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German Pages 292 Year 2020
Kristin Eichhorn Johannes R. Becher und die literarische Moderne
Lettre
Kristin Eichhorn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn. Sie hat an der Universität Kiel zur Fabel der Aufklärung promoviert und ist Herausgeberin der Zeitschrift »Expressionismus«.
Kristin Eichhorn
Johannes R. Becher und die literarische Moderne Eine Neubestimmung
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Inhalt
1. 1.1 1.2 1.3
Problemstellung .................................................................... 7 Wie ich schreibe, so bin ich: Wiederanders I .......................................... 7 Ausgangslage ....................................................................... 10 Folgerungen ........................................................................ 22
2. 2.1 2.2 2.3
Die Moderne als Manifest .......................................................... 29 Zehn Thesen ....................................................................... 29 Zeitfragen .......................................................................... 38 Moderne und Autorschaft ........................................................... 45
3. 3.1 3.2 3.3
Die Verteidigung der Poesie........................................................ 55 Der Dichter-Seher .................................................................. 55 Atheistisches Prophetentum ........................................................ 64 Rettung der Dichtung in der Moderne................................................. 71 3.3.1 Widerstand vs. Dichtung ..................................................... 74 3.3.2 Der Weg des Dichters ........................................................ 80
Textverarbeitung und Komposition ................................................ 89 Stimmen der neuen Zeit: 1910er und 1920er Jahre .................................... 89 4.1.1 Jugendstil-aemulatio ........................................................ 89 4.1.2 Französische Modernisten ................................................... 97 4.1.3 Literarischer Dialog mit Emmy Hennings .................................... 106 4.1.4 Georg-Heym-Rezeption ...................................................... 111 4.1.5 Revolutionäre Avantgarde.................................................... 114 4.2 Stimmen der alten Zeit: 1930er bis 1950er Jahre ..................................... 118 4.2.1 Die Entdeckung der verlorenen Heimat und ihrer Traditionen ................. 118 4.2.2 Rezeption der Barockdichtung .............................................. 126 4.2.3 Melancholia ................................................................ 133 4.2.4 Neues deutsches Volkslied .................................................. 139 4.2.5 Korrektur-Ideologie......................................................... 144
4. 4.1
5. Erzählungen von Kunst und Leben ................................................ 155 5.1 Verlorene Jugend.................................................................. 155 5.2 Ein prototypischer Expressionist ................................................... 168 5.2.1 Metaanalyse der eigenen Werkentwicklung im zweiten Band von Verfall und Triumph ......................................................170 5.2.2 Retrospektive auf den Expressionismus: Bechers Lyrikbände zwischen 1916 und 1918...................................176 5.3 Kommunistische Neuerfindung..................................................... 183 5.3.1 Kommunistisch schreiben – aber wie?....................................... 183 5.3.2 Kommunismus als Skandal: Levisite und der Hochverratsprozess ............ 187 5.3.3 Vater/Sohn-Konflikt und persönliche Bekenntnisse .......................... 194 5.4 Zeitzeugenschaft einer deutschen Tragödie ........................................ 204 5.4.1 Neuorientierung um 1938/39: Becher und die Expressionismus-Debatte ................................... 204 5.4.2 Exemplarische Lebensgeschichten I: Schlacht um Moskau.....................210 5.4.3 Exemplarische Lebensgeschichten II: Abschied ...............................216 5.5 Doppelte Repräsentativität......................................................... 227 5.5.1 Schritt der Jahrhundertmitte: Becher und der Westen ....................... 227 5.5.2 Sozialistische Nationalliteratur: Becher und der Osten ....................... 237 5.6 Endloser Wandel: Wiederanders II .................................................. 242 6.
Fazit: Becher als moderner Dichter ............................................... 255
7. I.
Literaturverzeichnis ............................................................... 271 Werke von Johannes R. Becher ..................................................... 271 a) Autographen und Manuskripte .................................................... 271 b) Editionen ........................................................................ 271 c) Erstausgaben .................................................................... 271 Publikationen des Arbeitskreises Johannes R. Becher .............................. 274 Sonstige Literatur ................................................................. 274
II. III.
1. Problemstellung
1.1
Wie ich schreibe, so bin ich: Wiederanders I
Die Handschrift eines Menschen verbürgt seine Identität. Was aber, wenn einer mehrere Handschriften hat und seine Identität im Laufe des Lebens immer wieder wechselt? Der Protagonist von Johannes R. Bechers letztem fragmentarisch gebliebenen Roman Wiederanders (1958) blickt als Fünfundsechzigjähriger auf seine Jugend zurück – und auf den Versuch, eine für ihn passende Handschrift zu finden, denn er sieht, dass alle anderen eine haben, die das ihnen Eigene ausdrückt. Vor allem die Unterschrift des eigenen Namens beschäftigt ihn: Wenn er die Großen der Weltgeschichte, der Literatur vor allem, betrachtete, wie sie ihren Namen geschrieben hatten, so schien ihm, mancher von ihnen habe nicht wenig Mühe darauf verwendet, ihn einzuüben, und besonders darauf Wert gelegt, einen kunstvollen Schnörkel am Ende anzubringen. Der Schnörkel vor allem schien bestimmt zu sein, den entscheidenden Charakterzug abschließend zu betonen. (GW XI, S. 448) Dabei geschieht die Suche nach dem »entscheidenden Charakterzug« auffällig genug im Licht der Vergangenheit und in Nachahmung der »Großen der Weltgeschichte«, denen sich der Protagonist zugesellt, indem er annimmt, dass sie gleichsam bewusst an ihrer Unterschrift gearbeitet und Mühe auf diese verwendet haben. Doch welchen Namen schreibt er überhaupt nieder in seinen Experimenten, wenn er sich »bald in der, bald in jener Schrift« (GW XI, S. 447) versucht? Hans heißt er in seiner Familie. Indes er legt den Namen ab und nennt sich programmatisch »Anders« (GW XI, S. 444). Unstet auch im Berufsleben nimmt er seinen Taufnamen schließlich wieder an, gibt ihn aber bald erneut auf zugunsten des Titels des Romanfragments »Wiederanders« – »und dabei blieb es« (GW XI, S. 444). Kontinuität findet sich also nur im ständigen Wandel. Der Name, der kein Name ist, kann keine feste Identität begründen, sondern nur eine Pluralität aus Identitäten, die der Schreiber im Laufe des eigenen Lebens annimmt, um sie später wieder aufzugeben.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Trotzdem verliert die Frage, wer man ist bzw. wer man sein will, nicht ihre Relevanz. Sie stellt sich sogar umso dringlicher als Grundproblem und führt zu einer bewussten Definitionssuche, die sich im ›Ausprobieren‹ verschiedener Schriftzüge und Namen niederschlägt und schließlich darauf hinausläuft, Identität im analytischen Blick auf die eigene Entwicklung zu finden. Der Schreiber ›entdeckt‹ das »Schriftbild« als wahres »Charakterbild« und kann die »Herkunft beinahe jedes einzelnen Buchstabens« nachvollziehen (GW XI, S. 447). In der ›zusammengesetzten‹ Handschrift steckt »seine ganze Lebensgeschichte« (ebd.) und damit letztlich auch die in Wandel und Entwicklung generierte Identität. In dieser Konstellation freilich liegt die größtmögliche Aporie: Hier will jemand, dessen Identität für ihn selbst nicht greifbar ist, weil er sich immer wieder neu erfindet, »seine Vergangenheit überblicken« und »Ordnung« in sein Leben bringen – ein von vornherein eigentlich klar aussichtsloses Projekt: Wenn er sich nicht aus einer Unendlichkeit von Wesen zusammengesetzt hätte, wäre es vielleicht nicht so schwierig gewesen, aber sich darzustellen und eine Lebensbeschreibung zu liefern, worin eine Wesensunendlichkeit sich ausdrücken sollte – solch ein Unternehmen zu wagen erschien ihm widersinnig und verwirrend. (GW XI, S. 458) Das weitgehend unbekannte Romanfragment Wiederanders führt nicht nur zum Kern von Bechers Schreiben; es eröffnet auch eine Perspektive auf die Konstruktion moderner Autorschaft in und durch literarische Produktion, deren Bedeutung für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht überschätzt werden kann. Als zu Bechers Lebzeiten unveröffentlichter Entwurf aus dem Nachlass liefert es die letzte metareflexive Schleife eines Œuvres, das die literarische Selbstbeschreibung immer wieder versucht hatte und nun bei der Beobachtung zweiter Ordnung angekommen ist. Die Figur des fünfundsechzigjährigen Schreibers ist erkennbar als Alter Ego des Autors angelegt und fungiert damit gleichzeitig als Fiktion wie als Selbstbeschreibungs- und Selbstdeutungsversuch, der – allen ironischen Brüchen zum Trotz – auf die Verortung des individuellen Schaffens im eigenen Jahrhundert angelegt ist. Das überlieferte Archivmaterial in der Berliner Akademie der Künste verrät, dass die Handschriftensuche von Wiederanders sein reales Vorbild in Bechers Schriftbild hat, das parallel zu den legendären radikalen Richtungswechseln des Erzählers ebenfalls mehrfach eine neue Gestalt annimmt.1 Gleichzeitig ist kaum ein Dichter des 20. Jahrhunderts in so vielen Fällen zum repräsentativen Vertreter seiner Zeit erklärt worden wie Becher: »Er gilt als ›Prototyp einer literarischen Bewegung‹ oder als ›typischer Vertreter der intellektuellen Boheme‹, dann gar als ›representative character of his epoch‹«.2 Zu begründen ist 1 2
Vgl. zu Bechers (dichterischer) Entwicklung Dwars 1997. Rohrwasser 1980, S. 22.
1. Problemstellung
dies zunächst damit, dass Becher – ewig wandelbar – die wesentlichen ästhetischen Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast alle mitgemacht hat und sich durch die radikale Potenzierung der jeweiligen Ausprägungen dieser3 stets als einer der führenden Vertreter etablierte. Dies gilt noch am wenigsten für seine dem Jugendstil verhafteten Anfänge, aber klar für sein expressionistisches Werk, sein Engagement für die (avantgardistisch geprägte) proletarisch-revolutionäre Literatur in den 1920er Jahren, für seine organisatorische Arbeit im Exil sowie für den Mitaufbau der Verlags- und Kulturlandschaft der frühen DDR, die ihn dann noch als vorbildlichen Dichter anerkennt.4 Diese Repräsentativität Bechers kommt alles andere als von ungefähr. Sie ist der Schlüssel zu einem Konzept von Autorschaft, das sich in einer ganz spezifischen Weise an die gegenwärtige Zeit knüpft und für Bechers literarisches Schaffen besonders prägend ist. Die entscheidenden Missverständnisse in Bezug auf dieses beruhen letztlich ebenso auf der Negierung des programmatischen Elements wie auf der Unterschätzung des performativen Charakters einer Werk und Leben durchgängig verschränkenden Poetik. Im Gegensatz zum Grundtenor der vorliegenden Studien ist Bechers Schreiben von einem extrem hohen programmatischen Bewusstsein geprägt, was man schnell sieht, wenn man die Komposition allein seiner zahlreichen Gedichtbände nachvollzieht: Diese sind immer als Bücher gedacht; Becher bildet Zyklen mit konkreten Überschriften, aus denen sich oft ganze ›Geschichten‹ oder Argumentationsmuster entwickeln lassen. Es gibt so gut wie kaum eine ästhetische oder biographische Entscheidung, die nicht irgendeine Aussage zur eigenen literaturgeschichtlichen Verortung machen will. Diesem Moment gilt es genauer nachzugehen, will man Bechers literarische Produktion in den Blick nehmen und die konzeptionellen Verschränkung mit dem biographischen Material adäquat beschreiben. Hat man dabei einen Autor, dessen Leben so abwechslungsreich ist wie das Bechers, liegt es einerseits nahe, sich auf diese Biographie zu konzentrieren und das literarische Werk hintenanzustellen oder eventuell als ›Quelle‹ zur Rekonstruktion bzw. Ort des ›Niederschlags‹ biographischer Fakten heranzuziehen. Die andere mögliche Extremposition ergibt sich aus der Zuspitzung des Diktums vom ›Tod des Autors‹: Man kann umgekehrt auch gerade das literarische Werk ins Zentrum rücken und darauf bestehen, die Lebensumstände, die seine Entstehung begleitet haben, möglichst auszublenden. Die Realisation beider Optionen hat ihre evidenten Schwierigkeiten, die in der Vergangenheit hinreichend kritisiert worden sind.5 Deshalb ist es in der Regel sinnvoller,
3 4 5
In diesem Sinne nennt ihn sein Biograph Alexander Behrens einen ›Extremisten‹ (vgl. Behrens 2003, S. IX). Vgl. etwa Jarmatz 1965. Vgl. dazu im Überblick die Beiträge in Detering 2002.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
einen Mittelweg einzuschlagen, da dieser der Sachlage meist eher gerecht werden kann. Insgesamt ist hier angesichts der Forschungslage ein doppeltes Desiderat zu beheben: Auf der einen Seite schließt diese Arbeit eine literaturgeschichtliche Lücke, indem sie unabhängig von qualitativen oder ideologischen Vorbehalten das Werk eines angesichts seiner vielseitigen Partizipation an fast allen wichtigen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu ignorierenden Autors wieder als Forschungsgegenstand etabliert. Auf der anderen Seite lässt sich gerade an diesem Beispiel eine Dimension von Autorschaft in der Moderne nachvollziehen, in der der Dichtung eine identitätsbildende Funktion zukommt, die ihrerseits als Reaktion auf größere gesellschaftliche und ästhetische Entwicklungen konzipiert ist. Dahinter steht das Selbstverständnis als Dichter, das in allen Lebensphasen und über alle ästhetischen wie ideologischen Grenzen hinweg darauf hinausläuft, mit dem eigenen Werk ›auf der Höhe der Zeit‹ zu sein. Dieses Phänomen lässt sich nicht nur in der ›avantgardistischen‹ Frühphase beobachten. Im Gegenteil resultieren die Hinwende zu ›konservativeren‹ realistischeren Schreibweisen ab Ende der 1920er Jahre und das Konzept einer ›Sozialistischen Nationalliteratur‹, wie es Becher in den Gründungsjahren der DDR vertritt, aus demselben Bestreben, den aktuellen Entwicklungen ästhetischer wie politisch-gesellschaftlicher Natur Rechnung zu tragen. Die Abkehr von der ›formalen‹ Moderne – so könnte man zugespitzt sagen – erfolgt insofern aus einem modernen Gestus heraus, als ihm das generelle Bekenntnis zur ständigen Innovation innewohnt: Um als Autor eine (dauerhaft) repräsentative Rolle übernehmen zu können und für die eigene Zeit bzw. die eigene Generation zu sprechen, bedarf es der fortwährenden ›Aktualisierung‹ der eigenen Schreibstrategien in Zurückweisung der ›überholten‹ bzw. ›vergangenen‹. Will man das Feld nicht ›Jüngeren‹ überlassen und mit etwa vierzig Jahren aufhören, seine »Pflicht« zu tun,6 bleibt nur die erneute Anpassung an die gegenwärtige Entwicklung.
1.2
Ausgangslage
An der Liste der bestehenden Vorbehalte gegenüber Becher werden die Schwierigkeiten des Falls für die Literaturgeschichtsschreibung sichtbar. Sie reichen von ideologischen Grundsätzen (der Abgrenzung von einer kommunistischen Weltsicht) über Zweifel an der Qualität der von Becher vorgelegten literarischen Texte bis hin zu einer Skepsis, die sich auf die dem Autor unterstellte Arbeitsweise bezieht. So geht ein Großteil der Forschung bis heute davon aus, dass Becher seine 6
Vgl. so auch Marinetti 1912, S. 829.
1. Problemstellung
ästhetischen Ergüsse kaum unter Kontrolle gehabt habe. Folglich seien diese weniger aus programmatischen Überlegungen resultiert als das Ergebnis einer schlichten ›Verarbeitung‹ psychischer Krisen (Vater-Sohn-Konflikt, Leiden am Verlust der Heimat im Exil etc.).7 Diese Auffassungen beziehen ihre Überzeugungskraft wesentlich aus dem, was man über Bechers Leben weiß – hier haben die um die Jahrtausendwende entstandenen Biographien noch einmal reichlich Material nachgelegt.8 Allein die drei gescheiterten Selbstmordversuche lassen auf ein hohes Maß an psychischer Labilität schließen. Außerdem fällt an Becher zeitlebens, vor allem aber während der Exiljahre und in der DDR die Tendenz zur Unterordnung unter die Anforderungen des jeweils herrschenden Systems auf. Dass Becher – mitunter nach anfänglichen Versuchen, seine eigene Position durchzusetzen – am Ende doch wieder ›einknickt‹ und auf eine Verteidigung von etwa Wolfgang Harich und Walter Janka verzichtet, hat man ihm mehrfach vorgeworfen9 – ob zurecht, ist angesichts der komplexen politischen Situation und der angeschlagenen Gesundheit Bechers in den 1950er Jahren freilich keine ganz einfach zu beantwortende Frage.10 Schließlich setzt sich Becher dem Vorwurf des Opportunismus aus, zu dem die auffällig extreme Wandelbarkeit auch in ästhetischen Fragen passen mag. Die jeweils aktuelle Literatur seiner Zeit scheint er schlichtweg für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, was als eine ziellose ›Suche‹ nach Halt,11 jedenfalls aber als Mangel an Originalität betrachtet worden ist. Derartige Lesarten erfassen allesamt wichtige Aspekte, aber sie greifen zu kurz, weil sie vorschnell in Wertungen übergehen und das Programm übersehen, das hinter Bechers Schreiben in den einzelnen Werkphasen steht. Ohne Zweifel lässt sich für nicht wenige von Bechers literarischen Texten sagen, dass sie eine politische Sicht präsentieren, die inzwischen mehr als problematisch anmutet. Und es ist auch nicht daran zu rütteln, dass qualitative Vorbehalte immer wieder berechtigt sind. Indes ergeben sich von hier aus drei Probleme: Erstens findet sehr häufig eine Pauschalisierung statt, die notwendig dann wieder Becher-Verteidiger auf den Plan ruft, die darauf hinweisen, dass es im Werk auch sehr gelungene und unpolitische Dichtungen gibt. Wichtiger sind hier aber die beiden anderen Problemfelder, denn der ideologische wie der qualitative Vorbehalt haben zweitens den Eindruck hervorgerufen, dass es besser sei, sich lieber gar nicht erst mit Becher zu beschäftigen; mindestens geht man davon aus, das Thema sei unergiebig. Warum Becher überhaupt zum politischen Dichter wird und weshalb nicht alle Texte auf demselben Qualitätsniveau angesiedelt sind, wird in der Regel nicht gefragt, obwohl es sich aus Poetik und Zeittendenzen heraus erklären lässt. Indem 7 8 9 10 11
So vor allem Rohrwasser 1980. Dwars 1998; Dwars 2003; Behrens 2003. Vgl. Behrens 2003, S 296. Vgl. dazu Dwars 2003, S. 229ff. Vgl. Behrens 2003, S. 54.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
sich die Germanistik in dieser Weise nicht mehr zuständig fühlt, entstehen drittens auf der Basis richtiger (Teil-)Beobachtungen falsche Verallgemeinerungen, die allesamt wieder das anfangs meist schon zugrunde gelegte Bild vom problematischen Autor bestätigen. Insbesondere ist auffällig, dass das zunehmende Wissen über Bechers gar nicht so stringenten Lebenslauf mit den korrespondierenden ästhetischen Ansichten nicht dazu geführt hat, den Autor bzw. sein Werk als Untersuchungsgegenstand zu rehabilitieren, sondern vielmehr neue Vorbehalte begründet. Der Fall Becher zeigt – gleich dem Umgang mit der nicht klar regimekritischen DDR-Literatur generell –, wie nachhaltig die Argumente des Kalten Kriegs immer noch sind und wie stark sie bis heute die literaturgeschichtlichen Kanonisierungsprozesse bestimmen. Das Hauptproblem an der bisherigen Debatte besteht allerdings nicht in den Vorbehalten gegen Becher an sich. Heikel wird es, wo sich aus den Kritikpunkten so etwas wie ein ›Verbot‹ ergibt, sich mit bestimmten Themen oder Fragestellungen überhaupt noch wissenschaftlich zu befassen. Wo es nur noch die Alternative zwischen absoluter Ablehnung und Ignoranz einerseits sowie bekennender Zustimmung andererseits gibt, bleibt die wissenschaftliche Objektivität auf der Strecke. Wenn nötige Korrekturversuche ausschließlich als ›Aufwertungen‹ und Kanonisierungen denkbar sind, werden die Wertbegriffe bestenfalls umgekehrt, aber nie transzendiert. Die desolate Forschungslage ist indes selbst der wesentliche Grund für die Schwierigkeiten, die man bis heute mit Becher hat. Denn weil die meisten BecherExperten inzwischen verstorben oder zumindest im Rentenalter sind und seit 1989 der Nachwuchs fehlt, halten sich verkürzte Positionen hartnäckig, die bei einer kenntnisreichen Auseinandersetzung mit den Werken rasch einer differenzierteren Sichtweise Platz machen müssten. Die zentrale Schwierigkeit besteht darin, dass die Becher-Forschung – von einzelnen Studien zum Frühwerk abgesehen – eine Domäne der DDR-Germanistik war. Während man in der Ära Ulbricht in den offiziellen Verlautbarungen in der DDR Becher vor allem als Staatsdichter, Kulturminister und Verfasser der Nationalhymne sowie verschiedener Aufbaulieder propagierte,12 hatte in den 1970er Jahren eine neue Forschungstradition eingesetzt, als man begann, ungedruckte Texte von Becher zu publizieren und den Widerspruch in Leben und Werk nicht mehr wegzuleugnen.13 In diesem Zusammenhang kam es zu einer intensiven und tendenziell stärker ergebnisoffenen ausgerichteten Beschäftigung mit Becher, der sich die 18-bändige Werkausgabe ebenso verdankt
12
13
Dies wird besonders deutlich in der Diskussion um die Abschied-Verfilmung von 1968, die dem Wunsch Lilly Bechers gemäß ein differenziertes Bild ihres verstorbenen Mannes zeichnete, letztlich aber durch Widerstand der Ulbrichts aus den Kinosälen verbannt wurde. Vgl. Harder 2017, S. 99ff. Vgl. Harder 2017, S. 106.
1. Problemstellung
wie die Gründung des Arbeitskreises Johannes R. Becher, dessen Konferenzen sich häufig gerade den vorher in der DDR eher vernachlässigten (oder unbekannten) Aspekten des Becherschen Werks widmeten.14 Die letzten kompetenten Studien stammen folglich aus der Spätzeit der DDR-Germanistik und unterliegen daher immer noch methodischen und weltanschaulichen Prämissen, die eine kritische Auswertung dieser Arbeiten nötig machen. Ihrer dennoch verhältnismäßig differenzierten Forschungslinie stehen bis Ende der 1980er Jahre Arbeiten gegenüber, die eher die wesentlich schlichtere Lesart der 1960er Jahre weiter verbreiten, dass es sich bei Becher um einen Vertreter des Sozialistischen Realismus handle, der schon früh die eigenen politischen und ästhetischen Irrwege erkannt und bekämpft habe.15 Dies schlägt sich einerseits in diversen Dissertationen nieder, die verschiedene Aspekte in Bechers Werk monographisch beleuchten. Zu nennen sind hier vor allem die Untersuchungen Horst Haases und Günter Paul Karls zum Gedichtband Der Glücksucher und die sieben Lasten (1938) bzw. zum Drama Schlacht um Moskau (1941);16 hinzu kommen Studien, die nicht ein Einzelwerk, sondern Bechers ästhetisches Programm oder Bezüge zur deutschen Klassik und der sowjetischen Literatur in den Blick nehmen.17 Dementsprechend konzentriert sich die Mehrheit der von der DDR-Germanistik hervorgebrachten Studien auf Bechers Schreiben seit Mitte der 1930er Jahre, die als Umbruchszeit empfunden werden, in der Becher den Sozialistischen Realismus für sich entdeckt. Demgegenüber bleibt das Frühwerk eher unberücksichtigt und wird meist nur »knapp als ›Vorgeschichte‹« erwähnt.18 Dem korrespondiert eine außerordentliche Hochschätzung von Bechers Dichtung seit 1933, gegenüber der die expressionistischen Dichtungen ästhetisch abgewertet werden. Mit Bechers späterer Selbsteinschätzung gilt in der DDR-Literaturwissenschaft das Frühwerk als ›Jugendverirrung”19 bzw. als frühes Anzeichen einer Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die aber erst in Folge Bechers Entscheidung für den Kommunismus auch die ›richtige‹ Ausdrucksform findet.20 Durchgängig werden so politische Ansichten und ästhetische Wertungen zusammengedacht. Die Forschung in der alten Bundesrepublik, die sich insgesamt viel weniger häufig mit Becher beschäftigt hat, ist hingegen gerade an seinem expressionis-
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Johannes R. Bechers Verhältnis zur bürgerlichen Literatur seiner Zeit 1976; Das poetische Prinzip Johannes R. Bechers 1981; Der junge Becher; Schiller et al. 1985; Referate und Diskussion der Konferenz Johannes R. Becher: Der Aufstand im Menschen 1986; Im Zeichen des Menschen und der Menschheit 1988. Vgl. Sauer 1986, S. 49. Haase 1964; Karl 1962. Lange 1961; Hinckel 1963; Weiß 1964. Sauer 1986, S. 54. Vgl. dazu Feil 1989, S. 9f. Diese gängige Lesart z.B. schon bei Rilla 1955, S. 348ff.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
tischen Frühwerk interessiert.21 Im genauen Gegensatz zur DDR-Germanistik herrscht hier die Skepsis gegenüber der ästhetischen Qualität des Werkes nach 1933 vor, womit bei allen Beiträgen implizit vorausgesetzt wird, dass eine stärkere politische Ausrichtung automatisch mit einem Verlust an literarischer Qualität einhergehe.22 Während sich in der BRD eine intensive Brecht-Forschung entwickelt, bleibt Becher den westdeutschen Germanisten nicht zuletzt aufgrund seines Ministeramtes und der aktiven Mitwirkung am Aufbau des sozialistischen deutschen Staates suspekt. Dass man sich mit Bechers Texten überhaupt ernsthaft beschäftigt, bedarf bis 1989 in der Bundesrepublik stets der Legitimation. Auch für die grundsätzlich positiver gesehenen frühen Dichtungen Bechers findet sich daher selten so uneingeschränktes Lob wie kurz nach der Wende bei Demetz;23 meist werden sie klar hinter die der anderen Expressionisten zurückstellt.24 Untersuchungen zum Werk nach 1933 gibt es keine. Im Wesentlichen ist diese Forschungslage seit 1989 unverändert geblieben. Die wissenschaftlichen Aufsätze sind in ihrer Zahl überschaubar und stellen meist auch biographische oder politische Aspekte ins Zentrum.25 Diese Situation führt dazu, dass zwar inzwischen das von Demetz formulierte Desiderat einer auf solider Quellenkenntnis beruhenden Lebensdarstellung26 hinlänglich beseitigt ist.27 Dennoch sind allein aufgrund der bisherigen Schwerpunktsetzung zahlreiche Lücken in der Erforschung von Bechers Werk festzustellen. Der Fokus liegt auf dem Frühund Spätwerk (bis 1924 und ab 1945), während die mittlere Phase in Bechers Schaffen (die Exilzeit 1933-45) – mit Ausnahme von Studien zu Einzelwerken wie dem Gedichtband Der Glückssucher und die sieben Lasten und dem Roman Abschied von 1938 – weitgehend ausgeklammert wird. Die einschlägigen Studien zur Exilliteratur können dieses Desiderat nicht ausgleichen, da sie Becher in der Regel nicht oder nur am Rande behandeln.28 21 22
23 24
25 26 27 28
Vgl. die Arbeiten von Hopster 1969; Feil 1989. Ansel meint zwar, es »wäre reichlich undifferenziert, wenn man behaupten wollte, Bechers Dichtung habe durch die Hinwendung ihres Verfassers zum Marxismus schlagartig an Qualität eingebüßt«. Trotzdem bleibt er dabei, dass »man die Qualität von Bechers seit Mitte der 1920er Jahre erschienenen Dichtungen zweifellos erheblich geringer veranschlagen« müsse (Ansel 2010, S. 172). Demetz 1990. Hopster betont in der Einleitung seiner Dissertation ausdrücklich, dass es ihm nicht darum geht, »Becher literarisch aufzuwerten« und »kritiklos in eine Reihe mit Heym, Trakl und Stadler« zu stellen (Hopster 1969, S. 3). Vgl. zuletzt Berbig 2008. Vgl. Demetz 1990, S. 99. Dazu ist allerdings anzumerken, dass sowohl die Arbeit von Dwars als auch von Behrens nicht frei von Wertungen sind. Besonders markant ist das Fehlen Bechers im gerade erschienenen Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur, das sonst kaum einen wichtigen Exilautor auslässt (Bannasch 2013). – Zu Becher äußert sich immerhin Hans Albert Walter; seine Beschäftigung mit diesem Autor be-
1. Problemstellung
In der Forschung zeichnet sich ein grundsätzlicher Konsens ab, der Bechers Werk ausgerechnet an der Wegscheide der (programmatischen) Zugehörigkeit zur Moderne in zwei große Phasen untergliedert. Auf der einen Seite steht das ›Frühwerk‹, für das man im Wesentlichen noch von einer Zuordnung Bechers zur Moderne ausgeht. Da die besonders zweite Hälfte der 1920er Jahre stilistisch wie mit Blick auf Bechers Ansichten sehr heterogen ist, schlägt man diesen Abschnitt meist noch dem Frühwerk zu, sieht aber bereits zahlreiche Anzeichen für den anstehenden Übergang. Folglich setzt irgendwann um 1930 aus Sicht der Forschung die zweite große Werkphase – zugespitzt: das ›Spätwerk‹ – ein, mit dem Becher sich von der Moderne abwendet und sich einer inhaltlich wie wirkungsästhetisch politischen Literatur verschreibt, die in ihrem Erscheinungsbild im Wesentlichen der Idee des Sozialistischen Realismus entspricht. Hopster hat 1969 versucht, Bechers dichterische Anfänge differenzierter zu erfassen. Er unterscheidet erstens eine »jugendlich-enthusiastische Phase vor 1913/14«,29 in der sich Becher – wie viele spätere Expressionisten30 – an der Dichtung der Jahrhundertwende orientiert, und »zu der die Kleist-Hymne, der Roman ›Erde‹, der Gedichtband ›Die Gnade eines Frühlings‹ und das bekenntnishafte Lyrik- und Prosabändchen ›De Profundis Domine‹ gehören«.31 Darauf folgt eine Phase, die Hopster »Bechers futuristischen Aktivismus« nennt: An ihrem Anfang stehen die zwei in der Heym-Nachfolge entstandenen Bände von »Verfall und Triumph« […], denen – zunehmend expressiv und futuristisch, aber auch zunehmend politisch engagiert – die Gedichtbände »An Europa«, »Verbrüderung«, »Die heilige Schar«, »Päan gegen die Zeit«, »Gedichte für ein Volk« und »An Alle« folgen.32 Drittens schließlich nennt Hopster unter Rekurs auf Bechers Zeit im schwäbischen Urach, in der er selbst angibt, nur noch in der Bibel gelesen zu haben, eine dritte »hymnisch-religiöse« Phase, zu der »der Gedichtband ›Zion‹, die hymnische Lyrik und Prosa von ›Um Gott‹ […] und die Hymnen von 1924« zählen, »die ›Gedichte um Lotte‹ nur bedingt, da in ihnen ein stärkerer Akzent auf der Liebeslyrik liegt«.33 Hopster sieht aber das Ende des Frühwerks 1924 und geht – insgesamt Biographie und Strukturanalyse verbindend34 – davon aus, dass mit Bechers KPD-Eintritt
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schränkt sich aber weitgehend auf ein Referat von dessen Lebenslauf (vgl. Walter 1978-2007 Bd. I,1, S. 562ff.). Hopster 1969, S. 2. Vgl. dazu die Ausführungen bei Martens 1971, S. 102ff. Hopster 1969, S. 2. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 102.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
ein neuer Werkabschnitt beginnt. Dieser wird deshalb so stark vom Frühwerk geschieden, weil Becher nun beginne, »seinem Temperament Zügel« anzulegen.35 Die Dichtung ab 1924 sei – anders als das Frühwerk – nun tatsächlich ›plakativ politisch‹ und auf dem Weg zur Banalität.36 Diese Einteilung des Werks ist für den Großteil der Forschungsansätze zu Becher repräsentativ. In der Regel wird das Frühwerk bis 1923/24 angesetzt, womit dann Bechers ›eigentliche‹ dichterische Produktion beginne.37 Diese Phase – wie bei Hopster bereits angedeutet – ist durch die Entscheidung Bechers für den Kommunismus bestimmt. Dieser biographische Einschnitt wird auf das literarische Schaffen übertragen, weshalb es kaum Versuche gibt, das Werk zwischen 1923/24 und 1958 noch einmal in verschiedene Phasen zu gliedern. Die vorhandene Einteilung ist allein angesichts der zahlreichen Kehrtwenden, die Becher z.T. innerhalb weniger Monate vollzieht, naturgemäß zu grob. Bei einer genaueren Sichtung der von ihm vorgelegten Texte sind die damit verbundenen Behauptungen kaum zu halten. Schon in theoretischer Hinsicht geht etwa die Zuordnung des späten Becher zum Sozialistischen Realismus nicht auf. Abgesehen davon, dass in den vierbändigen Bemühungen (1952-57: Verteidigung der Poesie, Poetische Konfession, Macht der Poesie, Das poetische Prinzip; GW XIII/XIV) einiges steht, was mit dieser Lesart nicht ohne Weiteres in Einklang gebracht werden kann, ist allein schon die Tatsache, dass Becher die Bücher überhaupt geschrieben hat, untersuchungsbedürftig, denn es sind die ersten systematischen poetologischen Texte von ihm im gesamten Werk. Obwohl Becher sich sehr wohl mit dem Konzept des Sozialistischen Realismus auseinandersetzt, gilt dies vorrangig für eine bestimmte Werkphase Mitte der 1930er Jahre, weniger für die in der frühen DDR entstehenden Texte, die in diesem Muster keinesfalls aufgehen. Man weiß inzwischen zudem, dass Bechers Verhältnis zum Kommunismus und besonders zur DDR nicht unbedingt als spannungsfrei beschrieben werden kann, sondern stets im Kontext der jeweiligen Situation betrachtet werden muss. Etwa war Becher im russischen Exil zu weitreichenden Überarbeitungen seines Lyrikbands Der Glücksucher und die sieben Lasten (1938) gezwungen.38 Auch gaben seine Entscheidungen im Rahmen seiner Tätigkeit für den Kulturbund und als Kulturminister mehrfach Anlass für Konflikte. Die späten Aufzeichnungen Bechers, der in seinem letzten Lebensjahr als Minister unfreiwillig von Alexander Abusch abgelöst worden war, signalisieren eine Distanz zu der Richtung, die die SED-Politik inzwischen eingeschlagen hatte. Entsprechend unglück35 36 37
38
Ebd., S. 104. Ebd., S. 104f. So auch aus westdeutscher Perspektive: »Die tief und umfassend begründete Entscheidung für das Proletariat bildet die herausragende Zäsur in der gesamten dichterischen Entwicklung Johannes R. Bechers. Sie fällt in die Jahre 1923/24« (Klein 1977, S. 111). Vgl. dazu Schäfer 1973, S. 364.
1. Problemstellung
lich zeigt sich Becher mit der Inthronisation als Staatsdichter, die nach seinem Tod nicht zuletzt von seiner Frau Lilly weiter betrieben worden ist.39 Und die Probleme sind nicht allein politischer, sondern auch sehr stark ästhetischer Natur, weil Becher an einem emphatischen Dichter-Begriff festhält, der sowohl vonseiten der kulturellen Leitlinie der SED als auch angesichts der westdeutschen literarischen Entwicklung als überholt empfunden wird. Johannes Bobrowskis geflügeltes Wort vom ›größten toten Dichter bei Lebzeiten‹ ist mehr als ein Zeugnis von »Verachtung« und »Mitleid«.40 Dabei bleibt festzuhalten, dass es den Einschnitt um 1930 tatsächlich gibt; er ist keine reine Konstruktion des auf sein Werk zurückblickenden alternden Becher. Der Einschnitt beschränkt sich indes auf eine Dimension, die ohne Frage wichtig ist, aber doch nicht vorschnell alles andere überdecken darf: auf das Verhältnis zur literarischen Tradition. Bis in die späten 1920er Jahre hinein orientiert sich Bechers Schreiben ausschließlich an der aktuellen Dichtung und geht in der Wahl seiner Vorbilder (mit der Ausnahme Kleists und Hölderlins) einzig bis ins Frankreich des späten 19. Jahrhunderts zurück. Ab den 1930er Jahren ist im Gegenzug dazu eine Rückbesinnung auf ältere (deutsche) künstlerische Ergüsse zu verzeichnen, wobei sich als Referenzpunkte die Barockdichtung, Klassik und Romantik sowie die (früh-)realistische Literatur des 19. Jahrhunderts herauskristallisieren. Diese Wahl der Orientierungspunkte wirkt sich auf allen Ebenen aus. Sie führt dazu, dass Becher anders mit Sprache umgeht – anstelle der Syntaxzertrümmerung tritt wieder verständliches Deutsch – und sie hat Einfluss auf sein Dichtungsverständnis, in dessen Kontext er das eigene Schreiben jeweils autofiktional entfaltet: Wo im Frühwerk ein (kommunistischer) Dichterseher seine höheren Einsichten ins Volk ruft, wird die Dichtung in der zweiten Lebenshälfte für Becher zum Gegenpol der modernen Welt und muss innerhalb dieser stets neu auf ihre Funktion befragt werden. Doch die fehlende Binnendifferenzierung ist nicht das einzige Problem der bisherigen Werkgliederung. Es geht in der Becher-Forschung häufig weniger darum, das Werk literarhistorisch adäquat einzugruppieren, als es mithilfe des ModerneKonzepts auf- oder abzuwerten. Das Moderne-Problem ist der Diskussion um Becher folglich längst immanent. Die Probleme lassen sich nun nicht dadurch lösen, dass man vom kanonisierenden Moderne-Begriff zu einer Bewertung der Einzeltexte bzw. Textgruppen übergeht und Hopsters für das Frühwerk unternommene Binnengliederung auf den Rest von Bechers literarischer Produktion ausdehnt. Die Folge eines solchen Ansatzes wäre nämlich eine sehr starke Zerfaserung, die kaum noch aussagekräftigen Charakter hätte. Dies gilt umso mehr, weil erst einmal zu 39 40
Die Rolle Lilly Bechers in diesen Zusammenhang richtig einzuschätzen, ist aufgrund der Forschungslage ebenfalls schwierig. Siehe bislang einzig Harder 2003; Harder 2017. Haupt 1994, S. 143.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
entscheiden wäre, ob man der wirkungsästhetischen Intention, den behandelten Inhalten, den verwendeten Gattungen, der Sprachgestaltung oder noch einem anderen Kriterium den Vorrang geben und es zur entscheidenden Gliederungskategorie erheben sollte. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich außerdem daraus, dass Becher zwischen bestimmten Richtungsentscheidungen mitunter hin- und herwechselt – dies ist sowohl beim politischen Bekenntnis als auch im Hinblick auf sein Verhältnis zur Religion der Fall. Zeitlich klar abgeschlossene und ›überwundene‹ Phasen zu bilden, wie dies Becher selbst aus der Retrospektive oft genug versucht, ist deshalb ein mehr als fragwürdiges Verfahren. Und schließlich stellt sich die Frage, was das Gesamtwerk in seinen einzelnen Ausschlägen eigentlich außer der Person des Autors noch zusammenhält. Man kommt auf diesem Weg fast zwangsläufig wieder zum Willkür- und Opportunismus-Befund – also nicht sehr viel weiter als bisher. Überblickt man die Forschung zu Johannes R. Becher insgesamt, lassen sich drei unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen, die z.T. daran gebunden sind, aus welcher Zeit und aus welchem deutschen Staat die Beiträge stammen, aber auch in Mischformen auftreten. Die erste Gruppe wird gebildet von Ansätzen, die Bechers literarische Texte primär hinsichtlich ihres Inhalts untersuchen und demgegenüber die ästhetische Form in den Hintergrund stellen. Die Ansätze unterscheiden sich darin, unter welchem Aspekt sie die z.B. in den Romanen verhandelten Themen beleuchten. Noch zu Bechers Lebenszeit findet sich eine politisch-ideologische Lesart, die vor allem – aber nicht nur – von der Rezeption innerhalb der SBZ bzw. der DDR gewählt wird. Ist die politisch-ideologische Lesart bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in der Becher-Rezeption feststellbar, gibt es seit den 1980er Jahren darüber hinaus die Tendenz, Bechers literarisches Werk biographisch zu lesen. Schon lange vorher hat man literarische Texte genutzt, um Informationen über Bechers Biographie zu erlangen. Dies gilt vor allem für den autobiographischen Roman Abschied,41 der vor Erscheinen der ersten Becher-Biographie 1981 eine der Hauptquellen war,42 um sich über das Leben des Dichters zu informieren – eine schon 1960 von Wieland Herzfelde kritisierte Praxis, die die poetische Überformung ebenso übersieht wie die offensichtlichen Unterschiede des Protagonisten Hans Gastl zu Becher.43 Das Interessante an Michael Rohrwassers Becher-Studie ist, dass sie auf der einen Seite zwar Bechers schlechtem Ruf weiter zuarbeitet, weil sie die Lesart vom
41 42
43
Vgl. z.B. Rilla 1955, S. 328. Trotzdem basiert diese in der DDR publizierte Biographie noch immer stark auf den ›Informationen‹, die man im Roman findet (Haase 1981b); erst die späteren von Dwars und Behrens lösen sich davon. Dies beginnt schon beim Alter: »Der Romanheld, Hans Gastl, ist nämlich fünf Jahre jünger als Becher« (Herzfelde 1960, S. 47).
1. Problemstellung
psychisch gebeutelten Autor begünstigt, der aus therapeutischen Gründen, also ohne literarische Ambition oder Könnerschaft schreibt. Auf der anderen Seite verraten Rohrwassers Formulierungen indes deutlich, dass die These vom unkontrollierten Schreiben so nicht zutrifft. In einer bestechend genauen Textlektüre kommt er zu dem Ergebnis, Levisite und Abschied seien Zeugnisse für das gespannte Verhältnis Bechers zu seinem Vater, die auf die Errichtung einer »vorzeigbaren, vorlesbaren Fassade« hinauslaufen.44 Rohrwasser sieht also bei Becher gezielte »Anstrengungen, die einer Dichter-Identität gelten«, am Werk, die er dann freilich »weniger als literarische[n] Konflikt« deutet »denn als Abwehr des Zerfalls und Versinkens«.45 Schließlich lässt sich an die Arbeiten vonseiten der DDR-Germanistik zu Bechers poetischem Verfahren anschließen. Insbesondere Horst Haase analysiert in seiner Studie zu Der Glücksucher und die sieben Lasten immer einzelne Gedichte aus diesem Band und kann so auf formale und motivische Verfahrensweisen aufmerksam machen.46 Weitere Studien nehmen Bechers eigene poetologische Schriften in den Blick und untersuchen z.T. Bechers dichterische Werke vor dem Hintergrund des dort entworfenen Programms. Nachdem er sich lange Zeit eher sporadisch zu seinem Werkverständnis geäußert hat, nimmt die Zahl von Bechers poetologischen Schriften in den 1950er Jahren deutlich zu und fällt damit in eine Phase, die die DDR-Germanistik als den Höhepunkt von Bechers Schaffen gedeutet hat. Die vierbändigen Bemühungen werden entsprechend vornehmlich auf ihre Übereinstimmung mit dem Konzept des Sozialistischen Realismus hin gelesen.47 Dies ist nicht nur ein sehr einseitiges Verständnis von Bechers expliziter Poetik, die durchaus auch Elemente enthält, die nicht zur offiziellen Literaturpolitik der frühen DDR passen. Problematisch ist vor allem jedoch, dass auch die literarischen Texte nur aus dieser Perspektive gesichtet und eventuelle Abweichungen von der Theorie und deren Funktion nicht diskutiert werden.48 Zudem erscheinen durch den Fokus auf die 1950er Jahre alle vorangegangen poetologischen Ansätze Bechers wie auch seine dichterischen Texte stets als bloße ›Vorstufen‹, die sich mehr oder weniger stark dem späteren Ideal annähern.49 Weiterhin versieht Becher seine Bücher oft mit Angaben der Entstehungszeit der Texte und sorgt so dafür, dass diese einer bestimmten Werkphase zugeordnet
44 45 46 47 48
49
Rohrwasser 1980, S. 79. Ebd., S. 283. Haase 1964. Die umfassendste Untersuchung zu Bechers poetologischen Überlegungen findet sich in den Beiträgen in Das poetische Prinzip Johannes R. Bechers 1981. Dies gilt weniger für die Publikationen des Arbeitskreises Johannes R. Becher aus den 1970er und 1980er Jahren als für die Dissertationen, die bis zum Ende der DDR noch zu Becher geschrieben worden sind. Vgl. etwa Noack 1987. Dass dieser Weg nicht geradlinig verlaufen ist, sondern von Widersprüchen geprägt war, gehört freilich zu den Gemeinplätzen der Becher-Forschung. Vgl. etwa Haase 1981a, S. 40.
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werden können. Diese Tendenz verstärkt sich im Laufe der Jahre immer mehr, wenn Sammlungen älterer Dichtungen hinzukommen. Insgesamt nutzt Becher Editionen und Überarbeitungen stets dazu, die eigene Dichterentwicklung für den Leser neu zu deuten und die bisherigen Arbeiten als logische Vorstufen der jeweils aktuell von ihm vertretenen Poetik sichtbar zu machen. Die Sammlung Verfall und Triumph (1914), die aus einem Band Gedichten und einem Band Prosa besteht, ist hier ein besonders gutes Beispiel, indem motivische Verknüpfungen nicht nur die Einzelbücher durchziehen, sondern auch zahlreiche Verbindungen zwischen Lyrik und Prosa existieren, die zwei Bände also als ein ›Werk‹ gelesen werden müssen. Bechers Lyrikbände sind allesamt in Auswahl und Anlage der Gedichte bis ins Detail durchkomponierte Bücher, was nicht zuletzt deshalb kaum noch wahrgenommen wird, weil es bis dato keine historisch-kritische Ausgabe gibt, die diesen konzeptionellen Zusammenhang der Erstausgaben wiedergibt;50 vielmehr beschränken sich selbst die Gesammelten Werke angesichts der schieren Textmasse auf eine Auswahl von Gedichten, wobei die jeweilige Buchfassung als Grundlage gewählt wurde.51 Damit geht – trotz gegenteiliger Intention (vgl. GW I, S. 617) – der Kontext verloren, in dem die von Becher häufig wiederholt mehrfach abgedruckten und damit in einen neuen Zusammenhang gestellten Gedichte stehen. Dass Becher seine Lyrikbände in der Regel mit Zwischenüberschriften, Prologen und Epilogen ausstattet und nicht selten noch die genauen Entstehungszeiten der Einzeltexte angibt, lässt das Streben nach einer konzeptionellen Einheit erkennen, der Edition wie Forschung bislang kaum Rechnung getragen haben. Gleiches gilt für die Verarbeitung biographischer Fakten, die in ähnlicher Weise von Becher stets in gezielter Auswahl verwendet und abgewandelt werden, um dem jeweiligen Gesamtziel des Textes bzw. der Produktionsphase zu entsprechen. Aus diesem Grund ist die Anlage der Gesammelten Werke so misslich, weil die Übergänge zwischen den Gattungen bei Becher gerade im Frühwerk, aber nicht nur dort, immer wieder fließend sind. Man kann Lyrik und Prosa nicht getrennt abdrucken, ohne die Komposition der Bücher auseinanderzureißen, auf die Becher gerade Wert gelegt hat. Seine dramatischen Texte bezeichnet er mitunter als ›Epen‹,52 während ihr beschwörender Sprachduktus zulasten der Handlung geht und folglich wiederum lyrische Qualitäten annimmt. Selbst wo wie bei Behrens von einer ›virtuosen‹ Anverwandlung die Rede ist, impliziert der Forschungsbefund demgegenüber immer eine gewisse Willkürlichkeit in der Auswahl und bezieht diese Anverwandlung auf »alles, was ihm gefiel«.53 50
51 52 53
Dieses Desiderat zumindest zu beheben ist die Aufgabe eines laufenden digitalen Editionsprojekts von Michael Ansel zusammen mit dem Kompetenzzentrum Trier, das die frühen Lyrikbände Bechers erstmal in ihrer gegenseitigen Verflechtung sichtbar machen will. Vgl. zum Editionsprinzip im Einzelnen GW I, S. 617f. So Der Große Plan (GW VIII, S. 191). Behrens 2003, S. 47.
1. Problemstellung
Was hier vorliegt, ist indes – allein schon durch die Überarbeitungen und Neukontextualisierungen der Texte – ein vielfältiges intertextuelles Geflecht, das sowohl eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten fremder Autoren umfasst als auch Verbindungslinien innerhalb von Bechers eigenem Schaffen erzeugt. Bestimmte Handlungsmuster und Schlagworte ziehen sich durch eine Reihe von Texten und gewinnen ihre volle Semantik erst dadurch, dass der Leser ihre erneute Verwendung bemerkt und mit der bekannten abgleicht. Wie stark Bechers Verfahren gezielt auf eine Verknüpfung seiner Werke untereinander angelegt ist, wird allein schon daran erkennbar, wenn aus dem berühmten Motiv des ›Anderswerdens‹ schließlich eine Figur hervorgeht, die das Postulat, sich ständig neu zu erfinden, dadurch auf eine Metaebene hebt, dass sie ihren an sich schon programmatischen Namen ›Anders‹ in ›Wiederanders‹ umwandelt. Auch indem Becher die Geschichte von seinem ersten Selbstmordversuch von 1910 in stets neuen Varianten erzählt und dabei zuletzt sogar explizit auf dieses Verfahren hinweist und die Leserschaft zum Vergleich aufruft, spricht für einen viel stärker bewusst gesteuerten Umgang mit dem Textmaterial, als man ihn Becher lange Zeit unterstellt hat. Entsprechend ist davon auszugehen, dass Bechers Schreibverfahren – egal, ob er auf die Arbeiten anderer Autoren zurückgreift, biographische Fakten einarbeitet oder Motive aus früheren eigenen Texte wiederaufnimmt – von einer gezielten Intertextualität geprägt ist, die einer näheren Untersuchung bedarf. Wenn man die Autoren in den Blick nimmt, auf die Bechers Texte Bezug nehmen – dies ist bisher kaum geschehen und schon gar nicht systematisch –, werden die Aktualisierungstendenzen offenbar, die Bechers Schreibstrategie zugrunde liegen. In seinem expressionistischen Werk wie auch an russischen Vorbildern und am Futurismus orientierten Texten der 1920er Jahre partizipiert Becher an einer formalinnovativen Avantgarde im Sinne einer radikalen Unterströmung der Moderne, die sich durch »provokative Negation des Hergebrachten« auszeichnet und zur Gruppenbildung neigt.54 Zum Kommunismus kommt er nicht zuletzt aus diesem Avantgardeverständnis heraus, indem er die Forderung nach neuer Form um neue Inhalte ergänzt, womit der Aufruf zur gesellschaftlichen und künstlerischen Revolution verbunden ist. Die Ende der 1920er Jahre (nicht nur bei Becher) beginnende und sich in den 1930er Jahren durchsetzende Rückkehr zu realistischeren Formen und die damit einhergehende Neubewertung der literarischen Tradition ist bisher primär im Kontext des entstehenden Sozialistischen Realismus und der russischen Kulturpolitik gesehen worden, die von der deutschen KPD und ihren Schriftstellerverbänden übernommen worden ist. Im Grundansatz stimmt diese Kontextualisierung. Bei Becher kommt zum einen in der Exilzeit aber hinzu, dass er vor dem Hintergrund der These von den zwei Deutschlands dem durch 54
Blamberger 2007, S. 620.
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die Nationalsozialisten korrumpierten Deutschland eine künstlerische Tradition entgegenstellen will, als deren Fortsetzer er sich versteht, was eine Vielzahl von Deutschland-Dichtungen zur Folge hat. Diese konzeptionelle Bindung an die Bekämpfung des Nationalsozialismus und die Exilerfahrung ist so bislang ist angesichts der Kritik an Bechers ›Nationalismus‹ nicht berücksichtigt worden. Dass Becher bisher kein für die Exilliteratur-Forschung relevanter Autor war und die Arbeiten aus der DDR diese Perspektive nicht einnehmen, führt zum Übersehen des Offensichtlichen: Buchtitel wie Deutschland ruft (1942) tauchen erst in diesem Zusammenhang überhaupt auf und müssen somit aus ihm heraus begründet werden. Auf diese Weise ist eine gewisse Selbstkanonisierungstendenz vor dem Hintergrund der Rezeption deutscher Dichtung zu berücksichtigen. Zum anderen gilt es aber die Kontinuität zum Frühwerk herauszustreichen, die mit Begriffen wie ›Rückkehr zum Realismus‹ oder der in der DDR-Germanistik beliebten Ansicht, Becher habe in den 1930er Jahren erst seinen eigentlichen Ton gefunden, verdeckt wird. Tatsächlich wird nämlich auch das realistischere Exil- und Spätwerk vom gleichen Innovationsanspruch getragen wie die älteren, auf den ersten Blick ›innovativeren‹ Arbeiten. Dass Becher weiterhin zeitaktuell schreiben will, wird inhaltlich leicht erkennbar, da er wiederholt Bezug auf die aktuelle gesellschaftliche Situation nimmt, den ersten Fünf-Jahres-Plan mit einem Epos begleitet (Der große Plan, 1931), parallel zur Schlacht um Moskau ein gleichnamiges Drama verfasst (bekannter unter dem späteren Titel Winterschlacht) oder in der frühen DDR verschiedene ›neue‹ Volkslieder über den Aufbau des sozialistischen Staates wie die dessen Nationalhymne schreibt. Doch auch in formaler Hinsicht liegen Innovativitätsüberlegungen zugrunde, wie der Blick auf die poetologischen Schriften der Zeit zeigt: Becher kehrt nicht einfach unter Druck der politischen Vorgaben zum realistischen Schreiben zurück, sondern entwickelt bewusst einen anderen ästhetischen Stil, weil sich die Formexperimente des frühen 20. Jahrhunderts überholt haben und das Neue anderswo zu suchen ist. Damit wird am Beispiel Bechers und in Aufarbeitung der entsprechenden zeitgenössischen Kunstdiskussion die Beziehung zwischen Moderne und Sozialistischem Realismus zu beleuchten sein, die in der Regel meist eher als einander ausschließende Pole begriffen werden.
1.3
Folgerungen
Das gezielte Bemühen um die eigene Handschrift ist in diesem Sinne Signum der wiederholten Suche nach Identität, aber mehr noch nach einer Ausdrucksform, die es dem modernen Autor möglich macht, sich gleich den großen Vorgängern mit einem charakteristischen Schriftzug in die Weltgeschichte einzuschreiben. Wich-
1. Problemstellung
tiger aber ist die Frage, wie die Wirkung der Repräsentativität dieser drei Aspekte überhaupt zustande gekommen ist – womit man auf Bechers lebenslange, und sehr bewusste, Arbeit an der eigenen Autorpersona stößt.55 Hierbei handelt es sich nicht um ›Verarbeitungen‹ psychischer Belastungen (etwa ausgelöst durch den ›einseitig erfolgreichen‹ Doppelselbstmordversuch von 1910 oder den Vater-Sohn-Konflikt).56 Es sind vielmehr Strategien der Selbstinszenierung, um den Aufbau von (je nach Werkphase angepassten) Lebensnarrativen, die Bechers ästhetischen und ideologischen Werdegang plausibilisieren und als repräsentativ für seine Generation bzw. seine Epoche etablieren sollen. Das Leben des ›typischen‹ Einzelnen wird relevant, weil es in allen Umbrüchen und Krisen entweder durch Kontinuität oder – häufiger – durch Entwicklungsnarrative Orientierung und Zusammenhalt verbürgt. Nicht das reine Geschehen von einzelnen Vorfällen ist von Bedeutung, »sondern das: was sie im Lebensvorgang des betreffenden Menschen bedeuten und wie sie eingeordnet sind.«57 Weil diese Selbstinszenierung aber im modernen Kontext des 20. Jahrhundert stattfindet, wird der Prozess der eigenen ästhetischen Selbstfindung plural und unabschließbar: Becher versucht, seine Lebensgeschichte stimmig als Geschichte seiner Generation zu erzählen, was nicht nur ein hohes Maß an konzeptionellem Bewusstsein mit sich bringt, sondern auch zu einer entsprechenden Umarbeitung und Uminterpretation des eigenen künstlerischen Werdegangs führt. So wird eine Identität programmatisch geschaffen und ausgestellt, die nicht zuletzt in Abgrenzung von den Vorstellungen der Vorgängergeneration entworfen wird. Indem sich Becher aber gleichzeitig einer modernen Gesellschaft im Sinne einer sich ständig verändernden Realität gegenüber sieht, gibt es nicht ein einziges Narrativ, das er bis zu seinem Lebensende fortführen kann. Stattdessen müssen in einem letztlich unabschließbaren Prozess ständig neue Entwürfe von Identität entwickelt werden, die den erfolgten Umbrüchen Rechnung tragen. Diese neuen Entwürfe sind z.T. den alten, die sie überschreiben, radikal entgegengesetzt und entsprechend dazu angelegt, eine neue ›endgültige‹ und absolute Weltdeutung zu geben, vor deren Hintergrund die vorangegangenen Versuche stets ihren Wert verlieren oder bestenfalls noch als ›Entwicklungsschritte‹ oder ›Irrwege‹ in das neue Narrativ integrierbar sind. Daraus folgen im Kern drei Strategien, die die Beobachtungen der Forschung erklären können und insofern genauer zu diskutieren sind: Becher stellt erstens den Dichter ins Zentrum seiner (poetologischen) Überlegungen; er wertet die vorhandene Literatur zweitens in einer bestimmten Art und Weise und mit starkem konzeptionellen Impuls für sich neu aus und erzeugt drittens auf diesem
55 56 57
Das klingt schon bei Rohrwasser an. Vgl. auch Davies 2004, S. 226. So Rohrwasser 1980. Brief an Frank S. Herrmann vom 28. September 1922 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 106).
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Weg immer wieder neue Narrative, die seine Entwicklung als Dichter allgemeingültig und ›zeitgemäß‹ begründen, womit Werk und Leben generalisierend zusammengedacht sind. Diese Beobachtung führt zuerst zu dem Schluss, dass der scheinbar unkontrollierten Wandelbarkeit oder ›Unentschlossenheit‹ Bechers in Wirklichkeit ein Konzept zugrunde liegt, das die ständige Erneuerung des Schreibens zum Kern literarischer Arbeit erhebt. Weiterhin hat sie zur Folge, dass das Verhältnis Bechers zur Moderne grundsätzlich neu diskutiert werden muss – und zwar unter Neubestimmung der (literarischen) Moderne selbst als einer Moderne, deren kleinster gemeinsamer Nenner in dem Konsens besteht, dass ästhetische Entwürfe nicht auf Dauer gestellt sind; sie altern stattdessen und müssen folglich im Gleichschritt mit dem gesamtgesellschaftlichen oder technisch-wissenschaftlichen Fortschritt weiterentwickelt oder ersetzt werden. Die Einheit mit der eigenen Zeit ist das zentrale und alle Werkphasen überbrückende Moment in Bechers Schaffen zwischen 1910 und 1958 – und es ist als solches ein höchst zentrales Moment, da es die Frage aufwirft, wie Autorschaft bzw. Autorschaftsinszenierung in diesem insgesamt von zahlreichen Umbrüchen und Stilen geprägten Zeitraum funktioniert. Die Konsequenz, mit der Identität aus der Einheit mit dem eigenen Jahrhundert generiert wird und Biographie und Dichtertum untrennbar ineinander verschränkt sind, erlaubt Ableitungen, die über den individuellen Fall hinausgehen, der nie als bloß individueller gedacht war. Im Gegenteil: Hier kommuniziert sich der Anspruch, für die eigene Zeit zu sprechen, ihre wichtigsten Tendenzen quasi seismographisch zu erkennen und in eine literarische Ästhetik zu übersetzen, die das Werk ›zeitgemäß‹ hält. Da das gesamte Schreiben Bechers nach dem Muster der Lyrik modelliert ist,58 sind Bechers Autorschaftsmodelle speziell Modelle dichterischer Identität und der Begriff des Dichters wird zur zentralen Formel im Gesamtwerk. Aus diesem Impuls heraus nämlich ergibt sich die Übereinstimmung von Leben und Werk, die Bechers Konzeption durchweg auffällt. Im Prinzip ist Bechers Verständnis von Poesie und der eigenen Arbeit nach der altherbrachten Gliederung modelliert, die Lyrik danach bestimmt, dass in ihr ›der Dichter selbst‹ spricht, während in der Epik ein Erzähler agiert und im Drama verschiedene Figuren reden59 – nur dass diese Rückbindung der dichterischen Sprache an das dahinterstehende Ich im Hintergrund auch in den anderen Gattungen am Werk bleibt. Zur Klarstellung: Es ist keinesfalls so, dass das lyrische Ich in Bechers Gedichten stets eine authentische Äußerung ihres Verfassers formulieren würde, nicht nur weil es durchaus auch Rollengedichte gibt. Gleichermaßen wären die autobiographisch inspirierten Prosatexte wie die nach Bechers eigenem Vorbild gezeichneten Hauptfiguren in Er58 59
Vgl. Haase 1981, S. 151; Haupt 1994. Vgl. Aristoteles: Poe, S: 9.
1. Problemstellung
de, Levisite, Abschied oder Die Schlacht um Moskau falsch verstanden, würde man sie unreflektiert als Quellen nutzen, um Lücken in der Biographie zu schließen. Der Umgang mit dem autobiographischen Material ist oft genug ironisch, zumindest aber so angelegt, dass die Fiktion sich an entscheidenden Punkten von ihrer realen Vorlage löst und selbstständig wird. Weiterhin ergibt sich daraus die wichtige Forderung, dass Werk und Leben des dahinterstehenden Autors zusammenpassen bzw. gemeinsam sich gegenseitig legitimierende und für die gegenwärtige Welt ›relevante‹ Narrative hervorbringen müssen. Es geht also um ›größere‹ Zusammenhänge: namentlich um die Sicherung der Aktualität – und insofern Modernität – nicht nur des eigenen Schreibens, sondern von Dichtung an sich. Die Verankerung vor allem der lyrischen oder lyriknahen Ausdrucksform in der Gegenwart ist das entscheidende Ziel Bechers literarischer Produktion. Der Weg dahin führt über den Aufbau einer eigenen Dichterpersönlichkeit (bzw. mehrerer, da der Prozess prinzipiell unabschließbar bleibt und ständige Neuansätze nötig macht). Die Gedichtbände Ein Mensch unserer Zeit (1929) bzw. Ein Mensch des Jahrhunderts in seinen Gedichten (1951) machen diesen Anspruch schon im Titel mehr als deutlich: Sie markieren die präsentierten Texte sowohl als Ausdruck ihrer Entstehungszeit wie auch als Indikatoren einer bestimmten Entwicklung oder Position des dahinter stehenden Autors bzw. sie arbeiten mit an der Erschaffung des Bilds des mit seiner Zeit, seinem Jahrhundert identischen Dichters (und ›Menschen‹) Johannes R. Becher. Somit – dies wird im Folgenden zu zeigen sein – erweist sich ausgerechnet ein Autor für die Konzeption der Moderne als aufschlussreich, dem man diese Zuordnung vom Frühwerk abgesehen im Wesentlichen immer abgesprochen hat. Da in der Forschung die späteren und ›endgültigen‹ Auffassungen die Norm für die Bewertung des Gesamtwerks vorgeben und so die Maßstäbe des Frühwerks zurücknehmen, hat man wenig Anlass, Becher in die Moderne einzugliedern.60 Denn was seine ästhetischen Auffassungen der späten Jahre betrifft, steht er den eigenen dichterischen Anfängen höchst kritisch gegenüber und entwirft ein poetologisches Programm, anhand dessen der in der jungen DDR geführte »Feldzug gegen die Moderne«61 illustriert werden kann. Neben dem Problem, dass es einer Konzeption von Moderne bedarf, die dieses Element und die Frage nach der Bildung moderner Autorschaft bzw. spezieller modernen Dichterums (anstatt nur der Erschaffung moderner Texte) ins Zentrum rückt, gibt es Klärungsbedarf im Hinblick auf die zeitliche Ausdehnung des beschriebenen Phänomens. Die hier vorgeschlagene Lösung läuft auf einen Moderne-Begriff
60 61
Der Übergang vom modernistischen zum ›nicht mehr modernistischen‹ Schreiben wird in der Regel Ende der 1920er Jahre bei Becher beobachtet. Vgl. Berman 1985, S. 110. Krauss 1994, S. 223.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
hinaus, mit Hilfe dessen man – aller Varianz der Strömungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Trotz – in diesem Zeitraum eine auffällige Konstanz beobachten kann, weil die entscheidenden Kriterien nicht inhaltlicher oder formaler Natur sind, sondern die Strategien der Kommunikation von Autorschaft sowie die damit einhergehende Narrativbildung betreffen. Mit anderen Worten: Unter gemeinsamen Prämissen, die noch darzustellen sein werden, bilden sich im Laufe der Jahre verschiedene Untererzählungen oder Umsetzungsversuche aus, die in ihrer Ausprägung zwar äußerlich sehr verschieden sind, aber mit identischen Grundmustern und Zielsetzungen unter immanentem Moderne-Bezug operieren. Die Präsenz des Inszenierungsmoments, die konsequent daran arbeitet, Kunst und Leben – Werk und Biographie – zusammenzudenken, eröffnet im Hinblick auf die Konzeption von Autorschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Zugriff auf einen Zeitraum, den die jüngeren Fallstudien zur Autorinszenierung bislang ausgelassen haben. Tatsächlich überschneiden sich die Suche nach (Autor-)Identität und die Bestimmung der Funktion der Dichtung innerhalb der Moderne und bilden gleichermaßen dringend zu klärende Fragen. Grundlegend ist der ManifestCharakter, dem die Ausrufung der Moderne und ihrer diversen Unterströmungen (nicht nur, aber besonders der avantgardistischen) seit dem späten 19. Jahrhundert innewohnt (Kapitel 2). Nicht die konkrete Füllung des Moderne-Begriffs durch ästhetische oder inhaltliche Maßgaben ist hier von Bedeutung; vielmehr ist der Gestus zentral, der mit dem das Modernepostulat verbunden ist und der Konsequenzen für die sich ihm zuordnenden Künstlerleben hat. Ausgehend von diesen theoretischen Grundlagen erschließt sich erst Bechers eigener Status als potentiell Moderner, der speziell die Dichtung als ›alte‹ von der Lyrik her modellierte Ausdrucksform für das frühe bis mittlere 20. Jahrhundert als wesentlich herausstellt. Alle weiteren Schreibstrategien und Elemente von dichterischer Selbstinszenierung resultieren aus dieser Grundannahme. Die nachstehenden Überlegungen greifen diesen Faden auf und unternehmen einen dreifachen Durchgang durch das Werk, der den zentralen Leitkategorien von Bechers Poetik folgt. Sie erörtern zunächst die Frage nach der Konzeption und literarhistorischen Kontextualisierung des Dichtertums, wie sie sich bei Becher in den einzelnen Werkphasen abzeichnet (Kapitel 3). Entlang der Zäsur um 1930, die den Übergang von einem tendenziell stärker experimentell ausgerichteten Umgang mit Sprache zu einem ›realistischeren‹ Schreiben markiert, entwickelt Becher zwei Modelle des Dichtertums: Für die erste Werkhälfte versucht er Dichtung und Moderne mit dem Konzept des poeta vates zu integrieren; im späteren Werk häufen sich explizite Reflexionen auf die Problematik, welche Rolle Dichtung innerhalb der modernen Zeit noch haben kann, womit sich der Schwerpunkt zugunsten einer »Verteidigung der Poesie« verschiebt. Diese doppelte Ausrichtung, der aber dasselbe Ziel zugrunde liegt, spiegelt sich auch im Umgang Bechers mit der Literatur, die er in seinen Texten aufgreift oder
1. Problemstellung
zum Vorbild nimmt (Kapitel 4). Rezipiert Becher vor 1930 vorrangig neuere Dichtung (Jugendstil, französischen Modernismus, Avantgarde-Bewegungen), werden danach stärker wieder ältere Autoren und Bücher relevant (Barock, Klassik, Romantik, Realismus). Trotz der von den programmatischen Prämissen veränderten Auswahl läuft das Verfahren aber in beiden Fällen darauf hinaus, die fortwährende Aktualität der Referenzen zu eruieren oder herauszustreichen und insofern für die gegenwärtige Dichtung (bzw. Bechers Dichtung) fruchtbar zu machen. Deutlich wird schließlich drittens in der Gesamtschau, dass Bechers Lebensund Autorschaftsnarrative – so unterschiedlich sie im Einzelnen ausfallen – in der Funktion der Sicherung einer eindeutigen und dauerhaften Identität übereinstimmen, die eben nur über verschiedene Entwicklungsschritte ›gefunden‹ werden muss (Kapitel 5). Sie laufen letztlich immer darauf hinaus, die zahlreichen Widersprüche, Kehrtwenden und Neupositionierungen entweder zu unterschlagen oder in einer Art und Weise zu integrieren, die die extremen Ausschläge der Vergangenheit zu einer ›Suche‹ stilisieren, die auf einen Endpunkt hin konzipiert ist, an dem Ruhe und Stabilität einkehren. Dass auf den Befund des Handschriftenwechsels die Suche nach der ›eigentlichen‹ Identität folgt und künstlerischer Ausdruck und Biographie eng ineinander verwoben werden, ist das Fundament der besonderen (angestrebten) Repräsentativität Bechers in allen Lebens- und Werkphasen.
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2. Die Moderne als Manifest
2.1
Zehn Thesen
Den Begriff ›Moderne‹ endgültig und in hinreichender Komplexität definitorisch zu klären ist – selbst wenn man sich auf die literarische Moderne beschränkt – eine überaus schwierige und wohl auch unabschließbare Aufgabe. Jede Theorie – so weit gefasst ihr Skopus auch immer sein mag – steht und fällt mit den historischen Fallbeispielen, auf deren Basis sie abstrahiert. Gottfried Benn, Alfred Döblin, Franz Kafka und Thomas Mann rangieren hier in der Regel ganz oben.1 Für die bisherige Diskussion über Becher und die Moderne am einschlägigsten ist eigentümlich genug der Begriff von Moderne im Sinne von Avantgarde.2 Die beiden Termini überlappen sich definitorisch an zahlreichen Stellen, weshalb sich die Forschung immer wieder bemüht hat, klare Grenzen zwischen ihnen zu ziehen. Dabei ist man im Wesentlichen zu der Einschätzung gekommen, dass es sich bei der Avantgarde im Unterschied zur Moderne erstens um ein auf einen kürzeren Zeitraum begrenztes Phänomen handelt, das sich in den 1910er und 1920er Jahren abspielt und in den 1960er Jahren als Neoavantgarde noch einmal auflebt;3 in diesem Sinne ist die Moderne als ›Groß-Epoche‹ der Avantgarde übergeordnet und erstreckt sich – je nach Definition – vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn der NS-Zeit oder noch in die Nachkriegsjahre hinein.4 Dem Etikett ›Moderne‹ kommt dann nicht selten die Stellung eines Ritterschlags zu. Denen, die sich der Moderne (wie immer sie genau bestimmt ist) zuordnen lassen, wird eine literarische Bedeutung attestiert, die über das reine historische Interesse hinausgeht. Autoren, deren Werk als qualitativ minderwertiger gilt bzw. fragwürdige politische Positionen aufweist – auf Becher trifft beides zu –, werden sehr viel seltener als ›modern‹ bezeichnet. Der Moderne-Begriff hat also
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Vgl. dazu – nicht repräsentativ, aber doch vielsagend – Blamberger 2007. Vgl. dazu Fähnders 2010. Vgl. für die deutsche Diskussion Kopfermann 1981; Fischer-Lichte/Kreuder 1998. Zur Schwierigkeit der zeitlichen Einordnung vgl. im groben Überblick Blamberger 2007, S. 620.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
eine implizit kanonisierende Funktion, weshalb man in Bezug auf Becher so ungemein vorsichtig damit ist, ihn zu verwenden, und sich viel eher Positionen finden, die ihm diese Zuordnung im Unterschied etwa zu Gottfried Benn oder Bertolt Brecht vehement absprechen.5 Zweitens wird die Zerfaserung der Avantgarde hervorgehoben. Bei aller Diversität, die auch mit dem Begriff ›Moderne‹ verbunden ist,6 gilt die Avantgarde aufgrund ihrer z.T. parallel existierenden und häufig kurzlebigen, dafür aber mit sehr viel Verve verkündeten Ismen als heterogener. Sie ist vor allem von Gruppenbildungen geprägt, die durchaus in Konkurrenz zueinander stehen. Folglich verschafft sich die Avantgarde in Manifesten programmatischen Ausdruck, häufig unterstützt von die verschiedenen Kunstformen übergreifenden ›Happenings‹, die das mit ihr assoziierte antibürgerliche Lebensgefühl öffentlichkeitswirksam in Szene setzen.7 Über den Aspekt der Antibürgerlichkeit8 lässt sich der dritte wichtige Punkt ableiten, durch den Moderne und Avantgarde voneinander geschieden werden: Die Avantgarde, so liest man häufig, sei die radikalere Schwester der Moderne, die auf die Produktion von Skandalen setzt, die in der modernen Kunst und Literatur generell an ihre Grenzen geführten traditionellen ästhetischen Ausdrucksweisen konsequent zurückweist und formal wie inhaltlich innovative Experimente an ihrer Stelle treten lässt.9 Damit wird oft eine Schockwirkung erzeugt; fast immer werden die gängigen ›Regeln‹ – sei es der Logik, der Grammatik oder der Psychologie – für obsolet erklärt.10 Wichtig für den Zusammenhang hier ist, dass es gerade dieser Aspekt ist, der den schlechten Ruf der Moderne wesentlich mitbegründet, wie er die Formalismus-Kritik in den 1930er Jahren sowie in der frühen DDR bestimmt. Allen gerade angerissenen Differenzierungsversuchen zum Trotz hat man es historisch mit einer Überblendung von Avantgarde und Moderne in ihrer (negativen) Rezeptionsgeschichte zu tun. So kommt es, dass die bisherigen und, wie erwähnt, wenig elaborierten Versuche, einen Autor wie Johannes R. Becher innerhalb der Moderne zu kontextualisieren (bzw. ihn nicht in ihr zu kontextualisieren) sich sehr häufig von Bechers eigener Weiterentwicklung nach dem Frühwerk leiten lassen. Diese Weiterentwicklung erfolgt nun aber gerade in erklärter Abgrenzung von den avantgardistischen Tendenzen der frühen Jahre, die Becher in Übereinstimmung mit der Terminologie seiner Zeit ›Formalismus‹ oder eben ›Moderne‹ nennt. Wenn 5 6 7 8 9 10
Dabei liegen die Vergleiche zu gerade diesen beiden Autoren aus verschiedenen Gründen nahe. Vgl. Haupt 1994 sowie Eichhorn/Tietje 2015. Vgl. Becker/Kiesel 2007; Kiesel 2017. Zum ›Manifestantismus‹ der Avantgarde vgl. Fähnders 2000. Der Aspekt ist nicht ganz unumstritten. Als Kerncharakteristikum der Avantgarde profiliert ihn Bürger 1999, S. 30ff. Vgl. Bürger 1999, S. 79ff. Vgl. im Falle Bechers besonders »Die neue Syntax« (An Europa 1916, S. 78).
2. Die Moderne als Manifest
Becher demnach zumindest ab etwa 1930 kein moderner Autor ist, dann gilt das zunächst einmal in dem Sinne, dass er kein Avantgardist mehr ist.11 Man muss also die durch zeitgenössischen Debatten und die Selbstbeschreibungen Bechers geprägte Begriffsvermischung zunächst wieder auflösen. Dabei ist die Moderne, von der sich Becher in den 1930er Jahren (nicht als Einziger) wegbewegt, indes nicht einmal die gemeinhin meist bis etwa 1925 angesetzte Avantgarde als Ganzes. Die ›Weiterentwicklung‹ konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte des avantgardistischen Kunstverständnisses, die freilich konstitutiv für dieses sind. Erstens trifft die Opposition gegen ein avantgardistisch orientiertes Moderne-Konzept die radikalen Formexperimente des frühen 20. Jahrhunderts. An die Stelle einer ›neuen Syntax‹,12 die alles bisher Dagewesene negiert, tritt produktionsästhetisch die ›Rückkehr‹ zu einer von den herkömmlichen Regeln der Grammatik geleiteten Dichtersprache. Auch die theoretischen Überlegungen, die Becher in den 1950er Jahren niederschreibt, stoßen sich mit Blick auf die frühe Lyrik in erster Linie am Verhältnis von Inhalt und Form. Die Form hat aus der Retrospektive in einem problematischen Ausmaß überhandgenommen und dreht sich um ein leeres inhaltliches Zentrum. ›Moderne‹ in diesem Sinne ist Formalismus und damit abzulehnen.13 Die zweite Dimension, anhand derer sich eine Abkehr von ›Moderne‹ im genannten Sinne erkennen lässt, betrifft einen von der Formalismus-Debatte nicht erfassten Punkt, der sich aber dennoch im Aufstieg der Diskussion um das literarische ›Erbe‹ als zentral erweist. Die Avantgarde hat im Unterschied zur ›späteren‹ Kunst nicht nur ein anderes Verhältnis zur Tradition an sich (indem sie alles neu machen will und vor allem antike Vorbilder ablehnt). Relevant ist insbesondere das ihr eigene Moment von Antibürgerlichkeit, das auf der einen Seite ein moralischideologisches Phänomen ist, mit der die Ablösung jünger Künstler von ihrer Elterngeneration markiert wird. Auf der anderen Seite betrifft der Aspekt aber auch die Haltung gegenüber ›bürgerlichen‹ Traditionen und Vorbildern. Während Becher in seiner Jugend Goethe »für einen stupiden Trottel« hält,14 wird der Dichterfürst während der Exiljahre zum erklärten Vorbild und schließlich 1949 zum »Befreier«,15 der der aufkeimenden sozialistischen Gesellschaft einiges zu sagen habe.16 Genauso wird der als bürgerlicher Schriftsteller von Becher zuerst stark attackierte Thomas Mann infolge der Suche nach Allianzen während der Exilzeit und wie 11 12 13 14 15 16
Vgl. Lauter 1951; aus der Retrospektive Erbe 1993; im Bereich der bildenden Kunst Steinkamp 2008. Becher: An Europa 1916, S. 78. Vgl. dazu auch Berman 1985, S. 115f. Brief an den Deutschunterricht vom 5.September 1953 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, 462). Becher: Der Befreier 1949. Bechers lobende Worte auf Goethe hat Heyer anschaulich zusammengestellt (Heyer 2017, S. 78f.).
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Rahmen von Bechers Bemühungen um einen Kontakt zur westdeutschen Literaturszene in der Nachkriegszeit zu einem Kollegen, den man gut im Schiller-Jahr 1955 nach Weimar einladen kann.17 Die ›Avantgarde-Moderne‹, die irgendwann in den 1930er Jahren zu Ende geht, zeichnet sich also auch durch ihre Ablehnung der ›bürgerlichen‹ Literatur aus, wohingegen eine sich von ihr abgrenzende Literaturkonzeption auf den Realismus des 19. Jahrhunderts zurückbesinnt. Der Lebensstil des Autors, der dahinter steht, wird gleichfalls bürgerlicher: An die Stelle von Morphium, sexuellen und anderen Exzessen tritt – zumindest vordergründig – das stabile Eheleben mit Erholung im »Traumgehäuse« am See in Bad Saarow, wo sich in der Freizeit segeln oder jagen lässt.18 Wenn man Moderne also über die für die Avantgarde konstitutiven Elemente formaler Experimentierfreunde und – sowohl ästhetischer als auch biographisch vorgelebter – Antibürgerlichkeit definiert, dann bleibt von Becher als modernem Autor spätestens mit dem Gang ins Exil nicht mehr allzu viel übrig. Besser macht sich entsprechend hier ein Moderne-Begriff, der stattdessen bei dem auch hier schon mehrfach deutlich gewordenen Umstand ansetzt, dass Leben und Werk auf eigentümliche Weise Hand in Hand gehen. Denn gerade im Fall Bechers ist das keinesfalls ein biographischer Zufall, sondern eine konstante und konzeptionell weitreichende Realisation der Vereinigung beider Dimensionen, wie sie um die Jahrhundertwende ausgerufen wird.19 Wenn Kunst und Leben beharrlich zusammengedacht werden, dann muss wenigstens die öffentlich sichtbare Seite der Biographie eines Autors mit den für seine Werke angesetzten Maßstäben in Übereinstimmung gebracht werden, um eine gegenseitige Passung oder Legitimation zu erreichen. Das Werk hat das Leben zu beglaubigen, das Leben umgekehrt das Werk. Bekanntlich ist es das Jahr 1886, das die Geburt der (literarischen) Moderne darstellt, als der Kieler Literaturwissenschaftler Eugen Wolff stellvertretend für die naturalistische ›literarische Vereinigung‹ Durch! das Femininum »die Moderne« geprägt hat.20 Dabei hat der naturalistische Kontext, in dem diese Begriffsprägung geschieht, entscheidende Auswirkungen auf das inhaltliche Verständnis des Terminus, der hier entsteht. Damit nämlich erblickt in der Geburt der ›Moderne‹ um 1900 nicht nur ein Begriff das Licht der Welt, der auf dem traditionellen Unterschieden zwischen ›antik‹ und ›modern‹ fußt, wie er bereits die frühneuzeitliche querelle des anciens et modernes beschäftigt.21 Das kommunikative Ziel dieser Thesen 17 18 19 20 21
Siehe zu Bechers spätem Thomas-Mann-Bild auch Becher: Das Werk Thomas Manns 1955 und Becher: Hochverehrter Thomas Mann 1958 sowie GW XVIII, S. 435-437. Vgl. dazu Harder/de Bruyn 2012. Vgl. Spiekermann 2016. Wolff 1886. Zu einem historischen Überblick über die Moderne-Diskussion und das anschließende Begriffsfeld vgl. Gumbrecht 1978.
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– ihre Wirkungsabsicht, die hinter dieser Konzeption steht – ist wichtig. Es geht Wolff und der Vereinigung nicht nur um eine Absetzung von den ›Alten‹ oder von herkömmlichen Erzählweisen, Vorbildern etc. Es geht um die Schaffung eines Epochenbegriffs, der diejenigen literarischen Erscheinungen zusammenfasst, die für die aktuelle Zeit, für die Gegenwart typisch sind, den Fortschritt und das ›Neue‹ repräsentieren, das im späten 19. Jahrhundert überall sichtbar wird. Mit anderen Worten: ›Die Moderne‹, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts ins Spiel kommt, ist ein Begriff, der – mit weitreichenden Folgen für die Literaturgeschichtsschreibung bis heute – mehrere Funktionen gleichzeitig zu erfüllen hat, von denen zwei von vorrangiger Relevanz sind. Zunächst dient ›die Moderne‹ als Oberbegriff für ein bestimmtes ästhetisches Programm, das die Naturalisten dem literarischen Mainstream entgegensetzen. ›Die Moderne‹ ist in dieser Weise identitätsstiftend für eine Gruppe junger Schriftsteller, die alles anders machen wollen als bisher. Diese programmatische Dimension des Begriffs ist die am häufigsten von der Forschung besprochene. Egal, ob man sich auf die »Zehn Thesen« der »Litterarischen Vereinigung ›Durch!‹«22 bezieht oder auf andere Aufsätze, die die Moderne im Titel tragen – entsprechende Publikationen gibt es u.a. von Hermann Bahr, Moriz Carriere, Michael Georg Conrad oder Samuel Lublinski:23 Diese Texte kommunizieren die Vorstellung von Literatur, die die naturalistischen Autoren entwickeln und welche normativen Ansprüche sie daraus ableiten. Allerdings eignet den Ansätzen um 1900 nicht nur diese normative poetologische Seite. ›Die Moderne‹ ist darüber hinaus – gerade bei dem Literaturhistoriker Wolff – ein Terminus, der zweitens zur reinen Beschreibung von Phänomenen herangezogen wird, die in der aktuellen literarischen Produktion bereits beobachtbar sind. Diese doppelte Ausrichtung des Begriffs lässt sich an den »Zehn Thesen« besonders gut beobachten. Auf der einen Seite heißt es dort, im Sinne eines Manifests, etwa: »Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen« (These 5).24 Damit wird die für den Naturalismus typische Hinwende zur ungeschönten Realität, zur Darstellung sozialer Probleme etc. als Forderung formuliert. Genau dieser normative Impuls steckt auch in der berühmten sechsten These, die als »[u]nser höchstes Kunstideal nicht mehr die Antike, sondern die Moderne«25 angibt. Die Wortwahl »Ideal« macht allein schon auf den Umstand aufmerksam, dass hier nichts bereits Vorhandenes beschrieben, sondern ein Postulat für die Zukunft aufgestellt wird. Aber es gibt auch ganz andere Sätze in den »Zehn Thesen«. These 8 zum Beispiel
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Wolff 1886. Vgl. dazu im Einzelnen Meyer 2008. Wolff 1886. Ebd.
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hat sehr stark beobachtenden Charakter, wenngleich sie das Beobachtete deutlich bewertet. So heißt es dort, »förderlich für die moderne Dichtung« seien »Bestrebungen […], welche auf entschiedene, gesunde Reform der herrschenden Litteraturzustände abzielen«26 – Bestrebungen, die es also offenkundig bereits gibt. Besonders markant (und, was die Nachwirkung betrifft, entscheidend) ist der deskriptive Charakter der »Zehn Thesen« jedoch vor allem am Anfang. Denn das Konzept, das hier entsteht und damit die Basis für alle weiteren Ausführungen bildet, ist (noch) weniger ein literarisches Ideal oder erst in die Tat umzusetzendes Programm als die explizite Feststellung eines Epochenumbruchs. Die erste These lautet wörtlich: »Die deutsche Litteratur ist gegenwärtig allen Anzeichen nach an einem Wendepunkt ihrer Entwickelung angelangt, von welchem sich der Blick auf eine eigenartige bedeutsame Epoche eröffnet.«27 Dieser Satz könnte ebenso gut am Anfang einer wissenschaftlichen Abhandlung stehen und zwar schon deshalb, weil das, was hier über die aktuelle literarische Entwicklung gesagt wird, rhetorisch als Hypothese erscheint, die auf der Auswertung empirischer Beobachtungen beruht und mit entsprechender Vorsicht formuliert ist (»allen Anzeichen nach«). Es lohnt sich, dieser ersten These etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Ignoriert man für den Moment die sich an der Wertung bereits abzeichnende normative Komponente – schließlich ist die beginnende Phase eine »bedeutsame Epoche« –, ist der Beginn der »Zehn Thesen« durchaus auch ein Versuch Eugen Wolffs, die Literatur seiner eigenen Zeit wissenschaftlich zu bestimmen. Nicht nur die Rede von Wendepunkt und Epocheneinschnitt weist in diese Richtung. Deutlicher noch wird das Ganze in These 2, in der allein dreimal das Schlagwort ›Gegenwart‹ fällt, wobei die These zwischen der reinen Beschreibung aktueller Tendenzen und normativen Folgerungen für die Zukunft ständig changiert. Postuliert wird als Aufgabe »des Dichters der Gegenwart«, »alle bedeutungsvollen und nach Bedeutung ringenden Gewalten des gegenwärtigen Lebens in ihren Licht- und Schattenseiten poetisch zu gestalten und der Zukunft prophetisch und bahnbrechend vorzukämpfen«.28 Unmittelbar danach bestimmt Wolff »soziale, nationale, religiösphilosophische und litterarische Kämpfe« als »specifische Hauptelemente der gegenwärtigen Dichtung«.29 Soweit lässt sich also – wenig überraschend – an den »Zehn Thesen« ein naturalistisches Profil beobachten, das so schon viele Male für diese und andere frühmoderne Programmschriften festgestellt worden ist. Eugen Wolff verpflichtet die aktuelle Literatur auf soziale Verantwortung und weist ihr eine entscheidende Rolle
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
2. Die Moderne als Manifest
bei der »Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft« (These 3), also eine wichtige gesellschaftliche Verantwortung zu. Gerade dieser Aspekt führt – wenn man weiter abstrahiert – zu einer zentralen konzeptionellen Schlussfolgerung. Die ›gegenwärtige Dichtung‹ – um Wolffs eigene Wortwahl aufzugreifen – ist eben nicht nur zeitlich gesehen eine Dichtung der Gegenwart, also neueren Datums. Gedacht ist explizit an eine gegenwärtige Dichtung im Sinne einer sich ihrer gesellschaftlichen Aufgaben bewussten und verantwortlichen Dichtung und damit eine in ihrer Zeit verankerte bzw. für die Gegenwart relevante Dichtung. Das heißt konkret: Moderne Literatur in diesem Sinne ist nicht nur eine Literatur, die zum aktuellen Zeitpunkt bloß vorliegt. Es ist im Besonderen eine Literatur, die mit ihrer eigenen Zeit verschränkt ist, sowohl aus ihr »geboren« ist (These 3) als auch gleichermaßen wieder auf sie einwirkt. Diese Art von Literatur, die hier ›Moderne‹ heißt, lässt sich also erstens deskriptiv aus ihrer Zeit heraus erklären und ist zweitens normativ auf ihre Zeit verpflichtet. Daraus lassen sich verschiedene Schlussfolgerungen ziehen: Die Moderne muss zunächst einmal nicht auf die spätere Literaturgeschichtsschreibung warten, um zu einer Epoche zu werden. Sie kommt schon um 1900 als solche zur Welt und fungiert erst im nächsten Schritt als programmatischer Entwurf einer bestimmten Gruppe junger Literaten. Die Überblendung von rein deskriptiver (und in diesem Sinne: literaturwissenschaftlicher) Semantik und ästhetischer Programmatik wird zu einem Kernproblem des Moderne-Begriffs, der ihn bis heute schwierig macht, selbst wenn man sich darauf festgelegt hat, Erscheinungen ›moderner‹ poetologischer Konzeption vor der Begriffsprägung außer Acht zu lassen. Das ist aber nur die eine Seite. Die andere ist die: Der Begriff ›Moderne‹, wie ihn die »Zehn Thesen« profilieren, ist auf eine Handlungsanweisung hin konzipiert, die beide Seiten – die produktionsorientierten zeitgenössischen Autoren und Theoretiker einerseits, die die vorliegende Literatur beschreibenden Wissenschaftler andererseits – immer wieder ernst genommen haben und die deshalb mehr Aufmerksamkeit verdient. Für die diese ›lesende‹ und ordnende Perspektive lautet die Handlungsanweisung, das als moderne Literatur zu kategorisieren, was für die ›Gegenwart‹ relevant ist. Die Handlungsanweisung für die sich als modern verstehenden Dichter läuft demgegenüber darauf hinaus, eine Literatur erst noch zu schaffen, die für die eigene Zeit relevant ist, die Themen und Problemstellungen der Gegenwart aufzunehmen und nach Formen zu suchen, die ihnen gerecht werden. Damit ist in der (wenn man so will) ›ursprünglichen‹ literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen Moderne-Konzeption ein Verständnis des Epochenbegriffs angelegt, das die meisten gegenstandorientierten Betrachtungsweisen – nicht zuletzt mit Blick auf Johannes R. Becher – nicht mitdenken. Moderne ist in diesem Sinne ein Zukunftsentwurf, dessen praktische dichterische Einlösung erst angefangen hat; nicht so sehr über eine konkrete inhaltliche oder formale Charakteristik der zu verfassenden Werke bestimmt als durch die öffentlich zur Schau ge-
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stellte Haltung der Autoren, die zur Schaffung solcher Werke ansetzen. Man hat es mit einer verstärkten Relevanz der Inszenierung von literarischer Programmatik zu tun, die die konkrete Ausprägung der Dichtungen zweitrangig werden lässt. Das an sich ist nicht epochenspezifisch noch von individueller Distinktionskraft.30 Nichtsdestotrotz gelangt man, wenn man dieses Moment ernst nimmt, zu einem Moderne-Verständnis, das sich von der im jeweiligen kommunikativen Kontext entscheidenden Funktion ästhetischer Programme und Ausdrucksmittel ableitet, nicht von ihrem Erscheinungsbild. In diesem Sinne ist es dann in der Tat weniger entscheidend, »was die Moderne an sich ist« als »was als Moderne empfunden wird«, nur dass die Formel der ›gefühlten Moderne‹, die Georg Bollenbeck vorgeschlagen hat,31 noch zu wenig die Handlungsanweisungen betont, die aus diesem Gefühl folgen. Somit bleibt die ›Moderne‹ von 1886 letztlich sehr offen. Wenngleich die Kürze des Manifests dafür mitverantwortlich ist, ist die geringe Aussagekraft der »Zehn Thesen«, was die genaue ästhetische Umsetzung des Programms betrifft, doch auffällig. Nicht einmal eine Andeutung in diese Richtung findet sich. Zum Vergleich: Marinetti macht später mit wenigen Worten klar, dass die Schönheit der Technik höher anzusetzen ist als die der Antike, und ruft damit nicht nur das ›Neue‹ an sich aus, sondern gibt auch eine Richtung vor, in die man sich als Künstler zu bewegen hat. Ähnlich sind auch andere naturalistische Kurzschriften in der Regel konkreter in ihrem Forderungsprofil als der ›Moderne‹-Entwurf der Vereinigung Durch!. Die tatsächliche Füllung des Begriffs bleibt demzufolge späteren Ansätzen überlassen und sie kann wechseln, gehört also nicht zum Kernbestand dessen, was ›die Moderne‹ im Wesentlichen ausmacht. Mithin ist hier »eben jene Komplexität und Ambivalenz des Begriffs und Phänomens Moderne, welche die um sie geführte Diskussion nie haben abreißen lassen«, in der Tat angelegt.32 Wolffs Moderne-›Definition‹ (die natürlich im strengen Sinne keine ist), so muss man feststellen, macht Offenheit geradezu zum Programm der Moderne:33 In den »Zehn Thesen« zeichnet sich durchweg ein semantisches Profil des Begriffs ab, das sich auszuschöpfen lohnt, weil es mit Blick auf das, was in den folgenden sechs Dekaden ästhetisch passiert, eine sehr erhellende Beschreibungskategorie abgibt. Die zentrale Bestimmung von Moderne über ihren Gegenwartsbezug macht es möglich, dass die jeweilige Erfüllung der Forderung unabhängig von der generellen Moderne-Bestimmung wird. Die Moderne ist somit als flexibler Terminus konzipiert, mit dem sich auf veränderte Erfordernisse reagieren lässt, ohne die
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Vgl. eben Martus 2008. Bollenbeck 2007, S. 42. Becker/Kiesel 2007, S. 9. Das ist – unter terminologisch anderem Fokus – kein neuer Befund. Vgl. etwa Eco 1973.
2. Die Moderne als Manifest
übergeordnete Kategorie aufzugeben. Diese Anlage erst schafft die Epochenfähigkeit der Moderne und macht sie über den bloßen naturalistischen Kontext, dem sie entstammt, hinaus anschlussfähig, weil sich andere Strömungen – bei allen Differenzen zum naturalistischen Ursprung – in ihren Kernanliegen anschließen können. Man kann die wesentlichen Kriterien, über die eine gewisse Einigkeit besteht, hier allesamt angedeutet finden: Wolffs Moderne ist auf Innovation festgelegt (die sich sowohl auf den Inhalt als auf die Form beziehen kann),34 was den Bruch mit der älteren Literatur, vor allem mit dem bürgerlichen Realismus impliziert, und man erkennt die Anlage die Tendenz zum Stilwandel bzw. zum Stilpluralismus. Aber all das sind Elemente, die sich Ausdruck verschaffen müssen und erst dadurch, dass sie öffentlich werden, ihre Wirkung entfalten können. Nun liegt es einerseits zwar in der Natur der Textform ›Manifest‹,35 dass sich dieser Subtext notwendig aus den »Zehn Thesen« ergibt. Andererseits aber zeichnet sich hier ab, warum das frühe 20. Jahrhundert eine solch offenkundige Vorliebe für Manifeste aufweist: Die Moderne selbst beginnt im Kern als ein großes Manifest und sie existiert nur aufgrund der ständigen Ausstellung und – wie noch zu zeigen sein wird – biographischen Verbürgung ihrer Ansprüche durch die involvierten Künstler und Theoretiker. Sie ist etwas, worauf man hinarbeiten kann; der Wille, ›modern‹ zu sein, ist das entscheidende inhaltliche Element der ablaufenden Kommunikation. Folglich ist der Manifest-Charakter der literarischen Moderne und der mit ihr beschäftigten Autoren zentraler als die inhaltliche oder formale Erscheinungsform moderner Texte. Insofern ist es höchste Zeit, »die Moderne nicht ausschließlich über eine spezifische Schreibweise und Ästhetik, sondern auch an eine Haltung« zu knüpfen, allerdings nicht nur »der gesellschaftlichen Moderne gegenüber« und auch nicht allein im Sinne einer »kategorische[n] und permanente[n] Hinterfragung von Modernisierungsprozessen«.36 Versuche, die Moderne über spezifische Schreibweisen oder Inhalte zu definieren – und sei es nur punktuell –, machen notwendig das arbiträre Moment zum wesentlichen und verkennen damit den Kern des ›Phänomens‹:37 Zum Programm gehören der Anspruch auf ständigen Fortschritt und die Bindung an die eigene Zeit; die jeweiligen Ausprägungen dieser Forderung indes sind bloße Derivate des zugrundliegenden Konzepts, die zwar für den spezifischen historischen Zusammenhang von Bedeutung sind, aber nicht über ihre Reichweite hinaus verallgemeinert werden sollten. Aus literarhistorischer
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Vgl. dazu Blamberger 2007, S. 620. Vgl. dazu u.a. Vroon 1988; Asholt/Fähnders 2005; Spörl 2007. Becker/Kiesel 2007, 13. Vom Phänomen der Moderne zu sprechen, hat sich angesichts der Begriffsschwierigkeiten auch schon ein wenig eingebürgert. Vgl. am deutlichsten schon im Untertitel Becker/Kiesel 2007.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Retrospektive lässt sich entsprechend ein Rahmen finden, der die sonst sehr divergenten Strömungen der ›Moderne‹ überbrückt. Dies hat Konsequenzen für die zeitliche Verortung des Phänomens. Man kann – ausgehend von der hier dargelegten Moderne-Bestimmung – eine ästhetische ›Einheit‹ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkennen, die sonst völlig abwegig wäre, so sehr die Selbstbeschreibungen der Akteure als ›besondere Generation‹ die Konstruktion einer solchen Einheit erforderlich machen (2.2). In jedem Fall – sowohl zeitgenössisch-produktionsästhetisch als auch im epistemologischen Rückblick – verschiebt sich der Blick durch den abstrakten Fokus auf die eigene Zeit von der inhaltlich-formalen Bestimmung dessen, was Moderne ist, hin zu der Frage, was ein moderner Autor ist oder zu sein hat. Die Moderne wird aus dieser Perspektive etwas Erstrebenswertes: eine Meta-Bewegung, der sich der Einzelne unabhängig von seiner aktuellen Verortung innerhalb kleinerer Strömungen oder Trends zugehörig fühlt bzw. zuzuordnen bemüht ist. Damit liefert die Moderne ein Grundmuster, nach dem sich diverse und durchaus voneinander hoch verschiedene Narrative entwickeln können, die die Beziehung von Autor und Werk bzw. die Ausbildung einer bestimmten Autorpersona betreffen. Alle diese Narrative lassen sich für sich genommen beschreiben. Wichtig ist aber zu erkennen, was sie zusammenhält: die Orientierung auf die eigene ›Zeit‹, die Verbindung von Biographie und künstlerischer Produktion sowie die generelle programmatische Funktionalisierung beider Aspekte mit dem Ziel ›Moderne‹ (oder zumindest Aktualität) zu kommunizieren.
2.2
Zeitfragen
Das Grundproblem der Bestimmung der Moderne mit Blick auf Kunst und Literatur besteht darin, dass hier eine ganze Reihe unterschiedlicher und z.T. gegenläufiger Entwicklungen zu berücksichtigen sind, was Konsequenzen für die zeitliche Verortung der Epoche hat. Neben dem Vorschlag, die Moderne um 1800 beginnen zu lassen und bis ins 20. Jahrhundert fortzuführen,38 hat sich die Unterscheidung zwischen avantgardistischen Strömungen auf der einen Seite und den ›großen Einzelgängern‹ wie Hofmannsthal, Rilke oder Thomas Mann auf der anderen Seite etabliert, die man eher einer ›Klassischen Moderne‹ zuordnet.39 Während man (unter Ausschluss der Neoavantgarden) die Avantgarde auf die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beschränken kann, ist die Frage, wie die Klassische Moderne zeitlich genau zu verorten ist, schwieriger zu beantworten. Das gerne festgesetzte
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Japp 1987; Vietta 1992. Blamberger 2007, S. 620.
