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German Pages 341 [344] Year 1995
Johannes Müller und die Philosophie
Johannes Müller und die Philosophie Herausgegeben von Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Johannes Müller und die Philosophie / hrsg. von Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt. - Berlin : Akad. Verl., 1992 I S B N 3-05-002232-9 N E : Hagner, Michael [Hrsg.]
© Akademie Verlag G m b H , Berlin 1992 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe Gedruckt auf chlorfreiem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Gam Media G m b H , W-1000 Berlin 61 Bindung: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, W-1000 Berlin 10 Einbandgestaltung: Ralf Michaelis, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
7
RENATO G . MAZZOLINI:
Müller und Aristoteles
11
MICHAEL HAGNER:
Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Spinozas „grenzenlose Uneigennützigkeit" und Johannes Müllers Entwurf einer Sinnesphysiologie
29
BETTINA WAHRIG-SCHMIDT.
Müller und Kant. Aspekte ihrer Begegnung im Handbuch
der Physiologie
....
45
NELLY TSOUYOPOULOS:
Schillings Naturphilosophie: Sünde oder Inspiration für den Reformer der Physiologie Johannes Müller?
65
D I E T R I C H VON E N G E L H A R D T .
Müller und Hegel. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Naturphilosophie im deutschen Idealismus
85
BRIGITTE LOHFF:
Johannes Müller und das physiologische Experiment
105
HANS-JÖRG RHEINBERGER:
Vom Urphänomen zum System der pelagischen Fischerei. Uber das Verhältnis von Physiologie und Philosophie bei Johannes Müller 125 FREDERICK GREGORY:
Hat Müller die Naturphilosophie wirklich aufgegeben ?
143
WILLIAM R . WOODWARD:
Johannes Müller, Hermann Lotze, Jakob Henle und die Konstruktion des vegetativen Nervensystems
155
GERLOF VERWEY:
Johannes Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
173
6
Inhaltsverzeichnis
STEFANO P O G G I :
Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung
191
TIMOTHY LENOIR:
Helmholtz, Müller und die Erziehung der Sinne
207
E R I K A KRAUSSE:
Johannes Müller und Ernst Haeckel: Erfahrung und Erkenntnis
223
H A N S - U L R I C H LESSING:
Dilthey und Johannes Müller. Von der Sinnesphysiologie zur deskriptiven Psychologie 239 U R S U L A BAATZ:
Die Sinne und die Wissenschaften. Zur Erkenntnistheorie bei Johannes Müller und Ernst Mach
255
H A N S - U W E LAMMEL:
Müller, Feuerbach und Lenins Materialismus und Empiriokritizismus
275
G O D E L I E V E VAN H E T E R E N / R I C H A R D L . K R E M E R :
Kommentar
293
PETER M C L A U G H L I N :
Nachgedanken zum Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung
301
Literaturverzeichnis
313
Autorenverzeichnis
333
Namenverzeichnis
335
Vorbemerkung
Johannes Müller (1801-1858), Anatom, Physiologe und Biologe, geboren in Koblenz, wirksam an den Unversitäten Bonn und Berlin, gehört nicht zu den jedermann bekannten Gestalten der neuzeitlichen Wissenschaft wie etwa Newton, Darwin oder Virchow, doch ist ihm in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und bei deren Historikern durchaus Fortune beschieden gewesen. An seiner Person und an seinem Werk gab es ein anhaltendes Interesse, ohne daß er je wirklich in Mode oder aus der Mode gekommen wäre. Wenn über 130 Jahre nach dem Tod Müllers ein Band über ihn entsteht, dann kann die Rechtfertigung hierfür weder darin liegen, das Interesse an Müller wiederzubeleben - es hat immer bestanden - noch darin, ein herrschendes Müller-Bild zu korrigieren oder gar ein vollkommen neues zu schaffen - denn ein einheitliches Müller-Bild hat es nie gegeben. Der wichtigste Grund hierfür liegt in der Vielgestaltigkeit und Vielfältigkeit von Müllers Wirken, die oftmals sogar dazu führten, daß seine Forscherpersönlichkeit zeitlich oder fachlich zerteilt wurde, so daß ihre trotz allem vorhandene Einheit aus dem Blick geriet. In Müllers Werk sind so viele Keime angelegt, daß aus seinen Schriften die tatsächliche Entwicklung der Wissenschaften vom Leben nicht ohne Willkür herausgelesen werden kann. Das unterscheidet