von einer ganzen Reihe von Mitbürgern und Nachbarn unterstützt. Er hielt seine Forderungen für legitim und wollte sie mit Hilfe des Reichskammergerichts auf gerichtlichem Weg durchsetzen. 144
Bundesarchiv Berlin, AR 1 / I 377, Schriftstück 39.
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Die Obrigkeit, in diesem Fall der Hamburger Senat, fürchtete vor allem um das Gemeinwohl und seine Autorität in der Stadt. Er bestritt die Zuständigkeit des Reichskammergerichts, weil es sich um eine Policeyangelegenheit handle. Da Juden nicht de civitate, sondern nur in civitate seien, gehe es hier um eine Maßnahme, die vollständig in die Kompetenz des Hamburger Magistrats falle. Der dritte Senat des Reichskammergerichts, der von konservativen Kräften dominiert wurde, neigte der altständischen Ordnung zu und folgte daher der Argumentation des Hamburgischen Senats. Er bewegte sich damit auf dem Boden des geltenden Rechts. Entscheidungsspielräume, die bei der Behandlung des Streitfalls als „Justizsache“ anstatt als Frage „Policeysache“ diesem eine andere Richtung hätten geben können, blieben ungenutzt. Im Fall des vergleichbaren, gut untersuchten Falles der Vertreibung der Ettenheimer Juden sah die Sache jedoch anders aus. Hier entschied ein in seiner politischen Haltung sehr heterogener Senat für die Juden mit dem Hinweis auf wohlerworbene Rechte und Eigentum. Die Frage „Policey- oder Justizsache“ wurde hier im Unterschied zu dem in diesem Beitrag untersuchten Hamburger Fall im Sinne der Entscheidungshoheit des Reichskammergerichts und zu Gunsten der jüdischen Prozesspartei genutzt.145 Das Reichskammergericht zeigt sich hier im Spannungsfeld zwischen politischer Funktion und politischer Wirkung. Gerade die policeyrechtliche Judikatur spiegelt die am Ende des Heiligen Römischen Reiches wirksamen Kräftefelder wider. Deutlich wird, dass die Richter sich in ihrer Abneigung gegen Juden einig waren, aber unterschiedliche Haltungen zur Funktion des Gerichts im Zeitalter der Französischen Revolution einnahmen. Es ging um die Grundwerte Freiheit und Gleichheit, aber auch um die altständische Ordnung mit ihren Privilegien und Sonderrechten. Rita Sailer und Peter Oestmann146 haben festgestellt, dass das Reichskammergericht sehr wohl bereit war, die Aufhebung wohlerworbener Recht zu billigen, um der allgemeinen Handels- und Gewerbefreiheit Raum zu verschaffen.147 Das schloss auch individuelle Rechte des Individuums ein. Entscheidend war jedoch im Hamburger Fall der Umstand, dass ein Jude Freiheitsrechte forderte und das Reichskammergericht sich auch im Zeitalter der Französischen Revolution auf die Erhaltung der Reichsverfassung konzentrierte. Das primäre Ziel des Reichskammergerichts war es, Missstände 145 146
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Vgl. zum Ettenheimer Fall Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht (QFHG 33), Köln Weimar Wien 1999, S. 379–398. Siehe auch Peter Oestmann, Menschenrechte und ihre gerichtliche Durchsetzung im Alten Reich, in: Georg Schmidt-von Rhein, Albrecht Cordes (Hgg.), Altes Reich und Neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit. Ausstellungskatalog, Wetzlar 2006, S. 57–74 und Peter Oestmann, Zunftzwand und Handelsfreiheit im frühen 19. Jahrhundert, in: ZNR 26 (2004) S. 246 ff. Rita Sailer, Richterliches Selbstverständnis und juristische Ordnungsvorstellungen in der policeyrechtlichen Judikatur des Reichskammergerichts, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert (QFHG 41), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 1–42, hier S. 2.
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innerhalb des Reiches auf der Basis des Reichsrechtes zu beseitigen. Das bedeutete, dass das Reichskammergericht eine Schiedsrichterrolle zwischen Landesherrschaft und Untertanen wahrnahm und deshalb auch in die inneren Angelegenheiten der Reichsstände eingriff. Gerade am Ende des Reiches wurde dies zur Existenzbedingung des Gerichts.148 Es gab Entscheidungsspielräume der Assessoren, die individuell genutzt wurden. Der biographische Hintergrund des einzelnen Assessors war dabei entscheidend. Die Zugehörigkeit zu einem aufklärerischen Geheimbund spielte dabei keine oder nur eine geringe Rolle.149 Die Prozesse geben aber noch über einen weiteren Punkt Aufschluss: radikale Ideen über Gleichheit und Freiheit finden sich vermehrt bei den Prokuratoren. Sie nutzten die Prozessschriften als Arena, um ihre Unzufriedenheit mit der Ständegesellschaft und ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung auszudrücken. Hofmann und Dietz scheinen es mit ihrer Argumentation geradezu auf Provokation abgesehen zu haben. Prokuratoren und Assessoren kämpften um die Rolle des Reichskammergerichts und ihr eigenes Ansehen. Deutlich wird auch, dass Fürst das Reichskammergericht nutzte, um die konservativen Kräfte in Hamburg zu provozieren. Er gehörte zu den deutschen Juden, die die Werte des Bürgertums ihrer Zeit so früh und intensiv übernahmen, dass sie sich dem gerade entstehenden System nicht anpassten, sondern vielmehr sogar eine Vorreiterrolle einnahmen und versuchten, es zu prägen.150 Der Jude Fürst nutzt hierzu das Reichskammergericht. Fürsts Verhalten zeigt aber auch, dass Minderheiten in Zeiten rapider gesellschaftlicher Veränderungen eine eigene Dynamik eigen sein kann.
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Karl Härter, Soziale Unruhen und Revolutionsabwehr: Auswirkungen der Französischen Revolution auf die Rechtsprechung des Reichskammergerichts, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert (QFHG 41), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 43–104, hier S. 102. Karl Härter, Soziale Unruhen und Revolutionsabwehr: Auswirkungen der Französischen Revolution auf die Rechtsprechung des Reichskammergerichts, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert (QFHG 41), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 101 und Rita Sailer, Untertanenprozesse: Richterliches Selbstverständnis und juristische Ordnungsvorstellungen in der policeyrechtlichen Judikatur des Reichskammergerichts, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert (QFHG 41), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 478 f. Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 659. Siehe auch Eberhard Wolff, Ankunft in der Moderne: Aufklärung und Reformjudentum, in: Arno Herzig/ Cay Rademacher (Hgg.), Die Geschichte der Juden in Deutschland, Bonn 2008, S. 121.