2. Die Moderne als Manifest
Zeitfenster zwischen ca. 1890 und 1930 bzw. 1933 ist vor allem, was sein Ende betrifft, immer wieder ausgeweitet worden, weil einzelne Autoren wie z.B. Alfred Döblin und Wolfgang Koeppen, eine Verschiebung der ›Epochengrenze”40 nach 1945 nahelegen.41 In den literarhistorischen Darstellungen wird diesem Zeitraum in der Regel nur sehr eingeschränkt ästhetische Kontinuität unterstellt, was einerseits tatsächlich künstlerisch-literarisch begründet ist – schließlich fallen in die Periode die zahlreichen Avantgarde-Bewegungen ebenso wie formal konservativere Ansätze, wie sie in den 1930er Jahren wieder entwickelt werden. Freilich orientiert sich die Literaturgeschichtsschreibung bei ihrer Binnengliederung gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts andererseits stark an außerästhetischen Ereignissen. Die Periodisierungen beziehen ihre Legitimation daraus, dass die Staatsformen und kriegerischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts schon deshalb nicht ohne Einfluss auf die Literatur bleiben, weil sie dazu führen, dass existierende Buchmarktstrukturen zerstört werden oder bestimmten Gruppen von Schriftstellern nicht mehr zur Verfügung stehen.42 Sowohl die nationalsozialistische Herrschaft als auch die deutsche Teilung haben zur Folge, dass Autoren ihr Herkunftsland verlassen und sich anderswo neu etablieren müssen. Hinzu kommen konkrete literaturpolitische Ausrichtungen und Zensurmaßnahmen, die besonders in der DDR unmittelbar auf die Form von literarischen Werken einwirken.43 Demgegenüber gibt es vonseiten der Kritik an einer zu stark an politischen Einschnitten orientierten Periodisierung den Vorschlag, die Phase zwischen 1930 und 1960 als Einheit im Sinne einer ›Modernen Restauration‹ zu beschreiben,44 weil sie sich durch eine Reihe durchaus ästhetischer Eigenheiten auszeichnet, die die drei Jahrzehnte verbinden und gleichzeitig klar von denen der 1910er und 1920er Jahre abgrenzen.45 Naturgemäß stellt sich bei dieser Vorgehensweise das Problem der Zuordnung konkreter Einzelwerke, die nicht selten quer zu den programmatisch ausgerufenen oder im Nachhinein von der Forschung ausgemachten Kategorisierungen stehen. Ist schon die Benennung der Literatur um 1900 ein terminologisches Problem, weiß man bis heute nicht, was eigentlich eine expressionistische Schreibweise im Kern ausmacht, weil die vorliegenden literarischen Zeugnisse durchaus unterschiedliche Strategien wählen: Die Lyrik einer Else Lasker-Schüler hat wenig mit der eines August Stramm zu tun; auch zwischen einem Prosastück wie Carl
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Ob man im Hinblick auf Moderne oder Klassische Moderne von einer Epoche sprechen sollte, ist ein anders Problem, weil es durchaus noch die Verwendung als Stilbegriff gibt. Vgl. im Einzelnen zu dieser Diskussion Kiesel et al. 2007, S. 29. Vgl. dazu Fischer/Wittmann 2012. Vgl. im Überblick Löffler 2011; Jones 2011. Parker et al. 2004. Vgl. Parker et al. 2004, S. 7f. im Anschluss an Schäfer 1977.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Einstein Bebuquin und Walter Hasenclevers Drama Der Sohn liegen Welten; trotzdem werden all diese Texte gemeinhin zum expressionistischen ›Kanon‹ gezählt.46 Mitte der 1920er Jahre und mit dem Hinzutreten der Neuen Sachlichkeit verbessert sich diese Lage kaum. Die Exilliteratur ist generell heterogen und mehr über den Aufenthaltsort ihrer Autoren bestimmt als über Ästhetik und Inhalt.47 Dass die Klassische Moderne 1933 endet, provoziert das Problem der Einordnung eindeutig an die Schreibweisen der Vorkriegszeit angelehnter Texte, die nach 1945 entstehen. Nicht alle davon entstehen außerdem auf dem Gebiet der (späteren) Bundesrepublik, sondern die SBZ und die frühe DDR kennen durchaus Alternativen zum ›Aufbauroman‹, auf dem der Fokus in den übergreifenden Darstellungen liegt.48 Nicht zuletzt ist auch die Grenze zwischen (Klassischer) Moderne und Avantgarde sowohl zeitlich als auch inhaltlich schwer bestimmbar. Dieser Vielfalt steht nun das eigentümliche Phänomen gegenüber, dass sich diejenigen, deren Lebens- und Werkdaten die in dieser Hinsicht so schwer zu erfassende Phase umfassen, ausgesprochen häufig über ihre Generationszugehörigkeit und die Zeit definieren, in der sie leben. Auf diese Weise wird eine diskursive Einheit geschaffen, wo auf den ersten Blick nur Heterogenität zu erkennen ist. Die Literaturgeschichtsschreibung hat sich seit jeher schwergetan, die zahlreichen Strömungen der ersten Jahrhunderthälfte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Schon am Anfang des Jahrhunderts entsteht das Bild einer »einmaligen Generation«, die gerade aus den großen Umwälzungen der Zeit ihren besonderen Status bezieht, weil die betreffenden Autoren, die am Anfang ihrer Karriere stehen, ihr Profil in einer auffälligen Vehemenz über das Generationenargument und die Repräsentativität ihrer Stimmen zu schärfen suchen. Der Grund dafür liegt in der auf die Jahrhundertwende projizierten Wahrnehmung, in einer Übergangszeit zu leben, die entsprechend mit den beiden Jahrhunderten identifiziert wird. Während das 19. Jahrhundert für alles Alte und Überholte steht – und dies umfasst so unterschiedliche Bereiche wie Wissenschaft, Politik, Moral oder Ästhetik –, wird das anbrechende Jahrhundert als Zeitalter etabliert, das all die etablierten Ansichten und Konzepte verwerfen und durch revolutionäre ›neue‹ Entwürfe ersetzen wird. Der Gegensatz zwischen der im Niedergang befindlichen »Welt von Gestern«49 und der antizipierten ›Welt von Morgen‹, bestimmt die Diskussionskultur weit vor dem später als Umbruchsmoment angesetzten Ausbruch des Ersten Weltkriegs
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Dies zeigt der Blick in immer wieder aufgelegte Standardanthologien und Einführungsbücher. Vgl. z.B. Viviani 1970; Martini 2003. Vgl. dazu Becker 2000. Dies gilt auch für die entsprechenden – und am ehesten einschlägigen – Passagen bei Emmerich 2009. Zweig 1992.
2. Die Moderne als Manifest
1914, nicht zuletzt dank dem Einfluss Nietzsches.50 Obwohl diese Phase spätestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten endgültig eine Revision erfährt, beendet das nicht das Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber der eigenen Zeit. Im Gegenteil definiert man sich, gerade im Exil, umso mehr über die eigene Herkunft und die eigene Generation, wenn man sein Schreiben nicht direkt in politische Kontexte stellt. Auf der einen Seite steht das klare Bekenntnis zum Wandel und zur Überwindung ›veralteter‹ Strukturen. Auf der anderen Seite führt aber die Unsicherheit darüber, worin das ›Neue‹ zu bestehen habe, insbesondere angesichts des schnellen Wechsels von Alternativkonzepten, seien sie politisch-gesellschaftlicher oder ästhetischer Natur, zu einer verstärkten Suche nach festen Werten, nach Halt und Identität. Monarchie und Religion werden in ihrem Absolutheitsanspruch negiert, um eine neue Großerzählung wie den Kommunismus, die alle Probleme beheben soll, an ihre Stelle zu setzen.51 Es ist dieser Habitus, der die Moderne zusammenhält und trotz der heterogenen Erscheinungsformen jene ›Einheit‹ des Zeitraums vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erzeugt, die die zeitgenössische Generationszuordnung tatsächlich auch anzeigt. Was aussieht wie ein Phänomen der Nachkriegszeit, geht de facto schon auf die Zeit um 1900 zurück. Naturgemäß hat der Nationalsozialismus nach 1945 zu einer verstärkten autobiographischen Reflexion der älteren Generation geführt, nachdem der Totalitarismus des Dritten Reichs »in einem aus Sicht der Zeitgenossen nie dagewesenen Maß biographiestrukturierend geworden« war.52 Tatsächlich sind die ›großen Entwürfe‹ auch außerhalb des Nationalsozialismus und vor 1933 diskursbestimmend. Seit den 1890er Jahren häufen sich die alternativen Welt- und Lebensentwürfe, die das Stichwort ›Lebensreform‹ nur annähernd erfasst,53 und Gruppenbildungen, die die verschiedenen (prä-)avantgardistischen Strömungen ebenso betrifft wie die ›Kommunenbildung‹ der Weltverbesserer und Propheten, wie sie sich in Gruppen wie dem St. Georg-Bund, der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft oder eher ästhetisch-literarischen Zirkeln wie dem George-Kreis oder dem Friedrichshagener Dichterbund zusammenfinden. Diese besondere Selbstinszenierungspraxis basiert auf der zunehmenden Erfahrung von Kontingenz und ästhetischer Disparität, die die Ablehnung der ›alten‹ Kunstideale mit Beginn des ›neuen‹ Jahrhunderts freigesetzt hat. Das Einschnittsbewusstsein der Jahrhundertwende ermöglicht die Abkehr von einer bekannten und festgelegten Vergangenheit zugunsten einer Zukunft, die noch zu gestalten 50 51
52 53
Vgl. literarisch auch Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902 (Glaeser 2015). Aus dieser Perspektive erklärt sich nicht zuletzt der pseudoreligiöse Charakter der eigentlich atheistisch geprägten kommunistischen oder sozialistischen Gesellschaften. Vgl. dazu Ryklin 2008. Friedrich 2000, S. 2. Vgl. Buchholz et al. 2001.
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ist, was zum bekannten Anstieg programmatischer Texte und Manifeste führt. Ähnlich wie die Jahrhundertwende an sich entweder als Hoffnung auf Verbesserung begrüßt oder als Gefahr gefürchtet wird, erweist sich dieses Element als janusköpfige54 Erscheinung, die gleichermaßen Freiheit und Zwang impliziert: Die junge Generation von Künstlern erhält die Gelegenheit, eigene ›neue‹ Standards zu setzen und ›ihr‹ Jahrhundert zu entwerfen; sobald das ›Alte‹ freilich nicht mehr gilt, schlägt diese Chance in Zwang um, der sich verstärkt dadurch, dass die entstehende Pluralität ästhetischer Richtungen eine Konkurrenzsituation schafft, die den Einzelnen drängt, Farbe zu bekennen – und zwar umso mehr, als das Phänomen kein rein ästhetisches ist, sondern im Bereich von weltanschaulichen und politischen Fragen analog abläuft und entsprechende Verschränkungen mit ästhetischen Fragestellungen produziert. Die enge Verknüpfung von Kunst und Leben in diesem Sinne hat nun als weitere Konsequenz, dass die Entwicklung nicht bei einer grundsätzlichen Zunahme des programmatischen und konzeptionellen Bewusstseins innehält. Die Frage, welcher (ästhetischen) Richtung man anhängt, erhält unmittelbare gesellschaftliche Bedeutung, weil die Kunst die Welt des 20. Jahrhunderts mitgestalten soll, mindestens aber Schritt zu halten hat. Obwohl die Aufkündigung des großen Narrativs des 19. Jahrhunderts, wie man es um 1900 gerne retrospektiv als Singular konstruiert, Pluralität hervorbringt, ist das Ziel, das den Akteuren für die anbrechende Epoche vorschwebt, nicht die Aufhebung allgemeiner Standards an sich. Die utopischen Entwürfe gerade politischer Natur laufen vielmehr darauf hinaus, das ›alte‹ Raster durch ein ›neues‹ und besseres Zukunftsmodell zu ersetzen. Die Vielfalt konkurrierender Entwürfe zu Beginn des Jahrhunderts wird nicht als solche begrüßt, sondern als zu überwindendes Übergangsstadium als defizitär empfunden: als Phase der Selbstfindung, in der sich eine einzige Lösung als die richtige herausbilden wird. Entsprechend scharf und polemisch ist die Abgrenzung der einzelnen Strömungen voneinander. Denn der programmatische Zwang läuft stets auf Überindividualität hinaus. Dabei ist aber nicht nur an die Bildung von (Künstler-)Kreisen zu denken, deren Zielsetzungen oft genug viel größer sind und auf die Transformation der gesamten Gesellschaft bzw. der Kunst an sich hinauslaufen. Überindividualität bedeutet deshalb vor allem: Identifikation mit der eigenen Generation, der eigenen Zeit, dem eigenen Jahrhundert.55 Tatsächlich lässt sich deshalb insofern eine ›Einheit‹ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konstruieren, als die Strategien der Selbsterzählung von Autorschaft und der Fundierung von Kunst im Leben des Künstlers dieselben bleiben. Die geforderte Verbindung von Kunst und Leben reagiert auf ein Defizitempfinden, das 54 55
Der Topos hält sich vor allem für die Jahrhundertwende. Vgl. etwa Kimmich/Wilke 2016, S. 84. Dabei erfolgt diese Zuordnung oft auch aus dem Rückblick, so bei Glaeser und Zweig (Glaeser 2015; Zweig 1992).
2. Die Moderne als Manifest
Kunst – zumindest in ihren alten Formen – nicht mehr für zeitgemäß erklärt. Wer also noch ein Dichter sein will, der muss Wege finden, um seine Werke relevant zu halten. Die Lösung kann u.a. in formalen Innovationen bestehen, die mit der technischen Entwicklung mithalten, in der Aufkündigung von Traditionsbezügen, im Ausrufen einer politisch agitatorischen Dichtung oder in der Bezeugung dessen, was geschehen ist – alle diese Varianten finden sich im 20. Jahrhundert und sie finden sich in den unterschiedlichen Phasen von Bechers Werk. Die die folgenden Ausführungen leitende Beobachtung besteht somit darin, dass sich die Prämissen des Schreibens wie der damit verbundenen Rolle des Autors innerhalb der betreffenden Jahrzehnte nicht wesentlich ändern, obwohl die Inhalte und die für gut befundenen Ausdruckweisen alles andere als konstant sind. Mit Blick auf die Frage von Autorschaftskonzeptionen liegt die Wurzel der Moderne in der um 1900 ausgerufenen Einheit von Kunst und Leben. Auf der einen Seite provoziert die neue Lage eine Zunahme von individuellem Entscheidungsspielraum; andererseits muss diese Individualität Relevanz für die anbrechende Zeit besitzen: Sie hat sich von dem ›überholten‹ bildungsbürgerlichen Konzept des 19. Jahrhunderts abzusetzen, soll sich aber auch gegenüber den ›neuen‹ ästhetischen Parallelströmungen als konkurrenzfähig erweisen und letztlich ›besser‹ als diese den Weg in die Zukunft ebnen. Nicht einzig die Literatur, die ein Autor hervorbringt, muss zu seinem Programm passen; seine ganze Erscheinungsweise, seine Biographie muss hinreichend ›typisch‹ sein, um die Autorität zu verleihen, für sein Jahrhundert zu sprechen. Das Leben des einzelnen, aber gleichsam ›typischen‹ Schriftstellers wird relevant, weil es in allen Umbrüchen und Krisen die Orientierung und den Zusammenhalt verbürgt, den die Moderne (im Gegensatz zur Postmoderne) noch nicht aufgeben will. Spezifisch modern wird diese Konstellation dadurch, dass die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts das Narrativ der Autorentwicklung in den Plural setzt und so die bereits angesprochene Paradoxie aus Wechselhaftigkeit und Repräsentativitätsstreben hervorbringt. Nicht nur treten generell verschiedene Ansätze nebenund nacheinander in Konkurrenz, die alle das Ziel haben, das neue große Narrativ des neuen Jahrhunderts zu prägen und sich gegen andere Neuentwürfe durchzusetzen, sondern der Wechsel von einer Strömung zur nächsten wird für den Einzelnen biographiestrukturierend. Wenngleich kaum ein Fall so radikal ist wie der Bechers, sind Stilwechsel gerade im Übergang von den 1910er in den 1920er und 1930er Jahre keine Seltenheit.56 An dieser Stelle ist es Zeit, noch etwas mehr zum Verhältnis von Moderne und Avantgarde zu sagen, das als Problematik hier bereits eine ganze Weile mitschwingt. Auf der einen Seite lassen sich wesentliche Grundbeobachtungen, die für die Avantgarde formuliert worden sind, über ihren zeitlichen Kern (die 1910er und 56
Vgl. im Überblick Kiesel 2017.
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1920er Jahre) hinaus beobachten. Dies gilt insbesondere dann, wenn man – allen Kritikpunkten zum Trotz57 – die Kernthesen von Peter Bürgers Avantgardetheorie heranzieht, die das Feld in hilfreicher Weise vorsortieren. Denn Bürger beschreibt die historische Avantgarde als antibürgerliche künstlerische Bewegung, die sich in Abgrenzung von der klassisch-romantischen Autonomieästhetik58 wieder im ›Leben‹ verankern will. Dabei zielt Bürger weniger auf einen ›gesellschaftlich bedeutsamen‹ Gehalt der Werke ab als auf den »Funktionsmodus der Kunst innerhalb der Gesellschaft«.59 Das freilich verträgt sich recht gut mit der eingangs herausgestellten Profilierung der Moderne durch die naturalistischen Thesen der Vereinigung Durch!. Nimmt man Wolffs Ausführungen in den »Zehn Thesen« vergleichend hinzu, wird sowohl für die Moderne im Sinne Wolffs als auch für die historische Avantgarde, wie Bürger sie beschreibt, eine gemeinsame funktionale Bestimmung sichtbar, die nicht über konkrete Inhalte oder ästhetische Verfahrensweisen erfolgt, sondern Kunst über Gegenwartsrelevanz bestimmt. Dies heißt, dass Kunst aktuell und innovativ sein muss, zum anderen, dass sie einen Lebensbezug braucht, also ›relevant‹ sein muss. Dieser Parallelen ungeachtet lässt sich nicht leugnen, dass um 1930 (nicht nur bei Becher) eine Abkehr von avantgardistischen Schreibweisen und der damit verbundenen antiinstitutionellen Protesthaltung zu bedenken ist. Aus dieser macht es Sinn, auch hier an der Unterscheidung zwischen Avantgarde und Moderne festzuhalten, weil die Avantgarde der 1910er und 1920er Jahre im Rahmen der artikulierten Selbstbeschreibungen der Akteure zu einem Referenzraum avanciert, der über bestimmte Elemente definiert wird. Diese sind im Kern sprachexperimenteller und antibürgerlicher Natur, während an den anderen Grundfesten, vor allem an dem hier so wichtigen Postulat der Gegenwartsrelevanz von Kunst und Literatur mit ihrer doppelten Ausrichtung auf die eigene Zeit einerseits und auf eine Verankerung von Kunst in der Lebenswelt andererseits nicht gerüttelt wird. Deshalb erscheint es sinnvoll, diese Kategorien eher dem Begriff der Moderne zuzuschlagen, zumal sie schon aus Eugen Wolffs Prägung des Terminus ableitbar sind und insofern nicht der historischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts im Sinne Bürgers allein eignen. Das erklärt die Rede von einer einheitlichen Generation, deren konträre ästhetische Füllung auf ein biographisch fundiertes Meta-Entwicklungsnarrativ gebracht werden kann: Demnach wird die Avantgarde dem ›Frühwerk‹ und der ›Jugend‹ zugeschlagen, die Abkehr von ihr mit einem ›Reifeprozess‹ oder ›Spätwerk‹ assoziiert.
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59
Vgl. insb. van den Berg 2005. Bürger selbst hat die Romantik weniger im Blick und bezieht sich vorrangig auf Kant und Schiller. Demgegenüber hat die Forschung der letzten Jahrzehnte auf die Parallele zwischen Klassik und Romantik in diesem Punkt hingewiesen. Vgl. kondensiert Meier 2008. Bürger 1999.
2. Die Moderne als Manifest
Wenn man die daraus resultierenden einzelnen Untererzählungen von der Entstehung von Autorschaft als Versuch der Relevanzsicherung von Kunst zugrunde legt, lässt sich die Vielzahl an ästhetischen Entwürfen besser verstehen. Denn sie werden so als Reaktionen auf Veränderungen sichtbar, auf die Kunst antworten muss, will sie sich nicht selbst obsolet machen. Die Angst vor dem Relevanzverlust von Kunst und Literatur zwingt die Künstler in logischer Konsequenz in Strategien der Selbstkanonisierung bzw. der Vermarktung ihres eigenen Werdegangs als repräsentativ.
2.3
Moderne und Autorschaft
Obwohl die Diskussion um den Autor, seinen Habitus und seine Strategien zur Selbstvermarktung bzw. Erzeugung einer ganz spezifischen öffentlichen Persona gerade in der jüngeren Folgediskussion um den ›Tod des Autors‹ eine wissenschaftliche Blütezeit erlebt hat (Stichwort: »Rückkehr des Autors«60 ), ist die Moderne – im Sinne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht unbedingt der wichtigste Schauplatz, auf dem sich entsprechende Feldstudien abspielen. Der Fokus liegt sehr viel stärker auf der zweiten Jahrhunderthälfte und auf dem aktuellen Gegenwartsroman. Eine Ursache dafür ist nicht zuletzt die Popularität des von Serge Doubrovsky 1977 einführten Begriffs der ›Autofiktion‹, der sich für die Analyse der aktuellen literarischen Produktion als recht ergiebig erwiesen hat.61 Wenn die Forschung zu Autorschaftskonzeptionen historisch wird, fällt der Blick vorzugsweise auf die Geniedebatten des 18. Jahrhunderts, mit denen der Autor als individueller Schöpfer seines Werks erst greifbar wird.62 Steffen Martus’ Werkpolitik mit ihrem weitspannenden epochenübergreifenden Ansatz nimmt zwar das 19. Jahrhundert in den Blick, bricht aber, indem sie nur bis zu Stefan George reicht,63 genau da ab, wo es für den hiesigen Zusammenhang interessant wird: zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die zunehmende Pluralität ästhetischer wie politischer Richtungen Autoren zur Offenlegung der eigenen Positionen und damit zur programmatischen Stellungnahme und Selbstverortung zwingt.64 Dabei ist der Ausgangspunkt der sich daraus ergebenden Positionierung zunächst in der Regel »die Selbststilisierung des Künstlers zum Priester, Propheten, Heiligen und Messias«.65 Von diesem Punkt ausgehend entwickelt sich in der ersten Jahrhunderthälfte eine durchaus 60 61 62 63 64 65
Jannidis et al. 1999. Vgl. Wagner-Egelhaaf 2013. Vgl. Schmidt 2004. Martus 2008. Ein der wenigen Ausnahmen bildet der argumentativ aber ganz anders angelegte Aufsatz von Schärf 2007; Peck/Wolf 2017. Künzel 2007, S. 14.
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recht aufschlussreiche Vielfalt von medial kunstvoll in Szene gesetzten ›Autorposen‹, die sich hervorragend an den existierenden Fotografien von Thomas Mann, Stefan George oder Bertolt Brecht studieren lassen.66 Dass gerade diese drei Autoren hier immer wieder herangezogen werden, hat gute Gründe, führt aber dazu, dass sich das Bild vom ›modernen Autor‹ als Typ sehr stark auf die Tendenzen konzentriert, die sich bei Mann, George und Brecht finden lassen. Nun ist Becher kein Autor, der sich als Person entzieht, sondern einer, der (zumindest vom Inszenierungsgestus her) zeitlebens daran arbeitet, das von ihm öffentlich kursierende Bild und die tatsächliche vorhandene Lebensrealität, den eigenen Charakter, in Übereinstimmung zu bringen.67 Gerade dieser Aspekt macht ihn zu einem erhellenden Gegenstand, um der Diskussion um moderne Autorschaft eine weitere Dimension hinzuzufügen. Dabei ist weniger die Ausweitung der Inszenierungspraktiken auf ›neue‹ Medien68 von Bedeutung als die existentielle Dimension des Phänomens, das sich (aus gutem Grund) ›altmodisch‹ auf den dichterischen Ausdruck konzentriert und dessen ›Modernität‹ behauptet: Da sich die äußeren Gegebenheiten – etwa die technische Entwicklung, mit der die Kunst den Avantgarde-Manifesten nach Schritt halten soll – ständig ändern, müssen einerseits die artikulierten Positionen immer wieder aktualisiert werden. Dies sorgt für den beobachteten Wandel (›Wiederanders‹) und erhöht das konzeptionelle Bewusstsein. Darüber hinaus jedoch erzeugt diese Folie andererseits einen starken Zwang zur Anpassung der eigenen Person an die äußeren Gegebenheiten bzw. die ideologische Folie, auf der diese wahrgenommen werden, und begründen den Legitimierungsbedarf des eigenen Tuns – vor allem aber der Existenz als Dichter. Indem der Inszenierungsdruck mit der Suche nach festen Werten und überindividueller Relevanz einhergeht, wird das Auseinanderfallen zwischen öffentlicher und privater Person, wie es die 1950er Jahre kennzeichnet, zum zentralen Problem, dessen Lösung nicht mehr ohne Weiteres gelingt. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine Terminologie, die die poetologischen Grundlagen modernen Schreibens weniger über feststehende Merkmale oder Schreibweisen definiert als vielmehr über die Prämissen, auf Basis derer diese Merkmale und Schreibweisen je nach Veränderungen der Lage stets neu ausgehandelt werden müssen; so verschiebt sich der Fokus vom Gegenstand auf seine Entstehung, vom literarischen Text auf dessen Einbindung in die Erzeugung der Autorpersona seines Verfassers. Die Verknüpfung von Kunst und Leben hat zur Folge, dass Texte dazu herhalten müssen, das Narrativ, das ein bestimmter Autor der
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Vgl. dazu Fischer 2015. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind auch die Ausführungen von Sorg 2013 über Robert Walser. Dies unterscheidet ihn wesentlich von – aber bei weitem nicht nur – Brecht (vgl. dazu Knopf 2008). Vgl. dazu vor allem Gisi/Meyer/Sorg 2013.
2. Die Moderne als Manifest
Öffentlichkeit von sich selbst vermitteln möchte, zu belegen oder gar erst zu erzeugen. Das Konzept der Autofiktion, so wie es Eingang in die literaturwissenschaftliche Diskussion gefunden hat, ist eine Möglichkeit, diesen künstlichen Graben zu überbrücken. Für die Texte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hilft es indes wenig weiter – zumindest, wenn man die hinreichend konkrete Bestimmung als »Gattungshybride zwischen Roman und Autobiographie«, bei der »Namensidentität von Autor, Erzähler und Protagonist[]« besteht, nicht zugunsten einer vageren Bestimmung des Terminus aufgeben will.69 Der Fall Becher ist hier anders gelagert, weil die fiktionalen Texte zwar mitunter Anspielungen auf den Namen des Autors enthalten, aber – vor allem im Hinblick auf den Nachnamen – doch keinen autobiographischen Pakt anklingen lassen. Trotzdem sind die Parallelen zwischen Werk und Realität nicht nur deutlich markiert. Die Gedichte, Dramen und Romane haben darüber hinaus einen ganz besonderen Status, weil sie als Kunstprodukte daran mitarbeiten, ein in der Lebenswirklichkeit wirkendes Bild von ihrem Verfasser zu erzeugen und zu verbreiten, das in Teilen über die Identifikation von Autor und Figur funktioniert. Sie schaffen zunächst also Narrative, die den Charakter und die Entwicklung ihres Autors für die Öffentlichkeit vermitteln sollen. Dies gibt ihnen bereits eine andere Funktion, als sie die autofiktionalen Texte des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts häufig haben. Der Unterschied wird umso markanter, wenn man die psychologische Dimension dieses Schreibverfahrens hinzuzieht, die es durchaus gibt, denn der Fokus auf den auszustellenden ›Charakter‹ des Künstlers weist den literarischen Arbeiten die Funktion zu, Erklärungen und sogar Rechtfertigungen für das eigene Handeln zu formulieren. Die Verschränkung von Kunst und Leben ist damit nicht so sehr (bzw. nicht nur) spielerischer Natur noch lässt sie sich allein über das rationale Kalkül einer Inszenierung nach außen beschreiben. Stattdessen wird die Relevanz des eigenen Schreibens wie der Kunst überhaupt unmittelbar durch ihre Koppelung an die Lebenswelt – und damit an die eigene biographische Erfahrung – begründet. Dies lässt an das Konzept des Self-Fashioning, wie es Stephen Greenblatt für die Renaissance vorstellt hat, denken.70 Auch in diesem Fall dient Literatur – neben anderen ausstellbaren Attributen wie Kleidung, Waffen etc. – der Etablierung einer sozialen Rolle bzw. der Kommunikation einer Zuordnung des Einzelnen zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht (oder der Abgrenzung von einer bestimmten Schicht). So taucht Literatur zunächst auf der Rezeptionsseite auf – etwa in dem Sinne, dass man die eigene Belesenheit ausstellt und sich somit als Angehöriger einer höheren Klasse präsentiert. Hier geht es um etwas anderes, das aber dennoch aus Greenblatts Theorie ableitbar ist: nämlich um die Tatsache, dass die 69 70
Ott/Weiser 2013, S. 7. Greenblatt 1980.
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Literatur bzw. die Art von Literatur, die man schreibt, das entscheidende Signal (andere mögen hinzukommen) für die Etablierung der eigenen Identität wird – und zwar sowohl als Autor wie als Mensch. Die Grundlage dessen ist einmal der Gegensatz zwischen Künstler und Gesellschaft, der sich im späten 18. Jahrhundert als Leitdiskurs ausbildet, dann aber vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder stark in Mode kommt. In dem Moment, in dem das Künstlertum eine Gruppenidentität wird, die sich in Opposition zum Rest der (gut-)bürgerlichen Welt versteht und sich mit anderen ›Ausgestoßenen‹ (Kranken, Irren, Prostituierten etc.) identifiziert, ist die Zuordnung zu dieser sozialen Gruppe entscheidend, die Abgrenzung von der sonstigen Bevölkerung Pflicht. Diese Zuordnung bzw. Abgrenzung kann nun aber nicht hinreichend dadurch markiert werden, dass man sich einfach nicht länger an die moralischen Vorstellungen hält, die als Leitlinien ausgegeben werden. Denn dann bleibt die Abgrenzung eine bloße (Selbst-)Ausgrenzung, weil die Legitimität der ›herrschenden‹ Meinung unangefochten weiterexistiert und Ausnahmen die Regel bestätigen. Um durch den Bruch mit den Konventionen (Gruppen-)Identität zu schaffen, bedarf es darüber hinaus eines kommunikativen Aktes, der diese Konvention aufkündigt. Es bedarf also des Manifests, der Provokation, des Skandals,71 damit aus der Ausgrenzung (bei der die Gesellschaft Handelnder ist, die Außenseiter Opfer) Abgrenzung wird und sich die Rollen in ihr Gegenteil verkehren (die Gesellschaft bleibt passiv, die Außenseiter handeln). In diesem Sinne kommt der Literatur (bzw. der Kunst generell) die Funktion zu, den Akt der Zuordnung bzw. Abgrenzung zu kommunizieren. Sie lenkt erstens die Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit auf das Individuum, das sein Leben außerhalb der bürgerlichen Normen als bewusste Entscheidung, als aktives Handeln präsentiert. Dieser Schritt ist notwendig, um den Einzelnen überhaupt sichtbar zu machen und um sein individuelles Handeln in eine Provokation umzuwandeln, die die Gesellschaft um ihn herum aufregt. Es ist diese besondere Stellung des Künstlers (bzw. der Künstler) innerhalb der Gesellschaft, die für die gesamte erste Jahrhunderthälfte von Bedeutung ist. Denn sie lädt die Begriffe ›Künstler‹, ›Autor‹ und ›Kunst‹ bzw. ›Dichtung‹ oder ›Literatur‹ mit einer Gesellschaftsrelevanz auf, die sich nicht darauf beschränkt, ›aufklären‹, agitieren oder sonst irgendwie wirken zu wollen. ›Kunst‹ zeichnet sich durch ihren immanenten Realitätsbezug aus – unabhängig von den konkreten ästhetischen Mitteln oder Zielsetzungen, die sie begleiten. Für alle modernen Autoren gilt deshalb im Kern, dass sie ihre Arbeit als wichtig verstehen – selbst, ja gerade dann, wenn sie so etwas wie ein l’art pour l’art ausrufen und Kunst nur um ihrer selbst willen betreiben wollen. Diese Ansage provoziert schließlich deshalb, weil sie an die Gesellschaft als Ganze adressiert ist und sich von dieser lossagt. Im Hinblick
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Vgl. dazu Görner 2007.
2. Die Moderne als Manifest
auf die Bedeutung von Kunst und Literatur sind die Grundannahmen der ›autonomen‹ Poetiken dieselben wie die der ›engagierten‹. Denn beide gehen gleichermaßen davon aus, dass Kunst von der Gesellschaft nicht ignoriert werden kann; beide formulieren Kunst als Angriff auf die gegenwärtige Gesellschaft, in der sie entsteht: entweder als Enklave innerhalb dieser oder als Programm mit revolutionärem Potential. Kunst ist also in diesem Sinne immer ein Statement im Hinblick auf die Welt um sie herum und wird von dieser als solches ernstgenommen. Hinzu kommt noch, dass das Künstlertum aus dieser Perspektive mit dem Attribut des ›Neuen‹ versehen ist, während die bürgerliche Gesellschaft, von der man sich absetzt, als rückschrittlich empfunden wird. Dies setzt die Künstler unter einen enormen Innovationsdruck. Es greift hier zu kurz, wenn man bei diesem Punkt allein an die formalen Innovationen der avantgardistischen Ismen denkt. Das Problem geht tiefer: Wenn Kunst so gedacht wird, dass sie eine gesellschaftsrelevante Aussage macht, dann ist sie gezwungen, auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Nun ist die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wegen der technisch-wissenschaftlichen Einschnitte, vor allem jedoch aufgrund der zahlreichen Kriege und Krisen eine Zeit mit besonders markanten politischen und weltanschaulichen Umbrüchen. Die Gesellschaft, in der man sich als Künstler im Kaiserreich abgegrenzt hatte, existiert schon bald nicht mehr, verschiedene ästhetische Richtungen treten in Konkurrenz zueinander usw. Das aber hat wiederum zur Folge, dass das Narrativ, mit dem der Künstler Biographie und Ästhetik logisch verknüpft hatte, immer wieder neu geschrieben und an die veränderten Gegebenheiten angepasst werden muss (sofern nicht ein früher Tod im Einzelfall der Produktion ein Ende gesetzt hat). Auch aus diesem Grund lässt sich Moderne so schwer über ihren Inhalt definieren, weil dieser ständig wechselt und den Funktionen unterworfen ist, die er innerhalb des Self-Fashioning seines ›Benutzers‹ zu erfüllen hat. In der Konsequenz ist es sinnvoller, moderne Autorschaft über die Zwänge und Praktiken zu beschreiben, die für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts so auffällig sind und die das bisher Herausgearbeitete noch einmal auf den Punkt bringen sollen: a) Zwang zur Verbindung von Werk und Leben Zunächst ist Kunst bzw. Literatur durch diese Koppelung an die Gesellschaft eine Lebensform, kein bloßer ästhetischer Ausdruck. Die explizite Zuordnung des einzelnen Künstlers muss von ihm immer wieder in einer Art und Weise mitgeteilt werden, die der Welt klar macht, dass er ein Künstler ist. Dies geschieht über die Wahl bestimmter künstlerischer Ausdrucksformen, vor allem aber durch die Erzeugung einer Kongruenz zwischen dem, das die Kunst ausdrückt, und dem Leben, das ihr Erschaffer führt. Wenn Kunst etwas ist, was sich etwa von den gängigen (bürgerlichen) Moralvorstellungen absetzt, versteht es sich von selbst, dass der Künstler zumindest vorgeben muss, selbst kein
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Geld zu haben, in unehelichen Beziehungen zu leben etc.72 Ohne diese Übertragung auf das eigene Leben ist die Absage an die Restgesellschaft nur eine halbe, weshalb es um 1900 beliebt wird, genau diesen Weg einzuschlagen. Kunst und Leben gehören zusammen. Der Künstler muss sein Werk vertreten und durch seine Biographie quasi ›beglaubigen‹, denn nur so lässt sich die gesellschaftliche Relevanz der Kunst absichern: Nur dann, wenn das, was auf dem Papier steht, auch zu einem gewissen Grad gelebt wird, fühlt sich die restliche Gesellschaft in ihrer Existenz bedroht und provoziert. Damit freilich wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit, das eigene Künstlertum biographisch in Szene zu setzen. Man muss sich bewusst innerhalb der Kunst (bzw. einer bestimmten künstlerischen Richtung oder Gruppe) verorten, man muss dies öffentlichkeitswirksam tun und stimmige Narrative schaffen, die die Entscheidung ›lebensecht‹ werden lassen. b) Innovationsdruck Die zweite Prämisse des modernen Künstlertums ist der Zwang zur ständigen Innovation. Gemeinhin versteht man darunter die bekannte avantgardistische Variante, dass bereits die Kunst von vor zehn Jahren veraltet ist73 und der Künstler ständig auf der Suche nach neuen (radikaleren) Ausdrucksformen zu sein hat. Wenn man den Innovationsdruck der Moderne jedoch nur in diesem engen Sinne betrachtet, übersieht man leicht, dass er auch noch am Werk ist, wo auf der (sprachlichen) Oberfläche gar keine Innovation (etwa im Sinne einer Durchbrechung der Erwartungen oder einer ›neuen Grammatik‹) mehr stattfindet. Wie sich an den bisherigen Ausführungen zeigt, reicht der Zwang zur Innovation aber noch in weit tiefer liegende Schichten. Die Forderung, immer die neuesten ästhetischen Errungenschaften aufzugreifen bzw. alles bisher Dagewesene durch Experimente und Erfindungen zurückzuweisen, basiert auf einer Einstellung zur Kunst (und zum Verhältnis von Kunst und Lebenswelt), die auch dann noch Bestand hat, wenn sich die Oberflächen-Avantgarde schon erschöpft hat. Denn die Grundidee besteht ja darin, künstlerische Produktion nach den aktuellen Entwicklungen oder Bedürfnissen der Zeit wie der Gesellschaft auszurichten, die außerhalb der Kunst existieren. Sie basiert also auf der Prämisse, dass Kunst und Leben zusammengehören – wie auch immer sich die Ausprägung im Einzelnen gestalten wird. Nimmt man diese Fortschrittsorientierung ernst, wird das moderne Potential von Entwicklungen sichtbar, die auf den ersten Blick eher wie eine Rücknahme der Moderne und die Rückkehr zu ›konservativeren‹ Schreibweisen erscheinen. Bezieht man diese Tendenzen in die Moderne-Diskussion ein – und zwar nicht nur als ›Anti-Moderne‹ oder ähnliche Oppositionsmodelle74 –, hat man nicht nur
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Das ist auch wesentliches Signum der Boheme-Kultur einer Franziska von Reventlow. Vgl. Reventlow 1903. Marinetti 1912, S. 829. Vgl. dazu umfassend Pöthe 2011.
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das Problem gelöst, dass die ›Klassische Moderne‹ eines Thomas Mann nichts mit den Aktionen eines Hugo Ball zu tun hat. Man kommt auch schlichtweg zu einer stimmigeren Einschätzung der Lage. Warum so viele Autoren, die vorher alles umstürzen und eine ganz neue Literatur schaffen wollten, auf einmal wieder Goethe und Gottfried Keller lesen, lässt sich bisher nur anthropologisch plausibel machen in dem Sinne, dass das Frühwerk eines Schriftstellers eben immer radikaler sei als das Spätwerk, weil der jugendliche Übermut mit den Jahren einer ›reiferen‹ durchdachteren Weltsicht Platz mache.75 c) Zwang zur programmatischen Selbstverortung Aufgrund ihres permanenten Innovationsdrucks76 kommen die Schreibweisen der Moderne kaum je ohne programmatischen Überbau aus, der die gewählten ästhetischen Entscheidungen begründet und kontextualisiert. In dem Maße, in dem sich die Innovationszyklen verkürzen, steigt der Bedarf an programmatischer Verortung automatisch mit: Solange es nur ›eine‹ homogene Gesellschaft gibt, von der man sich absetzen kann, reicht es im Prinzip, sich als Künstler zu geben und in den eigenen Werken gegen den geltenden Geschmack zu verstoßen. Freilich ist diese ›eine‹ Gesellschaft eine Konstruktion derer, die sich von ihr abgrenzen. Der Abgrenzung muss also eine entsprechende Erklärung vorangehen, damit sie nicht bloße Ausgrenzung bleibt. Der bloße Übergang zu anderen Schreibweisen ist wenig wert, wenn man der Gegenseite die Deutungshoheit überlässt. Genau deshalb steht am Anfang fast jeder modernen Unterströmung mindestens ein konstituierendes Manifest, dem häufig gar keine passende künstlerische Produktion mehr folgt. Das aber hat zur Folge, dass man sich als Künstler eben nicht nur von der Bourgeoisie absetzen muss, sondern es zu einer Temporalisierung der eigenen künstlerischen Produktion kommt, die ins Biographische übergreift. Denn indem der Künstler lebt und älter wird, altert auch sein ehemals radikal neues ästhetisches Konzept mit. Dann kann man das Feld entweder Jüngeren überlassen oder man ist gezwungen, auf der Basis des eigenen Frühwerks eine entsprechende Aktualisierung vorzunehmen, um die eigene Produktion zeitgemäß zu halten. Es ergibt sich also für den individuellen Künstler immer wieder Bedarf, das eigene Tun zu begründen und das ›Zeitgemäße‹ daran offen zu legen. Dabei schärft die hiermit entstehende Konkurrenzsituation ›neuer‹ Ansätze den Blick der Akteure für ihren eigenen Standort. In einer solchen Lage ist es allein aus Gründen der Übersicht nötig, dass der einzelne Künstler oder Schriftsteller sich klar macht, wie er zu der gesamten Lage steht, welche Ansätze er als produktiv und für ihn selbst einflussreich aufgreift und welche nicht.
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Vgl. zum Spätwerk Bechers im Besonderen Ziemann 1989; Ziemann 1992. Vgl. Fischer 2015, S. 578.
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d) Zwang zur Repräsentativität Der Anspruch des Einzelnen geht nicht erst aus der Retrospektive der 1940er und 1950er Jahre dahin, »ein typisches und repräsentatives Exemplar des modernen Schriftstellers zu sein, die Existenz im 20. Jahrhundert paradigmatisch zu vertreten oder zumindest als Exponent ihrer Generation zu gelten.«77 Schon am Beginn des Jahrhunderts entsteht das Bild einer »einmaligen Generation«, die gerade aus den großen Umwälzungen der Zeit ihren besonderen Status bezieht, weil die betreffenden Autoren, die am Anfang ihrer Karriere stehen, ihr Profil in einer auffälligen Vehemenz über das Generationenargument und die Repräsentativität ihrer Stimmen zu schärfen suchen. In der Weimarer Republik heißt eine Hörfunkreihe der Schlesischen Funkstunde aus gutem Grund Der Dichter als Stimme der Zeit. Die auf den ersten Blick unwahrscheinliche Kombination aus zeitbedingter und politisch-gesellschaftlich mitverursachter Wechselhaftigkeit und dem Streben nach Repräsentativität macht den Kern der Literaturdebatten des ersten Jahrhunderthälfte aus und bestimmt sowohl poetologische Entscheidungen als auch die habituelle Selbstprofilierung der Schriftstellergeneration, deren Wirken zentral in diesen Zeitraum fällt. Die Haltung geht zurück auf die Debatten, die die Moderne Ende des 19. Jahrhunderts begründen: namentlich jene über das Verhältnis von Kunst und Realität bzw. Kunst und Leben, wie der emphatische Leitbegriff lautet, und – daraus abgeleitet – die Debatten über die Funktion der Dichtung und des Dichters, die sich in neuer Dringlichkeit stellen und die Grundlage für die folgende Flut an Programmschriften und Manifesten legen. Sie bilden die Ursache für das Changieren der einzelnen Akteure zwischen dem Drang zur ständigen Neuorientierung einerseits und dem Bedürfnis, die entstehenden Klüfte anderseits durch ein biographisch fundiertes Entwicklungsnarrativ zu überbrücken, das über die Person des Autors Werk und Leben, Kunst und Realität zu einer Einheit mit repräsentativem Anspruch verknüpft und so die Relevanz beider – der Literatur wie des Dichters – für die moderne Welt absichert. e) Erzählung der eigenen Lebensgeschichte als Generations- und Zeitgeschichte Dass Individuen wie Gesamtgesellschaften ihre Identität durch die Ausbildung von Narrativen erzeugen, ist eine der Kernthesen konstruktivistischer Theoriebildung.78 Gerade weil dies aber eben nicht auf eine Aufhebung von Identität hinausläuft, sondern im Gegenteil die Suche nach biographischer Kohärenz in einer von Unsicherheit und ständigem Wandel geprägten Welt ausmacht, liegt hier eben doch etwas anderes vor als das, was die autofiktionalen Texte des späten 20. Jahrhunderts auszeichnet. Wenn man die Moderne mit Hartmut Rosa über einen Zuwachs
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Friedrich 2000, S. 245; Hervorhebungen: K. E. Vgl. vor allem Ricœur 2007.
2. Die Moderne als Manifest
an Beschleunigung definiert, lässt sich dabei außerdem feststellen, dass die Innovationsästhetik trotz ihres für die eigene Generation und das eigene Jahrhundert als repräsentativ angesetzten Charakters nicht in einer Art und Weise generationsbezogen ist, dass der Generationswechsel mit dem Wechsel ästhetischer Maßstäbe verbunden wäre, wenngleich dies in der Abgrenzung von der Elterngeneration der Expressionisten noch angelegt ist. Stattdessen erfolgt der Wandel ästhetischer Konzepte nun etwa in Dekaden (oder schneller), womit der Einzelne nicht sein ganzes Leben lang gleich schreiben kann, sondern im Sinne Hartmut Rosas das »Tempo des Struktur- und Kulturwandels höher als die Geschwindigkeit der Generationenfolge (intra-generational«) ist.79 Die Autoren der ersten Jahrhunderthälfte sind deshalb so oft ›Suchende‹, weil sie verschiedene Lebens- und künstlerische Entwürfe durchwandern, aber gleichzeitig der Wechsel nicht zum Programm erhoben wird, sondern das ›zur-Ruhekommen‹ in einer endgültigen Entscheidung als Ziel anvisiert wird. Die besondere Natur der ersten Jahrhunderthälfte besteht in der Spannung, dass das eigene Selbstbild vonseiten der Autoren immer wieder aktualisiert werden muss, um dem ›Fortschritt‹ der literarischen Mittel ebenso Genüge zu tun wie dem Anspruch auf ›Relevanz‹, der notwendig auf aktuelle Entwicklungen reagieren muss, um nicht ›überholt‹ zu sein. Davon unbenommen bleibt das Verhältnis zu bestimmten konkreten ästhetischen Realisationsformen dieser Forderung, die aus dem Rückblick ihrerseits überholt und nicht mehr zeitgemäß scheinen können, so sehr sie es einst waren.
79
Rosa 2005, S. 446.
53
3. Die Verteidigung der Poesie
3.1
Der Dichter-Seher
Die Frage, was ein Dichter ist, provoziert im Hinblick auf Bechers dichterische Anfänge notwendig den Blick auf Richard Dehmel, nach dessen Vorbild das Selbstverständnis des Jüngeren im Wesentlichen modelliert ist. Exemplarisch sichtbar wird dies an der Rede über Richard Dehmel (1912), die trotz des nahezu schwärmerischen Auftakts, der an Bechers jugendliche Begeisterung für diesen Dichter erinnert, recht schnell in eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vorbild übergeht.1 Indem Becher ankündigt, »die Unterschiede zwischen Er und Ich« in der Rede durchaus vermischen zu wollen (GW XV, S. 7), scheint eine ähnliche Identifikation mit dem Vorbild angestrebt, wie sie auch in der Kleist-Hymne gesehen worden ist. Schaut man genauer hin, offenbart sich die Rede aber als Reflexion auf eine vergangene Position des Sprechers, der nun eine differenzierte neue Sicht entgegengestellt wird. Bereits in diesen Versen ist das emphatische und weitreichende Dichtungsverständnis erkennbar, das man bei Becher in allen Werkphasen finden kann, auch wenn es gelegentlich für eine Weile in den Hintergrund tritt. Dichtung ist – wie der Dichter selbst – an die Zeit gebunden und soll diese »restlos« (!) in sich ›beschließen‹. Damit ist nicht nur der bereits im Kontext der intertextuellen Verweisstruktur erläuterte Aktualitätsbezug von Bechers Programmatik betont. Hinzu kommt der ausgreifende Anspruch, der sich mit der Dichtung verbindet und den Dichter als ihren Erschaffer in seiner Rolle festlegt. Obwohl Becher hier zunächst nur die Verbesserung der inzwischen qualitativ nicht mehr an die Klassik heranreichenden literarischen Produktion im Blick hat, bekommt die Dichtung rhetorisch durch ihren Platz in der ›Zeit‹ eine gesellschaftliche Funktion zugesprochen. Der Anschluss an Dehmel ist profiliert als die Fortsetzung und der Abschluss von dessen ›Mission‹, die dem eines ›Helden‹ gleichkommt. Dass diese ›Mission‹ über ihr Neuerungspotential hinaus nicht präzisiert wird, stellt nur dann ein Problem dar, wenn man Bechers Werdegang als gradlinige Ent-
1
Vgl. auch Herzfelde [1960], S. 49.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
wicklung hin zum sozialistischen Autor erzählt. Davon ist hier in der Tat wenig zu spüren. Was aber klar wird, ist das Bedürfnis, ein Signal zu senden, dass man selbst zu einer Bewegung gehört, die in Kürze alles Bisherige umwerfen wird. Die Selbststilisierung als Dehmel-Nachfolger, der den Meister übertrifft, läuft auf die Übernahme einer Anführerrolle hinaus, die die Relevanz der eigenen dichterischen Arbeit kaum stärker betonen könnte. Die zentrale Rolle, die der Dichter hier spielt und die es nicht möglich macht, das Werk von der Biographie seines Autors zu lösen, beschreibt bezeichnenderweise auch Boris Tomaševskijs, der 1925 dieses Modell zentral in der Romantik verortet, aber im Futurismus seinen jüngsten Höhepunkt ansetzt. Nachdem im 18. Jahrhundert Dichter zu »lebendigen Helden« werden und »ihre Biographien […] sich in Gedichte« verwandeln,2 ist gerade der für Becher in den 1920er Jahren so wichtige Majakovskij laut Tomaševskij »wirklich« Held seines Buchs, »übergibt […] sein Leben den Lesern und schreibt selbst eine Biographie, die er eng mit den Zyklen seiner Werke verschmilzt.«3 Das zentrale Moment von Bechers kommunistisch inspirierter Kunstprogrammatik der 1920er Jahre ist zunächst seine radikale Antibürgerlichkeit, die sich klar aus dem Theorem des Klassenkampfs heraus herleitet. Becher sagt vor dem Hintergrund seiner neuen politischen Auffassung in seinen publizistischen wie literarischen Werken dem ›Imperialismus‹ den Kampf an und lehnt entsprechend jene gesellschaftliche Schicht ab, die zum großen Teil das Eigentum an den Wirtschaftsgütern hält und auf Kosten der Arbeiterschaft Profit macht: das Großbürgertum. Mit dieser Auflehnung gegen das Bürgertum und seine Werte, die die Basis jenes kapitalistischen Ausbeutungssystems bilden, das der Kommunismus durch Revolution zu stürzen beabsichtigt, geht in den 1920er Jahren eine avantgardistische Ästhetik einher. Schon der Expressionismus übt sich im antibürgerlichen Gestus, was eine gewisse Kontinuität zwischen diesen beiden avantgardistischen Werkphasen bedeutet. Auch in den 1910er Jahren lehnt Becher als in Übereinstimmung mit dem Gros der expressionistischen Bewegung die Werte und Kunstvorstellungen des Bürgertums ab. Das Gegenmodell besteht in der Verletzung des guten Geschmacks – sei es in formaler, sei es in thematischer Hinsicht. Folglich wird die Sprachlogik durchbrochen und Schockwirkung tritt an die Stelle eines Kunstmodells, das in guter klassischer Tradition auf Schönheit und Ganzheitlichkeit setzt. Attraktiv ist das Modell des Dichter-Sehers für Becher insbesondere aufgrund einer Spielart, die den Dichter nicht als Genie betrachtet, das sich selbst genug ist.4 Im Gegenteil bietet der poeta vates die Möglichkeit, den Dichter als Mittler zwischen einer höheren Macht und der restlichen Gesellschaft zu verorten. Indem der Dichter Botschaften empfängt und diese an die Welt um ihn herum weitergibt, wird
2 3 4
Tomaševskij 2016, S. 54. Ebd., S. 55. Vgl. dazu Schmidt 2004.
3. Die Verteidigung der Poesie
ihm eine klare gesellschaftliche Funktion zugewiesen. Der Dichter ist nicht gottgleich, sondern nur der Verkünder von ›Wahrheiten‹, was seine Tätigkeit ebenso relevant macht wie die eines Propheten.5 Es ist dieses Verständnis von Dichtertum, dass Bechers Vorliebe für religiöse Bilder im Frühwerk begründet – weniger ein tatsächlich christlicher verankerter Glaubenshintergrund. Das Konzept des Dichter-Sehers dient zur Legitimation des eigenen Schreibaktes. Die Überhöhung des Dichters, bei dem Becher immer sich selbst mitdenkt, wird nirgendwo deutlicher als an der Märtyrer- und Opferrolle, die er sich schon in den ersten literarischen Zeugnissen um 1910 und dann immer wieder zuschreibt. Die Idee, dass man für seine Überzeugungen zu sterben bereit sein muss, verknüpft Leben und Werk unweigerlich; auch die entsprechenden Narrative Bechers zwischen 1910 und 1958 haben ihre Wurzel in diesem einen Grundgedanken: Dichtung ist relevant, weil der Dichter als Person Zugriff auf Einsichten hat, die er alternativ verbalisiert, vorlebt oder durch seinen Tod mit einem deutlichen Ausrufezeichen versieht. Das Gedicht »Auf einen Konzertflügel« bringt diese Haltung auf den Punkt, wenn es am Beispiel der Musik den Übergang von einem bürgerlichen zu einem revolutionären Kunstverständnis thematisiert. Der im Titel genannte Flügel als Inbegriff bildungsbürgerlicher Beschäftigung mit Musik seit der Romantik wird hier nur deshalb aufgerufen, um dieses harmonische Bild sofort wieder zu zerstören. Nicht um den musizierenden Einzelnen geht es, sondern um den Arbeiter, der den Flügel gebaut hat und dessen Hunger und Leiden im Kunstlied wie in der klassischen Musik überhaupt nicht vorkommt: Jaja, schön, schön klingt solch ein Instrument – Doch lügt es frech, lügt frech euch ins Gesicht. Weh euch, wenn einmal es sich frei bekennt! Denn was ich bin – das singt der Flügel nicht. Ihr würdet hören Klänge, daß euch euer Kopf Vor Schmerzen gellte, Klänge nicht, nur Schrei’n! Die Saiten rissen. Wie mit Hämmern klopft’s. Es schlüg mit Fäusten auf die Tasten ein. Das pfeift, gewittert, heult und schrillt – Klapp, Flügel, auf! Heraus, ihr Worte, Ihr Klänge, fluchgeladen! Still, nur still – Der Hunger spielt sein großes Forte. Erzähl der Herrschaft, wie die Hölzer splittern,
5
Vgl. Wilde 2016, S. 329f.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Zehn Stunden lang die Sägen brausen. Wir – an Maschinen hin und her geschüttelt: Einer – Keiner – Hunderttausend!6 Diese Mahnung ist mehr als nur ein Aufruf, an das arbeitende Proletariat zu denken. Becher formuliert hier vor allem ein ästhetisches Programm, indem er sich gezielt gegen die bürgerliche Tradition und die klassische ›schöne‹ Musik wendet. Bezeichnenderweise greift er wieder auf Schillers »Ode an die Freude« zurück, die er in An Europa benutzt hatte, um die brüderliche Einheit aller Völker zu beschwören. Hier wird aus den (nicht ganz exakt zitierten) Versen »Millionen, ihr Millionen, seid umschlungen!«7 aus Beethovens Vertonung eine ›Lüge‹, denn die Millionen sind nicht in Brüderlichkeit umschlungen, sondern von der herrschenden Klasse vergessen: »Viel Arbeit macht ein solches Instrument./Doch ach, was kümmern euch denn solche Sachen.«8 Gegen diese ›Lüge‹ der bürgerlichen Musik stellt Becher das Ideal einer Kunst, die genau auf solche Missstände aufmerksam macht und entsprechend eine sozialkritische Funktion übernimmt. Wenngleich Bechers expressionistisches Werk durchaus sozialkritische Dimensionen aufweist, ist es doch hier eher die ästhetische Schockwirkung, die der Dichter im Auge an, weniger das Erwecken eines sozialen Bewusstseins im Leser. Demgegenüber tritt nun genau dieser letztere Aspekt der Aufklärung über gesellschaftliche Missstände und die Anregung zum entsprechenden Handeln, das zur Revolution führen soll, ins Zentrum der Texte ab 1923, die nun das soziale Element viel häufiger und nicht nur als ein Reizmittel unter vielen ansprechen. Dahinter steht die durchaus zeittypische Auffassung, dass sich die Kunst wieder stärker den Problemen ihrer Gegenwart widmen und auf diese Weise direkt auf Wirklichkeit verpflichtet sein solle. Sabina Becker hat für das Rundfunkgespräch zwischen Becher und Benn von 1930 bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Becher hier »neusachliche Positionen« vertritt.9 Diese Position hat ihre Vorgeschichte Mitte der 1920er Jahre, denn Becher – parallel Herausgeber der Linkskurve und aktiv im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller – ist im Zeitraum vom Herbst 1925 bis Anfang 1927 auch Mitglied der Gruppe 1925, der wichtigsten neusachlichen Autorenvereinigung der Weimarer Republik.10 Becher gehört nicht nur zu den aktiveren Mitgliedern der Gruppe;11 ihm kommt darüber hinaus auch
6 7 8 9 10 11
Becher: Im Schatten der Berge 1928, S. 32. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Becker 2009, S. 263. Vgl. überblicksartig zur Neuen Sachlichkeit Becker 2000; zur Gruppe 1925 im Besonderen vgl. Petersen 1981. Laut Petersens Übersicht war Becher an 14 von 20 Treffen und Aktionen der Gruppe beteiligt. Vgl. Petersen 1981, S. 206.
3. Die Verteidigung der Poesie
eine prominente Rolle zu, weil der Protest gegen den Levisite-Prozess (5.3.2), eine der wenigen öffentlichen Aktionen der Gruppe 1925 darstellt.12 Zwar bildet die Gruppe, die im Unterschied zu späteren Abgrenzung der marxistischen Schriftsteller von ihren linksbürgerlichen Kollegen Autoren aus beiden ideologisch-politischen Lagern versammelt, weniger einen Zusammenschluss unter gemeinsamem ästhetischen Programm als eben eine Vereinigung zum gemeinsamen Kampf gegen die Zensur in der Weimarer Republik.13 Entscheidend ist jedoch die Opposition zum visionären Verkündungspathos des Expressionismus, die durch einen nüchternen Stil ersetzt wird.14 Anstelle von Psychologisierung und literarischer Gestaltung – in diesem Punkt setzt auch Lukács’ Kritik an Willi Bredel ein – stehen eher dokumentarische und an die Alltagssprache angelehnte Schilderungen sowie die Forderung nach einem ›Gebrauchswert‹ der Kunst.15 In eine ähnliche Richtung gehen die Grundüberlegungen in Russland, die zur Entwicklung der Faktographie führen – ein Konzept, das die Brücke schlagen soll zwischen den beiden einander in vielerlei Hinsicht entgegengesetzten Richtungen Konstruktivismus und Formalismus.16 Die Faktographie hat den Vorteil, die gewünschte Lebensnähe der Kunst abzusichern, denn mit ihrem wichtigsten ästhetischen Verfahren, der Montage, greift sie direkt auf Realmaterial zurück, das ins Kunstwerk übernommen bzw. ›einmontiert‹ wird.17 Damit kommen die auch in der Neuen Sachlichkeit18 bevorzugten Textsorten »Reportage, Zeitungsartikel, Feuilleton, Biographie, Memoiren, Tagebuch, Protokolle von Gerichtssitzungen oder Meetings, Reisebericht, Pamphlet« in den Blick, während man das, was bisher in der Literatur zu finden war – »Verfahren der Fiktion, der Verallgemeinerung, der Typisierung, der Abstraktion, der Psychologisierung und der Mystifikation« – radikal ablehnt.19 Aus Sicht der Formalisten, die an den bisherigen Lösungsansätzen stets kritisiert hatten, dass der Kunstcharakter der Werke zu kurz kommt, ist dies eine akzeptable und reizvolle Lösung, »da die Identität mit dem Leben nun weniger auf der Ebene der Verfahren (Ingenieurismus) als auf der Ebene des Materials (Alltagsfakten) gesucht wurde.«20 Zunächst ist noch einmal das gezielt avantgardistische Moment dieses Programms hervorzuheben. Denn weil die Rezeption der aus kommunistischem Kontext entstandenen Kunst sehr oft nur auf Basis des sich später durchsetzenden 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Zur Geschichte der Gruppe 1925 vgl. Petersen 1981. Zur Vorgeschichte im Detail vgl. Petersen 1981, S. 21ff. Vgl. Becker 2000, S. 54 bzw. 67. Lukács 1931. Vgl. dazu Mende 2009, S. 142-172. Vgl. im Einzelnen zum Thema der Montage/Collage in der russischen Kunst ausführlich OraićTolić 1989. Zu Letzterer vgl. Becker 2000. Mende 2009, S. 159. Ebd., S. 156.
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Sozialistischen Realismus betrachtet wird, übersieht man leicht, dass hinter den (platten) agitatorischen Aussagen nicht selten ehrgeizige Zielsetzungen stecken, die darauf hinauslaufen, neben der Gesellschaft auch die Kunst als solche zu revolutionieren. Am anschaulichsten zeigen sich derartige Bemühungen mit Blick auf die Experimente, die im Bereich des Theaters in der Weimarer Republik im Sinne des Agitprop gemacht werden. Auch hier erscheint die Montagetechnik, die nicht zuletzt durch das Wirken von Georg Lukács von Anfang an kontrovers diskutiert wird,21 zunächst als gewinnbringende Methode, um die Wirklichkeit in die fiktionale Welt des Theaters hineinreichen zu lassen und die Grenze zwischen Schauspieler und Publikum in einer Art und Weise zu überbrücken, die zur unmittelbaren Agitation der Zuschauer führt. In unterschiedlichen Ansätzen loten Spieltruppen wie Maxim Vallentins Rotes Sprachrohr, Gustav von Wangenheims Truppe 31 und das Piscator-Theater nicht zuletzt die technischen Möglichkeiten des Theaters aus.22 Das so konzipierte ›neue‹ Theater wird dabei in direkter Abkehr von der bürgerlichen Theatertradition konzipiert, was vor allem die Aufgabe geschlossener Dramenformen zur Folge hat, aber auch mit einer klaren Polemik in diese Richtung eingeht.23 Obwohl vonseiten der Forschung zum Agitprop kaum beachtet, macht auch Becher in den 1920er Jahren entsprechende dramatische Experimente. Dabei ist er freilich nicht so sehr Theatermann, dass er eine eigene Truppe gebildet hätte, um die neuen Stücke, die er schreibt, selbst auf die Bühne zu bringen. Trotzdem ist die Rezeption dieser Entwicklung in Stücken wie Arbeiter Bauern Soldaten, aber auch im 1931 publizierten ›Epos‹ Der Große Plan nicht zu übersehen. Das gilt bereits für die Erstfassung von Arbeiter Bauern Soldaten aus dem Jahr 1919, als sich Becher schon einmal kurzzeitig für die Sache der KPD begeistert und auch als den berühmten »Gruß des deutschen Dichters an die russische föderative SowjetRepublik« verfasst (GW II, S. 18f.). Das Stück ist als Festspiel in antiker Tradition angelegt, worin sich die Überwindung des rein unterhaltenden Illusionstheaters zugunsten von Aufführungen niederschlägt, die das Publikum direkt in Form von Massenbewegungen einbeziehen. In einem Klassizismus, der häufig genug an Hölderlin erinnert,24 finden sich anstelle von Handlung und Entwicklung Gesänge und Beschwörungen in Vers und Prosa.25 Diese Einheit aus ästhetischem und politischem Neuansatz macht Becher in seinen Vorreden immer wieder deutlich. In dem mit klar politischem Impetus auf den 1. Mai 1924 datierten Kommentar zur Umarbeitung von Arbeiter Bauern Soldaten 21 22 23 24 25
Vgl. etwa die Diskussion über die Stücke Ernst Piscators in der Linkskurve (Klatt 1975, S. 32). Vgl. dazu ausführlich Klatt 1975, S. 7-70. Vgl. Klatt 1975, S. 13. Vgl. Hartung 2002, S. 289. Hartung hat auch auf Nähe zum Faust II hingewiesen (Hartung 2002, S. 290).
3. Die Verteidigung der Poesie
erklärt er resolut: »Der Autor lehnt es mit aller Entschiedenheit ab, mit dieser Arbeit auch nur den Versuch gemacht zu haben, ein Drama im herkömmlichen Sinne zu schreiben« (GW VIII, S. 103). In der folgenden Fassung von 1924 ist der Prolog gleichfalls vorrangig dazu da, das bürgerliche Theater und die mit ihm einhergehende Rezeptions- und Erwartungshaltung rigoros zurückzuweisen: Dies ist kein Theaterstück, Genossen, Mit Theater oder Dichtung hat dies nichts zu tun. Dies ist kein Spiel, ihr Genossen, Das bürgerliche Schauspieler je In den Theatern der Großstädte vor dem bürgerlichen Publikum spielen werden. Geblendet schlössen die Augen die Damen und Herren im Parkett Wie vor einem mörderischen Glanz, Wenn diese Bilder sie sehen würden. […] Die Nasen kniffen sie zu: »Ah, revolutionärer Geruch…« (GW VIII, S. 107) Der Dichtungsbegriff, der hier verwendet wird, ist der einer autonomen Poesie, wie man sie im proletarischen Theater dieser Jahre generell ablehnt26 – eben deshalb, weil sie als eine bürgerliche empfunden wird. Die Dekadenz der Dichtung Georges wird von Becher nun explizit mit dem Thema des Klassengegensatzes verbunden, wenn er die Vorliebe für ausgefallene Sprachbilder im Sinne des luxuriösen Lebens ausdeutet, wenn die Kapitalisten in ihrer »Landschaft der Schlaraffen« selbst in der Sonne nur noch eine kulinarische Köstlichkeit, eine »Goldorange«, sehen.27 Eine ähnliche radikale Position findet sich in der ›Einleitung‹ zum Roman Levisite (1926). Dort ruft Becher erneut die Rezeptionshaltung der Zerstreuung und Unterhaltung auf und rekurriert auf das Romanmodell von Biedermeier und Romantik, um wiederum klar zu machen, dass er selbst ein Buch vorlegt, das diese Erwartungen bewusst nicht erfüllen will: »Hände weg von diesem Buch, wenn Ihr damit, übersättigt und bis zum tödlichen Erbrechen gelangweilt, nur wieder einige Euerer müßigen Stunden totschlagen wollt!« (GW X, S. 9).
26
27
Bei Friedrich Wolf heißt es etwa 1928 in Kunst ist Waffe!: »Ein Dichter, der heute noch l’art pour l’art: die ›Kunst um des ästhetischen Spieles willen‹ vollführt, dieser Verse- und Szenenbastler, er ist in unserer Zeit der Arbeitslosenheere, der Mütterselbstmorde und Abtreibungsparagraphen […] ein Ziseleur, ein Filigranschmied… aber kein Dichter, der unsren Tagen etwas zu sagen hat!« (Wolf 1967, S. 87). Becher: Die hungrige Stadt 1927, S. 17.
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Das Brisante an Bechers Ablehnung der bürgerlichen Kunst ist nun nicht nur, dass er selbst bürgerlicher Herkunft ist; auf dieses Problem wird unten noch einzugehen sein. Hier ist zunächst wichtiger zu bemerken, dass sich Bechers Aversion nicht einfach nur gegen irgendeine von ihm als problematisch empfundene Ästhetik richtet, sondern eben genau gegen die Art von ›reiner Dichtung, die er unmittelbar vor seinem KPD-Eintritt gerade erst richtig für sich entdeckt hatte. Dieser Umstand hat zur Folge, dass insbesondere die Zweifassung von Arbeiter Bauern Soldaten im Kern eine programmatische Selbstverortung betreibt und ihr Ziel somit letztlich weniger direkt wirkungsästhetisch auf die Agitation der Massen gerichtet ist, wie dies vor dem Hintergrund der Theatertradition, in die das Stück gehört, plausibel wäre. Becher identifiziert sich selbst als einen der bürgerlichen Künstler, »die wir frei gewählt haben, auf der Seite des revolutionären Proletariats den Entscheidungskampf zwischen Kapital und Arbeit mit auszukämpfen« (GW VIII, S. 104), und schreibt sich selbst als Repräsentant dieser Schicht eine bedeutende Rolle in diesem Kampf zu, denn die revolutionären Intellektuellen verfügen über »eine tiefere Einsicht in das Wesen und in die Daseinsbedingungen der Menschenklasse […], die berufen ist, der Menschheit den Durchbruch in die Zukunft zu erzwingen« (GW VIII, S. 105). Das Stück, das auf diese Ankündigungen folgt, kann aber nur bedingt als Umsetzung des entworfenen Programms gelten. Zwar ist seine ideologische Botschaft durchaus eindeutig, wenn auch hier wieder zum Aufruhr der Massen gegen ihre Unterdrücker aufgerufen wird. Trotzdem wird das Drama gegenüber der Erstfassung noch einmal komplexer und anspielungsreicher. Becher löst sich in den 1920er Jahren noch stärker von einer Dramenkonzeption, die individuelle Charaktere in den Mittelpunkt stellt. Becher arbeitet stattdessen mit einem Verfahren, das eher musikalischen Charakter hat, weil die verschiedenen Leitstimmen in beiden Dramen das Für und Wider der revolutionären Bewegung erörtern und sich die einzelnen Soli nach und nach zu einer Massenbewegung – zum Chor – zusammenschließen. Anstelle des konventionellen Spannungsbogens, den das Theater traditionellerweise zu bieten hat, erhalten die Texte so stärker argumentativen und dialektischen Charakter, indem zwei Positionen neben den formulierten Argumenten, die bei Becher stets in hymnisches Lob des Erreichten übergehen, auch Gegenpositionen gebracht und entkräftet werden, sodass sich der Zuschauer eine eigene (wenn auch vom Drama in eine bestimmte Richtung gelenkte) Meinung bilden kann. Das ist nicht allzu weit entfernt von den Lehrstückexperimenten eines Bertolt Brecht,28 wobei Becher in dieser Zeit freilich noch eine ganze Reihe anderer Einflüsse aufnehmen konnte. Die Abgrenzung vom traditionellen Theater, die nicht zuletzt durch die Überschneidung mit dem Epischen erreicht wird – schließlich 28
Vgl. dazu Krabiel 1993.
3. Die Verteidigung der Poesie
ist Der Große Plan trotz seiner Aufführbarkeit als ›Epos‹ bezeichnet –, geht Hand in Hand mit der Kritik am Bürgertum als zubekämpfende herrschende Klasse. Aus der dreiteiligen Struktur von 1919 macht Becher nun vier Teile, was dem Stück einen symphonischen Aufbau verleiht. Die Zusammenführung drei unterschiedlicher Stimmen von Arbeiter, Bauer und Soldat zu einer Einheit, die dann auch nicht nur aus Individualpersonen, sondern aus drei Gruppen besteht (Arbeiter, Bauern, Soldaten), ist Programm. Trotzdem ist die Figuren- und Handlungskonstellation in der Neufassung nicht schlichter geworden. Nachdem am Ende des zweiten Teils der »deutsche Michel« die apolitische Haltung der Bürger der Weimarer Republik vertritt (vgl. GW VIII, S. 146ff.), diskutieren zu Beginn des dritten Abschnitts »zwei Gestalten« über die deutsche Klassengesellschaft (GW VIII, S. 151ff.). Darauf folgen die in ihrem dramaturgischen Status unklaren »Leitsätze zur Darstellung des ›Deutschen Pfuhls‹« (GW VIII, S. 155) – eine groteske satirische Darstellung auf die Weimarer Republik zwischen Kaisertreue und Nationalsozialismus –, die zwischenzeitlich von den zwei Gestalten unterbrochen und schließlich fortgesetzt werden. Nach revolutionären Gesängen schließt sich das allegorische Bild vom Sterben des Staates an, in dem verwirrte Kleinbürger »einen Retter, einen Erlöser« suchen (GW VIII, S. 169). Erneut also kommuniziert Becher die eigene Position: Er überarbeitet vor den Augen seines Publikums ein vorhandenes Werk (statt einen neuen Text zu schreiben) und macht damit den Entwicklungsschritt in seinem dichterischen Werdegang, auf den es ihm ankommt, für alle Leser deutlich. Die Neufassung des Dramas hat somit ebenso programmatischen Charakter wie seine Vorreden. Andererseits wird aber auch der Dichtung in diesem Text eine klare Rolle zugewiesen. Der Dichter, der nun hier erstmals als eigene Figur auftritt,29 wird nämlich von den Konterrevolutionären aufgefordert, seine Arbeit in ihren Dienst zu stellen, und mit Geld angelockt (GW VIII, S. 141). Überhaupt ist das Drama auch an anderer Stelle eine Abrechnung mit wirklichkeitsfremden Dichtern, die sich achselzuckend über »Normal-Menschen« erheben (GW VIII, S. 158). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Becher den ehemals drei Teilen des Dramas nun noch einen vierten anfügt, der keine Handlung mehr enthält, sondern nur noch eine Marschhymne liefert, die den Aufstand auf der Bühne wie im Publikum stattfindenden Aufstand begleiten soll.30 Während Vorrede und Prolog also das dichterische Programm formulieren, das nun als Standard gelten soll, beschäftigt sich das Stück selbst mit der (negativen) Darstellung des bürgerlich-dekadenten Dichterbildes,
29 30
In der Fassung von 1919 ist er mit dem Mann identisch und in dieser Hinsicht weniger ausgestaltet (vgl. Hartung 2002, S. 286). Die Grenze wird bewusst erneut überschritten: »Auf der Bühne, von der Bühne herab werden inzwischen weiter Waffen verteilt« (GW VIII, S. 169).
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das es ebenso zu überwinden gilt wie die Religion, weil beides von der gesellschaftlichen Realität ablenkt und besänftigt statt zum Umsturz zu bewegen. Entsprechend formuliert der Prolog die Abkehr vom bürgerlichen Theater ganz ähnlich, wie sich Levisite vom traditionellen Roman abgrenzt (vgl. GW VIII, S. 107). Die »Große Rote-Marsch-Hymne« des vierten Abschnitts verdankt sich Bechers Auswertung der proletarischen Theaterexperimente der Weimarer Republik. Sie ist im Kern ein ›Arbeiterkampflied‹, das für das »Kollektivreferat« im Anschluss an ein Theaterstück konzipiert ist und beide Seiten des Agitprop – die Propaganda wie die Agitation – effektiv zusammenführt in der Absicht, »die geschichtlichen Kämpfe der Arbeiterklasse zu dokumentieren und zugleich ihre Siegesgewißheit auch in der unmittelbaren Gegenwart emotional nacherlebbar zu machen«.31 Programmatisch wird so das Modell des unpolitischen, in ›kabbalistische Tiefen‹ versenkten Poeten korrigiert. Während die Erstfassung von Arbeiter Bauern Soldaten allem »Gefühlskommunismus« zum Trotz primär mit dem Aufruf zur Revolution beschäftigt ist, dient die Zuspitzung des politisch-ideologischen Moments in der Neufassung von 1924 nicht zuletzt Bechers Selbstverortung als Autor. Schon der Untertitel bringt keine Gattungsbezeichnung mehr (»Ein Festspiel«; GW VIII, S. 17). Indem Becher nun den »Entwurf zu einem revolutionären Kampfdrama« vorlegt (GW VIII, S. 101), lenkt er den Blick naturgemäß stärker auf die künstlerische Gestaltung des Textes, der in seinem Aufbau klar auf die Verabschiedung eines Kunstprogramms zugunsten eines anderen zuläuft. Durch die starke programmatische Rahmung akzentuiert das Drama letztlich weniger seinen revolutionären Gehalt als ausgerechnet den Umstand, dass (und wie) Becher nun gezielt politischwirksam schreiben will.
3.2
Atheistisches Prophetentum
Am 6. März 1930 treffen sich zwei ›Dichter‹ zu einem Rundfunkgespräch über das Verhältnis von Literatur und Politik, die beide zu den wichtigsten Vertretern des Expressionismus gehörten, sich inzwischen aber sowohl in ästhetischer als auch ideologischer Hinsicht zu Antipoden entwickelt haben. Das berühmte Gespräch zwischen Gottfried Benn und Johannes R. Becher, das mehr zwei aufeinanderfolgenden Positionsbestimmungen als einem wirklichen Dialog gleicht, weshalb es der gleichsam als Interviewer fungierende Benn später als höchst unbefriedigende Begegnung empfunden hat,32 macht die unterschiedliche Weiterentwicklung der zwei Autoren nach ihrem gemeinsamen Ausgangspunkt deutlich: Benn, der in dieser Zeit bekanntlich kurzzeitig eine Versöhnung von Expressionismus und 31 32
Klatt 1975, S. 13. Vgl. Benns Brief an Thea Sternheim vom 7. März 1930 (Benn/Sternheim 2004, S. 59f.).
3. Die Verteidigung der Poesie
Nationalsozialismus für möglich hält,33 zeigt sich als Vertreter der Titel gebenden »Dichtung an sich« (GW XV, S. 593). Aus seiner Perspektive sind die großen Weltentwürfe, die einen allgemeinen Erklärungsanspruch haben, überholt, wobei er mit Nietzsche und Hegel argumentiert (vgl. GW XV, S. 595f.). Bechers Position ist genau die entgegengesetzte: Der seit 1923 als Mitglied der KPD aktiv im »Befreiungskampf des Proletariats« Stehende erkennt darin ein »ein wahres und geschlossenes Weltbild«, das er mit seiner Dichtung »gestalten« will (GW XV, S. 593). Auf den Hinweis Benns, dass auch Becher einmal autonomästhetische Positionen vertreten habe, erklärt sein Gesprächspartner, es handle sich bei um eine überwundene und noch ganz der Perspektive der bürgerlichen Klasse verhafteten Schaffensperiode, die er nun als problematisch erkannt habe: Es ist richtig, auch ich habe an die Möglichkeit einer reinen Kunst geglaubt, denn ich habe an einen Geist geglaubt, der über den Wassern schwebt. Ich war demnach von der Souveränität und der Unabhängigkeit der Dichtung tief überzeugt, bis ich eines Tags aufgrund von Erlebnissen und Erkenntnissen Einsicht bekam in den Klassenmechanismus, der die Geschichte des Menschen und ganz besonders die heutige Geschichte der heutigen Menschen beherrscht. […] Ich erkannte, dass der reine Dichter, der ich zu sein glaubte, in Wirklichkeit ein höchst unreiner Dichter war, ein Dichter einer bestimmten Klasse, der bürgerlichen Klasse. (GW XV, S. 593f.) Benns Position scheint vor dem Hintergrund seines vorangegangenen Werks durchaus konsequent. Bei Becher sticht der Unterschied dafür umso mehr ins Auge – nicht zuletzt, weil die Phase, von der er sich hier abgrenzt, nicht eine vor Jahren vertretenene Kunstauffassung eines jugendlichen Dichters ist, sondern der dem Parteieintritt unmittelbar vorausgehende (kunst-)religiöse Werkabschnitt. Dies überrascht nicht, wenn man Bechers Schreiben in seiner Gesamtheit überblickt. In der Tat sind das Aufrufen der vorherigen Phase und die Abgrenzung von ihr konstitutiv für das dichterische Selbstverständnis, das der nun als überzeugter Kommunist auftretende Becher in den Jahren nach dieser Entscheidung entwickelt. Anhand von Bechers Schreiben lässt sich gut beobachten, welche ästhetischen Diskussionen innerhalb der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik geführt werden, weil sich sämtliche Neuerungen und Einflüsse in seiner literarischen Produktion niederschlagen. Die Zeit von 1923 bis etwa 1930 ist, wie man bei Becher sehen kann, geprägt von extremer künstlerischer Vielfalt, die noch klar das Panorama der vielen Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts erkennen lässt. Das Feld ist – anders als ab 1930 herum – noch alles andere als konsolidiert, weil man nur weiß, dass die ›neue‹ Bewegung auch ›neue‹ ästhetische Mittel braucht, aber keinesfalls schon geklärt ist, worin diese bestehen sollen 33
Vgl. dazu Benn 1989.
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oder auch nur wer dazu berechtigt und in der Lage sein kann, ›kommunistische‹ Kunst zu erschaffen. Dass Becher hier das traditionelle Dichtertum, das ihm so am Herzen liegt, als Jugendsünde deklariert, verschleiert freilich, wie präsent es in den als kommunistische Propaganda gedachten literarischen Werke derselben Zeit noch ist. Wenn das Gros der neusachlichen Schriftsteller nicht mehr Vorhutschaft, sondern nur noch »Gleichzeitigkeit« praktiziert und damit »allenfalls einen Aktiv-, keinen Avantgardeposten« besetzt,34 behält der poeta vates hat aus proletarisch-revolutionärer Sicht35 durchaus weiterhin seinen Platz als Wegbereiter der Revolution und – man denke an die späteren Stalin-Hymnen Bechers – als Lobsänger eines Parteiführers, der im Atheismus an die Stelle Gottes getreten ist.36 Dies geht soweit, dass der Dichter zum kommunistischen Propheten, ja zum Messias wird und wie in »Deutsche Ostern 1923« biblische Worte wählt, um die »Menschen-Schlachtenden«, die er bekämpft, anzusprechen: »Ich/Aber, ich sage euch: Ein magischer/Kraft-Spiegel auch bin ich, der/Zurückwirft euch euer Bild: glanz-/Elektrisch euch tötend.«37 Überraschend ist diese Position insofern, als gerade Bechers Verabschiedung des alten Dichtermodells in der Überarbeitung von Arbeiter Bauern Soldaten stark von neusachlichen Argumenten profitiert und aus der kommunistischen Perspektive eigentlich eine Überwindung der individualistischen Perspektive verkündet wird.38 In den 1920er Jahren lotet Becher die Koordinaten seines dichterischen Profils neu aus, was Folgen für das spätere Werk hat. Wichtig sind dabei weniger die Politisierung und die Abkehr von der (sprachlichen) Avantgarde als die Auseinandersetzung mit dem Problem der Dichtung selbst, die ausgerechnet in diesem Zeitraum bei Becher virulent wird und es bis zum Ende seiner Karriere bleibt. Zunächst lohnt es zurückzugehen, zu der Uracher Phase, die zwischen den zwei politischen Höhepunkten liegt und an deren Ende neben dem Bekenntnis zum Kommunismus auch der dauerhafte Bruch mit der Religion steht. Die Uracher Jahre selbst sind freilich umso mehr von christlicher Mystik geprägt, was Gedichtbände wie Um Gott (1921) schon im Namen erkennen lassen. Das Ganze ist überaus zeittypisch, bedenkt man beispielsweise die Entwicklung von Franz Werfel, Hugo Ball oder Bechers alter Freundin Emmy Hennings.39 Dabei ist es bezeichnend, dass der Name der Geliebten auf eine Ebene mit dem Gottes gehoben wird – nicht nur dadurch, dass den Gedichten um Lotte, die schon 34 35
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Fähnders 2010, S. 235. Friedrich Wolf sieht den »dramatischen Dichter«, dessen Sendung er damit bestimmt, »Zeitgewissen zu sein« Wolf 1967, S. 61), gleichfalls immer auf dem »Vorposten« des Neuen (ebd., S. 86). Vgl. Ryklin 2008, S. 31f. Ebd., S. 101; Hervorhebung: K. E. Vgl. zu den zwei Fassungen Eichhorn 2019b. Vgl. dazu unlängst McGillen 2016; Bosco 2016.
3. Die Verteidigung der Poesie
die Form von Gebeten angenommen hatten,40 zwei Jahre später die Sammlung Um Gott folgt. Hinter dem Namen Lotte steckt explizit die »Idee der Menschheit«41 und die Geliebte verspricht die »Erlösung aller Metastasen«.42 Entscheidend ist freilich, wen die Erlösung trifft. Auf der einen Seite denkt Becher wieder an die ›Menschheit‹ und an die »Schwachen und Verwaisten«.43 Dazu kommt aber gerade in den Liebesgedichten immer stärker die Frage nach der eigenen Identität, die entweder offengelassen (»Wer bin ich?!/Oh!«44 ) oder erst über die angesprochene Freundin zu beantworten ist. Nicht nur resultiert der Wunsch des lyrischen Ichs, fromm zu sein »wie ein Kind« aus der Unterwerfung unter seine Geliebten, die es um »Verzeihung« bittet.45 Die angestrebte Erlösung ist vor allem eine Erlösung des Dichters selbst: »O Heimat! Nest! O letzte Stille!/Damaskus blüht Dir dort, o Hans!«46 Die Verwendung des Klarnamens macht die Dichtungen von 1919 wiederum als Teil eines umfassenderen Selbstinszenierungsprozesses erkennbar. Schon 1918 zeichnet sich ab, dass Becher in der verstärkten Aufnahme religiösen Vokabulars einen dichterischen Neuanfang in Szene setzt,47 wobei das Ziel nur durch die Bindung an die angesprochene Geliebte erreicht werden kann: »Muß mich tiefst in Dich/– Will ich Gott träumen – schmiegen.«48 Die Vergötterung der Frau markiert dabei die Abkehr vom expressionistischen ›Kampf der Geschlechter‹, dem der Sprecher einst verpflichtet war: »So schlicht ich feixend gen die Frauen tiefst.«49 Für Becher freilich ist das mystische Element weniger weltanschaulicher Natur als eine Richtungsentscheidung innerhalb der zeitgenössischen Diskussion, die Literatur zunehmend zwischen den Polen politischer Wirksamkeit auf der einen Seite und ›reiner Poesie‹ auf der anderen ansiedelt. Diese Opposition, die sich mehr oder weniger auf den Gegensatz zwischen Schriftsteller und Dichter bringen lässt, wird in Folge der Revolutionsbegeisterung von 1919 für Becher eine der zentralen Kategorien zur Ausrichtung von Werk und Autorpersona. Entsprechend wird das Bekenntnis zur politischen Agitation 1920 in sein Gegenteil verkehrt und durch ein deutliches Plädoyer für Kunstautonomie ersetzt. In einem Brief an Ludwig Meidner aus dem Juli 1920 geht Becher sogar so weit, sich mit Stefan George zu vergleichen, dessen elitäres Kunstverständnis so deutlich von allem entfernt ist, für das Becher drei Jahre später steht, wie es nur sein kann: 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. das »Abendgebet um Lotte« (Becher: Gedichte um Lotte 1919, S. 6). Ebd., S. 28. Ebd., S. 49. Ebd., S. 25. Ebd., S. 9. Ebd., S. 15. Ebd., S. 49. Vgl. Becher: Die heilige Schar 1918, S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24.
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Programme, Manifeste, Postulate: Ich stelle keine mehr; ich bin, arbeite einfach und lebe. Ich habe mich zurückbesonnen auf den Künstler in mir, ich glaube an eine entbindende und auch heiligende Kraft des Wortes, mögen mich die Kläffer heute einen Ästheten nennen, wie sie es unverschämter Weise mit George getan haben, ich verzichte gern auf solche Gefolgschaft… es gibt einige Menschen… und das genügt.50 Die Kehrtwende, die darauf folgt, richtet sich wieder an dem Gegensatz zwischen Politik und ›reiner Kunst‹ aus – nur, dass Becher jetzt die andere Seite wählt und die Besinnung »auf den Künstler in mir« wieder aufgibt, um sich auf »das Unekstatische [sic!], Nackt-Sachliche, das Un-Apokalyptische« zu konzentrieren.51 Es ist dieses Bedürfnis, sich (radikal) zu den zwei gegensätzlichen Modellen verhalten zu müssen, das den Klassenkämpfer Becher 1930 im Rundfunk zu einem idealen Gegenpol zu Gottfried Benn macht. Diese markanten Neuerfindungen der eigenen Person täuschen leicht darüber hinweg, dass Bechers ›Lösungen‹ für das Problem, ob Literatur nur ihren eigenen Zielen folgen oder auf Gesellschaftsrelevanz verpflichtet sein soll, in einer Hinsicht doch zwischen beiden Polen liegt. Im Vorwort zu Karl Grünbergs Roman Brennende Ruhr ›wundert‹ Becher sich eigens darüber, »wie wenig die großen Ereignisse der jüngsten deutschen Geschichte auf die Dichtung gewirkt haben« und er nennt auch den Grund dafür: »Die Dichter kreisen noch immer um sich selbst als den Mittelpunkt«.52 Das Alte – die Dichtung – wird nicht abgelöst, sondern in die neuen Zielsetzungen integriert und somit an die moderne Zeit angepasst. Auf dieser Basis kommt für Becher der Dichter verstärkt in den Blick, der er selbst ist. Es lässt sich eine klare Verbindung ziehen zwischen Entscheidung für den Kommunismus und der Zunahme autobiographisch fundierter Dichtung. Die Relevanz des Dichters ergibt sich zunächst schlichtweg aus der Bedeutung, die Lieder und Gesänge für den revolutionären Prozess haben.53 Erst die Versform ermöglicht jenen Gleichschritt, der für eine Massenbewegung konstitutiv ist; folglich braucht es Dichter und nicht nur (Prosa-)Schriftsteller, die die Verse für den politischen Prozess vorgeben. Entsprechend baut Becher in der zweiten Fassung von Arbeitern Bauern Soldaten die musikalischen Strukturen, die in der Erstfassung schon angelegt waren, merklich aus. Er arbeitet das Stück so um, dass es mit seinen nunmehr vier Teilen symphonischen Aufbau erhält, und lässt die Einzelstimmen zur gemeinsamen Motivwiederholung in einer Art und Weise zusammenfinden, wie in der Instrumentalmusik Soli einzelne Themen erarbeiten, bevor alle gemein-
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Brief an Ludwig Meidner vom 3. Juli 1920 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 90f.). Brief an Eva Herrmann aus dem November/Dezember 1922 (JRBA S661). Becher: Vorwort zu Brennende Ruhr 1929, S. 5. Zur deutschen Perspektive Hagelweide 1968.
3. Die Verteidigung der Poesie
sam erklingen.54 Während in der Festspielfassung Prosa und Verse einander recht unsystematisch abwechseln, geht das Gespräch von Mann und Frau nun in dem Moment in die Versform über, in dem sich beide aus einem Mund ins Kollektiv eingliedern und im maschinenartigen Takt ›zu funktionieren‹ haben: »Gib, daß alle Anforderungen, die an mich gestellt werden, ich erfülle./Daß ich ein gut funktionierendes Glied sei/Im Mechanismus jener riesenhaften Kampfmaschine« (GW VIII, 125f.). Dabei wird neue Identität als Ergebnis einer Überwindung eines älteren bürgerlichen Dichtungskonzepts präsentiert, das in den Werken nun immer wieder Thema ist. Die »Gottesseuche« im Kampfdrama Arbeiter Bauern Soldaten wird nicht nur »produziert« von »Philosophien« und »religiöse[n] Systeme[n]« (GW VIII, 154), sondern auch von »Dichtern und Denkern«, die »Visionen« haben und auf die »Normal-Menschen« achselzuckend herabblicken (GW VIII, 158). Der Dichter wird entsprechend dieser Skizze, die sowohl auf das bildungsbürgerliche deutsche Kulturgut als auch auf das Modell einer elitären Kunst etwa eines Stefan George verweist, wie es Becher selbst noch im Juli 1920 angestrebt hatte,55 zum Agenten der Konterrevolution (GW VIII, 141). Demgegenüber steht das Ideal eines Dichters, der in der Masse aufgeht und – wie Becher in der Vorrede zum Kampfdrama – nur noch eine anteilige Verfasserschaft beansprucht, die er sich mit den »mitwirkenden Massen« und mit »ihrer Phantasie, mit ihrem Darstellungsvermögen, mit ihrer Spannkraft« teilt (GW VIII, 103). In dieser Dichtermodellierung kehrt die Gegenüberstellung der zwei ›demokratischen‹ Systeme wieder, die die Grundanlage des Kampfdramas ausmachen. Der ›deutsche Dichter‹, der 1919 seinen emphatischen »Gruß« an »Sowjet=Rußland« ausgerufen hatte, verkörpert nun den Irrweg religiöser Schwärmerei, der auch die Handlungsunfähigkeit des deutschen Michel, des Kleinbürgertums ausmacht. Dieses Denkmuster muss durch das Bekenntnis zum russischen Modell ersetzt werden, das nun das bürgerliche Element, den Individualismus und den ›Hang zum Mystischen‹ abwirft, um in der Anonymität der politischen Massenbewegung aufzugehen. In den Figuren steckt also die kommunistische Variante des Gegensatzes zwischen Dichter und Schriftsteller, wie er auch in der Neuen Sachlichkeit diskutiert wird. Während der Dichter in seiner klassischen Form als überholt empfunden wird, schlägt man sich auf die Seite einer Instanz, die primär die Aufgabe hat zu dokumentieren und zu beobachten. Becher – parallel Herausgeber der Linkskurve und aktiv im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller – ist im Zeitraum
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Besonders deutlich an der Stelle, als zunächst ein Soldat, ein Bauer und ein Arbeiter auftreten, die die dann gemeinsam die wichtigsten Schlagworte ihrer Soli wiederholen: »Für wen?/Warum?/Wozu?…/Genug./Genug!/Genug!…« (GW VIII, 120). Vgl. den Brief an Ludwig Meidner vom 3. Juli 1920 (Becher: Briefe 1909-1958, S. 90f.)
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vom Herbst 1925 bis Anfang 1927 auch Mitglied der Gruppe 1925, der wichtigsten neusachlichen Autorenvereinigung der Weimarer Republik,56 und gehört nicht nur zu den aktiveren Mitgliedern der Gruppe;57 ihm kommt darüber hinaus auch eine prominente Rolle zu, weil der Protest gegen den Levisite-Prozess (5.3.2), eine der wenigen öffentlichen Aktionen der Gruppe 1925 darstellt.58 Die Verbindung von Kommunismus und Neuer Sachlichkeit führt später im Hinblick auf die Dichterproblematik zu zwei entscheidenden Nuancen: Erstens setzt sich Becher nicht dem Vorwurf aus, zu wenig Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Missständen zu üben und damit ›belanglos‹ zu bleiben, wie er die neusachlichen Ansichten gerade um 1929 verstärkt trifft. Zweitens ist der kommunistischen Variante des Gegensatzes zwischen Dichter und Schriftsteller eine Klassenzuordnung eigen, die an die antibürgerlichen Tendenzen von Bechers expressionistischem Werk anschlussfähig ist. Die Zweispaltung der Dichterfigur in den bürgerlichen Visionär einerseits und die »Rote Nachtigall«59 andererseits reagiert auf ein persönliches und dann doch wieder verallgemeinerbares Problem. Die »Künstler, die […] aus dem bürgerlichen Lager stammen und die […] frei gewählt haben, auf der Seite des revolutionären Proletariats den Entscheidungskampf zwischen Kapital und Arbeit mit auszukämpfen« (GW VIII, 103), haben sich nun von allem zu distanzieren, was mit ihrer Herkunftsklasse zusammenhängt – und das hat vor allem ästhetische Konsequenzen: Während die an das Modell des poeta vates angelehnte Konzeption von 1919 den Dichter nur als bloßen Verkünder des ›heiligen Reichs‹ kennt, das die Weltrevolution herbeiführen wird, führt die autobiographische Rückbindung des Dichtermodells ab 1923/24 zu einer Situation, in der Becher mit seiner Person für die kommunistische Sache bürgt. Der unwahrscheinliche Weg des Bürgerlichen, der sich zum Klassenkampf bekennt, soll Vorbildwirkung für alle Dichter bürgerlicher Herkunft entfalten, die jetzt den Fehler machen, auf der Seite der Wahrheitsverschleierung zu stehen.60 Und für alle anderen ist er ein Beispiel dafür, dass die Entwicklung bereits in Gang gekommen und die zunehmende Einsicht auch der bürgerlichen Intellektuellen nicht mehr aufzuhalten ist. Die Rolle des Dichters Johannes R. Becher ist daher gleichermaßen Aufforderung zum Anschluss an die Bewegung und Exempel dafür, dass sie stattfindet.
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Vgl. überblicksartig zur Neuen Sachlichkeit Becker 2000; zur Gruppe 1925 im Besonderen vgl. Petersen 1981. Laut Petersens Übersicht war Becher an 14 von 20 Treffen und Aktionen der Gruppe beteiligt. Vgl. Petersen 1981, S. 206. Zur Geschichte der Gruppe 1925 vgl. Petersen 1981. Becher: Maschinenrhythmen 1926, S. 11. Vgl. zu diesem Kontext in Levisite Wittmann 1980, S. 33.
3. Die Verteidigung der Poesie
Und so nimmt Becher den Hinweis Benns gerne auf, dass auch er einmal autonomästhetische Positionen vertreten habe. Denn, so erklärt sein Gesprächspartner, hierbei handle es sich um eine überwundene und noch ganz der Perspektiv der bürgerlichen Herkunftsklasse verhaftete Schaffensperiode, die überwunden zu haben sich Becher nun rühmen kann. Paradoxerweise führt die Unterordnung des Dichters, der nicht mehr als geniales Individuum zu denken ist, das die Massen zum ›heiligen Land‹ führt, sondern nur als Teil einer größeren Bewegung revolutionäre Kunst hervorbringt, bei Becher ausgerechnet zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit diesem Begriff und zu einer nachhaltigen autobiographischen Schwerpunktsetzung. So erkennbar Becher im Gespräch mit Benn neusachliche Positionen vertritt und damit eigentlich zu einer Aufgabe des Dichter-Begriffs kommen müsste, hält er doch ausgerechnet auf der Basis dieses Programms umso mehr daran fest. Gerade als der Autor ›namenlos‹ werden soll, kommen die Gedichte wie authentische Kindheitserinnerungen daher (Im Schatten der Berge, 1928) und die Erzähltexte bevölkern sich mit autobiographisch inspirierten Protagonisten.61 Schließlich impliziert der radikale Bruch mit der bürgerlichen Kunst nicht nur die Abkehr von einem autonomen Literaturverständnis, das Becher selbst zwischen 1920 und 1923 für sich wiederentdeckt hatte. Darüber hinaus wird die Entscheidung für den Kommunismus bei Becher eine Auseinandersetzung mit der eigenen bürgerlichen Herkunft, denn eigentlich wäre es dem Proletariat vorbehalten, revolutionäre Literatur zu schaffen, weil es seine Perspektive ist, die jetzt Vorrang hat. Allerdings sehen sich die linksradikalen Künstlergruppen von Anfang an dem Problem gegenüber, dass sie auf die Partizipation bürgerlicher Autoren angewiesen sind, deren Relevanz für die Bewegung freilich ständig legitimierungsbedürftig ist.62
3.3
Rettung der Dichtung in der Moderne
Erkennbar sucht Becher spätestens seit Ende der 1920er Jahre (und dann wieder verstärkt gegen Ende seines Lebens) nach Wegen, wie sich die Dichtung als Dichtung im Leben verankern lässt, wie sie eine gesellschaftsrelevante Funktion entfalten kann, ohne ihr eigentliches Wesen des Alltagsfernen aufzugeben. Es ist um 1930 relativ zu erkennen, dass sich Becher mit der Diskussion um Dichter und Schriftsteller beschäftigt, auch wenn er sich selbst nie explizit dazu äußert. Denn 61
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Schon Peter Friedjung in Levisite ist eindeutig als Alter Ego Bechers konzipiert und eröffnet den Reigen autobiographischer Fiktion, den Becher bis zu seinem Lebensende weiterführt. Deshalb haben psychologische Lektüren der Romane nahegelegen, z.B. Rohrwasser 1980. Eine beliebte Legitimationsstrategie, weist man den bürgerlichen Künstlern die Rolle von ›Geburtshelfern‹ zu, die die ästhetische Produktion des Proletariats in Gang setzen helfen. Vgl. Fähnders 2010, S. 252.
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es gibt eine ganze Reihe von Texten, die jetzt darauf angelegt sind, die Rolle zu erkunden, die Dichtung noch in der Gegenwart spielen kann. Da die ›moderne‹ Zeit im frühen 20. Jahrhundert nicht zuletzt durch die technische Entwicklung und die neuen Medien Film und Hörfunk verkörpert werden, setzt sich Becher in einigen Gedichten (!) mit dem Radio auseinander, wobei alle diese Texte die entstandene Konkurrenzsituation zwischen dem neuen Medium und der ›alten‹ Poesie diskutieren. Ähnlich wie Brecht,63 für den der Rundfunk ein Weg ist, breitere Schichten der Bevölkerung zu erreichen und für die kommunistische Botschaft zu gewinnen,64 betont Becher die Chancen, die in dem neuen Medium liegen:65 Welche unausgenutzten Kräfte schlummern hier! Man hat, wenn man heute Film und Radio betrachtet, den Eindruck eines gigantischen Wesens, das sich krampfhaft, von inneren Hemmungen belastet, bewegt, das nach Luft ringt, nach Entfesselung und Befreiung hungert und durstet: ein moderner gefesselter Prometheus, der berufen wäre, über die Erde das Licht zu bringen, der aber erst zusammen mit dem Aufstand des Proletariats seiner inneren und äußeren Ketten ledig werden wird. (GW XV, 206) Mitten im Gedichtband Graue Kolonnen von 1929 steht die »Ballade von einem Bauernknecht, der Radio hörte«. Der Sprecher des Gedichts, wird vom Radio dazu angeregt, sich einer Bewegung anzuschließen, die indirekt als kommunistische erkennbar wird: Wir werden nicht mehr vor den Heiligenbildern knieen. Es werden alle, die da arm und elend sind, Mit großen Schritten durch die Städte ziehen. Auf den Straßen liegt, wenn es auch windstill ist, ein Wind…66 Indes geht es im Gedicht weder eigentlich um den Klassenkampf noch um technische Neuerungen als um die quasi romantische Evokation des ›Wunders‹, dass man über das Radio weit entfernte Klänge hören kann – ähnlich, wie man das Meer hört, wenn man an einer Muschel lauscht.67 Die Übertragung von Radiowellen hat also mehr Magisches als Technisches: »Wer nichts Wunderbares dabei findet,/Hört nicht, wie sein Herz dort jubiliert.«68
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Vgl. zu Brechts Radiotheorie kritisch Daniels 2012 Brecht: 2005 Bd. VI, S. 146-151. Vgl. dazu im Einzelnen Eichhorn 2019a. Becher: Graue Kolonnen 1929, S. 43. Die Überwindung großer Distanzen durch den Rundfunk wird wenige Jahre später auch bei Rudolf Arnheim als »Wunder« beschreiben (vgl. Arnheim 2001, S. 13). Johannes R. Becher: Neue Gedichte 1933, S. 72; Hervorhebung i. O.