ihn von der Generation seiner Schüler - etwa Helmholtz, Virchow, Haeckel, Brücke oder du Bois-Reymond —; bei ihm ist alles noch offen. Kein Wunder dann, daß sich sowohl die Protagonisten der positiven Wissenschaft - auch in ihren deutlichen Abgrenzungsbestrebungen - auf Müller beziehen, als auch diejenigen, die diese Entwicklung mit Argwohn betrachteten und betrachten; hier sind Verbindungslinien von den verschiedenartigen Neo-Vitalismen ab der Jahrhundertwende bis hin zu den zeitgenössischen wertkonservativ-ökologischen Strömungen auszumachen. Müller hat sich der eindeutigen Klassifizierung bislang immer wieder entzogen, und auch mit diesem Band wird eine Einheitlichkeit nicht erreicht. Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt, dann den, daß Müller eine Ubergangsfigur darstellt zwischen der Romantik und der physikalistischen Physiologie. Vergleichbare Schwierigkeiten einer Ortsbestimmung treten auf, wenn man
8
Vorbemerkung
Müllers Werk zum Geschäft des Wissenschaftshistorikers in Beziehung zu setzen sucht. Nachdem der Mythos von der Parthenogenese der naturwissenschaftlich orientierten Medizin höchstens noch im Flüsterton erzählt wird, stellt sich die Frage nach ihrem Werden und nach demjenigen ihrer Protagonisten neu. Es besteht jedoch alles andere als Einigkeit darüber, wie diese Frage zu beantworten sei. Gerade Müller scheint angesichts der heutigen Vielgestaltigkeit und Pluralität der historiographischen Techniken ein dankbares Forschungsobjekt zu sein, an dem Historiker, Philosophen und Wissenschaftstheoretiker ihr Instrumentarium erproben können. Ob man beispielsweise die Rolle des Experiments in der Wissenschaft eher in der traditionellen Sicht der Wissenschaftstheorie sieht oder ob man im Sinne neuerer Ansätze das Schwergewicht der Untersuchungen von der Theorie auf das Experiment verlagert; ob man ein spekulatives Erbe in der Physiologie sucht oder ob man diese ganz auf „science in action" zuspitzt; ob man prinzipiell der Meinung ist, eine Komplementarität von Wissenschaft und Philosophie sei denkbar oder ob man eine solche Komplementarität für unmöglich hält - bei Müller handelt es sich um eine allererste Adresse, diese Überlegungen auszuprobieren. Müllers Ruhm erreichte seinen Höhepunkt - ungefähr 1850 - fast gleichzeitig mit dem proklamierten Ende der Philosophie als Philosophie und der Institutionalisierung der Physiologie als eines selbständigen Faches, an der Müller selbst einen wesentlichen Anteil hatte. Der hier unternommene Versuch, das Verhältnis von Philosophie und Physiologie vor, bei und im Anschluß an Müller zu bestimmen, ist damit einerseits ein historisches Unterfangen, zum anderen provoziert er zu der allgemeineren Frage, wie denn das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft überhaupt und für das 19. Jahrhundert speziell zu denken sei: bleibt erstere für letztere konstitutiv und damit von einem philosophischen Organon grundsätzlich abhängig, so wäre Wissenschaft von Philosophie durchsetzt wie etwa ein Marmor von seinen Adern durchzogen ist; oder ist die Philosophie nur der Steinbruch, aus dem die emanzipierte Wissenschaft sich je und je bedient, wie sie sich etwa eines Instruments, einer Substanz, eines Meßgeräts usw. bedient? In unserem Zusammenhang könnte die Frage lauten: Versucht Müller in seiner Vorstellung von Wissenschaft die Philosophie zu retten im untrüglichen Gespür dafür, daß das Auseinanderfallen beider angesichts der wissenschaftlichen Entwicklung nicht mehr abzuwenden ist; oder benutzt Müller die Philosophie, indem er aus ihr sozusagen sein Rohmaterial herbeischafft zur Konstruktion der Physiologie? Beide Hypothesen sind in diesem Band vertreten, auch wenn uns bei dem souveränen (jedoch nie fahrlässigen) Umgang Müllers mit ganz unterschiedlichen philosophischen Konzepten die letztere vorerst etwas plausibler erscheint. Eine Antwort auf die umgekehrte Frage, wie und ob die Physiologie Johannes Müllers auf die Philosophie des späten 19. Jahrhunderts gewirkt habe, gestaltet sich noch schwieriger. Die in diesem Band vorgelegten Fallstudien demonstrieren vor