Stephan Wendehorst
Die Feudi Imperiali: Eine versteckte Seite der Geschichte der Juden im Italien der Frühen Neuzeit?1 Was haben der in Sabbioneta gebürtige Mitkämpfer Garibaldis und Mediziner Pio Foà, die aus Görz (Gorizia) stammende Triestiner Kaufmanns- und Bankiersfamilie Morpurgo, der Rechtshistoriker Vittore Colorni, die Rabbinerfamilie Finzi, der Historiker Daniel Carpi, der Schriftsteller Giorgio Voghera, der britische Premierminister D’Israeli, der Protagonist der Frankfurter Schule Theodor Adorno, das Verlagshaus Soncino, der aus der Synagoge von Soragna stammende Thoraschrein im Gebetsraum der Knesset, das in Casale Monferatto überlieferte Rezeptbuch der Rosina Leblis Donati, das israelische Weinlabel Recanati und der Humanist und christliche Kabbalist Pico della Mirandola2 gemeinsam? Diese Liste dürfte auf einen – zumindest jenseits der Lokalgeschichte – bislang unbemerkt gebliebenen Zusammenhang zwischen Rechts- und Politikgeschichte, insbesondere der Reichsgeschichte, einerseits und der Geschichte der Juden in (Nord-)italien in der Frühen Neuzeit andererseits verweisen. Der Konjunktiv ist bewusst gewählt, da der vermutete Zusammenhang in diesem Beitrag nur grob skizziert werden kann. Ob und insbesondere inwieweit sich der Ansatz als tragfähig erweist, einen Teil der frühneuzeitlichen Geschichte der Juden in ihren Beziehungen zur nicht-jüdischen Umwelt, insbesondere jenseits der großen Gemeinden, mit Hilfe von Rechts-, Politik und Reichsgeschichte zu erklären – und umgekehrt, das Verständnis der Politik- und Rechtsgeschichte Nord- und insbesondere Reichsitaliens durch die Berücksichtigung der jüdischen Geschichte zu erweitern – muss einer oder mehreren zukünftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ausgangpunkt der hier skizzierten Überlegungen sind Passagen aus dem „The Italian Ghettos“ betitelten Abschnitt 32 in dem von Cecil Roth, Reader in Jewish History an der Universität Oxford, im Jahr 1946 veröffentlichen Werk „History of the Jews of Italy“, lange die einzige Gesamtdarstellung der Geschichte der Juden in Italien und, obwohl in mehrfacher Hinsicht durch neuere Forschungen überholt bzw. erweitert, als Gesamtdarstellung bis heute 1
2
Die Kerngedanken dieser Ausführungen wurden erstmals auf dem dem Thema „Der imperiale Faktor in der jüdischen Lokalgeschichte/Emperor and Empire in Jewish Local History“ gewidmeten 2. Workshop des Projektclusters „Jüdisches Heiliges Römisches Reich – Geschichte der Juden als Geschichte von Zwischenräumen eines polyzentrischen Politik-, Rechts- und Sozialsystems, der am 19. und 20. Oktober 2007 im Rathaus und im Alzheimer Haus in Marktbreit stattfand, vorgestellt. Giulio Busi, Vera relazione sulla vita e i fatti di Giovanni Pico, conte della Mirandola, Aragno, 2010.
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unverzichtbar.3 Roth geht davon aus, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert 25.000 bis 30.000 Juden in Italien lebten.4 Nach den Vertreibungen aus dem Königreich Neapel und dem Königreich Sizilien im 16. Jahrhundert war die jüdische Bevölkerung Italiens geographisch gesehen auf Mittel- und Norditalien beschränkt, politisch betrachtet auf den Kirchenstaat und die nördlich davon gelegenen Herrschaftsgebiete. Zu letzteren gehörten das Großherzogtum Toskana, das Herzogtum Savoyen, die Republik Genua und das Herzogtum Mailand, die, so umstritten dies streckenweise war, zum Reichsverband zählten – Savoyen war sogar auf dem Reichstag in Regensburg vertreten und in die Kreisverfassung des Reichs integriert –, und die Republik Venedig, die außerhalb des Reichslehnsverbands stand. Nach Roth lebten jeweils bis zu 5.000 Juden in den großen städtischen Gemeinden von Rom, Venedig und Livorno, ca. 2.500 in Mantua und zwischen 1.000 und 2.000 in Triest, Ancona, Ferrara, Modena und Turin. Alle anderen Gemeinden zählten weniger als 1.000 Einwohner. Damit lebten ca. 5.000 bis 10.000 in kleineren Gemeinden. Obwohl sie keinen zu vernachlässigenden Prozentsatz ausmachten, bleiben die kleineren Gemeinden im gängigen Bild von der Geschichte der Juden im Italien der Frühen Neuzeit, das durch Arbeiten über die großen, urbanen Gemeinden von Rom,5 Venedig,6 Livorno,7 Triest8 und 3
Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 329–353. 4 Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 353. 5 Abraham Berliner, Geschichte der Juden in Rom, Frankfurt: Kauffmann, 1893 [Neudruck; Hildesheim: Olms, 1987]; Kenneth Stow, Theater of Acculturation. The Roman Ghetto in the Sixteenth. Century. Seattle: University of Washington Press, 2001; ders, Jewish Life in Early Modern Rome. Challenge, Conversion, and Private Life. Ashgate, Aldershot, 2007. 6 Benjamin Ravid, Studies on the Jews of Venice, 1382–1797, Aldershot: Ashgate Variorum, 2003; Ravid; Robert C. Davis, Hg., The Jews of early modern Venice, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2001. 7 Bernard Cooperman, Trade and Settlement: The Establishment and Early Development of the Jewish Communities in Leghorn and Pisa (1591–1626), unveröffentlichte Dissertationsschrift Harvard University, 1976; Renzo Toaff, La Nazione Ebrea a Livorno e a Pisa (1591–1700), Florence: Olschki, 1990; Jean Pierre Filippini, Il porto di Livorno e la Toscana (1676–1814), Bde 1–3, Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane, 1998; Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr.,, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003; Francesca Trivellato, The Port Jews of Livorno and their Global Networks of Trade in the Early Modern Period, in: Jewish Culture and History 7 (2004), S. 31–48, dies., The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period New Haven: Yale University Press, 2009; Lucia Frattarelli Fischer, Vivere fuori dal Ghetto. Ebrei a Pisa e Livorno (secoli XVI–XVIII), Turin: Silvio Zamorani editore, 2008; Francesca Bregoli, The Port of Livorno and its „Nazione Ebrea“ in the Eighteenth Century: Economic Utility and Political Reforms, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History. Journal of Fondazione CDEC“, Nr.2 Oktober 2011 (url: www.questcdecjournal.it/focus.php?id=227). 8 D. Durissini, Credito e presenza ebraica a Trieste (XIV–XV secolo), in: Zakhor. Rivista di storia degli ebrei d’Italia, 1, 1997, S. 25–76; Lois Dubin, The Port Jews of Habsburg Trieste. Absolutist Politics and Enlightenment Culture (Stanford Studies in Jewish His-