3. Die Verteidigung der Poesie
Wohin die Reise geht, machen die Texte der späten 1930er Jahre umso klarer. Wie die Klassiker und Romantiker vor ihm blickt Becher nun zunächst sehnsüchtig auf eine Vorzeit zurück, die noch »von Heroen belebt war«,69 während die Gegenwart vom lyrischen Ich zunächst als ›entgöttert‹ und kunstfeindlich empfunden wird: […] Vom Glanz des Vergangnen geblendet Ging ich traumwandelnd dahin, klagte: »Ich kam wohl zu spät! Zeiten, ich hab Euch versäumt, denn, ach, meine Zeit ist nicht günstig, Ungünstig ist sie der Kunst, Lob nur findet der Schund – Zeigt mir ein Bild, das ich könnte mir heute zum Vorbild erwählen, Nennt mir ein Großes, wofür sich die Begeisterung lohnt! […]«70 Die Stimmung, die hier wie bei Dichtern um 1800 aufgerufen wird, ist die einer Sehnsucht nach einem Goldenen Zeitalter, dessen Verlust der Sprecher betrauert und der ihn zunächst ratlos und ohne Vorbilder und Orientierung zurücklässt. Deshalb baut er sich dichterisch eine Welt nach, die der verlorenen entspricht: »ließ ich mein Hellas erstehn,/Ließ ich erstehn mein Florenz, und gotische Spitzen und Bogen/Baute ich, baute die Welt neu mir aus Farbe und Klang.«71 Daraus resultiert eine Poetisierung und Einreihung des neuen Mediums in eine lange dichterische Tradition, die notwendigerweise eine Medienkonkurrenz zwischen Dichtung und Hörfunk zur Folge hat. Becher bestimmt das Radio – wie die Poesie – als »Brücke zur Kindheit« und der eigenen Heimat.72 Die Aufgabe des Poeten besteht folglich in der »Neuverzauberung der Welt«;73 Technik (»Trichter«) und »Dichter« reimen sich aus gutem Grund.74 Doch es ist nicht nur die Medienkonkurrenz, in deren Kontext Becher das Problem beschäftigt. 1935 kommt er in einem Gedicht in Der Mann der alles glaubte explizit darauf zu sprechen, dass die Dichter in der neusachlichen Welt ›vergessen‹ sind, was ihn aber nicht davon abhält, sich im Gegenteil gerade zu dieser vermeintlich überholten Tradition zu bekennen. Man wirft die Dichtung gern zum alten Eisen Und fragt erstaunt: »Wozu soll Dichtung dienen? Wozu sind alle Dichtungen erschienen? Mit Versen läßt sich nichts, rein nichts beweisen.« Ich denke nicht daran, mit diesen platten 69 70 71 72 73 74
Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 3. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3. Eichhorn 2019a, S. XXX. Ebd., S. XXX. Becher: Neue Gedichte 1933, S. 71.
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Geschwätzen irgendwie mich zu befassen. Ich werd die Schwätzer weiter schwätzen lassen, Die nie des Wortes Sinn begriffen hatten. Das Wort dient denen, die sich so ereifern, Nur zum Belügen und zum Selbst-Begeifern.75 Statt die eigene poetische Produktion des Frühwerks als überwundene ›Phase‹ zu präsentieren, die aus der bürgerlichen Herkunft ruht und inzwischen durch ein anders Literatur- und Selbstverständnis ersetzt worden ist, wie es Becher in Levisite tut, versucht er um und ab 1930 die beiden konträren Anlagen seiner Autorbiographie in ein gemeinsames Narrativ zu bringen. Aus der Rhetorik des Vorher und Nachher wird eine Gleichzeitigkeit, die bewusst versucht, die eigenen hergebrachten Interessen und Begabungen zu ›retten‹ bzw. relevant zu halten. Dies ist nötig, weil Becher sein übergeordnetes Ziel, zeittypische und repräsentative, aber auch ›wirksame‹ und insofern ›revolutionäre‹ Dichtung zu schaffen, nicht aufgibt – umso weniger, nachdem er mit dem Kommunismus eine inhaltliche Präzisierung des vorher vage gebliebenen Aufbruchs vorgenommen hatte. Indem sich Bechers Selbstverständnis als kommunistischer Dichter im Laufe der 1920er Jahre zu wandeln beginnt, stellt er die Weichen für die weitere Entwicklung seines Werks. Die ›Rückkehr‹ zu traditionelleren Erzählformen und die Öffnung gegenüber dem literarischen Kanon bzw. bürgerlichen Autoren, die er vorher abgelehnt hatte, ist hier schon angelegt und nicht erst eine Folge der Expressionismus-Debatte oder der Exilsituation, die eine Kooperation aller emigrierter Schriftsteller nötig macht.76 Der Neuanfang nach der Avantgarde beginnt schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, als Becher für sich den Umgang mit der Dichtungstradition und der eigenen Lebensgeschichte neu auslotet.
3.3.1
Widerstand vs. Dichtung
Bechers Schaffensphase zwischen 1933 und 1945 ist ähnlich wie die der anderen Exilanten von zahlreichen äußeren Widrigkeiten geprägt. Stellt die Auswanderung die deutschen Exilschriftsteller generell vor erschwerte Bedingungen, weil sie nicht mehr auf die gewohnten Vertriebswege ihrer Werke zurückgreifen können und z.T. aufgrund der anderen Landessprache Schwierigkeiten haben, ihre weiterhin auf Deutsch verfassten Schriften abzusetzen,77 ist die Situation in der Sowjetunion in verschiedener Hinsicht von der in den anderen Exilländern zu unterscheiden.78 Ei75 76 77 78
Becher: Der Mann der alles glaubte 1935, S. 147f. Vgl. Gallas, S. 69. Vgl. im Überblick Walter 1978-2007 Bd. II; Walter 1978-2007 Bd. III. Vgl. dazu Walter 1978-2007 Bd. II, S. 220ff.; Kudlinska 1973.
3. Die Verteidigung der Poesie
nerseits wurde die Literaturproduktion in deutscher Sprache von russischer Seite in einer Weise gefördert, die anderswo, vor allem in den USA, undenkbar war.79 Andererseits sahen sich die deutschen Schriftsteller in Moskau einer Vielzahl von Repressalien ausgesetzt. Abgesehen davon, dass ohnehin nur eine sehr begrenzte Zahl an kommunistischen Autoren hier Zuflucht finden konnte, waren diese dann der ständigen Überwachung durch die Staatsapparate ausgesetzt. Politische Ereignisse wie die Moskauer Prozesse, der Hitler-Stalin-Pakt sowie der spätere Einmarsch Hitlers in der Sowjetunion, infolgedessen die deutschen Schriftsteller Moskau Richtung Taschkent verlassen mussten, zwangen zu äußerster Vorsicht bei mündlichen und schriftlichen Wortmeldungen bzw. führten dazu, dass eine ganze Reihe von Werken nicht in der ursprünglich angedachten Form erscheinen konnten.80 Von einem Verstummen Bechers oder von Passivität kann indes keine Rede sein. Wie schon in der Weimarer Republik übernahm er wichtige redaktionelle Tätigkeiten und gab mit der Internationalen Literatur eine der wichtigsten Exilzeitschriften heraus, deren Ziel nicht zuletzt darin bestand, zusammen mit den bürgerlichen Exilanten eine gemeinsame Opposition zum Faschismus zu bilden.81 Auch literarisch war Becher keinesfalls unproduktiv, wobei freilich über dieser Produktion einige Schatten lagen. So wurde der Lyrikband Wiedergeburt (1940) erst nach umfangreichen Umarbeitungen publiziert, weil die unverschleierte Kritik am Faschismus, die die Vorabdrucke einiger Gedichte erkennen lassen, durch den Hitler-Stalin-Pakt zum Problem geworden war (GW IV, S. 903ff.). Ein anderer Gedichtband – Hoher Himmel über dem Schlachtfeld – konnte wegen der Evakuierung Moskaus im Jahr 1941 nicht mehr erscheinen und wurde erst im Rahmen der Gesammelten Werke aus den Archivbeständen rekonstruiert (GW IV, S. 559ff.; zur Entstehungsgeschichte: 910ff.).82 Wenngleich in diesen Jahren eine ganze Reihe von Texten entstanden sind, die die Errungenschaften der Sowjetunion (Der große Plan, Schlacht um Moskau) hervorheben und Lenin wie Stalin als Retter besingen,83 bleibt Bechers Verhältnis zu Russland spannungsbehaftet und er sucht immer wieder nach Möglichkeiten, nach Paris oder in die USA auszureisen.84 Bechers Exildichtung zerfällt dabei relativ deutlich in zwei Teilabschnitte, die durch eine größere Publikationslücke zwischen 1935 und 1938 (und die Expressionismus-Debatte) getrennt sind – dem Zeitraum, in dem Becher seine Reisen durch Europa unternimmt, um exilierte Schriftsteller im gemeinsamem 79 80 81 82 83 84
Zur deutschsprachigen Exilliteratur in den USA vgl. Spalek 1989-2010. Vgl. für den Fall Becher Schäfer 1973. Vgl. zur Internationalen Literatur im Vergleich zu Das Wort Huß-Michel 1987. Vgl. dazu auch Schäfer 1973. Vgl. etwa »Beneidenswerte Menschen« (Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 3ff.) oder die »Hymne auf einen Namen« (GW IV, S. 452ff; 907ff.). Vgl. zu dieser »Gefangenschaft« im Detail Behrens 2003, S. 190-223.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Kampf gegen das NS-Regime zusammenzuführen, und vor allem im Rahmen der Redaktion der Internationalen Literatur höchst aktiv ist. Obwohl die eigene literarische Arbeit nie ganz liegen bleibt, ist das Fehlen größerer Werke bei einem Autor auffällig, der seit 1910 ein Buch nach dem anderen publiziert hatte. Den ›Heimatdichter‹, dessen Werk so stark auf die bürgerliche Tradition des 19. Jahrhunderts Bezug nimmt und dem man deshalb »Wirklichkeitsschwund«85 und unreflektierten Nationalismus86 vorgeworfen hat, gibt es erst in der zweiten Phase von Becher Exilwerk, in die Der Glücksucher und die sieben Lasten und Abschied gleichermaßen fallen. Die erste Phase hingegen, die Jahre unmittelbar nach der Ausreise aus Deutschland, ist von einem anderen Gestus geprägt und lässt erst nach und nach die Schritte hin zu dem Dichtungskonzept erkennen, das man mit dem Becher der späten 1930er und 1940er Jahre verbindet. Im weitesten Sinne lässt sich Bechers Ansatz zwischen 1933 und 1935 auf das Stichwort der Widerstanddichtung bringen. Sammlungen wie An die Wand zu kleben (1933), Deutscher Totentanz 1933 (1933) oder das zusammen mit Heinrich Vogeler publizierte Heftchen Das Dritte Reich (1934) sind schon durch ihre Titel als Literatur zu erkennen, die in erster Linie politische Aufklärungsarbeit leisten und das NS-Regime entlarven sollen. Das Vertrauen auf die Möglichkeit eines innerdeutschen Widerstands ist ungebrochen, weshalb Becher nun daran arbeitet, mit seinen Texten eine solche Bewegung zu stimulieren. Konzeptionell offensichtlich ist die Kontinuität der Widerstandsdichtungen mit Bechers kommunistischer Propaganda der Vorjahre, denn wieder geht es um den Missbrauch der Sprache und die Kollaboration von Dichtern und Künstlern. »Wenn Hitler-Fahnen durch die Strassen wehen,/Darf auch die hohe Kunst nicht abseits stehen«, heißt es in einem Zweizeiler aus der Broschüre Das dritte Reich (1934), den Becher zusammen mit dem Künstler Heinrich Vogeler publiziert.87 Auch der Deutsche Totentanz 1933 kommt auf die Wahrheitsverdrehung der »Schreiblinge, Schmierer, wortgewandte[n] Wesen« zu sprechen88 und auf die Vernunft, die sich folglich »im Dauerschlaf« befinde.89 Wie schon in Levisite profiliert sich in Abgrenzung zu dieser Praxis die Verpflichtung des Dichters, die Fakten richtig zu stellen und auf diese Weise Aufklärungsarbeit zu leisten.90 Denn: »Auch du, der 85 86 87
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Schäfer 1973, S. 360. Haupt 1994, S. 127. Vogelers Illustration zu diesen Versen zeigt einen Maler mit Hakenkreuzbinde vor einem Gemälde der Gottesmutter, auf deren Schoß Hitler anstelle des neugeborenen Christus sitzt; Gewand und Krone Marias sind gleichfalls mit Hakenkreuzen übersäht (Becher/Vogeler: Das Dritte Reich 1934, unpag.). Becher: Deutscher Totentanz 1933, S. 10. Ebd., S. 11. – Vgl. auch die nächsten Verse aus Das Dritte Reich, die auf die Flucht und Vertreibung so vieler Intellektueller anspielen: »Dass man vertrieb das Wissen, ist erklärlich:/Die Wahrheit ist den Nazis zu gefährlich« (Becher/Vogeler: Das Dritte Reich 1934, unpag.). Vgl. dazu auch Schneider 2013.
3. Die Verteidigung der Poesie
schweigt, bist unser Folterknecht!«91 Dabei wird der Widerstand immer noch an den Aufstand der Arbeiterklasse geknüpft. Im Glauben, dass die »braunen Blätter […] balde fallen« werden, ruft Becher die »Arbeiter […] in Gruben und Fabriken« zur Einigkeit auf und versichert ihnen: »Verlasst euch drauf! Es kommen unsre Tage!«92 Dass Bechers Perspektive nicht allein nur ein negatives Element kennt – den Kampf gegen den Nationalsozialismus –, sondern auch eine utopische Zukunftsvision aufbaut, erklärt sich aus dem sozialistischen Weltbild und aus der Hoffnung auf ein besseres Deutschland. Das lyrische Ich lehnt es ab, sich mit der Klage »um das verlorne Reich« zu begnügen; es glaubt an daran, dass dieses nach dem Ende des Faschismus wieder auferstehen und zu neuem Glanz erblühen wird: »Ich traure nicht nur dem Verlornen nach:/Des Siegs Gewißheit, Sicht auf große Tage/Verkünde ich in Deutschlands tiefer Schmach.«93 Ein wesentlicher Teil von Bechers Verständnis von Widerstandsdichtung besteht letztlich darin, neben der Entlarvung der Feinde weiterzudenken und bereits Hoffnung für die Zukunft zu formulieren, wenn die Lage am düstersten ist. Dies gilt umso mehr, als sich Ende der 1930er Jahre bei Becher die Einsicht einstellt, »Daß lang es dauert«, bis der Kampf gewonnen ist.94 Deshalb braucht das deutsche Volk mehr als nur antifaschistische Propaganda, um durchzuhalten. Trotzdem ist es ein neues Selbstverständnis, das die Gedichte ausweisen, denn sie präsentieren Becher als Dichter, der nicht mehr willentlich sein literarisches Schaffen der politischen Agitation unterstellt, sondern von den Umständen dazu gezwungen ist. Die zunehmende Ablehnung von den avantgardistischen Prinzipien in der sowjetischen Kulturpolitik und die Lektüre Gorkis, die Becher so stark hervorhebt,95 ermöglichen ein emphatisches Bekenntnis zum eigenen Dichtertum, das sich mit der Verschränkung aus ästhetischer und ideologischer Avantgarde der späten 1920er Jahre nicht vertragen hatte. Was dabei herauskommt, ist freilich ein enorm romantisches Dichtungsverständnis, hinter dem die politische Linie und der Klassenkampf deutlich zu verblassen beginnen. Am Beispiel des Radios reflektiert Becher um 1930 lyrisch die Medienkonkurrenz, die sich für die Dichtung ergeben hat. Dabei zieht er die besagte Parallele zwischen der Überwindung von Raum und Zeit, die die Radiotechnik ermöglicht, und dem Meeresrauschen, das das fantasievolle Kind in einer Muschel hören kann.96 Er gibt dem Dichter weiterhin die Aufgabe, hinter der entzauber91 92 93 94 95 96
Becher: Deutscher Totentanz 1933, S. 6. Ebd. S. 11. – Ähnlich auch das letzte Blatt in Becher/Vogeler: Das Dritte Reich 1934, unpag. Becher: Gewißheit des Siegs 1939, S. 3. Ebd., S. 89. Vgl. Haase 1964, S. 17. Vgl. das Gedicht »Ballade von einem Bauernknecht, der Radio hörte« (Becher: Graue Kolonnen 1929, S. 40ff.).
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ten Welt auf diesem Weg wieder Magie aufdecken und »Unsere große wunderbare Zeit« zu verkünden.97 Erst die Rekonstruktion dieser Entwicklung um 1930 macht deutlich, warum es jetzt einen Konflikt zwischen Widerstand und Dichtung geben muss. Schließlich ist die Gegenwart ab 1933 nicht mehr ohne weiteres ›groß‹ und ›wunderbar‹. Zudem hat Becher durch den veränderten Ansatz Poesie im emphatischen Sinne auf ›schöne‹ Dinge reduziert, was sich mit dem Ziel, dichterischen Widerstand zu leisten, nur schwer verträgt. Viele der Widerstandsgedichte Bechers sind von Anfang an Metagedichte, die erklären, welcher Weg ihn zu dieser Art von Literatur geführt hat: Ich dachte mir: Das Übermass An Grauen ist zu gross, um noch zu schreiben. Ich nahm die Zeitung vor und las uns las – Bei solchen Lügen soll ich stillebleiben?!98 Bemerkenswert ist dabei, dass Dichtung und Politik, die in der Widerstandslyrik naturgemäß zusammenfinden, in Bechers Konzeption jetzt doch wieder verschiedene Bereiche besetzen. Die Sammlung Gewißheit des Siegs (1939) formuliert Bechers Programm für die Jahre 1935 bis 1938 auf aufschlussreiche Weise. Das »höchste Amt«, das der Sprecher für sich im »Eingang« ausmachen kann, besteht darin, »daß ich laut verklage/Den der Welt verseucht mit seinem ›Heil‹«.99 Ohne Namen zu nennen, stellt er in zwei Sonetten die beiden Dichtertypen gegenüber, die man nach 1933 in Deutschland finden kann: diejenigen, die im Verborgenen gegen das Regime anschreiben, und diejenigen, die von ihm zu profitieren suchen.100 So klar die Wertung zugunsten der ersten Gruppe ausfällt, wird von Becher das Verhältnis von »Gedicht und Zeit« doch erkennbar neu bestimmt. Die Verse von 1939 dienen nicht mehr dem Bekenntnis zur Tendenzdichtung, sondern reflektieren eher das Problem, dass Notwendigkeit der Bezugnahme auf die aktuelle politische Situation zur Folge hat, dass man andere, poetischere Dinge auslassen muss: Ich frage oft, warum ist mein Gedicht Grad dazu ausersehen, anzuklagen, Und dir, mein Feind, der nicht die Wahrheit spricht Das Lügenmaul gar kräftig zu verschlagen?! Meint ihr nicht auch, ich würde allzugern
97 98 99 100
Vgl. Becher: Neue Gedichte 1933, S. 71. Becher: Deutscher Totentanz 1933, S. 5. Becher: Gewißheit des Siegs 1939, S. 3. Ebd., S. 91.
3. Die Verteidigung der Poesie
Von Meer und Wald und weiten Feldern singen, Von Wind und Felsen, Muscheln, Tier und Stern Und von den kleinsten, unschienbarsten Dingen… So ist es. Manches laß ich achtlos liegen, Doch manchmal, wenn mir ein Gedicht gelingt, Steht alles da, worüber ich geschwiegen, Mit einemmal darinnen auf und singt, Und auch das unscheinbarste Ding, das nie Ich sang, singt mit die große Melodie.101 Im Gegensatz zu Adornos berühmten Diktum, der das Gedichteschreiben nach Auschwitz zum barbarischen Akt erklärt,102 sieht Becher nach der Überwindung der Schrecken die Rückkehr zur traditionellen Poesie im Gegenteil als so gesichert wie notwendig an, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen: »Wann endlich/Wird wieder Dichtung sein, die singt und strahlt?!«103 Er will den Weg ebnen, wieder über die Dinge zu schreiben, die der Exildichter schweren Herzens solange zurückstellen muss: Auf viel muß mein Gedicht verzichten. Versteht es, der Verzicht fiel mir nicht leicht. Für dich, du Mensch, der leidet, muß ich dichten, Die Hand, die schreibt, ist Hand, die sich dir reicht. Und was ihr einstmals singt – wißt ihrs auch nicht – Gab euch zum Singen frei mein Zeit-Gedicht.104 Hatte Becher in den 1920er Jahren versucht, die Rolle des Bürgerlichen innerhalb der kommunistischen Bewegung zu bestimmen, verschiebt sich die Fragestellung folglich von dieser stratifikatorischen auf eine zeitliche Perspektive. Herkunftsunabhängig (und insofern passend zu den Einheitsfrontbemühungen der Exiljahre) ist es nun die Zeitgemäßheit von Poesie, die Becher beschäftigt und die er vehement verteidigt. Weil sich der Verzicht auf Poesie und ›Schönheit‹ im Gegensatz zum obigen Postulat nicht durchhalten lässt, sucht Becher bald schon die ältere Literatur gezielt nach Vorbildern ab, an die er anschließen kann, um die Kluft zwischen Dichtung und Widerstand zu überbrücken.
101
Ebd., S. 109. – Das Gedicht ist die Neufassung eines Textes aus Becher: Deutscher Totentanz 1933, S. 13f. 102 Adorno 1955, S. 31. 103 Becher: Gewißheit des Siegs 1939, S. 91. 104 Ebd., S. 110.
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3.3.2
Der Weg des Dichters
Die vielleicht eigentümlichste, aber angesichts des zunehmenden Auseinanderfallens von offizieller (kultur-)politischer Rolle und privater ästhetischer Auffassung plausible Entwicklung ist die Rückkehr zu einer Einstellung, die die Dichtung nicht mehr vorrangig auf ihre gesellschaftliche Funktion befragt, sondern die Literatur zunehmend als Bastion in Anspruch nimmt, mit der unliebsame Erwartungen von außen abgewehrt werden können. Die Entwicklung in diese Richtung verläuft graduell. Immerhin kommen die poetologischen Schriften immer wieder auf das Problem der gesellschaftlichen oder politischen Rolle von Kunst und Literatur zurück, ohne dabei die seit den 1910er Jahren in verschiedenen Varianten bei Becher gültige Prämisse aufzugeben. Dass Becher sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs stärker mit der romantischen Dichtung beschäftigt und deren Anregungen dichterisch aufnimmt, ist bereits in Abschied, mehr aber noch in Volk im Dunkeln wandelnd zu erkennen. Eigentlich ist schon Abschied viel mehr die Geschichte einer Dichterwerdung als eine Erzählung von einem jungen Bürgerlichen, der Kommunist wird. Wie eigentlich der Entwurf einer neuen Ästhetik im Zentrum steht, führt die autobiographische Folie auch dazu, dass der Roman – gerade im letzten Teil – von Hans Gastls Suche nach richtigen Art zu dichten berichtet, weil der Weg über zwei Richtungsentscheidungen – das Vorbild Richard Dehmels und den Expressionismus – zu dem ›richtigen‹ Ansatz führt, den Stefan Sack am Ende des Textes auf den Punkt bringt (5.4.3.2). In dieser Besinnung auf das Vorläufige auf der Basis der poetologischen Überlegungen der Zeit um 1800 findet Becher gegen Ende seines Lebens zu einer Position zurück, die die Frage der politisch-gesellschaftlichen Wirksamkeit von Dichtung nicht aufgibt, aber in einer Art und Weise abstrahiert betrachtet, die den autonomästhetischen Überlegungen Schillers und der Romantiker nahesteht. Denn der Nutzen von Literatur wird von Becher immer weniger über konkretes agitatorisches Eingreifen definiert, wie es noch die antifaschistische Propaganda der Exiljahre bestimmt hatte. Stattdessen sieht Becher die Rolle der Literatur nun darin, dass sie zur Reflexion anregt. Damit einher geht freilich die Unvollkommenheit der gewählten Form wie der inhaltlichen Aussage, die beide keinesfalls endgültig sind und bestenfalls den ›Traum‹, das Ideal andeuten. Mit dieser Konzeption freilich bewegt sich Becher kaum noch im Rahmen dessen, was mit den Begriffen ›Sozialistischer Realismus‹ oder ›Aufbauliteratur‹ angemessen zu beschreiben wäre, so sehr der Aufbaugestus noch die Lieder der späten 1940er Jahre dominiert. Bechers Versuch der Wiederbelebung des Volkslieds und der nationale Gestus seiner Arbeiten sind vielmehr klar nach den poetologischen Entwürfen der Zeit um 1800 modelliert – nach denen der Weimarer Klassik, aber vor allem nach denen einer von Schiller inspirierten romantischen Theoriebildung.
3. Die Verteidigung der Poesie
Gerade das Beharren auf der Unabgeschlossenheit der eigenen Überlegungen, die der Funktionalisierung im Rahmen der Unterdrückung nicht gewünschter ästhetischer Positionen durch die Parteiführung vorbeugen soll, zeigt sich ein romantischer Gedanke, der nicht zuletzt die Form vorgibt, die Bechers poetologische Überlegungen annehmen. Man hat bereits in der Vergangenheit auf Bechers Bestreben aufmerksam gemacht, die Rede wieder als eigenständige Kunstform zu profilieren,105 was sich im Sinne der Universalpoesie als Hintragen der Kunst in den Alltag lesen lässt. Dies gilt umso mehr, bedenkt man, dass die Tausenden von Seiten, die Becher an theoretischen Überlegungen in seinen letzten Lebensjahren produziert, nicht der bloßen Bilanzziehung dienen. Für diesen Fall hätte eine zusammenhängende kausallogische Abhandlung als Format nahe gelegen. Stattdessen präsentiert Becher durchweg bewusst unfertige Reflexionen und vorsichtige Versuche, die eigene Position zu bestimmen: Fragmente. So greift er zunächst zur Form des Tagebuchs (Auf andere Art so große Hoffnung. Tagebuch 1950), dann zur »aphoristischen Methode« (GW XIV, S. 526). Die vier Bände der Bemühungen wie auch das erst aus dem Nachlass erschienene Manuskript Der Aufstand im Menschen bestehen aus zahlreichen voneinander leicht trennbaren Abschnitten, die sich wie die Gedichte der Lyrikbände leicht in einen anderen Kontext wieder neu eingefügt lassen. Das unveröffentlichte Manuskript von Der Aufstand im Menschen fließt zum großen Teil in das Tagebuch 1950 ein, dessen Abschnitte dann in Auswahl wieder das Ausgangsmaterial der Bemühungen bilden. Anstelle der in sich zusammenhängenden Abhandlung, als die man höchstens die wesentlich kürzere »Philosophie des Sonetts« (5.4.1) beschreiben kann, umkreist Becher seine Leitthemen immer wieder und beleuchtet sie aus neuen Perspektiven. Der Autor formuliert seine Ansichten keinesfalls als feststehende Dogmen (wie noch zuvor so oft), sondern als Überzeugungen, zu denen ihn seine Erfahrungen gebracht haben, die er verteidigt, aber nicht als allgemeingültige ansetzt. Zwar ist es Bechers Anliegen, etwas zu sagen, das tatsächlich Anspruch auf Legitimität erheben kann; dies ergibt sich sowohl aus seiner neuen Rolle als Repräsentationsfigur als auch aus der ›Reife‹ des Alters, die es ihm nun möglich machen sollte, nicht nur kurzzeitigen Strömungen anzuhängen, sondern das ›Wahre‹ und Eigentliche zu erkennen. Die Haltung Bechers ist dennoch von einer auffälligen Vorsicht gekennzeichnet: Das Allgemeine wird gesagt und dann in seiner Gültigkeit doch wieder auf den Sprecher begrenzt, der sich erst vorsichtig zu dem vortasten muss, was er öffentlich sagen will. Schon Ende der 1940er Jahre setzt er sich intensiv mit Blaise Pascal auseinander, was sich vor allem in Der Aufstand im Menschen niederschlägt.106 Der Aphorismus bleibt das strukturierende Element aller theoretischen Schriften Bechers – 105 Vgl. Wirth 1981. 106 Vgl. dazu Becher: Der Aufstand im Menschen 1995 (= 1947/48), S. 261ff.
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obwohl er wenig mit dem ›klassischen‹ Dichtungsverständnis zu tun hat, das dort entfaltet wird. In erneut romantischer Manier bekundet er – an diesem »Widerspruch« leidend – das Streben nach dem »Gestalteten und Durchgeführten« (GW XIII, S. 329), die »Sehnsucht« nach dem »Vollendeten« (GW XIV, S. 533). Während Becher 1948 stattdessen nur die unbefriedigende »aphoristische[] Unzulänglichkeit« konstatiert GW XIII, S. 329), steht neun Jahre später in Das poetische Prinzip: »Aber das Aphoristische, das Fragmentarische, die Improvisation müssen sein« – und zwar mit einer Begründung, die erkennbar an Friedrich Schlegel erinnert: Und gerade darin mag vielleicht der besondere Reiz liegen, welchen der Aphorismus, das Fragmentarische, die Improvisation in uns auslösen, daß sie uns reizen und aufreizen, uns nicht leichthin befriedigen zu lassen, sondern nach Höherem zu streben. (GW XIV, S. 533) Damit geht einher, dass Bechers Exilpoetik des ›Anderswerdens‹ im letzten Lebensjahrzehnt eine entscheidende Nuanceverschiebung erfährt. In den 1930er und 1940er Jahren ging es Becher noch um einen historischen Wandel der Menschheit zum Sozialismus, der anhand einzelner Figuren wie Hans Gastl, die stets mit sich ringen und die eigenen Entscheidungen hinterfragen mussten, um schließlich mit ihrer Herkunft brechen und sich der Zukunft zuwenden zu können. Im Gegenzug dazu wird aus dem Anderswerden im Sinne einer mit zahlreichen Rückschlägen versehenen, aber doch letztlich zielgerichteten Entwicklung, nun das Motiv ständiger Wandelbarkeit, die sich selbst neutralisieren würde, gelänge sie je zu einem ›Ergebnis‹, wie es in Abschied noch vorgesehen ist. Auf das Bild, das Becher von sich als Autor zeichnet, wirkt sich dieser Perspektivwechsel entsprechend aus. Bis in die frühen 1950er Jahre hinein sind die vielen Haken, die Bechers Biographie und Ästhetik während seines Lebens geschlagen haben, dem Autor ein Dorn im Auge. An die Stelle der Suche nach dem ›einzig Wahren‹ tritt das Bekenntnis zur Pluralität von Stil von Stilen und Gattungen, ohne die die »Begabung« des Dichters notwendig »verkümmern« muss (GW XIV, S. 256). Dass Becher sich den Dichtern nun wieder ausdrücklich zuordnet (»Ich weiß das eine: ich gehör zu ihnen«) und ihrem Preis sein »ganzes Leben« widmen will,107 sticht angesichts der bei ihm noch lange politisch gefärbten Literatur heraus, schließt aber an die Tendenzen an, die sich vor dem Gang ins Exil bereits abgezeichnet hatten, dann aber vom Widerstandkämpfer-Narrativ verdrängt worden waren. Becher schließt Ende der 1940er Jahre – und umso mehr Ende der 1950er Jahre – verstärkt an die Überlegungen an, die er um 1930 zur Relevanz der Dichtung für die Gegenwart formuliert hatte, profiliert sie aber neu. Schon Der Aufstand im Menschen ist über weite Passagen ein Buch, in dem Becher die Notwendigkeit der
107 Ebd.
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Poesie auch der gegenwärtigen Welt verteidigt – und zwar einer Dichtung, die allein dem »Immanent-Poetischen« verpflichtet ist.108 Diese Rückbesinnung auf das eigene Dasein als Dichter bildet wegen Bechers vorangegangenen programmatischen Richtungsentscheidungen einen potentiellen Widerspruch zum Postulat einer gesellschaftlich relevanten Literatur, wie es Becher seit den 1920er Jahren nicht wieder aufgegeben hatte. Das Bekenntnis zum eigenen Dichtertum und die parallele Rezeption der Frühromantik führen aber nicht dazu, dass Becher die Poesie von ihren politischen Aufgaben entbindet und – nach einer Phase des absoluten ›Funktionierens‹ – wieder zum l’art pour l’art zurückkehrt. Im Gegenteil hält er an der gesellschaftlichen Rolle der Dichtung umso mehr fest, profiliert sie aber neu als Mittelweg zwischen den beiden Extremen, die die Debatten des frühes 20. Jahrhunderts geprägt hatten und die Weichenstellungen des bisherigen Werks Bechers begründen. Hier ist nicht zuletzt der Kontrast ein entscheidendes argumentatives Moment. Die Dichtung kann ihre Wirkung in Reinform nur dann in einer Umgebung erfüllen, in der es noch anders gibt: »Kein Zauber in einer total verzauberten Welt«.109 Damit zeichnet sich ein (erneutes) Abrücken von der ausschließlichen Verpflichtung der Literatur auf politisch-agitatorische bzw. ›nützliche‹ Arbeit ab, wobei Becher gleichzeitig aber nicht zu einem Konzept zurückkehren will, das wieder das genaue Gegenteil als Ideal behauptet, sondern ein ausgeglichenes Verhältnis einfordert. Demnach ist ›reine Dichtung‹ auf einmal wieder zulässig, sofern sie nicht absolut gesetzt wird und ihren Platz in einem größeren Gesamtzusammenhang hat. Im Aufstand des Menschen sieht Becher die Lösung weder darin, dass ein »Schriftsteller« – Becher wählt hier bewusst nicht den Begriff des Dichters wie sonst, wenn er seine eigenen Vorstellungen darlegt – »einen festen unverrückbaren Standpunkt hat und […] in seinem Werk eine eindeutige, bestimmte Linie konsequent verfolgt«, noch in ihrem Gegenteil.110 Jene Haltung entspricht einer von den ›Politikern‹ häufig gewünschten Funktionärstätigkeit, die Becher schon 1948 ablehnt,111 und birgt die Gefahr, »seine literarische Kraft einzubüßen, schematisch zu werden und sich von der Wirklichkeit zu entfernen, wie es bei allen politisch oder religiös gebundenen Schriftstellern zu bemerken ist.«112 Demgegenüber »wird das Schreiben der Standortlosen nur allzubald zu einem inhaltsleeren und gehaltlosen Gefasel«, das von der Wirklichkeit ebenso weit entfernt ist, aber von ihren Vertretern genauso
108 109 110 111 112
Ebd., S. 168. Ebd., S. 171. Ebd., S. 211. Vgl. ebd., S. 167. Ebd., S. 211.
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doktrinär postuliert wird wie die Gegenposition, »nur daß das Unpolitische und das Standpunktlose ihre Doktrin ist«.113 Wenn Becher in der Nachkriegszeit die Bedeutung von Dichtung für die gegenwärtige Welt verteidigt, sucht er bewusst einen Mittelweg zwischen den beiden Extrempositionen, die er im Aufstand ausmacht. Was dabei herauskommt, ist ein Konzept, das sich – wie auch die »Dichtung im Dienst« – auf den klassischen und späten Goethe beruft, weil es darum geht, den Eigenwert der Poesie herauszustreichen, ohne ihr ihre gesellschaftliche Funktion abzusprechen. Becher entwirft den Dichter jetzt also Person, der »die Welt anders« sieht »als der Wissenschaftler und Politiker« und diese Sichtweise auch nicht aufgeben darf, ohne »daß unser Leben verarmt«.114 Mit argumentativen Anleihen an Schiller postuliert Becher folglich eine »reine Nutzlosigkeit und schöne Zwecklosigkeit« des poetischen Ausdrucks, die aber »auf die Dauer, und was ihre Tiefenwirkung betrifft, von einem höheren Nutzen«115 sein sollen, als »brauchbare[] Kunstgewerbe und […] Publizistik«116 ihn aufweisen. Diesen Ausführungen liegt erkennbar das Bedürfnis zugrunde, die gesellschaftliche Relevanz von Dichtung, speziell von Lyrik, nicht aufzugeben. Gleichzeitig markiert sie aber klar die Abgrenzung von einem verengten Verständnis des Dichters als reinem Funktionär. Der damit verbundene Aufruf zu mehr Differenzierung erklärt sich aus der beginnenden Zuspitzung in der Diskussion um Becher Position. Sie ist aber darüber hinaus noch mehr. Die Beschäftigung mit Goethe und Schiller ist in Bechers Fall nicht einem reinen Lippenbekenntnis zum literarischen ›Erbe‹ geschuldet. Wenngleich Becher sich bei der Rezeption beider Klassiker auf bestimmte Aspekte konzentriert und somit weit davon entfernt ist, der literarhistorischen Komplexität der Zeit um 1800 gerecht zu werden, geht es ihm doch um eine ernsthaftere und in diesem Sinne ›tiefere‹ Auseinandersetzung mit den Errungenschaften der Vergangenheit, die im Zeichen des eigenen Selbstverständnisses als Dichter steht. Indem Becher auf Goethe und Schiller zurückgreift, steckt auch der Anspruch, sich selbst in die von diesen beiden Autoren vertretene Tradition einzuschreiben und sie fortzusetzen. Entsprechend der bereits herausgearbeiteten Tendenz, sich selbst aus der eigenen Zeit herauszulösen und den ideologisch zugespitzten Gegenpositionen eine differenziertere Mittelperspektive entgegenzusetzen, betreibt Becher hier eine Selbstkanonisierung, die – anders als bisher – weniger auf die Anerkennung bei
113 114 115 116
Ebd. Ebd., S. 168. Ebd., S. 166. Ebd., S. 165f.
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den Zeitgenossen als auf eine Rehabilitierung auf lange Sicht abstellt. Die Unterschiede zum bisherigen Vorgehen sind schon aus formaler Hinsicht auffällig: War Becher bisher in allen Werkphasen vorrangig bestrebt, die eigene Repräsentativität innerhalb einer aktuellen Strömung herauszustellen, musste seine Strategie notwendig auf die (vollständige) Identifikation mit dieser hinauslaufen, bestenfalls auf die Überbietung dessen, was andere bereits geleistet hatten. Gleichzeitig ist Bechers Vorgehen entsprechend auf eine große Öffentlichkeitswirkung bedacht, um den Anspruch einer Vorreiterrolle zu kommunizieren. Deswegen muss Becher immer wieder gezielte Skandale auslösen – sei es als jugendlicher DichterSelbstmörder, antibürgerlicher Expressionist oder als Kommunist in der Weimarer Republik. Jetzt scheint Becher seine Ausführungen vielmehr an eine Nachwelt zu richten, die ihm möglicherweise günstiger gestimmt ist als die Gegenwart. Das Auseinanderklaffen von dem Bild, das in der Öffentlichkeit von Becher vorherrscht, und dem, das er in seinen essayistischen und tagebuchartigen Reflexionen zeichnet, ist offensichtlich, vor allem in den letzten beiden Lebensjahren Bechers. 1958 erschien endlich die Biographie Walter Ulbrichts, an der Becher Anfang des Jahrzehnts gearbeitet hatte.117 Dieses Buch ist – zusammen mit einem Sonett zu Ulbrichts 57. Geburtstag118 ein berühmtes Beispiel dafür, wie weit die Anpassungsfähigkeit Bechers mitunter gehen konnte, handelt es sich doch um eine (Auftrags-)Arbeit, die gemeinhin als Bechers »schwächstes Machwerk« gilt119 und das als »Herrscherlob«120 durchaus adäquat beschrieben werden kann. Wichtig ist aber auch, dass die Ulbricht-Biographie – im Unterschied zu den Stalin-Hymnen der Exilzeit und den ›Neuen Volksliedern‹ um 1949/50 nicht mehr wie ein Zeugnis authentischer Begeisterung daherkommt. Dem Buch fehlt – wie Ulrich Kaufmann herausgestellt hat – der ›Schwung‹, weil Becher den Werdegang Walter Ulbrichts eigentümlich schematisch und mit vielen Zitaten erzählt, statt die Biographie auf Basis der persönlichen Kontakte ›lebendig‹ werden zu lassen.121 Dass Becher dies nicht tut, dürfte seine Gründe in der alles anderen als konfliktfreien Beziehung der beiden Männer haben. Dem stehen auf der anderen Seite nun Texte gegenüber, die von der politischen Rhetorik der Reden und offiziellen Gedichte bewusst Abstand nehmen, wobei Becher auf den Begriff von Dichtung als ›Alternative‹ zum (politischem) Alltagsdiskurs zurückgreift, den er zwischen 1929 und 1935 schon einmal explizit ins Spiel gebracht hatte. ›Alltag‹ bzw. ›Prosa‹ und Poesie werden einander erneut entgegengesetzt mit dem Ziel, der Dichtung eine Funktion innerhalb der aktuellen 117 118 119 120 121
Becher: Walter Ulbricht 1958. Vgl. Kaufmann 2014, S. 22. Dwars 2003, S. 240. Kaufmann 2014. Vgl. ebd., S. 24.
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Situation zu sichern. Der Aufstand im Menschen ist voll von Bildern, in denen Becher versucht, beide Seiten auszusöhnen und die proklamierte Opposition wieder aufzuheben. Dies geschieht zuerst auf dieselbe Weise wie um 1930, indem Poesie und Prosa sich gegenseitig bedingen, weil beide ihre jeweiligen nötigen und spezifischen Wirkungsbereiche haben: Poesie bedarf, um sich entwickeln zu können, einer gewissen poetischen Atmosphäre, die in den Zeitumständen gegeben ist. Darum ist es auch Sache des Dichters, mit dazu beizutragen, Zeitumstände grundlegend zu verändern, wenn sie stofflich ungünstig und poesiefeindlich sind.122 Becher geht aber jetzt noch weiter und entdeckt – in der Art eines re-entry123 – in der Poesie Elemente der Prosa: Poesie sei gar »nicht ein Gegensatz und ein Jenseits der Prosa, sie ist erhöhte Prosa, Alltägliches zum Schweben gebracht«124 und folglich könnte »in der Abwehr des Poesiefeindlichen und der Totalität des Prosaischen […] die poetische Persönlichkeit auch zu einer politischen werden«.125 Klar ist hier wiederum, dass Becher die eigene Identität als Lyriker und Dichter zu verteidigen sucht und ihre einen Platz innerhalb der gegenwärtigen Welt sichern will, indem er Poesie nicht nur zum notwendigen Pendant der Prosa erklärt, sondern sogar festhält, dass Prosa in ihr enthalten ist. Damit wird Poesie indirekt umfassender und höherwertig. Die Nähe zur frühromantischen Konzeption der Universalposie dürfte angesichts von Bechers zeitgleicher Brentano-Auswertung in Volk im Dunkeln wandelnd hier kein Zufall sein (4.2.3). Das Problem der zwei Wege, die Bechers Werdegang beschreiben, berichtet ein spätes Gedicht, das entgegen dieser Doppelkonstellation »Mein Weg« im Singular heißt. Dort spielt Becher erkennbar auf den nunmehr immer stärker als solche zutage tretenden Gegensatz zwischen Politik und Literatur an: »Der eine führte mich zu hohem Rang,/Der andere schien sich immer mehr zu scheiden,//Von diesem ersten«.126 Damit ist viel gesagt: Erstens wird klar, dass »Rang« eine Kategorie ist, die Becher für sich als Dichter gerade nicht erreicht sieht, sondern die sich auf seine politische Arbeit beschränkt. Zweitens ist auffällig, dass die Abtrennungsbewegung von der Dichtung ausgeht, sich der ›zweite‹ Weg vom ersten scheidet und nicht umgekehrt. Und drittens schließlich ist der Schluss bedeutsam, auf den das Gedicht hinausläuft, denn es kommt nach langem ›Schwanken‹ jetzt doch zu einer Entscheidung, die zugunsten der Dichtung und damit zuungunsten der Politik ausfällt. Im Nachhinein erscheint der Weg der Dichtung als »Für mich der
122 123 124 125 126
Becher: Der Aufstand im Menschen 1995 (= 1947/48), S. 177. Vgl. Schmitz-Emans 2017, S. 209f. Ebd., S. 175. Ebd., S. 166. Becher: Metamorphosen eines Dichters 1992, S. 225.
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einzige«.127 Der Titel wird damit plausibel: Es gibt eigentlich nicht zwei Wege, nur ein Abkommen vom eigentlich richtigen Pfad, das nun zurückgenommen wird. Freilich ist die Entscheidung gegen die Politik eine Uminterpretation der Tatsachen. Die Entlassung Bechers aus dem Ministeramt ist nicht so freiwillig erfolgt, wie die Verse vermuten lassen. Insofern legt sich Becher hier wiederum dichterisch die Realität zurecht und interpretiert die erzwungene Pensionierung in einer Akt der Selbstfindung um. Gerade weil das so ist und sich in ähnlicher Weise im Romanfragment Wiederanders zeigt, wird der ›Weg der Dichtung‹, den Becher hier als eigentliches Zentrum seines Lebens proklamiert, als neues (letztes) Narrativ erkennbar, mit dem die eigene Entwicklung zusammenhalten wird. Es geht also wiederum um die Frage der Deutungshoheit, die keinesfalls eine bloß private Angelegenheit ist. Auch wenn viele der Notizen und Gedichte (wenn auch nicht alle), die Becher programmatische Rückkehr zur Dichtung und die damit verbundene Abkehr von der Politik bzw. der politischen Ausrichtung der Kunst formulieren, aus dem Nachlass stammen, also zu Lebzeiten Bechers nicht gedruckt worden sind, richten sie sich durchaus an die Öffentlichkeit – wenn auch vielleicht an eine Öffentlichkeit, die Becher erst postum ›richtig‹ bewertet. Diese Tendenz zur erneuten Aufwertung der Dichtung gegenüber der eigenen politischen Aktivitäten verschärft sich in den 1950er Jahren, nachdem es sich beiden Pole in Bechers Arbeit funktional aufgespalten haben: Indem Becher schließlich Minister wird und ihm eine ganze Reihe öffentlicher Aufgaben zukommen, trennt sich die politische Arbeit umso stärker von der dichterischen Tätigkeit, wovon die späten Texte aus dem Nachlass eindringlich Zeugnis geben. Dieser Weg freilich ist nicht mehr als Heilversprechen, sondern als Rückzug auf das Gebiet konzipiert, auf dem eine gewisse Sicherheit herrscht. Es ist eine Alternative zu einer Dichtung, die nur das ›Bestellte‹ liefert, wie sie Becher in den 1950er Jahren immer stärker am Werk sieht und die in der Ulbricht-Biographie vielleicht ihr prominentestes Beispiel aus Bechers eigener Feder hat. Nachdem Becher als Minister – in der Bildlichkeit der »Selbstzensur« lange genug ›vorne‹ gestanden hat, zieht er sich nun auf die Nebenschauplätze zurück, deren »beredte[s] Schweigen« ehrenwerter ist als die Arbeit an einem Werk, »das nicht einmal so lange Lebenskraft besitzt, bis es erschienen ist.«128 Die Ministerrolle gibt Becher die Möglichkeit, die seit den 1920er Jahren für seine öffentliche Selbstdarstellung konstitutive politische und gesellschaftswirksame Dimension, die er schon lange in Konkurrenz zur Rolle als Dichter steht, auszulagern. Die beiden über Jahrzehnte konzeptionell in einander verschränkten (wenn auch nie ganz zur Deckungsgleiche gebrachten) Bereiche werden so wieder trennbar. Das Ende der aktiven Tätigkeit als Minister führt folglich dazu, dass der 127 128
Ebd. Becher: Selbstzensur 1988 (= 1958), S. 551.
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Politiker Becher verschwindet – und nur noch der Dichter übrig bleibt. Was eigentlich eine zwangsweise Entwicklung ist, wird in den späten literarischen Schriften zur Entscheidung für den ›eigentlichen‹ Weg, zum Ergebnis eines Erkenntnisprozesses. Damit wird einmal mehr eine eigentlich nicht auf eine Gesamtlinie zu bringende Entwicklung in ein stringentes Identitätsnarrativ überführt. Am Ende kommt Becher entsprechend dort an, wo er schon am Anfang stand: bei einer dezidierten Selbstdeutung als Dichter, die nun wieder um das politische Moment bereinigt wurde. Ob diese Deutung letztlich noch eine zeitgemäße ist, sei dahin gestellt. Sie ergibt sich in jedem Fall erneut aus der Reaktion auf veränderte Umstände bzw. ist als Reaktion auf diese angelegt. Die Dichtung – lange gedeutet als Ort der Verkündung höhere Wahrheiten und auf gesellschaftliche Wirkung ausgerichtete Tätigkeit – wird schließlich zum Rückzugsort und abseits öffentlicher Verlautbarungen, der der rein privaten Selbstverständigung dient. Die Botschaft, die in Bechers späten unveröffentlichten Arbeiten steht, richtet sich nicht mehr an die Gegenwart, sondern bestenfalls an die Nachwelt, die die Fehldeutungen der frühen DDR unter Auswertung dieses Materials wieder richtig stellen kann. Die Anpassung an die eigene Zeit kommt hier an ein Ende. Repräsentativität von Werk und Leben sind nur noch Kategorien, die sich aus der Retrospektive rekonstruieren lassen, nicht mehr Zielsetzungen des literarischen Produktionsprozesses. Diese Einschnitt ist fundamentalerer Natur als alle vorherigen, denn betrifft nicht die konkrete ästhetische oder weltanschauliche Ausrichtung der einzelnen Texte als vielmehr die Prämissen, denen sie verpflichtet sind: die Aufgaben, die mit Literatur verbunden sind, und das Selbstverständnis dessen, der sie hervorbringt. Die »Jahrhundertmitte« bedeutet so den Abschluss eines dichterischen Gestus, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts stabil geblieben war und markiert so den letzten Zusammenfall individueller Biographie und gesellschaftlichästhetischer Gesamtentwicklung.
4. Textverarbeitung und Komposition
4.1 4.1.1
Stimmen der neuen Zeit: 1910er und 1920er Jahre Jugendstil-aemulatio
Bei dem 1912 erschienen Lyrikband Die Gnade eines Frühlings handelt es sich um Bechers erste gedruckte Sammlung von Gedichten, der nur die separat erschienene Kleist-Hymne Der Ringende vorausgeht. Da selbst die Forschung zu Bechers lyrischem Frühwerk sich vorrangig erst für die eindeutig expressionistischen Texte interessiert, ist der im Verlag von Bechers Freund Heinrich Franz Seraph Bachmair publizierte Gedichtband verhältnismäßig wenig untersucht. Er gilt – wie die Kleist-Hymne und der ebenfalls aus dem Jahr 1912 stammende Roman Erde als Zeugnis von Bechers kurze Zeit später schon deutlich abgekühlter Begeisterung für Richard Dehmel und als mehr oder weniger epigonale Anknüpfung »an den Lebenskult der Jahrhundertwende«.1 Die Beschäftigung mit diesem Lyrikband ist dennoch lohnend, weil er deutlich macht, wie stark Becher auf der einen Seite von der Jugendstildichtung beeinflusst ist, deren Anregungen aber doch auf eine Art und Weise aufgreift, die analytischen wie überbietenden Charakter hat. Um zu verstehen, wie Bechers ›Anverwandlung‹ fremder Errungenschaften wirklich funktioniert, ist dieser erste publizierte Gedichtband äußerst aufschlussreich, da er zeigt, dass Becher erstens vor allem auf Themen und Leitmotive des Jugendstil zurückgreift (und noch weniger an der Formseite arbeitet). Zweitens macht der Umgang mit diesen Motiven in Gnade eines Frühlings aber auch klar, dass Becher diese als Material behandelt, mit dem er frei verfahren kann, um so zu eigenen Dichtungen zu kommen. Die Forschung hat bereits darauf hingewiesen, dass neben dem Motiv des Frühlings, das bereits im Titel steht, u.a. das Stichwort ›himmelblau‹ immer wieder vorkommt, daneben »Bechers Zentralthema – das der Wandlung […] zuerst als Abschied von der Kindheit« anklingt.2 Der Band ist voll mit ekstatischen Ausrufen
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Martens 1971, S. 296. Ähnlich Haase 1981b, S. 18. Haase 1981b, S. 18.
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wie »prangendes Gold! Sprießendes Weiß! Schimmerndes Blau!«,3 was leicht dazu verleiten kann, ihn als inhaltlich triviales und ästhetisch wenig ambitioniertes Jugendwerk abzutun. Wenn man den Gedichtband freilich genauer betrachtet und ihn hinsichtlich seines Kompositionsprinzips befragt, wird deutlich, woher dieser Eindruck stammt. Denn Gnade eines Frühlings ist eine Art Sammelsurium verschiedener thematischer wie ästhetischer ›Trends‹ und Motiv der Jahrhundertwendezeit. Becher nimmt die Anregungen verschiedener zeitgenössischer Dichter auf. Es greift zu kurz, Becher in dieser Zeit ausschließlich als Jünger Dehmels zu betrachten – nicht nur, weil man auch Kleist und Hölderlin als Vorbilder berücksichtigen muss; zudem ist dem Lyrikband die gezielte Auseinandersetzung mit Waldemar Bonsels4 und – was bisher noch gar nicht gesehen wurde – mit Arno Holz erkennbar eingeschrieben. Holz hatte in seinem 1898/99 erschienenen Phantasus den Versuch unternommen, eine (ihrer Intention nach) naturalistische Lyrik zu etablieren, die auf konventionelle lyrische Formen wie Reim, Metrum und strophische Form verzichtet. Weiterhin sagte Holz in seiner Revolution der Lyrik (1899) der konventionellen Arbeit mit Symbolik den Kampf an. Der Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen und so eine unmittelbar sinnliche Wirkung zu erzeugen, wird in Holz’ eigenen Gedichten nicht zuletzt durch ihre spezifische Interpunktion umgesetzt. Neben der Mittelachse, die den Lesefluss fördern soll, ist es in nuce die Arbeit mit enthusiastischen Ausrufen und Fragen des lyrischen Ichs sowie Auslassungen, die – neben Enjambements und Wiederholungen – das Spezifikum von Holz’ Dichten ausmacht.5 Obwohl Becher in Die Gnade eines Frühlings auf die von Holz verwendete Mittelachse verzichtet, lassen sich auffällige Ähnlichkeiten mit der Erstfassung des Phantasus feststellen. Dies gilt zunächst für die Thematik, indem hier ein lyrisches Ich den Jahreszeitenwechsel mit einzelnen Naturbeobachtungen erfasst. Wie schon bei Holz setzt Bechers Gedichtband mit einer (negativen) Thematisierung des Herbstes ein,6 und beschwört nach drei expliziten Wintergedichten7 die Überwindung der kalten Jahreszeit durch den neu aufkeimenden Frühling. Vor allem aber lässt sich der Einfluss von Holz auf Bechers frühe Lyrik in sprachlicher und graphematischer Hinsicht nachweisen, wobei Becher die von Holz entwickelten Verfahren erkennbar potenziert. Vergleicht man beispielsweise das Eröffnungsgedicht des Phantasus mit Bechers Texten, sind die Übereinstimmungen kaum zu übersehen. In Holz Text betrauert das lyrische Ich eine verstorbene Geliebte, die ihn dennoch nachts wieder 3 4 5 6 7
Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 12. Vgl. u.a. Behrens 2003, S. 18. Vgl. dazu am umfassendsten immer noch Geisendoerfer 1962. Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 9f. Ebd., S. 11ff.
4. Textverarbeitung und Komposition
besuchen kann. Zunächst gibt es auch in Bechers Die Gnade eines Frühlings das Motiv der verstorbenen Geliebten, das die Forschung bislang stets uneingeschränkt als autobiographische Referenz an den Doppelselbstmordversuch von 1910 verstanden hat.8 Allerdings ist die Anspielung – anders als in Erde (5) – hier deutlich zu vage, um von einer solchen Bezugnahme auszugehen. In den fünf Gedichten, die vom Tod der Geliebten berichten, wird nirgendwo eine Ursache für ihr Verscheiden genannt, geschweige denn gibt es Hinweise auf einen gemeinsamen Selbstmordversuch mit dem lyrischen Ich.9 In Sprachduktus und Interpunktion stehen die Gedichte aus Die Gnade eines Frühlings dem Vorbild Holz’ sichtlich nahe. Dieser arbeitet bekanntermaßen gezielt mit Wiederholungen, Ausrufen und Auslassungen, um die nächtliche Stille und den Schmerz des Sprechers abzubilden: Nacht. Ein Hund… bellt,… ein Zweig… knickt, – still! Still!! Du?… Du? Ah, deine Hand! Wie kalt, wie kalt! Und… deine Augen… gebrochen!
Gebrochen!! 10
Finden sich auch bei Becher Gedichte, die eine ähnliche Stimmung evozieren,11 greift der Jüngere Holz’ Verfahren jedoch in erster Linie für die Texte auf, die den beginnenden Frühling beschwören wie in den aufeinanderfolgenden Gedichten »Rüstung« und »Licht des Frühlings«: Noch muß das Letzte durchtragen werden, das mich zum Finden weist,
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Vgl. Haase 1981b, S. 18. Die einzige Stelle, die sich – allerdings mit sehr viel Kulanz – als Verweis auf Bechers Jugenderlebnis lesen ließe, ist eine Passage, in der der Sprecher mehrere Anläufe braucht, um festzustellen, wer von beiden Liebenden gestorben ist: »Mein Tod? Dein Tod? …./Dein Tod« (Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 32; Hervorhebung i. O.) Holz: Phantasus 2009 [= 1899/1900], S. 5. Am Nächsten kommt Becher dem Szenario bei Holz in dem titellosen Gedicht Dein Blut, dein Blutblut (Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 34).
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dann wird der Arm frei! Ich sehe die Erde wieder, zagend wieder! tagend wieder! wieder! wieder! und wie im Mai!! Weißt du auch, was das heißt: Erde im Mai?! Was – das – heißt – – –: Winde spielen Ball mit flockigem Flieder, Schwalben trillern das Lied der Lieder, das über Gründen kreist.12 […] Was will dies Glänzen rings auf den Höhn? Die Menschen kommen in Licht! in Licht! Ist nicht die Welt ein Sonnenspiel?… Sing an mein Lied: o Licht des fernen Frühlings!13 Becher wiederholt hier nicht nur wie Holz z.T. ganze Passagen, um die Intensität der Wirkung zu steigern. Indem er die bereits gestellte Frage »Weißt/du auch, was das heißt:/Erde im Mai?« danach erneut stellt und die einzelnen Wörter durch Gedankenstriche trennt, verlangsamt er den Rhythmus zur Betonung der Aussage ähnlich, wie dies Holz in der oben zitierten Passage zweimal tut, wenn sein lyrisches Ich die Stille der Nacht beschreibt (»Ein Hund… bellt,… ein Zweig… knickt«) bzw. den Tod der Geliebten bemerkt: »Und… deine Augen… gebrochen!«. Becher arbeitet dabei gleichermaßen mit Auslassungspunkten und Gedankenstrichen, um diesen besonderen Effekt zu erreichen. Dabei erscheinen die Auslassungspunkte nicht selten in Variation, indem Becher sie nicht nur in der üblichen Dreikonstellation verwendet und die Zeichensetzung deutlich potenziert. So setzt er wie Holz14 die Interpunktion dazu ein, den Inhalt des Gesagten noch einmal abzubilden, treibt das Mittel aber in ein neues Extrem, wenn etwa im Gedicht
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Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Vgl. Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 59;. Holz/Schlaf 2010.
4. Textverarbeitung und Komposition
»Befreiung« neunundzwanzig (!) Gedankenstriche das zuvor erwähnte ›schläfrige Morgenschweigen‹ abbilden.15 Diese Beobachtung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil Bechers Texte durch die Vielzahl der Ausrufe und die besondere Interpunktion eine Sonderstellung innerhalb der expressionistischen Dichtung einnehmen und in Sammlungen wie der Menschheitsdämmerung durch ihren unverkennbar visionären Ton herausstechen. Becher verwendet darüber hinaus – in allen von ihm bedienten Gattungen – bevorzugt Ausrufe und Fragen bzw. kombiniert in zahlreichen Variationen Ausrufe-, Fragezeichen und Auslassungspunkte bzw. Gedankenstriche. Neben diesen graphematischen Besonderheiten erweist sich aber auch die Wahl der Motive und der Umgang mit ihnen als für Bechers weiteres Schreiben konstitutiv, weshalb der Aspekt daher eine nähere Betrachtung verdient. Zum einen muss man feststellen, dass so gut wie alle für die Jugendstil-Dichtung relevanten Schlagworte (mehr als einmal) im Band fallen. Bereits hier gibt es nicht das eine Leitthema, wie es nicht den einen Vorbildautor gibt. Gnade eines Frühlings ist inhaltlich genauso auf Pluralität ausgerichtet wie im Hinblick auf die ästhetischen Anschlüsse. Obermayer hat für den Roman Erde die Themenfelder »der Jugend, der Sonne, des Frühlings und der Erde« ausgemacht, die sich auch in Die Gnade eines Frühlings finden.16 Becher scheint in dem Band, dessen ursprünglicher Titel Die Jugendwelt lautet,17 alle Register der Jahrhundertwendelyrik ziehen zu wollen, deren Frühlingsverehrung schließlich legendär ist. Stellt man dies neben Haases Befund, der auf die Präsenz des Farbadjektivs ›himmelblau‹ und das Wandlungs-Motiv hinweist, hat man bereits sechs mehrfach im Gedichtband fallende Stichworte ermittelt. Dazu kommen Naturbegeisterung und eine religiöse Metaphorik, die – im Sinne von Richard Dehmels Skandalgedicht Venus consolatrix aus dem Lyrikband Weib und Welt (1896) – Marienverehrung und Erotik verbindet.18 Damit ist indes erst ein Bruchteil der tatsächlich vorkommenden überhaupt angesprochen. Zählt man alle im Buch mehr als einmal auftretenden Begriffe zusammen, kommt man rasch zu einer Liste von mehr als 40 potentiellen Motiven, die Becher in Die Gnade eines Frühlings in immer wieder neuer Anordnung zusammenbringt. Allein die quantitative Dimension macht klar, dass es Becher nicht nur auf das Zusammenführen verschiedener ›repräsentativer‹ Tendenzen ankommt, sondern dass diese durch die Kombination überboten werden sollen. Der Gedichtband enthält 33 einzelne Gedichte sowie vier Zyklen. Wie oben angedeutet setzt der Band mit Gedichten ein, die die Jahreszeiten Herbst und Winter thematisieren, was
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Das Verstummen des Sprechers wird durch Gedankenstriche dagegen in Abend markiert: »Du – du – du – du – – – – – – – – – – – – – –« (Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 46). Obermayer 1985, S. 108. Vgl. Becher: Der Ringende 1911, unpag. Vgl. Fritz 1969, S. 233.
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mit wiederholten Stichworten wie »Sturm«19 oder »Schnee«20 einhergeht. Erst mit dem ersten Zyklus, der den Titel des Bandes aufnimmt und aus 13 Texten besteht, kommt der Frühling ins Spiel, der als Aufbrechen eines neuen Lebens nach dem Winter in Szene gesetzt wird. Nachdem es am Ende des Zyklus Gnade eines Frühlings bereits Mai war,21 wiederholt das daran anschließende Gedicht Licht des Frühlings die Konfrontation zwischen Winter und Frühling, indem dort die schlittenfahrenden Kinder bereits »das ferne Licht des Frühlings« erahnen.22 Entscheidend ist hierbei, dass die Frühlingsmotivik von Anfang an sowohl an die Liebe als auch an religiöse Bezüge gebunden ist. Während der Sprecher einmal die Augen seiner jungen Geliebten mit Veilchen vergleicht;23 wird der Frühlingsanfang später mit der Ankunft des ›lieben, lieben Gottes‹ gleichgesetzt: Sing mein Seelchen! Sieh, der Frühling öffnet unseren Blumen goldene Kelche. Sing, mein Seelchen! Nimm die blühenden Zweige, denn dein lieber, lieber Gott kommt.24 Dominiert in der ersten Hälfte die mit Liebe und hymnischen Anrufungen von Jesus und Maria25 verbundene Freude über den anbrechenden Frühling, nehmen im zweiten Teil des Bandes die auf die Passion Christi verweisenden Elemente zu. Dies beginnt schon früh mit Stichworten wie »Gram« oder »Leid«.26 Deutlich wird diese Entwicklung aber vor allem, wenn gegen Ende immer häufiger von »Rosen«27 die Rede ist. Der Verweis auf die Dornenkrone wird schließlich explizit im Zyklus »Die Toten«: »Wild sieht der Heiland auf die Todgeweihten,/die, sanft gebettet, zeitlos und befreit,/einst licht in Demut seine Krone trugen:/von heimatlichem Leid/die tiefe Spur auf der erblaßten Stirne«28 – ein Bild, das sich bis zum Ende hin noch mehrfach wiederholt, bis sich der Sprecher im letzten Gedicht schließlich selbst
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Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 8; 9. Ebd., S. 11; 12. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 25. Ebd., S. 40. Ebd., S. 15 bzw. 19. Ebd., S. 35 bzw. 36. Ebd., S. 30. Ebd., S. 50.
4. Textverarbeitung und Komposition
als Christus-Nachfolger darstellt: »Auf meiner blutigen Stirne,/ruht eine bleiche Krone«.29 Gerade die Gegenüberstellung der letzten beiden Zitate lässt jedoch erkennen, dass es nicht allein die Wahl der Bilder ist, auf die man bei Becher achten muss. Darüber hinaus arbeitet dieser schon in seinem ersten Band mit einem ausgesprochen komplexen Verfahren der Motivkombination. Becher übernimmt, wie man hier sieht, die Dornenkrone, die zuerst in Bezug auf die »Todgeweihten« auftritt, für das lyrische Ich. Auch sonst sind die zwei Passagen in sprachlicher Hinsicht eng aneinander gekoppelt: In beiden Zitaten wird die Stirn des Kronenträgers angesprochen und in beiden taucht ein Adjektiv auf, das auf Farblosigkeit hinweist – einmal ist von der »erblaßten Stirne« die Rede, ein anderes Mal wir die Krone als ›bleich‹ beschrieben. Damit ist aber nur der letzte Teil der Motivkette erfasst, die sich hier ausmachen lässt. Zunächst wird das Bild der Dornenkrone nämlich durch die Erwähnung der Rosen vorbereitet, wobei diese Blumen anfangs nicht unbedingt in religiösem Kontext stehen. Immerhin lassen sie sich auch auf die Liebesthematik beziehen und werden von Becher ähnlich wie die Farbadjektive zur Naturbeschreibung eingesetzt. So ist etwa im elften Gedicht des ersten Zyklus die Rede von einem »rosenkühlen Abschied«.30 Hierbei handelt es sich insofern um ein Naturbild, als die ersten beiden Verse des Gedichts klar machen, dass hier wieder die Abendröte im Zentrum steht, die Becher schon in den ersten Texten des Bandes mehrfach anspricht: »Sie träumt mich an mit ihren vielen vielen rotverweinten Kinderaugen: die stille treugeliebte Abendfreude«.31 Eingeführt wird das Rosen-Motiv aber im Zusammenhang mit einem anderen Zentralbegriff aus Die Gnade eines Frühlings, der nicht zufällig mit dem Titel einer Novelle von Waldemar Bonsels übereinstimmt.32 Das Stichwort ›Blut‹ ist das in Bechers Gedichtband am häufigsten gebrauchte Bild, was auf seine zentrale Stellung hindeutet. Der Begriff ist allein deshalb so präsent, weil er sich als Alternative zum Farbadjektiv ›rot‹ verwenden lässt. Genau in diesem Zusammenhang taucht das Stichwort auch zum ersten Mal auf, um den abendlichen Sonnenuntergang zu beschreiben: »Tief tief unten steht der Himmel/Blut in Blut«.33 Aus dieser Perspektive verwundert es nicht, wenn Becher auch mit Blick auf die Rosen eine Verbindung zum Blut-Motiv herstellt. Allerdings geht dies über eine bloße Wiederholung eines Farbsynonyms hinaus. Wenn nämlich zum ersten
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Ebd., S. 67. Ebd., S. 33. Ebd. – Auffällig ist hier auch die erneute Parallelisierung von Geliebter und Natur über das Augen-Motiv. Bonsels 1914. Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 13.
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Mal von Rosen die Rede ist, geschieht dies im Zusammenhang mit der sterbenden Geliebten, was eine weitere semantische Ebene der Blutmetaphorik aufgreift: So fühlst auch du: es ist das Letzte. Stammelnd windet sich dein Leib. So fühlst auch du: es ist das Letzte und – du bist nicht mehr Weib. Funkelnd gluten im Benetzten, Letzten Tropfen. Blutige Rosen. Ruhend im blendend Körperlosen[.]34 Nicht nur der Verweis auf ›Blut‹ und ›Tod‹ deutet auf die spätere Wiederkehr der Rosen in der Dornenkrone voraus. Letztlich kann man im Adjektiv ›blendend‹ auch einen Bezug zu der Farblosigkeit erkennen, die am Ende mit den Begriffen ›bleich‹ und ›erblasst‹ markiert wird und die ihrerseits stark mit dem Farbjubel der vorangegangenen Gedichte kontrastiert. Wo nach der Überwindung von Herbst und Winter Frühling und Jugend eingezogen sind, steht am Ende des Gedichtbands der Tod, der alle vorher aufgeführten Farben zum Verschwinden bringt. Bechers Umgang mit den sprachlichen Motiven ist also von einem ausgefeilten System geprägt, nach dem einzelne Bilder zunächst etabliert werden und dann in neuer Kombination wieder auftreten. Dabei führt Becher die Motive zunächst in einer bestimmten Kernbedeutung ein und spielt nach und nach die anderen Bedeutungsnuancen des jeweiligen Begriffs aus bzw. sorgt durch die Verbindung mit anderen Motiven für eine semantische Anreicherung des Ausgangsmotivs: Steht ›Blut‹ anfangs für die rote Farbe des Abendhimmels, wird in der Verbindung mit dem Tod der Geliebten die morbide Komponente des Bildes ausgespielt, indem austretendes Blut auf Verletzung und Lebensgefahr hinweist. Die (roten) Rosen verbinden die Liebesthematik mit der Blutthematik, bevor sie schließlich zum Bild der Dornenkrone werden und so das Todesmotiv zum Märtyrertum potenzieren, was außerdem eine Brücke zur christlichen Metaphorik des Gedichtbandes (»Jesus«) schlägt. Auf diese Weise montiert Becher nicht nur einige in der Jugendstildichtung generell häufig gebrauchte Versatzstücke neu zusammen; in Die Gnade eines Frühlings entsteht demgegenüber ein komplexes Motivgeflecht, in dem die einzelnen Bilder auf verschiedene Weise miteinander verbunden sind und sich gegenseitig semantisch beeinflussen. Gnade eines Frühlings ist gewissermaßen der Versuch, den ganzen Jugendstil in ein Buch zu bekommen. Becher vereinigt alle ›wichtigen‹ Elemente dieser poetischen Strömung zu einer Art Konzentrat, das alles Überflüssige ausfiltert, dafür die konstitutiven Elemente umso gehäufter verwendet. Auf diese 34
Ebd., S. 30.
4. Textverarbeitung und Komposition
Weise wird Gnade eines Frühlings zu einem scheinbar repräsentativen JugendstilBand, der mit dem gewählten Verfahrens den Eindruck von Originalität aufopfert. Das erkennbare Ziel der intertextuellen Arbeit Bechers besteht vielmehr darin, die Vorarbeiten der einschlägigen Dichter auszuwerten, um sie zu quantitativ sowie durch ihre Kombination und die daraus gewonnenen semantischen Pointen zu übertreffen. Ziel ist nicht so sehr die Ausstellung des eigenen Könnens. Der Band von 1912 ist vielmehr eine Zugehörigkeitserklärung zu einer bestimmten literarischen Bewegung, wie sie auch der Selbstmordversuch zwei Jahre zuvor mit seinen um Deutungshoheit bemühten Abschiedsbriefen darstellt (5.1): Die »Jugendtragödie« und die »Jugendwelt« bilden die Identifikationsfolie, auf der Bechers frühes dichterisches Selbstverständnis entsteht und – das ist entscheidend – von Anfang an als solches nach außen kommuniziert wird.
4.1.2
Französische Modernisten
Zwei Jahre nach Die Gnade eines Frühlings legt Becher erneut einen Gedichtband vor, nachdem er zwischenzeitlich in verschiedenen expressionistischen Zeitschriften einzelne Gedichte publiziert hat.35 1914 ist im Hyperionverlag die zweibändige Ausgabe von Verfall und Triumph erschienen, deren erster Teil Gedichte enthält, während sich im zweiten Teil sechs kleinere Prosatexte finden. Die Prosastücke sind insgesamt nur sehr selten wissenschaftlich behandelt worden.36 Dabei dominieren zwei Lesarten: Einerseits wird – wie bei der Lyrik auch – die Vielfalt von Bechers Schreibweisen herausgestellt und letztlich als Signum seiner fehlenden Eigenständigkeit und Originalität gewertet.37 Andererseits findet sich häufig die Lesart, die die Themen und Motive der expressionistischen Erzählungen als Abbild von Bechers zerrütteter Psyche und seinem Drogenkonsum betrachtet.38 Eine solche Lesart wird vor allem von der ständigen Wiederkehr autobiographischer Verweise gestützt: Indem die Protagonisten in drei der sechs Erzählungen Hans heißen und als Handlungsort immer wieder München erkennbar wird, liegt eine Identifikation von Autor und Hauptfigur mehr als nahe.39
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Vgl. Rost, S. 631ff. Einzelanalysen gibt es zu De Profundis (Koopmann 1999, S. 210ff.), Das kleine Leben (Schwarz 1978, S. 253ff.) und Um Dagny heulen wir Gespenster (Wittmann 1978). Vgl. Behrens 2003, S. 47. Diese Perspektive ist für Sattlers Ansatz leitend, findet sich aber auch bei Behrends, wenn dieser Verfall und Triumph insgesamt als »Ausdruck seines [= Bechers] Lebensgefühls« versteht (Behrens 2003, S. 33), wobei sich sowohl die Morphiumsucht als auch der für Bechers Generation typische »Haß auf den Wilhelminismus und das Bürgertum« sowie »die Angst vor dem Nichts« niedergeschlagen hätten (Behrens 2003, S. 34). Vgl. auch Wittmann 1978, S. 615.
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Der Lyrikband von Verfall und Triumph dagegen bildet – neben den Gedichten, die in Pinthus’ Menschheitsdämmerung enthalten sind – die Hauptquelle für die Beschäftigung mit Bechers expressionistischem Œuvre. Er gilt zusammen mit dem Prosateil als »ein klassisches Zeugnis des Expressionismus«,40 nach Auffassung von Bechers jüngstem Biographen sogar als »formale und thematische Summe des deutschen literarischen Expressionismus« überhaupt.41 Diese Perspektive gewinnt Plausibilität, wenn man das Themenspektrum und die Form von Verfall und Triumph betrachtet, das sich in einigen markanten Punkten deutlich von dem aus Die Gnade eines Frühlings unterscheidet und auffällige Parallelen zur dichterischen Produktion anderer Expressionisten zeigt. Zunächst erweist sich der Lyrikband indes als formal in sich recht geschlossenes Werk. Auf den ersten Blick fällt die Rahmenstruktur auf, die dadurch entsteht, dass Becher den Band mit einem Einzelgedicht unter der Überschrift »Eingang« eröffnet und ihn mit einem ähnlich gearteten »Ausgang« beschließt. Dazwischen stehen fünf Abteilungen mit eigenen Überschriften, die die Gedichte gewissermaßen narrativ ordnen. Den Buchtitel aufnehmend entsteht so eine Linie vom »Verfall« zum »Triumph«, wie die Überschriften der ersten und der letzten Abteilung lauten, über die Zwischenstufen »De Profundis«, »Die Stadt der Qual« und »Der irdische und der himmlische Gesang«.42 In Bezug auf Bechers expressionistische Lyrik aus Verfall und Triumph hat die Forschung in der Vergangenheit eher die Differenzen zum Vorgängerband Gnade eines Frühlings hervorgehoben und sogar den Eindruck formuliert, hier scheine man es mit »einem völlig anderen Autor« zu tun zu haben.43 Tatsächlich aber ist die Kluft zwischen beiden Büchern schon deshalb nicht unüberwindlich, weil es textliche Übereinstimmungen gibt. So findet sich ein Gedicht (»Wer mag noch lieben, wer dich klar gesehen?«) in beiden Lyrikbänden, was freilich kaum auffällt, weil es jeweils als Teil eines Zyklus erscheint – in Die Gnade eines Frühlings gehört es zum Zyklus »Maria der Jugend«; in Verfall und Triumph erscheint der Text als elfter Teil von »De Profundis«.44 Wie sich an diesem Beispiel zeigt, gibt Becher darüber hinaus trotz der anderen thematischen Schwerpunktsetzung im Band von 1914 die religiöse Motivik seines Vorgängers nicht auf, sondern lässt sie nur weniger stark hervortreten. Obwohl die explizite Nennung von Jesus und Maria unterbleibt und das lyrische Ich an zwei Stellen sogar eine eher antireligiöse Tendenz erkennen lässt,45 ist nicht 40 41 42 43 44 45
Haase 1981b, S. 20. Behrens 2003, S. 33. Stephan hat darüber hinaus noch weitere Oppositionsbeziehungen zwischen den einzelnen Titeln der Gedichtzyklen ausgemacht (vgl. Millington 2012, S. 43). Millington 2012, S. 42. Vgl. Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 45 sowie V+T I, S. 81. »Nicht ehren wir Gott mehr. Er hat uns geraubt/Die Kräfte« (V+T I, S. 53). Vgl. auch ähnlich schon im Gedicht Die Armen (V+T I, S. 32ff.).
4. Textverarbeitung und Komposition
nur der Name Gottes omnipräsent. Becher widmet eines der Gedichte dem katholischen Theologen Josef Amberger (V+T I, S. 145), wählt für den letzten Abschnitt »Triumph« ein Motto aus der Apostelgeschichte (V+T I, S. 163) und fügt mehrere Gedichte mit religiöser Thematik ein, in denen sich der Sprecher im angesprochenen Herrn »verlieren kann« (»Mystisches Dasein«; V+T I, S. 15) bzw. »zerflossen« ist (so das zweite der ›Drei geistlichen Lieder‹ »Anfechtung und Geißelung«; V+T I, S. 190).46 Aufgrund dieser ambivalenten Haltung kann man zumindest für Verfall und Triumph nichts Endgültiges über das religiöse Weltbild von Bechers Dichtung sagen:47 Während »Die Armen« als Rollengedicht interpretierbar ist, was die antireligiöse Haltung der sich von Gott in ihrer Not Alleingelassenen plausibilisiert, lässt sich in den anderen Fällen nicht klären, welchen Status die Aussage des Sprechers jeweils hat. Indes ist es nicht allein die religiöse Motivik, die Bechers zweiten Gedichtband mit dem ersten verbindet. Letztlich schließt Bechers zweiter Lyrikband an den ersten auch insofern an, als er dessen Bildinventar wieder aufgreift und in neuem Kontext fortschreibt. Steht Die Gnade eines Frühlings mit dem Lob von Jugend und Frühjahr stark in der Tradition der Jahrhundertwende-Dichtung, geht auch in Verfall und Triumph die Hoffnung auf Umbruch von der Jugend aus, die Becher hier als die Zeit bestimmt, wo »wir den Wert der Dinge erforschen,/Das Alte vergessen,/Das Neue ermessen« (V+T I, S. 85). Letztlich lässt sich im Vergleich der beiden Lyrikbände eher eine Konkretisierung des artikulierten Anspruchs beobachten. Das Lob der Jugend bleibt auch in Verfall und Triumph emphatisch, erhält aber eine konkrete poetologisch-gesellschaftliche Botschaft, die schon rhetorisch nah an dem ist, was später in Bechers kommunistisch geprägten Texten stehen wird: »Fanatisch den alten hergebrachten Rechten/Entgegenwirken und aus den morschen,/Zerfallenen Reichen neue Reiche aufrichten/Und die Grenzen der neuen mit Ekstase verfechten« (ebd.). Kann man so auf inhaltlich-thematischer Ebene von einer Fortsetzung der Tendenzen aus Die Gnade eine Frühlings sprechen, betreibt Becher weiterhin die Arbeit mit Versatzstücken, die nun auch noch eine intertextuelle Verbindung zwischen den einzelnen Lyrikbänden des Dichters aufbaut. So sind das aus dem ersten Lyrikband bekannte Abendrot, der blaue Himmel und die goldene Sonne ebenso präsent wie die Farbadjektive, die Jahreszeiten und die Motive ›Blut‹, ›Sturm‹, ›Feuer‹ und ›Dorn‹. Allein der Anfang des ersten Gedichts »Der Freund« macht dies deutlich,
46 47
Hinzuweisen ist darüber hinaus natürlich auch auf das Gedicht Der himmlische und der irdische Gesang, das dem vierten Abschnitt seinen Titel gibt (V+T I, S. 148ff.). Dies versucht mit Blick auf das gesamte Frühwerk Dirk von Petersdorff, der einen sehr freien Umgang mit christlichem Vokabular feststellt, das für »einen religiös geprägten Menschen« undenkbar wäre (Link 2013, S. 249).
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
wenn man alle bereits in Die Gnade eine Frühlings vorkommenden Motive hervorhebt: Er streichet wieder durch die blauen Nächte leis, Verstöret mich mit langem Flüsterwort. Er ist beständig auf der Weltenreise. Er fährt mit heller Lüfte Wolken fort. Er saß in Trümmertempeln plötzlich ungeheuer, Wo rote Düsterlampen schwelten ganz allein, Und Rillensäulen sich aufbäumten, Feuer Verbreitend, leuchtend ungemein. Bald hockte er in spitzer Felsen Höhle, Von schräger Sonne gänzlich ausgebrannt, Die Kinderhände um die Hälse jammernder Kamele. Brennender Dorn in Sturm und Wüstensand. (V+T I, S. 13; Hervorhebungen: K. E.) So offensichtlich diese Kontinuitäten zum Frühwerk sind, so sehr legt es Becher mit Verfall und Triumph freilich darauf an, die Differenzen herausstreichen und einen ›neuen‹ Ton zu erarbeiten, dem man die zwischenzeitliche Kenntnisnahme der expressionistischen Texte eines Jakob van Hoddis und eines Georg Heym nicht nur indirekt anmerkt. Becher wählt andere ›alltagsnähere‹ Themen als noch in Gnade eines Frühlings: »die Armen, das Spital, die Ausgestoßenen und Krüppel«.48 Und er verwendet eine die Grammatik an ihre Grenzen bringende Sprache, wie man sie mit dem Expressionismus verbindet. Bechers Gedichte sperren sich (wie die Erzählungen auch) gegen jedes logisch-stringente Verständnis, selbst da, so sie die üblichen Regeln der Syntax einhalten. Ein Zeichen dafür ist die Arbeit mit auf den ersten Blick »inhaltslosen Versatzsstücken«49 etwa die erste Strophe des Gedichts »Gesang vor morgen«, das einer klaren Ästhetik der Hässlichkeit verpflichtet ist, aber inhaltlich jedes logische Verständnis unmöglich macht: Da kotzt auf Dächer Mondes schiefer Mund Gallgrünen Schleim. Noch Autobusse zögern. Die Straße heult, ein aufgeteilter Mund, Dadurch wir waten dünn mit Aktenschmökern. (V+T I, S. 16) Der Grund für solche Verse liegt in der Wahl der Gewährsmänner, auf die Becher in Verfall und Triumph immer wieder zurückkommt und von denen der Schreibstil 48 49
Ball-Hennings 1931, S. 38. Millington 2012, S. 43.
4. Textverarbeitung und Komposition
abgelauscht ist. Der ganze Band inszeniert die Zwischenstellung des lyrischen Ichs zwischen den Polen der Feststellung eines ›Verfalls‹ einerseits und dem visionären Aufruf andererseits, der zum ›Triumph‹ führt. Dabei ist der Aspekt des Verfalls relativ leicht näher zu bestimmen, weil Becher hier auf die für die expressionistische Dichtung überhaupt charakteristischen Themenfelder zurückgreift, wie man z.T. bereits an den Titeln der Gedichte erkennt. Becher verortet den ›Verfall‹ zunächst in den Bereichen Armut (»Die Armen«; V+T I S. 32ff.), (Geschlechts-)Krankheit (»Krankenhaus I–III«; V+T I, S. 98ff.), Großstadt (»Die Stadt der Qual I–III«; V+T I, S. 118ff.) und assoziiert sie mit den Personen, die üblicherweise am Rande der Gesellschaft angesiedelt werden: Prostituierten (»Bordell I–III«; V+T I, S. 130ff.), Straftätern (»Der Mörder«; V+T I, S. 136f.) sowie psychisch Kranken (»Der Idiot«; V+T I, S. 46). In diesen Personenkreis reiht sich der Künstler oder Dichter ein. Dieser wird bereits im »Eingang« mit einem Bettler gleichgesetzt und weist Parallelen zum Mörder auf, weil er mit einem – hier gleichwohl metaphorisch gemeinten – »Messer« durch die Straßen zieht und »der Lieder Eisenbälle« auf seine Umgebung schleudert (V+T I, S. 9). Wenn den Dichter im »Eingang« zudem Fieber »rütteln« und er von wilden Träumen geplagt wird (ebd.), manifestiert sich die Verbindung zum Krankheitsthema, wobei sowohl an eine physische als auch eine psychische Erkrankung gedacht werden kann. Die entscheidende Verbindungslinie zwischen dem Dichter und den anderen genannten Personengruppen aber ist – typisch für die um die Jahrhundertwende entstandene Boheme-Kultur und deren Fortsetzungen in den 1910er Jahren, mit denen sich Bechers Expressionismus auf eigentümliche Weise verbindet – sein Verhältnis zu der Gesellschaft und ihren Werten. So wie Arme, Prostituierte, Wahnsinnige und Mörder aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßen sind, sieht sich auch der Dichter als dieser dominierenden Gruppe nicht zugehörig an und lehnt das kaiserzeitliche Bürgertum radikal ab: »Voll Haß und Ekel er auf brave Bürger lauert,/Von Speise, Rauch und Gift sich fühlend angewidert« (V+T I, S. 9). Auf den Boheme-Kontext verweisen auch die Gedichtzyklen »Café I–V« (V+T I, S. 27ff.) und »Der Fetzen I–VII« (V+T I, S. 37ff.), von denen der erste auf die Kaffeehauskultur aufmerksam macht und der zweite den Spitznamen von Emmy Hennigs aufgreift, der die Sammlung auch gewidmet ist.50 Diese Selbstsituierung außerhalb des Bürgertums und seiner Wertevorstellungen ist überhaupt ein wichtiges Thema in Verfall und Triumph. Wenn sich Becher in den Prosatexten des zweiten Teils explizit in einer Tradition verortet, die von den französischen Modernisten ausgehend bis zu den Expressionisten der frühen 1910er Jahre reicht, markiert ferner der Lyrikband die aufgegriffenen Traditionslinien sehr deutlich. Auch hier wird zunächst die Abkehr vom bürgerlichen Dich50
Vgl. Wittmann 1978, S. 610.
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tungsideal markiert, die der im Laufe des 19. Jahrhunderts zum deutschen Nationaldichter aufgestiegene Goethe markiert. Ganz im Gegensatz zu Bechers späterem Rekurs auf eben diese klassische Dichtungstradition, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine humane deutsche Vergangenheit verkörpert und folglich an die Stelle der Gräuel der NS-Zeit und der entsprechenden Instrumentalisierung der Kunst im Dritten Reich treten muss,51 erscheint Goethe in Verfall und Triumph als der Hausgott des Spießbürgers, von dem sich der Band als Ganzes klar distanziert: »In Cafés und Cinémas Spießbürger hocken/Und Goethe glänzt, aufrecht und widerlich« (V+T I, S. 52). Diese ›aufrechte‹ Haltung Goethes steht in Opposition nicht nur zu den Kranken und sonstigen Außenseitern, die Bechers Lyrikband dominieren. Mit ihnen, die »gebückt« in »Wartezimmern hocken« (V+T I, S. 100), identifiziert sich der Sprecher insofern stärker, als er sich auf die Form des Rollengedichts einlässt und sich durch das Personalprononen »wir« den Kranken anschließt. Ähnlich ist es im Fall des Gedichts »Die Armen«, in dem diese Personengruppe ausführlich in wörtlicher Rede ihre Perspektive darstellen kann (V+T I, S. 32ff.).52 Dem korrespondiert nun im Hinblick auf die dichterische Traditionslinie der Schulterschluss mit zeitgenössischen Autoren wie Franz Jung, Karl Otten, und Leonhard Frank, denen einzelne Texte gewidmet sind (V+T I, S. 51; 174; 188; 192) und die für die neue expressionistische Sprache stehen. Wie stark Becher sich hier innerhalb der expressionistischen Strömung verortet, machen neben den Widmungen auch die mehrfachen Anspielungen auf van Hoddis’ »Weltende« deutlich. Dreimal zitiert Becher allein das Bild vom ›spitzen Kopf‹ des Bürgers, der bei van Hoddis bekanntlich seinen Hut verliert:53 Zunächst weist der »spitze[] Schädel« des ›düsteren Dichters‹ aus dem »Eingang« in diese Richtung (V+T I, S. 10); wörtlich nimmt Becher die Formulierung in dem Karl Otten gewidmeten Gedicht »Die Geißler« auf, um kurz darauf die beiden Bilder von Kopf und Hut in eines zusammenzuziehen (vgl. V+T I, S. 188; 190). Entscheidend aber reiht sich Becher in die Tradition dreier älterer Dichter ein, denen er sich in »Das Dreigestirn« explizit an die Seite stellt und dabei das Bild vom Dichterbettler aus dem »Eingang« wieder aufgreift: Rimbaud, Kleist und Baudelaire – (… um deren Haupt des Ruhmes Binde weht …) Euch grüßt der Dichter, der zerrauft und leer, Ein Bettler orgelnd auf dem Platze steht, Verwahrlost und vertrottelt zu der Helle, 51 52 53
Vgl. Schmitz 1997, S. 305. Zu diesem Gedicht vgl. Millington 2012, S. 43ff. Pinthus 2013, S. 39.
4. Textverarbeitung und Komposition
Dem Lichte zu wie ein Insekte irrt, Bis sich sein Lumpenflaus entzündet, grelle Er Bundesstern in eurem Bilde schwirrt. (V+T I, S. 162) Allen drei Dichtern, auf die sich Becher auch im Prosaband bezieht, ist ein eigenes Gedicht gewidmet, in dem sich der Sprecher der Führung der großen Vorbilder anvertraut: So wie Baudelaire als »Schwarzer Engel meine Schritte leitet« (V+T I, S. 22), wird Rimbaud explizit dazu aufgerufen eine ganze Generation »am Führerseil« emporzuziehen (V+T I, S. 147). Demgegenüber wird das Vorbild Kleist nicht mehr als ein solcher ›Führer‹ in Stellung gebracht und steht allein für den ›Verfall‹, indem er – ähnlich wie der Dichter im »Eingang« – mit ›krummem Buckel‹ im »finsteren Regen« durch die »aschene Nacht« einer Stadt geht (V+T I, S. 109). Sieht man sich Bechers Gedichte aus Verfall und Triumph (wie aus seiner expressionistischen Phase insgesamt) an, ist es sicher auch die Abkehr von ›schöner‹ Dichtung zugunsten drastischer Sprachbilder, die ihn mit Rimbaud und Baudelaire verbindet. Deutlich wird dieses Bekenntnis vor allem im letzten Gedicht »Triumph«, das einen paradiesischen Endzustand beschreibt, in dem »Auswurf gesegnet sei und Schmerz gepriesen/Und jede Trennung schön und wunderbar« (V+T I, S. 194). Kleist, Rimbaud und Baudelaire beziehen ihre Attraktivität für den expressionistischen »Dichter, der zerrauft und leer,/Ein Bettler auf orgelnd auf dem Platze steht« (V+T I, S. 162), viel stärker als aus den ästhetischen Prinzipien, die sie vertreten oder möglich gemacht haben, als aus der Wirkung, die Leben und Werk für die Gegenwart entfalten. Obwohl einzelne Stichworte wie das vom schwarzen Engel oder die immer wieder aufgegriffene Schiffsmetaphorik inhaltlich-motivische Bezüge zu den französischen Modernisten herstellen, ist es doch vielmehr das von Baudelaire, Rimbaud und auch Kleist in Leben und Werk verkörperte Dichterideal, das Becher interessiert. Dabei kommen bestimmte biographische Fakten in den Blick – etwa im Falle Rimbauds die Nähe zur Pariser Kommune.54 Gerade die Anlehnung nicht an ein einziges Vorbild, sondern an eine Trias, an deren Seite noch einige deutsche Expressionisten treten, zeigt aber, dass es Becher primär um einen bestimmten Typus von Dichter geht, der hinter diesen konkreten individuellen Vorbildern aufscheint und historisch der zwischen ›Verfall‹ und ›Triumph‹ an einer Epochenschwelle steht. Die Identifikation mit dem »Bruder« Baudelaire funktioniert über die gemeinsame Position »an des Verfalles Ende« und »im Fluche des Jahrhunderts« (V+T I, S. 23). Aus Rimbauds »Bateau ivre« gewinnt Becher demgegenüber eine auf die Zukunft (›Triumph‹) gerichtete »Heilsbotschaft für die ganze Menschheit«.55
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Vgl. Rauthe 2002, S. 95. Rauthe 2002, S. 94.
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Im Zentrum der Inszenierung, die durch die Bruderschaftsbeschwörung eine Selbstinszenierung wird, steht die Verkündung einer neuen Zeit, an deren Schwelle der sprechende Dichter genauso anzusiedeln ist wie die von ihm angerufenen Vorbilder (»Wir«) und aus der sich die Kernopposition des Bandes zwischen »Verfall« und »Triumph« ableitet. Gerade wenn man sich jedoch die Bezugnahme auf Charles Baudelaire – den für Verfall und Triumph wichtigsten Einfluss – genauer ansieht, wird klar, dass hinter dem auf den ersten Blick thematisch sehr heterogenen und sprachlich mit z.T. kühnen Bildern arbeitenden Lyrikband eine klare poetologische Selbstpositionierung Bechers aufscheint, die gleichzeitig auch die Verabschiedung der gesellschaftlich-moralischen Werte der Elterngeneration ist. Das Gedicht »Baudelaire« besteht aus zehn gleich gebauten Strophen, bei denen jeweils der erste und der letzte Vers identisch sind. Zudem folgt alle zwei Strophen eine Refrainstrophe, deren Verse jeweils ihre Position wechseln. Dieser Refrain ist für das Verständnis des Textes besonders aufschlussreich, weil er Kernaussagen zum Verhältnis des lyrischen Ichs zum Dichtervorbild Baudelaire enthält und somit diese Beziehung nachdrücklich unterstreicht. In der ersten Variante lautet die Abfolge der Verse so: Schwarzer Engel meine Schritte leitet. Groß Gespenst im Fluche des Jahrhunderts. Bruder, den ich aufgelöst umarm. Atem feucht, den ich erschauernd spür. Schwarzer Engel meine Schrittet leitet. (V+T I, S. 22) Mit jedem dieser Verse stellt sich der Sprecher explizit in die Tradition Baudelaires. Dieser ist für den Sprecher des Gedichts ein Begleiter auf dem eigenen Weg, der die Richtung vorgibt und seine ›Schrittet leitet‹ wie ein »Bruder«, dessen Atem Erschaudern auslöst, womit Nähe und Ehrfurcht Ausdruck finden. Aufschlussreich sind indes besonders die Titulierungen, die dem Franzosen zugedacht werden. Baudelaire erscheint – in Anspielung auf die Engelsthematik in den Fleurs du mal – zunächst als ›schwarzer Engel‹, weil er »wegen seiner Satanslitaneien der Blasphemie« angeklagt worden ist.56 Dieser Umstand, der auf die Differenz zwischen Baudelaires Dichtung und den ästhetischen und sittlichen Normen der zeitgenössischen Gesellschaft verweist, bildet einen wichtigen Identifikationspunkt für Bechers lyrisches Ich, das Baudelaire als Gewährsmann für den Bruch mit den Konventionen des 19. Jahrhunderts heranzieht. Allerdings klingt in der Benennung Baudelaires als »Groß Gespenst« zudem der Titel des 1914 separat publizierten Romanfragments Wir Gespenster… wie der – inhaltlich ganz anders gearteten – Erzählung »Um Dagny heulen wir Gespenster« nach, die sich im zweiten 56
Wittmann 1978, S. 627.
4. Textverarbeitung und Komposition
Band von Verfall und Triumph findet (V+T II, S. 109ff.).57 Zusätzlich lässt sich auch hier der von Wittmann aufgezeigte Bezug zu Ferdinand Hardekopfs ›Extravagantenlied‹ aus der Aktion herstellen, in dem ein Wir-Sprecher die eigene Generation in der Tradition der Jahrhundertwende verortet:58 »Aus der Zeit Przybyszewkis sind wir hinterblieben:/Gespenster, die Lautrec und Verzweiflung lieben.«59 Ins 19. Jahrhundert fällt nicht nur die Wirkungszeit Baudelaires. Das 19. Jahrhundert ist auch der Ursprung der noch in ihm geborenen Dichter, als deren Vertreter das lyrische Ich hier spricht. Vor dem Hintergrund der vorletzten Strophe des Gedichts »Baudelaire« wird das 19. Jahrhundert als Epoche des im Titel angesprochenen Verfalls gekennzeichnet, dessen Endpunkt sich mit dem gelobten Dichter ankündigt. Die junge Generation, die diesen Verfall auf seinem Höhe- und Endpunkt repräsentiert – »In Gefängniszellen toben wir zerprallend./In den Krankenhäusern humpeln wir zerstückt« (V+T I, S. 23) – gibt Grund zur Hoffnung, da ihr ›Zorn‹ die Umkehr begründet: Wir, die aufgebaut an des Verfalles Ende, Hinfällig, in Azur ragende Gerippe. Daß der Blitz des Zorns uns bald entzünde, Daß wir Leuchten seien letzter Nacht! Wir, die aufgebaut an des Verfalles Ende. (V+T I, S. 23; Hervorhebung i. O.) Auf diese Weise lässt sich nicht nur dem Prosaband von Verfall und Triumph, sondern auch dem ersten Teil eine recht eindeutig rekonstruierbare poetologische Selbstverortung entnehmen. So sehr die einzelnen Gedichte und Formulierungen einem klaren Verständnis zuwiderlaufen mögen, bleibt doch auf konzeptioneller Ebene ein durchaus verstehbares Konstruktionsprinzip erkennbar, das gleichzeitig eine ästhetische Aussage formuliert: Becher bekennt sich zu einer Dichtung, die eher auf Hässlichkeit denn auf Schönheit setzt (Kleist, Rimbaud, Baudelaire) und sieht den Dichter dieser Traditionslinie folgend nicht nur als Bürgerschreck und Außenseiter der Gesellschaft, was ihn mit Prostituierten, Mördern, Armen und Wahnsinnigen verbindet, sondern auch als Repräsentanten eines Verfalls, der im 19. Jahrhundert wurzelt und dessen Höhe- und Endpunkt nun erreicht ist. Insofern zieht sich die schon im Titel des Buchs anklingende Aufbruchsstimmung durch die Einzeltexte, indem aus diesem erreichten Verfallsstadium nun gerade der – wie auch immer geartete – neue ›Triumph‹ hervorgehen soll.
57 58 59
Die Formulierung »wir Gespenster« kommt außerdem noch einmal vor im Gedicht »Der irdische und der himmlische Gesang« (V+T I, S. 150). Vgl. Wittmann 1978, S. 612. Berman 1985.
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4.1.3
Literarischer Dialog mit Emmy Hennings
Aus dieser Konstellation ergibt sich, dass das Leben des Dichters abermals eng mit seinem literarischen Werk verknüpft ist. Zum einen dient es notwendig als Material für die dichterische Arbeit; zum anderen muss aber wieder durch das eigene Leben der poetische Neuerungsgestus, das Aufbegehren gegen die Bürgerlichkeit unterstrichen werden, womit den autobiographisch gefärbten Texten eine Art ›Belegfunktion‹ zukommt. Der Dichter, der vor dem skizzierten Hintergrund gefragt ist, sollte ein Außenseiter und Bohemien sein – idealerweise ein Mensch, dem etwas Verruchtes anhaftet und der sich auf jeden Fall von jeder geregelten und finanziell abgesicherten Existenz fernhält. Becher tut entsprechend einiges, um mit Hilfe seiner literarischen Texte – vor allem mittels der Prosaerzählungen in Verfall und Triumph – ein Selbstbild zu erzeugen, das diesem Muster entspricht. Die Voraussetzungen sind gut: Immerhin gilt der junge Dichter, als er in die Expressionistenkreise eintritt, wegen seines Selbstmordversuchs von 1910 teilweise als Mörder seiner Geliebten,60 was ihn in die Nähe der gesellschaftlich Ausgestoßenen bringt und die in den Erzählungen von 1914 häufig anklingende Gewalt zwischen den Geschlechtern plausibilisiert, als schreibe hier jemand aus eigener Erfahrung. Das Thema stammt freilich aus der Literatur und nimmt den Topos des Geschlechterkampfes auf, wie er bei den deutschen Expressionisten vorkommt, besonders aber bei August Strindberg zu finden ist.61 In dem in der Zeitschrift Phoebus ebenfalls 1914 erschienenen Romanfragment Wir Gespenster… steht z.B. ein Paar im Zentrum, das sich offenkundig eine längere Zeit getrennt hat, damit der Mann namens Hans (!) eine zunächst nicht nähere bestimmte Krankheit auskurieren kann. Der Text setzt mit der Rückkehr des Mannes ein und schildert dann, wie dieser die Frau tötet, dann von seinem Gewissen verfolgt wird und Erscheinungen hat, die seinen Wahnsinn erkennen lassen.62 Besonders markant ist in Wir Gespenster…, dass Hans vor dem im Text geschilderten Mord offensichtlich bereits verheiratet war und seine erste Frau erschossen hat, »um frei von ihr zu kommen«.63 Dies ruft wieder den Selbstmordversuch von 1914 auf, der allerdings nicht als (gemeinsamer) Freitod präsentiert wird, sondern als Übergriff des Mannes auf die Frau. Wer – wie in München vorausgesetzt werden kann – über Bechers Vergangenheit informiert ist, wird die Anspielung verstehen. Deutlich ist deshalb, dass Becher hier den Vorwurf des Mordes gerade nicht zurückweist, sondern durch Texte wie Wir Gespenster… eher bestärkt, weil sie zu dem 60 61 62 63
Vgl. Bechers Brief an die Redaktion »Das freie Wort« Düsseldorf vom 15. Juni 1955 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 480). Vgl. Becker 2009, S. 611; Becker 2009, S. 236f. Vgl. Anz 1980 sowie Der Idiot (zuerst erschienen in: Die Aktion 3 (1913), Sp. 901; überarbeitete Fassung in V+F I, S. 46). Becher: Aus einem Roman »Wie Gespenster…« 1914, S. 133.