Vorbemerkung
9
allem, wie komplex, aber auch wie diffus die Wirkung Müllers gewesen ist. Manchmal scheint es vor allem am Interpreten zu liegen, ob es die praktischen Interessen, die Ideen oder schlicht MißVerständnisse sind, die dazu führten, daß ein Hinweis auf den rheinischen Physiologen in einem philosophischen Text auftaucht. Nicht nur hat Müller die Philosophie bisweilen als Rohmaterial verwendet, auch sein eigenes Werk ist bisweilen zum Steinbruch geworden. In seinem Bergwerk scheint es - war jedes Metall zu finden. 1 Geht man zudem davon aus, daß sich jede Diskursform ihre Autorität erst einmal herbeischafft, ist es kaum noch verwunderlich, daß Müller in den konstituierenden Texten der großen philosophischen Richtungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - also etwa Neukantianismus, Phänomenologie, Positivismus, Hermeneutik, Marxismus - anwesend ist. Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines Symposions, das am 9.-10. November 1990 am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Medizinischen Universität zu Lübeck stattfand. In erster Linie möchten wir uns bei der Fritz Thyssen Stiftung bedanken, die diese Tagung überhaupt erst ermöglicht und den vorliegenden Band durch einen Druckkostenzuschuß gefördert hat. Auch die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Medizinischen Universität zu Lübeck hat uns auf generöse Weise unterstützt. Dietrich von Engelhardt danken wir für seine Toleranz und seine Begeisterung für unser Vorhaben. Er wie auch Hans-Jörg Rheinberger, unser Freund und Kollege, haben uns durch ihre vielfältigen Ratschläge sehr geholfen. Ohne das Engagement der Lübecker Mitarbeiter bei der Erstellung druckreifer Manuskripte wäre das Buch niemals so schnell fertig geworden. Hier möchten wir uns vor allem bei Regine Bartsch, Anke te Heesen und Carola Setzepfandt bedanken. Schließlich fühlen wir uns Dr. Gerd Giesler vom Akademie Verlag dankbar verpflichtet, denn sein Interesse und seine Kooperation bildeten gewissermaßen das Rückgrat dieser Unternehmung. Lübeck, im September 1991 Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt
1
Hierbei handelt es sich um die Abwandlung eines Aper§us, das Giorgio Colli (Nach Nietzsche, Frankfurt a. M. 1980, S. 209) auf Nietzsche gemünzt hat: „Im Bergwerk dieses Denkers ist jedes Metall zu finden."
RENATO G . MAZZOLINI
Müller und Aristoteles"'
A m 27. Januar 1859 gedachte der Philosoph und Philologe Adolf Trendelenburg an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am Ende der Feier des Geburtstags Friedrichs des Großen mit wenigen, aber aufrichtig empfundenen Worten Johannes Müllers, des Universitäts- und Akademiekollegen, der neun Monate zuvor gestorben war. Unter anderem sagte er: „In Johannes Müller war das philosophische Studium ein wesentliches Bildungselement seines Geistes. Was er als Naturforscher war, war er nicht trotz der Philosophie, sondern von ihr mitgetragen, wie z . B . in seinem bleibenden Werke, der Physiologie des Gesichtssinnes. Den platonischen Constructionen der modernen Naturphilosophie hing er nur vorübergehend an, aber er war und blieb ein aristotelischer Geist, aristotelisch in der Strenge der Methode, in der analytischen Schärfe, aristotelisch in der die Welt der Thatsachen durchsuchenden, sichtenden Beobachtung und in der Weite seines wissenschaftlichen Horizontes, aristotelisch endlich in der Auffassung der Principien. Umsonst hatte er nicht sein Leben lang den Aristoteles lieb." 1 Dieses Urteil Trendelenburgs über die philosophische Haltung Johannes Müllers ist aus zwei Gründen ein wichtiges Dokument: aufgrund der philosophischen Kompetenz dessen, der es äußerte und aufgrund von Trendelenburgs Kenntnis einer Vielzahl von Werken Müllers, 2 dessen Vorlesungen er unter anderem auch besuchte. 3 Es handelt sich um ein Urteil, dem auch insofern großes historiographi-
*
Diesen A u f s a t z widme ich dem Andenken meiner Mutter, die maßgeblichen Anteil an der Transkription der Briefe (Anhang) hatte.