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Mantua9 dominiert wird, regelmäßig unbeachtet oder unterbelichtet im Hintergrund. In seinem nach Regionen und Territorien angeordneten Überblick über die demographische Verteilung der Juden in Italien weist Roth auf die im 1631 an den Kirchenstaat gefallenen Herzogtum Urbino gelegenen jüdischen Gemeinden Pesaro, Senigallia und Urbino hin,10 wie auch auf die Gemeinden in Ferrara, Lugo und Cento in den Besitzungen des Hauses Este, die bereits 1598 an den Kirchenstaat gekommen waren.11 Ferner erwähnt er die jüdischen Gemeinden in Görz (Gorizia), Gradisca, Triest (Trieste), Gonars, San Daniele und Spielberg (Spilimbergo), die entweder von Adelsfamilien, wie den Eggenberg, regiert wurden oder unter direkter habsburgischer Herrschaft standen.12 In der Nachbarschaft Mantuas fielen Roth die Gemeinden in Pomponesco, Rivarolo, Sermide, Revere, Ostigli, Viadana, Ostiano, Bozzolo und Sabbioneta auf;13 in dem den Este verbliebenen Herrschaftsgebiet neben Modena und Reggio die kleineren Gemeinden in Corregio, Novellara, Brescello, Scandiano, Carpi und Finale.14 In Mirandola existierte eine jüdische Gemeinde bis zur Zerstörung der Synagoge durch die Römische und Universale Inquisition Mitte des 17. Jahrhunderts.15 Für Parma und Piacenca stellte Roth fest, dass es jüdische Gemeinden zwar nicht in den Hauptstädten, dafür aber in Busseto, Cortemaggiore, Soragna, Colorno, Borgo S. Donnino, Monticelli, Forenzuolo d’Arda und Guastalla gab.16 Für Piemont ergab Roths Bestandsaufnahme Gemeinden nicht nur in Turin, sondern auch in Vercelli, Asti, Cuneo, Fossano, Ivrea, Mondovì, Chieri, Savigliano, Cherasco, Biella und Trino,17 für die an Savoyen gefallene Markgrafschaft Saluzzo Gemeinden in Carmagnola und
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tory and Culture), Stanford University Press, 1999; dies, Subjects into Citizens. Jewish Autonomy and Inclusion in Early Modern Livorno and Trieste, in: Simon Dubnow Institute Yearbook 5 (2006), S. 51–81. Shlomo Simonsohn, History of the Jews in the Duchy of Mantua (Publications of the Diaspora Research Institute, 17), Jerusalem: Kiryat Sepher, 1977; Paolo Bernardini, La sfida dell’uguaglianza: gli Ebrei a Mantova nell’eta` della Rivoluzione francese (Quaderni di Cheiron, 3), Roma: Bulzoni, 1996. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 331–332. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 333. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 336–337. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 340. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 340. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 341. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 341. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1946, S. 342.
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Saluzzo selbst, 18 für Montferrat Gemeinden in Acqui, Nizza (Monferatto), Moncalvo und Casale.19 Explizite Erwähnung findet bei Roth auch die kleine, nur aus den Familien Cohen Vitale und Levi und deren Anhang bestehende jüdische Gemeinde, die sich trotz der Vertreibung der Juden aus dem Herzogtum Mailand im Jahr 1591 in Alessandria hatte halten können.20 Für die Toskana weist Roth neben Florenz, Siena, Pisa und Livorno auf einige weniger bedeutende Orte hin, „a few lesser places to which they [die Juden, Anm. des Verf.] drifted back in inconsiderable number . . . , such as Monte S. Savino, Lippiano, Arezzo and Borgo S. Sepolcro, none being of sufficient importance to have a Ghetto, in Pitigliano, on the borders of the Papal States, where a number of refugees from the rigors of Jewish life in Rome settled, creating a community out of all proportion to the natural importance of the town; . . . “.21 In seinem Überblick über die demographische Verteilung der Juden in der Frühen Neuzeit zeichnet Roth das Bild einer weitgehend ghettoisierten und urbanen italienischen Judenheit, lässt aber gleichzeitig keinen Zweifel daran, dass es neben den bekannten großen urbanen Zentren eine Vielzahl kleinerer jüdischer Gemeinden in Mittel- und Norditalien gab, die zumindest zum Teil nicht in Ghettos lebten und von denen einige einen vergleichweise hohen Anteil an der jeweiligen Gesamtbevölkerung ausmachten: „On the other hand, there were some tiny places, such as Cento oder Lugo, which we would not today consider much more than large villages, where a community of this size constituted a considerable element of the total population . . . “,22 Roth zählt die kleineren Gemeinden, die ihm aufgefallen waren, nicht einfach nur auf. Für ihn stellten sie eine ungewöhnliche und daher erklärungsbedürftige Erscheinung dar. In der Toskana führte er ihr Entstehen auf jüdische Flüchtlinge aus dem Kirchenstaat zurück. Die Aufnahme von Juden, die 1629 aus Mantua vertrieben worden waren, durch die Herzöge von Mirandola und Markgrafen von Concordia sowie durch den Herzog von Bozzolo, erklärte er mit deren „humanity to give them refuge.“23 Den Umstand, dass einige dieser kleineren Gemeinden nicht ghettoisiert waren, schrieb er ihrer Bedeutungslosigkeit zu: „. . . none being of sufficient importance to have a Ghetto . . . “24 Soweit Cecil Roth. 18 19 20 21 22 23 24
Roth, The History of the America 1946, S. 342. Roth, The History of the America 1946, S. 343. Roth, The History of the America 1946, S. 343. Roth, The History of the America 1946, S. 345. Roth, The History of the America 1946, S. 352. Roth, The History of the America 1946, S. 339. Roth, The History of the America 1946, S. 345.
Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of
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Wenn die 1996 und 1997 in der Storia d’Italia von Einaudi erschienenen beiden Bände zur Geschichte der Juden in Italien vom Hochmittelalter bis zum Ghettozeitalter und von der „Ersten Emanzipation“ bis zur Gegenwart als Maßstab gewählt werden,25 so hat sich das Bild fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Cecil Roths Monographie nur maßvoll verändert. Die in diesen Bänden enthaltenen Beiträge, die von ihrer Ausrichtung her am ehesten Informationen über die Bedingungen versprechen, unter denen sich die hier in Frage stehenden kleineren Gemeinden etablieren und konsolidieren konnten, stammen von Sergio della Pergola, Shlomo Simonsohn und Michele Luzatti.26 In seinem Beitrag, wie auch in der von ihm verantworteten, nach Territorien bzw. Regionen gegliederten mehrbändigen jüdischen Geschichte Italiens in Dokumenten27 sieht Simonsohn in den Territorien den entscheidenden politischen und rechtlichen Bezugsrahmen für das Verhältnis der Juden zu ihrer nicht-jüdischen Umwelt. Die hier in Frage stehenden Gemeinden bilden bei ihm keine eigenständige Kategorie, sondern werden von ihm größeren geographischen Einheiten zugeordnet. Damit fällt er in dieser Hinsicht hinter Cecil Roth zurück, dem diese Gemeinden zumindest als etwas Besonderes aufgefallen waren, obwohl ihm ihre spezifischen Existenzbedingungen verschlossen blieben. Wie Roth und Simonsohn ordnet auch Luzatti den mit „Per un atlante delle presenze ebraiche“ betitelten Teil seines Beitrages nach Regionen – ein gängiges, wenn auch für die Frühe Neuzeit problematisches, da anachronistisches Gliederungsschema –, Marken, Toskana, Emilia und Romagna, Lombardei, Piemont und Ligurien. Im Unterschied zu Simonsohn thematisiert er die hier in Frage stehenden kleineren jüdischen Gemeinden als eigenständige Erscheinung, zwar nicht durchgängig, aber zumindest an drei Stellen. Für die Toskana weist Luzatti neben den großen jüdischen Gemeinden in den Ghettos von Florenz und Siena sowie in den Wirtschafts- und Freihandelszentren von Pisa und Livorno auf jüdische Gemeinden hin, die in Adelsherrschaften fortbestehen konnten oder neu gegründet wurden: „. . . dove esercitavano giurisdizione alcuni feudatari cui i Medici avevano concesso margini di auto-
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Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età die ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996; ders., Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’emancipazione’a oggi (Storia d’Italia, 11: 2), Turin: Einaudi, 1997. Shlomo Simonsohn, La condizione giuridica degli ebrei nell’Italia centtrale e settentrionale (secoli XII-XVI), in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età dei ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996, S. 97–120; Michele Luzatti, Banchi e insediamenti ebraici nell’Italia centro-settentrionale fra tardo Medioevo e inizi dell’Età moderna, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età dei ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996, S. 175–235; Sergio della Pergola, „La popolazione ebraica in Italia nel contesto ebraico globale, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’emancipazione’a oggi (Storia d’Italia, 11: 2), Turin: Einaudi, 1997, S. 897–936. Stellvertretend für das monumentale Werk siehe: Shlomo Simonsohn,, Hg., History of the Jews in the Duchy of Milan (1397–1788), Bde 1–4 (Documentary History of the Jews of Italy), Jerusalem 1982–1986.
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nomia abbastanza ampi“.28 Im Einzelnen nennt er die Markgrafschafen Monte Santa Maria und Monte San Savino, die Grafschaft Pitigliano, das Fürstentum Piombino und die den Malaspina und Cybo gehörenden Herrschaften Fosdinovo sowie Massa und Carrara. Auch für die Lombardei weist Luzatti auf den Zusammenhang zwischen der politischen Autonomie kleiner Herrschaften und der Entstehung und Stabilisierung jüdischer Gemeinden hin: „. . . un gran numero di feudatari e di signori locali era in grado di gestire con una certa autonomia l’ingresso e la permanenza di ebrei all’interno dei loro territori.“29 Insbesondere für das Gebiet der heutigen Provinz Mantua sieht er einen kausalen Zusammenhang zwischen der auffallende Häufung jüdischer Gemeinden und der Existenz von „piccoli feudi e signorie“.30 Für Ligurien sieht er ebenfalls einen Zusammenhang zwischen „modesti insediamenti ebraici“ und „“isole“ feudale“ her.31 Della Pergola stellt in seinem Überblickbeitrag über die demographische Entwicklung und Verteilung der jüdischen Bevölkerung in Italien an einer Stelle einen Zusammenhang zwischen frühneuzeitlicher Politik- und jüdischer Siedlungsgeschichte her, wenn er als Resultat der Vertreibungen des 16. Jahrhunderts eine jüdische Bevölkerungskonzentration in den „territiori degli Estensi“, dem, „Mantovano“ und dem „Monferatto“ ausmacht, Gebiete, die er als „no-man’s lands (terre di nessuno)“ bzw. „pales of settlement“ kategorisiert“.32 Wenn Luzatti die Entstehung und den spezifischen Charakter einiger der hier in Frage stehenden kleineren Gemeinden im politischen Handlungsspielraum adeliger Herrschaften begründet sieht, 33 weicht er von dem vorherrschenden ökonomischen Erklärungsmuster, das im Allgemei28
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Michele Luzatti, Banchi e insediamenti ebraici nell’Italia centro-settentrionale fra tardo Medioevo e inizi dell’Età moderna, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età dei ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996, S. 187–211, hier 200. Michele Luzatti, Banchi e insediamenti ebraici nell’Italia centro-settentrionale fra tardo Medioevo e inizi dell’Età moderna, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età die ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996, S. 187–211, hier 205. Michele Luzatti, Banchi e insediamenti ebraici nell’Italia centro-settentrionale fra tardo Medioevo e inizi dell’Età moderna, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età die ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996, S. 187–211, hier 207. Michele Luzatti, Banchi e insediamenti ebraici nell’Italia centro-settentrionale fra tardo Medioevo e inizi dell’Età moderna, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età die ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996, S. 187–211, hier S.211. Sergio della Pergola, „La popolazione ebraica in Italia nel contesto ebraico globale, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’emancipazione’a oggi (Storia d’Italia, 11: 2), Turin: Einaudi, 1997, S. 897–936, hier S. 916. Michele Luzatti, Banchi e insediamenti ebraici nell’Italia centro-settentrionale fra tardo Medioevo e inizi dell’Età moderna, in: Corrado Vivanti, Hg., Gli ebrei in Italia. Dall’alto Medioevo all’età dei ghetti (Storia d’Italia, 11: 1), Turin: Einaudi, 1996, S. 187–211, hier 200, 204–205, 207 und 211.