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Dichterideal passen, das der Expressionismus bevorzugt. Dies ist nur das krasseste Beispiel dafür, wie Becher die eigene Biographe nun nutzt (bzw. zurechtlegt), damit sie dem neuen Dichtertypus, den er verkörpern will, nahekommt. Becher, der in der Tat vom Geld des Vaters hätte bequem leben können,64 zieht überhaupt die Künstlerexistenz vor und wird nie müde, seine finanziell prekäre Lage zu betonen.65 Dabei ist das Ineinandergreifen von Realität und Fiktion anhand der literarischen Bearbeitung der Beziehung zu Emmy Hennings hervorstechend, die schon in für Wir Gespenster… als Anregung diente. Man hat es hier mit dem seltenen Fall zu tun, dass beide Partner dieselben Ereignisse aus unterschiedlicher Perspektive literarisch verarbeiten – beide in kurzen Prosaerzählungen, aber mit sehr eigenem Stil. Die zweite Erzählung des Prosabands von Verfall und Triumph »Das kleine Leben« spielt in München, worauf die Nennung des Stachus sowie des Wirtshauses Donisl hindeutet (V+T II, S. 35 bzw. 45). Im Zentrum stehen ein Ich-Erzähler, der erneut den Namen Hans trägt, und dessen Frau Dorka, die zu Beginn eine glückliche Beziehung führen (vgl. V+T II, S. 23). Da Dorka aus Geldmangel gezwungen ist, »wieder ins Geschäft« (V+T II, S. 26) zu gehen und sich von ihren Verehrern aushalten zu lassen, beginnt kurz darauf der Abstieg des Paars. Hans bringt aus Eifersucht einen Freier seiner Frau um, dem Dorka besonders gewogen ist. Am Rand des Wahnsinns glaubt er auch seine Frau ermordet zu haben und bittet seinen Freund Josef um Hilfe, der verspricht sich eine Lösung zu überlegen (vgl. V+T II, S. 54). Dorka indes stirbt kurze Zeit später in den Armen von Hans an der Syphilis. Josef hat inzwischen Fahrkarten nach Berlin organisiert; die beiden verlassen mit dem Zug die Stadt. Es ist nicht schwer, hinter diesem Handlungsgerüst eine Reihe von autobiographischen Anspielungen auszumachen. Dies beginnt schon der Tatsache, dass der Protagonist nicht nur Hans heißt, sondern sein Nachname auch noch mit »B« anfängt (vgl. V+T II, S. 37).66 Außerdem verweist die Reise von München nach Berlin auf Bechers Umzug im Jahr 1911; im Freund Josef, der die Hauptfigur der Geschichte begleitet, kann man Bechers ersten Verleger Heinrich Franz Seraphikus Bachmair vermuten, der ebenfalls aus München stammte, aber zum Studium nach Berlin ging. Entstammt der Sprecher im ersten Prosastück des Bandes freilich schon einem ganz anderen Milieu als der Verfasser, hat auch Hans B. aus »Das kleine Leben« eine von dessen Leben abweichende Biographie. Dies gilt für den Beruf des
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Dass die Abgrenzung vom Vater in vielen Punkte etwas Gewolltes hat, arbeitet Rohrwasser 1980 mehrfach heraus. Man lese vor allem die Briefe an Bachmair in Becher/Bachmair: Briefwechsel 1914-1920. Da Verfall und Triumph in mehrfacher Hinsicht stark Baudelaire verpflichtet ist, kommt natürlich auch dieser Name in Frage, wenn es um die Auslösung des Buchstaben geht.
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Vaters und den frühen Tod der Mutter (V+T II, S. 49) ebenso wie für die SyphilisErkrankung des Protagonisten (V+T II, S. 48). Offensichtlich hat Bechers literarisches Werk schon bei den Zeitgenossen zu einer Verwechslung von Realität und Fiktion geführt, lehnt doch der Maler Frank S. Herrmann Becher als Schwiegersohn u.a. deshalb ab, weil er ihn für geschlechtskrank hält.67 In der Tat kommt dieses Moment aber nicht aus Bechers eigenen Erlebnissen, sondern aus der Beschäftigung mit der französischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts. Livia Z. Wittmann hat beispielsweise für die letzte Erzählung des Bandes »Um Dagny heulen wir Gespenster« den Einfluss des Naturalisten Charles-Louis Philippe ausgemacht, dem Becher noch in Wiederanders (1958) Reverenz erweist68 und dessen Romane genau in dem Milieu spielen, in dem sich Bechers Figuren bewegen. In Bubu de Montparnasse (1901), dessen Protagonist ein Zuhälter ist, spielt Syphilis eine große Rolle, wobei die erkrankten Figuren entweder angesichts der Diagnose erschrecken oder aber diese aufgrund des verruchten Ansehens, das sie ihnen verleiht, sogar begrüßen.69 Liest man die Syphilis-Passage in Bechers Erzählung vor diesem Hintergrund, fällt schnell die Intention auf, durch die Schilderung von Geschwüren und Flechten einen Ekeleffekt hervorzurufen, auf den auch die anderen Texte Bechers aus dieser Zeit häufig abzielen und der sich im Sinne einer Ästhetik der Hässlichkeit lesen lässt. Dass sich die Ehepartner gegenseitig wundkratzen und ihre Körper als »Blutäcker« wie Bänke mit Wasser abscheuern (V+T II, S. 48), passt zur sprachlichen Drastik, die im Romanfragment von 1913 oder in der Erinnerung des Erzählers von »Das kleine Leben« an die Patienten in der väterlichen Arztpraxis auffällt.70 Becher verarbeitet hier nicht einfach ungefiltert eigene Erlebnisse. Seine scheinbar rein autobiographische Schilderung reagiert bereits auf eine bereits vorhandene literarische Bearbeitung eben dieser realen Ereignisse. Dies gilt umso mehr, als Emmy Hennings’ Variante dieser Geschichte der Bearbeitung ihres Freundes vorausgeht: Ein Jahr vor Erscheinen von Verfall und Triumph nämlich hat Emmy Hennings in der Die neue Kunst einen Prosatext mit dem Titel »Die Kellnerin« publiziert, der in mehrerer Hinsicht Übereinstimmungen mit Bechers Erzählung aufweist.71 Auch bei Hennings steht ein Paar im Zentrum der Geschichte, das in einer größeren Stadt einem Zimmer zur Untermiete lebt. Hier wie da haben die beiden
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Becher weist diesen Vorwurf im Brief an Herrmann vom 28. September 1922 zurück (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 107). Vgl. Wittmann 1978, S. 617f. Vgl. Bubus Reflexionen darüber in Wittmann 1981, S. 53. »Sie kamen aus allen Gegenden: die Gesichter zerschlagen, Arme, Beine eingebunden, die Augen fiebrig glänzend oder schon starr, ermattet. Ein Kind wimmerte. Ein Gestochener schrie, und in purpurnen Traufen troff ihnen das Blut von der Stirn« (V+T II, S. 49). Gansel weist außerdem eine Beziehung zu Bechers »Hymne an die ewige Geliebte« nach. Vgl. Gansel 1992, S. 146.
4. Textverarbeitung und Komposition
eine Wirtin,72 die zu bezahlen für sie auf die Dauer Schwierigkeiten bereitet. Denkt Hans in »Das kleine Leben« gleich zu Beginn darüber nach, »daß man allmählich darauf bedacht sein müsse, sich Geld zu verschaffen« (V+T II, S. 23), dreht sich »Die Kellnerin« ganz um das Problem der Zahlung der Wohnungsmiete, indem das Paar im Laufe der Handlung sein Zimmer verliert und sich im Park einen Schlafplatz suchen muss.73 In beiden Texten wird nichts über den Beruf des Mannes gesagt; das Einkommen scheint allein die Frau zu bestreiten – und zwar durch ihre Arbeit in einem Lokal, worauf schon der Titel von Hennings’ Erzählung hinweist. Dabei verdient die Frau das meiste Geld, indem sie große Mengen Alkohol zu sich nimmt: In »Das kleine Leben« liegt dies daran, dass ihr die männlichen Gäste dafür »ziemlich viel Geld geben« (V+T II, S. 26); in »Die Kellnerin« bekommt die Protagonistin »Prozente« für jede verkaufte Flasche und hat deshalb »ein Interesse daran, möglichst viel zu trinken«,74 was ihren Partner zu Hause erkennbar stört.75 Hierbei ist diese Geschichte auch bei Hennings schon als autobiographisch markiert, weil die Autorin ihrer Hauptfigur den eigenen an Strindberg geschulten Künstlernamen verleiht, den man auch aus Bechers expressionistischen Texten kennen kann: Dagny. Der Mann, der mit Dagny in der Erzählung ohne Trauschein zusammenlebt, trägt seinerseits den Namen seines realen Vorbilds Hans. Diese Parallelen sind keinesfalls zufällig, da Becher Hennings’ Text nicht nur aufgrund persönlicher Kontakte, sondern auch in seiner Funktion als Mitherausgeber der Neuen Kunst sicher gekannt hat. Vielmehr handelt es sich bei der zweiten Erzählung aus Verfall und Triumph weniger um eine biographische Skizze als um eine literarische Antwort auf »Die Kellnerin«, indem er die dort personal erzählte Geschichte Dagnys um die Perspektive der männlichen Hauptfigur erweitert. An vielen Stellen nutzt er Hennings’ kurze Erzählung geradezu als eine Art Handlungsentwurf, dessen Grundzüge er aufnimmt und eigenständig weiter ausgestaltet. Etwa hoffen Dagny und Hans dort auf ein »Wunder«, das ihre finanziellen Schwierigkeiten beseitigt: »Vielleicht kam ein Mensch, dem Dagny gefiel und der ihr Geld schenkte.«76 Die Geschichte um Andreas Söraas, die bei Becher die Handlung wesentlich vorantreibt, wirkt wie eine Realisation dieser Hoffnung – wobei sich im Vergleich der Texte freilich herausstellt, dass mit dem reichen Freier nicht
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Bei Hennings bleibt die Wirtin namenlos, während sie Bechers Erzähler eine exakte Adresse angibt: »Wir wohnen Quellenstraße 16, III. Stock, bei Frau Cäcilie Naßl, Geflügelhändlerswitwe« (V+T II, S. 23). Vgl. Hennings 1913, S. 276. – Weitere Abdrucke des Textes finden sich in Hennings 1987, S. 1820; Vollmer 1996, S. 22-24. Hennings 1913, S. 274. In Bechers Text ist dies eher impliziert erkennbar und mündet in die beschriebene Eifersucht. Bei Hennings versucht die Protagonistin ihren Zustand zu verbergen, denn er »ekelte sich sonst vor ihr« (Hennings 1913, S. 274). Hennings 1913, S. 275.
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alle Probleme gelöst sind, weil damit ein Nebenbuhler die Bühne betrifft, dem Hans sich unterlegen fühlt.77 Obwohl beide Erzählungen auf einer tatsächlichen (und derselben) Begebenheit aus dem Leben ihrer Verfasser fußen, worauf die Figurennamen deutlich genug hinweisen, ist »Das kleine Leben« doch um eine stärkere Literarisierung bemüht. In dieser Hinsicht ist es bereits auffällig, dass Becher seinem Protagonisten Hans eben keine Dagny mehr an die Seite stellt, die ihrerseits in die letzte Geschichte verschoben wird, sondern eine Figur namens Dorka. Hennings’ Erzählung gewinnt ihre ästhetische Wirkung nicht zuletzt durch eine bestechende Schlichtheit, die durch die Konzentration auf die wesentlichen Eckpunkte der individuellen Handlung etwas Allgemeingültiges verleiht und daher als Milieustudie lesbar wird: Letztlich erzählt die Geschichte in parataktischem Stil eine alltägliche Begebenheit, deren Tragik auf der sprachlichen Oberfläche nicht thematisiert wird, indem Dagny versucht, dem Wohnungsverlust noch etwas Positives abzugewinnen: »Es war doch gut, daß nicht mehr ihr Zimmer hatten. Dort war es so unheimlich gewesen […]. Es war ein angenehmes Gefühl, nichts zu besitzen, kein Gepäck zu tragen.«78 Demgegenüber setzt Becher – wie überhaupt in den Texten aus Verfall und Triumph – sowohl sprachlich als auch inhaltlich auf die großen Gesten. Wenn Hans im Laufe der Geschichte zum Mörder wird, entfernt sich der Text viel weiter von der biographischen Vorlage der Beziehung zwischen Becher und Hennings sowie von jeder Form von Alltäglichkeit überhaupt, wie sie Hennings’ Erzählung noch prägt. Die Mordthematik schafft außerdem einen Bezug zum Motiv des Geschlechterkampfs, das bei Hennings keine Rolle spielt. Bechers im Titel an sein Romanfragment von 1913 erinnernde letzte Erzählung von Verfall und Triumph wirkt wie eine Fortsetzung von Wir Gespenster…, die durch »Die Kellnerin« neue Impulse erhalten hat. Gerade in dieser intertextuellen Verbindung der Texte untereinander zeigt sich erneut das Ziel der Erzeugung eines kohärenten Gesamtwerks, dessen einzelne Bestandteile immer nur bedingt eigenständig sind: Ihre wirkliche erzählerische Komplexität wird erst in der Gesamtschau ersichtlich, wenn man als Leser die Weiterentwicklung einzelner Motive oder Handlungsstränge beobachten kann.
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»Er tut ihr bereitwilligst alles, was sie nur will. Begleitet sie oft, oft stundenlang durch die Stadt, wo sie vor allen Schaufenstern stehn bleiben, sich unterhalten, unermüdlich, herzlich interessiert über alle Strümpfe, Unterwäsche, Blusen, Schmuck, Hüte, Röcke. Ich kann das nicht« (V+T II, S. 27). Hennings 1913, S. 276.
4. Textverarbeitung und Komposition
4.1.4
Georg-Heym-Rezeption
Wenn Becher so direkt literarisch mit Emmy Hennings kommuniziert, speist sich sein dichterisches Selbstbild wiederum aus einer Reihe fremder Einflüsse, die sich gerade an den Prosatexten besonders gut aufzeigen lassen. Wie der sprachliche Übergang zum Expressionismus vollzieht, ist am Romanfragment Wir Gespenster… gut zu beobachten, weil dieses einen konkreten Vorbildtext hat. Hinter Wir Gespenster… steht unverkennbar der Einfluss von Georg Heyms 1911 entstandener und postum 1913 publizierter Erzählung Der Irre.79 Von Heym stammt bereits die Thematik eines nach Hause zurückkehrenden Wahnsinnigen: Bei Heym wird der Protagonist aus einer psychiatrischen Klinik entlassen, und bei Becher weiß man immerhin, dass sich Hans an einen Ort begeben hat, an dem er seine ›Krankheit‹ auszukurieren versucht. Beide Figuren schlagen ihre Frauen. Die Texte enthalten darüber hinaus gleichermaßen explizite Schilderungen brutaler Morde, wobei Becher wie Heym sich in sprachlicher Hinsicht auf ähnliche Weise um die Erzeugung von Drastik bemühen. Kaum wieder auf freiem Fuß, stellt sich Heyms Irrer den Klang aneinander prallender Schädel vor, womit der kurz darauf erfolgende Mord an zwei Kindern vorweggenommen wird: »Und dann knackten die Schädel; es gab einen Ton, wie wenn jemand eine Nuß mit einem Hammer entzweihaut. Manche klangen ganz zart, das waren die dünnen, das waren die Kinderschädel.«80 In Wir Gespenster… tritt Hans seine Frau zunächst »in den Leib« und bricht ihr die Gelenke (V+T II, S. 125). Die folgende Beschreibung des Leichnams zeigt einen ähnlichen Rückgriff auf petrarkistische Motive wie Gottfried Benns Morgue-Gedichte, denen folgender Satz abgelauscht zu sein scheint:81 »Weißer Klumpen, erfüllt mit Geächz, modrig, halb verwest, überzogen von Blut, Schleim, Speichel, und Tränen. Brüste spärlich und zerdrückt; Körper zerwühlt und aufgerissen; Gesicht zerhackt«.82 Von Heym übernimmt Becher auch die in beiden Texten auffallende Tiermetaphorik. In Der Irre wird der Protagonist deshalb als »Tier« bezeichnet, weil er bei einem seiner Morde einer Frau das Blut aus der Kehle saugt.83 Bei Becher fällt der Begriff ebenfalls mehrfach. Allerdings wird er in Wir Gespenster… gerade nicht für den männlichen Mörder, sondern ausschließlich – aus dessen Perspektive – als Name für die Frau verwendet. Hans drückt der Toten die »matten Tieraugen« zu (V+T II, S. 125), hört sie später wiehern (ebd., S. 129) und auch in der Rückblende,
79 80 81 82 83
Den Einfluss Heyms erwähnt schon Hopster 1969, S. 2 und Martens 1971, S. 296f., beide ohne dem Problem allerdings genauer nachzugehen. Dau 1976, S. 21. Weber 2008, S. 16. Becher: Aus einem Roman »Wir Gespenster…« 1914, S. 126. Vgl. Dau 1976, S. 25.
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als die beiden über die Unmöglichkeit ihrer Trennung sprechen, bezeichnet er sie als ›sein Tier‹, nach dem er auf der Suche gewesen sei (ebd., S. 134). Diese Umkehrung ist zunächst deshalb bedeutsam, weil sie auf die Differenzen zwischen Heym und Becher aufmerksam macht. Wenn sich Becher an die Erzählung Der Irre anlehnt, lässt Wir Gespenster… doch noch weitere Einflüsse erkennen. Dies gilt insbesondere für den Titel, der einem Gedicht Ferdinand Hardekopfs entnommen ist und eine Reihe von weiteren Verweisen auf die Boheme der Jahrhundertwende nach sich zieht.84 Wie schon in seinen allerersten Werken verwendet Becher eine religiöse Folie und überschreibt das erste (und einzige vorliegende) Kapitel des Fragments mit »Simson«. In der damit angesprochenen Geschichte des Alten Testaments spiegelt sich der für Wir Gespenster… zentrale Geschlechterkonflikt; schließlich ist es im Falle Samsons seine Geliebte, die den Fall des durch sein Haar unbesiegbaren Helden einleitet, indem sie sein Geheimnis verrät (Ri 16,4-16,22). Dieser Verweis gibt den Mordgelüsten von Hans eine sonst der Geschichte nicht zu entnehmende Motivation. Der Protagonist sieht sich und die Männerwelt von den Frauen generell bedroht. Er versteht sich als »Rächer seines erwachten, zornigen Geschlechts« (V+T II, S. 128), der auf der Seite der Engel steht (ebd., S. 130) und dem nicht zufällig das »Ewig-Weibliche« an sich »Brechreiz« verursacht (ebd., S. 132). Sein Hass richtet sich nicht nur gegen seine Frau und auch nicht gegen die Menschheit als solche, sondern gegen das weibliche Geschlecht, weshalb auch nur Frauen zu seinen Opfern werden. Dies unterscheidet ihn erneut von Heyms Hauptfigur und erklärt die Verschiebung des Tierhaften vom Mörder auf die getötete Frau. Darüber hinaus aber ist Bechers Romanfragment hinsichtlich der Erzählhaltung anders angelegt. Beide Texte weisen zwar gleichermaßen einen personalen Erzähler auf, der durchgängig die Gefühle und Gedanken der Hauptfigur wiedergibt, sodass der Leser das dahinter stehende Geschehen primär aus subjektiver Perspektive vermittelt bekommt. Der eigentliche plot der Geschichte lässt sich aber bei Heym deutlich leichter rekonstruieren als bei Becher.85 Die Handlung von Der Irre ist im Kern folgende: Nach seiner Entlassung tötet der Protagonist zwei Kinder und eine Frau, bevor er in seine Wohnung zurückkehrt und schließlich auf der Flucht von einem Mann mit Gewehr erschossen wird.86 In Wir Gespenster… hingegen gibt es einige Aspekte, die sich innerhalb der Handlungslogik nicht klar verorten lassen. Dies gilt schon für die psychische Erkrankung des Mannes. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, als sei Hans’ Wahnsinn 84 85
86
Vgl. dazu im Einzelnen Wittmann 1978, S. 611ff. – Allerdings ist in der Formulierung auch ein konkreter Bezug auf die Münchner Boheme möglich. Vgl. dazu Heisserer 1993, S. 9f. Dies hat damit zu tun, dass sich der Irrsinn des Protagonisten nicht auf die Ebene des Erzählens überträgt: »Autor und Leser halten letztlich […] an einer Realitätsform fest, die jenseits des geschilderten Wahnsinns liegt« (Vietta/Kemper 1975, S. 156). Vgl. Dau 1976, S. 34.
4. Textverarbeitung und Komposition
ein Resultat des Mordes an seiner Frau, erscheint sie ihm doch am Morgen nach der Tat, um ihn gleichfalls zu würgen und Rache anzukündigen.87 Auf die Schilderung des Mordes aber folgt eine Rückblende in die Zeit vor der Trennung des Paars, die wohl der Erinnerung des Mannes entspringt und erkennen lässt, dass Hans’ eingangs erwähnte Krankheit auch schon psychischer Natur ist. Die beiden trennen sich gerade deswegen, weil sie eine »Katastrophe« zu ›wittern‹ beginnen (V+T II, S. 132). Hans gesteht seiner Frau in diesem Kontext explizit sogar den Impuls, sie »erwürgen« zu wollen (ebd.). Indes geht aus dem Text schon nicht eindeutig hervor, ob die Rückblende nur Hans’ Erinnerung entspricht und damit eventuell die verfälsche Perspektive eines Wahnsinnigen darstellt. Vor diesem Hintergrund bleibt offen, zu welchem Zeitpunkt der Wahnsinn des Mannes einnsetzt. Man weiß auch nicht genau, ob sich seine Gewissensqualen nach der Tat wirklich auf den zweiten Mord beziehen oder nicht schon Teil der Rückblende sind und somit vor die Zeit des Wiedersehens fallen, mit dem der Text einsetzt. Dieser Eindruck wird verstärkt dadurch, dass im Romanfragment mehrfach von einer Trennung die Rede ist, die entweder vollzogen wird oder auch nicht.88 Obwohl auch in Heyms Der Irre eine interne Fokalisierung vorliegt, setzt Becher diese Erzählstrategie doch insofern mit größerer Konsequenz um, als die gesamte Geschichte aus der Sicht von Hans erzählt wird. Bei Heym gibt es noch einzelne Passagen, die der Sicht eines auktorialen Erzählers entsprechen.89 In Bechers Text fehlen derartige Orientierungspunkte, sodass es letztlich unmöglich ist, histoire und discours genau voneinander zu unterscheiden: Somit zeigt sich Bechers Romanfragment als ein bewusster Versuch, die aktuellen Entwicklungen im narrativen Genre für die eigene Produktion fruchtbar zu machen. Wenngleich der Name der Hauptfigur erneut auf Becher selbst verweist und die Anspielung auf den Doppelselbstmord von 1910 unübersehbar ist,90 handelt es sich doch hier lediglich um isolierte Aspekte des Textes. Letztlich sind die Indizien zu schwach, um hinter der Beziehung der Hauptfigur Hans zu seiner Frau (bzw. seinen Frauen) eine Verarbeitung von Bechers Erlebnissen mit Emmy Hennings zu sehen.91 An Wir Gespenster… lässt sich vielmehr mustergültig beobachten, wie gezielt Becher bereits kursierende Themen und Schreibweisen aufnimmt und
87 88
89 90 91
Vgl. Becher: Aus einem Roman »Wir Gespenster…« 1914, S. 129f. Entgegen der eingangs erwähnten Trennung bemerkt der Erzähler am Anfang des zweiten Abschnitts: »Zu merkwürdig, wie sich die Beiden nicht trennten« (Becher: Aus einem Roman »Wir Gespenster…« 1914, S. 127; Hervorhebung i. O.). So wird der Protagonist, der selbst allerdings erkennbar kein Bewusstsein seiner psychischen Störung hat, als »der Verrückte« bezeichnet (Dau 1976, S. 22). Nämlich in dem Satz: »Meine erste Frau mußte ich erschießen, um frei von ihr zu kommen« (Becher: Aus einem Roman »Wir Gespenster…« 1914, S. 133; vgl. dazu Becker 2009, S. 234). So Becker 2009, S. 234.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
seinen eigenen Prosastil so einem Literaturideal anpasst, das er in den Texten eines Georg Heym rezipieren konnte.
4.1.5
Revolutionäre Avantgarde
Wie die 1920er Jahre sowohl in künstlerischer als auch in politischer Hinsicht von einer Vielzahl heterogener Tendenzen geprägt sind – von ›Suche‹ nach Antworten mehr als von stabilen Weltentwürfen92 –, gilt dies für Becher umso mehr, denn keine Werkphase ist in dieser Hinsicht so variantenreich wie die Produktion, die er während der Weimarer Republik vorlegt. Dieser Umstand macht die 1920er Jahre zu einem höchst ergiebigen Untersuchungsgegenstand, der in der Becher-Forschung zu Unrecht vernachlässigt wurde, weil man sich auf einfache Erklärungsmuster verständigen wollte. Dass Becher in diesen Jahren zum politischen Dichter und zum Atheisten geworden ist und – etwas verzögert – die avantgardistischen Schreibweisen seines Frühwerks zugunsten eines traditionsbehafteteren Ansatzes abgelegt hat, ist als Beobachtung ebenso wahr wie unzureichend. Wahr sind diese Befunde deshalb, weil Becher 1919 in herausragender Weise emphatisch auf die Russische Oktoberrevolution reagiert, deren deutsches Pendant im November 1918 ihn zu der Überzeugung bringt, dass sich auch in Deutschland die politischen Verhältnisse bald zugunsten des Kommunismus umkehren würden. Wahr ist auch, dass auf den Parteieintritt 1923 eine Phase folgt, in der Becher radikal agitatorisch arbeitet, alle Literatur verwirft, die nicht dem Klassenkampf dient und in dieser Weise nur noch »funktionieren« will.93 Wahr ist schließlich drittens, dass sich der Ton von Bechers Literatur gegen Ende der 1920er Jahre entscheidend wandelt und anstelle einer ›neuen Syntax‹, wie sie der Expressionist programmatisch gesucht hatte,94 doch wieder recht konventionelle Sätze stehen. Die klassischen Versformen nimmt Becher nun weniger auseinander, als dass er sie neu fruchtbar machen will, was einen entscheidenden Unterschied zum avantgardistischen Umgang mit der Tradition markiert. Trotzdem ist die Lage komplizierter. Aus diesem Grund werden die auf den ersten Blick so einleuchtenden Erklärungen unzureichend – und zwar nicht nur, weil Bechers politische Radikalisierung mit Unterbrechungen verläuft und wesentlich kürzer ausfällt bzw. weniger stringent auf die Funktionärstätigkeit in der DDR zuläuft, als man das oft hat wahrhaben wollen. Zwischen der Revolutionsbegeisterung von 1919 und dem KPD-Eintritt 1923 liegt die religiöse Rückzugsphase in Bad Urach und der Aufstieg des Nationalsozialismus und die Emigration haben wesentlichen Anteil daran, dass Becher ein politischer Autor bleibt, obwohl sich im
92 93 94
Vgl. Kiesel 2017, S. 93. Brief an Eva Herrmann vom 28./29. Januar 1924 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 122). Becher: An Europa 1916, S. 78.
4. Textverarbeitung und Komposition
Werk der späten 1920er Jahre eine Abkehr von der radikalen Unterwerfung unter das ideologische Ziel als Möglichkeit mehrfach andeutet. Dazu kommt, dass die Hochphase agitatorischer Arbeit keinesfalls mit der Abkehr von den avantgardistischen Sprachexperimenten einhergeht, sondern ausgerechnet – wenngleich vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklung alles andere als überraschend – mit ihrer Wiederbelebung zusammenfällt. Mitte der 1920er Jahre treibt Becher den Avantgardismus noch einmal neu auf die Spitze, aber eben das nicht in bruchloser Kontinuität zum Expressionismus. Denn schon 1920 – und damit lange vor jeder Formalismus-Diskussion – nimmt er sein späteres Verdikt über diese eigene Werkphase vorweg und kritisiert den Expressionismus dafür, dass er nur die Sprache zerlegt, was zu Lasten des dichterischen Gehalts geht: Fast alles, was man unter expressionistischer Literatur zusammenfaßt, hat mehr mit (bestenfalls) Sprachwissenschaft zu tun als mit Dichtung, z.B. bei Däubler ebenso wie bei mir ist wie an Schulbeispielen die gehirnliche Konstruktion nachzuweisen, die immer in den entscheidenden Momenten das Gedicht zerschlägt…95 Diese Selbstkritik hält Becher allerdings nicht davon ab, seinen Fokus kurz darauf erneut auf die Sprache zu richten. Man darf in den Dichtungen der Maschinenrhythmen (1926) nicht eine bloße Fortsetzung des Expressionismus sehen – nicht nur wegen des zwischenzeitlichen Bruchs mit dieser Ästhetik, sondern vor allem, weil die Bezugstexte wechseln, in deren Kontext die avantgardistischen Arbeiten der 1920er Jahre entstehen. An die Stelle der französischen Modernisten und der deutschen expressionistischen Dichterkollegen treten jetzt zunehmend die futuristischen Ansätze aus Italien und aus Russland, wie sie die in Folge der revolutionären Umbrüche nach Berlin emigrierten Künstler vermitteln. Becher setzt sich inzwischen verstärkt vor allem mit dem Werk Vladimir Majakowskis auseinander, dessen berühmtes Poem 150 Millionen er ohne nennenswerte Russisch-Kenntnisse mit vielen dichterischen Freiheiten ins Deutsche überträgt.96 Dazu kommt, dass die Techniken der Collage und Fotomontage, die in Russland bereits propagandistisch genutzt worden waren, nun vor allem in der bildenden Kunst auch in Deutschland aufgegriffen werden. Hier ist als Einfluss vor allem John Heartfield zu nennen, der in den 1920er Jahren eine ganze Reihe von Buchumschlägen entworfen hat, darunter auch die für vier Publikationen Bechers, von denen die zu Levisite die bekannteste ist.97 Während Heartfield auf der einen Seite durch seine Collagen 95 96 97
Brief an Katharina Kippenberg vom 17. September 1920 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 98f.). Majakowski/Becher: 150 Millionen 1924. Die anderen von Heartfield illustrierten Bücher sind Am Grabe Lenins, die Nachdichtung von 150 Millionen, sowie Der Bankier reitet über das Schlachtfeld. Zu Heartfields Buchumschlägen vgl. Rettej/Haufe 2014.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
die Themen der jeweiligen Bücher aufgreift, reagiert Becher seinerseits mit dem Versuch einer Nachahmung der Technik mit literarischen Mitteln; namentlich in Levisite versucht er erklärtermaßen, die agitatorisch verwendete Fotomontage eines John Heartfield in die Literatur zu übertragen – ein Versuch, der bei näherem Hinsehen als Collage zugegeben relativ zahm bleibt, weil er kaum erkennbar heterogenes Material kombiniert. Ende des Jahrzehnts wiederum entfernt sich Becher in Reaktion vor allem auf die Neue Sachlichkeit mit den Lyrikbänden Die hungrige Stadt und Im Schatten der Berge endgültig vom Programm der formalen Avantgarde – gleichzeitig aber auch von dem Ziel einer unmittelbar agitatorischen Literatur. Soziale Themen spielen gerade in Die hungrige Stadt nach wie vor eine Rolle – hingegen eher in einer Weise, die mit den neusachlichen Texten Tucholskys, Falladas oder Kästners vergleichbar ist; Im Schatten der Berge ist gar eine vollkommen unpolitische, dafür umso subjektivere Lyriksammlung, die den Schluss zulässt, dass Becher – allen Bekenntnissen zum Klassenkampf gegenüber Benn zum Trotz (3.2) – von der absoluten politischen Indienstnahme der Literatur zwischenzeitlich zumindest in Teilen wieder abgerückt ist. Erst die oft flugblattartig knappen antifaschistischen Publikationen zwischen 1933 und 1935 (An die Wand zu kleben, Deutscher Totentanz 1933, Das Dritte Reich, Deutschland. Ein Lied vom Köpferollen; Der verwandelte Platz) öffnen diese Produktionslinie erneut, wobei Becher jetzt – in konventioneller, aber dringlicher Sprache – seine Landsleute aus dem Exil zur Umkehr aufruft. Dass Becher in Maschinenrhythmen wie kein zweiter deutscher Dichter die parole in libertà aufnimmt und durch kühne Analogiebildungen Simultanismus erzeugt,98 steht im Einklang mit den Versuchen nicht zuletzt der russischen Avantgardisten. Denn obwohl sich die Verfahren im Einzelnen unterscheiden, läuft der Prozess auf die Freilegung der »Urelemente der Kunst« hinaus, aus der paradoxerweise ein potenzierter Realismus entspringt: »Verläuft der Schaffensprozess in der Abstraktion von ›Etwas‹ zu ›Weniger‹ bzw. ›fast Nichts‹, kehrt er in der Ungegenständlichkeit in die Gegenrichtung um: von ›fast Nichts‹ zu ›Etwas‹ und schließlich zu ›Alles‹«.99 Deswegen steht die ideologische sozialkritische Dimension von Maschinenrhythmen, aber auch von Levisite keinesfalls im Widerspruch zur Zerlegung der Sprache. Vielmehr ist die konventionelle Grammatik das Abbild traditioneller Denkweisen, die zuerst beseitigt werden müssen, um die »Hebel« des »Höllischen Gangwerks« zerschmettern und die eingefahrenen »Schienen« der ›Menschenschlächter‹ sprengen zu können.100 Eine solche Grundanforderung einer klar engagierten Kunst bedingt die Rückbindung sämtlicher künstlerischer Produkte an die Realität, in der sie Wirkung
98 Demetz 1990. 99 Zimmermann 2007, S. 320. 100 Becher: Maschinenrhythmen 1926, S. 7.
4. Textverarbeitung und Komposition
entfalten sollen. Davon zeugen die poetologischen Überlegungen aus »Mit aufgekrempelten Ärmeln« – einem Prosatext, der der zweiten Auflage des Gedichtbands Die hungrige Stadt von 1928 vorangestellt ist. Hier formuliert Becher ein vielzitiertes radikales Bekenntnis zur Gegenwart: »Wir sind wirklichkeitsbesessen, zeittrunken«.101 Becher selbst will in Ablehnung der religiösen Basis seiner Dichtung aus den frühen 1920er Jahren nun »Engelsgeschwader und Heiligen-Chöre« explizit durch einen »magischen Realismus« ersetzen.102 Während man freilich auch in den 1920er Jahren weiterhin Mimesis-Konzepte finden kann und sich mit dem Sozialistischen Realismus später wieder ein eher an der realistischen Kunst des 19. Jahrhunderts orientierter Ansatz entwickelt,103 dreht sich die Diskussion zunächst immer noch um die von Wilhelm Worringer104 angestoßene Suche nach einem ›höheren‹ Realismus, der sich erst durch Zerlegung des realen Ausgangsmaterials finden lässt. Wichtig ist dabei nicht so sehr die ›Abbildung‹ von Realität als die Veränderung von Wirklichkeit durch Kunst, die somit – im Unterschied zum traditionellen Mimesis-Begriff – nicht mehr den Ausgangspunkt, sondern erst das Ergebnis künstlerischen Schaffens bildet. Dies läuft auf eine Infragestellung der etablierten ästhetischen Mittel hinaus: Entweder gilt es den ›wahren‹ Realismus durch immer weitere Abstraktion und Freilegung der »Urelemente der Kunst« zu finden105 oder die Wahl fällt auf ›neue‹ Massenmedien wie Plakat oder Film, die beabsichtigen, »den Betrachter so weit ins Reale zu steuern, dass dieser seine Lebenswelt aktiv verändern würde.«106 Statt einer Literatur, die nur scheinbar realistisch ist, stattdessen aber letztlich nicht mehr als eine »parfümierte Tanzpuppe« und einen »verträumte[n] Taugenichts« zu bieten hat (GW X, S. 10), setzt Becher zeitgleich in Levisite auf einen ›wirklichen‹ Realismus, der gleichzeitig die Möglichkeit einer autonomen Dichtung radikal zurückweist: »Es handelt sich hier nicht um poetische Erfindungen, phantastische Konstruktionen oder um Wahnbildungen. Es handelt sich hier um Tatsachen, um Taten, um Ereignisse« (GW X, S. 9). In diesem Sinne beruft setzt Becher wieder auf ein avantgardistisches Realismus-Konzept, namentlich das der »Photomontage«, das – ganz im Sinne der faktographischen Bestrebungen in Russland – die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit durch die Einarbeitung von Realmaterial zu überwinden versucht, indem das Buch direkt auf die Veränderung von Wirklichkeit einwirken will: »Deshalb enthält das Buch Dialoge, Reden und Beschreibungen, die Zitate sind und genau der Wirklichkeit entsprechen« (GW X, S. 500). 101 102 103 104 105 106
Becher: Die hungrige Stadt 1928, S. 7. Brief an Eva Herrmann vom 12. März 1923 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 114). Vgl. Zimmermann 2007, S. 9f. Worringer 1907. Vgl. dazu Öhlschläger 2005. Zimmermann 2007, S. 320. Ebd., S. 17.
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Becher greift dabei vorrangig auf Fachliteratur zur Gasproblematik zurück, die der im Anhang auflistet. Mit der Existenz eines »Quellenverzeichnisses« im Roman allein markiert Becher den Anspruch einer Überwindung von Kunst, die nicht mehr als Kunst sein will – gegen ein solches ästhetisches Programm wettert die »Einleitung«, die als Textsorte traditionell auch nicht in den Roman gehört, und erklärt direkte politisch-gesellschaftliche Wirkung zum Ziel des vorliegenden Buchs. Neben die »Tatsachen« treten schon auf der ersten Seite erklärtermaßen die »Taten«: Das Buch soll nicht nur berichten und informieren, sondern im Sinne des oben erläuterten Realismus-Konzepts auch selbst wieder in die gesellschaftliche Realität hineinwirken, um sie umzustoßen: »Dieses Buch möchte, ein lebendiges Wesen, künftig wieder selbst Anteil haben an den Kämpfen, deren Blutzeuge es ist« (GW X, S. 10). Einleitung und Quellenverzeichnis sind freilich auch nötig, um Levisite als Montageroman erkennbar zu machen, denn obwohl die z.T. recht langen Diskussionen über die Gasproduktion und ihre politischen Implikationen im Text eine entsprechende Recherche des Autors nahelegen, ist doch der Zitatcharakter, also der Bruch zwischen originären und ›eingefügten‹ Passagen, nicht unmittelbar zu erkennen. Damit unterscheidet sich Bechers Ansatz von den Bild-Collagen eines John Heartfield. Bei Becher sind die Übergänge viel fließender, was dazu führt, dass dann doch wieder eher eine einheitliche Gesamtkomposition entsteht. In diese Richtung deutet nicht nur die Verwendung der Liedmetaphorik,107 sondern allein der Umstand, dass Becher neben seinen wissenschaftlich-politischen ›Quellen‹ zum Thema Giftgas (wieder einmal) Zitate aus eigenen Texten einarbeitet,108 womit das Buch entscheidend dazu beiträgt, Bechers kommunistische Autorpersona der 1920er Jahre zu prägen (Kap. 5.3). Wenn sich Peter Friedjung etwa fragt: »Ob man sich selbst herunterholen kann!? Herunter bis auf diese naheste aller Erdnähen, bis zu diesem festen granitenen fundamentalen Grund: Klassenkampf« (GW X, S. 267), klingt darin eine Formulierung aus Von der Tribüne nach (GW XV, S. 51).
4.2 4.2.1
Stimmen der alten Zeit: 1930er bis 1950er Jahre Die Entdeckung der verlorenen Heimat und ihrer Traditionen
Demgegenüber steht im Exil eine Beschäftigung mit der älteren Dichtungstradition, namentlich mit Barock und Realismus im Zentrum. Übersehen wird oft, dass
107 Vgl. Obermayer 1976. 108 Vgl. dazu schon Becher: Sonett-Werk 1956, S. 87ff.
4. Textverarbeitung und Komposition
die Wiederbelebung alter Formen sehr viel globaler verläuft, als die häufige Konzentration auf das Sonett nahelegt, denn Becher entwickelt ein besonderes Interesse an solchen Gattungen oder Versmaßen, denen der Anschein des Überholten anhängt, um nun gerade ihre fortwirkende Relevanz für die Gegenwart zu behaupten. Das gilt für das elegische Distichon und die Terzine genauso wie für die Versepik, der sich Becher im Exil zuwendet und deren Höhepunkt die 1946 erschienenen Romane in Versen darstellen. Schon seit der Weimarer Republik arbeitet Becher an der Entwicklung bzw. Neubelebung epischer Formen, die sich nicht in der Erzählprosa wie dem Roman erschöpfen. Wie wichtig Becher die Romane in Versen sind, zeigt sich allein an der Konsequenz, mit der er seinen Briefpartnern gerade dieses Buch immer wieder ans Herz legt und sich über die mangelnde Rezeption der Versdichtungen ärgert.109 In den 1950er Jahren geht Becher sogar so weit, die Sammlung als eines der Werke zu bezeichnen, in denen »mein spezifischer poetischer Charakter zum Ausdruck kommt«.110 Die Erzählungen setzen größtenteils die in den Aufrufen zum Widerstand in den frühen 1930er Jahren (3.3.1) begonnene Tradition der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus fort und beschäftigen sich dabei nicht zuletzt mit der Rolle des Dichters, dem eine Chronistenrolle zukommt. Sie stammen nur z.T. noch aus der Exilzeit wie etwa die »Wiederkehr des unbekannten Soldaten«, die schon in Glücksucher und die sieben Lasten steht und nun hier als zweite Erzählung wieder auftaucht: Den unbekannten Soldaten lässt Becher wieder auferstehen und durch das von den Nationalsozialisten regierte Deutschland zurückkehren. Die Geschichte ist eine Parabel auf die Sinnlosigkeit des Krieges und sie arbeitet den Gegensatz zwischen offizieller Heldenverehrung und realer Behandlung des wiedergekehrten Soldaten heraus, der immer nur davon träumt, sich irgendwann ein Häuschen leisten zu können. Die Toten – so kann man als Moral herauslesen – können sich nicht dazu äußern, dass sie dafür herhalten müssen, erneut ein »ganzes Volk […] zum Krieg zu drillen«.111 Denn genau diese Feststellung macht den zunächst freudig begrüßten Gefallenen mit einem Schlag zum Staatsfeind, den man lieber zurück in den Wald bringt, um ihn dort zu erschießen.112 Thematisch Ähnliches liefert Becher in »Die Fahrt nach Teruel« sowie in »Die drei« und dem »Lied von sieben Knaben«. Erst durch »Schlacht um Berlin« lassen sich die Romane in Versen wirklich von der Widerstandsdichtung der Exiljahre abgrenzen, weil dieser Text die Nachkriegserfahrung der in Trümmern liegenden Hauptstadt aufgreift. In »Urach« ruft Becher die eigene Vergangenheit auf, macht aber aus der Erinnerung
109 110 111 112
Vgl. etwa den Brief an Hans Meyer vom 12. März 1953 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 447f). Ebd, S. 448. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 104. Ebd., S. 106.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
an die Zeit um 1920 und aus der Sehnsucht nach der Heimat eine weitere exemplarische Widerstandsgeschichte, die recht frei dem Leben Karl Raichles folgt, der erkennbar das Vorbild für den »Wanderer aus Schwaben« abgibt.113 Denn es ist ein am Kieler Matrosenaufstand beteiligter Seemann, in dessen Haus am Grünen Weg sich die Lebensreformer und Anthroposophen tummeln, die auch den »Uracher Kreis«114 ausgemacht haben – es kommen Leute, die sich »von Drogen« ernähren und »schlaftrunken um das Haus« wandeln, »welche, die nur barfuß gingen/Und die sich Kränze um die Haare hingen«,115 dazu der Kräutertee trinkende »Übermensch«, der Widukind als seinen »Ahnen« verehrt116 –, bevor der »Wanderer« für seine revolutionären Ansichten ermordet wird.117 Entstanden ist die Sammlung primär jedoch aus dem genannten Impuls heraus, vergessene dichterische Ausdrucksformen wieder fruchtbar zu machen. Deshalb entsteht »Die Fahrt nach Teruel« erklärtermaßen als »Denkmal in Terzinen«118 und deshalb auch weist er gegenüber Walter Sencke so deutlich die These zurück, »daß das Epos im Roman aufgegangen sei«, und verweist als jüngere Beispiele neben den eigenen Romanen in Versen auf Liliencrons Poggfred und auf Dehmels Buch Zwei Menschen, das für den frühen Becher so einflussreich gewesen war.119 Schon der Titel der Sammlung ist in dieser Hinsicht doppelt aufschlussreich, denn er ist unmittelbar vom Untertitel des Dehmel-Buchs von 1915 inspiriert, dass immerhin einen »Roman in Romanzen« zu liefern verspricht.120 Bechers Beschäftigung mit der eigenen Biographie in Abschied (5.4.3) führt ihn zu einer erneuten Evaluation des Dehmelschen Œuvres. Das Jugendvorbild von einst wird jetzt zum Gewährsmann eines gattungsgeschichtlichen Programms. Der explizite wie der implizite Verweis auf Dehmel sagen beide aus, dass dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch schon versucht hat, der Omnipräsenz des Romans Epik in Versen entgegenzusetzen. Becher konstruiert hier offensichtlich eine Parallele, die den tatsächlichen Implikationen von Dehmels Romanzen-Sammlung kaum gerecht werden kann. Umso mehr sagt sie über die Romane in Versen aus, deren erste Erzählung mit Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe eine der berühmtesten Novellen des 19. Jahrhunderts bearbeitet und damit sowohl an den Erbe-Diskurs anschließt als auch programmatisch einen berühmten Prosatext in fünfhebige Jamben setzt, die zu je vierversigen Strophen mit Kreuzreim gebündelt werden.
113 114 115 116 117 118 119 120
Vgl. zu Karl Raichle und seinen Uracher Kreis Mück 1991. Der Name fällt explizit. Vgl. Becher: Heimkehr 1946, S. 163. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd., S. 147. Ebd., S. 71. Brief an Walter Sencke vom 17. Juni 1955 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 481). Dehmel 1903.
4. Textverarbeitung und Komposition
Was Becher inhaltlich liefert, ist aber keine bloße Versifikation des bekannten Stoffs, sondern eine gezielte Neuinterpretation, die das kapitalismuskritische Moment stärkt und einzelne Handlungsdetails entsprechend zuspitzt. Der Kern der Handlung bleibt zwar erhalten, indem die zwei als Kinder eng befreundeten Hauptfiguren durch den Streit ihrer Eltern nicht zusammenkommen können und am Ende im Wasser den Tod finden. Becher markiert die Eigenständigkeit seiner Fassung allerdings schon dadurch, dass er die Kinder Sali und Vrenchen in Sepp und Marie umbenennt. Und er führt eine neue Figur ein: Während der Konflikt über den herrenlosen Acker zwischen Manz und Marti bei Keller gleichsam ›organisch‹ wächst, ist in Bechers Version noch ein Geldgeber im Spiel, bei dem die Bauern verschuldet sind und der »Not ins Dorf« bringt: »Denn beide Felder waren ganz und gar//Verpfändet und gehörten einem dicken Glatzkopf, der niemals ein Feld bebaut«.121 Erst dieses Spekulantentum (»Dem einen ward geliehen,/Geschickt dem andern dessen Schuld vermacht«122 ) führt dazu, dass die Bauern untereinander in Streit geraten und einander vor Gericht bringen – freilich, ohne dass sie die »Hunderten von Paragraphen« recht zu verstehen in der Lage wären.123 Dies treibt den einen Vater in den Alkohol und ins »Delirium«,124 den anderen in den Selbstmord.125 Die Situation ist hoffnungslos – aber nicht, weil sich eine Heirat ebenso verbietet wie die uneheliche Beziehung, sondern weil auf jeden ›Schurken‹, den man erschlägt, gleich ein neuer folgt. Sepps Frage: »Gibt’s nicht was –//Was für allemal den Schurken allen/Den Garaus macht?«126 steht dennoch im Raum und der marxistisch geschulte Leser kann die suggerierte Antwort geben, die den Liebenden nicht zugängig ist. Becher kommt auf diesem Weg nicht nur zu einem anderen Verhältnis zu älteren literarischen Formen. Er erarbeitet sich auch eine literarhistorische Perspektive, deren Fokus freilich ganz auf die deutsche Kunst- und Literaturtradition fällt. Der Grund dafür liegt in der Exilsituation bzw. deren Nachwirkung selbst begründet, die den aus der Heimat Vertriebenen dazu bringt, sich nun umso mehr als ›deutscher‹ Dichter zu verstehen, um die Bestimmung der deutschen Identität nicht den Nationalsozialisten zu überlassen und nach einem ›anderen Deutschland‹ zu suchen, das sich gerade in der berühmten humanistischen Dichtungstradition dieses Landes der Dichter und Denker niederschlägt. Diese Position, die im Gegensatz zum Internationalismus des Kommunismus steht, wie ihn Bechers Werke aus der Weimarer Republik noch erkennen lassen,127 121 122 123 124 125 126 127
Becher: Heimkehr 1946, S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Vgl. dazu freilich den Umdeutungsversuch bei Haase 1964, S. 103f.
121
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
wird in der DDR später eine zentrale Kategorie, wenn man in Abgrenzung zur ›bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung‹ den Begriff der Nationalliteratur relativ stark profiliert.128 Entsprechend sieht man in den 1960er Jahren Bechers Glücksucher-Band als den »erste[n] Gipfel des sich ankündigenden Gebirges einer erneuerten, einer sozialistischen, nationalen Poesie«,129 die nun weiter fortgeschrieben werden müsse. In der Tat ist der Glücksucher und die sieben Lasten – als einziger Lyrikband Bechers, zu dem eine eigene Monographie existiert130 – ein besonders herausragendes Zeugnis sowohl für die Beschäftigung mit der deutschen Heimat als auch für die Neubewertung traditioneller Gattungen, denn das Buch enthält neben zahlreichen Sonetten u.a. auch längere Versdichtungen, die die Romane in Versen vorbereiten bzw. im Falle der »Wiederkehr des unbekannten Soldaten« in diese eingehen. Bereits der Auftakt ist in dieser Hinsicht eine programmatische Ansage für Bechers verändertes Dichtungskonzept. Wie auch der letzte Text des Buchs ist der erste mit dem Titel »Beneidenswerte Menschen« ein Langedicht in elegischen Distichen, das die Errungenschaften der Sowjetunion als Vorbild für die Welt vorführt. Der hohe Ton, der dadurch entsteht und in ein ›Heldenlob‹ antiker Manier einleitet, weist somit in mehrfacher Hinsicht in die Vergangenheit. Das Gedicht beginnt mit dem Bedauern, dass die »einstigen Zeiten«, die »mit Heroen belebt« waren, vorüber sind.131 Die Gegenwart wird eingangs vom lyrischen Ich als kulturelle Schwundstufe empfunden, was die Sehnsucht nach der Vergangenheit umso dringlicher macht: »Ich kam wohl zu spät!/Zeiten, ich hab Euch versäumt, denn, ach, meine Zeit ist nicht günstig,/Ungünstig ist sie der Kunst, Lob nur findet der Schund«.132 Das Problem, dass die »Kunst« nicht mehr in die Zeit passt, ist als Klage ebenso topisch wie ein Wiederaufleben der Frage nach der Rolle der Dichtung in der modernen Welt, die Becher ohnehin immer beschäftigt, die nun aber auf Qualitätsunterschiede fokussiert wird. Naturgemäß bleibt es nicht bei der Feststellung des Verlustes. In ähnlicher Weise wie in Verfall und Triumph führt die Diagnose einer defizitären Gegenwart über den Aufruf einer Führergestalt, die hier durch Lenin verkörpert wird, in eine hoffnungsvolle Zukunftsvision. Entscheidend ist die Rolle des Sprechers, der sich Lenin bewusst »als Vorbild« wählt und somit zu der Überzeugung gelangt, »daß es sich lohnt,/Heute geboren zu sein«, denn »meine Zeit« ist die »Geburtszeit der Helden«.133 Das alles kann man als Becher-Leser seit dem expressionistischen Werk
128 129 130 131 132 133
Diese Tendenz auch bei Haase 1964, S. 321. Haase 1964, S. 344. Haase 1964. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 3. Ebd. Ebd., S. 4.
4. Textverarbeitung und Komposition
kennen. Das einzig Neue an dieser Konstellation besteht darin, dass der deprimierenden Gegenwartsbeschreibung nicht nur eine utopische Zukunftsvorstellung an die Seite gestellt wird, sondern ihr bereits eine glorreiche Vergangenheit vorausgeht, aus der die Zukunft ›lernen‹ kann. Das Eingangsgedicht »Beneidenswerte Menschen« verweist also auf mehreren Ebenen auf Bechers veränderten Blick auf die (deutsche) Dichtungstradition. Formal orientiert sich der Text an jenen ›großen‹ Errungenschaften des späten 18. Jahrhunderts. Inhaltlich inszeniert er die Aufwertung der Vergangenheit, als Muster für die Schaffung einer besseren Zukunft, die der Band dann in seinem Aufbau zelebriert. Denn auf die elegischen Distichen folgen mehrere Abschnitte mit Gedichten und Versdichtungen, die schon in ihrer Anordnung eine aufschlussreiche Geschichte erzählen. Der ersten Teil »Sieben Lasten« ist ganz in der deutschen Heimat angesiedelt; der zweite »Flüchtling in fremder Stadt« bringt die Exilsituation auf den Punkt. Danach folgen die »Glücksucher«-Gedichte, die programmatisch als Suche nach einem Ausweg daherkommen. Der vierte und fünfte Teil tasten entsprechend unter der Überschrift »Inschriften und Fragmente« bzw. »Luther« die Vergangenheit nach Lösungsentwürfen ab, bevor sich der Band vor allem im Teil »Das Denkmal« der jüngeren Geschichte zuwendet, um schließlich im Teil »Gastmahl der Fünftausend« die Situation in der UdSSR zu beschreiben. Dieser Weg durch Vergangenheit und Zukunft, von Westen nach Osten entfaltet in der Breite das, was das Eingangsgedicht auf wenigen Seiten sagt: Auf die desolate Lage der Gegenwart gibt es Antworten in der deutschen Vergangenheit und in den russischen Errungenschaften. Obwohl der Glücksucher von Bechers Schriftstellerkollegen größtenteils Lob erhält,134 führt freilich gerade der Nationalismus des Bandes zu Kritik. Bertolt Brecht stört sich unmittelbar nach Erscheinen des Lyrikbands entscheidend an dieser Dimension des Kollegen. Er sieht aus Bechers Heimatgedichten aus der Zeit um 1938 einen von »Lieb und Haß« Verzehrten sprechen, dem ein Nebenbuhler die Geliebte ausgestochen hat,135 und wirft ihm Realitätsferne vor: Seh ich dich so in vielerlei Gedichten Zu längst zerstörten Häusern Steine schichten Und mühsam neu baun abgetragene Örter Dann fürcht ich, du vergißt, daß deine Hand Nach einem Bild greift, nicht nach einem Land Dein Fuß nicht Boden da betritt, nur Wörter.136
134 135 136
Vgl. die Briefe an Becher von Stefan Zweig vom 17. März 1938, Lion Feuchtwanger vom 19. März 1938 und Alfred Döblin vom 27. April 1938 (JRBA 101; 33; 27). Brecht 2005 Bd. IV, S. 300. Ebd., S. 418.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Diese lyrisch formulierte ›Sorge‹ Brechts resultiert aus dem Umstand, dass in nicht wenigen der Gedichte, in denen Becher die Landstraße zu Kempten, den Neckar oder die Oberbayrische Hochebene heraufbeschwört, die Grenzen zwischen Liebes- und Heimatdichtung so fließend sind, dass man nicht genau weiß, ob das Du, das der Sprecher aus den ›Augen verloren‹ hat, ein Mensch oder ein Ort ist.137 Dass Becher sich noch in Moskau weigerte Russisch zu lernen und seine Frau Lilly auch die Aufgabe übernahm, ihm fremdsprachige Literatur zu vermitteln,138 gehört zum bewussten Programm Bechers im Exil, der sich nun ganz seinem Heimatland verschreibt und 1933 erklärt: »In deiner Sprache, Deutschland, werd ich sterben,/Kein andrer Laut wird mir verständlich sein.«139 Freilich ist die Haltung zur ›verlorenen Heimat‹, der man gerade deshalb aus der Ferne wieder Heimatlieder singt, so ungewöhnlich nicht für die Exilliteratur sowie für Autoren der Inneren Emigration. Der Grund dafür ist die im Exil kursierende These von den zwei Deutschlands, deren Ursprünge schon in der Weimarer Republik liegen.140 Demnach gibt es neben Hitler-Deutschland noch ein anderes, das ›wahre‹ Deutschland, das nun im Exil seinen Platz hat, aber auch als Entwurf für die Zeit nach dem Nationalsozialismus fungiert.141 ›Das andere Deutschland‹ führt »Gefühle des Heimwehs, der Sehnsucht nach Deutschland« zusammen mit dem »Anspruch, eine kulturelle und politische Alternative zum nationalsozialistischen Deutschland zu verkörpern«,142 wobei das Stichwort ›Weimar‹ mit seinem klassischen Humanismus zum Inbegriff dieser Alterative wird.143 Bechers Neuausrichtung hat darüber hinaus Rückhalt in der Entwicklung der russischen Dichtung, die man trotz der programmatischen Distanzierung von Russland zugunsten der deutschen Heimat als Kontext für Bechers Schreiben immer im Blick behalten muss, denn auch dort ist in den 1930er Jahren der ehemals angestrebte Internationalismus von einer stärkeren Orientierung auf die Heimat zurückgedrängt worden.144 Was bei Becher in der Tat heraussticht und seine Sonderrolle in dieser Hinsicht begründet, ist das Maß an Selbstreflexion, das mit diesen Schwerpunktsetzungen einhergeht. Denn die schrittweise Entwicklung zum ›Nationalautor‹, in der man durchaus eine bewusste Parallele zu Goethe sehen kann, ist die bewusst gewählte Rolle, die Becher nun spielen will, weshalb er diese Entscheidung auch offen kommuniziert: »In meiner Stimme ist ein neuer Ton,/Wenn sie beginnt: ›Ich, deutschen Volkes Sohn.‹«145 Im Rückblick auf das 137 138 139 140 141 142 143 144 145
Vgl. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 11f. Vgl. Harder 2003, S. 148. Becher: Deutscher Totentanz 1933, S. 18. Vgl. Koebner 1992. Vgl. Schiller 2010. Vgl. Winckler 2013, S. 185. Zur postkolonialen Forschungsperspektive auf diesen Diskurs vgl. Spies 2013. Vgl. den Hinweis bei Behrens 2003, S. 210. Becher: Wiedergeburt 1940, S. 28.
4. Textverarbeitung und Komposition
bisherige Werk stellt er fest, was er alles bislang nicht in seinen Gedichten berücksichtigt hat, und entschließt sich zu einer entsprechenden Ergänzung: »Viel bisher Ungenanntes muß ich nennen./Heimat, so will ich mich zu Dir bekennen.«146 Nun hat Brecht allerdings Recht damit, wenn er hinter Bechers Deutschlandbeschwörung vorrangig »Wörter« am Werke sieht. Die Auseinandersetzung mit Deutschland ist eindeutig literarisch inspiriert. Dass allein die Dichtung die Brücke zur unerreichbar gewordenen Heimat zu schlagen vermag,147 ist an sich schon eine hochgradig romantische Idee und sie verweist auf das Strukturmuster, dem Bechers Schreiben dieser Jahre folgt. Die Wiederbelebung der romantisch-klassischen Literatur zeigt sich an der Aufwertung Goethes, aber mehr noch an den Rahmengedichten, die in Form und geschichtsphilosophischen Ausrichtung klar von der Literatur um 1800 inspiriert sind. Dabei wird neben der Form das den Gedichten zugrunde liegende Weltbild entscheidend von der Perspektive geprägt, die in Romantik und Klassik vorherrscht, denn es ist ausgerechnet die Sehnsucht, die nun den Blick auf Deutschland einleitet.148 Zu dieser topographischen Konstellation gesellt sich eine zeitliche Dimension, die an das triadische Geschichtsmodell des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erinnert. Der Dichter des 20. Jahrhunderts kommt aber zunehmend zu der Erkenntnis, dass seine Zeit der um 1800 überlegen ist, weil sie nicht nur Sehnsucht, sondern auch deren »ungeahnte Erfüllung« kennt.149 Zunächst mit der kriegsgebeutelten Gegenwart hadernd, sieht das lyrische Ich gerade aus dieser angespannten Situation heraus neue Helden erstehen, die zu besingen das Ziel der nach antikem Vorbild gestalteten Hymne ist:150 Vor dem Hintergrund der Leistungen Lenins151 und seines Volkes, das sich der Sprecher zum Vorbild nimmt, wird klar, »daß es sich lohnt,/Heute geboren zu sein«, weil daraus das Bewusstsein einer realen besseren Zukunft erwächst: »Mit uns kommt es das Reich, das menschliche, Friede und Freude«.152 Was politisch naiv anmutet,153 ist psychologisch gesehen der Versuch, die aktuelle historische Situation dadurch zu deuten, dass man nach historischen Paralle146 Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 14. 147 »Wirst du ein letztes Mal mich heimgeleiten/In meine Heimat, die für immer mein –/Du Heimatlied in heimatlosen Zeiten« (Wiedergeburt 1940, S. 29). 148 Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 6. 149 Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten. Eine Voranzeige 1937, S. 112. 150 »Die Zeit der Hymne ist gekommen. Denn Hymne ist: Gewißheit des Sieges und Sicht auf große Tage« (ebd., S. 1139). 151 »Nun war im Osten ein Mann, der lehrte das Volk seine Knechtschaft/Abzuwerfen und stark machte das Volk er, gewann/Ihm ein herrliches Reich: die Freiheit; und mächtigen Reichtum,/Einst von dem Volke gehäuft, nahm jetzt das Volk sich zurück« (Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 4). Vgl. ähnlich »Der Glücksucher« in ebd., S. 40. 152 Ebd., S. 4. 153 Vgl. Haupt 1994, S. 127.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
len sucht, die die Erzeugung Sinnstrukturen ermöglichen und somit Hoffnung auf das Ende der Barbarei geben.154 Diese Dimension des Rückgriffs auf Vergangenes ist selbst da präsent, wo man auf den ersten Blick subjektive Lebenserinnerungen vermuten muss. Der ›deutsche Dichter‹, der nun aus Bechers Versen spricht, hat eine Biographie, die zwar in einigen Punkten mit der seines Erfinders zusammentrifft, letztlich aber historisch viel weiter zurückreicht.
4.2.2
Rezeption der Barockdichtung
Während ein autobiographischer Bezug etwa im Gedicht »Wiederauftauchen einer versunkenen Stadt oder München singt« über die Münchner Räterepublik leicht herstellbar ist, zumal Becher den Titel seines propagandistischen Bands An Alle! von 1919 einarbeitet,155 hat Becher zu Dinkelsbühl keine näheren Verbindungen. Trotzdem gibt es im Glücksucher ein gleichnamiges Sonett, dessen Sprecher angibt, dorther zu kommen.156 Besungen wird denn auch nicht ein Ereignis der jüngeren Vergangenheit, sondern ein ›jahrhundertaltes‹ Leid, dessen Stichworte »Krieg«, »Pest und Pocken« eher auf die Frühe Neuzeit verweisen.157 Die Suche nach Parallelen zur Gegenwart führt also nicht nur in die Zeit der Weimarer Klassik. Vor allem der Dreißigjährige Krieg wird von den Exilautoren schon früh zur Beschreibung der gegenwärtigen Lage entdeckt, der sich als erster großer deutscher Krieg geradezu mustergültig für den Vergleich mit der Gegenwart eignet, zumal der Zeitraum vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs schließlich ebenfalls drei Jahrzehnte umfasst, was später die Rede vom ›zweiten dreißigjährigen Krieg‹ ermöglicht.158 Auch hier kann man eine bewusste Antwort der linkspolitischen Autoren auf die Vereinnahmung des Themas durch die Nationalsozialisten beobachten.159 Dabei spielt das Motiv der ›Chronik‹ in der Tradition von Grimmelshausens Simplicissimus eine entscheidende Rolle – sei es in Brechts Mutter Courage160 oder in Bechers Schlacht um Moskau. Grimmelshausen gilt als Zeitzeuge des Dreißigjährigen Krieges und wird infolge der ExpressionismusDebatte als ›Realist‹ wahrgenommen, was sich später noch der Literaturgeschichtsschreibung in der DDR niederschlägt.161 154
Zum Stichwort der Barbarei in diesem Zusammenhang vgl. die Erstfassung des Gedichts »Barbarenzug« (in: Internationale Literatur 9.2, 1939, S. 97ff.). Zur Überarbeitung für den Glücksucher infolge des Hitler-Stalin-Pakts vgl. Schäfer 1973, S. 366. 155 Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 20. 156 Ebd., S. 15. 157 Ebd. 1938, S. 15. 158 Becher: Volk im Dunkeln wandelnd 1948, S. 16. 159 Untersuchungen zur Bearbeitung des Themas in den Künsten sind immer noch erstaunlich rar. Vgl. im Überblick Lehmann 2004. 160 Vgl. dazu im Überblick Kugli 2001. 161 Vgl. Gysi et al. 1973, S. 447ff.
4. Textverarbeitung und Komposition
Anders als Benn hat sich Becher auch als Expressionist nicht intensiv mit der Barockdichtung beschäftigt; sein Fokus liegt auf den Errungenschaften der französischen Modernisten wie denen der der eigenen Generation junger deutscher Dichter. Mit der nun zunehmenden Auseinandersetzung mit der (deutschen) Literaturtradition geraten auch das 16. und das 17. Jahrhundert stärker in den Blick. Und man kann noch weiter gehen: Bei allen anderen Traditionslinien, die darüber hinaus zu berücksichtigen sind, ist es doch die frühneuzeitliche, besonders die barocke Kunst, die die Eckpunkte von Bechers Exilwerk bestimmt. Gerade der Abschnitt »Inschriften und Fragmente«, der insgesamt 13 Gedichte versammelt, die (von »Odysseus« abgesehen) alle den Namen eines Künstlers oder Dichters aus der Vergangenheit tragen, lässt diese neue Schwerpunktsetzung unmittelbar einsichtig werden. Einzig die Gedichte »Hölderlin« und »Goethes Tod« beziehen sich auf die Zeit nach 1800; alle anderen von Becher angeführten Personen gehören in die Frühe Neuzeit. Dabei liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der bildenden Kunst: Neben Bach, Dante, Cervantes und Shakespeare bedichtet Becher die Renaissance-Künstler Leonardo da Vinci, Matthias Grünewald, Hieronismus Bosch, Tilman Riemenschneider und Rembrandt.162 Daran schließt sich der zwölfteilige Gedichtzyklus »Luther« an.163 Dass alle »Inschriften und Fragmente« Sonette sind, erklärt sich allgemein vor dem Hintergrund von Bechers Neubewertung der ›alten Formen‹ seit Der Mann, der alles glaubte (1935). Allerdings bekommt das Sonett im Glücksucher darüber hinaus eine besondere Stellung aufgrund seiner prominenten Rolle in der frühneuzeitlichen Dichtung, im deutschsprachigen Bereich namentlich der des Barock. Nicht zufällig nämlich ist das erste (Doppel-)Sonett des Bandes ein Text, der direkten Bezug auf eines der berühmtesten Barockgedichte überhaupt nimmt. Mit »Tränen des Vaterlands Anno 1937« variiert Becher den Titel des bekannten GryphiusSonetts über den Dreißigjährigen Krieg. Genau wie Gryphius’ gleichnamiges Gedicht steht auch Bechers »Tränen des Vaterlandes« im Alexandriner, mit dem wichtigen Unterschied, dass Becher unter diesem Titel zwei Sonette zusammenfasst, von denen nur das zweite die im Barock favorisierte Form aus zwei Quartetten und zwei Terzetten aufweist, während das erste ein englisches Sonett ist. Der Grund, warum Becher auf den Gryphius-Text zurückgreift, liegt in der inhaltlichen Parallele zwischen der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und der Gegenwart von 1937. Wie so viele von Bechers Deutschland-Gedichten aus dem Glücksucher nimmt auch »Tränen des Vaterlands« Bezug auf die nationalsozialistische Machtergreifung und deren Folgen für das »Vaterland«, auf das der exilierte Dichter in fortwährender Reflexion dieser biographischen Basis zurückblickt: »O Deutschland! Sagt, was habt aus Deutschland ihr gemacht?!/Ein Deutschland stark 162 163
Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 41ff. Ebd., S. 48ff.
127
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
und frei?! Ein Deutschland hoch in Ehren?!«164 Die Anspielung auf das Lied von Ludwig Bauer markiert dabei deutlich den Anspruch, der nationalsozialistischen Indienstnahme des patriotischen Liedguts eine Alternative entgegenzusetzen, die dieses nicht preisgibt, sondern gerade auf dem ›Erbe‹ des 19. Jahrhunderts aufbaut. Nachdem es die Gräueltaten des Dreißigjährigen Kriegs geschildert hat, wendet sich Gryphius’ Sonett zuletzt dem Zwang zum Glaubenswechsel zu, der bekanntlich »ärger als der tod« ist.165 Dieser Wechsel vom körperlichen Leid zur Zerstörung immaterieller Werte schlägt sich in Bechers »Tränen des Vaterlands« ebenfalls nieder und markiert genau die Grenze zwischen den beiden Sonetten. Anstelle des Glaubens treten bei Becher freilich die Kunst und die (heimatliche) Natur. Namentlich Musik (»Bachs Fugen und Kantaten«), bildende Kunst (»Du zartes Himmelsblau, von Grünewald gemalt!«) und Dichtung werden angesprochen, wobei Becher abgesehen von der »Hymne Hölderlins« den Schwerpunkt wieder in der frühneuzeitlichen Kunst ansetzt. Während sich Becher bis dato für Hölderlin eher aufgrund von dessen hymnischen Ton begeistert hat, wird nun für ihn der Dichter von »Der Tod fürs Vaterland«166 relevant, aus dem das Motto des Gedichtbands Wiedergeburt entnommen ist.167 Daneben geht die zweite Strophe auf die deutschen Landschaften ein, die in den folgenden Gedichten noch alle einzeln besungen werden: Gelang es euch noch nicht, auch die Natur zu morden?! Ziehn Neckar und der Rhein noch immer ihren Lauf? Du Spielplatz meiner Kindheit: wer spielt wohl heut darauf? Schwarzwald und Bodensee, was ist aus euch geworden?168 Ziemlich genau drei Jahrhunderte nach Gryphius’ Sonett sieht die Lage also wieder ganz ähnlich aus. So wie Gryphius in seinem Gedicht die Jahre zählt, die seit Anfang des Dreißigjährigen Kriegs vergangen sind,169 blickt auch Becher an ähnlicher Stelle – zu Beginn des ersten Terzetts des zweiten Sonetts – auf das Jahr 1933 zurück (»Das vierte Jahr bricht an«170 ), wobei sich seine Sonette der Nachfolge des Barockdichters ständig bewusst sind. Das Blut, das durch den »irre[n] Folterknecht« des 20. Jahrhunderts vergossen wird, gibt Anlass zu dem Ausruf: »O wieviel neues Leid
164 Ebd., S. 6. 165 Gryphius 1961 [= 1884], S. 114. 166 Vgl. zu Bechers Beschäftigung mit Hölderlin ausführlich Klein 1993 sowie zum Glücksucher Berbig 1981. 167 Becher: Wiedergeburt 1940, S. 3. 168 Ebd.: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 7. 169 Vgl. Gryphius 1961 [= 1884], S. 113. 170 Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 7.
4. Textverarbeitung und Komposition
zu all dem alten Leide!«171 Im Unterschied zu Gryphius freilich kennt Becher auch hier nicht nur das gegenwärtige Leid, sondern antizipiert die sichere Befreiung und die erneute »Blüte des Vaterlands« im strukturell und metrisch gleichgebauten Parallelgedicht dieses Titels in der Mitte des Bandes.172 Becher nutzt das Stichwort »Tränen des Vaterlands« später noch mehrfach: Es ist außerdem der Titel einer von ihm 1954 herausgegebenen Anthologie mit Barockgedichten173 und kommt zudem in zwei weiteren Sonetten vor, die die beiden Weltkriege und die Zwischenkriegsphase zu einer Periode von 30 Jahren zusammenfassen. Der wichtigste Garant für diese Parallele und das dahinter stehende Dichtungskonzept ist indes Hans Jakob Christoffel von Grimmelhausen, dessen autobiographisch inspirierter Roman Simplicissimus Teutsch das wohl umfassendste Portrait der Barockzeit liefert. Grimmelshausen ist für die kommunistische Exilliteratur und die DDR-Literaturgeschichten aus dreierlei Gründen interessant, die man in Bechers Grimmelshausen-Epos aus den Romanen in Versen (1946) allesamt finden kann: Erstens: Grimmelshausen ist ein einfacher Mann aus dem Volk, kein poeta doctus klassischen Zuschnitts, vielmehr quasi der Prototyp des Proletariers, der sich selbst einen Weg zur Kunst erarbeitet.174 Zweitens: Der Roman hat durch seinen Ich-Erzähler Simplicius, der leicht mit Grimmelshausen gleichgesetzt werden kann, den Charakters eines Zeitzeugnisses; Grimmelshausen ist »Des Großen Dreißigjährigen Kriegs Chronist«,175 dessen Lebenswerk darin besteht, dass er für die Nachwelt Zeugnis ablegt von den Ereignissen seiner Lebenszeit. Diese Haltung ist nun drittens aufgrund der Parallelen zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert eine Haltung, die sich der gegenwärtige Dichter ebenfalls aneignen muss. Schließlich ist die Rolle des Dichters bestimmungsbedürftig, weil er im Gegensatz zu den Soldaten nicht mitkämpft und ihm deshalb nur die Aufgabe zukommen kann, »Bescheiden mitzuschreiben an dem Buch,/Darin ihr ewig lebt als Heldenlied«.176 Genau diese Frage nach der Rolle des Dichters im Krieg ist das Hauptthema des Dramas Schlacht um Moskau, das unter seinem späteren Titel Winterschlacht das bekannteste Theaterstück des Autors wurde.177 Es ist einerseits eines der zahlreichen Ostfrontdramen der Exiljahre, andererseits aber in der Urfassung fast mehr ein Stück über poetologische Fragen, dessen auf äußerste Aktualität abzielende
171 172 173 174 175 176 177
Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 79. Becher: Tränen des Vaterlandes 1954. Vgl. Becher: Heimkehr 1946, S. 72ff. Ebd., S. 81. Ebd., S. 45. Dies verdankt sich nicht zuletzt auch der Musik von Hanns Eisler, die auch sonst nicht mit Becher vertraute Hörer noch mit dem Stück bekannt macht.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Grundanlage allein schon vor dem Hintergrund des Modells des Dichters als Chronist eine zentrale Bedeutung zukommt. Becher schreibt den Text quasi unmittelbar dokumentarisch zwischen Oktober 1941 und Februar 1942 parallel zu jener ›Schlacht um Moskau‹, die im Stück behandelt wird: dem vergeblichen Versuch der deutschen Armee, die russische Hauptstadt einzunehmen.178 Becher, der im Rahmen der Evakuation deutscher Schriftsteller Moskau in diesem Zeitraum verlassen musste, präsentiert den Sieg der Sowjets in seinem Drama als unausweichlich. Während die deutschen Medien geschönte Berichte von der Front senden,179 geht es in Bechers Stück in vieler Hinsicht um die Entlarvung solcher irreführenden Berichte, indem nicht nur die problematische Versorgungslage der deutschen Truppen zum Thema gemacht,180 sondern auch direkt die Fälschung von Kriegsereignissen durch die Berichterstatter vorgeführt wird.181 So sehr Figuren und Handlung mit den »Standardformeln der KPDPropaganda« durchsetzt sind,182 erweist sich der Text bei genauem Hinsehen und vor dem Hintergrund von Bechers restlichem Schreiben als eines seiner komplexesten literarischen Werke überhaupt183 – wegen der die Verweisstruktur von Bechers Texten untereinander fortsetzenden autobiographischen Anspielungen (5.4.2) ebenso wie aufgrund der expliziten Behandlung der Rolle von Dichtung und der literarischen Traditionen, die das Stück aufgreift. Der in der überarbeiteten Fassung von 1945 gestrichene Prolog macht in der Tradition des frühneuzeitlichen Dramas auf die Lehre aufmerksam, die aus dem Text gezogen werden soll (vgl. GW VIII, S. 395). Markant ist aber vor allem, dass das Stück nicht seinen tatsächlichen Verfasser Johannes R. Becher zugeschrieben wird, sondern einer im Drama selbst auftretenden Figur. Was hier im Prolog steht, erinnert – abgesehen von der gerade bei Autoren der Inneren Emigration während des Zweiten Weltkriegs häufig genutzten Strategie des ›verdeckten‹ Schreibens – stark an die im Roman um 1800 beliebte Herausgeberfiktion.184 Der Autor sei bei der Schlacht »mit dabei« gewesen (GW VIII, S. 395) und habe die ›Wahrheit‹ aufgezeichnet; in den Druck sei das Manuskript durch seinen ›Finder‹ gelangt:
178
Auch Brecht befasst sich kurz nach Ende der Schlacht dramatisch mit diesem Thema. Vgl. Hermand 2001. Vgl. für weitere Beispiele von Ostfront-Dramen Kreuzer 1992. 179 Zur Instrumentalisierung der Medien durch das NS-Regime vgl. Bartels 2004. 180 Dies veranschaulicht Becher am Beispiel der weißen Farbe, die mehrfach mit Nahrungsmitteln verwechselt und als Milchpulver von zwei Fallschirmspringern gestohlen wird (III,2). 181 Vgl. vor allem die Szene V,2, als sich ein Russe und ein Jude weigern, den jeweils anderen lebendig zu begraben, während der Kriegsberichter im Rundfunk verbreitet, der Jude habe sogar selbst vorgeschlagen, dem Russen sein Grab zu schaufeln (GW VIII, S. 564f.). 182 Pike 1981, S. 525. 183 Zu diesem Befund kommt auch Kreuzer 1992, S. 178. 184 Vgl. dazu Wirth 2008.
4. Textverarbeitung und Komposition
Er, der dies Stück schrieb, ist indes verschollen. Er hinterließ uns nicht als dieses Stück. Er schrieb es heimlich auf, in einer Sprache Nur ihm verständlich, denn mit Tod bedroht War jeder, der in den Verdacht geriet, An der verbotenen Wahrheit teilzuhaben. Bevor er ging, hat er noch aus dem Dunkel Der klug verborgenen Worte diesen Text Uns ausgezogen. Einer hat gefunden In einem Schreibheft mit verstellter Schrift Und unterschrieben »Dichter unbekannt« Dies wahre Zeugnis nun vergangener Tage. (GW VIII, S. 395f.) Ist dies zunächst eine die Glaubwürdigkeit des Berichteten absichernde Rahmung, die man als Leser auch wieder vergessen könnte, wird der Blick doch auch während des Stücks erneut auf das Dichtungsproblem gerichtet, weil sich der im Prolog genannte Autor selbst als Figur in das Drama hineingeschrieben habe. Entsprechend ergeht an seine Rezipienten die Anweisung, auf diese Person besonders Acht zu geben: »vielleicht erkennt ihr ihn,/Der, wie von gut gedeckter Stellung aus,/Den Gang der Handlung aufmerksam begleitet« (GW VIII, S. 396). In der Tat ist es nicht schwer, den ›Autor‹ des Dramas im Text auszumachen, weil er sich im Epilog selbst als dieser zu erkennen gibt. Es handelt sich um den Stabskoch Xaver Maria Oberkofler, der während der fünf Teile – im Gegensatz zu Figuren wie Johannes Hörder oder Gerhart Nohl – wirklich eher am Rande des Geschehens steht und dieses beobachtet. Obwohl er für die Verpflegung der deutschen Armee zuständig ist, ist Oberkofler kein Anhänger der Nationalsozialisten, sondern gehört zu den Kritikern des Systems. Nach dem Sieg der Russen kann er seine Meinung nun unverstellt kundtun und seine Identität preisgeben: »Die Zeit ist nicht mehr die,/Daß man die Wahrheit tief verbergen muß,/Und offen darf ich zeigen, wer ich bin« (GW VIII, S. 591). Diese in den bisherigen Analysen der Schlacht um Moskau kaum berücksichtigte Figur des im Stück versteckten Dichters ist für die Aussage des Dramas in seiner Erstfassung zentral, denn es handelt sich um mehr als einen bloßen Kunstgriff Bechers, der die Komplexität des Textes erhöht. Wenn sich Oberkofler als fiktiver Autor in seinem Stück verbirgt, schreibt sich auch der reale Verfasser Johannes R. Becher nicht nur in Johannes Hörder, sondern auch in die Figur Oberkofler ein. Neben dem dreiteiligen Namen, der eine Parallele zu Becher darstellt, ist es vor allem die bayrische Herkunft, die der Name des Stabkochs mehr als deutlich betont und die im Stück – ohne diese Folie unmotiviert – verhältnismäßig detailliert (ironisch) behandelt wird. Oberkofler, der sich im Gespräch mit dem Oberstleutnant von Quabbe ausführlich vorstellt (GW VIII, S. 432), ist im Heer wegen seiner
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Kochkünste unentbehrlich, aber dem Oberstleutnant außerordentlich lästig, was dieser auf seine ›minderwertige Rasse‹ zurückführt: »Die Bayern waren mir schon immer zuwider. Ein verschlagenes, hinterhältiges Pack« (GW VIII, S. 434) – eine Aussage, die natürlich auch den Münchner Becher trifft. Oberkofler steht aber auch für das Modell eines Dichters, das Becher mit Schlacht um Moskau profiliert, und hat damit unmittelbar programmatische Relevanz. Mutet das Stück aufgrund seines Lehrcharakters, wie er in Prolog und Epilog betont wird, frühneuzeitlich an, weist auch die Figur Oberkofler auf eine Aufnahme dieser dramatischen Traditionslinie. Während das Stück Schlacht um Moskau ohne Zweifel ein sehr ernsthaftes Thema verhandelt, betritt mit Oberkofler eine komische Figur die Bühne: der Narr oder – wie von Quabbe ihn auch nennt – der »Divisionshanswurst« (GW VIII, S. 430). Dieser Rolle wird er im Gespräch mit dem Oberstleutnant durchaus gerecht, indem er durch sein »unerträgliche[s] Geschwätz« für die anderen Figuren »nicht ein einziges vernünftiges Wort sagen« kann (GW VIII, S. 432 bzw. 431).185 Als fiktiver Verfasser der Schlacht um Moskau ist Oberkofler aber kein reiner Spaßmacher. Vielmehr stellt er sich selbst in die Tradition von Grimmelshausens Schelmenromans Simplicissimus Teutsch, dessen Erzähler gleichfalls die Narrenrolle in der verschiedener Weise ausfüllt,186 und zieht so die Parallele zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Zweiten Weltkrieg (vgl. GW VIII, S. 592). Entsprechend steckt hinter dem vermeintlichen Unsinn in den Reden Oberkoflers stets eine ernste Wahrheit, die die deutsche Heeresleitung nicht erkennen will – nämlich die von der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Oberkofler sinniert lange über die mit Milchpulver verwechselte weiße Farbe, um schließlich das Bild einer endlosen unbewohnten Schneelandschaft zu zeichnen. Damit spricht er direkt den Grund für das spätere Scheitern der deutschen Bemühungen direkt an und macht durch seine eigene Perspektive klar, dass die Erfolgsmeldungen der Kriegsberichterstattungen wenig mit der Realität zu tun haben: »Moskau – hundert Kilometer«, steht dort auf der Tafel geschrieben, ich hab mir die Richtung genau gemerkt, wohin der Pfeil zeigt, und hab in die Richtung geschaut, wo die Schlacht um Moskau stattfinden soll, und habe versucht, den Kriegshandlungen zu folgen, wie sie der Herr Kriegsberichter beschreibt. Aber außer der weißen Farbe, mit der die ganze Umgebung wie bestrichen scheint, habe ich nichts zu entdecken vermocht… Nichts als weiß, weiße Farbe, wohin das Auge schaut… Ich sehe zwar alles nur blau, dank meiner Schneebrille, aber auch meine Schneebrille ist keine Zauberbrille, die dorthin, wo leere Flächen sind, Häuser oder gar Wärmehallen hinversetzt… (GW VIII, S. 433f.) 185
Von Quabbe sieht ihn außerdem in der Rolle des »Feldnarren«, so wie es auch Feldgeistliche gibt (GW VIII, S. 433. 186 Vgl. zu den Narrentypen im Simplicissimus Teutsch Le Berre 2009.
4. Textverarbeitung und Komposition
4.2.3
Melancholia
Entgegen der Darstellung, die sich sowohl in der Becher-Forschung in der DDR als auch in der Bundesrepublik findet, läuft Bechers Rückbesinnung auf die deutsche Tradition nicht einzig auf die Vollendung des Konzepts vom Sozialistischen Realismus oder gar der Aufbauliteratur zu, wie sie in den 1950er Jahren von der SED propagiert wird. Vor dem allen steht freilich – wieder einmal – ein ganz anderer Becher, dessen Bilanz angesichts der Erfahrungen während und nach der Kriegszeit sehr viel düsterer ausfällt, als das Bild vom Kulturpolitiker (der Becher ja schon mit Gründung des Kulturbunds gewissermaßen wird) suggeriert. Der von der Forschung weitgehend übergangene Lyrikband Volk im Dunkeln wandelnd (1948), dessen Titel Becher aus Händels Messias übernimmt – nicht aus der Bibel, wo er eigentlich herstammt – ist von der damit aufgerufenen der Hell-Dunkel-Metaphorik durchweg geprägt. Auch das zweite Zitat, das dem Band als Motto voransteht, zeigt, dass Becher Volk im Dunkeln wandelnd über die bereits in den 1930er Jahren im Exil entdeckte Parallele zum Dreißigjährigen Krieg hinaus gezielt nach dem Vorbild des Dichtungsverständnisses der Frühen Neuzeit modelliert.187 Dieses Konzept wird von Becher mit dem Band Volk im Dunkeln wandelnd in eine konsequente ästhetische Form überführt. Das Buch zeigt sich in vielerlei Hinsicht an einer frühneuzeitlichen Weltsicht ausgerichtet. Nicht nur kehren religiöse Verweise grundsätzlich zurück; Becher schreibt sogar wieder ein Gedicht mit dem Titel »De profundis«, womit er zu einem Schlagwort seines Frühwerks zurückkehrt (5.2.1).188 Inhaltlich wie sprachlich muten die Texte häufig wiederum barock an, indem sie die diesseitige Welt als ›Hölle‹ beschreiben (»Begegnung im Jenseits«189 ). Der Weltschmerz, der sich in den Gedichten artikuliert, ist aber mehr als der Niederschlag realer »Hoffnungslosigkeit des Dichters«.190 Im Gegenteil schlägt sich die gesamte Tradition des Melancholie-Diskurses nieder. Alle drei Elemente, die seit der Empfindsamkeit für das Melancholie-Gedicht charakteristisch sind, finden sich in Bechers Band von 1948 wieder: »die Entdeckung des Leidens als Ursprung und Quelle künstlerischer Produktivität« ebenso wie »die Zuflucht im Schreiben als Mittel seiner Aufhebung und Überwindung« und »das Postulat einer mit ästhetischen Mitteln erreichten Versöhnung und Transzendenz«.191 Damit wird mehr als deutlich, dass Bechers Nachkriegswerk eine ganze Reihe von Verbindungen zur (späteren) westdeutschen Literatur aufweist, die weder die DDR-Germanistik noch die Rezeption Bechers in der Bundesrepublik so recht 187 188 189 190 191
Vgl. Becher: Volk im Dunkeln wandelnd 1948, S. 15f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 100. Haase 1981a, S. 45. Völker 1983, S. 29.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
wahrnehmen wollte. Der Band ist immerhin zuerst in einem westdeutschen Verlag erschienen und in der vier Jahre danach folgenden DDR-Ausgabe um »einige später geschriebene Gedichte mit optimistischer Aufbau-Thematik« ergänzt worden.192 Dieser Akt der »Selbstzensur«193 spricht dafür, dass Becher sich der Problematik zumindest im Nachhinein bewusst geworden war: Seine Gedichte von 1948 gehören erkennbar in eine literarische Entwicklung hinein, die bislang als solche vor allem für die jüngeren (im Westen Deutschland verorteten) Autoren wie Grass, Sebald oder Hildesheimer untersucht worden ist, die zu Beginn der 1960er erstmals literarisch in Erscheinung treten.194 Diese Autoren entwerfen – sowohl aus der Opfer- als auch aus der Täterperspektive – Konzepte von Vergangenheitsbewältigung, den seit der Antike in Bezug auf Künstlertum angewandten Melancholiebegriff, dessen populärster Bezugspunkt Albrecht Dürers Melancholia I ist, für die Aufarbeitung des Holocaust fruchtbar zu machen.195 Bechers Lyrikband Volk im Dunkeln wandelnd gehört schon in seinen Prämissen mehr als deutlich in diese Tradition. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil Becher die Ambivalenz des Melancholiediskurses erkennen lässt, der auf der einen Seite Zustände von Krankheit und Verzweiflung bezeichnet, auf der anderen Seite aber durch den Bezug zum Genie des Künstlers einen produktiven Ausweg offeriert.196 Außerdem setzt er in Gedichten wie »Mann allein«197 auch die spezifisch männliche Konnotation der Melancholikerfigur fort.198 Generell ist gegenüber der Exilphase eine noch klarere Verschiebung zur romantischen Dichtung sowie zu Goethe als Vorbild zu erkennen. Dass der gesamte Band in diesem Sinne konzipiert ist, verrät nicht nur das Gedicht »Melancholie«, das die Elegie zum »Urlaut des Gedichts« und Antrieb jedes poetischen Ausdrucks erklärt.199 Schon im zweiten enthaltenen Text hat das lyrische Ich nur einen Wunsch »An die Sieger«, die das Heimatland besetzen: »Lasst mich verzweifelt sein und traurig sein!«200 Diese Ansage ist Programm und wird insbesondere in den unmittelbar folgenden Gedichten ausführlich entfaltet. Wo Abschied noch einmal eine deutliche Distanzierung vom Selbstmord vorgenommen hatte, ist der Gedanke zum ersten Mal seit dem Frühwerk wieder positiv konnotiert und als »hohes, freies – feierliches Sterben«,201 das sowohl dem Alter als auch dem Tod durch fremde Hand entgeht. 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201
Schiller 2009, S. 27. Ebd. Cosgrove 2014, S. 13. Vgl. Cosgrove 2014, S. 9ff. Cosgrove 2014, S. 8f. Becher: Volk im Dunkeln wandelnd 1948, S. 50f. Cosgrove 2014, S. 10. Becher: Volk im Dunkeln wandelnd 1948, S. 38. Ebd., S. 14. Ebd., S. 52.
4. Textverarbeitung und Komposition
Angesichts des ständigen Wandels erscheint die Melancholie nun als einzige Konstante und »seit früher Kindheit anvertraute/Gefährtin«.202 Der Sprecher der Gedichte zeigt sich durchweg ›müde‹ und sieht dem Ende des Lebens entgegen: »Herbstzeit ist./Die Blätter fallen./Und wir gehn ins Dunkel ein.«203 Er fragt immer wieder nach dem Sinn seines Sehnens und dem »Ertrag«204 seines Lebens und kann keine positiven Antworten mehr finden: Unendliches Weinen, was hast du erweint? Was hast du erseht, mein unendliches Sehnen? Verschleiert die Sonne mein Leben durchscheint, O Schleier, gewoben aus endlosen Tränen. Unendliches Sehnen, was hast du ersehnt? Was hast du erweint, mein unendliches Weinen? Ein Gräbergefilde, das endlos sich dehnt, Um uns dem unendlichen Nichts zu vereinen.205 Der Tod wird erwartet – und begrüßt: »Drum sollt ihr mir verzeihn,/Wenn ich befreit, bei jedem Stundenschlag,/Aufatme: bald wird es der letzte sein.«206 Entsprechend dem Bibelvers, der letztlich den Titel des Bandes liefert, sieht gerade das im Dunkeln wandelnde Volk am Ende doch wieder Licht (Jes 9,1). Dennoch ist der Teil »Aber wir verzagen nicht« erst der sechste von insgesamt neun Abschnitten. Der Band endet entsprechend nicht auf der hoffnungsvollen Note und bringt stattdessen nach dem Sonettenkranz über die im Zweiten Weltkrieg zu Tode Gekommenen noch einen »Abgesang«. Auf das Gedicht »Du« folgt noch ein »Du – verwehend«207 und auch der letzte Text über den Kriegsheimkehrer, dem seine Familie ein weihnachtlich anmutendes Mahl vorsetzt, ist trotz aller Feierstimmung von den Wunden getrübt, die der Krieg geschlagen hat, denn sowohl die ehemals ›weichen und zarten‹ Hände als auch die Lippen seiner Frau sind »von dem Warten« hart geworden.208 Wie wenig zufällig diese Wahl der Melancholie hier ist, zeigt sich allein daran, dass Becher die zentralen Kernelemente des Melancholiediskurses fast alle aufgreift: Immer wieder ist von Einsamkeit die Rede (»Mann allein«; »Mir blieb das eine nur: ich blieb allein«209 ); die Schwermut erscheint als »heilige Trösterin«,210 202 203 204 205 206 207 208 209 210
Ebd., S. 38. Ebd., S. 42. Ebd., S. 36. Ebd., S. 40. Ebd., S. 36. Ebd., S. 203. Ebd., S. 216. Ebd., S. 36. Ebd., S. 38.
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deren Wirken sich dadurch ins Positive wendet, dass sie Dichtung hervorbringt und somit einen Weg zur Überwindung des Todes offeriert.211 Die Gradwanderung besteht darin, die Schuld der Deutschen nicht zu verleugnen, weshalb das lyrische Ich keine Verzeihung erwartet, doch aber auf dem Recht zu bestehen, »meines Volkes Leid« und darin »aller Welt Leid« mit zu ›beweinen‹.212 Die Problematik dieses Ansatzes erschließt auf den ersten Blick, zumal die Gedichte keine Aufarbeitung der jüngsten Verbrechen liefern. Weil die Reflexion eine poetologische ist, die sich der Ästhetik des ›Denkmalsetzens‹ verpflichtet sieht,213 wird die Schuld zur Schuld des Dichters, der »mitzukämpfen mied« und dem »Fluch« nur dadurch entgehen kann, dass er die Heldentaten der anderen ›mitschreibt‹.214 Dabei wird die Schuldfrage nicht als kollektives Problem behandelt, sondern als höchst subjektive Angelegenheit eines lyrischen Ichs, das die Verantwortung im auffälligen Gegensatz zum dualistischen Diskurs der Nachkriegsgesellschaft eben nicht durch ideologische Abgrenzung von sich weisen und die Verantwortung einfach den ›anderen‹ zuschieben kann: »Man kann von der Größe des Menschen nicht sprechen, ohne von seinem Elend zu sprechen.«215 Wenn Becher von der kollektiven Verpflichtung spricht, »das Land/Zu wandeln und uns selbst umzugestalten«,216 beginnen Wandel und Umgestaltung im Individuum, weshalb Bechers Reflexionen in den Theorie- und Tagebuchtexten die Form subjektiver Selbstbefragungen annehmen, die in die große philosophische Frage der Menschlichkeit mündet. Über weite Strecken liest sich Volk im Dunkeln wandelnd wie eine Nachahmung barocker vanitas-Dichtung, die durch die Schule der Romantik gegangen ist. Ist die Ruine mit Hartmut Böhme »der eigentliche Ort des Melancholikers«217 und nicht zuletzt deshalb ein Lieblingsbild der romantischen Sehnsuchtspoesie, überrascht es nicht, dass Becher das Motiv zusammen mit einem weiteren romantischen Schlagwort in den Titel des Gedichts »Ruinen im Mond« setzt, das in seiner Lautmalerei wie seinen Wortwiederholungen auch sprachlich-formal erkennbar an Clemens Brentano orientiert ist: Ruinen, wie durchschienen Von einem Tränenlicht, Als beugte sich zu ihnen Hernieder ein Gesicht, Und weinte all sein Weinen 211 212 213 214 215 216 217
Vgl. dazu auch Völker 1983, S. 25f. Volk im Dunkeln wandelnd 1948, S. 14. Vgl. Becher: Heimkehr 1946, S. 71. Ebd., S. 45. Becher: Der Aufstand im Menschen 1995 (= 1947/48), S. 5. Becher: Sonett-Werk 1956, S. 608. Böhme 2011, S. 180.
4. Textverarbeitung und Komposition
Hinein in Schutt und Stein, Um unter Schutt und Steinen Den Toten nah zu sein. Ruinen, mondbeschienen… Es wächst aus dunkler Schicht Hervor aus den Ruinen Der Toten Angesicht, Um in des Mondes Scheinen, Von Menschen unbeweint, Dem Licht sich zu vereinen, Das weinend niederscheint.218 Ähnlich wie das berühmte »Nachtlied einer Spinnerin«219 des Romantikers, besteht »Ruinen im Mond« nur aus wenigen Signalwörtern, die mehrfach wiederholt werden und auf diese Weise für eine gleichmäßige Klangstruktur sorgen. Das Wiederholungsprinzip bestimmt nicht zuletzt die auf zwei Vokallaute (/i/und/ai/) beschränkten assonantischen Reimwörter, die – weil sie nicht nur am Ende der Verse vorkommen, gleichzeitig noch Binnenreime hervorrufen. Dazu kommt, dass die entsprechenden Schlagworte zum kernromantischen Vokabular gehören. So ist eben von Ruinen die Rede, die mit der aufkommenden Mittelalterbegeisterung um 1800 stark auratisiert worden sind; »Mond«, »weinen« und »scheinen« sind darüber hinaus auch im »Nachtlied einer Spinnerin« durch Häufung hervorgehobene Begriffe. Dies spricht für eine intertextuelle Auseinandersetzung mit romantischen Motiven an sich, aber auch mit dem konkreten Brentano-Text. Bechers Aktualisierung ist insofern kühn, als »Ruinen im Mond« die romantischen Leitbilder aufgreift, mit den »Ruinen« aber hier nicht mehr verfallene mittelalterliche Burgen meint, sondern die bei den Luftangriffen der Alliierten zerstörten deutschen Städte. Becher benutzt das Motiv in dieser Weise noch mehrfach und gibt ihm den prominenten Platz im ersten Vers der DDR-Nationalhymne. Dies wiederum schlägt die Brücke zur Beschäftigung mit der Barockdichtung, die Becher seit den Exiljahren umtreibt, weil die angesprochene Zerstörung und die daraus folgende Schwermut und Weltabkehr kriegerische Ereignisse als Ursache haben.220 Überhaupt finden sich in Volk im Dunkeln wandelnd immer wieder derartige produktive Auseinandersetzungen mit einzelnen Gedichten des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts, womit der dichterische Duktus der Natur- und Erlebnislyrik aufgegriffen wird. An einer anderen Stelle antwortet Becher auf das berühmteste 218 Becher: Volk im Dunkeln wandelnd 1948, S. 154. 219 Vgl. Brentano 1968, S. 131. 220 Vgl. auch Böhme 2011, S. 180.