1
Adolf Trendelenburg, Worte der Erinnerung an Johannes Müller, in: Monatsberichte der Königlichen Preuss. Akademie der Wissenschaften. A u s dem Jahre 1859, Berlin
2
1860, S. 121-123, auf S. 122. Ders., Logische Untersuchungen, 2 Bde., Berlin 1840. Vgl. Stefano Poggi, I sistemi dell'esperienza. Psicologia, logica e teoria della scienza da Kant a Wundt, Bologna 1977, S. 325, 332.
3
Ernst Carl Ludwig Bratuscheck, Adolf Trendelenburg, Berlin 1873, S. 89f. (Ich danke Dr. Andrea Orsucci für den Hinweis auf diese Arbeit.)
12
RENATO G .
MAZZOLINI
sches Glück widerfuhr, als es von Biographen und bedeutenden Gelehrten aufgegriffen wurde. 4 Außerdem geht aus diesem Urteil deutlich hervor, in welchem Sinn Trendelenburg Müller für einen Aristoteliker hielt. So war Müllers Haltung gegenüber der aristotelischen Philosophie in ihrer Gesamtheit keine akritische. Er war kein Scholastiker oder Neo-Scholastiker. Trendelenburg grenzt den Aristotelismus Müllers eindeutig ein, wenn er sagt, dieser sei „aristotelisch in der Strenge der Methode, aristotelisch in der die Welt der Thatsachen durchsuchenden, sichtenden Beobachtung und in der Weite seines wissenschaftlichen Horizontes, aristotelisch endlich in der Auffassung der Principien". Diesem Urteil Trendelenburgs habe ich nichts von Bedeutung hinzuzufügen. Was ich in diesem Beitrag vorhabe, ist folgendes: 1) die ersten Aristoteles-Studien Müllers anhand von unveröffentlichtem Material zu erhellen und 2) einige Hinweise - ich wiederhole, nur einige Hinweise - über den Einfluß dieser Studien auf Müllers Werk zu liefern. Bevor wir zu den beiden obengenannten Punkten kommen, halte ich es für opportun, einige Tatsachen anzuführen, die das lebhafte Interesse Müllers an Aristoteles bekunden. Aus dem Handbuch der Physiologie wissen wir, daß Müller sich des öfteren auf Aristoteles bezog. Insbesondere zitierte er die folgenden Schriften: De insomniis, De anima, Historia animalium, De generatione animalium.5 Wir wissen auch, daß er in seinen Vorlesungen De partibus animalium zitierte. Den Beweis liefert ein ehemaliger Schüler Müllers, Alexander von Frantzius, Arzt und Privatdozent an der Universität Breslau, in seiner Ausgabe von Aristoteles' Vier Bücher über die Theile der Thiere, die 1853 in Leipzig erschien: „Herrn Geheimen Rath Johannes Müller widmet diese Schrift ehrfurchtsvoll sein dankbarer Schüler". Und in der Vorrede heißt es: „Auf die vorliegende Aristotelische Schrift, die bisher sowohl 4
5
Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 4 Bde., Berlin 1910-1918, Bd. 2, S.467; Arthur Liebert, Johannes Müller, der Physiologe, in seinem Verhältnis zur Philosophie und in seiner Bedeutung für dieselbe. Zugleich ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des Neokantianismus, in: Kant-Studien 20, 1915, S. 357-375, auf S. 371-373; Wilhelm Haberling, Johannes Müller, Leipzig 1924, S. 40; Martin Müller, Ueber die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, in: Archiv für Geschichte der Medizin 18, 1926, S. 130-150, 209-234, 328-350. Siehe bes. S. 131, 149, 223 und 349. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2 Bde. (Bd. 1, 1844, 4. Aufl.; Bd. 2, 1840), Coblenz 1840-1844, Bd. 1, S. 603; Bd. 2, S. 257, 552, 564, 640, 661, 670, 680 und 721. Vgl. auch Peter Schmidt, Zu den geistigen Wurzeln von Johannes Müller. Eine quantitative Analyse der von ihm im „Handbuch der Physiologie" zitierten und verwerteten Autoren (Münstersche Beiträge zur Geschichte und Theorie der Medizin, Nr. 9), Münster 1973, S. 96.