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nen auch seinem eigenen Beitrag zugrunde liegt, ab. Indem er zwischen der Autonomie „kleiner Feudalherren“ und der jüdischen Präsenz in ihrem Herrschaftsbereich einen Kausalnexus ausmacht, stellt er einen für das Verständnis der Geschichte der Juden in Norditalien in ihrem Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt wichtige Verknüpfung her. In der Identifikation eines politischen bzw. verfassungsrechtlichen Erklärungsmusters und dessen Generalisierbarkeit liegen die über die von Roth angebotenen Erklärungen hinausweisenden Schritte. Eine Reihe von Fragen bleibt jedoch ungeklärt. Noch offen ist insbesondere die Frage, warum es nicht die Gesamtheit der kleineren Adelsherrschaften, sondern nur eine Teilmenge war, unter deren Schutz sich jüdische Gemeinden in der Frühen Neuzeit halten bzw. neue etablieren konnten. Luzattis Ausführungen zu den kleineren jüdischen Gemeinden in kleineren Adelsherrschaften bieten eine Antwort auf die Frage, was für wirtschaftlichen Tätigkeiten Juden wo nachgingen, nicht jedoch auf die Frage, warum sie dies gerade dort oder von dort aus taten und nicht andernorts. Auch die relative politische Autonomie, die den kleineren Adelsherrschaften eine eigenständige jüdische Politik erlaubte, wird zwar konstatiert, die politischen und rechtlichen Strukturen, die diese ermöglichten, aber nicht offengelegt. Eine Antwort, zumindest eine Teilantwort, auf diese offenen Fragen, könnte die Schnittmenge zwischen Reichsgeschichte und der Geschichte der Juden im frühneuzeitlichen Italien liefern. Wenn wir den Befund der Vielzahl kleinerer jüdischer Gemeinden, die die jüdische Geschichtswissenschaft auf dem nördlichen Rücken des Appenin ausgemacht hat, wie eine Folie über die Ergebnisse eines anderen Zweiges der historischen Forschung, der Erforschung der „Feudi Imperiali“, schieben, lassen sich zahlreiche, überraschende Überlappungen feststellen. Die Erforschung der Feudi Imperiali, der Reichslehen, die Teil des Reichslehenssystems mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches an der Spitze waren, ist einer der Schwerpunkte dessen, was als italienische Reichsgeschichte bezeichnet werden kann, der Erforschung der Beziehungen der italienischen Herrschaftskomplexe nördlich des Kirchenstaates, mit Ausnahme der außerhalb des Reichsverbandes stehenden Republik Venedig, zu Kaiser und Reich.34 34
Karl Otmar von Aretin, L’ordinamento feudale in Italia nel XVI e XVII secolo e le sue ripercussiuoni sulla politica europea – Die Lehensordnung in Italien im 16. und 17. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die europäische Politik, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Contributi 4/ Jahrbuch des italienischdeutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge 4, 1978, S. 51–94; Matthias Schnettger, Le Saint-Empire et ses périphéries: l’exemple de l’Italie, Histoire, économie et société, 23:1 (2004), S. 7–23; Matthias Schnettger und Marcello Verga, Hgg., L’Impero e l’Italia nella primsa età moderna – Das Reich und Italien (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 17), Bologna: Mulino/Berlin: Duncker & Humblot, 2003; Matthias Schnettger, „Principe sovrano“ oder „Civitas imperialis“?: die Republik Genua und das Alte Reich in der Frühen Neuzeit; (1556–1797), Mainz: Zabern 2006; ders., Feudi imperiali – Reichsitalien, in: Stephan
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Nach mehreren Anstößen von Seiten italienischer, deutscher, und österreichischer Forscher35 haben die „Feudi Imperiali“ gerade in jüngster Zeit wieder vermehrt das Interesse der historischen Forschung auf sich gezogen.36 Obwohl größere Territorien wie das Großherzogtum Toskana, das Herzogtum Savoyen, oder das Herzogtum Mailand streng genommen auch zu den Reichslehen zu rechnen sind, wird der Begriff vor allem für die „piccoli feudi imperiali“, kleinere Adelsherrschaften und mindermächtige Fürstentümer, verwendet, die nicht oder nur unvollständig vom Prozess der frühmodernen Staatswerdung erfasst wurden und sich aufgrund ihres Rückhalts beim Kaiser außerhalb größerer territorialer politischer Einheiten ein gewisses Maß an Autonomie bewahren konnten. Die Kombination von doppelköpfigem Reichsadler und dem Schriftzug „Libertas“ im Wappen der Herzöge von Sabbioneta symbolisiert diesen strukturpolitischen Zusammenhang. Obwohl die aus dem Reich nördlich der Alpen bekannten jüdischen Siedlungsschwerpunkte in den Herrschaftsgebieten der Reichsritter und mindermächtiger Fürsten diesen Transfer nahelegen, ist die jüdische Dimension der Geschichte der „Feudi Imperiali“ bislang nicht als eigenständiger Gegenstand thematisiert oder gar untersucht worden. Lediglich punktuelle Hinweise auf die jüdische Bevölkerung können den vorliegenden Arbeiten zu den „Feudi Imperiali“ entnommen werden.37