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deutsche Gedicht überhaupt, auf Goethes »Ein gleiches«. Dessen lyrisches Ich steht bekanntlich »Über allen Gipfeln« und blickt von dort ins Tal. Der damit verbundene Aufstieg des Sprechers wird bei Becher zu einer Metapher für die Hoch-Zeit der deutschen Kultur, die der Autor Goethe verkörpert. Dieser Vergangenheit steht mit den nationalsozialistischen Verbrechen nun ein extremer Tiefpunkt gegenüber, der vom deutschen Volk als Gesamtheit Demut verlangt, weshalb das Gedicht »Alle Wipfel…«221 im Unterschied zur Vorlage eine kollektive Sichtweise kennt. Das sowohl kulturelle als auch wörtliche ›Hinaufsteigen‹, das die Perspektive »Über allen Gipfeln« bei Goethe begründet,222 wird in einen Akt der Demut überführt, wie nach 1945 unausweichlich erscheint: Alle Wipfel sich verneigen. Sich zu Ende neigt ein Traum. Tiefes feierliches Schweigen. Sternenschweigen hoch im Raum. Stille stehen wir, umschwiegen Wie von ewigen Melodien. Einst sind wir emporgestiegen, Nun ist’s Zeit, um hinzuknien.223 Becher wird also in diesen Jahren zum Literaturhistoriker, der konkrete bestimmte Einzeltexte der deutschen Literatur produktiv neu auswertet und auf ihre Aussagekraft für die gegenwärtige Welt hin abtastet. Dieses Verfahren ist über den Verweis auf den Sozialistischen Realismus, der in der Regel als Begründung für Bechers Neubewertung des literarischen ›Erbes‹ herhalten muss, nicht hinreichend zu beschreiben. Wie immer greift Becher die Anregungen aus den aktuellen Diskussionen auf, um sie sich dann doch auf ganz eigene Weise anzuverwandeln. Es ist nicht zuletzt die Zusammenführung heterogener Ansätze, die das Besondere an Bechers Nachkriegsdichtung ausmachen. Auf der einen Seite steht inhaltlich wie programmatisch eine mit der Entwicklung in der SZB und frühen DDR Schritt haltende Vorstellung von funktionalisierter Literatur, die die historische Realität im Hinblick auf den bevorstehenden Sieg des Sozialismus deutet. Auf der anderen Seite aber ist Bechers Nachkriegslyrik durch das Aufgreifen der aus Lukács’ Sicht dekadenten Melancholie-Tradition und durch (nicht zuletzt formale) Bezugnahme auf romantische Poesie ein gewissermaßen ›westdeutsches‹ Element eigen, das sich nicht mit der hoffnungsvollen Aufbaustimmung verträgt, der am Sozialistischen Realismus geschulte Dichtung verpflichtet ist. 221
Die »Wipfel« kommen aus gutem Grund auch vor in Bechers ›Volkslied‹ »Die alten Weisen« (Becher/Eisler: Friedenslieder, S. 3). 222 Goethe 1987, S. 53. 223 Becher: Volk im Dunkeln wandeln 1948, S. 37.
4. Textverarbeitung und Komposition
4.2.4
Neues deutsches Volkslied
Während das Sonett seit den Exiljahren eine übergeordnete und auch theoretisch reflektierte Stellung im Werk Bechers einnimmt und aus diesen Gründen besonders heraussticht, ist für die Selbstdarstellung Bechers als sozialistischer Nationaldichter wie für sein Dichtungsverständnis der Nachkriegsjahre jene andere lyrische Gattung viel entscheidender: Die wichtigste lyrische Gattung, in der sich Bechers Einheitsbemühungen niederschlagen, ist das Lied. Neben den zahlreichen Gedichtbänden mit Deutschland- bzw. Heimatfokus224 tritt die Zusammenarbeit mit Hanns Eisler hervor, die die unmittelbare Allianz zwischen Ästhetik und Politik deutlich werden lässt und den heute vielleicht noch bekanntesten Teil von Bechers Schreiben ausmacht. Zur Nationalhymne und dem Lied von der blauen Fahne kommen zwischen 1949 und 1951 noch einige weitere Hefte mit Liedern, die sowohl den Text als auch Partituren liefern, also für das Selbstmusizieren gedacht sind.225 Bechers entsprechender Beitrag ist Teil einer groß angelegten Liedkultur, die den Staatsaufbau begleitet und sich an die sowjetische Liedtradition anlehnt.226 Becher selbst ist als Kulturbundvorsitzender wesentlich für das Erscheinen der zahlreichen Notenhefte verantwortlich, namentlich etwa für die fünfteilige Serie Friedenslieder (1950) im Verlag »Lied der Zeit«, die je Heft zwei Lieder präsentiert, die z.T. Nachdichtungen aus dem Russischen, häufiger aber deutsche Originaltexte enthalten. Drei Lieder stammen aus Bechers Feder; Eisler ist insgesamt sechsmal als Komponist verzeichnet. Neben Ernst Busch, der in »Lied der Zeit« Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre die Reihe Internationale Arbeiterlieder herausgab, ist es vor allem Becher, der das Bild vom politischen Lied in der frühen DDR entscheidend beeinflusst. Obwohl sich u.a. auch Kuba und Alexander Ott als Lieddichter in dieser Weise versuchen und Brecht mit einigen (meist älteren) Liedern bei »Lied der Zeit« vertreten ist, lässt doch neben Busch nur Becher ein übergeordnetes Konzept hinter den Texten erkennen, die er für diesen Zweck neu schreibt. Das entscheidende Schlagwort ist das vom ›Neuen deutsche Volkslied‹, das über zwei Notenheften von 1950 und 1951 steht, die insgesamt 17 Stücke enthält; dazu kommen zwei Weihnachtslieder aus dem Jahr 1950. Dass es Becher keinesfalls nur um politische Agitation geht, sondern um die Gattung des Volkslieds selbst, verrät das Vorwort, das er der ersten Folge der Neuen deutschen Volkslieder (1950) voranstellt. Dort konstatiert er eine kulturelle Verflachung, der er mit seinen Texten entgegenwirken will. Weil die moderne Lyrik abgesehen von Einzelfällen keine »bewußte[] Pflege des Volksliedes« betrieben hat,
224 Vgl. Rost, S. 617ff. 225 Becher/Eisler: Neue deutsche Volkslieder 1950; Becher/Eisler: Zwei Weihnachtslieder 1950; Becher/Eisler: Neue deutsche Volkslieder. Folge 2 1951. 226 Vgl. Mende 2009.
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ist die Gattung zum Schlager ›verkümmert‹.227 Dem setzt Becher die eigene Arbeit entgegen, mit der er erneut nachdrücklich für die deutsche Einheit eintritt: »Wir hoffen, daß dieser neue Volksgesang über die Grenzen, wie sie noch immer mitten durch unser Vaterland gezogen sind, sich hinwegsetzen wird und sich erheben wird zu einem Lied aller Deutschen.«228 Indem Becher nun ausgerechnet die Gattung des Volkslieds wiederzubeleben sucht, ergibt sich für den Nationalismus, den sein Werk seit den Exiljahren aufweist, eine neue – literaturgeschichtliche – Dimension, was die deutsche Identität nach den Jahren 1933 bis 1945 ausmacht. Das Bild vom ›Land der Dichter und Denker‹ ist nicht mehr das einzige, das man sich in der Welt von Deutschland machen kann; näher liegt das Deutschtum, dessen Führungsanspruch in zwei Weltkriege geführt hat. Während man das Thema anderswo noch verdrängt oder ignoriert, macht sich Becher nun noch einmal mehr zur Aufgabe, diese ›deutsche Frage‹ in seinen Dichtungen auszuloten. Erneut äußert sich Sehnsucht nach der Heimat, die nun zwar nicht mehr unerreichbar ist wie noch im Exil, zum Teil aber jetzt in einem anderen Staat liegt. Gerade weil die Heimatproblematik die Frage der nationalen Einheit berührt, fällt Bechers Blick notwendig auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der das Problem schon einmal zentral war und zwar nicht zuletzt in Form von romantisch inspirierter und schnell ins Politische übergehender Lieddichtung etwa eines August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben. Der Blick geht ganz bewusst historisch zurück. Programmatisch steht am Anfang der Neuen deutschen Volklieder ein Text mit dem Titel »Die alten Weisen«, in dem der Sänger erklärt: »Es sind die alten Lieder, die singen neu aus mir«.229 Für Bechers Spätwerk von entscheidendem Einfluss ist freilich vor allem die Liedund Heimatdichtung des 19. Jahrhunderts, die den Kampf für die deutsche Einheit begleitet und deshalb eine Vergleichsfolie für die Zeit nach 1945 abgibt. Dies ist zu beachten, wenn man sich der »Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik« zuwendet. Bechers bis heute berühmteste Auftragsarbeit steht in einem besonderen historischen Kontext, der nicht nur den östlichen der beiden deutschen Staaten betrifft. In der DDR wie auch in der BRD hat man nach dem Ende des Nationalsozialismus ein Nationalhymnenproblem, nachdem Hoffmann von Fallerslebens »Lied der Deutschen« im Dritten Reich die fatale Verbindung mit dem Horst-Wessels-Lied eingegangen war. Problematisch war das Lied schon vorher wegen des Überlegenheitsgestus des Verses »Deutschland, Deutschland über Alles« und seiner Funktionalisierung im Ersten Weltkrieg.230
227 228 229 230
Becher/Eisler: Neue Deutsche Volkslieder 1950, S. 2. Ebd. Ebd., S. 3. Vgl. Kurzke 1990.
4. Textverarbeitung und Komposition
Dass Becher als Dichter der DDR-Nationalhymne in Frage kam, war naheliegend, hatte er doch schon seit 1919 verschiedentlich unter Beweis gestellt, wie gut er das kommunistische System, seine Vertreter und Errungenschaften lyrisch zu besingen willig und in der Lage war. Die Form, die Becher 1949 wählt, ist angesichts seines dichterischen Werdegangs demgegenüber alles andere als selbstverständlich und kann mit der Abkehr von Avantgardismus und dem nun positivem Verhältnis zur literarischen Tradition nur oberflächlich erklärt werden. Bechers Nationalhymne ist wie Schröders »Hymne an Deutschland« dreistrophisch und metrisch so nah an Hoffmanns »Lied der Deutschen«, dass man sie fast problemlos auf die HaydnKomposition singen kann,231 die wiederum Eisler zum Ausgangspunkt seiner Vertonung von Bechers Text genommen hat. Angesichts der symbolischen Konfrontation des Deutschlandlieds mit der »Internationale« sowohl in Levisite als auch in Abschied ist Bechers nun einsetzende Auseinandersetzung mit Hoffmann von Fallersleben umso bemerkenswerter. Sie ist nur aus einem Grund wirklich erklärbar: nämlich aus dem Verlust der deutschen Einheit, der an Becher genauso zehrt wie an seinem berühmten Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert, der das »Lieds der Deutschen« einst zur Melodie von Haydns Kaiserhymne gedichtet und damit die monarchistische Alternative zur Marseilleise von 1797 provokant wieder mit einem republikanischen Text unterlegt hatte. Das »Lied der Deutschen« ist in Levisite noch das Lied der ›Schurken‹ (vgl. GW X, S. 31). Indes ist aufschlussreich zu beobachten, wie Becher diese Bewertung schon in Abschied insofern abschwächt, als zwar der Gegensatz aus »Deutschlandlied« und »Internationale« auch hier konstitutiv ist, seine Bedeutung aber dadurch verschiebt, dass die Handlung mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endet und der politische Hintergrund ein anderer ist. In Levisite steht das »Lied der Deutschen« für den kriegerischen Imperialismus, den die Weimarer Republik nur scheinbar überwindet, de facto aber stärkt, indem sie das aggressive Kriegslied »Deutschland, Deutschland über Alles« zur Nationalhymne erklärt. Bereits in Abschied fällt demgegenüber die Neubewertung des Volkslieds auf, die die Polarität zwischen »Deutschlandlied« und »Internationale« ergänzt. Es ist nämlich nicht nur Schuberts »Träumerei«, in die Hans Gastl, der immerhin auf dem Weg ist, ein Dichter zu werden, flieht, um dem väterlichen Nationalstolz aus dem Weg zu gehen. Er lauscht auch den Gesängen der Hausangestellten Christine und dem Akkordeonspiel des Reitknechts Xaver und entwickelt damit eine Beziehung zu den ›unteren‹ Schichten, die nicht zuletzt eine Wertschätzung von deren Kunstgeschmack ist (vgl. erstmals GW XI, S. 28ff.).232
231 Allerdings haben die Strophen einen Vers zu viel. Vgl. Kiesel/Pape 2000, S. 292. 232 Das ist freilich nichts anderes als eine Wiederaufnahme eines Themas aus Im Schatten der Berge von 1928.
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Wenn es schon in Abschied gerade die Lieder sind, die Gastls Entwicklung begleiten und ihn schrittweise zu einem besseren Menschen werden lassen, gewinnt das Volkslied für Becher in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch einmal deutlich an Relevanz. Einer der wichtigsten Dichter von ›Volkliedern‹ ist aber nun ausgerechnet August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dessen Selbstverständnis wesentlich darauf beruht, mittels Textdichtungen zu bereits populären Melodien demokratisches Gedankengut ins Volk zu tragen. Indem auch in der Bundesrepublik von Alexander Schröder zunächst der Versuch gemacht wird, ausgehend von Hoffmanns Text eine neue Hymne zu schaffen, bevor man sich schließlich doch noch für die dritte Strophe des Deutschlandlieds als Hymne entscheidet,233 steht Bechers »Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik« nicht allein mit dem Versuch, sich formal wie inhaltlich auf Hoffmanns Verse zu beziehen, aber dabei der jüngsten deutschen Geschichte gerecht zu werden. Dieses Moment eines aktuellen Zeitbezugs verbindet die Texte Schröders und Bechers mit Brechts »Kinderhymne« von 1950, die nach der Wiedervereinigung als ein Kandidat für eine gemeinsame deutsche Hymne gehandelt wurde.234 Schröder lässt die Schuldfrage außen vor, spricht aber ganz im Sinne der Trümmerliteratur die Kriegszerstörung und den Wiederaufbau der Nachkriegsjahre an, womit er Bechers Aufruf »Laßt uns pflügen, laßt uns bauen« (GW VI, S. 61) trotz der ideologischen Schranke erstaunlich nahe kommt: Land der Hoffnung, Heimatland, ob die Wetter, ob die Wogen über dich hinweggezogen, ob die Feuer dich verbrannt, du hast Hände, die da bauen, du hast Herzen, die vertrauen. Lieb‹ und Treue halten stand, Land der Hoffnung, Heimatland.235 Becher und Brecht nehmen direkter auf den historischen Zusammenhang Bezug, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Brechts »Kinderhymne« macht die deutsche Schuld am deutlichsten und beschwört den Aufstieg eines ›guten‹ Deutschlands, vor dem die »Völker nicht erbleichen«, sondern vielmehr »ihre Hände reichen/Uns wie andern Völkern hin.«236 Wenn er das Gewässermotiv aus Hoffmanns Gedicht aufgreift (»Von der Maas bis an die Mehmel,/Von der Etsch
233 Vgl. zu dieser Diskussion Kiesel/Pape 2000. 234 Brecht 2005 Bd. III, S 396f. 235 Zit. nach Escher 2016, S. 40, bei dem sich auch der Erstentwurf nachlesen lässt. Vgl. ebd., S. 38. 236 Brecht 2005 Bd. III, S. 396.
4. Textverarbeitung und Komposition
bis an den Belt«237 ) und an die Nachkriegssituation anpasst,238 hat er aber ähnlich wie Becher ein wiedervereintes Deutschland im Blick, das »Von der See bis zu den Alpen/Von der Oder bis zum Rhein« reicht.239 Das Moment der deutschen Einheit ist bei Becher indes deutlich stärker. Becher glaubt zudem fest an die Bedeutung des (neuen) Volklieds im politischen Friedensprozess. Deshalb beschwört er nicht nur eben jenen Frieden und ein besseres Deutschland an sich. In seinem »Weihnachtslied 1950« geht es noch einmal direkt um die Frage der deutschen Einheit, für die er hier nachhaltig Werbung macht: Sei uns gegrüßt, du Weihnachtsbaum, Du immergrüner, immergrüner Friedenstraum! Es strecken voll Verlangen die Äste sich im Dunkel aus. Zieh Friede ein in jedes Haus! Kehr ein im Herz, dem bangen! Sei uns gegrüßt, du Weihnachtsfest, Wir feiern dich in Ost und West, in Ost und West. Die Äste sich verzweigen, und über Deutschland hoch im Raum Wölbt sich der Völker Friedensbaum im Sternenreigen.240 Und so kommt es, dass Bechers Antwort auf Hoffmanns Hymne keine Alternative zu ihr entwirft, sondern eher versucht, das problematisch gewordene Lied durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen, es quasi neu zu erschaffen. Er konstruiert das Ideal eines Deutschlands, dem es endlich gelingt, das Ziel eines einheitlichen Staats mit demokratischen Strukturen zu verbinden und das damit Garant eines dauerhaften Friedens werden kann: »Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir des Volkes Feind/Laßt das Licht des Friedens scheinen,/daß nie einem Mutter mehr,/ihren Sohn beweint,/ihren Sohn beweint« (GW VI, S. 61). Der Weg zur Überwindung der jüngeren deutschen Geschichte muss notwendig hinter diese zurück in eine Zeit führen, als alle Wege noch offen standen. Dieser Zug findet sich in allen Liedern Bechers aus der Zeit um 1950: Immer wird eine besser nun anbrechende Zukunft beschworen, in der Frieden und Brüderlichkeit dominieren. So sehr hier die Einführung des Sozialismus in der DDR der Grund für diese positive Weltsicht ist, der bekanntlich ganz konträre Weltuntergangsszenarien in der Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik gegenüberstehen, muss man doch auch klar sagen, dass Becher das Ziel noch nicht erreicht sieht, denn die Brüderlichkeit der Lieder ist keine vollkommene. Die Lieder sollen
237 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 1841, unpag. 238 Freilich ist die Grenzbestimmung anhand der vier Gewässer bei Hoffmann kein triviales Problem (vgl. Blume 2005). 239 Brecht 2005 Bd. III, S. 396. 240 Becher/Eisler: Neue deutsche Volkslieder 1950 S. 3.
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eben auch ihren Teil dazu beitragen, die Grenzen zwischen den deutschen Staaten zu überwinden; der Gesang muss zum »Lied aller Deutschen« werden. Das ist die politische Funktion des Volkslieds in der Gegenwart, zumal Becher gleichsam als ›Vorsänger‹ wiederum seine Stimme erhebt in der Hoffnung, dass viele folgen mögen, um aus dem individuellen Gedicht ein kollektives Lied, ein Volkslied im eigentlichen Sinne zu machen.
4.2.5
Korrektur-Ideologie
Zu diesen zeitlich verschiedenen Aktualisierungsmarkierungen durch die Aufnahme von fremden Einflüssen tritt – unter demselben Gesichtspunkt – die konzeptionelle Arbeit am eigenen Werk. Diese äußert sich nicht darin, dass die einzelnen Bücher, die Becher zeitlebens veröffentlicht, auf die Produktion eines bestimmten Selbstbilds hin ausgerichtet sind. Insbesondere bei den Lyrikbänden ist dies schon formal zu beobachten, weil Becher neben Motti auch Untergliederungen vornimmt, die jeweils mit eigenen Überschriften versehen werden und somit eine zusammenhängende ›Geschichte‹ erzählen bzw. die für die jeweilige Werkphase als entscheidend gesetzten Schlagworte bringen. Auffällig ist insbesondere die Tendenz, die Bücher mit ›Eingängen‹ und ›Ausgängen‹ zu rahmen.241 Dieses konzeptionelle Bewusstsein führt auch zu einer intensiven ständigen Neukontextualisierung des eigenen vorhandenen Werks. Manche Gedichte wie »Stein« wandern durch eine ganze Reihe von Gedichtbänden hindurch und erhalten durch die unterschiedlichen Kontexte, in die sie gestellt werden, neue Bedeutung (vgl. 5.3.3). Zu diesen eher versteckten Selbstzitaten tritt ein Verfahren, das Becher später abwertend als »Korrektur-Ideologie« bezeichnet hat (GW XIV, S. 281): die ständige Überarbeitung älterer Texte, um dafür zu sorgen, dass sie mit der eigenen ideologischen und ästhetischen Entwicklung Schritt halten können. Wo sich Becher also je nach Werkphase neue Gewährsmänner sucht, die die eigenen Entscheidungen legitimieren, muss umgekehrt das eigene Werk immer wieder auf seine Aktualität durchgesehen werden; die ›überholten‹ Ansätze werden entweder für obsolet erklärt (und tauchen entsprechend in Gedichtsammlungen etc. nicht mehr auf) oder sie bedürfen einer Anpassung an die neue Situation, die – weil sie als bewusste ›Entscheidung‹ kommuniziert werden soll – dann durch öffentlich gemachte Selbstkritik erfolgt. Ein gutes Beispiel für dieses Verfahren ist die ›Bereinigung‹, die Becher Anfang der 1920er Jahre in den Texten vornimmt, die noch von stark religiöser Metaphorik geprägt sind und somit nicht mehr zu dem atheistischen Weltbild passen, das der nun bekennende Kommunist vertritt. In der für Becher typischen Weise wird 241 So z.B. der Lyrikband von Verfall und Triumph (V+T I, S. 9 bzw. 195). Ein ähnlicher Rahmen entsteht durch die Wahl des Versmaßes in Der Glücksucher und die sieben Lasten (vgl. 4.2.1).
4. Textverarbeitung und Komposition
der Einschnitt zwischen Expressionismus und mystischer Dichtung, der in vieler Hinsicht tatsächlich eher ein gradueller Prozess ist, von Becher zu Beginn des 1919 erschienenen Lyrikbands Gedichte für ein Volk reflektiert. Das den Band eröffnende Gedicht heißt so wie das ganze Buch, dessen Programm es formuliert. In Langversen, die nach und nach in Prosa übergehen, beschwört der Sprecher die schon 1916 hochgehaltene Verbrüderung, in der nun Spuren von Bechers kurz aufflammender Revolutionsbegeisterung erkennbar werden. In einem auffälligen Vorgriff auf seine spätere Unterordnung in die kommunistische Bewegung und das Mitte der 1920er Jahre proklamierte Verschwinden des Dichters in der Masse träumt das lyrische Ich davon »längst nicht mehr Einzelner«, sondern »Mann in der Schar!« zu sein, »Vorbereitend uns zu göttlichen, der obersten der Schlachten.«242 Nach diesem Ausruf freilich, der expressionistische Rhetorik, Kommunismus und Mystik verbindet, beginnt der Sprecher, der wegen der klaren Rekurse auf Päan gegen die Zeit, An Europa und Verbrüderung mit Becher selbst identifiziert werden muss, mit einem analytischen Rückblick auf das eigene Werk, bei dem Becher in einer langen Reihung noch einmal Elemente aufzählt, die für dieses charakteristisch waren: Denn gesungen habe ich vor euch von der Überwindung des Leibs, des schmählichen, des vergänglichen, des verderblichen; von dem Sieg über ein Scheusal-Geschlecht. Vom Fluch aller Zwiespältigkeit. Vom Kampf des Paars. Vom Ende der Einsamkeit. Und gesungen und gesungen habe ich den Päan gegen die Zeit: anrennend gegen alle Henker und Henker-Väter, gegen euch restlos Träge, euch Dumpfe, Verruchte: Unwollende, euch Unzeitige, Phalangen Sprengende, Geistlose, und euch Geistes-Verächter, Vergewaltiger, Und aufgerufen habe ich die Völker Europas zur einfachen, brüderlichen, zur ganz natürlichen Liebe, zur Liebe Mensch an Mensch; zum eindeutigen unfechtbaren Glauben von der Evolution der Menschheit […]. Ausstrahlend die Hymne der Verbrüderung, verkündend hier ebenso wie dort schon ein exaktes, schneidendes, peitschendes Vorwärtskommando […] 243
Und er nennt die Personengruppen, gegen die sich sein Gesang gewidmet hat, und die, denen er folgte:
242 Becher: Gedichte für ein Volk 1919, S. 6; Hervorhebung i. O. 243 Ebd., S. 6f.
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hinweg über alle Depressionistischen, Zwitterhaften, Ungreifbaren, Unplastischen, Beschaulichen, Dekadenten, Exzentrischen, Lyrischen, Egozentrischen, Literarischen, Künstlerischen, Anarchistischen, Passiven, Mimosenhaften, Pazifistischen, Privaten… hinweg über sie alle und heran – hinauf – empor mit euch Imperativisten, Expressionistin, Hellstäugigen, Morgendlichen, immer Attackenhaften, Athleten, Ethischen, Repräsentativen, Organistatorischen, Sozialistischen, Unpersönlichen, Totalen, Eindeutigen, Weiblosen, Fabelhaften, den Männern! den Politikern! den Tätern.244 Diese illustre Reihung verschiedenster ›Gruppierungen‹ bleibt aber im Perfekt, womit sie eine überwundene Vergangenheit beschreibt. Ein einziger Satz deutet an, worin das Programm der Zukunft und des vorliegenden Lyrikbands besteht: »Nun aber laßt mich vorbilden Jene schimmernden Gesänge des himmlischen Volks.«245 Dass Kommunismus und Religion zusammengehen bzw. sich unter der Abkehr von der Tagespolitik ein sozialkritisches (oder sozialschwärmerisches) Moment erhält, hat seine Ursache darin, dass Becher Gott an die Stelle ›anderer Majestäten‹ setzt: Die Befreiung der Völker, die sich brüderlich zusammenschließen und »Durch Liebe Liebe«246 die Schlacht entscheiden sollen, die zum ewigen Frieden führt,247 hat ein religiöses Fundament, weil weltliche Herrschaft zugunsten der göttlichen zurückgewiesen wird: »Ihr –: Erdenvölker einzige Regenten!/Verpflichtet Gott. (Nicht Andere Majestät!«).248 Aufgabe des Dichters ist es, diejenigen, die zu diesem Umsturz am meisten befähigt sind, »aller Reiche Ärmste«, zur ›heiligen Schar‹ zusammenzuführen; er soll als ›Beamter der Menschheit‹ »jenes Ziel verwalten«:249 »Marschbereit versammelt euch ihr Denker!/Macht des Geistes gegen Wut der Henker.«250 Dabei ist es bezeichnend, dass der Name der Geliebten auf eine Ebene mit dem Gottes gehoben wird – nicht nur dadurch, dass den Gedichten um Lotte, die schon die Form von Gebeten angenommen hatten,251 zwei Jahre später die Sammlung Um Gott folgt. Hinter dem Namen Lotte steckt explizit die »Idee der Menschheit«252 und die Geliebte verspricht die »Erlösung aller Metastasen«.253 Entscheidend ist freilich, wen die Erlösung trifft. Auf der einen Seite denkt Becher wieder an die
244 245 246 247 248 249 250 251 252 253
Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 15. Vgl. das Gedicht »Einleitung« (ebd., S. 11). Vgl. ebd., S. 89. Becher: Die heilige Schar 1918, S. 7. Ebd., S. 9. Vgl. das »Abendgebet um Lotte« (Becher: Gedichte um Lotte 1919, S. 6). Ebd., S. 28. Ebd., S. 49.
4. Textverarbeitung und Komposition
›Menschheit‹ und an die »Schwachen und Verwaisten«.254 Dazu kommt aber gerade in den Liebesgedichten immer stärker die Frage nach der eigenen Identität, die entweder offen gelassen wird (»Wer bin ich?!/Oh!«255 ) oder erst über die angesprochene Freundin zu beantworten ist. Nicht nur resultiert der Wunsch des lyrischen Ichs, fromm zu sein »wie ein Kind« aus der Unterwerfung unter seine Geliebten, die es um »Verzeihung« bittet.256 Die angestrebte Erlösung ist vor allem eine Erlösung des Dichters selbst: »O Heimat! Nest! O letzte Stille!/Damaskus blüht Dir dort, o Hans!«257 Die Verwendung des Klarnamens macht die Dichtungen von 1919 wiederum als Teil eines umfassenderen Selbstinszenierungsprozesses erkennbar. Schon 1918 zeichnet sich ab, dass Becher in der verstärkten Aufnahme religiösen Vokabulars einen dichterischen Neuanfang in Szene setzt,258 wobei das Ziel nur durch die Bindung an die angesprochene Geliebte erreicht werden kann: »Muß mich tiefst in Dich/– Will ich Gott träumen – schmiegen.«259 Die Vergötterung der Frau markiert dabei die Abkehr vom expressionistischen ›Kampf der Geschlechter‹, dem der Sprecher einst verpflichtet war: »So schlich ich feixend gen die Frauen tiefst.«260 Die gleichen Töne schlägt Becher im Band Zion (1918) an, dessen jüdisches Vokabular von seiner ersten Frau Käthe Ollendorf inspiriert ist. Der Dichter, »Der schmiß in Trümmer euere Welten gern«,261 verdankt es seiner Geliebten, endlich »frei der höllischen Gewalten«262 zu sein: »Du bist es, die der Felsen Nacktheit mildert,/Die mich Verworfenen in ein Ewiges zieht.«263 Obwohl der Sprecher sich auch Anfang der 1920er Jahre zur Anbetung Jesu bekennt264 und die Abkehr vom Irdischen im Hinblick auf eine jenseitige Erlösung predigt,265 werden die Verse doch deutlich melancholischer und sind voller Todessehnsucht und Weltüberdruss: »Trank vom Saft ich des gebräunten Mohnes –/Trank der Welt: wie bin ich schwermutschwank!«266 Wie schon der »Eingang« zu den Hymnen von 1924 deutlich macht,267 fehlt dem lyrischen Ich inzwischen die »Gewißheit, ob ich nicht/Falsch Zeugnis ablege, oder ob ich nicht lästere, und ob
254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267
Ebd., S. 25. Ebd., S. 9. Ebd., S. 15. Ebd., S. 49. Vgl. Becher: Die heilige Schar 1918, S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24. Becher: Zion 1918, S. 14. Ebd., S. 10. Ebd., S. 14. Becher: Verklärung 1922, S. 47. Becher: Hymnen 1924, S. 21. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 5.
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das, was ich/Ausspreche, Gottes oder des/Teufels ist!«268 Die Hymnen formulieren Zweifel an der eigenen Befähigung und Berechtigung, Sprecher des Göttlichen zu sein, von dem jetzt unumwunden nur noch die eigene Erlösung erhofft wird; erst nach und nach kehrt die Sicherheit zurück und mit ihr die größere Perspektive – der Gesang für die Erlösung der Unterdrückten.269 Im Lyrikband von 1922 wird das religiöse Vokabular schon nur noch aufgegriffen als sentimentalischer Abschied vom mystischen Ton, der als ›Verklärung‹ erkannt ist. Noch einmal fleht das lyrische Ich Gott an, es ›aufzureißen‹ und zum Verkünder seiner Botschaft zu machen: »Laß von den Bergen, den schon zerwirkten, noch einmal deine Stimme mich hören,/Die die meine entfacht!«270 Wieder steht der Rückblick auf die eigenen Verse im Vergangenheitstempus, aber jetzt ist es nicht mehr der Expressionismus, von dem der Sprecher sich lossagt, sondern der religiös-prophetische Gesang, der im letzten Vers des Gedichtbands seinen Abschluss erklärt: Über euch, den Heiligen, auf Flammen-Gerüsten gerichtet: Sang ich und sang– Über euch, Gefallenen, in Gruben gleich Haufen Blattwerks geschichtet: Sang ich und sang! Glorie, o Ewiger ist dein Antlitz und posaunendes Licht ists, das dich kleidet: Ruhenden Wandels kristallischer Klang. Leuchtender Säule gleich, der zu Asche zerstäubten, – Traumloser Runde Gebet – erlosch mein Gesang.271 Zwar ist der Bruch mit dem vorherigen Werk zwar rhetorisch klar markiert, etwa durch konkrete Überarbeitungen wie die des Dramas Arbeiter Bauern Soldaten. Dennoch besteht eine auffällige Kontinuität im Hinblick sowohl auf das zugrunde liegende Motivinventar, das noch aus Bechers Jugendstil-Phase stammt, als auch in Bezug auf die nach wie vor prophetische Rolle, die dem Dichter zugeschrieben wird. So springt beispielsweise ins Auge, dass die Begriffe ›Blut‹ und ›Frühling‹ noch in Im Schatten der Berge mehrfach fallen. Beide tauchen erstmals in Die Gnade eines Frühlings auf und waren in Bechers expressionistischem Werk schon einmal umgedeutet worden: Der Frühling ist in Verfall und Triumph Sinnbild für den noch wenig präzisen Neuanfang, der auf den beschworenen ›Verfall‹ folgt; das Stichwort ›Blut‹ wird nun zur Erzeugung von Drastik verwendet, indem neben dem Krankenhausszenario auch Gewaltschilderungen dazu Anlass geben (vgl. 5.2.1). Allerdings werden die alten Motive im Sinne des kommunistischen Gesellschaftsbildes 268 Ebd., S. 22. 269 Erstmalig schlägt das Gedicht »Verdammte dieser Erde–!« diesen Ton wieder an (ebd., S. 47ff.) 270 Becher: Verklärung 1922, S. 57. 271 Ebd., S. 57.
4. Textverarbeitung und Komposition
semantisch neu aufgeladen. Das Gedicht »Wenn es Frühling wird…« evoziert zunächst in ständiger Wiederholung dieses Eingangsverses das Bild einer idyllischen Kindheit: An den Häusern tun sich auf die Fenster, Tisch und Stühle rücken zum Balkon, Tango, Marsch und Ländler/Spielt ein Grammophon, Hunde hüpfen hoch an deinen Beinen, In den Küchen klappert das Geschirr, Wäsche weht bunt an den Leinen – Wenn es Frühling wird…272 Der Frühling – so konstruiert als Neubelebung von Natur und Mensch im Sinne von Goethes »Osterspaziergang« – wird schließlich indes übertragen auf das Aufbrechen alter gesellschaftlicher Strukturen, womit der durch den Frühling ausgelöste Wandel letztlich revolutionäre Züge annimmt. Dabei gehen die Naturbilder – das Rot der Mohnblume – fließend in politische Symbole über. Nicht nur ist mit dem Ende des Winters »im Boden/eine Kraft lebendig, die uns treibt«, sondern diese wird auch nach und nach zum Aufstand der Massen unter der roten Fahne konkretisiert: Menschen, Menschen gehen in Kolonnen. Alle Straßen ziehen mit im Marsch. An den Dächern fließt entlang die Sonne. Die Kolonnen gehen fest und hart. Tragen Fahnen, und die Fahnen sind Rot wie Mohn. Aus dem Pflaster strahlt Blut und Feuer. In den Fenstern winkt’s. Und wir singen wie zum erstenmal.273 Neben der radikalen Abgrenzung vom Bürgertum und seinen ästhetischen Vorlieben, bricht Becher nun auch die Brücken zu Religiösität ab, die ebenfalls die unmittelbar vorausgehende Werkphase bestimmt hatte und – durch das an George angelehnte Konzept des poeta vates – eng mit der Vorstellung eine l’art pour l’art verbunden ist, die aus der Perspektive ab 1923 völlig obsolet geworden ist. Vor dem Hintergrund, dass politisch wirksames Schreiben der einzig richtige Weg ist, kann Becher nun die eigenen autonomästhetischen wie von religiöser Motivik geprägten Dichtungen heranziehen, um am Beispiel des eigenen Irrtums einen generellen falschen Standard verallgemeinernd anzuprangern.
272 Becher: Im Schatten der Berge 1928, S. 23. 273 Ebd., S. 24.
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In Im Schatten der Berge bringt das Gedicht »Als ich noch an Gott glaubte« diese Weiterentwicklung biographisch auf den Punkt. In Maschinenrhythmen wird daraus ein konkretes ästhetisches Programm – besonders markant im zweiten Abschnitt von »Deutsche Ostern 1923«, der mit dem Titel »Maschinen-Zeit« überschrieben ist. Dort tritt ein lyrisches Ich auf, das in der Reflexion darauf, wie sich sein Gesang heute von dem früheren unterscheidet, auf Bechers gerade abgeschlossene religiöse Phase verweist. Zunächst spricht es den Ersatz der christlichen Bilder durch Klassenkampfmotive an, wenn anstelle des Engels- und Heiligenlobs, das bei Becher bis dato in der Tat nicht selten vorgekommen ist, nun das Beschwören der proletarischen Massen tritt, als dessen Vorreiter der Dichter auftritt: Nicht mehr Engelsgeschwader, stelzbeinig Sphären-durchkletternd, nun lobpreise ich, noch Gottwohltönend das Gewimmere der Heiligen-Chöre – – – – Proletariat: Massen-Schrei, brandgezähnt! Eisern-Geschnabelter Stoßvogel! Gestalten-Türmer Bin ich […]274 Entscheidend wird aber nicht nur der hier gewählte futuristische Sprachduktus275 beschrieben (»Wortblitze sind, die/Einschleudere ich in aufgepulverte Schächte«276 ). Der Verweis auf Bechers eigene Dichterentwicklung ist vielmehr explizit, denn der Name fällt im Text – paradoxerweise, um das Aufgehen der eigenen Identität in der Masse zu benennen: »Darum alles/’Du‹ ist künftig: Namenlos, – Namenlos auch ist/Dieser Name: Becher Johannes R.«277 Entsprechend folgt auf diese klare Ansage der Rückblick auf die letzten ›drei Jahre‹ religiöser (rückwärtsgewandter) Versenkung, die nun – an der Verfallsrhetorik erkennbar – kritisch gesehen und als abgeschlossene Werkphase dargestellt werden. Das lyrische Ich hat offenkundig zunächst den Rat der »Geheimnissüchtigen« beachtet, sich »in die tiefste der/Kabbalistischen Tiefen« zu versenken und »als mystischer/Spulwurm« das »Welträtsel« zu ›umknabbern‹,278 ist allerdings durch die Beobachtung der sozialen Situation in seiner Umgebung zum Sinneswandel gekommen.279 Natürlich handelt es sich bei den in Maschinenrhythmen enthaltenen Gedichten um leninistische Texte,280 die ähnlich wie die kurz darauf folgenden Bände Die 274 275 276 277 278 279 280
Becher: Maschinenrhythmen 1926, S. 94; Hervorhebung i. O. Vgl. dazu Demetz 1990. Becher: Maschinenrhythmen 1926, S. 95. Ebd. Ebd., S. 99. Vgl. die Elendsschilderungen ebd., S. 99f. Vgl. Demetz 1990, S. 99.
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hungrige Stadt und Im Schatten der Berge vornehmlich die gesellschaftlichen Missstände – das hungernde und von der Justiz verfolgte Proletariat auf der einen, die im Überfluss lebenden Großkapitalisten auf der anderen Seite – anprangert, zur Revolution aufruft und dies wie in Levisite in avantgardistischer Sprache tut. Das eigentliche Thema des Bandes ist aber wieder der Werdegang seines Dichters, denn Maschinenrhythmen ist eine explizite Verabschiedung des religiösen Elements durch das marxistisch-sozialkritische. Dies ist künstlerisch insofern raffiniert gelöst, als Becher die bisher verwendete christliche Bildlichkeit zunächst erneut aufgreift. Konkret spricht er dabei zunächst in »Thalatta! Thalatta« in die Begebenheiten um Christi Geburt an: »Was wir erspähten einst: es war der Stern der Weisen./Gesegnet seist du Nacht von Bethlehem!«281 Im darauf folgenden Gedicht wird das Motiv wieder aufgegriffen, da die Situation des Kindes, an das sich das »Proletarische Schlaflied« richtet, dem des Jesusknaben mehr als ähnlich ist: Schlafe, mein Kind! aus Stroh ist geflochten die Wiege. Schlafe: nicht hörst du knabbern die Ratten im Stall. Träume: mit süßer Milch ist gefüllt das Euter der Ziege, Und der Mond umhüpft singend dich, ein golden Ball.282 Die bekannte Armut von Maria und Josef, die für die Niederkunft keine Herberge finden konnten, wird indes hier – auf das Proletarierkind übertragen – um ein paar negative Konsequenzen erweitert, die in der Weihnachtsgeschichte fehlen: Bald muß es sein, mein Kind: umblättert mit Lumpen Stoß ich dich nachtwärts: Laternen-Geripp Schimmert im Schneestaub. Durch Rauchschlote pumpen Wie Blutstürze lohend sich Glutwolken, irrefunkelnd zerstückt… Verlungern seh ich dich in Siechensälen: Grim dein Gesicht, von marternden Giften durchfleckt. Schlaf, du mein Schlaf! Ruß-atmend wird’s dich umschwälen; Knochen Gewieher, von schaumigen Flammen umleckt.283 Anstelle der religiösen Verkündigung greift Becher den Lebenslauf des christlichen Erlösers als exemplarisch für die Unterdrückung der Armen auf. Das Proletariat kann jedoch nicht bis in alle Zeit schlafen,284 sondern wacht schließlich auf und 281 282 283 284
Becher: Maschinenrhythmen 1926, S. 21. Ebd., S. 24. Ebd. Das Motiv vom schlafenden Proletariat, das zur Revolution aufwachen wird, kommt noch öfter in dem Band vor. Vgl. etwa das Gedicht »Die Schläfer« (Becher: Maschinenrhythmen 1926, S. 32f.).
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beginnt für seine Rechte einzutreten. In diesem Moment wird aus dem »Stern der Weisen« der »Sowjetstern«:285 Nicht die Religion ist mehr das, was als Orientierung und Leitlinie dient, sondern der Kommunismus nach russischem Vorbild.286 Letztlich wird hier alles Religiöse rhetorisch wieder aufgenommen und durch Übertragung auf die soziale Problematik profanisiert. Die Engel, die den ›neu bronzierten‹ Christus am Kreuz »umflattern« sind »Börsenscheine«,287 während die »Heilige Familie« im gleichnamigen Gedicht eine Gemeinschaft auf Hungernden und Frierenden ist: »Du frierst allein: drum frei ein Weib, und friere!/Da reibt sich Leib an Leib wie Stein an Stein./Drum zeugt ein Kind, ihr frierenden Geschwüre!«288 Allerdings ist es nur die eine Seite der Medaille, wenn man diese Beobachtung auf Bechers Selbstfixierung und das ständige Bedürfnis zurückführt, der eigenen künstlerischen Entwicklung immer wieder nachzuspüren und den aktuellen Stand vom unmittelbar Vorausgehenden abzugrenzen. Die Entscheidung für den Atheismus ist nur deshalb möglich, weil der Glaube an Gott letztlich vom Glauben an den Kommunismus ersetzt wird.289 Das aber heißt mit anderen Worten, dass die Entscheidung für den Atheismus eben nicht mit der religiösen Rhetorik bricht, sondern nur die Erlösungshoffnung quasi vom Jenseits ins Diesseits verschiebt. Das ›Ausmerzen‹ des christlichen Elements produziert einen neuen Messianismus, der nun ausgerechnet auf dem Höhepunkt einer neusachlichen Ästhetik in der – noch dazu autobiographisch angelegten – Figur des Dichters seinen Brennpunkt findet. Das vorhandene Werk ist für Becher immer Material, mit dem er weiterarbeiten muss, um die jeweilige Passung seiner Programmatik in der Gegenwart auszuloten und sicherzustellen. Erneut geht diese Intention so weit, dass die Kritik an dem Verfahren, die der späte Becher dann doch noch formuliert, eigentlich nichts Wesentliches ändert. Wenn die festgestellte ›Korrektur-Ideologie‹ aus der Sicht von 1957 für Becher ein Problem darstellt, so nur aufgrund der verwendeten Strategie; das Moment der Selbstkritik im Sinne einer Werkaktualisierung bleibt erhalten, wenn er den »Grundirrtum« nur darin sieht, »daß ich immer wieder auf meine früheren Arbeiten zurückgriff und sie korrigierte, anstatt eine wahrhaft gründliche Korrektur an ihnen vorzunehmen, indem ich neue Arbeiten geschrieben und auf diese Weise das Alte widerlegt hätte.« (GW XIV, S. 280f.). Es geht, wie es im weiteren Verlauf der Argumentation heißt, immer schon um eine »vorbildliche Art 285 Ebd., S. 27. 286 Vgl. auch die »Hymne« auf Lenin (ebd., S. 17ff.). – Diese Position deckt sich auffällig mit dem Bild, das die Forschung und die Biographien für Bechers Werdegang in dieser Zeit zeichnen; man sieht also ein weiteres Mal, wo beide ihre Informationen her haben, nämlich aus den unhinterfragt übernommenen Selbstdarstellungen des Autors. 287 Ebd., S. 136. 288 Ebd., S. 141. 289 Das kann man ausführlich nachlesen in Ryklin 2008.
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der Selbstkritik« (GW XIV, S. 282). Die Arbeit am eigenen Werk zielt folglich erneut weniger auf die Perfektionierung bestimmter ästhetischer Ausdruckweisen oder inhaltlicher Aussagen, die stets stark kontextabhängig und von daher nur kurzfristig leitend sind. In der Gesamtschau geht es um die Absicherung bzw. Erschaffung von Moderne-Zugehörigkeit, womit das Werk einerseits aktuell gehalten werden muss, andererseits aber auch einen für die eigenen Zeit repräsentativen Charakter zugesprochen bekommt. Dabei verschiebt sich die Perspektive Bechers gegen Ende seines Lebens mit dem Bekenntnis zum Wandel in der eigenen Autorbiographie dahingehend, dass nun die Selbstkritik selbst zur vorbildhaften Handlung wird, womit eine weitere Abstraktion von den konkreten Inhalten und Formen erreicht ist.
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5. Erzählungen von Kunst und Leben
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Verlorene Jugend
Wie sieht das Leben eines typischen Jugendlichen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus? Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Vater schon seine Pläne für die Zukunft seines Sprosses haben und ihm zu seinem Alter Ego erziehen wollen, das beruflich noch mehr erreicht als er selbst. Ist der Vater Jurist, dann muss der Sohn mindestens Staatsanwalt werden. Entsprechend ist der Besuch des Gymnasiums selbstverständlich. Schlecht ist es freilich, wenn das, was dort unterrichtet wird, nicht zu den Fähigkeiten des Schülers passt und dieser sein erkennbares Talent, z.B. für die Musik, zurückstellen muss, um schulisch höherrangige Fächer wie Mathematik zu üben. Die institutionelle Unterdrückung der eigenen Anlagen, die der Vater verlangt, weil er sie selbst auch leisten musste, kann den Jugendlichen nicht retten, sondern führt nur zu einem wiederholten Sitzenbleiben und zunehmender Verzweiflung, bis ihm schließlich keine andere Wahl bleibt als sich selbst das Leben zu nehmen. Diese Konstellation entspricht der »Lebensgeschichte«, die Emil Strauß in seinem 1902 erstmals erschienenen Roman Freund Hein erzählt.1 Das Buch, das heute nur noch antiquarisch zu haben ist, war seinerzeit ein großer Verkaufserfolg, wie die vielen Auflagen zeigen. Außerdem genießt der Roman eine gewisse Bekanntheit innerhalb einer spezialisierten Forschung, weil Strauß mit den Ereignissen um Heiner Lindner eine geradezu prototypische Adoleszenzgeschichte erzählt, wie sie im frühen 20. Jahrhundert häufig ist und ein eigenes Genre ausbildet.2 Die Zahl der Schulgeschichten, deren Protagonisten aus verschiedenen Gründen an den Erwartungen von Eltern und Lehrern scheitern und schließlich den (freiwilligen oder zumindest willkommenen) Tod finden, ist in der Jahrhundertwendezeit hoch. Man kann sie in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891) finden, in Thomas Manns Buddenbrooks (1901) oder in Hermann Hesses Unterm Rad (1906). Das Schema wird
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Strauß 1905. Vgl. Mix 1994; Noob 1998; Ehlenberger 2006.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
so berühmt, dass es bis weit in die 1920er Jahre produktiv bleibt und z.T. kanonisierte Variationen hervorbringt, die als Internatsromane (Robert Walser: Jakob von Gunten, 1909) oder mit stärkerer Betonung des sexuellen Erwachens (Hans Fallada: Der junge Goedeschal, 1920) andere Schwerpunkte setzen mögen, von Figurenkonstellation und Handlungsverlauf aber klar an die älteren Vertreter angelehnt sind.3 Die Adoleszenzgeschichten aus der Zeit um 1900, denen erkennbar die Todessehnsucht der Kunst des fin de siécle eingeschrieben ist, gewinnen ihre Popularität nicht zuletzt daraus, dass sie sich – durch den Generationsgegensatz – auf die Seite der kunstaffinen Jugend stellen. Während Väter und Lehrer aus ihren Kindern brauchbare Mitglieder eines preußisch geprägten Staatsapparats formen wollen, idealisieren die literarischen Texte ältere und freiere Bildungskonzepte, die der Kunst noch einen Wert zuerkannten, während jetzt bewusst keine »verträumten Musikanten«,4 sondern »lebensklare[], thatkräftige[]« Männer gefragt sind.5 Es ist die »Zucht der Kaserne«,6 die den Untergang der hoffnungsvollen jugendlichen Talente verursacht, deren Rettung die Kunst sein könnte, aber nicht sein darf. Gerade in der Frühphase des Genres, bei Wedekind, Strauß und Hesse, ist mit dieser Geschichte eine Kritik am Schul- und Erziehungssystem des Kaiserreichs verbunden, die auf die von der Reformpädagogik angestoßenen Debatten Bezug nimmt.7 Eigentlich wird hier eine Fehlentwicklung angeprangert, die im Umkehrschluss dazu anregen müsste, die aktuelle Situation zu verändern und zu einem Bildungsideal zurückzukehren, das eine freiere und den individuellen Bedürfnissen des Einzelnen entsprechende Förderung möglich macht. Die Rezeption der Texte geht aber eigene Wege. Sind die Adoleszenzgeschichten nicht selten autobiographisch fundiert und greifen auf die Schulerfahrungen ihrer Autoren ebenso zurück wie auf einen tatsächlich feststellbaren Anstieg der Schülerselbstmordrate,8 werden sie durch die ihnen eigene Generationsproblematik umgekehrt wieder zu vorbildhaften Lebensentwürfen, kehren also auf diese Weise in die Realität zurück. Ein solcher Fall liegt mit dem ersten9 Selbstmordversuch Bechers vor, der im April 1910 zusammen mit einer älteren Freundin in einem Münchner Pensionszimmer erfolgt. Das Ereignis ist dank der Schüler-Akte des von Becher damals besuchten Wilhelmsgymnasiums verhältnismäßig gut dokumentiert, deren wichtigste Teile inzwischen (wenn auch verstreut) mehrfach gedruckt worden sind.10 3 4 5 6 7 8 9 10
Weitere Beispiele behandelt Ehlenberger 2006. Strauß 1905, S. 24f. Ebd., S. 25. Hesse 2002, S. 47. Vgl. dazu Noob 1998; Ehlenberger 2006. Vgl. Stark 1900; Adler 1910. Zwei weitere Selbstmordversuche Bechers sind belegt: einer infolge des Suizids seines Bruders Ernst, der andere im Moskauer Exil. Das ist vor allem das Verdienst von Rolf Selbmann, der in den 1980er Jahren die Akte in einem Aufsatz erstmalig ausgewertet hat (Selbmann 1984). Der dort im Anhang wiedergegebene
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Ein Zeitungsartikel berichtet genau darüber, wie das betreffende Ereignis abgelaufen ist: Eine Liebestragödie spielte sich am Sonntag Früh in einer Privatwohnung an der Dachauerstraße ab. Dort hatte am Samstag erst ein etwa 19jähriger junger Mann, der sich als Obergymnasiast Becher aus München vorstellte und unterschrieb, sich eingemietet, die Monatsmiete sofort bar vorausbezahlt und dann sich wieder aus der Wohnung entfernt. Die Schlüssel hatte er mitgenommen und den Hauswirten mitgeteilt, daß er Nachts da schlafen werde. Am Sonntag Morgens ½ 9 Uhr hörten die Hausleute plötzlich zwei Schüsse und als sie daraufhin in das Zimmer des neuen Mieters drangen, fanden sie diesen sowie eine 26jährige Zigarrengeschäftsinhaberrin bewußtlos in ihrem Blute liegend auf. Es wurde sofort die Polizei verständigt, die eine Anzahl von Briefen, die zwischen den beiden gewechselt worden waren, an sich nahm und die Schwerverletzten mittels zweier Sanitätswegen in die Chirurgische Klinik verbringen ließ, wo sie noch lebend anlangten. Die Schüsse, welche die beiden anscheinend gleichzeitig auf sich abgegeben hatten, waren auf das Herz gerichtet. In einem am Tische offen liegenden Notizbuch hatten sie eingeschrieben: »Wir beide haben beschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. (Unterschrift) Becher. Fuchs.« Von der Anwesenheit der Fuchs im Zimmer des Becher hatten die Zimmervermieter keine Ahnung. Die Geschäftsinhaberin ist im Lauf des gestrigen Tages noch ihren Verletzungen erlegen.11 Dass man den ersten Selbstmordversuch nicht unabhängig vom Werk Bechers betrachten kann, ergibt sich bereits aus den ›literarischen Folgen‹, die er neben den juristischen und schulischen hat.12 Als Dichter tritt Becher erst ab 1911 mit publizierten Werken hervor, wobei der Neuanfang als Autor durch den Namenswechsel von Hans Robert zu »Johannes R.« markiert wird. Becher kommt dennoch auf den Suizidversuch mehrfach dichterisch zurück und schafft eine Reihe fiktionalisierte Varianten der Begebenheit, die sich in Verlauf, Ergebnis und Realitätsstatus von dem wirklichen Geschehen unterscheiden: Dabei ist nicht nur an Abschied (1940) zu
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Bericht des Vaters ist inzwischen in vier verschiedenen Quellen abgedruckt worden (nämlich auch in Harder 1986; Selbmann 1986; Selbmann 1988; Becher 1992, S. 53-69). Daneben liegen der Bericht des Gymnasialdirektors Wilhelm Engelhardt (Selbmann 1984, S. 109ff.; Selbmann 1986, S. 526ff.) und eine Auflistung von Gedichttiteln vor, die Becher für die Publikation erstellt hatte (Selbmann 1984, S. 112). Die dazu gehörigen Gedichtabschriften befinden sich ebenfalls in der Schülerakte; allerdings sind davon bislang nur Auszüge als ›Proben‹ publiziert worden (»Verstimmung« und »Gedanke« in Selbmann 1988, S. A 91). Von den ebenfalls in Form von Abschriften vorliegenden Abschiedsbriefen kann der an die Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten in Selbmann 1988, S. A 88 nachgelesen werden. Zitiert nach: Selbmann 1984, S. 88. Vgl. ebd., S. 97.
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denken, wo sich der Becher autobiographisch nachgebildete Protagonist im Traum mit seiner Geliebten erschießt. Es gibt darüber hinaus eine Reihe von Gedichten, die das Ereignis von 1910 aufgreifen sowie weitere Prosatexte, auf die im Folgenden noch hinzuweisen sein wird. Diese literarische Verarbeitung – die sich sehr gut als Traumatisierung interpretieren lässt – ist aber nicht der Grund, warum der Suizidversuch literaturwissenschaftlich alles andere als unwichtig ist. Es ist die Begebenheit selbst, auf die man hier genauer achten muss, weil sie als Ende und Auftakt einer dichterischen Karriere inszeniert ist, deren Wurzeln erkennbar in der Literatur liegen. Dies gilt bereits deshalb, weil sich der »Typ des ›sterbenden Dichters‹«, der »die Missgeschicke des Lebens« nicht überwinden kann und »im Elend zugrunde« geht, »während ihn ein Ruhm erwartet, der zu spät kommt«, bis ins späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.13 Wie auffällige Parallelen Bechers Handeln zum Freitod des von ihm verehrten Heinrich von Kleist mit Henriette Vogel hat, ist offenkundig angesichts eines Doppelselbstmords, bei dem der Mann zuerst auf die Frau, dann auf sich selbst schießt.14 Damit ist aber erst ein winziger Teil dessen herausgestellt, was man über den literarischen Hintergrund der Tat wissen muss, um ihren Status in Bechers Karriere zu verstehen. Wenn man die Handlungskonstellation der Adoleszenzgeschichten um 1900 mit ihrem Schülerselbstmord-Fokus im Blick hat, wird eine zweite Folie erkennbar, die Bechers Handeln bestimmt haben dürfte. Am nächsten kommt der Fall Becher dem Ende des eingangs zusammengefassten Roman Freund Hein von Emil Strauß. Dort nämlich wird der Protagonist von der Lektüre Hölderlins – für Becher ein gleichfalls relevanter Autor15 – zum Selbstmord inspiriert. Markant ist aber vor allem die Passage, in der sich Heiner Linder aus ästhetischen Gründen die Pistole auf die Brust setzt, nachdem er vorher die Waffe an die Stirn gehalten hatte.16 Diese Szene klingt ausgerechnet in Abschied wieder an – dem Roman, der das Adoleszenzschema der Jahrhundertwende seltsam spät reaktiviert – und bringt rückwirkend eine (wegen der autobiographischen Anlage auf Becher übertragbare, aber durch die Fiktionalisierung freilich höchst fragwürdige) Erklärung dafür, warum der junge Gymnasiast 1910 nicht den sicheren Weg des Kopfschusses gewählt hat, sondern das eigene Herz treffen wollte (GW XI, S. 259f.). Damit aber ist die Bedeutung des Ereignisses noch lange nicht erfasst. Dazu kommt noch, dass der Selbstmordversuch von 1910 nicht erst im Nachhinein, sondern bereits von Anfang an von Becher im Sinne einer Selbstinszenierung genutzt wird, die ihn erstens zum idealen Vertreter des Jugendlichen stilisiert, wie
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Tomaševskij 2016, S. 53. Vgl. dazu auch Selbmann 1986, S. 519. Vgl. Schiller 1971; Klein 1993. Strauß 1905, S. 330.
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er in Büchern wie Freund Hein vorkommt, und zweitens seinen Anspruch auf eine dichterische Karriere markiert. Beides zeigen die Abschiedsbriefe, die Becher ›hinterlässt‹. Diese Texte machen klar, dass Becher selbst im Tod nichts dem Zufall überlassen will. Auf der einen Seite gibt es die Abschiedsbriefe an die nächsten Angehörigen. In diesem Kontext schreibt Becher an seine Eltern, aber auch an den Verlobten seiner Freundin. Was an diesen Briefen unmittelbar ins Auge sticht, ist der Gegensatz, den Becher zwischen seinem eigenen Handeln – der Entscheidung für den Freitod – und dem gesellschaftlichen Alltag aufmacht. Nicht nur spricht er von einer »höhere[n] Pflicht«, die seinen Tod gewollt habe,17 und vom »einzige[n] Weg, das Mädchen [!] vor Unglück und Trübsal zu retten«.18 Diese Märtyrerhaltung wird ergänzt durch die Erwartung, dass die Gesellschaft Bechers »Liebe« für »Wahnsinn oder Verrücktheit« halten wird.19 Das Bekenntnis zum Wahnsinn stellt Becher in Opposition zu einem Profitstreben, wie es die bürgerliche Gesellschaft kennzeichne und über das Becher mit den unterstrichenen Worten: »Geld regiert nicht die Welt« seinen Triumph verkündet.20 Sagt dies bereits einiges über den Einfluss der Literatur auf Becher aus, weil die Zitate erkennbar jugendliche Rebellion (Wahnsinn) gegen eine rationale nutzenorientierte Gesellschaft ausspielen, wird die Parallele noch deutlicher, berücksichtigt man den Umstand, dass Becher sich selbst gleichzeitig als Dichter profiliert und außerdem wie selbstverständlich davon ausgeht, dass sein individueller Fall von öffentlichem Interesse sein muss und etwas Verallgemeinerbares hat. Entsprechend schreibt Becher neben den privaten Abschiedsbriefen an die Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten, die dann tatsächlich – siehe das obige Zitat – auch über den Fall berichten.21 Becher geht explizit davon aus, dass die Zeitung »unzweifelhaft in dieser Affaire gut auf weite Kreise wirken« kann, und hebt die Tragik seines frühen Todes heraus, hatte er doch »größte Hoffnungen für dieses Leben«.22 Worin diese Hoffnungen bestehen, wird aus dem Verweis auf den Briefwechsel mit Karl Henckell klar. Schon 1909 hatte Becher Kontakt sowohl zu Dehmel als auch zu Henckell aufgenommen, von denen er immerhin jeweils vorsichtigen Zuspruch erhielt.23 In den hinterlassenen Dokumenten spricht Becher von sich folgerichtig als hoffnungsvollem Jungdichter. Auch der Vater bestätigt, dass der Sohn »auf seine Dichtungen sehr viel« gehalten habe und aus dem damit verbundenen Selbstbewusstsein bald »Größenwahn« geworden sei.24 Der Selbstmord beendet
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Brief an die Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten (Selbmann 1984, S. 96). Brief an den Ingenieur Craschberger (ebd.). Ebd. Ebd. Vgl. den vielzitierten Wortlaut der Anzeige bei Selbmann 1984, S. 84. Selbmann 1984, S. 96. Vgl. dazu im Einzelnen Behrens 2003, S. 18f. Zit. nach Schwarz 1978, S. 103.
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also aus Bechers Sicht vorzeitig eine vielversprechende dichterische Karriere. Es nimmt nicht Wunder, dass Becher absichtlich gerade ein lyrisches Vermächtnis hinterlässt und seine Eltern anweist, die für diesen Zweck eigens von ihm zusammengestellten Arbeiten unter dem Titel Tänze. Gedichte einer verlorenen Jugend zu veröffentlichen.25 Wenn auf diese Weise »Selbstmord als Literatur«26 in Erscheinung tritt, kehrt sich das Muster, nach dem Adoleszenzromane funktionieren, um: Nicht das Leiden an der Gesellschaft, das Leben, führt zur literarischen Verarbeitung (zumindest noch nicht). Stattdessen wird die Lektüre zur Handlungsanleitung: Deren Zielsetzung ist auf markante Weise unterschieden von dem Modell, das die literarischen Vorbilder präsentieren. Denn wo die Romanfigur Heiner Lindner die von ihm geliebte Musik zurückstellt und mehrfach versucht, das Abitur doch noch zu schaffen, um den Wünschen des Vaters Genüge zu tun, hat sich ihr Wiedergänger schon vollständig der Dichtung verschrieben. Hier findet kein Weltüberdruss seinen Niederschlag. Vielmehr inszeniert Becher gezielt den Bruch mit der ihn umgebenden Gesellschaft, der auf der Überzeugung der eigenen Überlegenheit gründet und den er entsprechend selbstbewusst vertritt.27 Dabei tut Becher etwas, das auch für sein späteres Werk von herausragender Bedeutung ist: Er bemüht sich um Öffentlichkeit und er präsentiert das eigene Schicksal als generationstypisch. Der Fall von 1910 ist durchaus absichtlich als »Schülerselbstmord, wie so viele«28 angelegt, um einer Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, die ihre jungen Leute zwingt, sich und ihre hoffnungsvolle Zukunft für eine ›höhere Sache‹ aufzuopfern. Gerade weil das Schicksal Bechers ein reales Schicksal ist, keine Romanhandlung, die bestenfalls Realität zum Ausgangspunkt hat, kann es die Welt des deutschen Kaiserreichs nachhaltig erschüttern und in ihrem überholten Normenregister bloßstellen. Dass Becher später mit Blick auf den Selbstmordversuch von 1910 von einer »Jugendtragödie«29 spricht, bekommt durch diesen Kontext einen aufschlussreichen Nebensinn, denn es liegt eben nicht nur eine ›Tragödie‹ vor, die sich in der ›Jugend‹ des Autors abgespielt hat. Vielmehr ist schon das Ereignis selbst als Tragödie einer Jugend inszeniert, die keine Aussicht hat, in der Gesellschaft ihrer Eltern zu bestehen. So lässt sich anhand des ersten Selbstmordversuchs das Entstehen einer Strategie beobachten, die Becher bis zum (wirklichen) Ende seines Lebens fortgesetzt
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Die Aufstellung ist in der Handschrift der Mutter überliefert. Vgl. das Faksimile bei Selbmann 1984, S. 112. Selbmann 1986. Vgl. dazu eindrucksvoll Heinrich Bechers Bericht in Selbmann 1984, S. 102f. Selbmann 1988, S. A88. Becher an den Deutschen Bundes-Verlag, Bonn am 23. Juli 1953 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 460).
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hat. Schon in den ersten überlieferten Texten Bechers wird das Bestreben erkennbar, die ›Bedeutung‹ des eigenen Werks selbst zu bestimmen, die immer darüber entsteht, dass der Einzelfall in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt wird. Worin dieser Zusammenhang besteht, hängt von den literarischen Einflüssen ab, die Becher aufgreift – keinesfalls aber in bloß reproduzierender Weise, sondern immer mit dem Ziel einer Überbietung, aus der sich die besondere Repräsentativität des eigenen Schaffens, die Einheit von Autor und Zeit, mustergültig ergibt. Dies gilt umso mehr, wenn man die Texte hinzuzieht, in denen Becher dieses Jugendereignis kurze Zeit später literarisch aufarbeitet und das Narrativ der eigenen Dichterentwicklung fortsetzt bzw. leicht veränderten Gegebenheiten anpasst. Ziel der Texte von 1911/12 ist auch die partielle Abkehr von den Jugendvorbildern und die Entwicklung eines über Dehmel und Kleist hinausgehenden Ansatzes. Die partielle Loslösung von den Vorbildern der Jugend kommuniziert Becher indes schon in der Kleist-Hymne von 1911,30 die keinesfalls nur ein weiterer Beleg für Bechers jugendliche »Verwirrtheit«31 ist, wie sie auch der erste Selbstmordversuch zum Ausdruck bringt. Haase zieht aus marxistischer Perspektive eine »biographische Parallele«32 zwischen Kleist und Becher, indem er das lyrische Ich des Textes als gemeinsame Stimme beider Dichter auffasst, die angesichts der fehlenden Möglichkeiten, sich schöpferisch in einer kapitalistischen Welt zu entfalten, nur den Tod als Ausweg sehen.33 Dass sich Becher in der Hymne (erneut) mit Heinrich von Kleist identifiziert bzw. diesen als Vorbild für die eigene dichterische Produktion beschwört, ist Konsens in der Diskussion über diesen ersten von Becher bei Bachmair publizierten Text.34 Weil aber die Entstehung der Hymne Der Ringende zeitlich nach dem an Kleists Suizid angelehntem Selbstmordversuch von 1910 liegt, wird sie zum ersten Zeugnis der inzwischen erfolgten Zäsur. Erneut ist das entscheidende Ziel die Kommunikation eines Einschnitts. Entsprechend ist die Kleist-Hymne kein unumschränktes Lob dieses Autors mehr, so sehr die Wahl des Hymnus aufgrund der Gattungstradition und das pathetischen Tons in diese Richtung deuten mag.35 Nicht nur folgt Bechers Gedicht keinesfalls dem für die Gattung charakteristischen Aufbau. Es hat schon aufgrund des verwendeten Präteritums eher erzählenden Charakter; der Anfang lässt fast an eine Ballade denken: »Wars nicht in der Nacht,/da der Blitz spritzende Garben schoß« (V. 1f.).
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Becher: Der Ringende 1911. Haase 1981b, S. 16. Ebd. Vgl. ebd, S. 18. Vgl. auch z.B. Richter 1982, S. 10. Vgl. Gabriel 1992, insb. S. 212ff.
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Im Gegensatz zu den bisherigen Lektüren des Textes sind die Stimmen Bechers und Kleists durchaus voneinander trennbar, weil Der Ringende – ebenfalls in leicht narrativer Struktur – von der Begegnung des lyrischen Ichs mit einem ›Menschen‹ erzählt, bei dem es sich zunächst nicht um Kleist selbst handelt, sondern um den Protagonisten der Hermannschlacht, wie der Ausruf des Sprechers am Ende der ersten Strophe belegt: »ARMIN?!–« (V. 15). Arminius also ist die »Gestalt« (V. 82), auf die das lyrische Ich trifft, nachdem es in einer vitalistisch-erotisch aufgeladenen Todessehnsucht vergeblich nach seinem Weg gesucht hat: Wo ist mein Weg?! Da? Dort? Oder da? oder dort?! – Felstrümmer ragen blöd und stumpf aus der kargen gleichförmigen Trostlosigkeit…. Auf Sand und Fels glüh der blendende Tag. Oh brennendes Herz! Ohhh Erde! Wo – ist – – mein – – – – Weg – –– –– – […] Ich reiß mir die Kleider vom Leib. Sterben – Dann wenigstens nackt sterben, wenigstens in Lust und Berührung sterben, wenigstens in die Erde noch die letzte Kraft betten, den kochenden Sand mit der letzten, mit all der letzten Wollust umschlingen, in der wir uns mühten in der wir glühten… (V. 51-71) Dennoch ist es bezeichnend, dass nicht der Sprecher des Gedichts schließlich stirbt, sondern der Held der Varusschlacht. In dessen letzten Worten kommt das Märtyrermotiv wieder zum Vorschein, mit dem sich das lyrische Ich durchaus identifizieren kann, ja durch die Anrede des Sterbenden zur Imitation aufgefordert wird: »du mußt dich im Feuer verbrennen/um deine Kraft zu erkennen,/mußt dich in gluthellen Höllen- und Himmelsmartern/quälen,/bis deine Seele/ganz leichtleis zu glühn beginnt,/deine Wunden und Zähren Flammen sind« (V. 107-113). Aus dieser Begegnung folgt aber nicht der Suizid der Sprechinstanz, sondern – bezeichnenderweise – ihr Erwachen, womit sich das Gespräch als Traum erweist (V. 141f.). Trotz aller Anziehungskraft, die Arminius als »Bild urfreier Gewalt« (V. 156) für das lyrische Ich besitzt, bleibt es indes nun bei einem Dialog, der ein Handlungsmuster aufruft, das aber nicht mehr zur unmittelbaren Nachahmung führt. Sowohl die Kleist-Hymne als auch die »Rede über Richard Dehmel« sind Zeugnisse einer langsamen Ablösung von den Jugendvorbildern, deren Errungenschaften Becher nun nur noch zum Ausgangspunkt nimmt, ein neues eigenes Dich-
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tungskonzept zu entwickeln. In der Auseinandersetzung mit der eigenen früheren Begeisterung für die Dichter werden beide indes argumentativ nun zu reinen Vorläufern des eigenen Schaffens erklärt: Nicht Kleist oder Dehmel gesteht Becher die Funktion zu, die gegenwärtige Zeit und die aktuelle Kunst zu ›verkörpern‹ und zu repräsentieren: Diese Rolle übernimmt der Nachfolger selbst, wird also zum Vertreter des neuen Jahrhunderts, während die anderen – im Sinne des Arminius aus der Kleist-Hymne – den um Orientierung ›Ringenden‹ nur auf seinen Weg gesetzt haben. Die Überblendung von poeta laudator und poeta laudatus in der »Rede über Richard Dehmel«36 ist ebenso Programm wie die Verschmelzung des lyrischen Ichs mit Kleist in Der Ringende, weil beide für ein Dichtungsmodell stehen, das Becher mit seiner früheren Identität – mit dem Schüler Hans Becher – identifiziert und jetzt als beendet erklärt. Damit wird das Narrativ der verlorenen Jugend von Becher verabschiedet, um das Fundament für eine neue Selbstbeschreibung zu legen, die er in seiner expressionistischen Phase entwickelt. Der 1912 publizierte erste Roman Bechers mit dem Titel Erde ist entsprechend als Jugendstilprosa in Parallele zu Gnade eines Frühlings deshalb ebenso falsch rezipiert wie im Kontext ›christlicher Unterhaltungsliteratur‹, in den das Buch von einem zeitgenössischen Rezensenten stellt wurde.37 Auch wenn Brausewetters Inhaltswiedergabe als »Vereinigung von brünstig irdischer Liebe, von nicht gesundem Sexualismus und perverser Don-Juans-Begierde mit ekstatischer Frömmigkeit und katholischer Kultusschwärmerei«38 eine durchaus adäquate Beschreibung des Textes darstellt: Was Erde unweigerlich will, ist eine Rekonstruktion des Weges, den der junge Hans Becher vor seinem Namenswechsel gegangen ist, wobei dessen Einstellung wie sein Freitod vom Erzähler ironisiert werden und insofern als ›überwundendes‹ Selbstbeschreibungsmuster erscheinen. Wenn der Roman als Niederschlag von »Bechers jugendliche[r] Wirrsal«39 erscheint, ist dies – unabhängig, was man vom überbordenden Erzählstil halten mag – Absicht. Als sperrig erweist sich das Buch zweifellos dadurch, dass seine Hauptfigur Rolf Rainer erst spät in den Fokus gerät, während in der ersten Hälfte – in starker Zeitraffung – eine Figur nach der anderen durch Tod oder Selbstmord aus der Handlung ausscheidet. Rolf Rainers Mutter Duse steht anfangs zwischen zwei Männern, die sich gegenseitig im Duell erschießen; sie selbst erliegt ebenso wie ein Schulfreund Rolf Rainers kurz darauf einer Krankheit. Rolf Rainer hat im Roman drei Geliebte: Die erste – eine Artistin namens Constance – stirbt beim Sprung durch einen brennenden Reifen; die zweite, Marie-Elisabeth, verlässt ihn, weil sie von einem anderen Mann schwanger ist; mit der dritten – der Schauspielerin Ev –
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Vgl. Herzfelde [1960], S. 49. Vgl. Brausewetter 1912/13. Brausewetter 1912/13, S. 1338. Haase 1981b, S. 16.
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begeht Rolf Rainer am Ende gemeinsam Selbstmord. Zwischendurch stirbt Rolf Rainers Schwester Ilse-Maria unter ungeklärten Umständen in einer psychiatrischen Klinik; ihr Liebhaber Angelo erschießt sich daraufhin. Dass die Figuren hier nacheinander allesamt wegsterben, bevor der Leser recht mit ihnen vertraut geworden ist, deutet bereits darauf hin, dass Becher die allgemeine Todessehnsucht hier nicht mehr emphatisch erzählt, sondern durch Übersteigerung verzerrt. Hinzu kommt die religiöse Folie des Textes, die aus Rolf Rainer – erneut – einen Märtyrer in Analogie zur Passion Christi macht. Auch das darf man nicht (mehr) ernst nehmen, so sehr Becher noch zwei Jahre zuvor auf dieses Erklärungsmuster zurückgegriffen hatte, um sein ›Opfer‹ für die Geliebte zu plausibilisieren. Zwei Jahre sind mehr als genug, um diese Haltung zu revidieren. Folglich schreibt Becher die Märtyrerlesart ausschließlich seiner Figur zu. Der Protagonist sehnt sich explizit »nach den Martern des lieben Heilands« (GW IX, S. 93) und versteht sein Leben als Leidensweg zu einer Vollkommenheit, die gerade zur »Geschlechtslosigkeit, zur Unkörperlichkeit« führen soll (ebd.). Der Begriff ›Erde‹ ist mit Geschlechtlichkeit verbunden, der des Himmels mit reiner Geistigkeit. Dieser Kernopposition sind auch die Geliebten Rolf Rainers zugeordnet, wie sich schon an ihren Vornamen erkennen lässt. Die ideale Frau für den Protagonisten wäre Marie-Elisabeth, die nicht nur fast genauso heißt wie Rolf Rainers Schwester Ilse-Maria, sondern deren Doppelname ebenso an die Jungfrau Maria als auch die Heilige Elisabeth erinnert. Entsprechend ist Ev wie ihre biblische Namensvetterin als Verführerin gestaltet, der der »Verzicht auf die Lust der Erde […] leidlich und ewig kläglich« (GW IX, S. 76) erscheint und die bei Rolf Rainer »die ersten Spuren eines sinkenden Menschentums« verursacht (GW IX, S. 77f.). Dahinter muss man Bechers eigene Jugendstil-Persona sehen, zumal das Buch voller Selbstzitate aus Gnade eines Frühlings ist. Erscheint der Titel der Gedichtsammlung sogar einmal explizit im Text (vgl. GW IX, S. 11), nimmt Becher in Erde bevorzugt Texte aus Die Gnade eines Frühlings auf, die einen Bezug zur Jungfrau Maria aufweisen. So wird in »Wie mag noch lieben« die »Himmelskönigin« angesprochen;40 das Gedicht »Maria!« markiert diese Verbindung schon im Titel.41 Dass das ebenso wenig mit einem ersthaften Glaubensbekenntnis zu tun hat, hat August Obermayer gezeigt.42 Wenn man den Traditionsbezügen genauer nachgeht, lässt sich die spezifische Erscheinungsform des Romans recht schnell aus den Jugendstil-Einflüssen heraus erklären, die Bechers dichterische Anfänge prägen. Der Einfluss des Monismus, der den christlichen Leib-Seele-Dualismus aufhebt,43 führt in der Kunst zu einer Ästhetisierung und Sakralisierung des Lebens, wie sie 40 41 42 43
Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 45; Zitate daraus in GW IX, S. 48 bzw. 53. Becher: Gnade eines Frühlings 1912, S. 64f.; GW IX, S. 99f. Vgl. Hennings 1913; Obermayer 1985. In diesem Sinne ist der vermeintlich christliche Roman aber lange Zeit gelesen worden. Vgl. Hennings 1913, S. 70.
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auch Bechers Roman aufweist. Entsprechend steht Bechers religiöse Metaphorik »in einer dezidiert nicht religiösen Dichtung«,44 worauf vor allem die Thematisierung von Kunst und Tod verweist. Bei Rolf Rainer handelt es sich nicht zufällig um einen Künstler. Er will Maler werden und bewegt sich in den für die Jahrhundertwende so typischen Boheme-Kreisen,45 wobei Rolf Rainers Einstellung nicht nur mit der für die Künstler des fin de siécle charakteristischen Verbindung von Vitalismus und Todessehnsucht übereinstimmt. Der Tod wird auch direkt als eine Art Kunstwerk in Szene gesetzt, das der Protagonist »für sich entsprechend gestalten möchte«.46 Das alles steht nicht nur in der Tradition einer Jugendstildichtung, wie sie Richard Dehmel verkörpert, wie Motivik und Ton. Becher tendiert in Erde – wie in der 1911 erschienenen Kleist-Hymne und dem Gedichtband Gnade eines Frühling – zu einer stark floralen Bildlichkeit47 und greift die bei Bonsels und Dehmel üblichen Motive »der Jugend, der Sonne, des Frühlings und der Erde« auf.48 Es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Frühwerk, dessen Spuren in Gnade eines Frühlings noch sehr deutlich sind. Nicht nur sprachlich ist Becher inzwischen schon einen Schritt weiter. Während der Großteil der Forschung nach wie vor davon ausgeht, dass sich Becher erst im Anschluss an Erde von den Dichtungen Georg Heyms zu einem ›anderen‹ Stilideal anregen lässt,49 weist Ostermayer bereits auf den sich andeutenden Übergang zum Expressionismus hin. Tatsächlich finden sich nicht erst 1914 in den Gedichten und Prosastücken aus Verfall und Triumph, sondern schon in Erde Passagen, die in Radikalität von Thema und Ausdruck kaum von den zwei Jahre später publizierten Arbeiten übertroffen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Szene, in der die Artistin Constance bei einem Sprung durch einen brennenden Reifen selbst Feuer fängt und an der besonders die plastische Darstellung der Verbrennung auffällt: Sie brannte. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Sie war eine blutige Fackel in der Nacht, da alle Lichter erlöschten. Das Pferde jagte unter ihr, die aufrecht stand, stolz und trotzig, derweil die Haare raschelnd lohten und knitternd zu Boden fielen. Funken stieben, blendende Schatten um den Flammenkreis. Aus dem Dunkel tauchten Gesichter, verzerrt und rot. Und
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Obermayer 1985, S. 125. Für die Prägung des jungen Dichters Becher ist vor allem die Münchner Boheme von Bedeutung, die er auch immer wieder in seinen Prosatexten thematisiert. Vgl. dazu Schramek 1925; Ziolkowski 1972. Obermayer 1985, S. 123. Vgl. den Anfang des Romans: »Die goldene Blume des Tages welkte in dem schwülen und schweren Licht des aufdämmernden Abends, verwelkte schwer in der warmen und bestimmten Gewißheit der kommenden Nacht« (GW IX, S. 10). Obermayer 1985, S. 108. Vgl. Martens 1971, S. 296f.
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plötzlich stürzte sie jählings kopfüber wie ein Schmetterling mit versengten Flügeln. […] Sie rissen ihr die feurigen Lumpen vom Leib, der rotbraun mit Brandflecken übertupft war, mit Wunden tief in der verkohlten Stirn, von der Blut in schweren, falben Tropfen perlte. Gelbes Wasser rann… Sie wand sich lautlos in glühenden Krämpfen, stöhnend und unsagbar weh, die Augen quollen fieberig gläsern aus verbrannten Höhlen. (GW IX, S. 55) Wichtiger ist aber, dass Becher sich hier als Dichter nicht nur in einem ›Übergangsstadium‹ befindet, sondern die Erzählprosa über das Alter Ego Rolf Rainer auch ohne autobiographischen Pakt50 dazu nutzt, diesen Schritt der eigenen künstlerischen Entwicklung bewusst in Szene zu setzen. Sieht man genauer hin, werden die verwendeten Jugendstil-Motive – insbesondere die Melange aus Selbstmord, Kunst und Vitalismus – bei allem vordergründigen Pathos doch subtil ironisch verwendet und unterlaufen. Entsprechend findet auch eine Distanzierung des Erzählers von seiner Hauptfigur statt. Zudem muss man unbedingt einen genaueren Blick auf die Thematisierung des Todes, insbesondere die des Selbstmords werfen, der im Text mehrfach angesprochen wird. Man kann hinter dem Ende des Romans leicht das Vorbild von Bechers Doppelselbstmordversuch von 1910 ausmachen. Becher arbeitet dieses Faktum indes nicht ungebrochen in den Text ein (wie es einer bloßen psychologischen ›Verarbeitung‹ entsprechen würde). Zum einen werden der Sterbenswunsch Rolf Rainers und seine Sehnsucht nach dem ›Tod des Geschlechts‹ sowohl von Erzähler als auch vom Protagonisten selbst als problematisch ausgestellt. Der Erzähler distanziert sich klar von dem Suizidwunsch der Liebenden: »Ihre Gehirne wurden das Werkzeug einer blinden, rasenden Geschwindigkeit« (GW IX, S. 92). Und auch Rolf Rainer kann sich diesem Urteil nicht entziehen. Nicht erst, als er und Ev sterbend nebeneinander liegen, beginnt er sie zu ›hassen‹ (GW IX, S. 103). Schon bevor es zum Selbstmord kommt, spricht Rolf Rainer in die diesem Zusammenhang von der eigenen »Verranntheit« (GW IX, S. 95) und sieht den Suizid als Akt der Schwäche (vgl. GW IX, S. 94). Zum anderen liegt – und das ist entscheidend – über der Thematisierung des Doppelmordversuchs aber auch eine auffällige Ironie. Bechers Doppelselbstmordversuch aus dem Jahr 1910 wird hier zwar zum Vorbild genommen, allerdings mit der Variante, dass beide Liebende im Roman tatsächlich den Tod finden, während in der Realität nur die Frau an ihren Verletzungen gestorben ist. Dies führt allerdings nicht dazu, dass Rolf Rainer und Ev wie ein klassisches Liebespaar idealisiert werden. Dazu passt schon nicht, dass Ev nach der Logik des Romans eigentlich die falsche Frau an Rolf Rainers Seite ist, wird doch Marie-Elisabeth als ideale Partnerin herausgestellt, mit der Rolf Rainer aber nicht zusammenkommt und die wie er
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Vgl. Lejeune 1994.
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aus diesem Grund nach der Trennung »für immer einsam« bleibt (GW IX, S. 69). Zudem sterben die Geliebten auch nicht wirklich gemeinsam: Während Ev sofort tot ist, folgt erst noch eine dreiwöchige Krankheit Rolf Rainers, der er schließlich erliegt. Becher spielt hier wiederum auf seine Biographie an, folgte dem Schuss in die eigene Brust doch eine monatelange Genesungsphase.51 Ironisch wird der Schluss endgültig jedoch durch die Bestattung der beiden Toten. Ihnen bleibt nämlich die beim klassischen Liebespaar übliche gemeinsame Grabstätte verwehrt und zwar deshalb, weil ein entsprechendes Vorhaben – denkbar profan – an der »vorgesehene[n] Auflassung des Friedhofs« scheitert (GW IX, S. 108). Der Roman weckt also mehr als deutlich Zweifel daran, dass die von Rolf Rainer erträumte und auch vom Erzähler mit dem Tod assoziierte ›Vollendung‹ durch den Selbstmord tatsächlich erreicht wird: »Sterben will Erfüllung, will Vollendung. Haben wir erfüllt? Haben wir vollendet?« (GW IX, S. 102). Hinzu kommt noch, dass das Ende von Erde nicht die einzige Anspielung auf Bechers Jugenderlebnis bleibt. Schon vorher gibt es eine Stelle, an der die Konstellation mit anderem Personal durchgespielt wird. Marie-Elisabeth, Rolf Rainers zweite Geliebte, gesteht ihm in einem Gespräch ihre Schwangerschaft von Sambart. Rolf Rainers in indirekter Rede wiedergegebener Versuch, sich an Sambart zu erinnern, ruft erneut den Selbstmordversuch von 1910 auf, allerdings in recht grotesker Verfremdung: Ob sie den Menschen meine mit der Schweineseele und den roten gestriegelten Haaren, der vor einigen Jahren den großen Skandal gemacht, als er seine Geliebte erschoß. Ihn, der sich selbst eine Kugel durch die Brust jagen wollte, in seiner Unkenntnis aber natürlich fehltraf und nun mit schiefer Schulter noch immer die Welt in Aufruhr setze… (GW IX, S. 70) Bereits einige Zeilen vorher wird deutlich, dass Sambart als verzerrte Version des jungen Becher konzipiert ist, der selbst erfolgreich an Schwimmwettbewerben teilgenommen hat. Rolf Rainer beschreibt den Konkurrenten als den »Menschen […] mit den roten Haaren und den blauen verquollenen Augen, den Hünen und Kraftprotzen, der sich nur auf Sportplätzen oder in Turnvereinen herumtreibe« (ebd.). Zum Zitat der eigenen Gedichte kommt also gewissermaßen das (ironische) Zitat der eigenen Vergangenheit. Neben der Selbstironie, die der über Bechers Lebenslauf informierte Leser hier herauslesen kann,52 hat diese Stelle auch eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Struktur des Romans. Schließlich wird von Rolf Rainer hiermit eine Handlung
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Vgl. Behrens 2003, S. 19. Von einer solchen Leserschaft muss man ausgehen, da die Ereignisse von 1910 mit Bechers Auftritt als Dichter wieder in aller Munde und später einer der Gründe waren, warum die geplante Eheschließung mit Eva Herrmann auf den Widerstand ihres Vaters stieß.
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ironisiert, die er am Ende des Textes voller Pathos selbst begehen wird – ohne dass er sich freilich jemals als Nachfolger Sambarts erkennt. Damit aber sind alle Aussagen des Protagonisten mit Vorsicht zu betrachten. Das gilt nicht nur hinsichtlich der religiösen Perspektive, sondern auch – und darauf wurde bislang gar nicht geachtet – für Rolf Rainers Kunstverständnis. Die Lesart des Romans als neoromantisch deckt sich mit dem Kunstbegriff der Hauptfigur, aber nicht mit dem des gesamten Textes. Vor dem Hintergrund des vom Roman aufgerufenen Kunstverständnisses der Jahrhundertwende ist die Thematisierung des Suizids mehr als nur eine Auseinandersetzung Bechers mit der eigenen Vergangenheit. Indem gerade die Todessehnsucht eines der wichtigsten Charakteristika der Kunst um 1900 darstellt, geht der Text in seiner Ironisierung seiner Hauptfigur zu diesem Weltbild auf Distanz: Rolf Rainer erscheint durch die Anspielung auf den Doppelselbstmord von 1910 als dekadenter Künstler, dessen Position Becher selbst 1912 bereits überwunden hat. In diesem Sinne ist Erde nicht nur ein Gegenentwurf zu Dehmels ›Roman in Versen‹ Zwei Menschen, dessen Titel in Bechers Text wörtlich auftaucht (GW XV, S. 90),53 sondern vor allem eine Beschäftigung mit dem Narrativ der ›verlorenen Jugend‹, mit dem Becher seine Karriere begonnen hatte. Die Geschichte Rolf Rainers ist – trotz der hier im Vergleich zu späteren Arbeiten noch sehr rudimentären autobiographischen Fundierung – letztlich eine Wiederaufnahme des Musters, das Bechers dichterisches Selbstverständnis um 1910 geprägt hatte – sowohl hinsichtlich der ästhetischen Ansichten als auch in Bezug auf die Inszenierung der eigenen Person als idealer Repräsentant einer an der Kunstfeindlichkeit der Gesellschaft zugrunde gehenden Jugend. Aus dem Modell gewinnt Becher jetzt ein Negativbeispiel, das die Abkehr von der Todessehnsucht propagiert, aber auch die radikalisierende Lösung von den Jugendvorbildern.
5.2
Ein prototypischer Expressionist
Zu Beginn der 1910er Jahre hatte Becher versucht, unter Rekurs auf die JugendstilDichter sich selbst als herausragenden Vertreter einer aktuellen ›jugendlichen‹ Literatur zu etablieren. Damit fällt seine Zugehörigkeitssuche in einen Zeitraum, in dem sich die literarische Mode gerade wieder zu wandeln im Begriff ist. Diesmal hat das Verfahren einen ersten durchschlagenden Erfolg: Becher wird zu einem der wichtigsten Vertreter expressionistischer Dichtung, auf den keine Anthologie verzichten kann. Sein extrem sprachexperimenteller Ansatz wird so sinnbildlich
53
Vgl. Obermayer 1985, S. 119f.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
für den Expressionismus, dass Kurt Pinthus später schreiben kann, alle hätten in dieser Zeit »viel gebechert, gewerfelt und gezecht«.54 Wie aber wird Becher zum Prototyp des expressionistischen Dichters, dessen Stil unverkennbar und nachahmbar ist? Der Status als »Jungstar des deutschen Expressionismus«55 ist das Ergebnis einer Strategie, die auffällige Ähnlichkeiten zu der der Frühphase hat. Während er für den Jugendstil eigentlich schon zu spät gekommen ist, fruchtet Bechers Bemühen um den Expressionismus als gerade erst aufkeimende neue Strömung wesentlich besser. Die Strategie entfaltet sich in den drei bekannten Dimensionen: erstens in der gezielten Auswertung und Aneignung bereits etablierter Schreibverfahren, zweitens der Identifikation mit anderen modernistischen oder expressionistischen Autoren, nach denen Becher das eigene Leben wiederum mit Hilfe der Literatur nachmodelliert, sowie drittens einer recht frühen Retrospektive auf den Expressionismus, mit der die eigene Deutungshoheit gesichert wird. Diese Potenzierung des expressionistischen Sprachduktus entspricht im Kern der bei der Auswertung der Jahrhunderwende-Dichtung um 1911/12 angewendeten Taktik: Einerseits zeigt sie Bechers Zugehörigkeit zu einer Bewegung, deren Entwicklungen er mustergültig umsetzt. Andererseits aber bewirkt die Steigerung, die allein schon durch die Kombination der verschiedenen Mittel entsteht, dass Becher eben nicht nur als ein Vertreter expressionistischer Dichtung erscheint. Er wird zu einem ihrer herausragenden und insofern besonders ›typischen‹ Repräsentanten, dessen Name schnell ebenso synonym mit der expressionistischen Literatur wird wie der eines Jakob van Hoddis oder Georg Heym, auf deren ästhetischen Entscheidungen Bechers Vorgehen fußt. So macht sich Becher bewusst zum herausragenden Exempel und zur Anführerfigur einer neuen dichterischen Bewegung, die aus der Abgrenzung von der ›alten‹ bürgerlichen Literatur und Moral ihr Profil gewinnt und folglich auf Schockwirkungen und Skandale setzt. Die Einheit von Leben und Werk geht dabei soweit, dass Becher als ›armer Künstler‹ gezielt versucht, den gesellschaftlich Benachteiligten näherzukommen, ein vergleichbares Leben zu führen, um dann solidarisch darüber schreiben zu können. Dass es Becher in den 1910er und 1920er Jahren ständig an Geld mangelt, hat ganz andere Ursachen als im Falle des typischen Proletarierschicksals, über das Becher hier schon gelegentlich schreibt. Denn Becher entstammt keiner mittellosen Familie. Es ist deshalb die bewusste Distanzierung vom großbürgerlichen Leben und die Identifikation mit dem davon losgelösten Künstler einschließlich des in
54 55
Pinthus 2013 S. 15. Behrens 2003, S. 21.
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diesen Kreisen üblichen Drogenkonsums, die für Bechers ›Armut‹ sorgt, weshalb die Solidarisierung mit den ›Armen‹ etwas Zynisches hat.56 Beobachten lässt sich hier aber sehr gut, dass Becher erneut sein Leben nach den bereits vorhandenen (literarischen) Mustern ausrichtet, die die aktuelle Dichtung vorgibt, um ein seiner Zeit angemessener Dichter zu werden und dann wiederum literarische ›Verarbeitungen‹ des Erlebten hervorbringen zu können. Das in den literarischen Texten erzeugte Narrativ wird jeweils durch die biographische Person abgesichert, die als Erschaffer hinter den Sprachexperimenten steht. Dass Becher in den 1910er Jahren als »deutsche[r] Rimbaud« und »moderner Schiller« gehandelt wird,57 weist bereits darauf hin, dass die Vorbilder von ihm nicht allein ästhetisch ausgewertet werden und stattdessen darüber hinaus zum Aufbau eines Autorprofils herhalten müssen, das den ständigen Vergleich zwischen dem Dichter Johannes R. Becher und seinen Vorläufern provoziert. Schließlich reklamiert Becher die Repräsentativität der eigenen Rolle im Expressionismus dadurch, dass er den eigenen Weg zum Expressionismus von Anfang an aus der Metaperspektive mitbeobachtet und bereits 1916 beginnt, die Bewegung aus der Retrospektive zu beschreiben. Seine in diesem Sinne spätexpressionistischen Lyrikbände An Europa und Päan gegen die Zeit sind als rückblickende Werksichtungen der vorangegangenen Phase angelegt, deren Wert Becher ähnlich wie in seiner Dehmel-Überwindung von 1911/12 eruiert und das eigene Dichtungsverständnis kritisch aktualisiert. Mit dieser punktuellen Abgrenzung vom Vorangegangen markiert Becher freilich gleichzeitig umso mehr die eigene Zugehörigkeit zum Expressionismus, die zwar als überwunden, aber doch als Faktum präsentiert wird und an deren Richtigkeit keinerlei Zweifel besteh.
5.2.1
Metaanalyse der eigenen Werkentwicklung im zweiten Band von Verfall und Triumph
Analysiert man die Prosastücke in Verfall und Triumph in ihrer Anordnung, ergeben sie gleichfalls eine Art Entwicklungsgeschichte ihres Autors, was sowohl Bechers starkes konzeptionelles Arbeiten belegt als auch zeigt, wie weit die Indienstnahme der Dichtung im Sinne der Selbstinszenierung geht. Dabei ergeben die Prosastücke auf den ersten Blick ein sehr heterogenes Bild und illustrieren in gewisser Weise prototypisch die »Disparatheit der Schreibweisen von expressionistischer Prosa« überhaupt, die die Forschung für die zwischen 1910 und 1925 entstandenen meist kurzen Erzähltexte immer wieder bemerkt hat.58 Die ganze Sammlung von Prosa56
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Becher hat außerdem einige Geldquellen zur Verfügung, die dem einfachen Arbeiter nicht offen stehen: Er profitiert immer wieder von Schriftstellerhilfen und Verlagsvorschüssen oder lebt auf Kosten seiner Geliebten Eva Herrmann in deren Berliner Studio. Ball-Hennings 1931, S. 37. Feilchenfeldt 1986, S. 13.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
texten bildet indes in ihrer konzeptionellen Anordnung die Entwicklung Bechers von der religiösen Hymnik zur Rezeption expressionistischer aktueller Prosa ab und mündet in ein durch das Alter-Ego Jean Bousset/Hans Witting gefiltertes Bekenntnis zur französischen modernen Literatur. Wie schon in Erde der Rekurs auf die eigene künstlerische Vergangenheit auf die Hauptfigur übertragen wird, um Bechers dichterische Weiterentwicklung anzuzeigen, folgt auch die Prosa von Verfall und Triumph diesem Schema: Das überwundene ästhetische Konzept wird an den Anfang gestellt und – über Erde hinausgehend – nun nicht mehr nur ironisiert, sondern durch eine neue Poetik ersetzt. Der Prosaband von 1914 lässt sich entsprechend als klare Selbstpositionierung im Sinne eines modernen Schreibens lesen, das aus der französischen Dichtung kommt und von den deutschen Expressionisten aufgenommen worden ist. Dabei erzählt Becher schon 1914 einmal die später in den 1920er Jahren wiederholte Geschichte einer Abkehr von der Religion (3.2). An den Anfang des Bandes stellt er ein Prosastück, das er bereits im Jahr 1913 im Separatdruck publiziert hatte. Entgegen dem Untertitel »Hymne/Fragmentarisch« (V+T II, S. 5) ist das vermeintliche ›Fragment‹ erst im Nachhinein durch Kürzung eines ehemals abgeschlossenen Textes entstanden, wie der Vergleich mit dem Einzeldruck aus dem Jahr zuvor zeigt. Von allen Stücken der Sammlung ist »De profundis« noch am stärksten der Tradition einer mit religiöser Motivik arbeitenden Diesseitsüberhöhung verpflichtet, die sich auch in Erde zeigt. Einerseits deutet die Wiederaufnahme des Textes in Verfall und Triumph darauf hin, dass die bestehende Kontinuität von Becher selbst aufgerufen wird. Andererseits greift der Autor in den ursprünglichen Wortlaut ein und verändert so den Text von 1913 auf aufschlussreiche Weise. Zunächst einmal ist es kein Zufall, dass Becher in der Neufassung den Titel von »De Profundis Domine« zu »De Profundis« verkürzt. Im Zentrum steht ein Sprecher, der sich aus der »tiefste[n] Tiefe«, dem »Totenreich«,59 an die noch lebenden Erdenbewohner wendet, um sie »zum hitzigsten Aufruhr, zur brennenden Anarchie« aufzurufen.60 Indem die einzelnen Abschnitte des Textes immer wieder mit der Formulierung »Aus der Tiefe, Herr, rufe ich« einsetzen,61 schließt Becher an den 130. Psalm an, auf den auch der Titel hinweist. Das Prosastück setzt auch 1914 nach der Einleitung, in der der Sprecher über die Erfolgsaussichten seines Aufrufs reflektiert, noch mit den Worten »Aus der Tiefe, Herr, rufe ich« ein (V+T II, S. 9) ein. Während jedoch in der Erstfassung jeder Absatz wieder mit diesen Worten einsetzt, bleibt dies in Verfall und Triumph die einzige Stelle, in der die Formulierung überhaupt im Text auftaucht. Noch dazu hat Becher in der Neufassung die
59 60 61
Beide Zitate Steinhagen 2007, S. 9. Ebd., S. 28. Ebd., S. 9 u. ö.
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Gliederung in nummerierte Kapitel getilgt, sodass der Satz im Fließtext nicht mehr an so prominenter Stelle steht wie vorher. Somit wird die religiöse Folie, die in der ersten Version noch durchgängig prägend war, deutlich in den Hintergrund gedrängt, was sich bei einem genaueren Vergleich der beiden Fassungen auch inhaltlich zeigt. Von der Streichung betroffen sind nicht nur sämtliche im Prosastück ehemals enthaltenden Gedichte. Inszeniert sich der Sprecher von »De Profundis Domine« zudem als Prophet und Verkünder, »der Gottes Angesicht/Nacht für Nacht erschaut«,62 greift Becher im Jahr darauf wiederum auf religiöse Bilder zurück, etwa wenn er einen Zug »Millionen Gekreuzigte[r]« heraufbeschwört (V+T II, S. 17). Das Neuerungspathos ist aber deutlich säkularisiert, indem der Einschub »Gott spricht«, der diesen Passus als göttliche Rede markiert, jetzt fehlt.63 Soweit nimmt Becher hier ein Verfahren vorweg, das ihn Anfang des Folgejahrzehnts noch einmal beschäftigt und das oben schon ausgiebig erläutert worden ist. Jedoch ist es nicht nur der religiöse Aspekt, den Becher gegenüber der ersten Version deutlich zurücknimmt. Die Fassung von 1913 entfaltet erneut die Problematik des Geschlechterkampfes und enthält unübersehbare Anspielungen auf den Doppelselbstmord des Autors, wenn der Sprecher von »De Profundis Domine« immer wieder auf den Mord zu sprechen kommt, den er offensichtlich an seiner Geliebten verübt hat. Wie Hans in Wir Gespenster… hat er »auf ewig für die ruchlosesten Erbärmlichkeiten deines Geschlechts süßeste Rache genommen«64 und sieht am Ende den »arme[n], entstellte[n], mißbrauchte[n] Mädchenleib« der Geliebten in »jenem anderen Reich« auferstehen »sich wandelnd in ein reines Bild voller Schönheit, Hoheit, Unschuld, Anmut und Gestalt«.65 Diese Passagen sind in der Fassung von 1914 ebenso eliminiert wie die meisten Verweise auf die religiöse Folie, was inhaltliche und stilistische Konsequenzen hat: Die Erstfassung ist als Gebet angelegt, indem der Sprecher Gott zuletzt um Hilfe anfleht und mit dem Wort »Amen« schließt.66 Dies führt dazu, dass sich der Text als Versuch eines von Schuldgefühlen geplagten Mörders lesen lässt, man also einen Sinnzusammenhang herstellen kann. Die Version aus Verfall und Triumph hingegen erlaubt keine solche Lesart, weil man weder den Sprecher als Mörder noch den Text eindeutig als Gebet identifizieren kann. Liegt mit »De Profundis Domine« erneut ein mit christlicher Metaphorik arbeitender vitalistischer Text vor, dessen Nähe zu Dehmels Werk nicht zu übersehen ist, führt die Abstraktion in der Neufassung dazu, dass das Prosastück nun vor allem als Artikulation des expressionistischen »O
62 63 64 65 66
Ebd., S. 24. Ebd., S. 45. Ebd., S. 13. Ebd., S. 52. Ebd., S. 52.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Mensch«-Pathos erscheint.67 Durch die Streichung der genannten Hintergrundinformationen bleibt ein pathetischer Aufruf zur Neuerung übrig, von dem nicht klar ist, worauf sich die anvisierte »Revolution« (V+T II, S. 13) eigentlich genau beziehen soll. Der Text ist damit weniger narrativ und nähert sich auf diese Weise den Schreibweisen des Expressionismus an.68 Demgegenüber präsentieren die folgenden Erzählungen einen ganz anderen Stand des Umgangs mit Erzählprosa und stehen den Verfahrensweisen, die Becher auch in Wir Gespenster… anwendet, deutlich näher. In »Das kleine Leben« etwa zeigt sich ein Verfahren, das man so auch in Carl Einsteins »Bebuquin« finden kann. Einsteins Text gilt als Initialpunkt der expressionistischen Prosa, weil er konsequent darauf verzichtet, eine nachvollziehbare Handlung zu präsentieren. Anstelle der Kausalität des realistischen Erzählens tritt die Präsentation einzelner Episoden, die eher motivisch durch die »Einheitlichkeit des Wortes« sowie »Figuren- und Bedeutungsvariationen« zusammengehalten werden.69 Hat Becher mit dem Romanfragment von 1914 bereits deutlich erkennbar Georg Heym rezipiert, wird in den Prosastücken von Verfall und Triumph auch die Aufnahme der Techniken Einsteins sichtbar. Im »Bebuquin« taucht z.B. das Motiv des Spiegels im ersten Kapitel immer wieder in verschiedenem Kontext auf: Eingeführt wird es durch einen ›dicken Herrn‹, der sich selbst als Spiegel bezeichnet. In seiner Frage »Aber hat sich ein Spiegel je gespiegelt?« klingt Bebuquins einleitende Befürchtung nach, nur eine »Kopie« sein zu können und nichts Eigenes hervorzubringen.70 Am Ende des Kapitels ertönt schließlich »die dünne Stimme Bebuquins im Spiegel«, die zur Selbstspiegelung auffordert.71 Bechers Erzählungen in Verfall und Triumph arbeiten ganz ähnlich mit Wiederholungen bestimmter Sätze, die immer wieder neu arrangiert werden und sich leitmotivisch durch den Text ziehen. In »Das kleine Leben« wird am Anfang die Wohnung des Ehepaars als »ölig, verworren und dumpf« beschrieben (V+T II, S. 23). Diese Formulierung kehrt schon auf der zweiten Seite wieder und steht dort in ganz anderem Kontext. Der Erzähler, der vorher angegeben hat, »sehr glücklich« zu sein (ebd.), hat plötzlich erste Zweifel daran, weil ihm einfällt, dass ihm langsam das Geld ausgeht. Auf die Frage »Bin ich nicht sehr glücklich?« folgt eine Schilderung seiner Gefühle, die sprachlich die Zimmerbeschreibung vom Anfang wieder aufnimmt: »Das Haus zittert. Ich glaube auf einem untergehenden Schiff zu sein, 67 68
69 70 71
Vgl. Vietta/Kemper 1975, S. 186ff. »Am wenigsten kontrovers ist die Beobachtung, daß expressionistische Erzählprosa einen wenig narrativen, einen oft unepischen, tief reflexiv-selbstreflexiven Zug hat« (Fähnders 2001, S. 14). Kyora 2001, S. 91. Einstein 1980, S. 74. Ebd., S. 76.