Müller und Aristoteles
13
von Naturforschern als Philologen wenig beachtet worden ist, wurde ich zuerst durch Herrn Geheimen Rath J. Müller in seiner Vorlesung über vergleichende Anatomie aufmerksam gemacht." 6 1858, drei Monate nach Müllers Tod, drückte sich Rudolf Virchow in seiner Gedächtnisrede wie folgt aus: „Müller ist durch sein ganzes Leben dem Aristoteles treu geblieben. Alle seine Schüler wußte er durch seine Vorlesungen für den alten Naturforscher zu begeistern." 7 Die Privatbibliothek von Johannes Müller, die 1861 von der Bibliotheque Royale Albert I e r in Brüssel 8 gekauft wurde, liefert weiter Zeugnisse des Interesses, das Müller für Aristoteles hegte. Am Ende seines Lebens besaß Müller folgende Werke von und über Aristoteles: M. M. M. M. M.
133. Aristotelis opera, latine et graece. nova editio. fol. Lugduni 1590. gzled. 134. Aristotelis de animalibus historiae libri X . ed. J. G. Schneider. Tom. I - I V 8. Lipsiae 1811. hlbfrzbd. 135. Aristoteles, über die Seele, übers, von M. W Voigt, 8. Neue Auflage. Leipzig, pbd. 599. Brandis, Chr. Α., scholia in Aristotelem. Ed. academ. regia Borussica. 4. Berolini 1836. hlbfrzbd. 600. Brandis, Chr. Α., Aristoteles und seine akademischen Zeitgenossen. 8. Berlin 1857. pbd.
M. 1451. Frantzius, A. v., Aristoteles, vier Bücher über die Theile der Thiere. Griechisch und deutsch. 8. Leipzig 1853. hlbfrzbd. M. 2900. Meyer, J. B., de principiis Aristotelis in distributione animalium adhib. 8. Berolini 1854. pbd. M. 2901. Meyer, J. B., Aristoteles Thierkunde. 8. Berlin 1855. hlbfrzbd. In der obenstehenden Liste habe ich die Titel so wiedergegeben, wie sie im Bibliothekskatalog Müllers 9 , den der Sohn Max erstellt hat, erscheinen, und habe den Titeln die Signatur der Bibliotheque Royale vorangestellt. Eine Untersuchung erster Hand dieser Bände in Brüssel hat ergeben, daß es keine handschriftlichen Vermerke Müllers gibt, aus denen ein Anschaffungsdatum zu entnehmen wäre, und daß sie keine marginalia enthalten, die man ihm zuschreiben könnte. Nur in
6
Aristoteles' Vier Bücher über die Theile der Thiere. Griechisch und Deutsch und mit sacherklärenden Anmerkungen, hrsg. von A. von Frantzius, Leipzig 1853, S. VII.
7
Rudolf Virchow, Johannes Müller. Eine Gedächtnissrede, gehalten bei der Todtenfeier am 24. Juli 1858 in der Aula der Universität zu Berlin, Berlin 1858, S. 40.
8
Manfred Stürzbecher, Zur Geschichte der Bibliothek des Berliner Naturforschers Johannes Müller, in: Libri 8, 1958, S. 2 9 3 - 3 0 2 .
9
Catalog der hinterlassenen Bibliothek des am 28. April 1858 in Berlin verstorbenen [ . . . ] Dr. Johannes Müller, Bonn 1858, S. 9, 36, 86 und 169.