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Wendehorst und Siegrid Westphal, Hgg., Lesebuch Altes Reich, München: Oldenbourg, 2006 (Bibliothek Altes Reich 1), S. 127–131. Eugenio Branchi, Storia della Lunigiana feudale, Bde 1–2, Beggi: Tommaso, 1897; C. Magni, I feudi imperiali, rurali della Lunigiana nei secoli XVI-XVIII, in: Studi di storia e diritto in onore di Enrico Besta per il 40 anno del suo insegnamento, Mailand: Giuffrè, Bd 3, 1939; Alessandro Sisto, I feudi imperiali del Tortonese (Sec. XI–XIX), Torino: Giappichelli, 1956; Friedrich Edelmayer, Maximilian II., Philipp II. und Reichsitalien. Die Auseinandersetzungen um das Reichslehen Finale in Ligurien (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte 130; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 7), Stuttgart: Steiner-Verl. Wiesbaden, 1988; ders., Il Sacro Romano Impero nel Cinquecento ed i piccoli feudi italiani: l’esempio del Marchesato finalese, in: Atti dei Convegni Internationali sulla Storia del Finale, Bd 1: La Spagna, Milano ed il Finale: il ruolo del Marchesato finalese tra medioevo ed età moderna, Finale Ligure, [1994]), S. 43–61. Elena Fasano Guarini und Franco Bonatti, Hgg., Atti del Convegno di Studi “Feudi di Lunigiana tra Impero, Spagna e Stati italiani (XV-XVIII secolo)”, La Spezia, Madrignano, 13–14–15 Settembre 2007 (Memorie della Accademia Lunigianese di Scienze “Giovanni Capellini” 78), La Spezia, 2008; Marina Cavallera, Lungo le antiche strade, vie d’acqua e di terra tra Stati, giurisdizioni e confini nella cartografia dell’eta moderna; Genova, Stati Sabaudi, Feudi Imperiali, Stati Farnesiani, Monferrato, Stato di Milano, Busto Arsizio (Varese): Nomos, 2007; Cinzia Cremonini, I feudi imperiali italiani tra Sacro Romano Impero e monarchia cattolica (seconda metà XVI – inizio XVII secolo, in: Matthias Schnettger und Marcello Verga, Hgg., L’Impero e l’Italia nella primsa età moderna – Das Reich und Italien; G. B. Crosa di Vergagni, I diplomi imperiali per i feudi di Savignone, Mongiardino, Vergagni (Fieschi, Spinola, Crosa), 2008; Cinzia Cremonini und Ricardo Musso, Hgg., I feudi imperiali i Italia tra XV e XVIII secolo, Rom: Bulzoni, 2010. Tomasso di Carpegna Falconieri, I Feudi imperiali ai confini fra Toscana e Stato Pontificio (secoli XV–XVIII), in: Cremonini, S. 433–450, erwähnt auf Seite 435, dass Pitigliano über bedeutende jüdische Gemeinde verfügte.
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Zahlreiche, freilich auf den jeweiligen Einzelfall beschränkte Anhaltspunkte und näher zu verfolgende Spuren bieten lokalhistorische,38 adelsgeschichtliche39 und genealogische Publikationen.40 Für die Geschichte des italienischen Adels stellt sich die Frage, ob die Adorno, Cybo, Malaspina, Pallavicini, Spinola u. a. in vergleichbarer Weise wie die Liechtenstein, Schwarzenberg oder Esterházy symbiotische Beziehungen zur jüdischen Bevölkerung unterhielten. Wenn zum Abschluss zur Ausgangfrage zurückgekehrt wird, welchen gemeinsamen Nenner Adorno, Carpi, Soncino und Montferatt besitzen, so lautet die Antwort, dass es sich in allen Fällen um kleinere jüdische Gemeinden handelte, die entweder in kleineren Adelsherrschaften oder MicroStaaten oder an der Peripherie größerer Herrschaftskomplexe lagen. Auch wenn die kleineren jüdischen Gemeinden und die kleineren Reichslehen nicht deckungsgleich waren – so lag beispielsweise Cento, der Geburtsort des Großvaters des britischen Premierministers D’Israeli, in den an den Kirchenstaat gefallenen Besitzungen der Este – , war ein erheblicher, im Einzelnen noch näher zu bestimmender Prozentsatz dieser jüdischen Gemeinden in Orten beheimatet, die zu den „Feudi Imperiali“ gehörten. Dieser Befund wirft weitere Fragen auf und lädt zu Hypothesen ein, die die Geschichte Reichsitaliens, die Geschichte der Juden in Norditalien in ihrem Verhältnis zur nicht38
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Zu Bondeno: E. Peverada, La presenza ebraica a Bondeno nel secolo XV, in: Analecta Pomposiana. Studi di storia religiosa delle diocesi die Ferrara e Commacchio XIX (1994), S. 107–162; zu Castiglione: M. Marocchi, I Gonzaga di Castglione delle Stivere. Vicende pubbliche e private del Casato di San Luigi, Verona: Rotary Club, 1990; zu Chieri, S. Treves, Gli ebrei a Chieri (1416–1848), Chieri, Cronache chieresi, 1974; zu Görz (Gorizia): Pier Cesare Ioly Zorattini, Hg., Gli ebrei a Gorizia e a Trieste tra Äncien Régime" ed emancipazione. Atti del convegno Gorizia, 13 giugno 1983 (Serie monografica di storia moderna e contemporanea, 7), Udine: Del Bianco, 1984; zu: Massa und Carrara: Ircas Nicola Jacopetti, Ebrei a Massa e Carrara: banche, commerci, industrie dal XVI al XIX secolo, Florenz: Edifir, 1996; zu Montferrat: Alice Raviola Blythe, Monferrato e feudi imperiali nelle rivendicazioni sabaude alla corte di Vienna (secoli XVI-XVII), 2010; zu Pitigliano: G. I. Giusti, La contea di Pitigliano nel potentato degli Orsini, Grosseto 1989; G. Celata, Gli ebrei di Pitigliano: i quattro secoli di una communità diversa, s.l., Laurum, 1995; zu Scandiano: L. Padoa, Le comunità ebraiche di Scandiano e di Reggio Emilia, a cura di G. Anceschi, Firenze, 1993; zu Sermide: Vittore Colorni, Gli ebrei di Sermide, 1414–1936. Cinque secoli di storia, in: Scritti in Memoria di Sally Mayer, Jerusalem, 1956; zu Vercelli: T. Sarasso, Storia degli ebrei a Vercelli, Vercelli: Communià israelitica, 1974. Zu den Cybo und Malaspina: E. Palla, Il piccolo insediamento ebraico negli Stati cybei, in: C. Giumelli, und O. Raffo Maggini, Hgg., Il tempo di Alberico 1553–1623. Alberico I Cybo-Malaspina: signore, politico e mecenate a Massa e Carrara, Massa, 1991, S. 105–122; Lorenzo Tacchella und Danilo Maruso, Mongiardino Ligure e il Castello della Pietra nella storia dei vescovi-conti di Tortona, dei vescovi e arcivescovi di Genova e dei feudi imperiali liguri. Malaspina, gli Spinola, i Fieschi e gli Adorno, 1998; Umberto Burla, Malaspina di Lunigiana dalle origini sino alla fine dei feudi imperiali, 2001; zu den Spinola: Lorenzo Tacchella, Gli Spinola di Pietrabissara nella storia dei feudi imperiali liguri, 1984. Valerio Marchi, Il Dottore Sachs. Un medico ebreo in Friuli e la sua famiglia tra otto e novecento, Udine: Kappa Vu, 2008 [zu Gonars].