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auf hoher See. Es ist sehr ölig, verworren und dumpf. […] Umschlungen versinken wir« (V+T II, S. 24). Das Bild vom Schiff kommt seinerseits kurz darauf wieder vor, als Hans und Dorka ins Kino gehen, wo nicht nur alle anderen Besucher »umschlungen« sitzen (V+T II, S. 25), sondern auch der Erzähler und seine Frau: »Es ist, als gehe ein Sturm durchs Haus, es braust, und wir befinden uns auf einem untergehenden Schiff, auf hoher See. Umschlungen versinken wir« (V+T II, S. 26). Später, nachdem Hans seinen Nebenbuhler getötet hat, will er mit Dorka »herrlich untergehen« und wiederholt angesichts der »ferne[n] Musik des anziehenden Sturms« erneut den Satz »Umschlungen versinken wir« (V+T II, S. 44). Ebenso kommt die Formulierung »verworren, ölig und dumpf« wieder vor, als der Erzähler sich nicht darüber klar ist, ob er seine Frau verlassen soll (V+T II, S. 47), und tritt schließlich ein letztes Mal auf, als er nach Dorkas Tod die gemeinsame Wohnung verlässt (V+T II, S. 61f.). Das Schiff-Motiv stammt ebenfalls von Rimbaud bzw. von den Vermittlern Ammer und Zweig.72 Kreist die Erzählung so um wenige Leitsätze, die immer wieder aufgegriffen werden, wiederholen sich auch ganze Szenen. Hans gibt am Anfang an, wie er seine Frau »auf der Neuhauserstraße« kennengelernt hat: »Sie ließ die Handtasche lang herunterhängen. […] Sie blieb oft vor den hellerleuchteten Schaufenstern stehn« (V+T II, S. 25). Diese Konstellation kehrt wieder, als es um die Beziehung zwischen Dorka und dem Schweden Andreas Söraas geht (V+T II, S. 27); außerdem wird das Kennenlernen der Eheleute noch einmal wortwörtlich wiederholt (V+T II, S. 44). Dabei wird der logische Zusammenhang ähnlich unterwandert, wie dies bei Einstein der Fall ist. Der Folgetext »Der Dragoner« behandelt erneut einen Geschlechterkonflikt, wenn die Hauptfigur Beate den titelgebenden Dragoner kennenlernt und dieser erst ihren Hund und dann sie selbst ersticht. Die Erzählung sperrt sich aber sprachlich gegen jedes logische Verständnis. Dies kommt schon dadurch zustande, dass Beate ständig an ihren vorigen Geliebten Kony denkt, nach dem ihr Hund benannt ist – durch diese Übereinstimmung im Namen fließt in der Erzählung ständig die Erinnerung an den Athleten Kony mit den Reaktionen des Hundes Kony zusammen. Schlussendlich enthält die Erzählung erneut Anspielungen auf andere expressionistische Werke; am markantesten ist die Beschreibung der Musik als »gelb«, was unverkennbar auf Kandinskys Bühnenkomposition Der gelbe Klang (1912) verweist (V+T II, S. 73). Aufschlussreich ist aber vor allem die letzte Erzählung »Um Dagny heulen wir Gespenster«. Es wurde darauf hingewiesen, dass auch in dieses Prosastück Bechers Erlebnisse mit Emmy Hennings eingeflossen sind: Schon der Name ›Dagny‹ sowie die Bezeichnung der Frau als »Fetzen« (V+T II, S. 115) deuten in diese Richtung; außerdem ist von der Flucht Dagnys von »M.« nach »B.« die Rede (V+T II, S. 111 72
Rauthe 2002, S. 93f.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
bzw. 114), was auf Hennings Umzug von München nach Berlin Bezug nimmt.73 Die Hauptfigur der Erzählung trägt den Namen Hans Witting und ist damit ohne Zweifel als Alter-Ego Bechers angelegt. Wichtig ist nun aber, dass dieser Hans Witting nicht unter seinem deutschen Namen eingeführt wird, sondern als Jean Bousset – einer Figur aus Philippes Roman Marie Donadieu.74 Bechers Jean Bousset begegnet im Café einem Mann, der sich ihm »in einem gebrochenen Deutsch« (V+T II, S. 112) seinerseits als Charles-Luis Philippe vorstellt. Damit kommen indes nicht Autor und Romanfigur zusammen, sondern ein »junge[r] deutsche[r] Mann« (V+T II, S. 111), der den französischen Namen nur angenommen hat, trifft in dem Ausländer sein Vorbild: »Ja, er liebte diesen geradezu, abgöttisch umschwärmte er ihn, er verehrte ihn kniefällig« (V+T II, S. 113). Wenn Becher Philippe und Baudelaire schon in »Das kleine Leben« Reverenz erweist, wird dies hier noch einmal verstärkt, was der autobiographischen Komponente eine neue Dimension verleiht: Der ›junge Deutsche‹, der den französischen Schriftsteller so sehr verehrt, dass er den Namen einer seiner Figuren annimmt, ist lesbar als programmatische Standortbestimmung Bechers selbst. Die Prosastücke aus Verfall und Triumph sind nicht deswegen so vielseitig und nehmen die unterschiedlichsten Einflüsse auf, weil Becher als Autor uneigenständig verfährt. Vielmehr ist eine klare Präferenz für bestimmte Vorbilder erkennbar, wobei vor allem der Einfluss der französischen Moderne stark hervorsticht. Der Einfluss von Baudelaire und Rimbaud auf den frühen Becher ist lange bekannt.75 Allerdings lässt sich Becher in seiner expressionistischen Phase nicht nur von diesen französischen Autoren beeidrucken. Gerade der Prosaband von Verfall und Triumph ist darüber hinaus so angelegt, seinen Verfasser als Nachfahre dieser Tradition zu präsentieren. Das ist in Bechers Prosa ein neues Moment: Während der Lyrikband von 1914 die französischen Einflüsse nur erkennen lässt, werden sie im zweiten Teil in den Erzählungen bewusst offengelegt und dienen damit der Verortung Bechers innerhalb einer bestimmten Tradition. Schon die Reihenfolge der Prosatexte erweist sich als Statement literaturprogrammatischer Art und verweist auf Bechers dichterische Entwicklung: Steht am Anfang mit »De Profundis« ein Text, der in seiner ursprünglichen Fassung noch den Dehmel-Einfluss des Frühwerks erkennen lässt, führt Becher in den Folgetexten nach und nach die verschiedensten expressionistischen Erzählweisen ein, um diese Reihe von Experimenten mit einem Gespräch zwischen dem Alter-Ego Hans Witting und dem Vorbilddichter Philippe zu beschließen.
73 74 75
Vgl. Wittmann 1978, S. 610ff. Vgl. ebd., S. 619f. Vgl. schon Haase 1981b, S. 30f. – Vom Rimbaud stammt auch das Motto zu Das kleine Leben (V+T II, S. 21).
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Die literarischen Selbstbeschreibungsversuche, die auf der Auswertung verschiedener aktueller Vorläufer beruhen und mit denen Becher den Rückschluss auf das eigene Bohemien-Dasein nahelegt, laufen damit letztlich schon früh auf ein Entwicklungsnarrativ hinaus. Die Prosaerzählungen aus Verfall und Triumph zeigen einerseits – Haases gegenteiliger Behauptung zum Trotz –, dass Becher die »zeitgenössischen Erzählexperimente« durchaus bewusst auswertet,76 um sich selbst als repräsentativen Vertreter dieser Innovationen zu etablieren. Andererseits wird am zweiten Band der Sammlung besonders deutlich, wie relevant die Reihenfolge der präsentierten Texte ist. Becher summiert seine dichterische ›Vergangenheit‹ und beschreibt hier den Expressionismus als Endpunkt seiner Entwicklung. Anstatt die eigenen vorangegangenen Arbeiten als beendet zu betrachten, nimmt Becher sie in Verfall und Triumph in bearbeiteter Fassung wieder auf, um dem aktuellen Stand eine ›Vorgeschichte‹ an die Seite zu stellen, die als eine Art Hinführung zum status quo fungiert. Die ehemaligen Vorbilder und ästhetischen Richtlinien werden noch einmal aufgerufen und stückweise ins expressionistische Schreiben überführt. Geht man Bechers Buchanalage nach, lässt sich sehr leicht herausfinden, woraus sein expressionistischer Ansatz ›zusammengesetzt‹ ist, weil die entsprechende analytische Dimension dem Werk schon eingeschrieben ist. Wenn Becher 1914 jedoch den Expressionismus als vorläufigen Endpunkt der eigenen Entwicklung festhält, folgt als Konsequenz, dass er unmittelbar danach bereits über den Entwicklungsschritt des Expressionismus hinausdenkt – und genau das ist das Thema der kommenden Lyrikbände.
5.2.2
Retrospektive auf den Expressionismus: Bechers Lyrikbände zwischen 1916 und 1918
Verfall und Triumph ist als erstes durchgängig expressionistisches Buchprojekt Bechers aus dieser Zeit repräsentativ in der Tat für diese Werkphase, denn dieses zweibändige Werk etabliert alle wichtigen ästhetischen Verfahrensweisen und Themen, die die späteren Gedichtbände nur wieder aufnehmen. Dennoch sind es diese späteren Bände, die eigentlich summierenden Charakter haben: Becher ist – nachdem er den Expressionismus doch gerade erst für sich erarbeitet hat – in dieser Zeit schon wieder erkennbar bestrebt, das bisherige Schaffen zu bilanzieren. So präsentiert er die zwischen 1916 und 1918 veröffentlichten Lyrikbände als Sammlungen aus über mehrere Jahre hinweg zwischen München und Berlin entstandenen Gedichte, die Becher nicht selten sogar im Einzelnen mit Jahreszahlen ausstattet.77 Der Band An Europa nennt als Zeitspanne für die Entstehung der Ge-
76 77
Haase 1981b, S. 151. Dies gilt für die Bände An Europa und Päan gegen die Zeit.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
dichte den Abschnitt »vom November 1913 bis zum April 1916«;78 die Gedichte aus Verbrüderung (1916) sind laut Bechers Angabe im Buch »in den Jahren 1915 und 1916 in Berlin geschrieben«79 und die Texte aus Pään gegen die Zeit »entstanden in den Jahren 1912-1917«.80 Er präsentiert sich durch die exakten Orts- und Jahresangaben als geradezu wissenschaftlich seriöser Herausgeber seines eigenen Werks. Erst jetzt entsteht eigentlich konzeptionell jene ›Summe‹ des Expressionismus, die die Forschung bereits für Verfall und Triumph angesetzt hatte. Der Höhepunkt dieser Tendenz des summarischen Abschließens ist die (zwei Jahre vor der Menschheitsdämmerung erschienene) Anthologie Das neue Gedicht, in der Becher nicht nur die Herkunft der einzelnen aufgenommenen Texte verzeichnet, sondern darüber hinaus noch den Zeitpunkt ihrer Zusammenstellung für die vorliegende Ausgabe angibt: »Zusammengestellt August 1916 bis August 1917«.81 Damit aber ist es noch immer nicht genug, denn Becher hat die Texte auch noch überarbeitet und legt nun – in klarem Bemühen, einen Schlussstrich unter die expressionistische Werkphase zu ziehen – »die endgültige [!] Fassung der Arbeiten« vor.82 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die Widmungen an und Anspielungen auf andere (expressionistische) Autoren in diesen Bänden gegenüber Verfall und Triumph noch weiter zunehmen und man das poetologische Moment in An Europa fast in jedem Gedicht in der ein oder anderen Weise ausmachen kann. Bereits die schiere Menge angeblich voneinander unabhängig entstandener und stellenweise bis in Bechers vorexpressionistisches Frühwerk hineinreichender Gedichte lässt an der in den Bänden kommunizierten Darstellung zweifeln, dass es sich wirklich nur um reine ›Sammlungen‹ von z.T. überarbeitetem Material handelt. Stutzig macht allein, dass Becher die Gedichte nicht in chronologischer Reihenfolge anordnet und stattdessen eine eher inhaltlich motivierte Anlage wählt. In Päan gegen die Zeit sind die Einzeltexte zudem gerahmt von kursiv gedruckten »Vorstrophen« und »Nachstrophen«, die bewusst hinzugefügt worden sind und für eine gewisse Abrundung des Bandes sorgen.83 Vor allem aber bilden die zwischen 1916 und 1918 erschienenen Bände eine thematische Einheit: Sie nehmen zunächst nämlich das Muster wieder auf, das schon in Die Gnade eines Frühlings aufscheint und in Verfall und Triumph bereits durch den Titel als zentral markiert wird: die Gegenüberstellung von einer defizitären Gegenwart (Verfall) und einer besseren Zu78 79 80 81 82 83
Becher: An Europa 1916, S. 135. Becher: Verbrüderung 1916. .Becher: Päan gegen die Zeit 1918, S. 7. Becher: Das neue Gedicht 1918, S. 4. Ebd. – Spuren dieser ›Exaktheit‹ finden sich auch noch im Jahr darauf in den Gedichten um Lotte, die aber ästhetisch schon wieder einen neuen Ton anschlagen. Becher: Päan gegen die Zeit 1918, S. 9f. bzw. 142.
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kunft (Triumph), die aus dieser generiert wird. In diesem Sinne preist Becher in Verfall und Triumph »Auswurf«, »Schmerz«, »Trennung« und »Tod« als Phänomene des Verfalls, weil aus ihnen ein neues intensiveres Erleben resultiert und sie somit den Ausbruch aus der kaiserzeitlich-bürgerlichen Routine ermöglichen: »Tod deckte auf die Herrlichkeiten-Schätze,/Wir voll erlebend, stumm und unzerstückt« (V+T I, S. 194). Diesen Duktus setzen die Folgebände fort und berufen sich erneut auf die Gewährsmänner des Doppelbuchs von 1914. Orientiert sich Becher dort am ›Dreigestirn‹ aus Baudelaire, Rimbaud und Kleist und schreibt gleichzeitig Widmungsgedichte an befreundete Expressionisten, wählt er in An Europa ein ähnliches Verfahren. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht ist das Alfred Wolfenstein gewidmete Gedicht »Söhne –!«, das im Titel zunächst die Anspielung auf eines der Kernthemen expressionistischer Kunst, den Vater-Sohn-Konflikt, enthält, wie er mustergültig in Walter Hasenclevers Drama Der Sohn (1914) gestaltet ist.84 Der zweite Teil des Gedichts breitet ein wahres Panorama an Referenzautoren aus, in dem die bisherigen Vorbilder nicht fehlen, aber doch um einige neue Namen ergänzt werden. Becher erinnert zunächst vor dem Hintergrund der aktuellen Kriegsereignisse an die bereits gefallenen Expressionisten Ernst Stadler, Hans Leybold, Georg Trakl und Alfred Lichtenstein, bevor er am Ende wieder auf die »Dichter des Verfalls« zu sprechen kommt, zu denen neben Baudelaire (den er an dieser Stelle wie Przybyszewski »Beaudelaire« schreibt85 ), aber nicht Kleist und Rimbaud, sondern Verlaine und Rilke gezählt werden.86 Hinzu kommt die Nennung Dantes, Schillers und Walt Whitmans. Auf diese Weise ändert sich der Blick auf vorhandene Dichtung gegenüber Verfall und Triumph in charakteristischer Weise. Während Bechers lyrisches Ich 1914 sich einzig auf die Nennung von Vorbilder unter den französischen Modernisten und deutschen Gesinnungsgenossen der Expressionistengeneration beschränkt, ist in »Söhne –!« eine klare Bildung von Gruppen mit jeweils spezifischen Funktionen erkennbar. Becher verwendet in An Europa ohnehin viel Raum für die Beschreibung der expressionistischen Sprache,87 was hier in eine Skizze der unterschiedlichen Dichterstimmen mündet, die Becher seinerseits produktiv rezipiert hat:
84
85 86 87
Hasenclever und seinem berühmten Text widmet Becher noch ein eigenes Gedicht des Bandes mit dem Titel »Der Sohn«, das bezeichnenderweise Hasenclevers Namen in Klammern hinter den Titel setzt und so den Dramatiker mit seiner Titelfigur zu identifizieren scheint (vgl. Becher: An Europa 1916, S. 27). Vgl. auch Wittmann 1978, S. 624. Becher: An Europa 1916, S. 69. Vgl. vor allem »Die neue Syntax« (ebd., S. 78).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Ihr starbt voraus –: Ernst Stadler du –: elastisch deine Riesen-Strophen sich bewegen. Ellipsenröhren saugend ein Wallungen Licht. Hans Leybold! Abendlicher Sommerstraßen heiterer Segler. Du Georg Trakl aber –: einsamstes (melancholisches) Gedicht. … und Alfred Lichtenstein muß weich zerstören, Gerändeter (– und springt Trapez –) von aufgezackter Städte Flammenschein. Des Ohrs Membrane knicken Trommelchöre. Einschwenkt die Schlacht in deinen Zauberreim.88 Zieht Becher so ähnlich wie drei Jahre später Pinthus gewissermaßen Bilanz unter der Vielfalt expressionistischen Schreibens, ist doch die Rolle aufschlussreich, die diesen gefallenen Dichtern sowie Dante, Schiller und Whitman zugewiesen wird. Den Tod der Kameraden nutzt Becher (im gesamten Band und darüber hinaus) zur Formulierung einer unterdessen eindeutig pazifistischen Position. Das ist insofern eine nicht ganz triviale Beobachtung, als Behrens zumindest für Anfang des Jahres 1915 noch keine Anzeichen für eine solche Einstellung bei Becher ausmachen kann.89 Damit reagiert Becher auf die durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte Situation, die den euphorischen Kriegsaufruf des Frühexpressionismus zum Problem werden lässt. Der Dichter bekommt im Bewusstsein des Ersten Weltkriegs nun klar die Rolle zugewiesen, gegen kriegerische Handlung an sich anzusingen und die im Titel des Gedichtbands anklingende europäische »Verbrüderung«90 mitzubewirken. Hier ist Walt Whitman der Orientierungspunkt, dessen additiven Duktus Bechers Gedicht – wenn auch nicht in den für den Amerikaner typischen Langversen – im Deutschen nachahmt: Aber unermüdlich und immer wieder geht Whitmann [sic!], lange ein Einzelner, einen hymnischen Päan, gleich einem jener fahrbaren Schutzschilde Vor sich herschiebend, gegen der noch kriegerischen Nationen – hah! – ungezählte Kanonenmündungen an! Wenn in diesen Versen das Stichwort »Päan« fällt, ist bereits die Verbindungslinie der Gedichtbände zwischen 1916 und 1918 untereinander gezogen. Whitman war laut Becher »lange ein Einzelner«; nun aber tritt ihm die neue Generation junger Dichter an die Seite, die sich – »beschwebt«91 von Verlaine, Rilke und Baudelaire« 88 89 90 91
Ebd., S. 69. Behrens 2003, S. 39. So heißt in diesem Sinne nicht nur ein Prosatext in Päan gegen die Zeit (Becher: Päan gegen die Zeit 1918, S. 84ff.), sondern auch der bereits erwähnte zweite Lyrikband Bechers von 1916. Becher: An Europa 1916, S. 69.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
zu einem Bruderbund zusammenschließen und gleichsam gegen den Krieg ansingen. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Becher aus dem »Sohn« Hasenclevers, der unter dem strengen Regiment seines Vaters leidet, den Plural »Söhne« macht. Immer wieder fällt in dem Band das Stichwort vom ›jungen Dichter‹, dessen Sang die ›Zwanzigjährigen‹ anspricht,92 »unlösbar kitte[n]« und »der Heere steifen Panzer« einschmelzen soll.93 Entscheidend ist dabei, dass es auf diese Weise letztlich zu einer inhaltlichen Füllung dessen kommt, was zuvor hinter den Begriffen ›Verfall‹ und ›Triumph‹ noch verhältnismäßig abstrakt geblieben war. Denn es tritt die historische Entwicklung hinzu, die diese Bewegung legitimiert. Man muss mit dem alten System umso vehementer brechen, als es zum Krieg und zur Entzweiung der Menschheit geführt hat: »Wer hat noch zu nennen sich Bruder ein Recht?!/Erbärmlich Geschlecht!/Aus Räubern gefügt und aus Mördern!/[…]/Ja –: strotzend von Bomben und Schwertern!«94 Demgegenüber steht die Vision, die Schiller in seiner Ode »An die Freude« formuliert und die Becher mehrfach zitiert,95 und die auch der ›junge Dichter‹ wieder aufnehmen soll, um das »Gehirn« zur »Waffe der Zukunft« zu machen:96 »Verkündet den Traum, das Gesicht im Gedicht!!«97 Nicht zuletzt in den Briefen dieser Zeit lässt sich Bechers Bestreben erkennen, seine literarischen Werke auf eine neue gesellschaftlich-politische Wirksamkeit auszurichten.98 Auffällig genug beginnt die Sammlung An Europa mit einem Text, der zwar in Versen geschrieben ist, vom Duktus her aber durchaus ManifestCharakter hat, wenn seine Aussage auch eher eine poetologische ist. Die Rede ist von Gedicht mit dem Eingangsvers »Der Dichter meidet strahlende Akkorde«, das Becher 1919 prominent als »Einleitung« – unter diesem Namen ist der Text vor allem bekannt – an den Beginn der kommunistischen Aufklärungsbroschüre An alle Künstler! setzt.99 In diesem Kontext verwendbar wird das Gedicht – von Becher ohne Änderungen übernommen – deshalb, weil ihm in der Tat eine Aufforderung zur Gebrauchsdichtung innewohnt, wie sie zur grundsätzlichen Aussage des Heftes An alle Künstler! passt. Soll das Volk »mit gehackten Sätzen« ›aufgerissen‹ werden, verschreibt sich der Sprecher zudem literarischen Formen, die zur politischen Propaganda nutzbar gemacht werden können: »Reden. Manifeste. Parlament. Der Experimentalroman./Gesänge von Tribünen herab vorzutragen.«100
92 93 94 95 96 97 98 99 100
Vgl. das Gedicht »An die Zwanzigjährigen« (ebd., S. 12f.). Ebd., S. 73. Ebd., S. 125. Vgl. vor allem ebd., S. 125ff. Ebd., S. 121. Ebd., S. 126. Vgl. Behrens 2003, S. 41. Becher u.a.: An alle Künstler! 1919, S. 3. Becher: An Europa 1916, S. 3.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Trotzdem ist die politische Dimension zwischen 1916 und 1918 noch nicht so omnipräsent wie im Jahr darauf. Zentraler ist hier eindeutig Bechers Impuls, einen Schlussstrich unter sein expressionistisches Werk zu ziehen, der mit dem neuen Dichtungsbegriff begründet wird. Folglich bleiben – dem Charakter der Lyrikbände als ›Sammlungen‹ bereits vorhandenen Materials entsprechend – die ästhetischen Mittel die gleichen wie in den Vorgängerbänden. Wiederholt er im Falle des letzteren die Verbindung mit dem Schiffsmotiv,101 werden die bekannten Stichworte aber auch um neue Bildbereiche ergänzt, wenn die Dichter »von Halbmondlippen ab ihr Nachtgebet« schreiben102 oder ›gesprungene‹ Monde sich »am Abhang des Azurs« drehen.103 Markant ist die Veränderung des Engelsmotivs, das in Verfall und Triumph in der auf Baudelaire verweisenden Opposition zwischen blondem und schwarzem Engel eingeführt worden war und somit gewissermaßen die zwei Pole des Buches – den Verfall wie den Triumph – abbildet. In den Lyrikbänden ab 1916 fehlt indes nicht nur der Bezug zu Baudelaire, obwohl das Wort ›Engel‹ weiterhin durch die Texte geistert. Auffällig ist, dass Becher den schwarzen Engel als Motiv fallen lässt und nun nur noch die positive Variante – den Triumph – verwendet. Zwar kehrt das Stichwort vom blonden Engel gleichfalls nicht wieder. Trotzdem sind es genau die damit verbundenen Assoziationen, die mit dem Begriff aufgerufen werden. Dabei wird der veränderte Umgang mit dem religiösen Motivinventar besonders deutlich. Während Verfall und Triumph nach den kunstreligiösen Marienliedern des Frühwerks in dieser Hinsicht eher ambivalent verfährt und die Gottesverweise reduziert, bringt Becher Gott hier wieder neu ins Spiel – und zwar als Repräsentanten des ›Paradieses‹, in das die ›Verbrüderung‹ durch den Sieg über Kriege münden soll. Nicht nur tritt der Dichter in An Europa als »heiliger Arzt« auf.104 Darüber hinaus stehen Gott wie Engel für das beschworene Ideal: Die Brüder sollen von »der Freiheit Engel« beschirmt werden105 und nicht »ohn den Engel mehr ein düsteres Scheitern« erleben:106 »Wir rufen dich Engel, dich letzte und mystische Macht. […]//Engel des Friedens und Engel der besseren Zeit!«107 In diesem Sinne nimmt Becher auch das Frühlingsmotiv von 1912 wieder auf und macht aus dem Bild der aufbrechenden Jugend eine Illustration seiner Friedensutopie: »Welch ein Mai! Fest restloser Verbrüderung!«108
101 102 103 104 105 106 107 108
So heißt es etwa in »Klänge aus Utopia«: »Veranden segeln mondbeflagte Gondeln« (Ebd., S. 111). Ebd., S. 30. Ebd., S. 127. Ebd., S. 68. Ebd., S. 82 Ebd., S. 86. Ebd., S. 107. Ebd., S. 115.
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Im Lyrikband von 1916 bleiben die Gesänge Dantes, der »den Mechanismus zum Paradiese-Kaleidoskop« aufzieht,109 und Schillers, dessen »Ode an die Freude« eine auch auf die Expressionisten-Generation übertragbares Freundschafts- und Brüderlichkeitsideal beschwört, aktuell. Erneut also wird das bekannte Sprachinventar reproziert, erweitert und auf diese Weise mit neuem Sinn angereichert. Bechers Prinzip besteht in der poetologischen Selbstverortung unter Rückgriff auf vielseitiges Fremdmaterial der Autoren, die er nun als Vorbilder ansetzt, für alle Bände charakteristisch. Und: Becher baut wiederum verschiedene Verweise auf das eigene Werk ein. Wenn »Söhne –!« bereits Päan gegen die Zeit antizipiert, ist das inhaltlich relevante Schlagwort der ›Verbrüderung‹ nicht nur der Titel einer kleineren Gedichtsammlung von 1916. Er kommt außerdem zweimal explizit in den anderen Bänden vor: einmal als Titel eines ›politischen Romans‹, den das lyrische Ich im Gedicht »Gefallenem Romanschriftsteller« als »noch ungeschrieben« bezeichnet, der sich aber bereits am Horizont abzeichnet.110 Darüber hinaus überschreibt Becher aber auch einen Text aus Päan gegen die Zeit mit diesem Begriff, der schon deshalb eine Sonderrolle in der Sammlung einnimmt, weil es sich im Unterschied zu allen anderen enthaltenen Texten um ein Prosastück handelt. Diese »Verbrüderung« ist ein besonders markantes Beispiel in Bezug auf Bechers Verfahren in dieser Zeit. Eigentlich ist der Text auf 1914 datiert. Liest man ihn aber genauer, kommen an dieser Datierung rasch Zweifel auf. Einerseits passt die pazifistische Tendenz nicht zum Ton von Verfall und Triumph. Ähnlich wie die auch in An alle Künstler! gedruckte ›Einleitung‹ zu An Europa klingt dieser Text eher nach einem politischen Manifest, das nun zum Zusammenschluss aufruft, um das kriegerische Abschlachten der Menschheit zu verhindern: »Wie kommt, frage ich erst mich, daß ihr auf einmal sie anerkennt: Messer, Browning und Bomben? Wie?! Wuchsen euch vielleicht Metzgerstangenarme?! Amboßstirnen? […] Habt ihr den Geruch von Verwesung so lieb. Verräter des Geistes!«111 Überhaupt sind die Übereinstimmungen zwischen der »Einleitung« und der »Verbrüderung« bis in die Wortwahl zu merken. Beide Texte münden in Imperative, die die angesprochenen ›Brüder‹ mahnen, sich ›vorzubereiten‹ und zu ›organisie-
109 Ebd. 110 Ebd., S. 62. 111 Ganz im Gegensatz zum Lob des ›Verfalls‹ in Verfall und Triumph heißt es in diesem geradezu an ein politisches Manifest erinnernden Text z.B.: »Wie kommt es, frage ich erst mich, daß ihr auf einmal sie anerkennt: Messer, Browning und Bomben? Wie?! Wuchsen euch vielleicht Metzgerstangenarme?! Amboßstirnen? […] Habt ihr den Geruch von Verwesung so lieb. Verräter des Geistes!« (Becher: Päan gegen die Zeit 1918, S. 84ff.).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
ren‹:112 »Lernt! Vorbereitet! Übt euch!« heißt es auf der einen Seite,113 »Meldet euch! Begründet euch!« auf der anderen.114 Insgesamt ist den Lyrikbänden zwischen 1916 und 1918 also die poetologische Ausrichtung gemeinsam, indem Becher die früheren Maßstäbe des eigenen Arbeitens aufgreift und als abgeschlossen präsentiert. So ist es nun der 1914 erst vollständig erarbeitete Expressionismus, den Becher für sich als überwunden erklärt. Die Bände An Europa, Verbrüderung, Päan gegen die Zeit und Das neue Gedicht präsentieren sich in dieser Weise als Rückschau auf das Gewesene, womit sie gleichzeitig schon den Weg andeuten, die Bechers folgende Lyrik gehen wird. Aus diesem Impetus heraus erklärt sich auch die Distanzierung von Baudelaire: War dieser 1914 für Becher die Grundlage des neuen eigenen Arbeitens, fällt er jetzt zusammen mit Verlaine in die Kategorie der »Dichter des Verfalls«, auf den der ›junge Dichter‹ reagieren muss statt an seine Texte anzuschließen. Becher sucht sich neue Vorbilder und greift damit auch stärker als bisher auf ältere Autoren zurück. Die »kleine Welt-Anthologie«, die er am 9. August 1916 gegenüber Katharina Kippenberg ankündigt, zeigt eine aufschlussreiche Auswahl: »etwa Pindar, Sappho, Rimbaud, Whitman usw. von mir übersetzt: völlig subjektiv, sozialistisch, menschlich. Baudelaire, Verlaine würde ich nicht einschließen. Nur Ethiker, Wollende.«115 Bechers neues Feindbild ist das l’art pour l’art-Prinzip, das die Sammlung Verfall und Triumph aus seiner Sicht zu stark prägt und dem die neuen Bände entgegenarbeiten. Insofern ist die Revolutionsbegeisterung, die Becher 1919 dichterisch auf die russischen Ereignisse reagieren lässt, vorbereitet und angelegt. Die ambivalente Haltung sowohl zum Krieg als auch zur Religion, die sich zwischen 1916 und 1918 abzeichnet, reicht in die 1920er Jahre hinein und markiert die Extrempole, aus denen Becher in seiner vielseitigsten und am meisten von Widersprüchen geprägten folgenden Werkphase mit deutlich erhöhtem Schwierigkeitsgrad ein stimmiges Selbstbild zu konstruieren versucht.
5.3
Kommunistische Neuerfindung
5.3.1
Kommunistisch schreiben – aber wie?
Das Programm, das Becher ab 1923 entwirft, ist vorrangig das einer politisch direkt wirksamen Literatur, die dazu in der Lage ist, die Massen zu mobilisieren, wobei der Dichter (immer wieder: Becher selbst) eine zentrale Funktion als Anführer innehat, die Becher auch mit Schlagwort der ›roten Nachtigall‹ auf den Punkt 112 113 114 115
Vgl. Becher: An Europa 1916, S. 3; Becher: Päan gegen die Zeit 1918, S. 85 bzw. 90. Becher: An Europa 1916, S. 3. Becher: Päan gegen die Zeit 1918, S. 91. Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 49.
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bringt.116 Wie sich an den bisherigen Ausführungen bereits abzeichnet, ist die konkrete Umsetzung dieser neuen Poetik alles andere als in Stein gemeißelt. Der Grund dafür liegt letztlich in der Heterogenität der Literatur und Kunst der Weimarer Republik an sich, in der schon allein unter Berücksichtigung der Avantgarde-Bewegung spätexpressionistische, dadaistische und neusachliche Entwürfe nebeneinandertreten. Damit ist das Feld aber erst angerissen, da Bechers Augenmerk sich nun auch zunehmend auf Russland richtet und auf diese Weise die Technik der Faktographie für ihn von Bedeutung wird, während er sich außerdem mit Majakowskijs Formexperimenten intensiv auseinandersetzt. Diese unterschiedlichen Einflüsse führen dazu, dass Bechers schriftstellerische Produktion trotz des gleichbleibenden ideologischen Überbaus jetzt noch weniger auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist als in den angrenzenden Werkphasen davor und danach. Schon der Blick auf die insgesamt 14 (!) Verlage, in denen Bechers Lyrikbände zwischen 1919 und 1933 erscheinen, zeigt wohl, dass sich Becher zunehmend kommunistisch orientiert, aber auch nicht von heute auf morgen ausschließlich für linksradikale Verleger schreibt, sondern durchaus die Organe noch eine Weile weiterbedient, die seiner vorherigen Entwicklung entsprechen. 1919 publiziert Becher seine Gedichtsammlung An alle!, die u.a. den berühmten »Gruß des deutschen Dichters an die russische föderative Sowjet-Republik« und das Gedicht »Rosa Luxemburg« enthält und die damit nicht ins Programm von Bechers bisherigen Verlegern – nach dem Ende des Bachmair-Verlags waren das vor allem Kurt Wolff und Anton Kippenberg (Insel) – passte, im »Verlag Die Aktion«. Von diesem Fall abgesehen bleibt Becher aber zunächst seinem Hausverlag Insel treu, den er 1919/21 noch einmal mit zwei bzw. einem Lyrikband beliefert. Außerdem erscheint Zion 1920 bei Kurt Wolff. Daneben veröffentlicht Becher Gedichtbände in kleineren Verlagen, von denen keiner ein im engeren Sinne linkes Profil hat. Noch 1924 erscheint ein weiterer Gedichtband bei Insel. Daneben arbeitet Becher für den Roderich Fechner Verlag, den Greifenverlag und gibt nach Die Verklärung (1922) auch den Lyrikband Maschinenrhythmen (1926) zur Veröffentlichung an den AvantgardeVerlag Die Schmiede, in dem u.a. auch Kafkas Prozeß erschienen war.117 Dieser Heterogenität steht ein entsprechend vielfältiges Panorama an Schreibverfahren gegenüber, die Becher während der Weimarer Republik erprobt. Ihre Extrempunkte lassen sich an den drei kurz aufeinanderfolgenden Lyrikbänden Maschinenrhythmen (1926), Die hungrige Stadt (1927/28) und Im Schatten der Berge (1928) verdeutlichen. Im Kern ist das Ziel die Formierung einer kommunistischen Literatur, die sich von der bürgerlichen abgrenzt – und damit vor allem von auto116 117
Vgl. das Gedicht »Nachtigall« in Becher: Maschinenrhythmen 1926, S. 11ff. Zu Verlagsgeschichte der »Schmiede« vgl. Füssel 2012, S. 25-28; zur Forschung Hermann/Schmitz 1996.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
nomästhetischen und (kunst-)religiösen Traditionslinien –, vor allem aber einer Sprachkunst, die in der Lage ist möglichst unmittelbar auf das Bewusstsein ihres Publikums einzuwirken und im Sinne der angestrebten gesellschaftlichen Revolution eine agitatorische Funktion ausübt. Es ist diese Basis, auf der Becher seine in den 1910er Jahren entwickelten Schreibverfahren im Lichte seiner nunmehr kommunistischen Weltsicht neu auswertet. In diesem Sinne sind die Ansätze aus der Weimarer Republik, wie sie in den drei genannten Lyrikbänden besonders deutlich, aber durchaus repräsentativ zutage treten, nicht nur verschiedene Entwürfe, wie ein literarisches Schreiben im Sinne der kommunistischen Ideologie und des damit verbundenen Grundprogramms der Abgrenzung von einer Kunst, die als bürgerliche auf dem Leitbild der Kunstautonomie und der (Kunst-)Religion beruht, aussehen kann. Der erste dieser Ansätze ist klar avantgardistischer Natur und setzt Bechers ästhetische Experimente der expressionistischen Phase, insbesondere die Auswertung des (italienischen) Futurismus fort. Wie bereits Peter Demetz festgestellt hat, ist es freilich schon bald nach dem Erscheinen der Maschinenrhythmen und Levisite vorbei mit Bechers avantgardistischer Sprachzertrümmerung.118 Seine Lyriksammlung Ein Mensch unserer Zeit (1929) macht diese erneute 180°-Wende deutlich. Wie so oft blickt Becher auf sein bisheriges Werk kritisch zurück und sieht sich zur Auswahl dessen, »was stark und lebendig«119 war, gezwungen. 1929 heißt das: »auszugraben, freizulegen, aus dem Wust atemlos gekrampfter Wortreihen und sich überstürzender Gleichnisse das einfach menschliche Wort zu retten«,120 also Schluss zu machen mit den futuristischen Analogiebildungen und den hymnischen Anrufen, die Bechers Schreiben von Anfang an bestimmt haben: »Laßt den Rausch! Laßt das Gespenstern! Setzt dort ein, wo in der Gegenwart die Zukunft beginnt!«121 Bechers Gedichte von 1926 sind zwar einem Wirkungskonzept verpflichtet; sie weisen aber abgesehen von der ideologischen Folie und dem damit verbundenen Atheismus im Duktus eine auffällige Nähe zum expressionistischen Pathos auf und haben damit noch wenig mit den ästhetischen Entwicklungen der 1920er Jahre zu tun, die sie unter dem Stichwort der ›Neuen Sachlichkeit‹ artikulieren. Im Gegenteil spricht Becher ja explizit von ›Wirklichkeitsbesessenheit‹ und ›Zeittrunkenheit‹, was nicht auf einen objektiven Beobachterstatus schließen lässt, wie ihn die Gruppe 1925 programmatisch fordert.122 Eher liegt hier das Bedürfnis zugrunde, sich an der Gegenwart, besonders an ihren technischen Errungenschaften zu berauschen. Die Maschinenbegeisterung überführt den Menschen dabei – dies wiederum in Übereinstimmung mit dem russischen Futurismus – vom schwachen 118 119 120 121 122
Vgl. Demetz 1990, S. 100. Becher: Ein Mensch unserer Zeit 1929, S. 6. Ebd., S. 5f. Ebd., S. 6. Vgl. dazu auch Uecker 2006, S. 38.
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Individuum in die Masse, die im Gleichtakt marschieren und auf diese Weise ihre Interessen durchsetzen kann: »Lernt von den Maschinen und ihrem Gang, achtet auf ihr Tempo. […] Dieser unwiderstehliche, zukunftshämmernde Gleichtakt der Maschinen: unser Herzschlag.«123 Dabei ist Becher sichtlich pathetischer als die russischen Vorbilder, auf die er sich berufen kann. In seiner Nachdichtung von Wladimir Majakovskijs Poem 150 Millionen, dessen Werk im Deutschland der 1920er Jahre viel Aufmerksamkeit fand,124 sind die entsprechenden Unterschiede im Sprachduktus nicht zu übersehen.125 Ist Maschinenrhythmen ein Versuch, die kommunistische Ideologie in futuristischer Sprache zu gestalten, bemüht sich Becher ein Jahr darauf in Die hungrige Stadt wesentlich mehr um den nüchternen Ton der Neuen Sachlichkeit und schafft nun gezielt das, was man auch bei Brecht, Kästner oder Tucholsky lesen kann: Gebrauchslyrik.126 . Schon auf den ersten Seiten fällt auf, dass Becher – ganz im Unterschied zu seinen vorangegangenen Gedichten – weder die Sprache an ihre Grenzen führt noch im Ton jenen »visionäre[n] Utopismus«127 erkennen lässt, der für ihn vorher typisch ist. Stattdessen setzt der Band mit zunächst erkennbar objektiv-registrierenden Beobachtungen von Begebenheiten ein, die z.T. direkt auf die Ereignisse in der Weimarer Republik Bezug nehmen. Becher stellt diesen Zusammenhang schon durch das Stichwort ›Arbeitslosigkeit‹ her, das im Gedicht »Die Arbeitslosen« zentral ist: Sie stehn in Gruppen an den Straßenecken, Die Fäuste tief in dem zerschlissenen Rock. Die Mützen in der Stirn. Der Regen tropft. Sie stecken tief im Dreck und im Verrecken.128 Um einen ähnlich dokumentarischen Ton bemüht sich Becher auch im Titelgedicht »Die hungrige Stadt«, das mit den Worten beginnt: »Die Menschen kommen, gehn. Es ist ein Fluten/Von Nichts zu Nichts. Ein ewig runder Gang./Oft, wenn die Sonne scheint, ist es ein weißes Bluten/Von Stein zu Stein, die ganze Straße lang.«129 Becher nutzt diese Darstellungen, um im Sinne der kommunistischen Lehre auf den Gegensatz zwischen dem hungerleidenden Proletariat – daher die Personifikation im Titel – und den wohlhabenden Kapitalisten herauszustreichen, die in der zweiten Strophe von »Die Arbeitslosen« geschildert werden. Dabei streicht
123 Becher: Die hungrige Stadt 1928, S. 7. 124 Vgl. Kossuth 2013 125 Hinzu kommen noch einige verstreut gedruckte Nachdichtungen von Einzelgedichten. Vgl. Rost, S. 701f. 126 Vgl. dazu Becker 2000, S. 230ff. 127 Becker 2000, S. 54. 128 Becher: Die hungrige Stadt 1927, S. 17. 129 Ebd., S. 10.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Becher besonders die scheinheilige Hilfe der »Heilsarmee« heraus, die den Hunger einzig mit »Gebeten« zu befriedigen sucht: In Prachthotels wächst kühn ein Park von Rosen Und alles jauchzt, wenn es im Tanz sich dreht. Des Bettlers brüchiger Hut schnappt nach Almosen Und mit Gebeten speist die Heilsarmee.130 Auf diese Weise sind die Texte von Die hungrige Stadt sprachlich wie inhaltlich einem klaren Gebrauchswert verpflichtet, denn sie thematisieren Missstände der gegenwärtigen Gesellschaft und sind damit als Anklageschriften angelegt. Entsprechend hält sich Becher mit rhetorischen Mitteln zurück, die das Auge des Lesers zu sehr auf die künstlerische Form lenken würden, und verwendet eine (zumindest auf den ersten Blick) schlichtere Sprache, um den Inhalt herauszustellen. Dabei folgt diesen klar ideologisch bewerteten Schilderungen von Realität gleichzeitig aber wieder die Beschwörung des Aufstandes des Proletariats, die Becher nur – anders vor vorher – nüchtern-analytischer formuliert. Nicht selten kippen die Elendsschilderungen in die zumindest erträumte Rache der Unterdrückten an der oberen Klasse: »Das Heer der Arbeitslosen wacht« und wird schließlich »zur Sturmlawine dieser Zeit«.131 In diesem Sinne beschäftigt sich der Band nicht nur mit der deutschen Situation, sondern ist durchaus so international angelegt, wie es die Vorstellung einer weltweiten Revolution mit sich bringt. Neben der »Nacht über Berlin« thematisieren andere Gedichttitel bzw. Untertitel die Pariser Kommune von 1871, die aktuellen Shanghaier Streiks gegen die hohen Reispreise (»Sturm auf Schanghai«) und lassen sowohl einen »Englische[n] Bergarbeiter« als auch einen »Russische[n] Proletarier« zu Wort kommen.132
5.3.2
Kommunismus als Skandal: Levisite und der Hochverratsprozess
Ist es in den ästhetischen Debatten der 1920er Jahre alles andere als unumstritten, mit welchen ästhetischen Mitteln kommunistische Literatur zu operieren hat, wird als eine andere Frage vehement darüber diskutiert, welches die ›richtige‹ Biographie der Autoren kommunistischer Literatur ist. Eines der Hauptargumente für die proletarisch-revolutionäre Literatur ist schließlich, dass sie – anders als die bislang dominierende bürgerliche – sich endlich auch den Problemen und der Perspektive der Arbeiterschaft widmet. Dies ist eine Schnittmenge mit dem Naturalismus, über dessen Bedeutung für die eigenen Ansätze die revolutionäre Bewegung freilich seit Ende des 19. Jahrhunderts streitet.133 Will man die Sicht der Arbeiterschaft 130 131 132 133
Ebd., S. 17. Ebd., S. 18 bzw. 19. Becher: Die hungrige Stadt 1927, S. 15; 37; 35; 23; 50. Vgl. Mende 2009, S. 142-172.
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literarisch gestalten, ist es vor diesem Hintergrund naheliegend, dass eben die Verfasser der revolutionären Literatur selbst aus dem Proletariat kommen, da sie das, worüber sie schreiben, am besten kennen. Dies ist bekanntlich auch später in der DDR noch ein Argument, wenn die Bitterfelder Konferenz 1959 beschließt, Schriftsteller in die Betriebe zu schicken und Arbeiter zum Schreiben zu motivieren.134 Dabei stellt sich naturgemäß die Schwierigkeit, proletarische Autoren zu finden, die qualitativ hochwertige und lesenswerte Texte hervorbringen können, während sich auf der anderen Seite eine Reihe bürgerlicher Künstler und Schriftsteller der Bewegung anschließen, die zwar das ästhetische Handwerkszeug vorweisen, aber eigentlich nicht die nötige Sicht auf die Dinge haben, um den Standpunkt der Arbeiterklasse formulieren zu können. Die Debatte um die Befähigung bürgerlicher Schriftsteller, revolutionäre Literatur zu verfassen, spiegelt sich in der Figurenkonstellation von Levisite. Die eine der beiden im Zentrum stehenden Figuren ist die Art von Protagonist, wie man ihn in der traditionellen Arbeiterliteratur zuhauf findet: Der Arbeiter Max Herse ist zu Beginn der Handlung im Jahr 1918 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, muss aber nach und nach erkennen, dass diese nun im neuen deutschen Staat gar nicht mehr die Interessen des Proletariats vertritt, sondern sich von ihren revolutionären Ursprüngen weit entfernt hat. Die Problematik dieser Entwicklung, deren diskursiver Nährboden die These vom Sozialfaschismus ist,135 wird an einer Parteiversammlung veranschaulicht, die Herse besucht. Wörtlich erklärt dort ein Redner, dass die Sozialdemokraten nun »die Gesamtheit der Nation« vertreten wollten und »das Wort ›Klassenkampf‹ […] überhaupt veraltet und wissenschaftlich bereits längst überholt sei… Also: mit dieser kommunistischen infamierenden Klassenhetze haben wir Sozialdemokraten nichts gemein« (GW X, S. 102). Angesichts des eingangs geschilderten Grubenunglücks bleibt Max Herse schließlich nichts anderes übrig, als zu erkennen, dass seine Interessen inzwischen allein von den Kommunisten vertreten werden, weshalb er sich diesen im Laufe der Handlung immer mehr annähert.136 Was Becher hier schildert, ist alles andere als originell und man kann Ähnliches auch in Willi Bredels Erstlingsroman Maschinenfabrik N. & K. (1930) lesen: Immer wird den Sozialdemokraten ihre moderate politische Rolle in der Weimarer Republik (»Wir Sozialdemokraten vertreten die Gesamtheit der Nation«; GW X, S. 102) vorgeworfen, die unter Kommunisten als Verrat an der Sache der Arbeiterschaft gedeutet wurde.137 134 135 136
137
Vgl. dazu Barck/Wahl 2007. Vgl. im Detail Hoppe 2007. Dass man angesichts der Lage gar nicht anders kann, als in die KPD einzutreten, ist auch die Position der Arbeiterin Lene im Roman, die Max von ihrer Entscheidung berichtet (vgl. GW X, S. 152f.). Vgl. schon Bredel 1975, S. 21.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Was Bechers Roman indes mit Blick auf die Handlung von anderen Texten aus dem proletarisch-revolutionären Umfeld unterscheidet, ist der Umstand, dass er nicht allein die Geschichte Max Herses erzählt, sondern das Buch mit einem ganz anderen Protagonisten anfängt: Mit Einsatz der Handlung ist der Erste Weltkrieg gerade zu Ende und die Soldaten kehren nach Hause zurück. Einer von ihnen ist Peter Friedjung, der Sohn eines Staatsanwalts und damit aus gutem bürgerlichen Haus. Diese Figur findet nun in klarer Parallele zur Entwicklung Max Herses ebenfalls zum Kommunismus, hat dabei aber einen deutlich weiteren Weg zurückzulegen. Am Anfang der Geschichte nämlich ist Peter Friedjung ein deutschnationaler Kaisertreuer, der entsprechend aus Überzeugung in den Krieg gezogen war, weil er an die Überlegenheit des eigenen Vaterlandes geglaubt hatte. Dieser Glaube wird nach seiner Rückkehr erschüttert. Der Kieler Matrosenaufstand138 und die neue politische Situation nach dem Krieg lassen den Zweiundzwanzigjährigen zunächst ratlos zurück, da er zwar Karl Liebknecht für einen »hundsföttischen Vaterlandsverräter« hält (GW X, S. 17), gleichzeitig aber merken muss, dass er nicht mehr in die Welt seines Elternhauses hineinpasst.139 Letztendes ist es der Ruhraufstand vom März 1920, der Peter Friedjung einen neuen Lebensinhalt und neue Orientierung gibt, weil sich die deutschnationale Sichtweise langsam in Richtung Faschismus radikalisiert: Bis zum Ruhrabenteuer war Peter deutschnational. Deutschnational bis auf die Knochen. Er glaubte an Deutschland, als an ein auserwähltes Volk, er selbst hatte ja bereits gekämpft und gelitten für Deutschlands Herrlichkeit. […] Bis er eines Tages, selbst Mitglied einer völkischen Sturmabteilung, plötzlich erkannte: es ist ein Unterschied zwischen der Phraseologie einer Sache und dem Inhalt einer Sache. […] Seitdem sympathisierte Peter Friedjung mit der proletarischen Bewegung. (GW X, S. 86f.) Dieses Schema einer Gegenüberstellung eines Bürgerlichen und eines Angehörigen des Proletariats, die gleichermaßen zum Kommunismus finden, verwendet Becher in dieser Zeit häufiger. Ist es im Jahr darauf im Prosastück »Erwachen« ein im Krieg verwundeter Lehrer, der mit der Revolution sympathisiert (GW IX, S. 377ff.), wird das Thema vor allem in der ebenfalls 1926 publizierten Erzählung »Der Bankier reitet über das Schlachtfeld« behandelt. Im Zentrum dieses Textes steht zunächst der amerikanische Bankier Mr. Branting, der zusammen mit einigen anderen Reisenden in Frankreich an einer Schlachtfeldführung teilnimmt. Wird hier vom Erzähler deutlich die kapitalistisch motivierte Verwandlung des Krieges in eine Touristenat-
138 139
Vorbild für diesen Themenbereich ist Freund Karl Raichle. Vgl. dazu auch 4.2.1. Charakteristisch ist dafür die Szene des Musikabends bei Friedjungs, als Peter den politischen Äußerungen seines Vaters und dessen Gäste zuhört (GW X, S. 22ff.).
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traktion angeprangert,140 mündet der Text schließlich in zwei Träume, womit wie in Levisite ein utopisches Moment hinzutritt. Der Bankier träumt vom Untergang seiner Klasse infolge der kommunistischen Revolution (GW X, S. 503ff.), während ein französischer Kleinbauer denselben Traum hat, allerdings die Entwicklung aus proletarischer Sicht beobachtet (GW X, S. 512). Der Text endet schließlich mit der Ausdeutung des zweiten Traums (GW X, S. 523ff.). Bei aller Parallelität der Wege von Max Herse und Peter Friedjung ist ihre Bedeutung innerhalb des Romans doch nicht identisch: Im deutlichen Unterschied zu sonstigen Produkten der proletarisch-revolutionären Literatur dieser Jahre liegt der Fokus nicht auf der Arbeiterfigur, sondern klar auf der Geschichte des Bürgerlichen, dessen Bekenntnis zum Kommunismus letztlich der unwahrscheinlichere und bemerkenswertere Fall ist, zumal sich Friedjung schon auf dem Weg zum Nationalsozialismus befunden hat, als er zur besseren Einsicht gelangt. Folglich kommt es Friedjung zu, sein Leben als Erster der Revolution zu opfern und als Märtyrer zu sterben, weil er sich konsequent weigert, seine Genossen gegenüber den ermittelnden Kommissaren zu verraten. Friedjung ist auch die einzige Figur, die mittels der von ihr hinterlassen Aufzeichnungen im siebten Kapitel über die Dialoge hinaus ausführlich selbst ihre Ansichten darlegen kann – ein Kapitel, das nicht umsonst mit dem Untertitel des gesamten Romans überschrieben ist und insofern besondere Relevanz besitzt (vgl. GW X, S. 260). Indem das, was hier gesagt wird, der Position des Erzählers entspricht, wird die Entwicklung Friedjungs zum eigentlichen Vorbild für seine Leser, womit Levisite nun vorrangig nicht die Arbeiter zur Beteiligung an der Revolution aufruft, sondern die bürgerlichen Intellektuellen, die viel stärker anfällig dafür sind, auf den ›falschen‹ Weg zu geraten. Friedjungs Aufzeichnungen – und der Roman als solche – verstehen sich somit als Weckruf speziell für die Intellektuellen. Denn es sind ihre Kompetenz und ihr Einfluss nötig, um das Volk über die aktuelle gesellschaftliche Problematik und die Gefahr eines Gaskrieges aufklären, die solange besteht, wie die Regierung noch imperialistische Ziele verfolgt.141 Hier zeigt sich besonders deutlich, dass Levisite gar kein massentauglicher Roman sein will.142 Seine eigene Schicht, die bürgerlichen Intellektuellen, für den Kommunismus zu gewinnen, schreibt sich Becher in dieser Zeit generell auf die
140 So wird etwa kritisiert, dass zwar »Villen und Landhäuser«, ja sogar ein ›Hotel zum Weltkrieg‹ errichtet worden sind, man aber darauf verzichtet hat, die viel dringender gebrauchten »Bauernhöfe« oder »Ortschaften« wiederaufzubauen (GW X, S. 456). 141 Vgl. Eichhorn 2020, S. 90f. 142 Darin besteht einer der wesentlichen Kritikpunkte vonseiten der DDR-Germanistik, die ihm in Sinne des Sozialistischen Realismus unterstellt, dass sich Levisite aufklärend an die Arbeiterschaft wenden soll, was freilich an der Wahl der experimentellen Erzählhaltung scheitern muss. Vgl. Haase 1981b, S. 153f.
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Fahnen und verfasst eine Reihe von Aufrufen, die sich schon im Titel an die ›deutschen Intellektuellen‹ bzw. die »geistigen Arbeiter« richten (GW XV, S. 60 bzw. 92). In dem Aufruf an die zahlenmäßig kleinere Gruppe der Intellektuellen, die sich durchaus an der experimentellen Anlage des Buchs nicht stören dürften, bezieht Becher Position innerhalb der Debatte um die Frage, wer eigentlich das Recht hat, kommunistische Literatur zu schreiben. Klar ist natürlich, dass Bechers Interesse an dieser Fragestellung nicht zuletzt dadurch motiviert ist, dass er selbst den Weg Peter Friedjungs zurückgelegt hat, der – wie noch zu zeigen sein wird – überhaupt in vieler Hinsicht an seinen Schöpfer erinnert. Obwohl hier wie in den früheren Texten Bechers erneut kein autobiographischer Pakt im Sinne Philippe Lejeunes vorliegt, weil Protagonist und Autor verschiedene Namen tragen, ist die Lesart, die zwischen beiden Parallelen sieht, dennoch im Text angelegt. Ohnehin geht Lejeune davon aus, dass der Leser gerade dort »nach Unterschieden« sucht, wo diese »Identität nicht behauptet« wird (in der Fiktion), während in der Autobiographie das Gegenteil gilt.143 Dies geschieht hier indes nicht »gegen den Willen des Autors«,144 sondern ist Teil des ästhetischen Programms: Wenngleich Becher die Entwicklung seines Protagonisten gegenüber seiner eigenen zuspitzt, indem er ihn anfangs deutschnational denken lässt und ihn als kaisertreuen Soldaten in den Ersten Weltkrieg schickt, zeigt die Figur eindeutig Bechers Bemühen um eine Antwort auf die Frage, wie er selbst als Mensch und als Autor in die proletarischrevolutionäre Bewegung hineinpasst. Dass es um die Legitimation des gewählten eigenen Weges geht, ist nicht zu übersehen. Dennoch ist das nur die eine Seite. Levisite ist mehr als Standortbestimmung und Kommentar zur Debatte über die Natur der proletarisch-revolutionären Literatur. Die eigentliche Wirkung, um die es Becher hier geht, ist indes viel unmittelbarer, denn sie betrifft die Diskussion, die das Erscheinen von Levisite in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik ausgelöst hat und die bei der Frage nach dem Adressaten unbedingt zu berücksichtigen ist. Nicht zufällig steht der 1926 erschienene Roman fast immer im Zentrum der Diskussion um die Gefährdung der freien Meinungsäußerung, wenn man auf den Hochverratsprozess gegen Becher zu sprechen kommt. Dabei geht die Ermittlung der Behörden gegen Becher doch schon auf das Jahr 1924 zurück, als er erstmalig wegen verschiedener anderer kommunistischer Propagandaschriften und Gedichte verhaftet wurde, also auf einen Zeitraum, der noch vor der Entstehung des Romans liegt.145 Der Roman selbst war dann der Anlass für einen umfassenden Protest diverser (nicht nur linker) Schriftsteller gegen den Hochverratsprozess gegen Becher. Unterstützung erhielt Becher u.a. vom
143 Leujeune 1994, S. 28. 144 Ebd. 145 Vgl. dazu Behrens 2003, S. 90f.
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Schutzverband Deutscher Schriftsteller, der Gruppe 1925, von Maxim Gorki,146 Alfred Döblin, Arnold Zweig, George Grosz und Erwin Piscator; weiterhin schickten u.a. ein von Bertolt Brecht, Walter von Molo, Carl Zuckermayer, Alfred Kerr, Upton Sinclair und Henri Barbusse Protestschreiben und Telegramme.147 Erich Mühsam schrieb das Gedicht »Frei ist das Wort!«: Gehst du mit Gedichten trächtig, bist du auch schon fluchtverdächtig. Der Kulturwert des Gedichts, lieber Becher, nützt dir nichts. Denn »Der Leichnam auf dem Thron« Lebet noch; – nur stinkt er schon.148 Es ist nun wichtig zu beobachten, dass Becher in Levisite diese Diskussion um seine Person bereits aufgreift und weiter anheizt – und zwar, indem den für ihn verwendeten Begriff des Hochverräters durch seine Figur auf die Gegenseite ummünzt.149 Als Peter Friedjung zum ersten Mal beginnt, mit dem Kommunismus zu ›sympathisieren‹, führt dies zu einer Neubewertung der ›völkischen‹ Bewegung, der er vorher zugeneigt war. Hält er anfangs Karl Liebknecht für einen »hundsföttischen Vaterlandsverräter« (GW X, S. 17), sieht er später ein, daß die nationalen Phraseure sich im Grunde ihres Herzens keinen Deut um die wahren Interessen der Nation scheren, sondern: Profitjäger, Hasardeure, Spekulanten, Großschieber, Hyänen sind, ganz raffinierte, abgefeimte, ausgebrühte Burschen, die das Blut und das Lebensmark des Volkes aussaugen: die nationale Phrase aber als Köder benutzen, blindgläubigen, von dem sozialdemokratischen Regime enttäuschten Kleinbürgern gegenüber; und daß sie, ja daß sie die eigentlichen Volksverbrecher, Hochverräter, Landesverräter sind und die… ja, die Kommunisten, die revolutionären Proletarier, die eigentliche Lebens- und Schaffenskraft des deutschen Volkes […]. (GW X, S. 87) Augenscheinlich thematisiert der Roman hier für die Weimarer Republik alltägliche Ereignisse, die aber auch den Verfasser treffen, womit die Passage letztlich genau jenen Aufschrei antizipiert, der tatsächlich auf die Veröffentlichung von Levisite gefolgt ist. Dieser Umstand lässt ein klares Kalkül des Autors erkennen, der sehr wohl weiß, dass er mit seinen propagandistischen Texten die Justiz provoziert, und entsprechend den Skandal um Levisite voraussieht und gezielt hervorruft. Lassen
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Vgl. Holde 1928, S. 21f. Vgl. Mück 1991, S. 150. Mühsam 1983, S. 393. Vgl. dazu auch Eichhorn 2020, S. 94.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
schon die ursprünglich aufgefallenen Arbeiten aufgrund ihrer »militante[n] Hetze«, die »jeden akzeptablen Rahmen« sprengt,150 die Vermutung zu, dass Becher das herrschende System gezielt provoziert, ist die Wirkung des Romans von 1926 im Kontext der bereits laufenden Ermittlungen eindeutig einkalkuliert. Anders als bei den anderen im Prozess verhandelten Schriften kann Becher hier zunächst, indem er die Form des Romans wählt, mit einer wesentlich breiteren Unterstützung seiner Sache rechnen, weil nicht nur die Frage politischer Anschauungen und die Meinungsfreiheit allgemein151 im Fokus steht, sondern die Freiheit der Kunst bzw. die Fähigkeit, Meinungsäußerungen des Verfassers von seinem fiktionalen Werk trennen zu können. In diese Richtung gehen die Reaktionen der auch bürgerlichen Intellektuellen, die Becher gegen die Vorwürfe der Anklageschrift in Schutz nehmen und auf die Auflistung problematischer Stellen aus dem Roman152 mit dem Hinweis antworten, dass der Vorwurf des Hochverrats gegen Becher aufgrund der ästhetischen Formung unbegründet ist, denn bei den Äußerungen handle es sich um Fremdmaterial, das nicht dem Autor zugerechnet werden könne, sondern im Rahmen der Montagetechnik verarbeitet worden sei, »um einen erhöhten wirklichkeitstreuen und wirklichkeitsnahen Eindruck zu vermitteln.«153 Eine solche Trennung zwischen Meinung des Autors und fiktionalem Text wird rasch hinfällig, wenn man Bechers eigenen Beitrag in Holdes Sammlung liest.154 Im Gegensatz zu seinen Verteidigern verliert Becher nie das politische Ziel seiner schriftstellerischen Arbeit aus den Augen und er unterscheidet auch nicht zwischen Zitatmontage und seiner eigenen Position; stattdessen spricht er gerade im Namen des revolutionären Proletariats, für dessen Sache er sich verantwortlich fühlt. Dieser kleine Text Bechers macht entsprechend deutlich, worum es ihm eigentlich geht, weil schon seine Überschrift »Statt einer Autobiographie« den Blick doch wieder auf ihn selbst lenkt. Konsequenterweise geht es dann in »Statt einer Autobiographie« recht schnell nicht mehr um die Unterdrückung der Meinung des Proletariats, sondern um die Frage, wie man von einem »bürgerlichen Dichter[] zu einem Dichter des Proletariats«155 wird – also um Becher selbst und das Problem der Legitimation des eigenen Werdegangs, der als ein repräsentativer vorgestellt wird: »Auch ich habe eine Vergangenheit, die nicht nur meine eigene ist, die die Vergangenheit, die Tragödie einer ganzen Generation ist.«156
150 Ebd., S. 90. 151 Ludwig Geisenberg spricht der Einleitung zu Holdes Band mit Blick auf den Fall Becher von »Hochverrat gegen das freie Wort« vonseiten der Justiz (Holde 1928 #6}, S. 5). 152 Vgl. Holde 1928, S. 7f. 153 Holde 1928, S. 9. 154 Vgl. ebd., S. 15-17. 155 Holde 1928, S. 15. 156 Ebd.
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Und so ist es letztlich die Ebene der vom Roman ausgelösten gesellschaftlichen Diskussion, auf der sich die »agitatorische[] Energie« entfaltet, von der der Rezensent Adolf von Grolman spricht.157 Es geht um die gezielte Provokation der Behörden. Indem Becher nun aber seine Ideen in Romanform präsentiert, sichert er sich – im Namen der Kunstfreiheit – die Unterstützung nicht nur linker Intellektueller und kann so der Öffentlichkeit beweisen, dass die kommunistische Bewegung breiten Rückhalt hat, also zu Unrecht von der Weimarer Justiz verfolgt wird.158 Genau das ist es, was Becher anstrebt, wenn er davon spricht, dass das Buch ein »lebendiges Wesen« sein soll, dass unmittelbaren Anteil am Klassenkampf hat. Becher weiß, dass der Weg dahin über seine Person führt – weshalb er in dieser Zeit viel Energie darauf verwendet, sich eine neue Biographie zu erschreiben, die seine Entwicklung zum Kommunisten plausibel macht.
5.3.3
Vater/Sohn-Konflikt und persönliche Bekenntnisse
Bereits in den vorangegangenen Werkphasen fällt bei Becher die Tendenz auf, das eigene Schaffen immer wieder in den neuen literarischen Werken rückblickend zu beleuchten und sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Die eigentliche Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, die nun zur niemals versiegenden Quelle von Bechers literarischen Arbeiten wird, beginnt auffällig erst in den Jahren nach der Entscheidung zum KPD-Eintritt. Zu verweisen ist dabei zunächst auf die erwähnten Parallelen zwischen Peter Friedjung und seinem Erfinder, an dessen Geschichte Becher eine ganze Reihe von Motiven entwickelt, die im autobiographischen Roman Abschied (1940) wiederkehren. Sowohl Peter Friedjung als auch der Ich-Erzähler von Abschied Hans Gastl sind wie Becher die Söhne von Juristen, die sich nach und nach immer stärker von ihrer bürgerlichen Herkunft entfernen und schließlich offen mit der Welt der Väter brechen.159 Becher sendet entsprechende Signale schon über die Namen seiner Figuren: Die Romanväter, die schon den Beruf mit Bechers eigenem Vater gemeinsam haben, heißen fast immer Heinrich, die Söhne oft Hans oder Johannes;160 im Hintergrund ist mehr oder weniger deutlich Bechers Heimatstadt München zu erkennen.161 In allen Konstellationen gibt es
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Grolman 1927. Vgl. Eichhorn 2020, S. 95. Das Motiv wird in Abschied markanter inszeniert, weil es am Ende des Roman steht, während in Levisite dieser Konflikt – deswegen nicht weniger präsent – erzählerisch eher im Hintergrund abläuft und es keine direkte Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn gibt. 160 Den eigenen Taufnamen verwendet Becher schon den Prosastücken von Verfall und Triumph. In der Schlacht um Moskau lautet der Name des Vaters von Johannes Hörder allerdings Karl. 161 Aufgrund der Häufigkeit des Motivs auch in seinen Gedichten kann Becher später einen eigenen Lyrikband mit München-Gedichten zusammenstellen. Vgl. Becher: München in meinem Gedicht 1946.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
einen Konflikt zwischen Vater und Mutter, der an mindestens einer Stelle in Gewalt übergeht;162 die Mutter ist dabei stets einer liberaleren Position zugeneigt und unterstützt die Entscheidungen des Sohnes, während der Vater auf seiner Position beharrt. In Levisite wird schließlich auch noch Bechers Drogensucht auf Peter Friedjung übertragen, der gleichwohl im Lazarett und nicht im Kaffeehaus erstmals damit in Berührung kommt (vgl. GW X, S. 42ff.). Außerdem taucht in Levisite schon das »Trio« auf – der Vater trifft sich einmal wöchentlich mit zwei anderen Herren zum Musizieren –, das auch in Abschied eine Rolle spielt (GW X, S. 23ff.; GW XI, S. 51ff.). Wichtiger als diese biographisch schwer zu überprüfenden Details ist aber, dass Becher in diesen Jahren auffällig oft das Thema des Vater-Sohn-Konflikts behandelt. Wegen der namentlichen Übereinstimmungen mit der Realität hat die Forschung diesen Umstand gerne in der Weise gedeutet, dass Becher hier einen tatsächlichen Konflikt mit dem eigenen Vater literarisch verarbeitet. Dass die Behandlung des Problems widersprüchlich ist, hat man bemerkt, aber eher als Anzeichen für die »Inkohärenz in Bechers Darstellungsarbeit« genommen,163 dessen Beziehung zum Vater in Wirklichkeit von wesentlich weniger Ablehnung geprägt gewesen sei.164 In der Tat spitzt Becher hier vor dem Hintergrund der literarischen Tradition zu: Schließlich ist das Motiv des Vater-Sohn-Konflikts spätestens seit der Jahrhundertwende aus der Literatur nicht mehr wegzudenken. Gerade der Expressionismus hat hier einige prominente Beispiele aufzuweisen, die Becher auch nachweislich gekannt hat. Dennoch fällt auf, dass sich Bechers Texte in dieser Zeit im Gegensatz zum ebenso prominenten Thema des Geschlechterkampfs so gut wie nie dem Vater-Sohn-Konflikt widmen, schon gar nicht einer auch nur ansatzweise auf seine Herkunft anspielenden Weise. Becher greift das Motiv erst auf, als seine Hoch-Zeit innerhalb der literarischen Protestbewegungen eigentlich schon vorüber ist. Wenn die These stimmte, dass Becher hier tatsächlich reale Auseinandersetzungen mit seinem Vater verarbeitet, die ihn sein Leben lang nicht losgelassen haben, bliebe doch die Frage, warum er sich mit diesem Thema zu befassen beginnt, als er schon über ein Jahrzehnt aus
Der elterliche Streit über die Todesstrafe, den Peter Friedjung in Levisite als Kind mitanhört (GW X, S. 34f.), kehrt in Abschied fast identisch wieder. In Schlacht um Moskau wird der Vater, ein Nazi, am Ende von seiner Frau Maria erschossen. 163 Rohrwasser 1980, S. 69. 164 Man beachte, dass sich Rohrwassers Ausführungen im folgenden Zitat hauptsächlich auf die Romane Levisite und Abschied beziehen: »Die Vaterfiguren Bechers sind in ihren literarischen Traditionen so verpflichtet […], daß sie kaum eine wirkliche Kontur erkennen lassen. Es bleibt beim Abstraktum ›Vater‹ oder beim ›Archetyp‹. […] Daß der Vater dem Sohn mittels Paragraphen ›hilft‹ und ihn vor der Mordanklage rettet […], bleibt in den Autobiografien [!] ausgespart« (Rohrwasser 1980, S. 86). 162
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dem Elternhaus ausgezogen ist und ein mehr oder weniger unabhängiges Leben geführt hat. Man könnte argumentieren, dass das Problem von dem sehr viel traumatischeren Erlebnis des Suizidversuchs von 1910 verdrängt worden ist, aber auch darüber schreibt Becher nach 1914 kaum noch und kommt erst in seinem Exilwerk, namentlich in Abschied, wieder darauf zurück. Plausibler scheint daher, dass Bechers Interesse an der Thematik mehr mit seiner Entscheidung für den Kommunismus zu tun hat, wobei er die justiz- und verfassungskritischen Tendenzen der Weimarer Republik wie üblich als Material für sein eigenes Schreiben verwertet. Das intertextuelle Moment von Bechers Werk darf man auch hier nicht übersehen. Wenn das Ziel eine ›wirklichkeitsbesessene Dichtung‹ sein muss, die nicht mehr die überholten Mittel des vorherigen Jahrhunderts verwendet, sondern der Realität ihrer Zeit gerecht wird, dann sind »die bedeutendsten Reporter« und wahren Avantgardisten nun einmal Proletarier.165 Der Bürgerliche, der Sozialist geworden ist, muss sich deshalb ständig fragen lassen, inwiefern er der Sache der Arbeiterschaft überhaupt so ›nahestehen‹ kann, dass er den Anforderungen an eine angemessene Behandlung der Realität gerecht wird. Dieser Konflikt nun ist es, der bei Becher eine weitreichende literarische Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft auslöst, die in der Form des Vater-SohnKonflikts nur ihre wichtigste Zuspitzung erfährt. Dabei geht er den Weg, den auch schon die Naturalisten im späten 19. Jahrhundert wählen: Er thematisiert das soziale Elend und lässt diejenigen, die davon am meisten betroffen sind, in Form von Rollengedichten selbst zu Wort kommen. Freilich liegt der Fokus nicht allein auf dem durchschnittlichen Individuum, das für seine Klasse repräsentativ ist. Auffällig oft wird der Realitätsbezug in neusachlichen Texten nämlich keineswegs nur durch das reine Erfassen von Sachverhalten durch einen objektiven Beobachter hergestellt. Wirklichkeitsnähe verbürgt indes gerade das eigene Erleben, was letztlich auch die Basis für das Argument ist, dass proletarische Kunst von Proletariern gemacht werden muss. Was jemand wie Becher in diesem Zusammenhang braucht, ist eine glaubhafte Biographie, die ihm die nötige Autorität verleiht, um trotz des bürgerlichen Elternhauses innerhalb des revolutionären Diskurses seine Stimme erheben zu können. Und so entsteht 1928 mit Im Schatten der Berge der erste durchgängig subjektiv-autobiographische Lyrikband, in dem Becher alles darauf anlegt, dass man das lyrische Ich, das in allen 13 Gedichten ausführlich über sich selbst spricht, mit seinem Autor identifizieren muss. Schon der Titel ist ein Verweis auf die geographische Heimat des Dichters, die das gleichnamige Gedicht im ersten Vers auf den Punkt bringt: »Im Schatten der Berge bin ich geboren«166 – mit anderen Worten: in München. In dieser Weise geht es weiter. »Mein Vater war Staatsanwalt«, erfährt man 165 Becher: Vorwort zu Brennende Ruhr 1929, S. 10. 166 Becher: Im Schatten der Berge 1928, S. 6.
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schon im ersten Gedicht Meine Kindheit,167 wo außerdem wieder der Taufname des Dichters auftaucht, wenn der Vater fragt: »Wie steht’s,/Hans, mit den Schulaufgaben?!«168 Im dritten Text erinnert sich das lyrische Ich an die Zeit »Als ich noch an Gott glaubte«,169 womit diese Phase als überholt markiert wird. In Übereinstimmung dazu stehen die mit der Entscheidung für den Kommunismus verbundenen zeitgleichen Äußerungen Bechers, der – nachdem er in Glaubensfragen lange geschwankt war – sich nun in radikaler Abkehr von seiner erst Anfang der 1920er Jahre auf die Spitze getriebenen religiösen Haltung zum Atheisten erklärt. Wenn Becher inzwischen verstärkt die eigene Biographie in seine Texte einarbeitet und dabei gerade die genannten Elemente hervorhebt, so hat dies weniger damit zu tun, dass er verspätet unter dem Druck zu leiden beginnt, den der Vater auf ihn tatsächlich ausgeübt hat. Der Rückgriff auf Heinrich Becher erfolgt deshalb, weil er einen Beruf hat, an dessen Beispiel man gut die Justiz der Weimarer Republik kritisieren kann, deren Reformbedürftigkeit auch für Rechtwissenschaft und Politik der Zeit offensichtlich ist.170 In diesem Zusammenhang entdeckt man den Staatsanwalt als ideale literarische Figur, ohne dessen Wirken die Unterdrückung der Meinungsäußerung durch Gerichtsprozesses nicht in Gang kommen könnte. Ähnlich wie Wilhelm Herzog in seinem Vorspiel aus Rund um den Staatsanwalt 171 geht es auch Becher nicht so sehr darum, wahrhaft Bekenntnis über seine Kindheit und Jugend abzulegen, als um die Entlarvung eines falschen Systems. In der Überzeichnung der Rolle des Vaters als »Henker«,172 die mit der Karriere des Juristen Heinrich Becher wenig zu tun hat,173 zeigt sich eher der Versuch, ein stimmiges Bild zu zeichnen, das zu der Ideologie passt, die Becher nun für sich gewählt hat und als deren Vertreter er lautstark nach außen hin auftritt. Im Kontext der Selbstlegitimierung als ›rote Nachtigall‹ wird diese Rolle indes nur glaubhaft durch ihre biographische Rückkopplung, weshalb das verfälschte und zugespitzte Biogramm in Im Schatten der Berge rhetorisch als aufrichtige subjektive Reflexion präsentiert wird, als lege der Autor hier seine Gefühle unvermittelt offen. Der Effekt entsteht vor allem durch den Detailreichtum, mit dem das lyrische Ich in sämtlichen Gedichten aus einer späteren Perspektive auf die eigene Kindheit zurückblickt. Nicht nur wichtige Eckpunkte der eigenen Biographie kommen hier vor. Die Schilderungen erfassen auch Nebensächlichkeiten, die aber so detailliert vor das Auge des Lesers gestellt werden, dass man kaum anders kann, als diese Genauigkeit mit Max Herrmann-Neiße als »naiv-aufrichtige[], schlichte[] 167 168 169 170 171 172 173
Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 8. Vgl. zu den verschiedenen Kritikpunkten und Lösungsansätzen Petersen 1988, S. 15-53. Herzog 1928; vgl. dazu Petersen 1988, S. 20ff. Petersen 1988, S. 119. Vgl. Weber 2008.
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Darstellung von Kindheitserlebnissen« zu lesen.174 Becher zeichnet die Gespräche der Familienmitglieder auf, die auf die aktuellen Entwicklungen reagieren und somit eine zeitliche Verortung ermöglichen: Als ich noch glaubte an Gott, da waren die Zeiten ganz anders. Ich sagte zur Sonne »Du«, die über den Bergen schien. Am Sonntag trafen im Tierpark sich alle Verwandten. Gar Wundersames erzählte Onkel Max aus Berlin. Dort baue man bis in die Wolken Häuser aus Stahl, Und alle Straßen seien asphalten. »Wartet nur,« lachte der Vater, »eines Tags Machen sie künstliche Menschen mit Herzen, die nicht erkalten.« »Nie in meinem Leben« – warf hüstelnd die Tante ein – »Würde freiwillig in solch eine Großstadt gehen. Die Menschen dort sollen schrecklich schamlos sein. Zwar möchte ich gerne den Kaiser sehen.«175 Auch die Erinnerungen an die Spiele der Kindheit sind lebendig und detailreich: Dort auf dem Exerzierplatz – Es war in den neunziger Jahren – Haben wir gespielt, Als wir noch Kinder waren. Sammelten Patronenhülsen, Schlichen uns heran Durch ein Wäldchen zu den Geschützen. Überall an Zäunen und Bäumen »Betreten verboten« stand. […] Wir zogen die Mützen vor Herren Und Damen, die wir nicht kannten. Wir klingelten gern An fremden Türen und rannten. Räubergeschichten las ich Heimlich Nacht für Nacht.
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So die Charakteristik von Herrmann (Neiße) 1966, S. 56. Becher: Im Schatten der Berge 1928, S. 8.
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Ein Tag kam weiß. Schnee flog durchs Land. Wir schlugen eine Schneeballschlacht…176 Die Verse haben nicht zuletzt einen klar nostalgischen Ton, der die Kindheit zu einer Idylle werden lässt, deren Verlust entsprechend schmerzhaft ist: »O Träume der Kindheit, Spiele/Auf Plätzen und lustig Geschrei –/Wie die Blüten, die nachts zerfielen,/Traf mich ein Frost… Vorbei.«177 Es ist eine Sache darauf hinzuweisen, dass man der ›Aufrichtigkeit‹ der Schilderungen in Im Schatten der Berge misstrauen sollte, weil es durchaus markante Differenzen zwischen dem lyrischen Ich und dem Autor gibt. Der ›naive‹ Erinnerungsduktus macht darüber hinaus deutlich, dass die Identifikation von Sprechinstanz und Dichter mehr ist als die Frucht oberflächlicher oder methodisch unreflektierter Lektüre: Sie ist von Becher gewollt. Sieht man sich den Aufbau des Lyrikbändchens genauer an, was man angesichts der Mühe, die Becher auf derartige Buchkompositionen immer verwendet hat, tun sollte, dann fällt auf: Die ersten sechs Gedichte sind mehr oder weniger unpolitische ›Erinnerungen‹; aus ihnen stammen auch die oben angeführten Zitate. Demgegenüber geht Becher in der zweiten Hälfte des Buchs mehr und mehr dazu über, den Kindheitsrückblick ideologisch aufzuladen. Während das lyrische Ich zunächst einfach nur eine Idylle vor seinem geistigen Auge wiederauferstehen lässt und soziale Missstände bestenfalls im Vorbeigehen gestreift werden,178 geht es ab dem Gedicht »Meine Lehrer« grundsätzlich darum, wie aus diesem naiven Kind, das der Sprecher einmal war, ein Mensch mit politischem Bewusstsein geworden ist. Nicht zufällig klingt in dieser Überschrift das erste Gedicht »Meine Kindheit« nach, weshalb es eine anekdotische Schulgeschichte erwarten lässt, etwa wie die Schilderungen der einzelnen Lehrerfiguren in Abschied. Wer aber sind die einzelnen ›Lehrer‹ des lyrischen Ichs? Zunächst bewegt sich der Text wieder im Bereich der gutbürgerlichen Erziehung: Der Sprecher sucht – in Übereinstimmung mit »Als ich noch an Gott glaubte« – eine Antwort auf die Frage nach der Existenz Gottes und wendet sich dazu an seinen Schullehrer sowie an den eigenen Vater, die beide nicht bereit sind auf diese Frage zu antworten: Der eine eilt mit den Schulheften davon; der andere verlangt Schweigen bei Tisch.179 Danach sucht das lyrische Ich nach Antworten im Lexikon und schließlich bei Rimbaud. Die eigentlichen ›Lehrer‹, auf die der Gedichttitel hinauswill, sind aber noch andere: Hat den Sprecher bereits der Hunger »manches gelehrt«, ist der »beste Lehrer […] der Krieg«180 und schließlich 176 177
Ebd., S. 12. Ebd., S. 5. – Vgl. auch das Gedicht »Städte«: »Wenn ich daran denke, wie ich für immer von meinen Bergen Abschied nahm/Und das erstemal in die Städte kam –/Ich glaubte damals, mir wird/Das Herz aus dem Leibe gerissen« (Ebd., S. 9). 178 So im Gegensatz zwischen Reich und Arm in »Städte« (ebd., S. 9f.). 179 Vgl. ebd., S. 16. 180 Ebd., S. 17.
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fallen die Namen Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Karl Marx und – das letzte Wort im Gedicht – Lenin.181 Hier also sucht ein bürgerliches Kind Antworten auf drängende Fragen, die es aber auf dem gängigen Weg, innerhalb seines eigenen Umfelds, nicht finden kann, weshalb es sich schließlich über den Weg der Literatur zum Kommunisten entwickelt. Die genannte Reihe von ›Lehrern‹ macht einerseits deshalb Sinn, da Rimbaud eben nicht nur als Modernist Vorbild für eine avantgardistische Dichtung sein, sondern aufgrund seines Lebenslaufs auch politisch als sozial engagierter Autor interpretiert werden kann.182 Andererseits ist sie aber auch eine geschickte Auswahlerzählung von Bechers tatsächlichem Werdegang, zu dem auch die Rimbaud-Lektüre gehört, die Becher wieder einmal für sein Werk neu deutet. War der französische Dichter ursprünglich im ›Dreigestirn‹ mit Baudelaire und Kleist Repräsentant einer modernen Dekadenz, der sich Becher emphatisch angeschlossen hatte (Verfall und Triumph), um sie schließlich zur bloßen Vorstufe eines neuen expressionistischen Konzepts herabzusetzen (4.1.2; 5.2.2), wird Rimbaud schon 1916 von Becher als sozialistischer »Ethiker« gegenüber Baudelaire und Verlaine aufgewertet183 – eine Position, bei der Becher bis zum Ende seines Lebens bleibt.184 Wenn also auch hier die Übereinstimmungen zwischen lyrischem Ich und Autor offensichtlich sind, fällt doch auf, dass Becher den Lyrikband Im Schatten der Berge nutzt, um den eigenen Werdegang nicht nur nachzuerzählen, sondern vor allem stringent erscheinen zu lassen. Der Weg, den der Sprecher von »Meine Lehrer« beschreitet, stimmt schon mit dem Bechers überein; aber er läuft wesentlich zielgerichteter auf das Bekenntnis zum Kommunismus zu, als dies in Bechers Leben der Fall war. Und: Becher verlagert die wichtigen Einsichten, die ihn 1923 zu diesem Schritt geführt haben, in die Kindheit und Jugend seines Sprechers zurück. Dies entspricht im Wesentlichen der Strategie von Abschied, weshalb sich die Arbeiten der späten 1920er Jahre umso mehr als Vorstufen zu diesem autobiographischen Roman erweisen. Ähnlich geht das Gedicht »Unsere Musik« wieder von der bürgerlichen Herkunft seines Sprechers und des dort herrschenden Kunstgeschmacks aus, stellt aber fest »Die großen Meister der Tonkunst habe ich nie sehr geliebt,/Ich habe sie nur bewundert«. Aus diesem distanzierten Verhältnis zum bürgerlichen musikalischen Kanon erwächst ein Problem: »Was soll überhaupt alle ›schöne Musik‹?!«185 Hier wird klar, dass das lyrische Ich schon als Kind nicht ernsthaft interessiert 181 182 183
Vgl. ebd., S. 17f. Vgl. zur deutschen Rimbaud-Rezeption ausführlich Rauthe 2002. Vgl. den Brief an Katharina Kippenberg vom 9. August 1916 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 49). 184 Vgl. Rauthe 2002, S. 205ff. 185 Becher: Im Schatten der Berge 1928, S. 28.
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daran war, den Weg der Eltern einzuschlagen, weshalb es als Erwachsener dann auch einen anderen Ton findet. Lieber als die großen Komponisten hört es dem einfachen Volk zu: »Mundharmonika lieb ich und Dudelsack/Und wenn Menschen singen auf Wegen im Sommer«.186 Seines »Lebens schönste Musik«187 findet es schließlich in der »Internationale« und den Marschgesängen während der Russischen Revolution, woraus ein poetologischer Schluss gezogen wird: »Das ist die Musik, die ich selber bin!«188 Indem hier kein eindeutig vom Autor getrenntes Rollen-Ich spricht – die ersten Gedichte bemühen sich, den Boden für die Lesart als ›aufrichtige‹ Erinnerung zu bereiten – arbeitet Becher in Im Schatten der Berge gezielt daran, seine eigene Biographie neu zu erzählen. Er betont hier die Kontinuität von einer bestimmten Kunsteinstellung des Kindes – der bloßen Bewunderung, die eigentlich Abneigung gegenüber ›schöner‹ Musik ist – zu seiner aktuellen Entwicklung als Sänger der proletarischen Revolution. Ist man einmal darauf eingestellt, die Gedichte inhaltlich als Bekenntnisse zu lesen, zeigt sich der gesamte Lyrikband auf diese Weise von der Gegenüberstellung einer nahezu idyllischen bürgerlichen Jugend einerseits und der zunehmenden Einsicht des lyrisches Ich in die Brüchigkeit dieser Idylle andererseits geprägt. Dass die in der ersten Hälfte stehenden Gedichte weitgehend unpolitische Kindheitserinnerungen sind, bildet die Grundlage für die ›Authentizität‹ des Folgenden, aber auch den Gegenpol, um dessen ›Entlarvung‹ sich Im Schatten der Berge dreht. In diesem Kontext kommt auch der Vater-Sohn-Konflikt zum Tragen, der in den 1920er Jahren – anders als in Abschied – eigentlich noch gar kein wirklicher Konflikt ist. So unvereinbar die politischen Auffassungen von Peter und Heinrich Friedjung in Levisite auf den ersten Blick sind, wird doch kein eigentlicher Streit zwischen Vater und Sohn ausgetragen. Bechers Roman von 1926 weicht diesem Aspekt eher aus: Man erfährt zwar, wie Peter Friedjung zu den Kommunisten kommt, und man weiß auch, dass der Vater sich »mir keinen zweiten Fall Reuchlin junior« (GW X, S. 52) wünscht. Ihre Differenzen tragen die beiden aber in Levisite nicht aus; im Gegenteil kann man fast eher von einem versöhnlichen Ende sprechen, weil der Vater schließlich die Entscheidung seines Sohnes versteht und sogar als notwendig ansieht. Und auch in Im Schatten der Berge gibt es keinen Konflikt zwischen Vater und Sohn, der wirklich diesen Namen verdient. Der Vater ist hier sogar eher nur eine Randfigur, die zusammen mit den anderen Familienmitgliedern illustriert, aus welcher Schicht das lyrische Ich kommt, bevor es einen eigenen Weg findet. Wenn
186 Ebd., S. 29. – Vgl. hierzu in Abschied die Freundschaft des Erzählers Hans Gastl mit dem Zieharmonika spielenden Knecht Xaver. 187 Ebd., S. 30. 188 Ebd.
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der Vater – wie später in Abschied – als gefühlloser ›Henker‹ erscheint,189 dessen Wirken zu vielen Hinrichtungen führt, spricht der Sohn dies doch im Unterschied zu Hans Gastl noch nicht aus, sondern formuliert seinen Einwand, der die verurteilten Mörder rechtfertigt, nur still für sich selbst: »Viele haben gemordet wohl, dachte ich,/Weil sie gehungert haben«.190 Bezeichnenderweise wird das, was 1927 im neusachlichen Stil noch als ›Analyse‹ der Gesellschaft daher kam, in der zweiten Auflage von Die hungrige Stadt (1928) nun im Licht des Lyrikbands Im Schatten der Berge neu gedeutet und stärker mit Bechers Biographie in Zusammenhang gebracht. Gibt es schon vorher Verknüpfungen zwischen den beiden Gedichtbänden, weil Becher das Rollengedicht »Stein« aus der Erstauflage von Die hungrige Stadt in den subjektiven Band Im Schatten der Berge übernimmt und somit die Perspektive des hungernden Arbeiters mit der eigenen Herkunft verschwimmen lässt, führt die Neuauflage aus dem Jahr 1928 die beiden Bücher noch stärker zusammen. Die zweite Fassung von Die hungrige Stadt ist deutlich umfassender als die erste und verteilt die übernommenen Texte innerhalb des Werks. Erneut erweist sich eine genaue Analyse von Bechers konzeptioneller Zusammenstellung seiner Bücher als aufschlussreich. Neben einer großen Zahl von neuen Gedichten hat Becher die Verbindung zwischen den zwei Lyrikbänden Die hungrige Stadt und Im Schatten der Berge erweitert: Zusätzlich zum erneuten Abdruck von »Stein« enthält die zweite Auflage der Hungrigen Stadt nun auch die Gedichte »Meine Kindheit« und »Als wir noch Kinder waren«, die wesentlichen Anteil an der subjektiv-autobiographischen Wirkung von Im Schatten der Berge haben.191 Dass es folglich weniger um die kommunistische Botschaft als um den Autor und dessen Selbstbild als revolutionärer Dichter geht, zeigt sich außerdem am Abdruck des Protestschreibens gegen den Hochverratsprozess von Maxim Gorki, das »Der Verlag« anstelle eines Vorworts hinzusetzt. Dieses Schreiben nämlich unterstreicht wie kaum ein zweiter Text Bechers Zugehörigkeit zur kommunistischen Schriftstellerriege, die noch dadurch moralisch abgesichert wird, dass ihm Gorki neben Begabung auch Ehrlichkeit attestiert.192 Auf diesen Vorwort-Ersatz folgen nicht unmittelbar die Gedichte des Lyrikbands, sondern zunächst das Prosastück »Mit aufgekrempelten Ärmeln«, das wiederum alles tut, um den Autor als überzeugten Kommunisten zu etablieren, der – zumindest in Teilen – aus eigener Erfahrung heraus argumentieren kann. Die Omnipräsenz des Dichters zeigt sich einmal mehr darin, dass Becher seinen eigenen Namen in den Text schreibt. In 189 Auch hier sind Vater und Mutter als Gegenpole gezeichnet: Während sie sich im Krankheitsfall fürsorglich um ihr Kind kümmert und heimlich weint, ist der Vater selbst angesichts der Vollstreckung einer Todesstrafe ungerührt und antwortet auf die Frage seiner Frau, wie es gewesen sein, schlicht »Na, wie Hinrichtungen eben sind–« (Im Schatten der Berge 1928, S. 4). 190 Becher: Im Schatten der Berge 1928, S. 5. 191 Becher: Die hungrige Stadt 1928, S. 148ff. bzw. 153ff. 192 Ebd., S. 6.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
recht bissiger Ironie erzählt eine Passage von einem Kanarienvogel namens Hans, mit dem Vater »scherzte« und »pfiff«, was man dann wieder auf den Umgang mit seinem Sohn übertragen kann.193 Diese Konstellation allein stellt eine Parallele zur Thematik aus Im Schatten der Berge her, die noch durch explizite Anspielungen auf die dort enthaltenen Gedichte ergänzt wird. So sagt der Vater zum Sohn: »Du weißt. Ich bin Staatsanwalt«.194 Kurz danach referiert der Erzähler darüber, dass es in seinem Elternhaus Dinge gab, »über die wurde nicht gesprochen« und als Beispiel die auch im anderen Lyrikband eine zentrale Rolle spielende Frage nennt, »ob es wirklich einen lebendigen Gott gäbe«.195 Auch inhaltlich kehrt das Schema aus Im Schatten der Berge wieder: Wo dort ein kindliches Ich bereits die Missstände der Gesellschaft erkannt hat, die es nun zum Bekenntnis zum Kommunismus führen, verknüpft Becher hier Kindheit und Gegenwart durch das Motiv des Kindheitstraums vom ›vollendeten Menschen‹, auf den der Sprecher nun in der Massenbewegung des Proletariats endlich eine Antwort gefunden hat: »Der Weg, den ich früher in meinem ›Traum vom Vollendeten Menschen‹ gehen wollte und der mir damals immer schon im Ausgangspunkt in einer nebelhaften Ferne verschwamm, wurde mir plötzlich auf weite Strecken hin deutlich sichtbar.«196 Wenn man diese Beobachtungen zusammenzieht, lässt sich die bisherige Forschungsperspektive auf das Problem korrigieren. Becher geht es in den 1920er Jahren nicht primär um die Abgrenzung von der älteren Generation, die in der Person des eigenen Vaters bzw. der fiktiven Vaterfiguren seiner Texte einen Repräsentanten findet. Die Texte aus den Jahren unmittelbar nach dem KPD-Eintritt wollen etwas anderes: Sie drehen sich um die Frage, wie man als Bürgerlicher dazu kommt, sich dem Kommunismus zuzuwenden bzw. mit welchem Recht man in einer Bewegung als Künstler, aber auch als Mensch aktiv mitwirken kann, die eigentlich auf den Schultern der proletarischen Klasse ruht. Dieses Kernproblem ist nur insofern generationsabhängig, als die bürgerliche Idylle gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts brüchig wird und so notwendig für die in dieser Zeit aufwachsende Jugend am ehesten als überholt erkennbar ist. Allerdings kann – dies zeigt das Beispiel Heinrich Friedjungs – auch ein Angehöriger der Elterngeneration zumindest einsehen, dass dieser Weg der einzig richtige ist, wenngleich eine solche Einsicht, die ja die radikale Verneinung des eigenen Lebenswerks bedeutet, in diesem Alter nur noch in den Selbstmord münden kann. Dabei ist das Motiv des Bürgerlichen, der zum Kommunisten wird, vor allem ein Akt der Selbstinszenierung, der vor dem Hintergrund von Bechers poetologi-
193 194 195 196
Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 25.
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schem Grundprofil durchaus ins Bild passt. Wenn schon im Frühwerk die Tendenz markant wird, auf das eigene Schaffen zurückzublicken, es neu zu bewerten und als Vorläufer der aktuellen programmatischen Position ›auf Linie‹ zu bringen, erkennt man auch hier das Bemühen des nunmehr für die KPD tätigen und sich als politischer Dichter verstehenden Autors, seinen Lebenslauf so schildern, dass er eine plausible Folie für das Bekenntnis zum Kommunismus bilden kann. Gerade weil im Rahmen der neusachlichen Poetik Literatur nicht mehr von Wahrheit bzw. Wirklichkeit losgelöst wird, sondern gerade der Realität gegenüber verpflichtet ist, liegt es nahe, dass nun (gezielt ausgewählte und entsprechend gedeutete) biographische Elemente bei Becher in einem Maße Einzug halten, wie es bisher nicht vorhanden war. Das subjektive Element in der Lyrik wie in Levisite sichert letztlich die Glaubwürdigkeit von Bechers Weg ab und sie legitimiert für die kommunistische Leserschaft wie für die allgemeine literarische Öffentlichkeit die führende Rolle, die den Vertretern der bürgerlichen Klasse generell innerhalb der revolutionären Bewegung wie der proletarisch-revolutionären Kunst zukommt, und sichert so vor allem Bechers Rolle innerhalb der ›kommunistischen Literatur‹.
5.4 5.4.1
Zeitzeugenschaft einer deutschen Tragödie Neuorientierung um 1938/39: Becher und die Expressionismus-Debatte
Obwohl der Begriff ›Expressionismus-Debatte‹ ungleich trennschärfer die Diskussion bezeichnet, wie sie sich vorrangig in der Exilzeitschrift Das Wort abgespielt hat,197 ist sie mit dem alternativ gebräuchlichen Terminus ›Realismus-Debatte‹ eigentlich besser erfasst. Hinzu kommen bald darauf die literarischen Debatten um Realismus und Expressionismus von 1937/38.198 Dass in dieser Debatte vorrangig die linkspolitischen Schriftsteller die wichtigsten Akteure sind, deutet an, worum es im Kern dabei geht: nämlich um die Frage, inwiefern man sich mit dem Expressionismus noch identifizieren kann oder die Avantgarde, für die der Expressionismus in dieser Diskussion exemplarisch steht, wie Alfred Kurella behauptet, kausallogisch in den Faschismus mündet und deshalb von der antifaschistischen Front klar zurückgewiesen werden muss. Gottfried Benn liefert für die hochgradig ideologische Debatte das Beispiel eines Expressionisten, der sich später zum
197
Bertolt Brecht beteiligt sich öffentlich nicht an der Debatte, schreibt aber eine Reihe von Stellungnahmen, die zunächst unveröffentlicht bleiben. Vgl. Mittenzwei 1967. 198 Vgl. Schmitt 1973.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Nationalsozialismus bekannt hat, von dem aus Kurella seine berühmte Verallgemeinerung vornimmt.199 So sehr Kurella den Expressionismus und Klaus Manns Artikel über Gottfried Benn zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, dreht sich die Debatte im Kern doch um eine grundsätzliche ästhetische Frage, die man in Moskau und in den rezipierenden kommunistischen deutschen Kreisen schon seit den 1920er Jahren führt.200 Mit Lukács’ berühmten Aufsatz gesprochen ›geht‹ es von Anfang an ›um den Realismus‹; die Frage ist nur, was man unter ›Realismus‹ versteht. Dominieren Anfang der 1920er Jahre avantgardistische Ansätze, die mit ›Realismus‹ die immer stärkere Reduktion auf das ästhetische Grundmaterial bezeichnen, mit der sich erst zum eigentlichen Wesen der Dinge vordringen lässt,201 gewinnen schließlich wieder die Positionen überhand, die mit Rücksicht auf die Massenverständlichkeit der Kunst auf einen stärker an der Mimesis-Konzeption des 19. Jahrhunderts orientierten Realismus-Begriff zurückgreifen.202 Schon seit 1932 war der Sozialistische Realismus in der UdSSR Parteilinie203 und es ist letztlich die kritische Auseinandersetzung mit dieser Vorgabe, in der Lukács die wesentlichen Züge seines so stark nachwirkenden ästhetischen Konzepts entwickelt.204 Die Betrachtung der Werke aus den späten 1920er Jahren zeigt, dass auch bei Becher in dieser Zeit bereits eine Abkehr vom avantgardistischen Formexperiment zu erkennen ist und dass er nun stärker auf einen neusachlichen Ton zurückgreift, der durch die subjektiv-biographische Folie in der Realität verankert wird. Was sich in der Exilzeit ändert, sind vor allem zwei Dinge: Erstens kommt die radikale Kritik an inhaltlich leeren Formhülsen hinzu. Zweitens zeigt sich ein verändertes Verhältnis zum literarischen ›Erbe‹, um das sich die Diskussion wesentlich dreht.205 Bechers kritische Sichtung des eigenen Frühwerks in diesen Jahren ist der unmittelbare Niederschlag der Expressionismus-Debatte, denn die Argumente, die für und gegen diese Kunstrichtung vorgebracht worden sind, gehen ihn als ehemaligen Expressionisten ebenso an wie Benn. Wie schon die Frage, inwiefern ein Bürgerlicher kommunistische Literatur schreiben kann und darf, Becher in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre dazu bringt, seine Kindheit und Jugend erstmals intensiver zu beleuchten, löst auch die Expressionismus-Debatte bei ihm ein erkennbares Legitimationsbedürfnis aus: Das expressionistische Frühwerk, mit dem
199 Ziegler (= Kurellla) 1973. 200 Dabei erweist sich Lukács’ Ablehnung der Dekadenz von Anfang an als konsensfähig, wohingegen sich Lukács’ spezifisches Kunstkonzept erst ab 1939 als Leitlinie durchsetzt (vgl. Schiller 1986, S. 422ff.). 201 Vgl. dazu oben im entsprechenden Kapitel. 202 Vgl. zu den ersten Ansätzen Zimmermann 2007, S. 194. 203 Vgl. im Detail Erbe 1993, S. 36ff. 204 Vgl. Klatt 1984. 205 Vgl. Erbe 1993, S. 50ff.