14
RENATO G . MAZZOLINI
den beiden wunderbaren Bänden der Opera Aristotelis aus dem Jahre 1590 finden sich einige mit Bleistift unterstrichene Worte, aber es liegen keine Anhaltspunkte vor, aus denen mit Sicherheit zu schließen wäre, daß diese Unterstreichungen eigenhändig von Müller vorgenommen wurden. Das Werk Aristoteles und seine akademischen Zeitgenossen enthält eine handschriftliche Widmung von Christian August Brandis, und das hat - wie wir weiter unten sehen werden - eine gewisse Bedeutung. Jürgen Bona Meyers Werk Aristoteles Thierkunde aus dem Jahre 1855 enthält einige mit Bleistift vorgenommene Randzeichen. Eine dieser Markierungen, auf Seite 145, ist von besonderem Interesse, da sie auf indirektem Wege eine weitere Bezeugung sowohl der Verweise Müllers auf Aristoteles ist, als auch der Aufmerksamkeit, mit der Müllers Hörer seinen Vorlesungen folgten. Auf jener Seite behauptet Meyer, daß Aristoteles nicht alle ihm bekannten Tiere aufgezählt habe, und fügt hinzu: „So ist es auch nicht zu erwarten, dass er keine Libellen sollte gesehen haben, und doch sind keine beschrieben." In einem wichtigen unveröffentlichten Brief 10 , den Meyer am 28. November 1854 an Hinrich Martin Lichtenstein, den Direktor des Zoologischen Museums in Berlin (ein Gelehrter, welchem zusammen mit Adolf Trendelenburg Meyer sein Buch Aristoteles Thierkunde gewidmet hatte) geschrieben hatte, heißt es: „Die Veranlassung dieses Briefes ist eigentlich eine Bitte; ich bin im Zweifel, wie weit die Freiheit geht, mündliche Äußerungen oder nicht veröffentlichte Schriften bekannter Gelehrter zu erwähnen, und Sie würden mir einen großen Gefallen thun, wenn Sie mir darüber einige Worte schrieben. Ich beziehe mich ζ. B. auf Prof. Müllers Vorlesung über vergl. Anatomie und glaube dies zu dürfen, eine Aeußerung Prof. Müllers zur Erklärung, daß Aristoteles keine Libellen nennt, 'auch er entsinne sich nicht, bei Triest oder an Italiens Küsten dieselben fliegend gesehen zu haben,' nicht als ob sie dort nicht vorkämen, aber vielleicht als seien sie dort seltener oder weiter landeinwärts - habe ich zu erwähnen vermieden, da es mir nicht schien, als mögte Prof. Müller ihr einen wissenschaftlichen Charakter beimessen. Ebenso halte ich es mit seiner Ansicht, Aristoteles müße vergrößernde Gläser benutzt haben, etwa eine Schusterlampe." Abgesehen von den Zitaten im Handbuch der Physiologie gibt es noch andere Arbeiten Müllers, die deutlich zeigen, welch philologische Aufmerksamkeit er dem wissenschaftlichen Inhalt der Werke von Aristoteles gewidmet hat. Am Ende seines klassischen Büchleins Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen (1826) fügt er in der „Aristoteles über den Traum. Eine physiologische 10
Ich bin Frau Dr. Ilse Jahn zu größtem Dank verpflichtet, die mich auf diesen Brief aufmerksam gemacht hat und mir die Transkription zukommen ließ. Orig.: SchriftgutSlg. Museum für Naturkunde Berlin, Best. Zool. Mus., Abt. I.