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jüdischen Geschichte und Vergleiche zwischen der Geschichte der Juden im Reich nördlich und südlich der Alpen sowie zwischen dem Reich verstanden als Reichstagsdeutschland und als Reichslehnsystem betreffen. Folgende vorläufige Schlussfolgerungen und weiterführende Fragestellungen können in jedem Fall als Ergebnis der Schnittmengenbildung zwischen Reichsgeschichte und Geschichte der Juden in Italien festgehalten werden: Erstens, die Geschichte der Juden im Italien der Frühen Neuzeit ist, wenn wir die demographische Verteilung der Juden auf der Appeninhalbinsel betrachten, ganz wesentlich eine Geschichte der Juden in Reichsitalien. Nach der Vertreibung der Juden aus den Königreichen Neapel und Sizilien im 16. Jahrhundert war die Geschichte der Juden in Italien eine Geschichte der Juden in Nord- und Mittelitalien. Nach Abzug der im Kirchenstaat und in der Republik Venedig und daher außerhalb des Reichsverbandes gelegenen jüdischen Gemeinden lebte, rein quantitativ gesehen, deutlich mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Italiens in Reichsitalien. Dieser Befund legt es nahe, den politischen und verfassungsrechtlichen Bedingungen jüdischer Existenz im frühneuzeitlichen Italien im Unterschied zu ökonomischen und religiösen Faktoren mehr Aufmerksamkeit zu schenken und eventuell stärker zu gewichten. Zweitens kann festgehalten werden, dass es sich bei den kleineren der in den „Feudi Imperiali“ beheimateten jüdischen Gemeinden weder um ein marginales Phänomen noch um eine zufällige Konstellation handelte. Ein erheblicher Teil der jüdischen Bevölkerung Italiens in der Frühen Neuzeit lebte weder in den Hafen- und Handelszentren von Venedig, Triest und Livorno noch überhaupt in großen Städten, sondern in kleineren Gemeinden. Dabei ist „klein“ nicht mit „unbedeutend“ gleichzusetzen. Die Familie Soncino lässt sich mit ihrer Druckerei in Soncino und Casale nachweisen. Die hebräischen Druckereien des Tobia Foà und des Vincenzo Conti befanden sich in Sabionetta.41 Die Entstehung und Konsolidierung der hier in Frage stehenden kleineren Gemeinden lässt auf ein bestimmtes verfassungsrechtliches Muster ihrer Rahmenbedingungen schließen. In diesem Zusammenhang ist in allererster Linie zu klären, ob der Status als „feudum imperiale“ eine notwendige Komponente dieses Musters darstellte, und wenn ja, worin dieser bestand. Anders gefragt: Gab es qualitative Unterschiede zwischen kleineren jüdischen Gemeinden, die in den „Feudi Imperiali“ beheimatet waren, und solchen, die dies nicht waren? Handelte es sich bei den jüdischen Gemeinden in den „Feudi Imperiali“ um eine, wenn auch quantitativ bedeutende, Teilmenge eines über die „Feudi Imperiali“ hinaus verbreiten strukturgeschichtlichen Zusammenhanges zwischen jüdischer Gemeindebildung und überlappenden Herrschafts- und Jurisdiktionsansprüchen – einer Konstellation, die auch in umstrittenen Grenzgebieten anzutreffen war, z. B. zwischen Kirchenstaat und Toskana oder zwischen Mailand und Savoyen, oder bei später bzw. unvollstän41
Cecil Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 5706–1946, S. 340.
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diger Eingliederung kleinerer in größerer Herrschaftskomplexe, z. B. den in das Herzogtum Savoyen inkorporierten Markgrafschaften Saluzzo und Montferrat oder den an den Kirchenstaat gefallenen Teilen des Herrschaftsgebiets der Este.42 Der diesem Kurzbeitrag zugrundeliegende Ansatz, die Forschung zu den „Feudi Imperiali“ zur Klärung einer in der jüdischen Geschichtswissenschaft bislang wenig beachteten Frage heranzuziehen, stellt ein Beispiel für die vom Projektcluster „Jüdisches Heiliges Römisches Reich – Geschichte der Juden als Geschichte von Zwischenräumen eines polyzentrischen Politik-, Rechts- und Sozialsystems“ auf dem Workshop „Der imperiale Faktor in der jüdischen Lokalgeschichte/Emperor and Empire in Jewish Local History“ unternommenen Versuche dar, Reichsgeschichte und jüdische Geschichte miteinander in Dialog zu bringen. Angeknüpft wird damit auch an Ansätze und Wissensbestände, die nach 1945 verschüttet worden sind, in der Zwischenkriegszeit aber gerade auch von jüdischen Historikern verfolgt wurden. Für das Reich nördlich der Alpen stellt die bis heute als Gesamtdarstellung unübertroffene Geschichte der Frankfurter Juden von Isidor Kracauer ein für die fruchtbare Verknüpfung von Reichsgeschichte, Stadt- und Lokalgeschichte eindrucksvolles Beispiel dar.43 Für das Reich südlich der Alpen hat etwa der gleichermaßen in Reichs-, Rechts- und jüdischer Geschichte bewanderte Rechtshistoriker Vittore Colorni maßgebliche Anstöße zur Integration der Geschichte der Juden in die allgemeine, bzw. sich als allgemein verstehende Geschichte gegeben.44
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Birgit Emich, Verstaatlichung des Nepotismus: Der Heimfall Ferraras an den Kirchenstaat, in: Daniel Büchel und Volker Reinhardt, Hgg. Modell Rom. Der Kirchenstaat und Italien in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2003, S. 223–239; dies., Teritoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Köln/Weimar/ Wien: Böhlau, 2005; Matthias Schnettger, Kaiserliches und päpstliches Lehnswesen in der Frühen Neuzeit, in: Zeitenblicke, 6: 1(2007). Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt, Bde 1–2, Frankfurt: Kauffmann, 1925 und 1927. Vittore Colorni, Legge ebraica e leggi locali. Ricerche sull’ambito d’applicazione del diritto ebraico in Italia dall’epoca romana al secolo XI (Pubblicazioni dell’Istituto di Diritto Romano e dei Diritti dell’Oriente Mediterraneo e di Storia del Diritto, 23), Mailand: Giuffrè, 1945; ders., Gli ebrei nel sistema del diritto comune fino alla prima emancipazione, Milano: Giuffrè, 1956; ders., Die drei verschollenen Gesetze des Reichstages bei Roncaglia: wieder aufgefunden in einer Pariser Handschrift (Bibl. Nat. Cod. Lat. 4677), ins Deutsche übersetzt von Gero Dolezalek (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Neue Folge, 12), Aalen: Scientia, 1969 [zuerst unter dem Titel „Le tre leggi perdute di Roncaglia, 1158, ritrovate in un ms parigino“ im Jahr 1956 erschienen]; ders., Il territorio mantovano nel Sacro Romano Impero,Bd 1, Mailand: Giuffrè, 1959; ders., Judaica Minora. Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano dall’antichità all’età moderna, Mailand: Giuffrè 1991.