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Becher eigentlich schon lange abgeschlossen hatte, wird nun noch einmal kritisch gesichtet, um die eigene Entwicklung biographisch wieder plausibel zu machen bzw. (indirekt) die Differenz zu Expressionisten wie Benn herauszustellen, dessen Weg, wie er noch 1958 feststellt, leicht auch der seine hätte werden können (GW XIV, S. 539). Dabei kann man die aus der Ablehnung des Formalismus stammenden Töne sowohl aus den entsprechenden poetologischen Texten als auch aus der Expressionismus-Episode in Abschied deutlich heraushören. Deswegen besteht die Lösung nicht in der Aufwertung des Inhalts zugunsten der vormals allein bestimmenden Form, vielmehr in der Ersetzung freier ungezügelter Formexperimente durch strenge Formvorgaben, namentlich durch die Entdeckung und entsprechende Profilierung des Sonetts. Inhalt und Form sind nach Becher nicht voneinander zu trennen, was konkret bedeutet, dass eine stark reglementierte Metrik nicht nur eine Präzisierung der inhaltlichen Aussage bewirken kann, sondern den Autor auch zu einem besseren Menschen macht. Indem »ein schlechter Vers weniger ein technisches Versagen als das Abbild einer menschlichen Schwäche« ist,206 übt das Sonett auf Becher nun vor allem eine »moralische Anziehungskraft« aus und wird von ihm dafür in Anspruch genommen, seinem »sprunghaften, sprengenden Temperament« und seiner »hemmungslosen Ausdehnungssucht« Grenzen zu setzen.207 Doch nicht nur diese subjektive Motivation treibt Becher nach eigener Aussage zum Sonett. Er sieht darin auch eine Möglichkeit, die Qualität der Dichtung zu bewahren. Denn das Sonett ist aufgrund seiner beschränkten Länge »für Formverspieltheiten aufgeblasener, wesenloser Wichtigtuer […] ganz und gar ungeeignet« und verlangt stattdessen »Wissen, Bildung und einen Geschmack, der weder plump noch übermodern verderbt ist.«208 Mit dieser Zielsetzung hängt Bechers verändertes Verhältnis zur literarischen Tradition eng zusammen, das er eindeutig von Lukács übernimmt,209 dabei aber besondere Vorlieben entwickelt, die zunächst aus der Exilsituation resultieren und die sich deshalb mit denen der bürgerlichen Autoren in den nichtsozialistischen Exilländern überschneiden.210 Dies betrifft die Wahl des Sonetts, das im Exil sich generell als »Form des Protests« entwickelt,211 ebenso wie die zugrunde liegende politisch-ästhetische Situation: Angesichts des nun in Deutschland herrschenden Nationalsozialismus, der sowohl kommunistische als auch bürgerliche Schriftsteller aus dem Land treibt, hat sich die Hoffnung auf eine Revolution nach russischem 206 207 208 209 210 211
Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten. Eine Voranzeige, S. 111. Ebd., S. 113. Ebd., S. 114. Vgl. Barck 1975. Allerdings gibt es auch den Parallelen zu den Autoren der Inneren Emigration (vgl. Schäfer 1973, S. 363). Ziolkowski 1972.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Vorbild auf deutschem Boden (vorerst) erledigt. Die Lage lässt nun die Suche nach Verbündeten notwendiger erscheinen als die gegenseitige Schuldzuweisung. Die These des Sozialfaschismus und die Forderung nach einer radikal antibürgerlichen Kunst treten in den Hintergrund zugunsten der Bildung einer gemeinsamen antifaschistischen Front. In diesem Sinne baut Becher nach und nach Brücken hin zu den bürgerlichen Schriftstellern, selbst zu Thomas Mann, den er noch zu Beginn seines Exils zuvor scharf kritisiert hatte.212 Während viele Exilanten die »Gipfelgestalten der Weimarer Klassik« eher als »Chiffren für eine kulturelle Leistung« im Munde führen, sich aber eigentlich eher auf Heine oder Büchner stützen, setzt sich Becher tatsächlich intensiv mit der Zeit um 1800 und vor allem mit Goethe auseinander.213 Stand dieser für ihn lange Zeit für eine überholte bildungsbürgerliche Kunstauffassung, kommt Becher – von Lukács inspiriert – auf den klassischen und späten Goethe zurück, dessen Poetik als Leitschnur zur Entwicklung der eigenen ästhetischen Grundsätze dieser Jahre fungiert.214 Goethe wird für Becher gerade deshalb wichtig, weil er als deutscher Nationaldichter eine Verbindung zur Heimat herstellen kann, auf die der Exilant nur literarisch Zugriff hat, und man Goethes Werk wie das zahlreicher anderer deutscher Klassiker gegen die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten schützen muss.215 Darüber hinaus entdeckt Becher in der Poetik des klassischen und des späten Goethe einen Zug, der vor dem Hintergrund der selbstkritischen Auseinandersetzung mit seinem expressionistischen Frühwerk eine Identifikation nahelegt: das Konzept der Entsagung. Dabei ist es für Bechers Goethe-Bild von Bedeutung, dass er den Dichterfürsten nicht zuletzt gerade als Autor von Sonetten rezipiert und seine eigene »Heimkehr ins Sonett«216 aus ihr heraus begründet. Becher bezieht sich in der »Voranzeige« des Glücksucher-Bandes mehrfach auf Goethe.217 Wenn er schließlich auf das Sonett zu sprechen kommt, ist explizit nicht mehr von dem Weimarer Dichterfürsten die Rede, dessen Entsagungskonzept aber erkennbar die Folie dessen abgibt, was Becher über die Vorzüge der vierzehnzeiligen Gedichtform zu sagen hat. Mit Blick auf sein bisheriges Werk, das von einigen extremen Umschwüngen geprägt war, zeichnet Becher hier das Selbstbild, das auch die aktuellen Biographien mehr oder weniger prägt, das aber auffällig viel mit Goethes Rückblick auf seine Sturm-und-Drang-Phase gemeinsam hat. Wie der späte Goethe seinem jugendlichen Überschwang Entsagung und Maß entgegensetzt, sieht sich Becher gleichfalls 212 213 214 215 216 217
Vgl. zu Bechers schwierigem Verhältnis zu Thomas Mann Behrens 2003, S. 162ff. Schiller 2010, S. 260f., die Zitate 260 bzw. 261. Vgl. zum durchaus nicht identischen Goethe-Bild bei Becher und Lukács Barck 1975, S. 266f. Vgl. zur Klassiker-Rezeption während der NS-Zeit im Überblick Ehrlich 1999; vgl. zu Bechers Ziel der ›Befreiung des Erbes‹ auch Barck 1975, S. 257f. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten. Eine Voranzeige, S. 113. Ebd., S. 111; 112; 115.
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vom Sonett »in eine heilsame Zucht« genommen: Ich wurde gezwungen, mich in der Beschränkung zu bewähren.«218 Becher kommt auf das Sonett erstmalig im Lyrikband Der Mann, der alles glaubte (1935) wieder zurück,219 dessen letzter Teil weit mehr als 50 Texte dieser Gedichtform enthält, die – in insgesamt noch stark neusachlichem Ton – nun davon zeugen, wie sich Becher langsam von einem Avantgardismus entfernt, der seinen Neuerungsanspruch einzig der Forminnovation verdankt. Im programmatischen Gedicht »Über das Sonett« reflektiert Becher dieses Problem und liefert eine erste Begründung dafür, warum er nun zu einer Form zurückkehrt, die er doch selbst lange »für veraltet und verschlissen« gehalten hatte.220 Anstatt freilich den Appell zur Revolution auch der Form ganz aufzugeben, zeigt sich Becher nun skeptisch gegenüber Forminnovationen, die rein um ihrer selbst willen vorgenommen, aber dem »neuen Wesen« der Zeit nicht gerecht werden.221 Folglich zeichnet sich eine moderatere Einstellung zur Tradition ab, aus der heraus sich das Neue geradezu unmerklich entwickeln lässt: »Bedenkt, die neuen Formen, die beginnen,/Entstehen, uns kaum sichtbar und von innen.«222 Fremd war Becher die Gedichtform schon in seiner expressionistischen Phase nicht. Danach hat er sie allerdings weitgehend aufgegeben, bis es im Exil zu einer (übrigens auch bei anderen Autoren zu bemerkenden223 ) Neuentdeckung kommt, die weitreichende Folgen hat. Während in der expressionistischen Dichtung das Sonett für Becher nur eine von mehreren lyrischen Formen ist, die bei einigen Autoren in dieser Zeit vorkommt, aber von Becher poetologisch nicht weiter profiliert wird,224 ändert sich das in der Exil- und Nachkriegsphase entscheidend. Jetzt nämlich arbeitet Becher gezielt daran, sich als Sonettdichter zu etablieren. Dies gilt nicht erst für seine Arbeit in der frühen DDR, als er seine bisherigen Sonette in einer gemeinsamen Sammlung zusammenfasst (Sonettwerk, 1956) und im Rahmen der Bemühungen auch eine eigene Sonett-Theorie vorlegt (GW XIV, S. 603-632). Diese erhöhte Konzentration auf das Sonett hat Distinktionswert. Wenngleich andere durchaus auch Sonette schreiben – man denke an Brecht –, wird ihr Werk doch nicht im selben Ausmaß mit dieser Gedichtform identifiziert, wie Brechts Gedicht »An einen befreundeten Dichter, seiner Deutschlandgedichte wegen« zeigt, das in Anspielung auf Bechers Vorliebe in Sonettform daherkommt.225
218 219 220 221 222 223 224 225
Ebd., S. 113. Vgl. dazu auch Haase 1964 S. 5. Becher: Der Mann, der alles glaubte 1935, S. 144. Ebd. Ebd. Vgl. Ziolkowski 1972, zu Becher insb. S. 160ff. Vgl. zum Sonett in der Exildichtung den wegweisenden Aufsatz von Ziolkowski 1972. Brecht 2005 Bd. IV, S. 300.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
In der »Voranzeige« deutet sich außerdem bereits das an, was Becher später das »Leistungsprinzip« der Dichtung nennen wird (GW XIV, S. 256). Dahinter steckt der Gedanke, dass sich jeder Dichter an den Werken der Kollegen – sei es der Vergangenheit oder der Gegenwart226 – messen muss und dabei das Streben, ein besserer Mensch zu werden, einhergeht mit der Perfektionierung des ›technischen Könnens‹.227 Diese Zeilen wirken fast wie eine Prosafassung der berühmten Goethe-Verse aus dem Drama Was wir bringen: So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen. Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben. Wer Großes will, muß sich zusammen raffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.228 Becher präsentiert sich hier erstmals nicht mehr nur als Autor, der mit der mit der unmittelbar vorangegangenen eigenen Werkphase scharf ins Gericht geht und daraus neue ästhetische Maßstäbe ableitet. Durch die Auseinandersetzung mit der klassischen Periode spitzt sich diese Grundkonstellation aus Rückblick und Neuerschaffung der eigenen Dichteridentität jetzt zu einer Ethik zu, die zuerst verlangt, dass man ein ›guter‹ Mensch ist, und die Möglichkeit, qualitativ hochwertige und brauchbare229 Werke zu schaffen, davon unmittelbar abhängig macht. Er inszeniert sich deshalb als jemand, der vor allem sich selbst »in Ordnung« bringen will.230 Weil der bisherige eigene Weg grundsätzlich als ein ›falscher‹ angesehen wird, an dem der Dichter leidet, wird die Bezwingung des Selbst zum entscheidenden Auswahlkriterium, um zu entscheiden, was für die Zukunft Bestand haben wird: »Ja, wenn es möglich wäre, sollte man/Sich ein Gedicht ein Jahr lang aufbewahren«, um immer wieder fragen zu können: »Ist sein Gewicht nicht durch die Zeit geschwunden.«231 Angesichts solcher Verse wird bei den Rezensenten nicht ohne Grund der Eindruck von Authentizität erweckt: »Man glaubt dieser Dichtung ihre Demut, die der Schlüssel zu ihrer Form ist. Welche Selbstentäußerung in der der Selbstbewahrung!«232 Der Expressionismus bildet dazu das (biographisch besiegte) ästhetische Gegenmodell, das durch das krasse Ausufern der Sprache gekennzeichnet ist, der kein 226 227 228 229
Vgl. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten. Eine Voranzeige, S. 112. Ebd., S. 111. Goethe 2006, S. 780. Zur Relevanz der Gebrauchskunst vgl. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten. Eine Voranzeige, S. 112. 230 Ebd., S. 112. 231 Becher: Gewicht der Zeit. In: Internationale Literatur 7.8 (1937), S. 23. 232 Viertel 1951, S. 164.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
nennenswerter Inhalt mehr gegenübersteht. In der Expressionismus-Episode in Abschied, in der der Erzählstil Bechers exzentrische Sprache der 1910er Jahre ironisch nachahmt, entsteht dadurch die witzige Pointe, dass Hans Gastl und seine Dichterfreunde »vonseiten der Behörden« allem revolutionären Gestus zum Trotz »unbehelligt« bleiben, da diese »unsere Hierglyphen nicht zu entziffern vermochten« (GW XI, S. 351). Bei aller Formalismus-Kritik, die hier einfließt, besteht das größere Problem für Becher in der Regelfeindlichkeit dieser frühen Phase des eigenen Werks (vgl. GW XI, S. 347), denn sie signalisiert jene Sprunghaftigkeit, von der in der »Voranzeige« die Rede ist. Darin aber sieht er jetzt – und diese Position haben seine Biographen zu oft unhinterfragt übernommen – ein Anzeichen von Charakterschwäche und Scheinheiligkeit. Die Figur Hans Gastl bricht in diesem Sinne als Expressionist nur scheinbar mit der eigenen Herkunft und deren Leitsätzen: »Ich konnte sagen, was ich wollte […], und man brauchte dabei das behagliche Heim nicht aufzugeben« (GW XI, S. 352). Nicht ohne Grund geht es in Abschied wie auch in vielen Gedichten der Zeit gerade um das Problem, ›standhaft‹ zu bleiben. Hinter der gutbürgerlichen Welt, der Hans Gastl schließlich doch noch eine klare Absage erteilt (5.4.3), scheint die nationalsozialistische Blendung des deutschen Volks unverkennbar durch. Damit aber wird der Expressionismus – und das ist die Klammer zu Benn und zur Expressionismus-Debatte – ein Symbol für die Verführbarkeit durch falsche Ideologien. Darin besteht die Parallele nicht nur zwischen Becher und dem autobiographisch inspirierten Ich-Erzähler seines dritten Romans, sondern eben auch zwischen Becher und Benn, die beide als Expressionisten in der gleichen Ausgangslage waren, dann aber unterschiedliche Richtungen eingeschlagen haben.233
5.4.2
Exemplarische Lebensgeschichten I: Schlacht um Moskau
Obwohl Becher sich selbst nicht an den Diskussionen um den Expressionismus beteiligt hat, lassen seine literarischen Werke der Zeit klar eine intensive Beschäftigung mit diesen Fragen erkennen, deren Niederschlag in der Aufwertung der
233 Im zweiten Teil der Bemühungen imaginiert Becher wiederum in hochironischem Bewusstsein für den eigenen Sprachduktus des Frühwerks, was aus ihm geworden wäre, wenn er Benns Weg mitgegangen wäre: »Aber was mich betrifft, so lag in mir durchaus die Möglichkeit, zu einem Sänger der Sintflut, des Weltuntergangs zu werden, einer ›großartigen‹ nihilistischen Konzeption mit Verzweiflungsausbrüche, menschlichen Vulkaneruptionen vergleichbar […]. Diese Visionen wären aber von einer grotesken Abruptheit und einer brutalen Gewalttätigkeit geworden im Vergleich zu Benns behäbigem Dahindämmern und idyllischem Kokettieren mit einem Menschheitsdebakel. Nein, gemütlich wäre die Welt bei mir nicht zugrunde gegangen wie bei Benn« (GW XIV, S. 539).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
literarischen Tradition am deutlichsten zum Ausdruck kommt (4.2). Das Besondere an Bechers Schaffensphase ab 1933 besteht nun darin, in welcher Weise er die Verarbeitung von autobiographischem Material mit diesem neuen Dichtungskonzept und der nationalen Perspektive verknüpft. Wie oben bereits ausgeführt, ist es erst das Bekenntnis zum Kommunismus, das Becher zur literarischen Aufarbeitung seiner eigenen Herkunft bewegt, weil die Theorie vom Klassengegensatz den Dichter bürgerlicher Abstammung notwendig zur Legitimation zwingt, wenn er für das Proletariat sprechen will. In den Exiljahren nimmt Bechers Beschäftigung mit der eigenen Jugend noch einmal zu und erreicht ihren Kulminationspunkt im autobiographischen Roman Abschied (1940). Das autobiographische Moment ist nun indes nicht mehr aus Legitimationsbedürfnissen heraus zu begründen. Diese Deutungsdimension entfällt schon aufgrund der Einheitsfront-Bestrebungen, die die vorherige starke Betonung der Klassengegensätze zugunsten der gemeinsamen Opposition gegen den Faschismus zusammen mit den bürgerlichen Schriftstellern zurücktreten lässt.234 Die Antwort liegt vielmehr in Bechers Selbstinszenierung als ›deutscher Dichter‹, die nicht umsonst auf die (eigene) Person des Autors Bezug nimmt und nicht auf die ›deutsche Dichtung‹ als Ergebnis des dichterischen Produktionsprozesses, denn ein qualitativ hochwertiges Werk hat jetzt die ethisch-moralische Stärke seines Erschaffers zur Voraussetzung. Letztere ist freilich keinesfalls von Anfang an gegeben. Unter den Lasten, die der Glücksucher aus Bechers Lyrikband von 1938 zu überwinden hat, sind nicht nur äußere wie die »Last des Hungers«, die »Last des Kriegs« oder die »Last der Ängste und die Todeslast«.235 Schließlich kommt der »Last des falschen Wegs«236 eine besondere Bedeutung zu, die von Becher dazu eingesetzt wird, den politisch schwerwiegenden Irrtum anzuprangern, der sich im Erfolg des Nationalsozialismus äußert. Die »Last des falschen Wegs« ist darüber hinaus in Übereinstimmung mit dem Konzept des vertriebenen Autors, dessen Schreiben von seiner Biographie verbürgt wird, auch höchst subjektiv gedacht und lässt im individuellen Fall die ›großen‹ nationalen Irrwege durchscheinen, auf die es den Zeitgenossen ankommt: Becher sagt wieder »Ich« und gibt sein Ich, dessen innere und äußere Kontinuität, dessen intime Erfahrung als eine gesetzmäßige Entwicklung, als ein Beispiel und Vorbild für alle Menschen. Er dichtet den Weg; den einen, ganz bestimmten, den er gegangen ist. Davon handelt sein Buch, das ist sein Buch.237
234 235 236 237
Vgl. dazu im Einzelnen Behrens 2003, S. 146ff. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 22. Ebd., S. 22. Viertel 1951, S. 163.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Was das Individuum an inneren Kämpfen aussteht, um die eigenen Schwächen zu überwinden, ist auf diese Weise direkt an die deutsche Geschichte gekoppelt. Immer wird zunächst ein ›falscher Weg‹ eingeschlagen und wenn das »Ich« schließlich den richtigen findet, steckt darin die Hoffnung auf eine Überwindung auch des Nationalsozialismus. Das »Ich«, das bei Becher nun vermehrt auftritt, ist nun aber eben kein beliebiges Vorbildsubjekt, sondern ein »Ich«, aus dem der Autor selbst zu sprechen scheint, sei es wegen des subjektiven Tons in der Lyrik oder aufgrund der autobiographischen Grundlage, auf der fiktiven Figuren in Roman und Drama aufbauen. Dass Bechers Glücksucher seinerzeit so positiv aufgenommen worden ist und als Bechers wichtigster Lyrikband überhaupt gilt, liegt wesentlich an der Verknüpfung historischer Fragestellungen mit dem Problem der Identitätssuche und der Zeugenschaft238 – Kategorien, die auch in der älteren Exilliteraturforschung eine zentrale Rolle spielen.239 Deshalb sieht Alfred Döblin hier auch »ein[en] neue[n] ›Becher‹, de[n] beste[n], den ich kenne«, den er gleichsam über Brecht stellt.240 Das beste Beispiel für die Verbindung von Selbstinszenierung und nationaler Thematik bietet einmal mehr die Schlacht um Moskau, zumindest in ihrer Erstfassung. Der Protagonist des Stücks, dessen Name ihn allein schon als Wiedergänger des Autors ausweist, hat wieder einen Juristen zum Vater, der gleichsam als Antagonist eine bürgerliche Herkunftswelt verkörpert, von der sich Johannes (!) Hörder als Nachfolger von Peter Friedjung nach und nach lösen muss. Durch den Vergleich zum Dreißigjährigen Krieg wird die Epoche zwischen 1914 und 1942, als das Drama entsteht, zu einer Einheit. Deshalb kann die Handlungsstruktur auch im Kern dieselbe bleiben wie in Levisite, auch wenn Hörder im Unterschied zu Friedjung nicht Soldat im Ersten, sondern im Zweiten Weltkrieg ist und der Vater vom kaisertreuen Beamten zum »Beisitzer des Volksgerichtshofes« und Obergruppenführer der SS wird (GW VIII, S. 414). Karl Hörder, wie sein Name lautet, kommt anders als Heinrich Friedjung nicht mehr zur Einsicht in seinen Irrweg; dieser Schritt bleibt dem Sohn vorbehalten: Zu Anfang überzeugter Soldat in der deutschen Armee erreicht er begeistert die ›welthistorische‹ Anhöhe 100 km vor Moskau, wo er eine entsprechende Erinnerungstafel aufstellt (GW VIII, S. 399). Obwohl er für diese Tat das Ritterkreuz erhält, erkennt er im Laufe der Handlung seinen Fehler und wird nach einer Befehlsverweigerung inhaftiert und getötet.241 Dabei findet Johannes Hörder nicht allein den Weg zum Kommunismus, der ihn mit den Russen sympathisieren lässt. Er hat einen Vorläufer in seinem Freund Gerhart Nohl,
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Vgl. dazu exemplarisch Viertel 1951. Vgl. Feilchenfeldt 1986, S. 8. Brief von Alfred Döblin an Becher am 27. April 1938 (JRBA 27). Da Hörder sich weigert, Selbstmord zu begehen, trifft ihn vermutlich die angekündigte Handgranate (vgl. GW VIII, S. 577).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
der seinerseits seine Überzeugung einem im Konzentrationslager umgekommenen Genossen verdankt (vgl. GW VIII, S. 425). Das Widerstandslied des Genossen durchzieht das Drama als Leitmotiv und auch die anderen beiden Hauptfiguren sind letztlich als Künstler einzustufen.242 Gerhart Nohl erweist sich im fünften Abschnitt des ersten Teils als BauhausSchüler, der nun daran verzweifelt, statt einer ›neuen Welt‹ allein den Krieg mit aufgebaut zu haben (GW VIII, S. 434). Diese Passage fehlt in der Fassung von 1953. Was bleibt, ist Nohls Erinnerung an seinen namenlosen Freund, der im Konzentrationslager umgekommen ist und dessen Poem im Laufe des Dramas rekonstruiert wird: Wenn alles schweigt, weil eine solche Knechtschaft Das Volk bedrückt, daß keiner zu erheben Die Stimme wagt, dann muß es einer sein… […] Und diesem einen werden andere folgen, Bis eines Tages dieser eine ist Das ganze Volk – so muß es einer sein, Der aufsteht und im Namen seines Volkes Die Wahrheit ausruft, durch die Tat beweist… (GW VIII, S. 446) Schon die Figur des Kochs Oberkofler stellt über die Grimmelshausen-Folie (4.2.2) einen Bezug zwischen dem Inhalt des Stücks und der Biographie seines Verfassers her. Der Ich-Erzähler Simplicius Simplicissimus ist in vielerlei Hinsicht nach dem Vorbild seines Erfinders konstruiert, was Grimmelshausen u.a. dadurch zu erkennen gibt, dass der richtige Name der Hauptfigur ein Anagramm seines eigenen ist.243 Grimmelshausen schreibt sich also ebenso in seinen Roman ein, wie Becher dies in Bezug auf sein Drama tut, und in beiden Fällen entstehen dabei Narrenfiguren, die das gesellschaftliche Panorama beobachten und – obwohl sie als naiv und unwissend erscheinen – die Welt doch besser durchschauen als alle vernünftigen Leute um sie herum. Aber auch Johannes Hörder ist ein Dichter – bzw. zu Anfang der Handlung ist er ein Dichter gewesen, denn sein Soldatentum hat ihn von der Dichtung entfernt, wie die unterschiedlichsten Figuren im Stück bemerken. Dabei ist wichtig, wofür die Dichtung in diesem Zusammenhang steht. Im Vorspiel, als Hörder und 242 Jost Hermand sieht darin die Ursache für Rezeptionsschwierigkeiten von Bechers Stück, da das Publikum »mit dem Halb-Plebejertum des Brechtschen Schweyk eher sympathisieren« könne »als mit der hochgestochenen Bürgerlichkeit der Hauptfiguren in Bechers Schlacht um Moskau« (Hermand 2001, S. 238). 243 Dem Ausmaß, in dem Grimmelhausen die eigene Biographie in sein Werk eingearbeitet hat, widmet sich die ältere Forschung ausführlich. Vgl. nur Alt 1969.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Nohl die ›welthistorische Anhöhe‹ ersteigen, schwärmt Gerhart von der russischen Gemeinschaft, was zu folgendem aufschlussreichen Dialog führt: JOHANNES HÖRDER: So hab ich dich noch nie gehört… Du schwärmst – ein Dichter. GERHART NOHL: Du warst ein Dichter. Du hast zu dichten aufgehört. Vielleicht dichtet es einmal in dir wieder. JOHANNES HÖRDER: Warum nur hat in mir das Dichten aufgehört? GEHART NOHL: Das zu beantworten, Hörder, würde zu weit führen, hier auf dieser Anhöhe, dieser welthistorischen Höhe. (GW VIII, S. 401) Das Dichtersein wird hier mit Idealismus und dem Kampf für Menschlichkeit verbunden – in der Logik des Stücks kann dies natürlich nur auf den Seitenwechsel zum Kommunismus und den Antifaschismus, die Bekämpfung des Unmenschlichen, bezogen werden. Auch im Gespräch mit Major von Rundstedt, der Hörders Abkehr von der Dichtung gleichfalls anpricht, wird klar, dass Johannes sich von einem Idealismus wegentwickelt hat, zu dem er wieder zurückfinden muss: Gereift sind Sie, Mann geworden… Gedichte, wie ich hörte, machen Sie zwar nicht mehr, aber dafür dichten wir ja jetzt alle mit dem Schwert – stahlharte Strophen […]. Vor nicht ganz einem halben Jahr noch – haben Sie mir da nicht Vorwürfe gemacht, Sie Idealist Sie, als ich Sie zu einem Flug über Lehmberg mitnahm und ein wenig auf der Zuvielbevölkerung – haha, fein gesagt, was? – herumknallte? (GW VIII, S. 413). In der Tat kehrt Johannes Hörder im Laufe seines ideologischen Wandels zur Poesie zurück. Becher bringt dies in der Szene auf den Punkt, als Hörder im Weihnachtsurlaub Nohls Frau Anna besucht und mit ihr zusammen musiziert (IV,2). Kündigt er im Gespräch mit Anna an, im Frieden wieder dichten zu wollen (GW VIII, S. 525 bzw. 667), schreibt er schließlich in den letzten Minuten vor seinem Tod im Gefängnis ein Gedicht mit dem Titel »Fluch und Segen«, das in seiner Gegenüberstellung des ›verfluchten‹ nationalsozialistischen Deutschlands und dem segenshaften ›freien‹ Deutschland nicht nur die These von den zwei Deutschland aufgreift, sondern auch ähnlich dichotomisch funktioniert wie schon der expressionistische Band Verfall und Triumph. Das Gedicht wird in der Erstfassung von Oberkofler im Epilog verlesen (GW VIII, S. 592f.). Johannes Hörder und seine dichtenden Freunde ergänzen damit die Figur des Dichter-Chronisten um eine utopische Komponente im Sinne des poeta vates (3.1), indem eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt wird, auf die letztlich auch die Hymnen des Glücksuchers hinauslaufen. In Johannes Hörder führt Becher dem Leser bzw. Zuschauer indes darüber hinaus die konkrete Entwicklung eines Deutschen vor Augen, der damit Modellcharakter für alle Angehörigen dieser Nation
5. Erzählungen von Kunst und Leben
aufweist. Greift man wieder auf die Parallele zwischen Benn und Becher zurück, ist das Leitthema der Schlacht um Moskau die Verführbarkeit und anfängliche Schwäche des Protagonisten, die sich schließlich in Widerstand und Stärke wandelt und auf diese Weise eine historische Entwicklung antizipiert, die das ganze Volk in Kürze durchmachen wird. In diesem Sinne ist Hörder ein typischer Held sozialistisch-realistischer Literatur, denn er durchlebt als Individuum die Konflikte, die sein ganzes Volk betreffen, womit eine marxistische Weltdeutung verbunden ist. Dadurch, dass Hörder freilich als Wiedergänger seines Autors gezeichnet ist, schlagen die Befunde zur fiktiven Figur auf seinen Erschaffer durch, der zur selben Zeit damit beschäftigt ist, anhand der ›Sprunghaftigkeit‹ seines Frühwerks die eigene Schwäche zu vorzuführen, mit der er immer noch kämpft und die er nur mit der strengen Sonettform in den Griff bekommen kann, ja der selbst seine Frau deshalb besonders zu lieben betont, »weil Du mich hart bewachst« und »weil Du die Schwäche haßt«.244 Wer auf diese Weise die literarische Öffentlichkeit an den eigenen seelischen Konflikten teilhaben lässt, muss notwendig authentisch wirken. Aus Rezeptionsperspektive besteht folglich kein Zweifel daran, dass der Weg, den Becher ›dichtet‹, dem entspricht, »den er gegangen ist«.245 Becher schafft es auf diese Weise, über den Umweg der Dichtung, nicht einfach nur sozialistische Heldenfiguren zu erschaffen, sondern sich selbst zu einer solchen zu stilisieren. Dabei sorgt die Betonung der eigenen Schwäche und des ständigen Kampfs dafür, dass der Autor trotzdem Mensch bleibt und man sich mit ihm identifizieren kann, statt sich nur einem unerreichbaren Ideal gegenüberzusehen. Denn Becher, der ›deutsche Dichter‹, hat alle diese Kämpfe selbst durchstanden und den richtigen Weg gefunden, den nun die ganze Nation antreten muss; gerade deshalb kann er repräsentativ für sein Volk sprechen. Die kommunikative Strategie Bechers verleiht ihm Autorität und Glaubwürdigkeit. Dabei spielt es keine Rolle, dass Becher anders als sein Alter-Ego Hörder wie schon im Falle Peter Friedjungs selbst nicht Soldat war. Er ist immerhin vor Ort und weiß, wovon er schreibt, betont er doch selbst seinen Kontakt zu den Soldaten bzw. zu deren Briefpost, der sich die entsprechende Haltung zur Heimat entnehmen lässt. Die Parallelen zwischen Becher und seinen Figuren darf man deshalb auf keinen Fall übersehen, wenn es freilich auch einer schlichten biographistischen Lesart aus dem Weg zu gehen gilt. Der Eindruck, dass hier jemand sein ›ganzes Sein‹ in seine Dichtungen lege, entsteht zurecht, weil er gewollt ist – umso mehr, wenn Becher dadurch Rechenschaft über den eigenen Lebenslauf ablegt, indem er ihn zum Thema eines eigenen Romans macht.
244 Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 18. 245 Viertel 1951, S. 163.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Auf diese Weise bekommt die Verwendung autobiographischen Materials in Bechers Schreiben noch einmal eine neue Dimension, die freilich wieder einen Dichtungsbegriff auf den Punkt bringen soll. Der Autor wird von Becher nun klar als Chronist seiner Zeit konzipiert, der bei den wichtigen historischen Ereignissen ›dabei‹ sein muss, um über sie schreiben zu können. Dies ist insofern wieder ein performativ umgesetztes Programm, als Becher zwar weder als Koch noch als Soldat aktiv an der ›Schlacht um Moskau‹ teilgenommen hat, sich aber immerhin als Botschafter verstand, der aus Russland heraus die Fehlurteile der Welt korrigiert, die dort über die Sowjetrepublik im Schwange sind. In gewisser Weise – so muss man den Prolog auch lesen – beobachtet nicht nur der fiktive, sondern auch der reale Verfasser des Dramas von »gut gedeckter Stellung aus«, worüber er berichtet.
5.4.3 5.4.3.1
Exemplarische Lebensgeschichten II: Abschied Ein neuer Adoleszenzroman
In Abschied (1940) kulminiert diese Selbstinszenierung entsprechend, stößt aber auch an die literarische Grenze, an der das ›Bekenntnis‹ zur Wahrheit und das nur leicht fiktional überformte reale Vorbild ins Spielerisch-Ironische zu kippen beginnt. Abschied zieht grob gesagt alle motivischen Fäden der Vorjahre zusammen, sodass sich die autobiographischen Skizzen der 1920er Jahre, vor allem in Levisite und Im Schatten der Berge sowie in der zweiten Auflage von Die hungrige Stadt, aus der Retrospektive als Vorarbeiten zum Roman lesen lassen. Es gehört seinerseits wieder zum Entstehungsmythos des Textes, dass seine Niederschrift von vielen Schwierigkeiten begleitet war – und zwar nicht nur von solchen äußerer Natur, die aus der Exilsituation an sich resultierten. Die Entstehung zieht sich über mehrere Jahre hin; möglicherweise liegen die Anfänge schon im Jahr 1930 (vgl. GW XI, S. 650). Fertig war das Buch 1938 und wurde von Becher als Beitrag zu einem Literaturwettbewerb des Amerikanischen Bunds für Freie Deutsche Kultur eingesandt, den später Arnold Bender gewann; der Roman erschien schließlich nach weiteren Überarbeitungen 1940 im Verlag »Das Internationale Buch« (GW XI, S. 650f.). Becher präsentiert den Text als Endpunkt eines mehrere Jahrzehnte dauernden Kampfs um die Prosa, dem er nun endlich einen Erfolg abgerungen habe,246 und legt selbst das Fundament für eine Rezeption, die aus den Parallelen zwischen der Hauptfigur Hans Gastl und dem Autor die Lesbarkeit des Buches als Quelle über dessen Leben ableitet.247 Mit Abschied kommt Becher – entsprechend des thematischen Rückgriffs auf die eigene Jugend – auf das Erzählmuster zurück, das am Anfang seiner litera-
246 Vgl. bereits den Brief Bechers an Willi Bredel vom 30. August 1935, als Becher gerade acht Kapitel des Romans geschrieben hatte (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 218). 247 Vgl. dazu vor allem Becher/Prokop 1963.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
rischen Karriere steht: auf den Adoleszenzroman der Kaiserzeit. Abschied ist ein eigentümlich später Vertreter dieser für den jungen Becher so zentralen Gattung (vgl. 5.1), deren Blüte um die Jahrhundertwende sich nicht zuletzt dem Umstand verdankt, dass mit der politischen Formung eines deutschen Nationalstaats auch eine Vereinheitlichung des Bildungs- und Schulsystems nach preußischem Vorbild einhergegangen ist. Abschied ist in seiner Grundanlage klar als Zitat dieser Adoleszenzromane angelegt, was aufhorchen lassen muss, denn entgegen der dominierenden Lesart ist es nicht nur »autobiografisches Bemühen«,248 das hier am Werk ist. Becher folgt gleichzeitig einer literarischen Gattungsvorlage und fügt seinen autobiographischen Bericht entsprechend in dieses vorhandene Schema ein. Dies gilt bereits für die Figurenkonstellation: Wie in den Texten aus der Zeit um 1900 steht im Zentrum von Abschied ein künstlerisch begabter Gymnasiast, der sich bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt sieht, die durch Lehrer und den Vater verkörpert werden, während die Mutter eine moderatere Position einnimmt. Zudem stellt Becher seinem Protagonisten einen Freund (Hartinger) an die Seite, der für Hans Gastl ebenso ein Gegenmodell verkörpert wie der Graf von Mölln für Hanno Buddenbrook, Karl Notwang für Heiner Linder und Hermann Heilner für Hans Giebenrath – allesamt rebellische Dichter, die in der Schule besser bestehen können, weil sie nicht davor zurückschrecken, abzuschreiben oder sich über die Lehrer lustig zu machen. Außerdem kommt die Geschichte hinzu, die Becher seinen Protagonisten erzählen lässt. Aus dem Konflikt und der Abgrenzung von der Eltern- und Lehrergeneration erwächst der Wunsch nach dem Tod, der in den älteren Geschichten – sei es als Selbstmord, Unfall oder Krankheit – am Ende der Handlung steht. In Abschied wird das Thema sukzessive aufgebaut, indem nacheinander ein Schulkamerad und die Geliebte eines Freundes von Hans Gastl von der Großhesseloher Brücke springen (GW XI, S. 76 bzw. 188). Den eigentlichen Kulminationspunkt in dieser Hinsicht bildet der geplante Doppelselbstmord von Hans und Fanny nach dem Vorbild der realen Ereignisse von 1910, der seinerseits von den Adoleszenztexten der Jahrhundertwende inspiriert war. Diese Parallele ist wichtig, weil sie nicht nur grundsätzlich dazu anmahnt, nicht alles, was in Abschied als vermeintlich autobiographisch authentische Geschichte berichtet wird, für bare Münze zu nehmen.249 Auf der anderen Seite wäre es aber genauso falsch, die Verschränkung des literarischen Schemas mit der eigenen Biographie zu übersehen und als bloßes Spiel zu deuten. Im Gegenteil ist Abschied der wohl umfassendste und – angesichts der Rezeptionsgeschichte – auch erfolgreichste Versuch, literarische Programmatik über die Erzählung des eigenen
248 Rohrwasser 1980, S. 50. 249 So auch Schiller 2008, S. 202.
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Lebens abzusichern. Noch mehr als für die anderen Texte gilt es hier auf die Zielsetzungen zu achten, die die konkrete Ausprägung von Abschied bestimmen, dem sämtliche formale wie inhaltliche Entscheidungen konsequent untergeordnet sind. Zunächst zu der Frage, was für eine Geschichte hier eigentlich erzählt wird bzw. welche Aussage hinter dem Buch steckt (dass sich eine solche herauslesen lässt, gehört zum Programm dazu, wie zu zeigen sein wird): Entscheidend ist das historische Setting dieses Buchs, das sich als ›einer deutschen Tragödie erster Teil‹, präsentiert und damit traditionsbewusst auf den Faust anspielt, denn es knüpft – wieder einmal – die (deutsche) Geschichte unmittelbar an die Entwicklung seines Protagonisten. Die beiden historischen Eckpunkte der Handlung sind einerseits die Jahrhundertwende 1899/1900, mit der das Buch einsetzt, andererseits der Beginn des Ersten Weltkriegs, mit dem es endet. Die Hauptfigur Hans Gastl, der seine eigene Geschichte von einem nicht genau ermittelbaren späteren Moment aus rückblickend erzählt, reift in diesem Zeitraum zu einem Mann heran, der im Jahr des Kriegsausbruchs seinen 18. Geburtstag begeht (das macht ihn fünf Jahre jünger als Becher selbst).250 Auf diese Weise werden Landesgeschichte und Individualbiographie untrennbar miteinander verknüpft: Der Reifeprozess des Hans Gastl, der von zahlreichen inneren Konflikten geprägt ist, findet ausgerechnet in der Endzeit des Kaiserreichs statt, in denen sich die großen Umbrüche des 20. Jahrhunderts vorbereiten. Getreu der um die Jahrhundertwende tatsächlich herrschenden Krisen- und Wandelstimmung sind sich die Figuren am Silvesterabend 1899/1900 allesamt sicher, dass nun eine ›neue Zeit‹ anbrechen wird, wobei der Generationsunterschied deutlich zutage tritt. Während die Großmutter, die wie ihr verstorbener Mann eher dem vergangenen Jahrhundert angehört, ängstlich fragt, was die Zukunft wohl bringen werde, ist sich der vierjährige Enkel, dessen Leben sich schwerpunktmäßig im 20. Jahrhundert abspielen wird, der Euphorie von Bechers Frühwerk entsprechend sicher, »dass uns eine wunderbare Zeit bevorstehe« (GW XI, S. 9). Prägnanterweise dreht Becher damit die Perspektive der Adoleszenzgeschichten, die als Vorlage für Abschied dienen, um, womit er nicht zuletzt Elemente aus Heinrich Manns Der Untertan aufgreift:251 War dort das Kaiserreich mit seinen Erziehungsmethoden und seinem Schulsystem etwas ›Neues‹, das ein idealisierte ältere Bildungsideal überschrieben hat, werden in Abschied das kaiserlich-preußische Beharren auf Disziplin und die diktatorische Macht der Lehrerschaft,252 die sich mittels körperlicher Züchtigungen durchsetzt,253 als etwas ›Altes‹, als Erbe des 19. 250 Vgl. Schiller 2008, S. 202. 251 Vgl. Rohrwasser 1980, S. 60. 252 Zum Lehrer als Diktator vgl. insb. Klein 1993, S. 796f. sowie auch die satirische Darstellung aus Sicht des Lehrers in Heinrich Manns Professor Unrat (Hermand 2001). 253 Vgl. dazu vor allem die Szene der Züchtigung Hartingers in Kapitel 12 sowie die nur vorgeblich moderneren Methoden des Direktors Förtsch in Kapitel 28 und 29.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Jahrhunderts, definiert, das es in der anbrechenden ›neuen Zeit‹ zu überwinden gilt. Sinn der Geschichte ist die schrittweise Ablösung Hans Gastls von seiner Herkunftswelt – die Überwindung eben jeder Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts und das Hinfinden ins 20. Jahrhundert. In auffälliger Übereinstimmung mit dem Argumentationsmuster des Glücksuchers ist Hans Gastl eine Figur, die – wie ihr Autor, dessen Vorbild sie folgt – über weite Strecken des Romans einen schwachen und verführbaren Charakter besitzt. Wenn Bechers Werke ihren Wert nun daraus ableiten, dass es ihrem Autor gelungen ist, sich selbst zu bezwingen und ein ›besserer‹ Mensch zu werden, erzählt Abschied vor allem eine Geschichte einer moralischen Festigung, die Rebellion und Ausbruch ermöglicht.254 Während die Protagonisten bei Mann, Hesse und Strauß am System zugrunde gehen, findet Hans Gastl schließlich den Mut, mit diesem zu brechen. Deshalb steht am Ende von Abschied auch nicht der Selbstmord, sondern der Auszug aus dem Elternhaus. Unterstrichen wird dies dadurch, dass bei Becher nicht der rebellische und lebenstüchtigere Freund ein Dichter ist, sondern der Protagonist selbst, dem seine Verse nach und nach jene ›Standhaftigkeit‹ ermöglichen, die er bei Hartinger von Anfang an bewundert hatte.255 Natürlich ist Abschied auch ein politischer Roman, der über die Parallele zwischen Autor und Figur wieder einmal Bechers eigene Entscheidung für den Kommunismus legitimiert. Gegenüber den Adoleszenzgeschichten aus der Zeit um 1900 befasst sich Becher vergleichsweise wenig mit Erziehung und Schulbildung, dafür umso mehr mit der Frage sozialer Gerechtigkeit. Denn Hans Gastls Entwicklung beschreibt nicht nur das Schwanken zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Idealen, sondern auch den Gegensatz zwischen Bürgertum und Proletariat. Nachdem er als Kind mit entschiedener Missbilligung vor allem vonseiten des Vaters eine ausgesprochene Sympathie für die ›einfachen‹ Leute zeigt und sich sowohl mit dem Dienstmädchen Christine und dem Stallburschen Xaver als auch mit dem gleichaltrigen Arbeitersohn Hartinger anfreundet, kommt es mit dem Übertritt ans Gymnasium zu einer Entwicklung, die moralisch klar als Verschlechterung erkennbar ist, weil sie eine Annäherung an das Vorbild des Vaters bedeutet. Sein neuer Spitzname »Henker« (GW XI, S. 64) verweist auf die unrühmliche Rolle des Staatsanwalts im Kontext von politisch motivierten Hinrichtungen; die Gruppe »Die Drei«, die Gastl mit seinen Schulkameraden Feck und Freyschlag zusammen 254 Dass die politische Dimension erst am Ende auf den Punkt gebracht wird, ist mehrfach aufgefallen: Rohrwasser leitet daraus ab, dass der Roman im Gegensatz zur gängigen Lesart gar nicht die Geschichte einer politischen Entwicklung erzählt (vgl. Rohrwasser 1980, S. 55), während Lukács das Ende als problematisch empfindet, weil die Hevorhebung der »sozialen Gegensätze« mit einer »störende[n] Überdeutlichkeit« einhergeht, die für Handlungszeit nicht angemessen sei (Lukács 1948, S. 329 bzw. 330). 255 Die zentrale Szene hierfür ist die Folter-Episode in Kapitel 18 (GW XI, S. 93ff.), die Motive aus Levisite aufnimmt (vgl. GW X, S. 252ff.).
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bildet, erinnert nicht ohne Grund an das musikalische »Trio« des Vaters, das nach Levisite auch in Abschied wieder einen Auftritt hat (GW XI, S. 51). Letztendlich aber bricht Gastl mit den bürgerlichen Freunden, kann sich nach der Lektüre des Kommunistischen Manifests mit Hartinger versöhnen und dem Vater erklären, dass er sich nicht freiwillig an die Front melden wird, wie man es von ihm erwartet: »Ich mache den Krieg nicht mit, nein, ich mache euern Krieg nicht mit, ich bin fest entschlossen.« Es kam gepreßt heraus, war aber mit Haß gesagt, mit jenem Haß, um den ich Hartinger so oft beneidete. Breitbeinig stand ich da wie der Kochel=Schmied auf dem Bild an der Sendlinger Kirche. Es gibt Großes. Es geht um Großes. Ich werde es dir gleichtun, stand ich jetzt auch an Hartingers Stelle in der Gärtnerei Buchner. Spuckt nur, schlagt mich nur mit Brennesselruten. Ich werde standhalten. (GW XI, S. 419) Bechers Protagonist ist somit alles andere als ein idealer (sozialistischer) Held; er bezieht seine Vorbildrolle für die Leserschaft vielmehr aus seiner Schwäche, gegen die er ständig ankämpfen muss und die es extrem unwahrscheinlich macht, dass er den ›richtigen Weg‹ noch findet. Indem dies dann doch der Fall ist, gibt es Hoffnung für alle anderen, die gleichfalls menschliche Schwächen haben: »Wenn so einer wie ich… Dann braucht ihr, ihr alle den Mut nicht zu verlieren…« (GW XI, S. 434). Gerade dieser Aufruf auf der letzten Seite des Romans bringt aber noch eine zusätzliche Komponente ins Spiel: Bei Abschied handelt es sich immerhin auch um einen Exilroman, der die Kaiserzeit mit ihrem ›Strammstehertum‹ als Nährboden des Nationalsozialismus präsentiert. Folglich ist die Geschichte des ›schwachen‹ Hans Gastl eine Adresse an das deutsche Volk, die Hoffnung vermittelt. Der Roman offeriert – entsprechend der Zwei-Deutschland-Theorie – zwei Handlungsalternativen, die beide für die Hauptfigur mögliche Wege sind. So wie Becher auch ein Benn hätte werden können, hätte aus Gastl auch ein Feck oder Freyschlag werden können: Der Ausgangspunkt ist immer derselbe und es muss darum gehen, den ›falschen Weg‹ als solchen zu erkennen und an sich zu arbeiten, sodass man ihn schließlich verlassen kann. In diesem ›Erfolg‹ stimmen Becher und Gastl überein, womit die ohnehin schon autobiographisch inspirierte Figur auch die Repräsentativität und Vorbildhaftigkeit von Bechers Lebensweg absichert. Bei allen äußeren Abweichungen und fiktionalen Überschreibungen, sind die Nähe zwischen Autor und Protagonist und das damit einhergehende Verwechslungspotential im Roman angelegt und werden bewusst beim Leser provoziert. Wiederum ist es Aufgabe der Literatur, die vorbildhafte Haltung ihres Autors zu illustrieren und zu verbürgen, weshalb das eigene Leben – wie schon in Levisite – erneut zum Thema gemacht wird. Weil Abschied nicht mit dem Selbstmord endet und das, was in der Realität passiert war, nur als Traum schildert, überführt Becher die Ausweglosigkeit, die
5. Erzählungen von Kunst und Leben
die Adoleszenzromane um 1900 im Sinne des fin de siécle zeigen, in eine optimistischere und handlungsorientierte Alternative: Man muss nicht am System zugrunde gehen, sondern kann einen Weg finden, es zu verändern. Damit erzählt Becher natürlich auch die reale Geschichte seines Lebens als Überwindung der Todessehnsucht und Schwärmerei der Frühphase um 1910 und lässt Hans Gastl entsprechend dieselben dichterischen Entwicklungsstufen durchlaufen, die er auch selbst hinter sich hat.
5.4.3.2
Sozialistisch-realistische Transzendentalpoesie
Gerade die Analyse der Rolle der Dichtung in Abschied stellt den Leser freilich vor eine Reihe von Schwierigkeiten. Auf der einen Seite gilt Abschied als Vertreter des Sozialistischen Realismus, was angesichts der dort explizit vertretenen Programmatik einer gesellschaftsveränderten Literatur alles andere als unplausibel ist. Auf der anderen Seite kann man aber nicht übersehen, dass die Präsentation dieses Programms gleichzeitig über das hinausgeht, was sozialistisch-realistische Romane normalerweise ästhetisch leisten. Bei allem Bezug zur deutschen Geschichte handelt es sich bei Abschied keinesfalls um einen im strengen Sinne realistischen Roman – und zwar nicht nur, weil die Abweichungen zwischen Autorbiographie und Figurenentwicklung erkennbar literarisch überformt worden sind. Die Probleme beginnen schon mit der hochgradig subjektiven und in ihrer zeitlichen Verortung unklaren Erzählhaltung. Die Einteilung der ihn umgebenden Menschen in ›Standhalter‹ wie Hartinger, die sich auch gegen äußere Widerstände für das Richtige einsetzen, und ›Strammsteher‹ wie Hans’ Eltern, Lehrer und bürgerliche Freunde ist eine Projektion des Protagonisten und wird nicht durch eine übergeordnete Instanz bestätigt. Das wird sogar explizit im Roman angesprochen: »Ich brauchte einen, der ein standhaftes Leben mich lehrte. Ich brauchte einen, der führte… Ich wollte an Hartinger doch einen Brief schreiben« (GW XI, S. 262). Außerdem durchziehen den Roman eine Reihe von Träumen und Visionen. Der »Fluß der seelischen Reaktionen«256 zeigt Gastls schlechtes Gewissen, das ihn ständig an das Jüngste Gericht denken lässt und Höllenvisionen hervorbringt, die – wie auch Benjamins Kindheitserinnerungen in Berliner Jugend257 – an Dantes Inferno angelehnt sind.258 Das Problem dabei ist aber, dass Traum und Realität nicht immer klar voneinander zu trennen sind und der Roman damit stellenweise ins ›Märchenhafte‹ übergeht.259 Dies gilt zum einen für das Ende der Handlung, als Gastl, der ›Höllenwanderer‹, auf seinem Weg aus dem Elternhaus noch einmal durch alle Versionen seines Ich – »der kleine Lügner, der Tunichtgut und der Bösewicht, der
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Lukács 1948, S. 326. Vgl. Butzer 2013. Vgl. dazu Schiller 2008, S. 214. Vgl. Rohrwasser 1980, S. 68.
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Johannes R. Becher und die literarische Moderne. Eine Neubestimmung
Blödian und der Rekordschwimmer« (GW XI, S. 308) – hindurchgehen muss, die er bis dahin entwickelt hat, und sämtliche Leitmotive des Romans zusammengeführt werden (GW XI, S. 427), aber auch für die wichtige Stelle, als Gastl wie sein Autor eine Zigarettenverkäuferin kennenlernt und plant, mit ihr gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Hatte Becher in Erde die realen Ereignisse aus seinem eigenen Leben in der Weise abgewandelt, dass dort beide Liebende sterben, variiert er das Thema in Abschied erneut: Bevor es zum gemeinsamen Selbstmord kommt, wird die Geliebte Fanny Fuß von einem früheren Liebhaber getötet, womit Hans dann nur noch als Zeuge vor Gericht aussagen muss, nicht – wie Becher selbst – als Angeklagter. Diese Änderung lässt sich allerdings erst im Nachhinein rekonstruieren, da der Leser durch einen unmarkierten Wechsel zwischen Traum und Realität zunächst glauben muss, Hans Gastl habe seine Geliebte tatsächlich erschossen. Nach einer gemeinsamen Nacht wird erläutert, wie Hans die Pistole erhält und bei sich trägt. Dann kommt – ohne Übergang – die Schilderung, wie er erst auf Fanny, anschließend auf sich selbst schießt: Da lag schon die Pistole auf dem Nachttisch in Fannys Zimmer. Fanny schlief neben mir. Ich hätte gern die Uhr eine Stunde zurückgestellt, um die Todesstunde, die wir auf sechs Uhr morgens angesetzt hatten, hinauszuzögern, aber ich fürchtete, Fanny aufzuwecken. […] Das einfachste wäre gewesen: aufstehen, die Tür hinter sich zuknallen, weggehen. Da wachte die Pistole auf dem Nachttisch auf und drehte sich mir zu, mit ihrer Mündung…. Noch einmal drehte ich sie um, ein letztes Mal von mir selbst weg. Zweimal hintereinander drückte ich auf Fanny ab, zwei gelbe Patronenhülsen sprangen auf die weiße Bettdecke, rollten ein wenig herunter, blieben in einer Mulde liegen. Aus der Decke hervor zog Fanny die Hand, legte sie, die Finger krampfartig spreizend, auf die Einschußstelle. Ein Tropfen Blut sickerte ihr aus der Nase… Ich erinnerte mich zu spät daran, daß man sich am besten in den Mund schießt. Wasser in den Pistolenlauf, zugepfropft, vor dem Spiegel… Die Pistole kam auf mich zu, von meiner Hand begleitet, und der Zeigefinger krümmte sich. ›Dafür! Dafür! Dafür!‹ zuckte der Finger und drückte ab. ›Dafür! Dafür! Dafür!‹ schoß die Pistole. Für jede meiner Gemeinheiten erschoß sie mich. (GW XI, S. 259f.) Bei genauem Hinsehen kann diese Schilderung schon deshalb skeptisch machen, weil der Doppelselbstmord unmittelbar auf ein Gespräch mit Hartinger folgt und nicht wie geplant in dem eigens dafür angemieteten Pensionszimmer, sondern bei Fanny stattfindet.260 Auch fällt die Personifikation der Pistole auf, die vom Werkzeug in Hans Gastls Hand zu einer eigenmächtigen Instanz wird und ihn »für jede 260 Auf die räumliche Entfernung zwischen beiden Orten wird noch kurz vorher aufmerksam gemacht (GW XI, S. 258).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
meiner Gemeinheiten« hinrichtet. Dennoch muss man die Schilderung auf den ersten Blick für glaubhaft halten – umso mehr, wenn man als mit Bechers Lebenslauf vertrautes Publikum das Buch als glaubhafte Autobiographie liest.261 Becher macht auf den Traumcharakter der Szene noch nicht einmal dadurch aufmerksam, dass sein Protagonist einfach aufwacht, was eine klare Abgrenzung von Traum und Realität zumindest im Nachhinein ermöglichen würde. Stattdessen mehren sich nur die Hinweise, dass man es nicht mit einer glaubhaften Schilderung zu tun hat. Nachdem der Ich-Erzähler berichtet hat, wie »in der chirurgischen Klinik, in der Nußbaumstraße, im Operationszimmer, ein schöner Held« liegt, »der nicht einmal sein eigenes Herz treffen konnte« (GW XI, S. 261 bzw. 261f.), heißt es plötzlich: »Das gemeinsame Sterben, bei dem ich am Leben geblieben war, weil ich danebenschoß, geschah den ganzen Tag über. Abends war ich mit Fanny verabredet, um mit ihr gemeinsam zu sterben« (GW XI, S. 262). Erst an dieser Stelle wird klar, dass die Schilderung vom Doppelselbstmord nur eine Vorstellung des Protagonisten gewesen sein kann und ihm die Umsetzung dieses Vorhabens erst noch bevorsteht. Dazu kommt es dann freilich nicht mehr: Bei seiner Heimkehr überreicht der Vater Hans eine Zeitungsmitteilung, die von der Ermordung Fannys in ihrem Geschäft berichtet (GW XI, S. 264). Zusätzlich hat der Roman – siehe den Selbstmord, der »den ganzen Tag über« passiert – eine irritierende Zeitstruktur, die den Eindruck des Traumhaften noch verstärkt, weil man an vielen Stellen nicht weiß, in welchem Jahr die Handlung gerade spielt. Man denke etwa an die Episode, in der Hans – wie Becher – nach seiner Rückkehr aus dem Internat ein ›Rekordschwimmer‹ wird. Der Handlungslogik nach beginnt Hans Gastl mit dem Schwimmen zu Ostern 1908 und nimmt sich vor »Deutscher Meister auf kurze Strecke zu werden« (GW XI, S. 202). Wenn es dann jedoch heißt: »Diesem Entschluß blieb ich treu – Jahre« (ebd.), das Schwimmen noch im selben Kapitel aber wieder aufgegeben wird (GW XI, S. 208), verstreicht kaum merklich eine große Zeitspanne, ohne dass man hinterher wüsste, in welchem Jahr man sich wiederfindet.262 Dazu trägt die Anspielung auf die Ereignisse bei, die Hans’ Schwimmambitionen begleiten und keinesfalls in chronologischer Ordnung aufgeführt werden: Während bei Echterdingen der Zeppelin in Flammen aufging [1908], während die Spanier mit den Rifkabylen und die Italiener mit den Türken Krieg führten [1911/12], während in China die Revolution ausbrach [1911] und die »Titanic« unterging mit sechzehnhundert Menschen [1912], während Wright und Farman 261
Dass diese Erwartungshaltung bei der Lektüre häufig zugrunde gelegt worden ist, zeigt auch die bereits erwähnte Ausschöpfung von Abschied als Quelle für biographische Informationen, etwa in Becher/Prokop 1963. 262 Im folgenden Kapitel wird die »diesjährige Erst-Mai-Feier« geschildert (GW XI, S. 210), wobei unklar bleibt, welches Jahr hier gemeint ist.
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ihre Flugzeuge vorführten [1907/08] und die Mona Lisa aus dem Louvre geraubt wurde [1911] – schwamm ich, schwamm ich. (GW XI, S. 206) Schon am Anfang des Buchs legt es Becher bei genauer Betrachtung tatsächlich weniger auf Information denn auf Verwirrung seiner Leserschaft an, was die Zeitstruktur betrifft. Wenn der Roman etwa mit der genannten Silvesterfeier beginnt, ist es gar nicht mehr so sicher, dass es sich wirklich um den Jahreswechsel 1899/1900 handelt, denn der Erzähler gibt an, die Jahrhundertscheide bereits mehrfach in die Silvesterfeierlichkeiten bloß hineininterpretiert zu haben: »Jedes Jahr zu Silvester ließ ich den Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts stattfinden« (GW XI, S. 12; Hervorhebungen: K. E.). Schließlich irritiert häufig der grotesk-humoristische Duktus des Erzählten, der die Glaubwürdigkeit von Hans Gastls Perspektive nicht selten beeinträchtigt. Wenn Gastl seinen Vater auf einer Bergwanderung in die Tiefe stürzen will, wird die pathetische Thematik durch die liedhaften Verse gebrochen, die er sich für den Gedenkstein dieses ›Unfalls‹ überlegt: : »Auf den Bergen wird man oft nicht alt,/Hier stürzte ab ein Staatsanwalt« (GW XI, S. 133). Und auch der Skandal, dass die Großmutter nach ihrem Tod eine Einäscherung anstelle der traditionellen Erdbestattung wünscht, läuft in Gastls Reflexionen dazu auf einen Witz hinaus: »Im Altertum aber galt sich verbrennen zu lassen als vornehm und ehrenvoll und im Mittelalter, siehe Scheiterhaufen« (GW XI, S. 227). All das erinnert mehr an die Aufnahme frühromantischer Schreibverfahren als ein im strengen Sinne sozialistisch-realistisches Literaturkonzept. Dennoch ist es gerade die Verbindung beider Ansätze, auf die es Becher in der zweiten Phase seiner Exilarbeiten ankommt. Der Glücksucher und die sieben Lasten tastet die klassischromantische Poetik nach Elementen ab, aus denen sich in Verbindung mit dem sowjetischen Modell eine Zukunft bauen lässt, wobei ästhetische und die gesellschaftlich-politische Dimension wie immer bei Becher ineinander verschränkt sind. Deshalb mündet Abschied nur auf der einen Seite in den Auszug des Protagonisten aus dem Elternhaus, was eine politische Neuausrichtung seiner Weltsicht bedeutet. Auf der anderen Seite steht am Ende des Romans der Entwurf einer neuen Ästhetik, die den Roman in sich selbst vorkommen lässt, als hätte man es hier mit Novalis’ Heinrich von Ofterdingen zu tun. Als der Kriegsausbruch schon dafür gesorgt hat, dass nichts mehr so ist wie vorher, kehrt Hans Gastl in das nun leere Café Stefanie, dem Ort seiner expressionistischen Eskapaden, zurück und trifft dort auf den nach Leonhard Frank modellierten Dichter Stefan Sack. Als Sack Gastls Geschichte hört, rät er ihm diese aufzuschreiben, und gibt den Titel des Romans ebenso vor wie seine Entstehungszeit (»nach vielen, vielen Jahren«):
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Was Sie da erzählt haben von dem Anderen, ist ein Roman. Ein Abenteuerroman. Schreiben Sie ihn! Sie werden ihn schreiben, einmal, vielleicht erst nach vielen, vielen Jahren. Nicht nur Sie nehmen Abschied darin von sich selbst, Ihresgleichen sind nicht wenige, und alle werden gebraucht werden, auch solche wie Sie… ›Abschied‹ müßte er heißen – ›Abschied‹. Eine deutsche Tragödie… (GW XI, S. 409f.) Und es geht noch weiter, denn die Passage enthält auch eine Aussage zur Frage der biographischen Übereinstimmung zwischen Protagonist und Autor: Sie werden über sich selbst schreiben, aber dieses ›Ich‹ wird kein herkömmlich biographisches sein, es wird eine Gestalt sein wie jede andere, mit den tatsächlichen Ereignissen, vielleicht nur ab und zu durch ein belangloses Detail verbunden. (GW XI, S. 410) Mit diesem Programm werden die Abweichungen von der Realität unter dem gemeinsamen Ziel, dem »Standhaften Leben« ein Denkmal zu setzen (GW XI, S. 410), zur Nebensache erklärt. Damit wird die Grenze zwischen Poesie und Leben überschritten – so weit, dass Sack seinem Zuhörer nicht nur raten kann, sein eigenes Leben in einen Roman zu überführen, sondern darüber hinaus sein »Leben als Dichtung fort[zu]setzen« (GW XI, S. 410). Durch diesen Kunstgriff ist die Erzählung Hans Gastls angestoßen und motiviert. Gegenüber den anderen auch schon stark autobiographischen Romanen Erde und Levisite hat man es hier allerdings mit dem Problem zu tun, dass die Nähe zum Leben des Autors zwar einerseits größer ist, andererseits fiktionsintern die Verpflichtung auf jede einigermaßen korrekte Wiedergabe der ›tatsächlichen Ereignisse‹ aufgekündigt wird. Stefan Sacks Anregung, die Geschichte »vielleicht nur ab und zu durch ein belangloses Detail« an die Realität zu binden, ist die Lizenz zu einer hochgradigen poetischen Überformung. Sicher fällt die ideologische Weltdeutung im Sinne des Sozialistischen Realismus unter die Formulierung. Trotzdem geht die explizit betonte dichterische Freiheit weit darüber hinaus, weil ihr keinerlei Grenzen gesetzt werden. Der Roman bekennt sich paradoxerweise zwar dazu die ›deutsche Tragödie‹ repräsentativ im individuellen Beispiel darzustellen, nimmt aber gleichzeitig jede Glaubwürdigkeit des Berichteten wieder zurück. Damit folgt Abschied einem ästhetischen Programm, das als nichts anderes denn als Aktualisierung der romantischen Ironie mit ihrem »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«263 beschrieben werden kann. Wie stark Bechers Dichtungsverständnis Ende der 1930er Jahre stark von der romantischen Theoriebildung inspiriert ist, sieht man nicht zuletzt an der Aufwertung, die das Moment des Wandels, des ›Anderswerdens‹ in diesen Jahren erfährt.
263 51. Athenäums-Fragment (Schlegel 1967, S. 172).
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Zwar ist Becher weiterhin bestrebt, die widersprüchlichen Elemente seines Werdegangs in eine einigermäßen kontinuierliche und zielführende Lebenserzählung einzufügen. Auch das Streben nach ›Ordnung‹ und ›Disziplin‹ im Sonett, die die ›Sprunghaftigkeit‹ der eigenen Natur überwinden sollen, deuten in diese Richtung. Und doch bleibt festzuhalten, dass der Umstand der Widersprüchlichkeiten selbst nicht mehr weggeleugnet wird. Im Gegenteil nimmt sich Becher des Themas jetzt verstärkt an, was in die eingangs zitierte Reflexion über die verschiedenen Ausprägungen der eigenen Handschrift in Wiederanders mündet. Jetzt wird zudem eine Form für Becher zentral, für die die Frühromantik gleichfalls eine ausgesprochene Vorliebe hat und die dann vor allem Bechers poetologische Reflexionen in den 1950er Jahren prägt (3.3.2): das Fragment – sichtbar schon an der Überschrift des fünften Teils des Glücksucher-Bands, die einerseits auf die barocke Tradition des Emblems (»Inschriften«), andererseits aber auf die Romantik (»Fragmente«) anspielt. Schon das Ende von Abschied hat bei allem Entwicklungsmuster etwas Unabgeschlossenes, weil der Erzähler nach dem Bruch mit dem Vater vor einer unsicheren Zukunft steht und man angesichts seines ständigen Schwankens vorher auch nicht ganz sicher sein kann, dass er nicht doch wieder auf den ›falschen‹ Weg zurückkehrt. Und schließlich ist Abschied ja auch nur der ›erste Teil einer deutschen Tragödie‹. Die Fortsetzung Wiederanders freilich erzählt die Geschichte aus Abschied keineswegs zu Ende, sondern liefert in vielen Punkten eine Variante dessen, was im ersten Roman schon behandelt wurde, und sie bleibt – zwar unwillkürlich, aber doch passenderweise – Fragment. Die Verquickung von Kunst und Leben, von Fiktion und Realität, sorgt dafür, dass zu diesem progressiven Element auch noch eine Grenzüberschreitung tritt, die sich als Universalpoesie interpretieren lässt. Dabei passt es gut, wenn Becher das romantische Konzept Friedrich Schlegels eben nicht im Sinne einer Abkopplung von außerliterarischen Verpflichtungen (Autonomomieästhetik) aufgreift. Stattdessen wird diese Transzendentalpoesie ganz im Gegenteil als hoffnungsvolle und zum Handeln anregende Gesellschaftsanalyse modelliert, wie sie dem Modell des Sozialistischen Realismus entspricht. Der Roman greift auf die (politische) Realität aus, wie die Realität den Roman bestimmt. Die Ironie (im Schlegelschen Sinn) von Abschied nimmt die ernste Botschaft des Buchs außerdem eben nicht zurück, sondern will sie geradezu unterstreichen und – über die Person ihres Verfassers – verbürgen, wie es auch die früheren Becher-Texte tun. Erneut belegt der Dichter als »Schätzgräber, Künder einen neuen Menschenlehre, Menschenentdecker, Welteroberer« (GW XI, S. 411), mit dem repräsentativem eigenen Sieg über die eigene Schwäche die utopische Komponente seines Buchs und bindet auf diese Weise das, was eigentlich nur Fiktion ist, an eine haltbare und verbindliche Realität.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
5.5 5.5.1
Doppelte Repräsentativität Schritt der Jahrhundertmitte: Becher und der Westen
Das Bild des späten Becher und seiner Werke, die nach der Rückkehr nach Deutschland entstanden sind, ist durch die Rezeption besonders verzerrt worden, weil es mehr als die anderen Werkphasen unter dem Einfluss der deutschen Teilung und des damit verbundenen ideologischen Gegensatzes entstanden ist. Bechers Einsatz für eine Sozialistische Nationalliteratur, als deren zentraler Repräsentant er auftritt, und seine Tätigkeit als Kulturpolitiker – zunächst als Vorsitzender des Kulturbunds, später als Minister – haben zu einer Identifikation Bechers mit der DDR geführt, die insofern differenzierungsbedürftig ist, als sie fast immer mit der Implikation einer Distanzierung von der Bundesrepublik einhergeht: auf der einen Seite, indem sich die von der SED vorgegebene öffentliche Rhetorik in der DDR positiv auf Becher beruft, um so ihre Überlegenheit vom Westen herauszustreichen; auf der anderen im negativen Sinne einer radikalen Ablehnung des Staats, für den Becher steht, in den bundesrepublikanischen Medien, die von skeptischen Einwänden bis hin zu diffamierenden Angriffen auf Bechers Person reichen. Dem steht ein intensives Bemühen Bechers um den Westen entgegen, weil er sich zwar der sozialistischen Sache verpflichtet fühlt und den Sozialismus nach dem Krieg als einzigen Garanten des Friedens betrachtet, gerade deswegen aber die Notwendigkeit sieht, den westlichen Teil Deutschlands auf denselben Weg zu bringen und so die deutsche Einheit zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Diese für die späten 1940er und 1950er Jahre in der SBZ/DDR weit verbreitete Perspektive äußert sich immer wieder in den Liedern und Gedichten, die Becher nach seiner Rückkehr aus dem Exil schreibt. Indes deutet sich bereits in Bechers Beharren auf der deutschen Schuldfrage ein Konfliktpotential an, das eine eigentümliche und durchaus bewusst in Kauf genommene Isolierung Bechers zur Folge hat. Schon die Etablierung des Melancholie-Konzepts geschieht in Volk im Dunkeln wandelnd steht im Zeichen einer Verteidigung gegenüber den Kritikern, wie sie in den folgenden Jahren zum Leitthema werden wird. Das Gedicht »Tränenblind« weist bereits darauf hin, dass Bechers Ansatz nicht unwidersprochen geblieben ist, sondern sich dem Vorwurf ausgesetzt hat, vor lauter Tränen nicht mehr klar sehen zu können.264 Damit deutet sich der entscheidende Umbruch in Bechers Stellung innerhalb seiner Zeit an, der nicht nur in den ideologischen Kämpfen begründet liegt. Denn der bislang stets als für seine Generation repräsentativ empfundene Autor vertritt inzwischen ein Dichtungsverständnis, das mehr und mehr auf Unverständnis stößt und als überholt gilt.
264 Becher: Volk im Dunkeln wandelnd 1948, S. 33.
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Zum ersten Mal bleibt von Bechers Seite eine nachhaltige Kurskorrektur aus. Es ist bezeichnend, dass Becher im Jahr nach Volk im Dunkeln wandelnd auf eine sehr optimistischere Lieddichtung umschwenkt, die allerdings nur vorübergehender Natur ist. Trotz der zeittypischen Rückwendung zur Tradition im Sinne des Sozialistischen Realismus geht Becher schon in der Wahl seiner Bezugstexte sehr stark eigene Wege, die ihn schließlich in seinem letzten Lebensjahrzehnt von der Entwicklung der Literatur seiner Zeit entkoppeln und ihn mehr und mehr zum Außenseiter machen. Sein Werk löst sich nicht mehr von dem eingeschlagenen Weg. Stattdessen fallen zunehmend ›offizielle‹ Werke, die den Sozialismus und seine Vertreter besingen, und private Reflexionen und Gedichte auseinander. Während die Widersprüchlichkeit Bechers bislang ausschließlich durch ein zeitliches Nacheinander, die schnelle Abfolge von z.T. gegensätzlichen ästhetischen wie weltanschaulichen Positionen, entstanden war, zeichnet sich nun immer mehr die gleichzeitige Parallelexistenz von Konzepten ab, die Gegensätze bleiben und von Becher allen Syntheseversuchen zum Trotz auf Dauer nicht zu vereinen sind. Insofern deutet sich im Melancholie-Gestus und im Entstehen einer nur noch »künstlerischmonologischen Existenz«265 die Vereinsamung des Dichters an, der aus der Gesellschaft, die er anspricht, zunehmend herausfällt. Becher macht noch einmal den Versuch, sich selbst zur repräsentativen Gestalt aufzuschwingen, aber mit desaströsen Konsequenzen: Was vonseiten der DDR Vereinnahmungsgeister herbeiruft, die nicht wieder loszuwerden sind, zerstört gleichzeitig Bechers Ruf im Westen und macht ausgerechnet den selbsterklärten Einheitsdichter zum Referenzpunkt gegenseitiger Abgrenzung. Becher ist in den 1950er Jahren entsprechend damit beschäftigt, sein bisheriges Werk zu sichten und neu zusammenzustellen. Dabei ordnet er vor allem seine Gedichte in einer Art und Weise, dass sie die historischen Entstehungskontexte besonders gut spiegeln und somit ›Zeugnisse‹ seines Lebens ebenso wie der deutschen Geschichte sind. Er publiziert eine Reihe von Gedichtbänden, die schon in ihren Titeln wiederum Autor und Jahrhundertgeschichte eng aneinanderknüpfen und in der Auswahl und Zusammenstellung der aufgenommenen Werke um ein stimmiges Narrativ bemüht sind. Wird die Jahrhundertwende als Initial- und Wendepunkt bereits in Abschied symbolisch zum Ausgangspunkt der (eigenen) dichterischen Entwicklung gemacht, präsentiert sich Becher in den 1950er Jahren dem Titel des Lyrikbands von 1951 nach als ›Mensch des Jahrhunderts in seinen Gedichten‹ und fügt dem Anfang um 1900 endlich noch einen Schlusspunkt hinzu: die Jahrhundertmitte.266 Im Buch werden die älteren Texte nach den historischen Zäsuren der jüngeren Vergangenheit in zehn Teilen thematisch geordnet präsentiert, womit Becher 265 Völker 1983, S. 30. 266 Becher: Schritt der Jahrhundertmitte 1958.
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sowohl das Bekenntnis zum 20. Jahrhundert als ›seinem‹ Jahrhundert erneuert als auch die inhaltlich-motivischen Schwerpunkte setzt, nach denen man sein Werk bewerten soll (und es in der DDR-Germanistik oft auch getan hat). Hier wird nicht einfach das präsentiert, was Becher für die jeweilige Werkphase für charakteristisch oder für gelungen hält; die Gedichte werden wie schon im Frühwerk durch zahlreiche Überschriften und Zwischentitel gleichsam mit einer Interpretation versehen, die den Deutungshorizont des Lesers von Anfang an zu beeinflussen versucht. Becher präsentiert sich auf diese Weise als Dichter, der bis 1933 von ›Vollendung geträumt‹ hat – ein Gedichtband von 1955 wird ebenfalls diesen Titel tragen –, dann während seiner Exiljahre »Auf der Suche nach Deutschland« war und mit dem künstlerischen Erbe beschäftigt, zwischenzeitlich einige Liebesgedichte geschrieben (»Liebe ohne Ruh 1914-1948«) und neben verschiedenen »Sternbildern auf Erden« – die wichtigen Lebensstationen München, Paris, die Sowjetunion, das Schwabenland und Ahrenshoop – die eigene Heimat besungen hat. Becher überlässt die Ordnung und Deutung seines Werks weder dem Zufall noch der Nachwelt, wie auch der Blick auf die Gedichte selbst zeigt, die er aufnimmt. Besonders markant ist die Behandlung des expressionistischen Frühwerks, das von der Konzeption klar mit im Fokus des Buchs stehen müsste, das schließlich Bechers Gesamtwerk in der ersten Jahrhunderthälfte zum Thema hat und mit dem Jahr 1911 einsetzt. Trotzdem fehlen die für den Expressionisten Becher so charakteristischen sprachexperimentellen Texte vollständig. Nicht nur wird – eigentümlich genug – der Zeitraum von 1911 bis 1933 von Becher als Einheit präsentiert (der dritte Teil mit den Liebesgedichten dehnt die Phase sogar von 1914 bis 1948 aus). Der Abschnitt setzt eigentlich auch erst mit Gedichten aus den späten 1920er Jahren ein, die nur deshalb – vage – etwas mit dem Jahr 1911 zu tun haben, weil sie sich mit Becher Kindheit beschäftigen. Auf der anderen Seite kann man ebenfalls die Beobachtung machen, dass die Jahreszahlen weniger mit dem Entstehungszeitraum der Texte als mit ihrem thematischen Schwerpunkt zu tun haben. So thematisiert das Gedicht »Ich sah sie kommen« – der berühmte »Barbarenzug«, den Becher für den Glücksucher-Band nach der Erstveröffentlichung überarbeiten musste – durchaus den Aufstieg des Nationalsozialismus im Jahr 1933, ist aber erst 1939 entstanden, was die Einordnung in den Band höchst irreführend macht. Hatte Becher schon vorher sein Leben mit der Zeitgeschichte in Parallele erzählt, erhält das Narrativ nun seinen Abschluss durch die Retrospektive am Ende des Lebens, womit Becher sich die Aufgabe setzt, »diese erste Hälfte dieses Jahrhunderts zu gestalten« (GW XVIII, S. 678). Becher betont hier wieder die Übereinstimmungen zwischen seiner Biographie und der politisch-historischen Entwicklung: Becher ist – so die inhaltliche Logik – als Dichter nach jahrelanger Suche ›zur Ruhe‹ gekommen und ›gereift‹. Dazu passt, dass die Stürme des 20. Jahrhunderts weitgehend vorüber sind, denn immerhin existiert jetzt ein sozialistischer Staat, der Hoffnung auf dauerhaften Frieden – Bechers Leitthema seit Mitte der 1920er
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Jahre – in Aussicht stellt. Der für den östlichen Teil Deutschlands so charakteristische Zukunftsoptimismus sticht angesichts der Schriften der Intellektuellen in der jungen Bundesrepublik umso stärker hervor, die die Gefahr eines Atomkriegs noch keineswegs so sicher überwunden glauben wie Becher: Die Welt will blühen So bunt wie nie zuvor, Und neue Sterne glühen. Kühn steigt der Mensch empor. Die Welt hat sich entschieden, Daß Frieden werden muß, Und es wird Frieden, Frieden Allmächtiger Beschluß. Wer uns will bange machen, Macht sich nur lächerlich. Nicht wir, sie sind die Schwachen, Nicht wir, sie fürchten sich. Atomtod, all dein Grauen Schreckt alsbald keinen mehr. In dem unendlich Blauen Wacht unser Sternenheer.267 Der Frieden für den Rest des Jahrhunderts ist so zuverlässig gesichert, dass Becher am Ende seines Lyrikbands Schritt der Jahrhundertmitte (1958) sogar noch den Blick auf seine zweite Hälfte und auf die »Jahrtausendwende« (so der Titel des letzten Gedichts im Buch) werfen kann: Wenn in der Jahrtausendwende Ihr um Mitternacht Brüderlich euch reicht die Hände Und ihr glückhaft lacht – Daß ich euch nicht störe, Bleibe ich allein, Aber in die Jubelchöre Stimme ich mit ein.268 War Becher immer schon ein Meister der retrospektiven selektiven Neudeutung des eigenen Schaffens, kommt diese Art von konzeptionellem Wirken nun mit dem 267 Ebd., S. 188. 268 Ebd., S. 190.
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Bild vom Sozialistischen Nationalautor an seinen Höhepunkt. Weil Becher sich dabei eben nicht nur als Repräsentant des Staates versteht, in dem er Minister ist, sondern sich als Deutscher und sozialistischer Nationaldichter sieht, gerät die problematische Frage der deutschen Einheit für ihn nie aus dem Blick. Selbst in den Jubelgedichten aus Schritt der Jahrhundertmitte ist das Thema nur scheinbar außen vor gelassen. Auf motivischer Ebene bleibt es präsent, wenn man sich wie in der Nationalhymne zukünftig ›brüderlich die Hände reichen‹ wird (GW VI, S. 61). Notwendig führt das Selbstverständnis Bechers als ›Deutscher‹ zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der westdeutschen Öffentlichkeit. Becher fühlt sich zur Kommunikation mit dem Westen verpflichtet – sowohl innerhalb als auch außerhalb seines literarischen Werkes, indem er die DDR zum »Vorbild für ganz Deutschland« empfiehlt« (GW XVIII, S. 664). Dass man in der Bundesrepublik weit davon entfernt ist, Becher einen roten Teppich auszurollen, mag seine Eitelkeit kränken, ist aber vor allem deshalb ein Problem, weil die Autorpersona, die Becher für sich in der Nachkriegszeit entwirft, auf eine gesamtdeutsche Rezeption und Wertschätzung angewiesen ist. Während sich Becher, der geborene Westdeutsche, der im östlichen Landesteil lebt, als Brückenbauer sieht, wird nun ausgerechnet seine Person im Rahmen der zunehmenden Abgrenzung der beiden deutschen Staaten voneinander funktionalisiert. Dabei hatte gerade Becher den »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« als gesamtdeutsche Institution initiiert269 und sich bis zuletzt darum bemüht, eine Spaltung des neu gegründeten PEN-Zentrums zu verhindern, dessen ostdeutsche Variante noch 1953 den Anspruch auf eine Vertretung aller deutschen Schriftsteller nicht aufgab und sich in Deutsches PEN-Zentrum Ost und West umbenannte.270 Wie groß die Widerstände gegen diese deutschlandweite Ausrichtung von Bechers Kulturpolitik bald wurden, lässt sich anhand der Geschichte des Kulturbunds besonders gut nachvollziehen. Die Knüpfung von West-Kontakten wurde aus bundesrepublikanischer Sicht von Anfang mit Skepsis beäugt, weil man hinter der von Becher angestrebten Zusammenkunft west- und ostdeutscher Intellektueller »kommunistische Tarnveranstaltungen« vermutete.271 Auf der anderen Seite brachte diese grenzübergreifende Haltung Becher in seinem eigenen Staat gleichfalls zunehmend in Schwierigkeiten, indem sich die Bechers Intentionen diametral entgegenstehende »kulturelle Konfrontation zwischen den feindlichen beiden deutschen Staaten« immer mehr abzuzeichnen begann.272 Insgesamt ist die Beharrlichkeit ungewöhnlich, mit der er an seiner Einheitsforderung entgegen andersläufiger Tendenzen festhält, während bei Bechers sonst
269 270 271 272
Vgl. zum Kulturbund Heider 1993; Schiller 2009. Zur Geschichte des ostdeutschen PEN vgl. Bores 2010: Lewalter 1953. Schiller 2009, S. 235.
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Anpassungs- und Unterwerfungsgesten die Regel sind. Hier lohnt sich neben dem Blick in offiziellen Reden ein Blick in Bechers Korrespondenz, die das Ausmaß seines Bemühens um den Westen erst recht deutlich macht. Weil Becher als wichtigster Repräsentant sozialistischer deutscher Literatur gilt, entzündet sich zunächst die Kritik der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit an seiner Person. Dabei geht der Spiegel mit Becher in der Nachkriegszeit (ganz im Unterschied zum Ton, der dort in den 1990er Jahren herrscht273 ) noch am vorsichtigsten um und gibt ihm sogar Gelegenheit, selbst für die westdeutschen Leser zu Wort zu kommen.274 Während die Besprechung seines Heimkehr-Bands im Spiegel 1947 in der Gegenüberstellung des aktuellen Bands mit dem expressionistischen Werk Bechers zwar eine gewisse Reserviertheit erkennen lässt, doch aber eine nüchterne literaturkritische Perspektive aufweist,275 nehmen die Artikel anderswo immer mehr den Charakter einer Verleumdungskampagne an. Becher verwendet deshalb in den 1950er Jahren sehr viel Aufwand darauf, aus seiner Sicht falsche oder verkürzte Darstellungen zu berichtigen, wie sie ihm aus beiden deutschen Staaten, vor allem aber aus der Bundesrepublik in die Hände fallen. So korrigiert er kurz in Briefen an den Limes Verlag und an die Redaktion von Das freie Wort in Düsseldorf Fakten zu seinem Lebenslauf276 und wehrt sich gegen die pauschale Verurteilung seines Gesamtwerks als »Kitsch« gegenüber der Hamburger Welt.277 Gegenüber seinen Briefpartnern innerhalb der DDR korrigiert er Lesarten zu seinen Gedichten, die ihm von seiner Leserschaft zugehen,278 oder ergänzt und berichtigt literaturgeschichtliche Ausführungen wie im Schreiben an Hans Jürgen Geerdts.279 Diese ›Korrekturbriefe‹ deuten darauf hin, dass es um mehr geht als nur um die Erhaltung des deutsch-deutschen Austausches, so wichtig dieser für sich genommen für Becher war. Es kommt der Bezug zu Bechers Person hinzu, die in der Kritik der westdeutschen Presse vorrangig angegriffen wird. Bechers Reaktion auf diese Angriffe steht indes nicht einzig im Licht einer (verständlichen) Selbstverteidigung. In den ›Korrekturbriefen‹ lässt sich zwar ein Becher beobachten, der sich immer stärker missverstanden und ungelesen fühlt, indem man sein Werk auf bestimmte Aspekte zuspitzt, die je nach ideologischer Perspektive Grundlage einer
273 Vgl. nur Stolle 1999. 274 Becher: Eine »Spiegel«-Seite für Johannes R. Becher 1947; Becher: Tränen des Vaterlandes 1954. 275 Anonymus 1947. 276 Brief an den Limes Verlag vom 27. April 1955; Brief an die Redaktion »Das freie Wort«, Düsseldorf vom 15. Juni 1955 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 478f. bzw. 479ff). 277 Brief an die Redaktion »Die Welt« vom 30. Mai 1956 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 487f.). 278 Vgl. etwa die Briefe an Margarete Schaff vom 15. Juni 1956 und an Klaus-Jürgen Schuchardt vom 19. März 1957 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 489 bzw. 492). 279 Brief vom 4. Februar 1958 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 512-515).
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offiziellen Verehrung bzw. radikaler Ablehnung und Diffamierung werden. Sie haben darüber hinaus eine bedeutende kulturpolitische Dimension, weil Becher nicht nur als Individuum spricht, sondern eben auch aus einer repräsentativen Rolle heraus. Folglich wird das, was er in Bezug auf seine eigene Person an die westdeutsche Presse schreibt, als Exempel behandelt, anhand dessen eine generelle Fehlentwicklung innerhalb der Literaturkritik sichtbar wird. Selbst die Umarbeitungen älterer Werke zeugen von der Auseinandersetzung mit dem Westen. Beispiel Winterschlacht: Das in seiner Intertextualität und Polyperspektivität einst so komplexe Stück Schlacht um Moskau von 1942, das schon seit 1945 seinen neuen Titel trägt, wird von Becher 1953 für eine neue Buchausgabe noch einmal überarbeitet. Angeregt wird Becher zu diesem Schritt durch eine Prager Neuinszenierung – vor allem aber durch die bundesrepublikanische Darstellung der historischen Ereignisse, die das Stück behandelt. Becher sieht den Frieden in Gefahr, weil eine »Auslegung« der Schlacht, »die der Wahrheit widerspricht«, benutzt werden kann, um »die Schlacht noch einmal, und zwar mit Erfolg, zu wiederholen« (GW VIII, S. 598). Nicht also der Aufbau des Sozialismus in der DDR gibt den Anstoß zur Überarbeitung, sondern die Lektüre westdeutscher Publikationen über die historische ›Schlacht um Moskau‹, die »eine Auslegung erfahren hat, die der Wahrheit widerspricht« (GW VIII, S. 598). Becher sieht in der zunehmenden Auseinandersetzung zwischen dem Westen und der Sowjetunion vor dem Hintergrund des Koreakriegs das 1942 geschriebene Stück wieder als brandaktuell an. Er legt es deshalb in einer Neufassung vor, um vor allem den Westdeutschen das Scheitern der Schlacht um Moskau vor Augen führen und sie von einem neuen Marsch auf die russische Hauptstadt abzuhalten. Dem dient die Überarbeitung des Dramas, bei der Becher fast alle fremden Textverweise streicht, die es vorher zu einem Stück über Dichtung gemacht hatten, um nun tatsächlich den historischen Stoff ins Zentrum zu rücken. Auffällig genug betreffen die Kürzungen, die Becher in seiner Neufassung vornimmt, vorrangig genau die Profilierung der beiden Dichtertypen, die in der ersten Version so prägnant zutage treten (5.4.1; 5.4.2): Indem Prolog und Epilog entfallen, fehlt die Herausgeberfiktion, was Folgen für die Figur Oberkofler hat. Dieser tritt zwar im Stück weiterhin auf und durchschaut nach wie vor die Aussichtslosigkeit des deutschen Eroberungsversuches. Er wird aber nicht mehr als heimlicher Verfasser des Dramas aufgedeckt und auch nicht mehr in der vorigen Weise als Narr gezeichnet, was Becher vor allem durch Streichungen in dem Dialog zwischen Oberkofler und von Quabbe erreicht. Konsequent entfallen in der Neufassung die Bezeichnung Oberkoflers als »Divisionshanswurst« bzw. ›Feldnarr‹ ebenso wie die ironische autobiographische Parallele mit der gestrichenen BayernBemerkung von Quabbes.280 280 Vgl. GW VIII, S. 434 vs. 621 sowie Becher: Winterschlacht 1945, S. 26.
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Gleichzeitig schwächt Becher darüber hinaus auch die Kunst- und Dichtungsdebatte um Hörder und Nohl ab. Erhalten bleibt die Rolle des Gedichts des im Konzentrationslager umgekommenen Freundes von Nohl. Jedoch fehlt der BauhausVerweis ebenso, wie Hörder im Laufe des Dramas nicht mehr selbst zum Dichter wird: In der Bühnenfassung von 1945 erwähnt Oberkofler nicht wie in der Schlacht um Moskau Hörders Gedicht »Fluch und Segen«. Erst in der Fassung von 1953 aber wird das Gedicht ersetzt durch einen »Spruch«, den er in Hörders Notizbuch gefunden hat und bei dem es sich um einen Auszug aus Hölderlins Ode »Tod fürs Vaterland« handelt.281 Diese Zuspitzung auf Hölderlin lässt die Intention hinter Bechers Neubearbeitung der Winterschlacht im Jahr 1953 erkennen, die auch die Grundlage für Eislers Kompositionen zum Stück bildet. Während er acht Jahre zuvor in dem nicht für den allgemeinen Vertrieb bestimmten Bühnendruck tatsächlich nur die für die Geschichte entbehrliche Dichtungsthematisierung streicht,282 steht die Buchausgabe von 1953 wieder stärker im Zeichen der künstlerischen Selbstpositionierung, die nun aber unter anderem Gesichtspunkt erfolgt. Becher verzichtet darauf, die komplexe Handlung um Oberkofler und der Dichter Johannes Hörder wieder herzustellen. Er ändert und ergänzt das Drama aber im Hinblick auf die Paratexte, die z.T. auch vom Haupttext wieder aufgenommen werden. Zum einen ändert Becher nun den Untertitel bzw. die Gattungsbezeichnung des Textes, der noch 1945 als »Dramatische Dichtung« präsentiert wird, nun aber »Eine deutsche Tragödie in fünf Akten mit einem Vorspiel« ist (GW VIII, S. 393 bzw. 595), womit Becher eine Parallele zu Abschied erzeugt (GW XI, S. 651). Zusätzlich erhält der Text drei Motti, von denen zwei von Hölderlin stammen – eines aus dem Hyperion; das andere ist der »Spruch« aus »Tod fürs Vaterland«, den Oberkofler auch in Hörders Notizbuch findet. Schafft Becher somit eine Verbindung zwischen Paratext und Drama, wird diese im dritten Zitat besonders evident, das ein Zitat aus der Schlussrede des Kommandeurs der Roten Armee ist, wie es sie in dieser Form aber auch erst in der Version von 1953 gibt (GW VIII, S. 703). Becher profiliert hier also durch die Hinzufügung der Motti und deren Verknüpfung mit dem Dramentext den eigenen Anschluss an die literarische Tradition, den er auch schon durch den neuen Untertitel herausstreicht. So sehr dieser einerseits den Blick von der Dichtung auf den Inhalt lenkt, weil es nun die Tragik der deutschen Verirrung zwischen 1933 und 1945 ist, die im Zentrum steht, ist die Nähe zu Goethes Faust unübersehbar. Das freilich macht den Text schlichter und interpretatorisch unergiebiger, wenn man aus einer anderen als einer sozialistischen Perspektive an ihn herangeht, und zementiert das Bild Becher als primär 281
"Denn die Gerechten/Schlagen, wie Zauberer,/Und ihre Vaterlandsgesänge/Lähmen die Kniee der Ehrelosen« (GW VIII, S. 702). 282 Becher: Winterschlacht 1945.
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ideologischem Autor, das sich – wie man hier sieht – in Reinform kaum je von selbst einstellte, sondern zu seiner Erzeugung immer wieder diverse Überarbeitungsvorgänge nötig hatte. Gleichfalls die bundesrepublikanische Kritik an seiner Person und an der von ihm vertretenen Vorstellung von Literatur aufgreifend entwirft Becher das Konzept der »Dichtung im Dienst«: In Reaktion auf die Kritik an der eigenen Rolle als Staatsdichter sieht Becher alle Poesie, auch die Goethes, stets im ›Dienst an der Allgemeinheit‹, weil »der Begriff einer ›reinen, interesselosen‹ Kunst ein lebloses Abstraktum ist und die Erde kein Vakuum ist, worin Menschen und Menschgesellschaften existieren, die keine sind« (GW XIV, S. 257f.). Er versucht das Konzept, das er jetzt entwirft, von der Parteiliteratur abzulösen, wie er sie vor allem in den 1920er und 1930er Jahren vertreten hatte, und auf eine allgemeinere Basis zu stellen, die sich nicht ohne Grund auf die deutsche literarische Tradition beruft und damit geeignet ist, für die gesamte deutsche Nation Anschlusspotential zu bieten. Wenn er die Verwendung des Begriffs ›Dichtung im Dienst‹ als »undurchdachtes, oberflächliches Schlagwort« kritisiert (GW XIV, S. 257) und die Proklamation einer ›interesselosen Kunst‹ als problematische Strategie ansieht, »sich selber den Standpunkt des Überparteilichen, Gerechtsamen zuzuerkennen« und »den Gegner zu denunzieren« (GW XIV, S. 258), klingen westdeutsche Vorwürfe an, die den Kulturminister als reinen Parteidichter sehen. Hatte schon der Nationalsozialismus Becher zu einer skeptischen Haltung gegenüber großen Weltentwürfen und Absolutsetzungen gebracht,283 sieht er nun in der Konfrontation der gegensätzlichen Ansichten der zwei deutschen Staaten und insbesondere in der westdeutschen Distanzierung von der DDR das »moralisch=geistige[] Klima[]« aus »Goebbels‹ Zeiten« nachwirken, dem sich die Kulturschaffenden entgegenzustellen haben (GW XVIII, S. 225). Zeitungen wie die Welt oder die Süddeutsche284 erinnert Becher an ihre Verpflichtung, für »verantwortliche Urteilsbildung Sorge zu tragen«, weshalb auch im Feuilleton im Interesse der Allgemeinheit »sauber und sachlich« argumentiert werden müsse: »Nochmals: Nicht nur ich bin persönlich von dieser Pauschalverurteilung betroffen, sondern vor allem ein nicht unbedeutender Teil der literarischen Welt und nicht zuletzt auch die Leser, zu denen Angehörige aller Völker zählen.«285 Es geht also um die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Presse, auf die Becher hinwirken und die er zur genaueren Lektüre bewegen will, wozu er den Briefen nicht selten eine Auswahl
283 »Geht mir mit euren großen Worten, wir ersticken in ihrem Lärm, der unsere Gehörgänge verstopft und den kein Herz mehr vernimmt« (Becher: Der Aufstand im Menschen 1995 [= 1947/48], S. 83). 284 Vgl. dazu den offenen Brief von 1955 (GW XVIII, S. 467ff.). 285 Brief an die Redaktion »Die Welt« vom 30. Mai 1956 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 488.).
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eigener Werke beilegt, damit sich die Adressaten ein besseres Bild machen können und ihre Positionen überdenken.286 So aussichtslos dieses Unterfangen erscheinen mag, fügt sich der Versuch, der Verflachung der Literaturkritik entgegenzuwirken und zu einer sachlichen und auf Beweisgründen beruhenden Diskussion zurückzukehren, nicht nur in die Rezeptionssteuerungsbemühungen der Autoren seit dem 18. Jahrhundert ein,287 sondern ist überhaupt ein beliebtes Argumentationsmuster, das mit dem Aufkommen der Massenmedien in der westeuropäischen Gesellschaft der 1960er bis 1980er Jahre noch einmal an Auftrieb gewinnen wird.288 In Bechers Fall kommt hinzu, dass der Gründungsmythos der DDR wie die eigene Richtungsentscheidung in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf der Überzeugung beruhen, dass »sich unzweifelhaft nach einiger Zeit ein gemeinsamer Nenner finden läßt«, wenn »nur ein wenig guter Wille auf beiden Seiten vorhanden ist« (GW XVIII, S. 225). Becher hat als Ziel (für den Kulturbund) eine grundsätzliche Überparteilichkeit ausgegeben, die er – wie immer – durch seine Person verbürgt. Dass Becher trotzdem für ein sozialistisches System wirbt, ist kein Widerspruch dazu, wenn man die Logik seiner Argumentation seit der Exilzeit im Blick hat. Im Zentrum steht die Vision eines friedlichen Landes, das auf die Hitlerjahre folgt. Die deutsche Teilung mit ihrem ideologischen Gegensatz ist natürlich alles andere als ein Friedensgarant und liegt im Gegenteil quer zu den Zielen, die Becher sich in den 1940er Jahren gesetzt hatte. Also macht er sich umso nachdrücklicher zum Friedens- und Einheitsdichter, der im Sozialismus – wegen der immerhin proklamierten größeren ›Ferne‹ vom Nationalsozialismus‹ – die besseren Voraussetzungen für eine friedliche Zukunft gegeben sieht. Damit freilich ein gesamtdeutscher Frieden möglich ist, darf der Gesprächsfaden trotz der ideologischen Differenzen nicht abreißen, sonst ist die Chance vertan, dass die hoffnungsvolle Entwicklung in der DDR auf die Bundesrepublik übergeht. Entsprechend heißt es in einem der ›Friedenslieder‹ von 1950 in bewusst kollektiver, aber die Hand zum Zusammenschluss ausstreckenden Manier: Wir setzten der Not ein Ende. Wir reichen Euch die Hand, Daß sich das Werk vollende. Wir sind der Zeiten Wende:
286 So z.B. im Brief an die »Die Welt« vom 30. Mai 1956 und an Wolfgang Paul vom 9. Oktober 1956 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 488; 489f.). 287 Vgl. dazu Martus 2008. 288 Vgl. dazu besonders die unter dem Titel »Um die deutsche Einheit« bekannte Erklärung von 1954 (GW XVIII, S. 223ff.).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Wir Volk der schaffenden Hände, Wir Arbeiter – Bauernland.289 In dieser Logik ist die Identifikation Bechers mit dem ›größeren‹ ideologischen Zusammenhang plausibel und durchaus zunächst in Bechers Sinne. Problematisch wird das Ganze freilich dadurch, dass Bechers als Repräsentant des sozialistischen Deutschlands nun sämtliche Angriffe auf sich zieht, die aus der Ablehnung des politischen Systems der DDR resultieren. Damit werden die hinter Bechers Selbstinszenierung der Nachkriegsjahre stehenden Ziele der Überparteilichkeit und das einer deutsch-deutschen Verständigung verfehlt. Die von Becher angelegte Repräsentationsrolle wird ihm zwar unbestritten zuerkannt, entwickelt aber ein Eigenleben, das nicht mehr Bechers Kontrolle unterliegt. Die ›Korrekturbriefe‹ bilden in diesem Sinne den zunehmend hilflosen Versuch ab, der Situation wieder Herr zu werden und das ursprünglich angedachte Deutungsmuster doch noch durchzusetzen. Er mahnt an die Pflicht »Abstand zu nehmen von allem und jedem, was geeignet ist, deutsche Kulturschaffende gegeneinander zu verhetzen« (GW XVIII, S. 226).