bibliothek altes Reich baR
herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal Als ein innovatives, langfristig angelegtes Forum für Veröffentlichungen zur Geschichte des Alten Reichs setzt sich die „bibliothek altes Reich – baR“ folgende Ziele: – Anregung zur inhaltlichen und methodischen Neuausrichtung der Erforschung des Alten Reichs – Bündelung der Forschungsdiskussion – Popularisierung von Fachwissen – Institutionelle Unabhängigkeit
Inhaltliche und methodische Neuausrichtung
An erster Stelle istnaja die Gründung der Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als Impuls für die interdisziplinäre Behandlung der Reichsgeschichte und deren Verknüpfung mit neuen methodischen Ansätzen konzipiert. Innovative methodische Ansätze, etwa aus der Anthropologie, der Geschlechtergeschichte, den Kulturwissenschaften oder der Kommunikationsforschung, wurden in den letzten Jahren zwar mit Gewinn für die Untersuchung verschiedenster Teilaspekte der Geschichte des Alten Reichs genutzt, aber vergleichsweise selten auf das Alte Reich als einen einheitlichen Herrschafts-, Rechts-, Sozial- und Kulturraum bezogen. Die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ ist daher als Forum für Veröffentlichungen gedacht, deren Gegenstand bei unterschiedlichsten methodischen Zugängen und thematischen Schwerpunktsetzungen das Alte Reich als Gesamtzusammenhang ist bzw. auf dieses bezogen bleibt.
Bündelung der Forschung
Durch die ausschließlich auf die Geschichte des Alten Reichs ausgerichtete Reihe soll das Gewicht des Alten Reichs in der historischen Forschung gestärkt werden. Ein zentrales Anliegen ist die Zusammenführung von Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen historischen Sub- und Nachbardisziplinen wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, der Kirchengeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Juden, der Landes- und der Rechtsgeschichte sowie den Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaften.
Popularisierung von Fachwissen
Die „bibliothek altes Reich – baR“ sieht es auch als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Wissenspopularisierung zu leisten. Ziel ist es, kurze Wege zwischen wissenschaftlicher Innovation und deren Vermittlung herzustellen. Neben primär an das engere Fachpublikum adressierten Monographien, Sammelbänden und Quelleneditionen publiziert die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als zweites Standbein auch Bände, die in Anlehnung an das angelsächsische textbook der Systematisierung und Popularisierung vorhandener Wissensbestände dienen. Den Studierenden soll ein möglichst rascher und unmittelbarer Zugang zu Forschungsstand und Forschungskontroversen ermöglicht werden.
Institutionelle Unabhängigkeit
Zur wissenschaftsorganisatorischen Positionierung der Reihe: Die „bibliothek altes Reich – baR“ versteht sich als ein grundsätzlich institutionsunabhängiges Unternehmen. Unabhängigkeit strebt die „bibliothek altes Reich – baR“ auch in personeller Hinsicht an. Über die Annahme von Manuskripten entscheiden die Herausgeber nicht alleine, sondern auf der Grundlage eines transparenten, nachvollziehbaren peer-review Verfahrens, das in der deutschen Wissenschaft vielfach eingefordert wird.
324 Band 1 Lesebuch Altes Reich Herausgegeben von Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal 2006. VIII, 283 S. 19 Abb. mit einem ausführlichen Glossar. ISBN 978-3-48657909-3
Band 7 Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst 2012. ISBN 978-3-486-70251-4
Band 2 Wolfgang Burgdorf Ein Weltbild verliert seine Welt Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806 2. Aufl. 2008. VIII, 390 S. ISBN 978-3-48658747-0
Band 8 Pax perpetua Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Volker Arnke und Tobias Bartke 2010. 392 S. 2 Abb., ISBN 978-3-48659820-9
Band 3 Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich Herausgegeben von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2007. 303 S. ISBN 978-3-486-57910-9
Band 9 Alexander Jendorff Der Tod des Tyrannen Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode 2012. VIII. 287 S. ISBN 978-3-486-70709-0
Band 4 Ralf-Peter Fuchs Ein ,Medium zum Frieden‘ Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 2010. X. 427 S. ISBN 978-3-486-58789-0
Band 10 Thomas Lau Unruhige Städte Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (1648–1806) 2012. 156 S. ISBN 978-3-486-70757-1
Band 5 Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation Herausgegeben von Stephan Wendehorst 2012. ISBN 978-3-486-57911-6
Band 11 Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis Herausgegeben von Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2012. 231 S. ISBN 978-3-486-71025-0
Band 6 Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann Venus und Vulcanus Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit 2011. 276 S. ISBN 978-3-486-57912-3
Band 12 Hendrikje Carius Recht durch Eigentum Frauen vor dem Jenaer Hofgericht (1648–1806) 2012. 353 S. 2 Abb., ISBN 978-3-48671618-4