5.5.2
Sozialistische Nationalliteratur: Becher und der Osten
So sehr es Becher mit seinen ›neuen deutschen Volkliedern‹ (4.2.4) gelingt, sich zu zum massentauglichen Staatsdichter aufzuschwingen, dessen Worte dem Volk zumindest bei offiziellen Anlässen ebenso sehr auf den Lippen liegen wie Louis Fürnbergs »Lied von der Partei« oder Brechts zweite Fassung des »Solidaritätslieds«,290 stellt er sich doch in der Wahl seiner Themen und Gattungen auffällig genug zunehmend ins Abseits angesichts der Tendenzen, die sich in der Kunst und Literatur sowohl der frühen DDR als auch des bundesrepublikanischen Diskurses abzeichnen (4.2.1). Das Phänomen ist bisher fast immer von der Rhetorik überdeckt worden, die Becher zum Staatsmann und zum Staatsdichter par excellence hochstilisiert – sei es im Sinne eines Vorbilds, das man in der DDR verehrt, sei es im negativen Verständnis, indem sich die westdeutsche Zurückweisung der Ideologie des anderen deutschen Staats in der Person Bechers bündelt. Tatsächlich kann man beobachten, dass der Name Becher in den 1950er Jahren immer mehr für eine kulturpolitische und ideologische Position in Dienst genommen wird, die er zwar in seinen offiziellen Reden und Ansprachen durchaus vertritt,291 die aber von seinem Werk eigentlich nur noch dann gedeckt ist, wenn man sich auf einen kleinen Ausschnitt der Schriften konzentriert und über die Widerstände hinwegliest, die sich dort häufig genug auftun. Zwischen Nachruhm und wirklicher Rezeption klafft eine augenscheinliche Lücke genau in dem Sinne, wie sie Bechers Sohn 289 Becher/Eisler: Neue Deutsche Volkslieder 1950, S. 7. 290 Vgl. im Überblick zur Liedkultur der DDR Goll 2014. 291 Vgl. Wirth 1981.
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nach dem Wiedersehen in Berlin und der Rückkehr nach London im Brief an den Vater beschreibt und so einen Konflikt auf den Punkt bringt, der Becher in den Folgejahren umtreiben wird: »Muß ich dir sagen, daß man Dich verwendet wie ein Werkzeug? Daß man nur Deinen Namen und Deine Unterschrift als Aushängeschild dem deutschen Volke hinhält?«292 Es gehört zu den Eigentümlichkeiten in Bechers Werdegang, dass ausgerechnet er, der sich lange Zeit immer wieder leicht dem Opportunismus-Vorwurf ausgesetzt hatte, weil er stets bereit war, der Parteilinie zu folgen und sein gesamtes Weltbild entsprechend anzupassen, infolge seiner Rolle als Staatsmann und Kulturpolitiker nun doch in einen sich zuspitzenden Konflikt mit dem System gerät, das er repräsentiert, weil er in einer für ihn äußerst ungewöhnlichen Vehemenz gegen äußere Widerstände auf bestimmten Themen oder Positionen beharrt. Wie stark auch der späte Becher noch anfällig dafür ist, eine offizielle Doktrin nachzubeten, zeigt die fünf Jahre nach ihrer Entstehung 1958 erschienene UlbrichtBiographie.293 Trotzdem verschiebt sich Bechers Haltung in den Nachkriegsjahren insofern, als sich zum ersten Mal in seinem Werk überhaupt ein Auseinanderfallen privater ästhetischer Ansichten und offizieller Verlautbarungen abzeichnet. Wenngleich Bechers Leben von Konflikten alles andere als frei war, sind seine Positionswechsel doch zeitlebens mit veränderten Überzeugungen verbunden: Er gehörte zu denen, »die wirklich glaubten«.294 Selbst in der Exilzeit war er unter dem Druck der stalinistischen Herrschaft noch zur einer Haltung gelangt, die im Einklang mit der offiziellen Linie steht, wenngleich der Umstand, dass dem ein erneuter Selbstmordversuch vorausgeht, bereits auf die Schwierigkeiten hindeutet, die damit verbunden waren. Für die Zeit in der DDR ist im Vergleich dazu bezeichnend, dass Becher – obwohl von seinen Aufgaben als Kulturminister aufgrund der immer größeren Differenzen zur Parteiführung entbunden – offiziell bis zu seinem Tod als Amtsinhaber geführt wird und noch bis zum Untergang der DDR als Verfasser der Nationalhymne in aller Munde bleibt, deren die deutsche Einheit beschwörender Text freilich längst nicht mehr gesungen wurde. Erst zwischen 1945 und 1958 kann man Becher in den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen wirklich im Sinne der eben diesen Zeitraum umfassenden Dokument- und Briefedition Carsten Gansels als ›gespaltenen Dichter‹ erleben. So sehr sich Becher offiziell der Parteilinie nach wie vor unterordnet, bleibt er in seiner Kritik in den »Einzelfragen«295 z.B. zur deutschen Einheit oder zur Formalismus-Diskussion für seine Verhältnisse ungewöhnlich beharrlich und
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Brief von Thomas Becher vom Januar 1951 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. II, S. 397-399). Vgl. dazu Kaufmann 2014. Gansel 1991, S. 13. Ebd., S. 27.
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versucht 1956 sogar eine Verteidigung des nach dem Ungarn-Aufstand in Bedrängnis geratenen Georg Lukács, die auffällig aus Bechers sonstigem Verhalten heraussticht, der sich im Exil noch kaum »vor Verfemte« gestellt hatte.296 Wenn er sich politisch überstimmt sieht und die getroffenen Beschlüsse nach außen hin verteidigt, bleibt der Widerspruch in den Dichtungen und theoretischen Reflexionen jetzt bestehen; die ursprüngliche Position wird von ihm nicht mehr so leicht einfach durchweg aufgegeben wie noch in den Exiljahren, sondern führt schließlich wieder zu einer Trennung von Dichtung und Politik, die so lange für Becher nur gemeinsam denkbar waren (3.3.2). Und so hat man die paradoxe Situation, dass Becher mit seiner Poetik in vieler Hinsicht die Schlagworte und Zitate vorgibt, mit denen die SED-Führung bis 1989 Kulturpolitik betreibt, sie aber gleichzeitig nicht nur als Formeln verwendet, deren konkrete Füllung sich schnell von Bechers ursprünglichen Überlegungen ablöst.297 Darüber hinaus werden bestimmte Konzepte – Stichwort ›Literaturgesellschaft”298 – von Bechers später Poetik auf der einen Seite konstitutiv für das ästhetische und ideologische Selbstverständnis der DDR, während sie auf der anderen Seite immer dann, wenn man sich mit Bechers theoretischen und dichterischen Arbeiten selbst beschäftigt, auf die Zeitgenossen befremdlich wirken und als vor allem für jüngere Autoren nicht mehr anschlussfähige Becher-Spezifika gelten.299 Am meisten gilt das wohl für Bechers ›Nationalismus‹ und sein Beschwören der Heimat, die sich seit der Exilphase abzeichnen und nun in Gedichtbänden mit Titeln wie Heimkehr (1946), Lob des Schwabenlandes (1947) oder dem in der zweiten Auflage zum bebilderten Großband angewachsenen Buch Schöne deutsche Heimat (1952/56) kulminieren. Es sind nicht zuletzt diese Texte, die Becher für die DDRLiteraturgeschichtsschreibung zum wichtigsten Garanten einer sozialistischen deutschen Nationalliteratur werden lassen,300 denn die nationale Perspektive ist bei kommunistischen Dichtern des 20. Jahrhunderts so präsent und damit – wiederum – geeignet, sich von dem problematischen Nationalismus der NSZeit abzugrenzen bzw. mehr und mehr auch von der Bundesrepublik als deren Nachfolgestaat. In diesem Sinne operiert man mit dem Begriff der Sozialistischen Nationalliteratur in klarer ideologischer Scheidung vom kapitalistischen Westen. Nationalliteratur heißt sie nicht deshalb, weil ihr eine Nation im Sinne gemeinsamer Sprache und Tradition zugrunde liegt, sondern weil sie die »Interessen aller Klassen und Schichten« vertritt: zunächst unter Führung der bürgerlichen, nun im Sinne der Sozialistischen Nationalliteratur unter Führung der Arbeiterklasse.301 296 297 298 299 300 301
Ebd., S. 23. Vgl. dazu schon Emmerich 2009, S. 41. Vgl. Ebd., S. 40f.; Gansel 1991, S. 17. Vgl. Haupt 1994, S. 143. Vgl. Koppen 1962 Gysi et al. 1973, S. 24.
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Von Bechers Nationalismuskonzept hat diese Darstellung sich freilich weitgehend abgelöst, weil er die Forderung nach einem ›Führungswechsel‹ zugunsten der Arbeiterklasse, also eine sozialistische Prägung der Nationalliteratur zwar unterstützte, sein Heimatkonzept indes nicht nur Bad Saarow und Aarenshoop umfasste, sondern auch Urach, München und das ›Schwabenland‹.302 Wenn Bechers volkstümliche Lieddichtungen mit ihrem Heimatlob auf der einen Seite leicht operationalisierbar sind und auch sein wollen, also Becher als Repräsentanten eines Systems hervortreten lassen, steht die konkrete Ausprägung dieser Themen doch im zunehmenden Widerspruch mit der offiziellen Linie der SED. Rezeption und Poetik fallen nach 1945 bei Becher auf eine charakteristische und doppelte Weise auseinander, die sich aus dem ideologischen Gegensatz des Kalten Kriegs heraus erklärt. Die Tätigkeit als Kulturpolitiker führt in der gegenseitigen Abgrenzungsbewegung der beiden deutschen Staaten dazu, dass sich in jedem ein eigenes Becher-Bild ausbildet, das sich von der poetologischen Konzeption löst, die Bechers Selbstdarstellung zugrunde liegt. Die Einsicht, weder von der ostdeutschen noch von der westdeutschen Öffentlichkeit ›richtig‹ verstanden zu werden, bringt den sich als Brückenbauer und Sänger der deutschen Einheit verstehenden Dichter in zweierlei Hinsicht in eine unbefriedigende Lage. Auf der östlichen Seite der Grenze verselbstständigen sich die poetologischen Leitbegriffe, die Becher ausgibt, zu Schlagworten, die zum einen genutzt werden, um Bechers Rolle als Leitdichter zu stärken, zum anderen aber immer stärker als Instrumente zur Unterdrückung nicht gewünschter ästhetischer Entwicklungen herhalten müssen, die unter dem Schlagwort ›Formalismus‹ erfasst und diskreditiert werden. Nicht, dass der späte Becher kein Kritiker des Formalismus wäre. Die inhaltsleeren Parolen des Expressionismus ironisiert er in Abschied aus gutem Grund und auch die Ausführungen zum Sonett richten sich eindeutig gegen eine Auffassung, die diese Gattung bloß auf ihre Form reduziert, sondern Becher verlangt zusätzlich einen entsprechend dialektischen Inhalt, ohne den man es mit einem bloßen Vierzehnzeiler zu tun habe (vgl. GW XIV, S. 606f.). Abgesehen davon, dass Bechers Suche nach dem »poetischen Prinzip des Sonetts« (GW XIV, S. 606) wie seine Argumentationen in den theoretischen Schriften überhaupt literarhistorisch angelegt ist, er also versucht, das ›Wesen‹ der Gattung aus ihrer Geschichte abzuleiten, knüpft Becher die ablehnende Haltung gegenüber Texten, die rein formal innovativ sind (bzw. zu sein versuchen), grundsätzlich an eine handwerkliche Kritik. Der Formalist in Bechers Sinn macht es sich zu einfach; weil »Form eine Form des Inhalts ist« bzw. Form die Aufgabe hat, »den Inhalt herauszuarbeiten und ihn Gestalt annehmen zu lassen« (GW XIII, S. 100). Indem es ohne Inhalt keine Form geben kann, besteht der eigentliche ästhetische Anspruch und Qualitätsmarker darin, diese essentielle Funktion der Form ernst zu nehmen, statt auf 302 Becher: Eine »Spiegel«-Seite für Johannes R. Becher 1947.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
ihrer ›Eigenständigkeit‹ zu beharren bzw. die ihr notwendig inhärente Abhängigkeit vom Inhalt zu ignorieren. Dass das Schlagwort ›Formalismus‹ nun aber verstärkt genutzt wird, um andere als sozialistisch-realistische Ausdrucksformen zu unterdrücken, ist nicht in Bechers Sinn, weshalb seine Argumentation in den poetologischen Schriften nun den dogmatischen Duktus ablegt und stattdessen dafür eintritt, dass sich im Wettstreit verschiedener Herangehensweisen die ›richtige‹ und ›beste‹ durchsetzen wird. Zunehmend sieht Becher auch in der DDR die Meinungsfreiheit in Gefahr und appelliert vorsichtig im Sinne einer weniger rigiden Zensur. Die Reaktion des Kulturbunds unter Bechers Vorsitz auf den 17. Juni 1953 besteht nicht zufällig in der erneuten Betonung von dessen Überparteilichkeit und der nachdrücklichen Forderung nach einem Ende der »administrative[n] Einmischung staatlicher Stellen in die schöpferischen Fragen der Kunst und Literatur«, sodass »in allen wissenschaftlichen und künstlerischen Diskussionen die Freiheit der Meinungen gewährleistet wird«.303 Dass Meinungsfreiheit in der DDR zunehmend zum Problem wird, reflektiert Becher gerade im Blick auf die Kunst immer wieder. In seiner 1988 aus dem Nachlass publizierten »Selbstzensur« – über weite Strecken eine Stellungnahme zum XX. Parteitag der KPdSU, der die Verbrechen der Stalin-Zeit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht hatte – wird die Kritik an der zunehmend als Auftragsdichtung verstandenen schriftstellerischen Arbeit mehr als evident. Becher weist den Vorwurf der mangelnden Volksnähe der Schriftsteller mit dem Argument zurück, dass das, was von den Autoren als Volkstümlichkeit erwartet werde, nichts mit der Realität zu tun habe; es sei »ehrenhafter »in ein beredtes Schweigen zu flüchten, als sich auf die Flucht zu begeben ›nach vorn‹, wo nur der seinen Platz findet, der Bestellungen empfängt und das Bestellte pünktlich wie gewünscht abliefert.«304 Becher versucht mit Konzepten wie dem vom »Leistungsprinzip« (GW XIV, S. 256) dagegenzuhalten, das sich nur aus diesem Kontext heraus wirklich verstehen lässt: Demnach soll in der Kunst keine »Diktatur« herrschen, sondern eine qualitative »Hegemonie, das heißt eine freiwillige Anerkennung der Überlegenheit, sei es die Überlegenheit einer schöpferischen Methode über eine andere, sei es die Überlegenheit eines Dichter über einen anderen« (GW XIV, S. 255 bzw. 255f.). Ähnlich lassen die Ausführungen in Das poetische Prinzip mehrfach recht deutlich eine Distanzierung von einer derartigen verengten präskriptiven Sicht erkennen. In den ersten Sätzen dieses letzten Teils der Bemühungen tritt Becher nicht mehr als Vorbilddichter auf; vielmehr wird ihm der eigene Ruhm zunehmend ›zur Last‹.305 Stattdessen verbittet er sich (wenngleich vergeblich) all die Straßenbenennungen
303 Heider/Thöns 1990, S. 16. 304 Becher: Selbstzensur 1988, S. 551. 305 Becher: Sonett-Werk 1956, S. 230.
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und sonstigen Ehrerbietungen von staatlicher Seite306 und versucht einer Lesart vorzubeugen, die seine Auffassungen auf Schlagworte reduziert und in dieser Form dann zur einzig wahren Sicht überhöht: Ich bin zwar überzeugt, daß das poetische Prinzip, so wie ich es vertrete, der Dichtung die besten Entwicklungsmöglichkeiten bietet und den anderen Prinzipien überlegen ist – aber nur unter der einen Voraussetzung, daß es keinen Monopolcharakter annimmt und eine freie Konkurrenz der verschiedenen Prinzipien untereinander gewährleistet. (GW XIV, S. 255) Die poetologischen Schriften weisen ausgerechnet in den letzten Lebensjahren Bechers nicht mehr den dogmatischen Anspruch auf, der sich vorher durch die (wesentlich kürzeren) programmatischen Äußerungen zieht, sondern sind eher als die Suche nach dem ›Wesen‹ der Dichtung bzw. einzelner Gattungen angelegt, das Becher zu erfassen sucht. Auf der einen Seite steht über dem letzten Band der Bemühungen ein so großer Begriff wie »Das poetische Prinzip« und Becher geht es erklärtermaßen darum, »unsere allgemeine ästhetische Theorie von der künstlerischen Gesetzmäßigkeit […] zu ergänzen« (GW XIV, S. 449). Auf der anderen Seite schränkt Becher die Reichweite seiner Überlegungen bereits in den ersten Sätzen wieder ein. Es handle sich hier nicht »um das poetische Prinzip, nicht um ein poetisches Prinzip im großen und allgemeinen«, sondern nur »um dasjenige poetische Prinzip, das ich in meinen Dichtungen durchzusetzen bemüht bin und das ich demnach für ein richtiges halte« (GW XIV, S. 255; Hervorhebung i. O.). Anstelle des Dogmas, des einzig richtigen Prinzips wird explizit eine Pluralität richtiger Wege angenommen, von denen Becher nur einen gewählt hat, den er in der Folge vorstellen will: »Meine Bemerkungen sind Bemühungen« (GW XIV, S. 449), betont Becher immer wieder: »Es kann selbstredend bei solchen Bemühungen sich nicht darum handeln, Endgültiges zu bieten« (GW XIV, S. 451).
5.6
Endloser Wandel: Wiederanders II
Die Frage nach dem Nachruhm beschäftigt Becher seit der Exilzeit immer wieder und sie wird umso dringlicher, je näher das Lebensende rückt und je mehr Rezeption und ›Realität‹ (aus Bechers Sicht) auseinanderfallen. Schon im Glücksucher geht Becher so weit, aus der Perspektive der Nachwelt auf das eigene Schaffen zurückzublicken und ein Bild von sich zu zeichnen, das ihn als Selbstüberwinder zeigt: Gemeldet sei von mir: »Er litt und rang
306 Vgl. vor allem das Gedicht »Wunsch eines Dichters« (GW VI, S. 538).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Um Deutschland, das er liebte, doch nicht minder Rang er mit sich selbst, wobei ihm viel mißlang. Er trug viel Lasten, und als schwerste Last Trug er sich selbst, daran zerbrach er fast. Er war ein Übergang. Ein Überwinder.«307 Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, reagiert Becher auf die ›Missverständnisse‹ und ideologischen Vereinnahmungsversuche seiner Person zunächst, indem er versucht, die falschen Auffassungen durch Briefe und den Aufruf zur genauen Lektüre zu korrigieren. Demgegenüber kommt es im letzten Lebensjahr, mit Ende der politischen Karriere, zu einer Umstellung der Strategie: Jetzt erhofft Becher kein Verständnis mehr von der gegenwärtigen Öffentlichkeit – sei es die westdeutsche oder die der DDR. Er setzt seine Hoffnungen auf die Nachwelt, an die seine programmatischen Texte nun sehr deutlich gerichtet sind. Ein Gedicht wie das »Testament des Dichters« ist nur in diesem Sinne richtig zu verstehen. Es geht Becher nicht nur darum zu erreichen, dass man ihm das Staatsbegräbnis erspart, wenngleich das der auch anderswo ähnlich artikulierte Wortsinn des Textes ist.308 Stattdessen bringt das Gedicht einmal mehr zum Ausdruck, dass die Person, die Becher für die meisten Menschen inzwischen geworden ist, nichts mit seinem wahren Naturell zu tun hat. Es ist die Aussage, dass doch alles anders ist und die gängige Auffassung revidiert werden muss, die der Dichter (!) als Testament den Nachkommen hinterlässt, um einen Gegenpol zu den »Reden« zu schaffen (GW VI, S. 298), mit denen er bei seinem Begräbnis rechnen muss. Dazu kommt die menschliche Dimension, die das politische Wirksamkeitspostulat der Dichtung schon in Abschied abzulösen beginnt und die Becher nun klarer auf den Punkt bringt. Anstelle eines konkreten gesellschaftsverändernden Engagements lautet die Zielsetzung, ein ›guter‹ Mensch zu werden. Der Dienst an der Menschheit ›künftiger Vollendung‹ wird entscheidend durch die Arbeit an der eigenen Person gesteuert. Damit ist eine neue Stufe der Selbstreflexion erreicht: Das, was für Becher immer typisch war – die bewusste Konstruktion einer eigenen Autorpersona – wird schon im Exil als fortwährender Prozess angesprochen, gilt dann aber vorrangig als problematisches ›Schwanken‹, das durch Selbstdisziplin beendet werden soll. Demgegenüber wird Wandelbarkeit in den späten 1940er und in den 1950er Jahren deutlich aufgewertet, weil im Motiv des ›Anderswerdens‹ die Möglichkeit zur Veränderung, zum Überwinden der für die problematische deutsche Vergangenheit verantwortlichen Mechanismen aufscheint, die Abschied ebenso prägt wie den Aufstand:
307 Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten 1938, S. 19f. 308 Vgl. Dwars 2003, S. 240.
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Das Wort verbraucht sich, Begriffe vergreifen sich und werden vergriffen – und wo die Phrase erscheint und das Schema herrscht – blickt uns drohend das Nichts an. Alles Endliche kann vor der Nichts-Unendlichkeit nur in steter Veränderung und in einem menschlichen Wandel bestehen.309 Diese Aufwertung des Wandels spiegelt sich selbst in Bechers Sonettlehre von 1954. In den 1930er Jahren ist das Sonett für ihn so attraktiv, weil es eine Bezähmung seines ›sprunghaften Temperaments‹ ermöglicht (5.4.1). Es wird daher von ihm zum Signum eines biographischen Einschnitts erhoben, der das Ende des ständigen Suchens und Schwankens zugunsten von Selbstkontrolle und Stabilität markiert. Auch in den späten 1940er und den 1950er Jahren bleibt das Sonett eine der für Becher zentralsten lyrischen Ausdrucksformen; indem er sich jetzt verstärkt der Dichtungstheorie zuwendet, wird 1954 auch das Sonett im Anhang des zweiten Bands der Bemühungen mit einer ausführlicheren Abhandlung versehen, die nun eine ganz andere Perspektive auf diese Gattung erkennen lässt. Die »Philosophie des Sonetts« votiert weniger nur für die Gattung, weil sie Struktur gibt und mit strengen Regeln einhergeht, wenngleich das Problem der Disziplin weiter zentral bleibt. Indem Becher das Sonett als »Grundform der Dichtung« (GW XIV, S. 603) ansetzt, geht es einerseits um die Einheit von Form und Inhalt, anderseits aber um einen angesichts von Bechers Lebenslauf aufschlussreichen zweiten Aspekt. Das Sonett nämlich ist den Ausführungen von 1954 zufolge die dichterische Form, die sich per definitionem wie keine sonst »mit sich selbst im Widerspruch« befindet (GW XIV, S. 607). Gerade dadurch, dass das Sonett ständig Gefahr läuft, zur rein formalen Ausdrucksform, zum bloßen »Vierzehnzeiler« zu werden310 und dann inhaltlich keinerlei Aussagekraft mehr zu besitzen, wohnt ihm eine ständige Spannung und Herausforderung inne, die Tragik in die Lyrik trägt; dies sichert ihm »über die lyrische Gattung hinausreichende Bedeutung und Vollkommenheit« (GW XIV, S. 613). Das Entscheidende dabei ist, dass der Wandel nun weniger als Wandel hin zu etwas verstanden wird wie in Abschied, sondern als ein Wert an sich, als die Fähigkeit zur (selbst)kritischen Reflexion, zum Umdenken und zum Verstehen fremder Weltsichten. Das abwägende Prinzip der theoretischen Schriften wird auf diese Weise zu einem Persönlichkeitsmerkmal und zum Zeichen moralischer Reifung erklärt, woraus sich das letzte Entwicklungsnarrativ Bechers speist. Anstelle der dogmatischen Ansagen, die den Großteil von Bechers Werk durchziehen, stehen nach 1945 Paradoxien wie die, dass der »Gläubige« ein »Ketzer« sein müsse, »um sich seinen Glauben lebendig zu erhalten«.311
309 Becher: Der Aufstand im Menschen 1995 (= 1947/48), S. 110. 310 Zur scharfen Abgrenzung von Vierzehnzeiler und Sonett bei Becher vgl. GW XIV, S. 605f. 311 Becher: Der Aufstand im Menschen 1995 (= 1947/48), S. 212.
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Folgt man Bechers Ausführungen im Aufstand, im Tagebuch 1950 und in den vier Bänden der Bemühungen, wird die Selbstvollendung im Sinne einer charakterlichen Festigung, die im Laufe der Jahre eingetreten ist, ein Argument, das die moralische Überlegenheit ihres Autors in Szene setzt. Die ständige Selbstbefragung nach der eigenen Schuld und den Fehlern der Vergangenheit stellt einen Prozess moralischer Reifung aus, der umso wichtiger wird, je mehr sich die Fronten zwischen Ost und West in den 1950er Jahren verhärten. Becher verortet sich in dieser Auseinandersetzung wie gezeigt bewusst auf der Seite einer differenzierteren Sichtweise, die nicht von der schlichten Diffamierung des jeweils anderen geleitet ist, sondern nach dem ›Guten und Vernünftigen‹ sucht.312 Genau diese Fähigkeit zur Differenzierung und zum Aushalten auch widersprüchlicher Befunde stellen die Aphorismen und essayistischen Arbeiten des Spätwerks zur Schau. Die gelungene Selbstvollendung ist insofern eine Überwindung der extremen Positionen (die jetzt die zwei deutschen Staaten gewissermaßen stattdessen vertreten), die Becher vor allem bis Ende der 1920er vertreten hatte. Den Endpunkt bildet zwar nach wie vor die Entscheidung für eine bestimmte Sichtweise, die Becher für ›richtig‹ hält. In diesem Sinne ist der Kulturbund als zwar überparteiliche, aber ›nicht neutrale‹ Institution angelegt313 und aus diesem Kontext heraus wird auch klar, warum Becher immer noch ein poetisches Prinzip sucht, wenn es auch nur dasjenige ist, das er selbst ohne Absolutheitsanspruch für zutreffend hält. Auffällig ist aber das Ausmaß an Abwägung, das der späte Becher ständig als der Entscheidung für ein bestimmtes Konzept vorangehend hervorhebt. Hier werden keine Dogmen mehr behauptet, deren Grundlagen ungeklärt bleiben. Im Gegenteil sagt Becher nun in vielen Texten der »schädliche[n] Verallgemeinerung«314 den Kampf an und macht die Vorläufigkeit jeglicher Schlussfolgerung ebenso deutlich wie die Tatsache, dass jeder Sachverhalt auf Prämissen beruht und ihm deshalb eine grundsätzliche Unsicherheit innewohnt: »Nichts ist selbstverständlich, nichts versteht sich von selbst…«315 Für ihn ist es folglich entscheidend klar zu machen, dass das, was er als Wahrheit ansieht, aus einem längeren Reflexionsprozess hervorgeht, der verschiedene Positionen gegeneinander abgewogen hat und von daher immer etwas Vorläufiges hat. Deshalb bezieht sich die These der Vollendung nur auf das eigene Selbst – auf die Erarbeitung eben jener kritischen Haltung zur Welt –, während die konkreten Inhalte und Ansichten nun öfter mit für Becher ungewohnter Vorsicht formuliert werden. Die Folge ist aber auch, dass Becher aufgrund dieser differenzierten Haltung wieder als Vorbildfigur erscheinen kann, weil das Abwägen gerade in der ideo-
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Vgl. ebd. S. 12. Vgl. Schiller 2009. Becher: Der Aufstand im Menschen 1995 (= 1947/48), S. 6. Ebd., S. 63.
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logisch zugespitzten Situation der Nachkriegszeit Bechers Erfahrung nach nicht die Regel ist, wie der Konflikt zwischen Becher und seiner ost- wie westdeutschen Rezeption zeigt. Zwar ist mit der Pluralität der Selbstentwürfe nach wie vor das schmerzhafte Fehlen einer ›festen‹ Identität verbunden und am Ende steht immer noch der Wunsch einem Zur-Ruhe-Kommen der Suche nach dem Eigentlichen. In diesem Sinne kann Becher erklären, sich selbst tatsächlich vollendet zu haben. Die Idee der Selbstvollendung geht indes über die Betonung des endlich erreichten Abschlusspunktes hinaus. Zu bemerken ist dies zunächst daran, dass sie den Fokus auf die charakterliche Entwicklung des Autors legt und das literarische Werk bewusst vom Befund der Abgeschlossenheit ausnimmt. Somit läuft die Feststellung der Texte weniger auf die Feststellung einer endlich gefundenen ästhetischen Leitlinie hinaus, die nicht wieder zurückgenommen oder anderweitig ersetzt werden muss. Die Kategorie der Vollendung bezieht sich augenscheinlich genug gerade nicht auf das eigene künstlerische Schaffen oder dessen poetologische Grundlagen. ›Vollendet‹ hat sich der Autor stattdessen selbst. Es geht also um den Menschen, der hinter den literarischen Arbeiten steht, und um dessen moralische Festigkeit. Diese Kategorie ist die entscheidende in den aphoristischen Reflexionen in Der Aufstand des Menschen (1948). Dieses stark von den Erfahrungen des Nationalsozialismus geprägte Buch trägt seinen Titel nicht ohne Grund und eröffnet mit dem berühmten Satz, dass man »von der Größe des Menschen nicht sprechen« könne, »ohne von seinem Elend zu sprechen.«316 Bezeichnenderweise wird moralische Unterweisung bereits im nächsten Atemzug klar zurückgewiesen, deren Inhalte »nur eine auserlesene Minderheit verwirklichen kann.«317 Entscheidend ist an dieser Stelle bereits, wie Becher den von ihm vorher so gerne bemühten Imperativ einsetzt. Im Vergleich zum Frühwerk wie zu den Lieddichtungen der späten 1940er Jahre sticht der erste Abschnitt des Aufstands heraus, weil dessen Imperativ bewusst nicht (mehr) dogmatischer Natur ist, sondern stattdessen nach einer auffällig genauen und die historischen Gegebenheiten berücksichtigenden Definition sucht: »Sage nicht: Sei ein anständiger Mensch. Sage nur: was ein anständiger Mensch ist, und zwar, was ein anständiger Mensch ist heute, unter den oder jenen Bedingungen.«318 Das Menschsein ist als Kategorie zentral, weil es sich einer »Selbstentfremdung des Menschen und seiner Verdinglichung« zu widersetzen gilt,319 in der hier vor allem das Mitläufertum und das in Abschied so zentrale ›Strammstehen‹ aufscheinen, die die Freiheit des Menschen beeinträchtigen.320
316 317 318 319 320
Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. Ebd., S. 14f. Vgl. ebd., S. 71.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
Das wahre Manifest des ständigen Wandels freilich ist Bechers letzter, nicht mehr fertig gestellter Roman, der an das Konzept von Abschied anschließend wieder autobiographisch konstruiert ist und von Becher als Fortsetzung des Romans von 1940 gedacht war321 und frühromantischer kaum sein könnte: War Abschied abgesehen von den Träumen und Vorstellungen des Erzählers immerhin noch als tendenziell realistischer Roman lesbar, insofern er die Geschichte eines politischen Erkenntnisprozesses erzählt, ist die ›Fortsetzung‹ schwerpunktmäßig ein Künstlerroman, der das Schreiben, nachdem es in Abschied am Ende immerhin vorkommt, nun selbstreferenziell zum Hauptthema macht und die beiden Ebenen – Erinnerung und Schreibprozess – in einer Art und Weise ineinander übergehen lässt, die dem Leser jeglichen Halt entzieht und so vor allem »schöne Verwirrung der Phantasie«322 produziert. Das (unwillkürliche) Fragment dreht sich erneut um das Problem der literarischen Verarbeitung der eigenen Lebensentscheidungen und der damit einhergehenden Autorbiographie. Dieses aus drei Büchern bestehende Manuskript aus dem Nachlass, das in der Werkausgabe ca. 150 Seiten umfasst, ist eigentlich nicht wirklich als Fortsetzung von Abschied zu beschreiben: Zum einen trägt der Protagonist einen anderen Namen und die Erzählhaltung ist deutlich verschieden. Zum anderen erzählt Wiederanders über weite Strecken die in Abschied im Zentrum stehenden Ereignisse noch einmal, um erst im zweiten Buch darüber hinauszugehen. Auf den ersten Blick scheint sich Becher gegenüber Abschied jetzt stärker an die realen Begebenheiten zu halten, da der Protagonist von Wiederanders nun vor dem Kriegsbeginn zum Studium nach Berlin geht, im Verlag seines Freundes Aichinger (= F. S. Bachmair) publiziert und damit anders als Gastl ungefähr in Bechers Alter sein muss. Dabei ist das Verfahren, was die Figuren betrifft, recht ähnlich: Hinter den einzelnen Personen sind – wie das Beispiel Aichinger/Bachmair zeigt – fast immer reale Vorbilder zu erkennen, die nur unter anderem Namen auftreten. Geht es in Abschied noch um politische Meinungsänderung und um Dichterwerdung, steht in Wiederanders gemäß der Entscheidung für den ›Weg des Dichters‹ primär die Entwicklung des Protagonisten zum Dichter im Zentrum, während politisch-ideologische Zusammenhänge nur noch gestreift werden. Vor allem aber erweist sich der Text bei näherem Hinsehen als intertextuell angelegte Auseinandersetzung mit Abschied und autobiographischem Schreiben an sich. Der Titel Wiederanders, der sich eigentlich auf den Namen der Hauptfigur bezieht, bekommt einen aufschlussreichen Nebensinn, wenn Becher seine Geschichte noch einmal und zwar ›wieder anders‹ erzählt. Etwa findet sich in Abschied die Episode, in der nur Hartinger vom Lehrer für das gemeinsame Schwänzen mit Hans Gastl 321
Auch der Untertitel des Romans von 1940 impliziert bereits einen weiteren Teil (vgl. GW XI, S. 665ff.). 322 Schlegel 2002, S. 195.
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bestraft wird, weil man dem Sohn eines Staatsanwalts nicht zutraut, selbst eine solche Tat angestiftet zu haben, und sein Vergehen auf den schlechten Einfluss des Freundes zurückführt. In Wiederanders gibt es diese Szene auch – nur mit umgekehrten Rollen: Nun sind es der Hausmeistersohn Wedel, der »für die Unschuld seines Freundes« hätte eintreten müssen, und der Juristensohn Hans Anders, der unrechtmäßig bestraft wird (GW XI, S. 456f.). Wollte man die Texte, wie dies der bisherigen Forschungspraxis weitgehend entspricht, als biographische Quellen zu Bechers Jugend lesen, hätte man das Problem von zwei einander widersprechenden Versionen, von denen sich nicht sagen lässt, welche die ›richtige‹ ist bzw. ob das Ereignis überhaupt stattgefunden hat. Während Abschied – wie erwähnt – einen Ich-Erzähler aufweist, wobei das erzählende Ich ohne eigene Kontur bleibt, findet sich in Wiederanders eine heterodiegetische Erzählhaltung, die allerdings in Rahmen- und Binnenhandlung unterteilt ist. In der Rahmenhandlung erinnert sich ein fünfundsechzigjähriger Mann an seine Jugend, die dann die ebenfalls heterodiegetische323 Binnenerzählung bildet. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass der Erzähler zuverlässiger wäre als in Abschied. Schon die Identität des Protagonisten wird nie ganz klar, weil er zweimal den Namen geändert hat, ohne dass man je erfährt, wie er ursprünglich heißt: Als er damals, neunzehn Jahre alt, das Elternhaus verlassen hatte und auf der Straße stand und nicht wußte, wohin, legte er seinen Namen ab und nannte sich »Anders«. Ein halbes Jahrhundert später kannte er noch immer seinen Beruf nicht. Ein verfehltes Leben, dachte er oftmals. Noch immer konnte er nichts mit sich anfangen. Seinen ursprünglichen Namen hatte er wieder angenommen, alsbald ihn aber wieder abgelegt und sich »Wiederanders« genannt, und dabei blieb es. (GW XI, S. 444) Vor dem Hintergrund der Terminologie Lejeunes ist man damit als Leser in einer gewissen Pattsituation, weil sich eben nicht entscheiden lässt, ob der autobiographische Pakt – die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist – hier gegeben ist oder nicht. Lediglich indirekt lässt sich dieser Befund verneinen, da die Frau des Erzählers einen anderen Namen (Marie) trägt als die des Autors (Lilly). Dazu kommt, dass die Übergänge zwischen den beiden Ebenen z.T. fließend sind und sich die Rahmenhandlung von einer realistischen Darstellung häufig entfernt. Beispielsweise entdeckt der alte Mann mit der Zeit, dass seine Figuren nicht mehr das tun, »was er von ihnen wollte«, sondern »ihrem eigenen Gesetz« folgen
323 Vereinzelt kippt die Erzählung in eine homodiegetische Erzählhaltung (z.B. GW XI, S. 470f.), was allerdings auch mit dem Manuskriptcharakter des unfertigen Textes zusammenhängen kann.
5. Erzählungen von Kunst und Leben
(GW XI, S. 579). Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil die Personen aus seiner Vergangenheit, an die sich der Fünfundsechzigjährige beim Schreiben erinnert, dann plötzlich vor seinem Schreibtisch stehen und die Jahre 1914 und 1957 gleichzeitig stattfinden (vgl. GW XI, S. 581f.). Weiterhin verwischen die Grenzen zwischen Realität der Rahmenhandlung und fiktionalisierter Erinnerung an mehreren Stellen so stark, dass eine Unterscheidung kaum mehr möglich ist. Deutlich wird das immer, wenn die Frau des Fünfundsechzigjährigen das Zimmer betrifft, deren Name nach Bechers expressionistischer Phase die erste erneute Reminiszenz an Charles-Louis Philippes Roman Marie Donadieu ist, der in Wiederanders als Lektüre des jungen Hans Anders auch explizit erwähnt wird (GW XI, S. 539). So unterbricht Marie einmal den Streit ihres Mannes mit seinem jüngeren Ich mit den Worten: »Schämt ihr euch denn nicht, ihr seid wohl verrückt, was?« (GW XI, S. 467; Hervorhebungen: K. E.). Später macht sie die Figuren der – auch als ›Roman‹ bezeichneten (vgl. GW XI, S. 439) – Binnengeschichte für den Rauch im Zimmer verantwortlich und setzt damit ihre reale Anwesenheit voraus, um gleich darauf wieder auf ihren Status als bloße Figuren hinzuweisen: »Da habt ihr ja wieder was zusammengequalmt«, scherzte sie und öffnete auch die Tür zum Garten, daß das Blühen der Beete üppig=bunt hereindrang. »Der Wagemühl, der sollte wirklich die Raucherei sein lassen, und der Wedel sieht schon aus wie die leibhaftige Nikotinvergiftung… Gib nur acht, dass deine Figuren auch Menschen bleiben und nicht wirken wie Insassen eines Abnormitätenkabinetts.« (GW XI, S. 581) Sieht man genauer hin, ist an dieser Stelle jedoch schon die Anwesenheit von Marie selbst recht fragwürdiger Natur. Während sie in anderen Passagen einfach ins Zimmer tritt, wird sie hier von dem Fünfundsechzigjährigen herbeigerufen. Wenn er aber »nur zu flüstern« braucht »und sie war da« (GW XI, S. 580), lässt sich nicht ausschließen, dass der Protagonist seine Frau ebenso imaginativ herbeigeholt hat wie die Figuren aus seiner Vergangenheit – was den Realitätsstatus und die Glaubwürdigkeit der gesamten Rahmenhandlung zumindest zweifelhaft macht. Trotzdem kommt man nicht weit, wenn man sich allein auf inhaltliche Aspekte konzentriert und in Hans Anders erneut ein Alter-Ego Bechers entdeckt. Wichtig ist zu beachten, dass Becher diese Lesart bewusst thematisiert. Wenn die ästhetische Selbstverortung seit 1912 für Bechers Prosa charakteristisch ist, liegt sie nirgendwo so nahe wie im autobiographischen Roman. Wird dieses Verfahren allerdings bereits in Abschied nicht mehr in seiner ursprünglichen Form angewandt, sondern durch einen unzuverlässigen Erzähler unterlaufen, ergeben sich in Wiederanders weitere Probleme. In Wiederanders findet beispielsweise eine Verdopplung des Alter-Egos statt: Zu dem jungen Pendant des Autors (Hans Gastl in Abschied und Hans Anders in der
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Binnengeschichte von Wiederanders) kommt mit dem Fünfundsechzigjährigen am Schreibtisch in der Rahmenhandlung eine Figur hinzu, die nicht nur dasselbe Alter hat wie ihr Erfinder zum Zeitpunkt des Beginns der Niederschrift 1956. Auch sonst hat Wiederanders einiges mit dem alten Becher gemeinsam: Wie Becher selbst sieht sich der Protagonist nun zum ersten Mal mit Freizeit und dem Fehlen einer Sekretärin konfrontiert, weil er von seinen Amtsgeschäften als Minister entbunden worden ist (GW XI, S. 448f.). Gleichzeitig reagiert er mit seinen Erinnerungen auf die auch an Becher in dieser Zeit oft gestellte Forderung, »irgendwelchen Leuten gegenüber […] eine Art von Rechenschaftsbericht« abzulegen (GW XI, S. 444).324 Schließlich gehen fiktionsintern nicht bloß Realität und Fiktion in einander über. Darüber hinaus setzt der Text schon mit einer mise en abyme ein. So denkt der Pensionär am Schreibtisch zunächst über den ersten Satz nach, den er schreiben will und kommt schließlich zu einer Lösung, die »in nichts anderem« besteht »als, wie es der Wirklichkeit entspricht: ›Er war fünfundsechzig.‹« (GW XI, S. 438). Das Manuskript des fünfundsechzigjährigen Protagonisten beginnt damit mit den gleichen Worten wie auch das Romanfragment selbst: »Er war fünfundsechzig« (GW XI, S. 437). Auf diese Weise fließen der Erzähler der Rahmenhandlung (ein nicht näher bestimmter heterodiegetischer Erzähler) und der der Binnenerzählung (der alte Mann am Schreibtisch) ineinander. Die ›Rechtfertigung‹ des eigenen Lebenswegs wird also nicht einfach geschrieben, sondern selbst erzählerisch zum Problem gemacht. Der Roman verweist darauf, dass seit Menschengedenken »alte Männer, gebeugt vom Vergangenen, ihre Geschichte niederschreiben« und dies immer tun werden (GW XI, S. 467). Die Selbstreferenz des Textes wird potenziert durch die autobiographische Folie und die spezifische Figurenkonstellation. Nicht nur stimmt nämlich die Schreibsituation des Autors mit der des Protagonisten überein; der fünfundsechzigjährige Protagonist ist selbst aus verschiedenen Figuren zusammengesetzt und kann seine Identität nicht klar bestimmen: »denn nicht zwei Seelen wohnten in seiner Brust, sondern ein ganzer Seelenverein« (GW XI, S. 464). Dies hat zur Folge, dass sich verschiedene ›Seelen‹ miteinander über das Romankonzept streiten und eine schlichte biographische Lesart des Textes vollkommen unmöglich machen: Er wollte jemanden um Rat bitten, um Hilfe. Aber dieser Kerl da, mit dem er eine verdammte Ähnlichkeit hatte, ließ ihm keine Ruhe.
324 Davon, dass sich Becher vor allem vonseiten der westdeutschen Presse in den 1950er Jahren zur einer Rechtfertigung und zu Richtigstellungen seines Lebenslaufs veranlasst sah, zeugen etwa die Briefe an den Deutschen Bundes-Verlag Bonn vom 23. Juli 1953 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 460) oder an die Redaktion »Das freie Wort« Düsseldorf vom 15. Juni 1955 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 479ff).
5. Erzählungen von Kunst und Leben
»Nichts ist einfacher als solch ein Kindheitsroman, solche albernen Kindergeschichten. Mögen sie noch so schlecht geschrieben sein, sie wirken immer wie aus einer Märchentruhe hervorgezaubert, und man hört ihnen zu, auch wenig sie traurig sind, denn lang, lang ist’s her. Ein merkwürdiger Glanz liegt auf dem allen.« »Das mag sein«, erwiderte der Kerl, der seine Kindheit so aufdringlich vortrug, und bedeutete: »Du mußt deine Romanfigur reichlich mit Kindheit ausstatten, damit sie später nicht allzu unsympathisch wirkt – die Leser müssen sich immer wieder an seine Kindheit erinnern, wenn einer ein Schurke wird […].« (GW XI, S. 467) An dieser Stelle wird das Thema des ersten Buches – der Auszug des jungen Hans Anders aus dem Elternhaus – dekonstruiert und als Einstieg abgewertet – was freilich nichts daran ändert, dass das Fragment Wiederanders trotzdem genau diese Geschichte erzählt. Allerdings macht die Passage auch eine Referenz auf Abschied möglich, die an einer späteren Stelle sogar explizit hergestellt wird. So lässt der alte Mann am Ende des ersten Buchs erneut die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmen, indem er sagt, er habe seine Jugend noch einmal geschrieben und nun könne man »diese Beschreibung mit der vor zwanzig Jahren vergleichen und untersuchen, worin die beiden Beschreibungen sich voneinander unterscheiden« (GW XI, S. 512). Wo der Autor – als Künstler wie als Mensch – selbst steht, lässt sich dem Romanfragment Wiederanders nicht mehr entnehmen. Vielmehr wird die Praxis einer solchen Standortbestimmung, die Bechers frühe Prosa prägt, hier als Modell zwar thematisiert, aber letztlich noch weniger umgesetzt als in Abschied. Der ›zweite Teil‹ des autobiographischen Romans von 1940 dreht sich im Gegenteil ausschließlich um sich selbst, indem seine Erzählhaltung ständig problematisiert und ironisiert wird. Hier zeigt sich ein Wandel in der Funktion, die Becher der Erzählprosa zuspricht: War diese bis in die 1930er Jahre hinein der Ort für poetologische Selbstverortungen, wird diese Aufgabe während Bechers letztem Lebensjahrzehnt von den theoretischen Überlegungen in den Bemühungen (1952-57) abgelöst. Was dabei in der Erzählprosa entsteht, erinnert aber erneut sehr viel mehr an (früh-)romantische Erzählweisen als an die Romane, die parallel zu Bechers Wiederanders in der frühen DDR entstanden sind. Nicht nur ist Becher hier anders als in den zeitgleich geschriebenen Gedichten und neuen ›Volkliedern‹ weit davon entfernt, die Arbeitswelt oder den Wiederaufbau zu thematisieren. Zudem fehlt dem Romanfragment im Unterschied zu Abschied jegliche politisch-ideologische Dimension. Wenn zentrale Kriterien des Sozialistischen Realismus hier nicht (mehr) eingelöst werden, treten an ihre Stelle Ironie, Selbstreferentialität und fließende Übergänge zwischen Realität und Fiktion, die mitunter sogar eine phantastische Dimension sichtbar werden lassen. Während Becher in der Lyrik der 1950er
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Jahre nicht selten eine offen politische Linie verfolgt, zieht er sich in der Prosa gerade in einen eher der Ästhetik gewidmeten autonomen Bereich zurück, statt sich der offiziellen literaturpolitischen Linie anzuschließen, und ironisiert das eigene Prosaverfahren. Bechers letztes Romanfragment zeigt auf diese Weise dieselbe Entwicklung, die auch in den späten Gedichten offenkundig wird: Der Politiker Becher ist im ›Ruhestand‹, während der Dichter gleichsam wieder ›aufersteht‹. Damit endet der Konflikt, in den Becher in seinem letzten Lebensjahrzehnt geraten war, nach langer Suche doch wieder im Postulat eines ›einzig richtigen Wegs‹, der nun der »Weg der Dichtung« ist. Nun hat die Reflexion auf die eigene Entwicklung, wie sie in Wiederanders stattfindet, freilich ihre Konsequenzen für das Verständnis von Autorschaft, das hier kommuniziert wird. Denn der letzte (unfertige) Roman Bechers hat – stärker noch als Abschied – die Tendenz zur Selbstbeschreibung nicht nur der eigenen Biographie und dichterischen Entwicklung. Dem Text lässt sich nicht ohne Grund gerade das Schreibverfahren ablesen, das Bechers gesamtes Lebenswerk bestimmt. Indem der Wandel und die Suche nach Dauer bzw. Identität jetzt selbst zum Thema werden, eröffnet das Buch eine Meta-Ebene. Dass die Überlegungen der fiktiven, aber doch erkennbar nach Bechers eigenem Vorbild modellierten Erzählerfigur in dieser Weise erhellenden Charakter haben, wurde bereits zu Beginn dieser Studie deutlich gemacht. Indes bleibt die Frage nach dem Status der Meta-Reflexion selbst. Denn nicht allein die Betonung des Wandels, der vorher eher zu stimmigen und oft teleologischen Entwicklungsnarrativen umgedeutet worden ist, markiert einen merklichen Einschnitt in Bechers Autorschaftsgebahren. Die Suche nach der eigenen Handschrift ist 1958 nicht mehr (nur) ein ständig im Hintergrund ablaufender Prozess; sie tritt selbst in den Vordergrund und wird explizit thematisiert und reflektiert, also als Verfahren erkannt und sichtbar gemacht. Diese Verschiebung lässt sich nun einerseits daraus erklären, dass die späten Werke stärker summierenden Charakter haben und an die Stelle einer »Chronik« treten, die Becher hätte schreiben müssen, wäre nicht das »Leben eines Dichters […] am besten zu erkennen aus seinen Werken« (GW XVII, S. 416). Anderseits deutet die Verschiebung aber auch darauf hin, dass das bisherige Modell nicht mehr in gleicher Weise funktioniert. Dies lässt sich auf der Basis der dargestellten Situation leicht nachvollziehen: Während Becher zeitlebens im Wesentlichen in der Lage war, seine Autorschaftsnarrative durchzusetzen und damit immer wieder den Eindruck der eigenen Repräsentativität für bestimmte Bewegungen oder Strömungen zu signalisieren, gerät das Modell ab Ende der 1940er Jahre eine Krise. So sehr der Name Becher jetzt stellvertretend wieder für etwas steht – nämlich die (Kultur-)Politik der frühen DDR, so wenig entspricht das erzeugte Bild dem, das Becher eigentlich von sich vermitteln will. Dies ist nicht von Anfang an so, wie die Wiederbelebungsversuche des Volkslieds und andere ›Aufbau‹-Gedichte zeigen. Zunehmend wird aber aus der re-
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al geschaffenen Repräsentativität des Staatsmanns ein Problem, weil sie Becher auf eine Vertreterrolle des sozialistischen Deutschlands festlegt, mit der er selbst, wie die späten Schriftzeugnisse zeigen, immer weniger übereinstimmt, weil sowohl die öffentliche Wahrnehmung Bechers in der DDR als auch in der Bundesrepublik im Rahmen der gegenseitigen Abgrenzung ein Eigenleben annimmt. Der Zenit des Autorschaftsmodells, das Leben und Kunst zusammenführt und die Dichteridentität aus der Einheit mit eigenen Zeit heraus begründet, ist überschritten und wird in dieser Weise brüchig. Damit signalisiert das erhöhte Reflexionsniveau in Wiederanders, das nicht ohne Grund auf eine an die Frühromantik erinnernde ironische Erzählweise zurückgreift, das Ende einer Selbstinszenierungspraxis, die Autorschaft in der beschriebenen Weise an die Gegenwart bindet und ihre Zeitgemäßheit behauptet wie verlangt. Diese Forderung wird in Wiederanders in mehrerer Hinsicht aufgegeben: ästhetisch, indem Becher den Bezug zur dichterischen Tradition, die Orientierung an aktuellen Schreibweisen und die Aufnahme ›neuer‹ ästhetischer Errungenschaften endgültig aufkündigt; inhaltlich, indem die Rückbindung der Dichtung an die (Tages-)Politik zugunsten der Poesie verabschiedet und die Veränderung an die Stelle der Entscheidung tritt bzw. das Muster des zielgerichteten Entwicklungsnarrativs durch die Betonung der ebenso unabgeschlossenen wie unabschließbaren Suche ersetzt wird. Damit geht um die ›Jahrhundertmitte‹ ein Leitprinzip von Autorschaft zu Ende, das sich die vorangegangenen fünf Jahrzehnte aller politischen Krisen und ästhetischen Experimente zum Trotz stabil gehalten hatte.
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Obwohl Becher generell stark zu Entweder-Oder-Entscheidungen tendiert, fällt auf, dass er im Hinblick auf die Beschreibung seines eigenen Tuns ebenso wie in Bezug auf grundsätzliche poetologisch-programmatische Fragestellungen stets mit dem Dichter-Begriff operiert, den er vor dem Hintergrund der Debatten um die Neue Sachlichkeit eigentlich durch den des Schriftstellers oder des Literaten hätte ersetzen oder mindestens aus kritischer Distanz heraus betrachten müssen.1 Genau das tut Becher aber nicht, sondern er stellt den Dichter und die Dichtung selbst dann noch ins Zentrum seiner Überlegungen, wenn er alle traditionellen sonstigen Konzepte verwirft und der »Dichtung an sich« eine »Dichtung als Tendenz« entgegensetzt (GW XV, S. 593). Der Verallgemeinerungsgestus, der diesem ›poetischen Prinzip‹ innewohnt,2 hat nun zur Folge, dass die Dichtung an sich bzw. der Dichter an sich Thema werden – und zwar im Hinblick auf ihre Funktion innerhalb der Gesellschaft. Spätestens ab Ende der 1920er Jahre treibt Becher explizit die Frage um, welchen Status Dichtung im erläuterten Sinne für die Gegenwart haben kann oder soll. Dabei läuft der Kerngedanke darauf hinaus, dass Dichtung – hier wirken die Debatten der Neuen Sachlichkeit ebenso nach wie die Anforderungen an ›kommunistische‹ propagandistische Literatur – etwas ›Altes‹ oder gar Altmodisches ist und folglich der Legitimation bedarf. Der emphatische Dichterbegriff, den Becher zeitlebens für sich reklamiert, weist bereits darauf hin, dass es einen gewissen Widerspruch gibt zwischen dem zur Schau gestellten Streben nach Gegenwartspassung des eigenen Werks und seinen poetologischen Prämissen, die mehr in Richtung einer (Neo-)Romantik weisen, womit die an Richard Dehmel geschulten ersten Arbeiten mehr sind als die Fußnote, als die sie in der Forschung bislang behandelt werden.3
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Vgl. Becker 2009, S. 256. Vgl. ebd. Es gibt keine einzige Studie zum vorexpressionistischen Frühwerk Bechers; lediglich die Kleist-Hymne von 1911 findet gelegentlich (kurze) Erwähnung, z.B. bei Haase 1981b, S. 16 oder Richter 1982, S. 10.
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Das Verhältnis Bechers zur Moderne ist insofern ein typisch zwiespältiges: Zu dem unbedingten Streben nach Modernität gesellt sich bei näherem Hinsehen eine Wertschätzung traditioneller Dichtungsweisen, die von Anfang an zu beobachten ist, von Becher aber lange Zeit zurückgedrängt wird, bevor sie am Ende seines Lebens wieder die dominierende Kraft wird. Sichtbar ist dieser Aspekt an dem emphatischen Dichtungsverständnis, das von 1912 bis 1958 mehr oder weniger unverändert bleibt und alle programmatischen Neuausrichtungen überlebt. Spätestens Ende der 1920er Jahre zeichnet sich bei Becher die Tendenz ab, die Dichtung (in ihrem alten Sinne) für die Moderne ›retten‹ zu wollen und ihr einen Platz in einer Gesellschaft zu sichern, in der technische Entwicklungen und Weltanschauungen sie überflüssig zu machen drohen. Deshalb wird mit der Entscheidung für eine politische Laufbahn die Versöhnung von ›Staatsmann‹ und ›Dichter‹ zu einer wesentlichen Aufgabe, die schließlich – so viel kann man vorwegnehmen – zugunsten des Dichters entschieden wird. Die Modernität Bechers zerfällt also in den unbedingten Willen zur Moderne (im Sinne von Repräsentativität und Aktualität) und einem gewissen Leiden an eben dieser Entwicklung, die immer wieder die Grundlagen der eigenen dichterischen Tätigkeit gefährdet, was die wiederholte Produktion von Lösungsansätzen für diesen Widerspruch zur Folge hat. Gemeinhin gilt Becher auch in seinen ›gelungenen‹ Texten letztlich als unorigineller Autor, der selbst kaum für ästhetische Neuerungen verantwortlich ist, sondern die wesentlichen Anregungen von anderen übernimmt und nur in radikalerer Form zusammenführt. Bechers Intertextualität wird somit vorrangig als Epigonalität geführt und zwar als eine, die noch einmal den Anspruch einer gezielten Auswahl für sich erheben kann. In der Tat ist kaum zu übersehen, dass die Becherschen Arbeiten durchweg mit diversen Verweisen und Übernahmen arbeiten und folglich ohne eine Rekonstruktion ihrer intertextuellen Anlage kaum angemessen zu bewerten sind. Denn er nutzt anstehende Editionen und Überarbeitungen stets dazu, die eigene Dichterentwicklung für den Leser neu zu deuten und die bisherigen Arbeiten als logische Vorstufen der jeweils aktuell von ihm vertretenen Poetik sichtbar zu machen. Insgesamt bemüht er sich ständig um die Bildung von Kohärenz: Schon sein expressionistisches Werk ist letztlich eine kritische Auseinandersetzung mit den an Richard Dehmel geschulten ersten literarischen Arbeiten und diese selbstkritischen Entwicklungserzählungen setzen sich bis zu Bechers Lebensende hin fort. Damit wird die Aneignung anderer Texte zum konstitutiven Element in einem Programm, das in den unterschiedlichen Stufen doch immer wieder darauf hinausläuft, die eigene Dichtung aktuell zu halten oder sie zumindest als aktuell (und somit als relevant) zu markieren. Von daher ist es nur konsequent, wenn sich mit wenigen Ausnahmen4 die Referenzen Bechers auf Fremd4
Zu diesen gehören Hölderlin und Rimbaud, wobei sich deren Rezeption durch Becher gleichfalls immer den jeweils veränderten ästhetischen und politischen Ansichten anpasst. Wäh-
6. Fazit: Becher als moderner Dichter
texte mit dem jeweils vertretenen programmatischen Kontext verändern. Es gibt also nicht die zentralen Vorbilder, die Becher prägen und dann für sein Gesamtwerk von Bedeutung sind, noch zeichnet sich nach einem ›Anfang‹ ein anderes stabiles Netz an Einflussgebern ab. Im Gegenteil führt der Verweispfad über die literarhistorisch generell beobachtbaren Großentwicklungen – was kein Zufall ist und auch kein bloßes Verhaftetsein in der eigenen Zeit, sondern die bewusste Entscheidung für die sichtbare Rezeption ›aktueller‹ Tendenzen, aus der sich Bechers ständige Repräsentativität innerhalb diverser künstlerischer Bewegungen ergibt: Am Anfang der 1910er Jahre bezieht sich Becher explizit (und durchaus in einer schrittweisen Loslösung kritischer werdend) neben Dehmel und Waldemar Bonsels vor allem auf Heinrich von Kleist, lässt aber auch eine Rezeption von Arno Holz’ Phantasus erkennen – was man über fast alle kurz danach als Expressionisten hervortretenden Autoren sagen kann. Der Weg in den Expressionismus, wie er mit dem Wechsel des Sprachduktus 1913/14 erkennbar wird, führt zu einer verstärkten Rezeption der französischen Modernisten Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud, die Kleist an die Seite gestellt werden, sowie zu einer z.T. geradezu in einen Dialog übergehenden Rezeption der gerade in Deutschland schreibenden Expressionisten. Becher spielt mehrfach auf Jakob van Hoddis‹ »Weltende« an, das die Bewegung symbolisch einleitet, womit die eigene Zuordnung zu ihr nachhaltig betont wird. Die sprachliche Gestaltung läuft auf eine Zusammenführung und Steigerung der expressionistischen Errungenschaften hinaus,5 während mit den Schriften Georg Heyms und Emmy Hennings’ eine ausdrückliche Auseinandersetzung stattfindet. Im Anschluss daran orientiert sich Becher an Vladimir Majakowski und den italienischen Futuristen, um sich in den 1930er Jahren im Exil infolge der Expressionismus-Debatte mit dem deutschen Realismus und der Barockdichtung zu beschäftigen. Damit ist Becher bei Lukács’ nach dem Vorbild der Literatur des 19. Jahrhunderts modellierten Sozialistischem Realismus und bei Brecht, der u.a. ebenfalls eine Parallele zwischen Dreißigjährigem Krieg und den Kriegen des 20. Jahrhunderts zieht. Nach dem Kriegsende wird die produktive Auswertung von Weimarer Klassik und Romantik die entscheidende Orientierungslinie, weil sich ein deutscher Neuanfang nach der jüngsten Katastrophe nur über den Verweis auf diese ›bessere‹ Tradition denken lässt. Die Wahl der Referenzautoren ist eines der wichtigsten Argumente zur Unterteilung von Bechers Schaffen in zwei Phasen, deren Grenze irgendwo um 1930 verläuft und die mit der Bewertung bestimmter Vorläufer wie der eigenen Arbeit
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rend der Expressionist Becher an Rimbaud vor allem dessen sprachlich-thematische Radikalität bewundert, sieht er später als Revolutionär, womit die Biographie des Franzosen wichtiger wird als sein Werk. Vgl. dazu Rauthe 2002. Vgl. auch Demetz 1990, S. 105.
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zu tun hat. Damit ist indes nur eine Dimension von Bechers Umgang mit vorhandenem Textmaterial erfasst. Darüber hinaus bezieht sich die intertextuelle Verflechtung keinesfalls allein auf die Verarbeitung von Fremdmaterial. Im Gegenteil wird für Becher auch immer das eigene vorhandene Werk zum Ausgangsmaterial der Weiterverarbeitung. So stehen dieselben (oder umgearbeiteten Texte) schließlich wieder in einem neuen ästhetischen oder kommunikativen Gesamtzusammenhang, was dazu führt, dass ihr programmatischer Wert mehrfach neu bestimmt wird. Dabei nimmt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk den Charakter einer Selbstkorrektur bzw. »Korrektur-Ideologie« (GW XIV, S. 281) an, deren Charakter Becher in den späteren 1950er wiederum selbstkritisch ›korrigiert‹. Folglich ergeben sich drei Schwerpunkte intertextueller Arbeit, die eine gemeinsame Funktion erfüllen: erstens die Aufnahme aktueller Tendenzen, worunter ›neue‹ Dichtung fällt, letztlich aber auch eine Debattenkultur, die eine bestimmte ältere Tradition vorgibt (wie im Rahmen der Expressionismus-Debatte). Somit ist der zweite Schwerpunkt – die Auseinandersetzung mit der Tradition, sofern sie affirmativ und nicht wie im Frühwerk destruktiv angelegt ist – eingebunden in wiederum ›neue‹ Diskussionszusammenhänge und gleichfalls ein Versuch Bechers, mit seinem eigenen dichterischen Programm zeitadäquat zu bleiben. Die Aufwertung von Klassik, Romantik und Realismus ist insofern keine Abkehr von der Moderne im Sinne einer aktualitätsbezogenen Literatur, sondern nur die Abkehr von avantgardistischen Schreibweisen. Das Ziel, zeitgemäß und in diesem Sinne ›modern‹ zu sein, bleibt leitend und wird als entscheidendes kommunikatives Element erhalten. Und auch die Arbeit am eigenen Werk, die die dritte Komponente ausmacht, steht ganz in diesem Zeichen. Wie es Eugen Wolff 1886 weniger darum geht, die Moderne inhaltlich oder formal hinreichend zu definieren statt sie vorrangig als Ziel auszurufen, steckt also in Bechers Umgang mit eigenen wie fremden Texten gleichfalls funktional in erster Linie Manifest-Charakter. Die spezifischen Aussagen, die von ihm gemacht werden, sind für sich genommen weniger relevant als die Zielsetzung, die sie auf der Meta-Ebene verbindet. Deshalb ist der Wechsel zwischen heterogenen und z.T. einander widersprechenden Positionen leicht möglich, weil es immer darum geht, den aktuellen Veränderungen Rechnung zu tragen, nicht eine von ihnen unabhängige individuelle Linie zu halten. Die einzelnen Umarbeitungen, Zitate und Übernahmen ästhetischer Verfahrensweisen fungieren jeweils als Zeichen und haben ein bestimmtes zugrunde liegendes Programm anzuzeigen. Sie sind als bewusste Signale gesetzt und markieren die zeitbezogene Repräsentativität Bechers, die Zugehörigkeit zur entsprechenden Bewegung oder Strömung. Abstrahiert man von den einzelnen Referenzen und nimmt die konzeptionelle Durch- und Umarbeitung der eigenen Texte hinzu (Stichwort »Korrektur-Ideologie«), wird hinter dem jeweils spezifischen Programm einer Werkphase ein System erkennbar, das auf die Markierung von Aktua-
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lität hinausläuft. Die einzelnen Verweispunkte sind für sich genommen nicht entscheidend und führen nur punktuell zu interpretatorisch relevanten Einsichten. Wichtiger ist der Gestus, der hinter ihnen steht; wichtiger ist das Auswahlprinzip, nach dem sie herausselektiert werden und für das Ziel der eigenen ModerneZuordnung als geeignet erscheinen. Sinnvoller und ergiebiger ist es deshalb, die einzelnen Selbst-Entwürfe von Bechers Autorschaft im Zusammenhang mit dem oben vorgestellten Moderne-Begriff als Gliederungselement zu verwenden, die eine Abgrenzung leichter möglich machen und auch die zeitübergreifenden dauerhaften Tendenzen besser erkennen lassen. Nötig ist der Perspektivwechsel auf eine Metaebene, die die programmatischen Aussagen im Akt des Vorlegens bestimmter Werke zentral berücksichtigt. Sie muss in einem ersten Schritt eruieren, welche Selbstbeschreibungen Becher während seiner Karriere in den unterschiedlichen Phasen vertritt, um anschließend ihre Folgerungen daraus zu ziehen. Statt inhaltliche oder formale Besonderheiten der literarischen Texte als Einteilungskriterien zu verwenden, ist das Programm relevant, das hinter ihnen steht und die konkreten Ausprägungen der Texte bedingt. Unabhängig von der Frage, ob dies im Einzelnen zu ›gelungenen‹ oder ›guten‹ Texten führt, sind doch sämtliche Arbeiten Bechers auf ein klares programmatisches Ziel hin geschrieben. Dieses Ziel ist dabei nicht ausschließlich politisch-ideologisch (und daher inhaltlich), sondern immer auch bzw. oft vorrangig ästhetisch insofern, als er in jeder seiner Werkphasen gezielt an eine bestimmte bereits vorhandene Tradition oder Tendenz anschließt und sich diese zu eigen macht. Eine Einteilung des Werks nach der Erscheinungsform der einzelnen Texte würde nicht zufällig eben die Schwierigkeiten aufwerfen, die die Forschung auch bei der Profilierung des Moderne-Begriffs hat, weil hier – sofern man nichts ausblenden will – eine Reihe höchst unterschiedlicher und in kurzer Abfolge abwechselnder, zum Teil sogar simultaner Erscheinungen unter einen Hut zu bringen sind. Diese lässt die Folgerung zu, dass dort ähnliche Ursachen zugrunde liegen und die Heterogenität einem übergeordneten Literatur- bzw. Epochenverständnis geschuldet ist, das zu ständigen Neuentwürfen herausfordert. Hier ist mit anderen Worten ein Schreibverfahren zu beobachten, das Autor und Werk in einer spezifischen Weise aufeinander bezieht und gegenseitig legitimieren will. Dieses Muster herauszuarbeiten und seine Ausprägungen im Einzelnen nachzuzeichnen, erlaubt ein sehr viel präziseres Urteil über Bechers Verortung innerhalb seines Jahrhunderts. Im Kern sind Autor und Werk bei Becher konzeptionell nicht voneinander zu trennen – und zwar nicht zufällig, sondern weil die literarischen Texte von Becher bewusst so angelegt sind, dass sie zu dem ästhetisch und weltanschaulich bedingten Selbstverständnis als Autor passen, das er gerade vertritt. Mehr noch: Die Texte sollen oft genug das jeweils zugrundeliegende Narrativ erst erschaffen und bekannt machen, weshalb der Rückschluss vom Werk auf den Autor programma-
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tisch in den Rezeptionsvorgang integriert ist. Die Werke sind ›Belege‹ für Bechers jeweiligen Einstellungswandel und unterstreichen bzw. legitimieren die Zugehörigkeit und Repräsentativität seiner Person innerhalb einer bestimmten Strömung oder Bewegung. Aus diesem Grundmotiv ergibt sich die Einheit innerhalb des sonst recht disparaten und nur durch Auslassungen auf einen konkreten Nenner zu bringenden Œuvres ebenso, wie in ihm die Antwort auf die Moderne-Frage zu finden ist. Es ist gerade das gleichzeitige Streben nach Repräsentativität wie nach Aktualität des eigenen Ansatzes, das diese spezifische Konstellation auf Einheit und Wandel hervorbringt und gleichfalls die Zugehörigkeit zur Moderne proklamiert. Das konzeptionelle Moment der Einzelwerke erweist sich dabei als ebenso entscheidend wie die Wahl der herangezogenen Vorbilder, die Funktionalisierung des Dichtungsbegriffs und die Einbindung der eigenen Biographie. Die Verpflichtung auf ein ›Schreiben auf der Höhe der Zeit‹, die sich im Kern als klar avantgardistisch zeigt, führt dazu, dass Becher in der Regel innerhalb von kürzester Zeit auf ästhetische oder politische Umbrüche reagiert. Nicht umsonst ist er einer der ersten, die die Russische Revolution dichterisch besingen, und er schreibt, noch während der Kampf um Moskau 1942 im Gange ist, ein Theaterstück über dieses aktuelle Ereignis. Entsprechend früh rezipiert Becher neue Entwicklungen programmatischer oder dichterischer Art: Aus gutem Grund ist er einer der radikalsten Expressionisten, der freilich 1916 bereits die Summe aus der Bewegung zu ziehen versucht; er rezipiert wie kein zweiter den italienischen Futurismus und reagiert schnell auf die Popularität Majakowskis.6 Nicht erst der späte Becher beginnt, sein Leben mit dem seines Jahrhunderts parallel zu führen,7 was ihn mit den Autobiographen nach 1945 verbindet – am deutlichsten in den Gedichtbänden Ein Mensch seines Jahrhunderts in seinen Gedichten (1951) und Schritt der Jahrhundertmitte (1958). Schon 1929 hatte ein Gedichtband Ein Mensch unserer Zeit geheißen. Überhaupt lässt sich vor allem ab Mitte der 1920er Jahre eine zunehmende Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit und Jugend beobachten, die sich sowohl in lyrischer Form (Im Schatten der Berge, 1928) als auch in den von Anfang an stark autobiographisch inspirierten Lebensläufen der Protagonisten in Bechers Erzähltexten und Dramen niederschlägt. Hierbei handelt es sich eindeutig um Strategien der Selbstinszenierung, um den Aufbau von (je nach Werkphase angepassten) Narrativen, die Bechers ästhetischen und ideologischen Werdegang plausibilisieren und als repräsentativ für seine Generation bzw. seine Epoche etablieren sollen. Das Leben des ›typischen‹ Einzelnen wird relevant, weil es in allen Umbrüchen und Krisen entweder durch
6 7
Vgl. Kossuth 2013. Vgl. ebd.
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Kontinuität oder – häufiger – durch Entwicklungsnarrative Orientierung und Zusammenhalt verbürgt. Nicht das reine Geschehen von einzelnen Vorfällen ist von Bedeutung, »sondern das: was sie im Lebensvorgang des betreffenden Menschen bedeuten und wie sie eingeordnet sind.«8 Becher versucht, seine Lebensgeschichte stimmig als Geschichte seiner Generation zu erzählen, was nicht nur ein hohes Maß an konzeptionellem Bewusstsein mit sich bringt, sondern auch zu einer entsprechenden Umarbeitung und Uminterpretation des eigenen künstlerischen Werdegangs führt. So wird Identität programmatisch geschaffen und ausgestellt, die nicht zuletzt in Abgrenzung von den Vorstellungen der Vorgängergeneration entworfen wird. Indem sich Becher aber gleichzeitig einer modernen Gesellschaft im Sinne einer sich ständig verändernden Realität gegenüber sieht, gibt es nicht ein einziges Narrativ, das er bis zu seinem Lebensende fortführen kann. Stattdessen müssen in einem letztlich unabschließbaren Prozess ständig neue Entwürfe von Identität entwickelt werden, die den erfolgten Umbrüchen Rechnung tragen. Diese neuen Entwürfe sind z.T. den alten, die sie überschreiben, radikal entgegengesetzt und entsprechend dazu angelegt, eine neue ›endgültige‹ und absolute Weltdeutung zu geben, vor deren Hintergrund die vorangegangenen Versuche stets ihren Wert verlieren oder bestenfalls noch als ›Entwicklungsschritte‹ oder ›Irrwege‹ in das neue Narrativ integrierbar sind. Ebenso wie sich moderne Literatur über das Self-Fashioning der Autoren beschreiben lässt, so eignen sich die spezifischen Entwicklungsnarrative, die Becher im Laufe seiner Karriere entwirft, besser für die Werkgliederung als die bisherigen Ansätze, die in der Regel eine Strömungszuordnung vorgenommen haben und damit an der Opposition zwischen avantgardistischem Frühwerk und konventionellerem Spätwerk ausgerichtet waren. Streng genommen ist der Versuch einer solchen Gliederung in der Forschung explizit für das Gesamtwerk gar nicht unternommen worden. Man behilft sich mit Vorannahmen, die sich an Bechers Biographie orientieren und kommt so zu einer Einteilung in Werkphasen, die aber – gerade weil eine ausführliche Überprüfung an den Texten selbst fehlt – in mehrerer Hinsicht defizitär bleibt. Das erste Narrativ, das Bechers dichterischen Werdegang einleitet, ist das der verlorenen Jugend, das sich wesentlich nur in den frühen Schriften um den Selbstmordversuch von 1910 erkennen lässt, das aber wichtig ist, weil es den Grundstein für Bechers dichterische Identität legt. Das Konzept stammt aus dem Diskurs, den sich um 1900 verschiedene literarische Werke auffalten, die jeweils einen musisch begabten Gymnasiasten im unlösbaren und deshalb in den (Frei-)Tod führenden Konflikt mit den gesellschaftlichen und schulischen Anforderungen zeigen. Der Suizidversuch von 1910 ahmt dieses Handlungsmuster nach und überblendet es 8
Brief an Frank S. Herrmann vom 28. September 1922 (Becher: Briefe 1909-1958 Bd. I, S. 106).
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mit dem Kleistschen Doppelselbstmord von 1810, um in den nachgelassenen Papieren die dichterische Identität des Schülers Hans Becher als viel zu früh von den Umständen in den Tod getriebenen Dichtertalents zu begründen. Der Autor »Johannes R. Becher« entsteht erst infolge der Ereignisse von 1910 und ist entsprechend konzeptionell in ständiger Auseinandersetzung mit diesem Anfangsnarrativ angelegt. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, dass der Selbstmordversuch von 1910 bis in die 1950er Jahre hinein von Becher immer wieder angesprochen und literarisch aufgearbeitet wird. So sehr hier die psychologische Verarbeitung des Jugendtraumas von Bedeutung ist, kann die literaturwissenschaftliche Analyse bei diesem Befund nicht stehen bleiben. Ebenso wenig darf sie ihn ignorieren. Aufschlussreich ist demgegenüber gerade der Umstand, dass und wie Becher aus diesem Ereignis immer wieder neue fiktionale Varianten erstellt, die immer dazu dienen, das jeweils aktuelle Entwicklungsnarrativ und die aktuell von Becher vertretene Dichterpersönlichkeit zu konstituieren. Das zweite Narrativ ist das konventionellste und am wenigsten autorspezifische. Indem sich Becher ab 1914 als prototypischer Expressionist in Szene setzt, nimmt er bereits den aus der Boheme-Kultur stammenden Habitus der Abgrenzung von der Elterngeneration auf. Im Wesentlichen besteht das Narrativ auf der Aufkündigung aller gutbürgerlichen Sitten- und Moralvorstellungen. Ziel ist es zu provozieren und Skandale auszulösen – und zwar sowohl durch ästhetische Experimente als auch einen zur Schau gestellten Lebenswandel (Armut, Drogensucht, Syphilis etc.). Das einzige Innovative von Bechers Selbstdeutung dieser Jahre besteht in der Konsequenz, mit der es vertreten wird: Mehr noch als in den anderen Werkphasen legt es Becher auf eine Überbietung der vorhandenen Modelle an, die er gezielt aufgreift und auswertet. Deshalb sind die Sprachexperimente Bechers gezielt besonders radikal und die Selbstinszenierung des Autors läuft auf die Etablierung der eigenen Führungsrolle in der expressionistischen Bewegung hinaus – insbesondere dadurch, dass Becher schon 1916 beginnt, den Expressionismus aus der Retrospektive zu beschreiben und das eigene zugehörige Werk entsprechend literarhistorisch zu verorten. Wichtig ist, dass der kommunistische Neuanfang um 1923 – das dritte große Narrativ, mit dem Becher das eigene Werk neu profiliert – einen verhältnismäßig starken Einschnitt darstellt – zumindest, wenn man der Selbstbeschreibung des Narrativs folgen will. Denn in seinem Zentrum steht der erklärte Bruch mit allem, was Becher vorher als Dichter vertreten hatte. Dabei ist die Einschränkung zu machen, dass bestimmte Elemente seiner ›neuen‹ Ausrichtung allein schon durch die kurzzeitige Begeisterung für die Russische Revolution zwischen 1917 und 1919 bereits vorher auftreten. Sie werden allerdings erst 1923 vordergründig und rücken ins Zentrum von Bechers öffentlich vertretenem Selbstverständnis. Mit dem KPDEintritt setzt eine Schaffensperiode ein, in der Becher eine ganze Reihe autobiographisch inspirierter Gedichte und Prosatexte schreibt und in der fiktionalen Umge-
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staltung der Realität das eigene Leben und die eigene Entscheidung, Kommunist zu werden, deutet, begründet und legitimiert. Damit einher geht die erneute, aber jetzt deutlichere und von der Theorie des Klassengegensatzes inspirierte Absage an die eigene gutbürgerliche Herkunft und die damit verbundenen ästhetischen Konzepte. Bei Letzteren ist vorrangig an neoromantische Schreibweisen zu denken, die Kunst um ihrer selbst willen oder zu Unterhaltungszwecken produziert, wobei Becher konkret die eigene unmittelbar vorausgehende religiöse und an Georges elitärem Muster ausgerichtete Dichtung im Blick hat. Der Gegensatz zu Gottfried Benn hat seine Voraussetzung in dieser erklärten vollständigen Neuerfindung Bechers, der nun alles anders machen will als bisher und das eigene Schreiben dem revolutionären Ziel unterwirft. Wenngleich sich die Werke der mittleren 1920er Jahre sprachlich noch kaum von expressionistischen unterscheiden, was den pathetischen Duktus und den experimentellen Charakter betrifft, läuft die Selbstinszenierung dieser Phase auf einen radikalen Bruch mit diesem Frühwerk zu, der über die ästhetischen Parallelen hinweggeht. An diese Phase schließt Bechers Exilzeit an, die ihn zu einer erneuten Neuausrichtung des eigenen Autorenprofils bringt. Dabei lassen sich für die Zeit zwischen 1933 und 1945 zwei Unternarrative feststellen: Bis 1938/39 inszeniert sich Becher, der vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten bereits wieder auf dem Weg gewesen war, von seiner radikal propagandistischen Haltung abzurücken, als unfreiwilliger Widerstandskämpfer. Weil Ende der 1920er Jahre bei Becher eine Rückbesinnung auf den Wert der Dichtung einsetzt, der über das rein agitatorische Moment hinausgeht und insofern die Positionen von 1926 relativiert, muss Becher nun in seiner Argumentationslogik die Dichtung im Sinne einer schöngeistigen Aktivität zurückstellen, weil die historische Situation andere Texte von ihm verlangt. Diese Entscheidung wird als notwendiges Opfer präsentiert, das nichtsdestotrotz die Sehnsucht nach der eigentlichen dichterischen Arbeit immer wieder aufkommen lässt. Das nächste Narrativ, das Becher in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in erkennbarer, wenn auch nie expliziter Auseinandersetzung mit der Expressionismus-Debatte in der Zeitschrift Das Wort entwickelt, entwirft das Modell vom Autor als Chronisten seiner Zeit, wobei Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus (1668) als Vorbild dient. Becher schließt hier an den u.a. auch von Brecht bedienten Vergleich der Zeit zwischen 1914 und 1945 mit dem Dreißigjährigen Krieg an und sieht sich in der Aufgabe, literarisch Zeugnis abzulegen von der ›deutschen Tragödie‹, die sich vor seinen Augen abspielt. Dieser Rückgriff auf das literarische ›Erbe‹, der auch zu einer positiveren Bewertung des Realismus und der Weimarer Klassik führt, leitet eine Selbstkanonisierungsbewegung ein, mit der Becher sich in die Literaturgeschichte durch den Anschluss an die großen Vorbilder wie durch die dokumentarische ›Relevanz‹ des von ihm ›bezeugten‹ historischen Geschehens einschreibt.
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Nach der Rückkehr nach Deutschland beginnt sich die Lage für Becher zu verkomplizieren, indem sich aus den Besatzungszonen zwei deutsche Staaten mit gegensätzlichen ideologischen Grundlagen entwickeln. Becher versucht in der Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren zunächst, an das Selbstverständnis anzuschließen, das seine letzten Exiljahre begründet hatte, und versteht sich als ›sozialistischer Nationaldichter‹. Dessen Aufgabe besteht einerseits – entgegen dem Trend – in der (freilich sehr spezifischen) Thematisierung der deutschen Schuld; andererseits setzt sich Becher sowohl in seiner kulturpolitischen Arbeit wie auch als Dichter für eine deutsche Wiedervereinigung unter sozialistischem Vorzeichen ein (weil der Weg der Bundesrepublik keine dauerhafte Überwindung des Faschismus darstellt). Obwohl dieses Modell der Selbstbeschreibung und Selbstinszenierung erneut auf Repräsentativität und eine Vorreiterrolle angelegt ist, unterscheidet es sich von den vorangegangenen Entwürfen durch seinen Erfolg, denn Becher wird – zumindest gemessen an den Zielen, die er in seiner Poetik selbst setzt – jetzt unfreiwillig gerade zum Außenseiter. Die Anerkennung, um die er sich in im Westen Deutschlands bemüht, bleibt aus, weil er gleichzeitig Repräsentant eines Systems ist, das man dort ablehnt, während diese Repräsentantenrolle in der DDR sich aufgrund der von Becher selbst vorgegebenen Leitlinien zunehmend in einer Weise verselbstständigt, die er letztlich nicht mehr kontrollieren kann. Aus diesem Grund führt das letzte Entwicklungsnarrativ, das Becher für sich entwirft, den Autor wieder zur Dichtung zurück. In seinen letzten Lebensjahren tritt neben die öffentlichen Verlautbarungen und Auftragsarbeiten wie an der Ulbricht-Biographie erkennbar erstmalig ein privateres Narrativ, das diesen klar entgegensteht und sich in tagebuchartigen oder essayistischen Texten niederschlägt, von denen einige unveröffentlicht geblieben sind. Diese Texte zeichnen sich durch ihre verhältnismäßig differenzierte und vorsichtige Suche nach einer endgültigen Poetik aus. An ihrem Ende steht die Absage an die politische Ausrichtung, die Bechers Werk wie Bechers Person seit den 1920er Jahren bestimmt hat. Stattdessen wird die Dichtung als der eigentlich identitätsbestimmende Weg wieder in ihr Recht gesetzt, was mit einer verstärkten Auswertung frühromantischer Schreibstrategien (Fragment, Selbstreferentialität, mise en abyme) einhergeht. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Bechers Repräsentativität sehr wohl ein Resultat seines gezielten Strebens nach Repräsentativität ist. Die gezielte Arbeit am (Neu-)Aufbau der eigenen Autorpersona, die partiell in der Forschung bereits bemerkt worden ist,9 ist in diesem Sinne Signum der wiederholten Suche nach einer Ausdrucksform, die es dem modernen Autor möglich macht, sich gleich den großen Vorgängern mit einem charakteristischen Schriftzug in die Weltgeschichte einzuschreiben. Wichtiger aber ist die Frage, wie die Wirkung der Repräsentativität dieser drei Aspekte überhaupt zustande gekommen ist. So lässt sich vor allem 9
Vgl. neben Rohrwasser deutlicher noch Davies 2004, S. 226.
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ab Mitte der 1920er Jahre eine zunehmende Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit und Jugend beobachten, die sich sowohl in lyrischer Form (Im Schatten der Berge, 1928) als auch in den von Anfang an stark autobiographisch inspirierten Lebensläufen der Protagonisten in Bechers Erzähltexten und Dramen niederschlägt. Obwohl die weltanschaulichen (und nach und nach auch ästhetischen) Prämissen von Bechers Schreiben im Laufe der 1920er Jahre radikal andere werden, bleibt das zugrunde liegende Dichtungsverständnis im Kern gleich. Dies mag nicht unmittelbar offensichtlich sein. Wenn indes das Konzept des poeta vates ursprünglich von einer göttlichen Inspiration geprägt ist und auf diese Weise den ›Wahrheitsgehalt‹ wie die Autorität des dichterischen Wortes absichert,10 entstehen auch die kommunistischen Texte, in denen der Autor in der Masse verschwindet, auf Basis derselben Grundannahme. Hier wie da rekurrieren die Dichtungen auf »überpersönliche Autorisierungen« und zeugen vom »Streben des Dichters, eine Wahrheit auszusprechen, die im Einzel-Ich allein nicht begründet sein kann.«11 Hinzu kommt im Verlauf der 1920er Jahre eine veränderte Profilierung des eigenen Dichtertums, die nicht zuletzt über einen eher traditionell angelegten LyrikBegriff verläuft. Gerade in den späten 1920er Jahren wird indes immer deutlicher sichtbar, dass die rhetorische Berücksichtigung der Lyrik auch inhaltlich plausibel ist. Denn da Becher Lyriker bleibt – und zwar in einem klassischen Verständnis, das das Wesen der Poesie eben gerade darin sieht, dass sie etwas ›Anderes‹ zu bieten hat als (Alltags-)Prosa und insofern von der Realität abgelöst, ja ihr potentiell entgegengestellt ist –, ergibt sich für ihn die Notwendigkeit, die zwei diametralen Aspekte seiner Autorpersona – die Identität als Lyriker und die Identität als politischer Autor – zu versöhnen. Das Problem mit der Autonomieästhetik, das sich hier abzeichnet, besteht also weniger darin, dass Becher dieses um 1800 entwickelte Konzept wirklich ablehnen würde. Sieht man das von ihm artikulierte Dichtungsverständnis in Gesamtheit durch, zeigt sich vielmehr in der Frühphase ein Andocken an die von Bürger zu Recht mit der Avantgarde assoziierte Forderung nach einer Distanzierung von diesem Kunstkonzept, das sich als bürgerliches etabliert und insofern ›überholt‹ hat. Das gilt einmal für die expressionistische Dichtung mit ihrer entsprechend negativen Zeichnung Goethes in Verfall und Triumph, aber auch nun noch mehr für die ideologisch geprägten politischen Dichtungen, die mit religiösen Unterbrechungen ab 1919 entstehen. Vor deren Hintergrund ist die Identifikation von Bürgerlichkeit und Autonomieästhetik am deutlichsten und konzeptionell am weitreichendsten, zumal sie eine biographische Komponente erhält. Die Ablehnung des gutbürgerlichen und an Realismus und Romantik geschulten Kunstverständnisses geht zusammen nicht nur mit einem Selbstverständnis Bechers als Kämpfer für die Rechte 10 11
Vgl. Schmitz-Emans 2017, S. 206. Ebd., S. 210.
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des Proletariats als oppositionelle Klasse. Die Forderung nach einer politisch wirksamen Literatur, die nicht die Schönheit zur obersten Kategorie erhebt, sondern Lebensnähe und politische Aufklärung unter Rückgriff auf neue dokumentarische Formate, schlägt in dieselbe Kerbe. Der entscheidende Punkt ist hierbei freilich, dass Becher – dies macht er auch immer wieder explizit deutlich – selbst aus dem Bürgertum kommt und in seinem früheren Werk zu einem nicht unwesentlichen Teil einem Kunstverständnis anhing, das er nun ablehnt. Folglich generiert die kommunistische Wende eine Entwicklungsgeschichte weg von der autonomästhetischen Herkunft hin zur wirkungsbezogenen Literatur. Nun ist es so, dass Becher diese Entscheidung nicht allzu lange durchhält. Der Grund dafür liegt nicht allein in der Ende der 1920er Jahre bereits erkennbaren Abkühlung der Begeisterung für die kommunistischen Ideale, sondern vor allem auch darin, dass das Bekenntnis zu einer politisch engagierten Literatur eine rein programmatische Entscheidung bleibt, deren Funktion vorrangig in der Signalisierung der eigenen Zugehörigkeit zur kommunistischen Bewegung (und Literatur) besteht. Auch in den Nachkriegsjahren, wenn sich Becher einmal mehr dem Sonett widmet, tendiert er zu einer Bevorzugung dieser Gattung, weil sie die ihm eigenen unsteten Anlagen ›diszipliniert‹ und Ordnung in das sonst nicht zu überblickende Chaos bringt. In diesem Sinne ist bereits die Unterordnung unter die kommunistische Losung einschließlich ihrer ästhetischen Ableitungen eben das: ein bewusster Akt der Unterordnung, der mit der Überschreibung eines Dichtungsverständnisses einhergeht, das dazu nicht mehr passt. Auch hier ist letztlich der ›Wille‹ zur Entwicklung einer kommunistisch geprägten Autorpersona das entscheidende Moment, nicht der wirkliche Wandel der ihr zugrunde liegenden Ansichten. Deshalb läuft Bechers ›kommunistische‹ Dichtung in den 1920er Jahren recht schnell auf eine Aussöhnung des poeta vates mit dem ideologischen Wirkungsanspruch hinaus, am besten zu beobachten in den zwei Fassungen des Dramas Arbeiter Bauern Soldaten. Das auf den ersten Blick engagierte Literaturverständnis behält also einen eigentlich eher mit seinem konzeptionellen Gegenpol verbundenen Kern, der eher mit ›bürgerlicher‹ Kunst bzw. dem Ästhetizismus verbunden bleibt. Nachdem die Phase strikt ideologisch geprägter Propagandadichtung – des ›Funktionierens‹ – vorüber ist, zeigt sich in Bechers Werk ein Dichtungsverständnis, das auffällig zwischen Fortschrittsoptimismus und Kulturkritik oszilliert. Die Entscheidung für den Kommunismus hat den Blick Bechers auf die eigene Dichterrolle scharf gestellt – gerade aber zu einem Zeitpunkt, zu dem das Selbstverständnis als Dichter etwas Antiquiertes hat und der Platz der Dichtung innerhalb der modernen Welt sowohl aufgrund der Medienkonkurrenz als auch aufgrund der veränderten Aufgaben von Literatur generell fraglich wird. So kommt es zu dem eigentümlichen Phänomen, dass der immer modern sein wollende Becher nun ausgerechnet die jahrhundertealte Poesie zu verteidigen beginnt und ihr eine Funktion innerhalb
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der gegenwärtigen Welt zu sichern versucht. Hier wird kein neues Literatur- oder Dichtungskonzept entwickelt; stattdessen deutet Becher die neuen mit der Dichtung konkurrierenden Medien – namentlich das Radio – als funktional poesieähnliche Erscheinungen um, die das ›Wunder‹ im Alltäglichen aufzeigen. Diese Annährung an die Romantik, die sich auch in den intertextuellen Referenzen abzeichnet, führt dazu, dass Dichtung und politische Arbeit immer mehr auseinanderfallen und zwei parallel existierende Identitäten generieren, denen sich Becher gleichermaßen verpflichtet fühlt, die aber doch nicht recht zueinanderkommen wollen. Am Ende zeigt sich die Alternative zwischen ›Staatsmann‹ und ›Dichter‹ nicht als einheitlicher Weg, sondern zwingt doch noch zur Richtungsentscheidung, die dann zugunsten des ›Wegs des Dichters‹ fällt. Wenn die Bemühungen Ende der 1950er Jahre einerseits die ›Macht der Poesie‹ ausrufen, und dann zur ›Verteidigung der Poesie‹ ansetzen, ist das bereits drei Dekaden bestimmende Programm auf den Punkt gebracht: Bechers Poetik proklamiert die Relevanz von Dichtung und Dichter für ein Jahrhundert, das – von seinen unmittelbaren Anfangsjahren abgesehen – als ›modernes‹ den Fokus auf Wissenschaft, Technik und soziale Fragen verschiebt. Ein Begriff von Dichtung, der die Aufgabe des Dichters darin sieht, die »Wunder der Alltäglichkeit«12 aufzeigen, setzt eine verzauberte Welt voraus, keine analytisch durchdrungene, vom Menschen gezähmte und vom ›Klassengegensatz‹ dominierte Realität. Die erste wichtige Ableitung aus dieser Beobachtung betrifft zentral die Frage nach der Werkteilung um 1930. Abermals erweist sich die These eines Scheidewegs zwischen Moderne und der Abkehr von Moderne als zu kurz greifend, nur aus anderem Grund als im Kontext der Textverweise und Selbstkorrekturarbeit. Denn auch hier kommt man letztlich zum Schluss, dass die Differenzen zwischen Früh- und Spätwerk oberflächlicher Natur sind, während die sie bedingenden Prämissen im Wesentlichen konstant bleiben. In diesem Fall ist die Verwendung des Dichtungsbegriffs und die Selbstidentifikation als Dichter an sich eine Konstante, wobei Becher zudem an einer emphatischen und romantisch inspirierten semantischen Füllung dieser Termini festhält. Das aber bedeutet nicht nur das Fehlen eines wirklichen Bruchs in der Mitte seiner Schaffensperiode. Es wirft vor allem auch ein anderes Licht auf den Umgang mit Tradition. Die Beobachtung, dass der junge Becher die ältere Dichtungstradition (z.B. Goethe) ablehnt und sich ›neuere‹ Vorbilder sucht, während ab Ende der 1920er Jahre nach und nach ein Umdenken in die entgegengesetzte Richtung erfolgt, beschreibt erneut nur ein Oberflächenphänomen. Bei aller Distanzierung von Tradition – übrigens auch von einem romantisch angehauchten Literaturverständnis (siehe die ›Einleitung‹ zu Levisite) – ist diese doch im Hinblick auf den zugrunde gelegten Dichtungsbegriff dank des fortwährenden Jugendstil-Einflusses höchst lebendig und kommt nur im Laufe der 12
Becher: Neue Gedichte 1933, S. 72.
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Jahre wieder stärker zum Vorschein, bis es endlich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre möglich wird, diesen Umstand auch explizit zu machen, statt ihn argumentativ zu verdecken. Darauf nämlich lässt sich die Strategie Bechers zum großen Teil zurückführen: Die sehr traditionelle Prägung des verwendeten Dichtungskonzepts ist zunächst kein Thema, wird dann über die Einbindung der Poesie in eine gesellschaftliche Funktion für die Gegenwart gelöst, bevor sich politische Arbeit und Dichtertum in zwei Rollen aufspalten und schließlich die Entscheidung für einen der beiden Wege nahelegen. Natürlich besteht die Pointe dieser Entwicklung darin, dass die späte Abkehr von der politischen Indienstnahme der Dichtung nicht die Rücknahme der Relevanzforderung bedeutet. Im Gegenteil wird nun gerade der biographische Schritt, doch lieber nur Dichter sein zu wollen, mit einer gesellschaftlichen Funktion versehen. Die Frage nach dem Status der Dichtung wird eben deshalb diskutiert, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu behaupten. Diese kann in einer konkreten politischen Aufgabe bestehen, muss es aber nicht unbedingt. Sie kann auch als überwundenes Jugendideal, später als Korrektiv und Alternative zu der Arbeit des ›Staatsmanns‹ auftreten und ihren Wert auf diese Weise herausstellen. Das Bild von der Handschrift des Autors verweist aber noch auf einen anderen Aspekt, der für Becher (und für die Moderne im hier verstandenen Sinn) zentral ist: Nicht nur die Vielseitigkeit fällt ins Auge, sondern eben auch das Bemühen um eine eigene Handschrift, die hinter den Werken deutlich hervortritt: das Bemühen um Deutungshoheit, um die Autorität darüber, wie das eigene Werk zu lesen, zu gliedern und deuten ist, was davon für die Nachwelt bewahrt werden muss und in welcher Form. Mit anderen Worten, das, was Steffen Martus so prominent als Werkpolitik bezeichnet hat.13 Freilich kennt Bechers Schaffen eigentlich mehr ein Zuviel an konzeptioneller Steuerung als ein Zuwenig, wie man es ihm in der Vergangenheit vorgeworfen hat. Tatsächlich verfügt Becher über ein nahezu einzigartig starkes Werkbewusstsein. Nichts überlässt er dem Zufall. Immer sind seine Lyrikbände mit Vorreden, Prologen und Epilogen versehen; immer sind die enthaltenen Gedichte, die z.T. in mehreren Bänden auftauchen, in Zyklen zusammengefasst sowie mit Zwischenüberschriften übersehen, die ihnen einen bestimmten Platz innerhalb des Gesamtzusammenhangs zuweisen. Davon weiß man nur heute deswegen kaum noch etwas, weil die sonst durchaus verdienstvolle achtzehnbändige Werkausgabe des AufbauVerlags ausrechnet bei der Lyrik nur eine Auswahl der zahlreichen Gedichte Bechers abdruckt, deren ursprüngliche kompositorische Umgebung bestenfalls aus dem Anhang in Teilen erkennbar wird. Auf diese Weise werden Prosa und Lyrik voneinander getrennt, die doch so häufig zusammen in einem Band stehen und motivisch-thematisch aufeinander Bezug nehmen; auf diese Weise werden Texte 13
Vgl. Martus 2008.
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einer der beiden Gattungen zwangsweise zugeordnet, auch wenn einige Grenzgänger sind. Wenn Becher sich anderen Bewegungen anschließt oder die Errungenschaft anderer moderner Dichter explizit auswertet, steckt dahinter ein Gestus der Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe. Wie Wiederanders die Schriften der »Großen der Weltgeschichte« studiert, um zu einem eigenen Schriftzug zu kommen, nimmt Becher zeitlebens die Anregungen anderer auf und führt sie zu einem Werk zusammen, das für jede Schaffensperiode eine andere Autorpersona konstruiert: Es gibt den Jugendstil-Becher, der sich für Dehmel und Kleist begeistert; es gibt den Expressionisten Becher, der für Baudelaire schwärmt; es gibt den Avantgardisten und Kommunisten der 1920er Jahre mit seinen Vorbildern Vladimir Majakowski und John Heartfield; es gibt den Exil-Becher, der auf die deutsche Tradition zurückschaut und seinen Platz zwischen Grimmelshausen, Goethe und Keller sucht; es gibt den späten sozialistischen Nationaldichter Becher, der das Volkslied des 19. Jahrhunderts unter neuen ideologischen Vorzeichen wiederzubeleben bestrebt ist und mit der Romantik schließlich auch die Schlegelsche Ironie-Konzeption für sich entdeckt. Dabei ist es niemals nur ein privater ›Trieb‹, der hinter diesen Selbstzuordnungen steht. Dafür spricht allein, dass Becher sie immer wieder öffentlich macht und immer dann, wenn sich seine Sicht auf die Dinge geändert hat, die bereits publizierten Dichtungen in Auswahl so neu arrangiert, dass sie zur Gegenwart wieder passen, sowie argumentativ sein bisheriges Œuvre als Vorstufe zu der Phase umdeutet, in der er sich gerade befindet. Weiterhin ist auffällig, dass alle Narrative Bechers progressiver Natur sind. Auch wenn sie häufig – wie in der expressionistischen Phase – für die Gegenwart einen ›Verfall‹ feststellen, führt dies doch niemals vollends zu einer pessimistischen Weltsicht, derzufolge ›früher alles besser‹ war. Im Gegenteil zeichnet sich Bechers Ansatz sehr deutlich dadurch aus, dass er derartige Befunde – selbst wenn die Melancholie der entscheidende Zug ist wie in der unmittelbaren Nachkriegslyrik – doch wieder von einer positiven Zukunftshoffnung aufgefangen werden. Becher und die Welt um ihn herum stehen in seinen Selbstbeschreibungen immer an einem Wendepunkt, an dem sich das ›Bessere‹ abzeichnet oder zumindest aufgrund der aktuellen desaströsen Situation in Kürze erwartet werden kann. Dies gilt für den Anfang von Bechers Karriere, die dem ›Verfall‹ einen noch inhaltlich wenig präzisierten ›Triumph‹ an die Seite stellt, wie für alle späteren Phasen, in denen Bechers Utopie aus der kommunistischen Weltsicht heraus erwächst – sei es, dass eine Revolution nach russischem Vorbild auf deutschem Boden erwartet wird oder die Gründung der DDR als Garant für den dauerhaften Frieden angesehen wird, sofern es zu einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten mit sozialistischem Profil kommt. Auch die Exildichtung, die im Konzept des ›anderen Deutschland‹ die Beendigung der nationalsozialistischen Herrschaft durch das
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deutsche Volk selbst für möglich hält und befördern möchte, weist dieses narrative Grundschema auf. Über den einzelnen Narrativen schwebt dabei grundsätzlich die Suche nach Wahrheit, Dauer und Identität. Dies hat seine Logik in der Verknüpfung nicht nur von Leben und Werk, sondern vor allem im Bezug beider auf den größeren sozialen und ästhetischen Kontext, der die Einbindung der eigenen Entwicklung in den Zeit- und Generationszusammenhang nötig macht und eine repräsentative Stellung innerhalb dieses Zusammenhangs beanspruchen muss, um dem (Lebens)Werk seine Legitimität zu sichern. Daraus resultiert ein prinzipiell unabschließbarer Prozess, der immer neue ästhetische Entwürfe generiert. Wird dieser Prozess am Ende transparent, legt er seine Kernprämisse offen: den Zwang zur ständigen Innovation, den Bechers Schreiben durch alle Werkphasen – unabhängig von ihrer jeweiligen konkreten ästhetischen und konzeptionellen Ausprägung – bestimmt hatte.
7. Literaturverzeichnis
I.
Werke von Johannes R. Becher
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II.
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III.
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Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a.M. 1992.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
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