Müller und Aristoteles
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Urkunde" 1 1 betitelten Sektion eine eigene Übersetzung der aristotelischen Schrift Περί ενυπνίων {De insomniis) an. Die Wiederentdeckung des sogenannten glatten Haies des Aristoteles (γαλέος ό λείος oder mustelus laevis), über die er 1842 eine klassische Abhandlung veröffentlichte, gehört inzwischen zur Legende um Müller. Mit dieser Arbeit beabsichtigte er, „die Entdeckung des griechischen Philosophen im Gebiete der Anatomie und Physiologie in ihre Rechte einzusetzen, und indem wir sie durch neue Tatsachen aufklären und so vervollkommnen, als es die jetzigen Mittel der Wissenschaft zulassen, der aristotelischen Physiologie ein Denkmal zu errichten" 1 2 . Es ist bekannt, daß er eine Icbthyologia aristotelica schreiben wollte, also ein Werk, das der Identifizierung aller Fischarten, die bei Aristoteles vorkommen, dienlich sein sollte. U m dies zu vollbringen, hätte er auf jeden Fall zu einem längeren Aufenthalt nach Griechenland reisen müssen, was ihm leider nicht möglich war. Sicherlich ist der Aufsatz Uber die Fische, welche Töne von sich geben, den er 1857 veröffentlichte, Teil dieses geplanten, aber nicht realisierten Projekts. 13 Alles, was bis jetzt gesagt worden ist, bezeugt Müllers Interesse an Aristoteles. Nun steht es an festzustellen, zu welchem Zeitpunkt er anfing, ihn zu studieren. Müller las Aristoteles auf Griechisch, und Griechisch lernte er auf dem Gymnasium in Koblenz. In Wirklichkeit wurde auf diesem Gymnasium auf das Studium der Sprachen des klassischen Altertums nicht allzuviel Sorgfalt verwandt, auf jeden Fall nicht bis 1816, dem Jahr der Reform, die von dem Regierungs- und Konsistorialrat der Schulen der Rheinprovinz Johannes Schulze ausging. 14 Schulze, inspiriert von neo-humanistischen Idealen, machte das Griechische zum Hauptlehrgegenstand, und er selbst lehrte es, trotz seiner vielen Verpflichtungen, in den beiden 11
J. Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, Coblenz 1826, S. 107-117. Diese Sektion von Müllers Werk ist weder in der von Martin Müller herausgegebenen Ausgabe (Leipzig 1927) noch in derjenigen von Ulrich Ebbecke (Hannover 1951) enthalten.
12
Ders., Uber den glatten Hai des Aristoteles und über die Verschiedenheiten unter den Haifischen und Rochen in der Entwicklung des Eies. Gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 11. April 1839 und 6. August 1840, Berlin 1842, S. 8. Zu dieser Arbeit vgl. Wilhelm Haberling, Der glatte Hai des Aristoteles. Briefe Johannes Müllers über seine Wiederauffindung an Wilhelm Karl Hartwig Peters 1838-1840, in: Archiv für Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Technik 10, 1927, S. 166-184.
13
J. Müller, Ueber die Fische, welche Töne von sich geben und die Entstehung dieser Töne, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, 1857, S. 2 4 9 - 2 7 9 .
14
Conrad Varrentrapp, Johannes Schulze und das höhere preussische Unterrichtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 178-218.
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RENATO G . MAZZOLINI
oberen Klassen, wo Müller einer seiner Schüler war. 1 5 Des öfteren ist der Einfluß, den Schulze auf Müllers Schicksal in verschiedenen Phasen seines Lebens gehabt hat, hervorgehoben worden. An dieser Stelle genügt es, darauf hinzuweisen, wie er Müller diese neo-humanistischen Ideale einflößte, die sich auch in einem tiefen Respekt vor sowie einer großen Liebe für die griechischen Klassiker bemerkbar machen. Es scheint auch Schulze gewesen zu sein, der als erster Müllers Bewunderung für Goethe weckte. Es deutet aber auf jeden Fall nichts darauf hin, daß der junge Müller sich auf dem Gymnasium näher mit Texten von Aristoteles befaßt hätte. Dies geschah sicherlich während seines Studiums an der Universität Bonn. So geht aus dem Curriculum vitae in seiner Dissertation, die er am 14. Dezember 1822 verteidigte, hervor, daß er außer den Medizinvorlesungen auch viele an der philosophischen Fakultät belegt hatte. Er schrieb: „historiam philosophiae veterum, ac Aristoteles metaphysices interpretationem Ch. Brandis me docuit" 1 6 . Christian August Brandis war Ende Mai 1821 nach Bonn gekommen und erst im Juli zum ordentlichen Professor der Philosophie der evangelischen Konfession ernannt worden. 1 7 Im Wintersemester 1821/22 hielt er drei Vorlesungen: 1) Historische Einleitung zur Ethik (publice), 2) Uber die ersten Bücher der Aristotelischen Metaphysik (unentgeltlich) und 3) Geschichte der älteren Philosophie (privatim). Anhand von Dokumenten des Archivs der Universität Bonn läßt sich nachvollziehen, daß Müller „mit vorzüglichster Aufmerksamkeit" 1 8 - wie Brandis bestätigte diese letzten beiden Vorlesungen genau im Wintersemester 1821/22 besuchte. Die Veranstaltung über die Metaphysik des Aristoteles fand vom 7. November bis zum 20. März statt und hatte 5 Hörer; jene über die Geschichte der älteren Philosophie vom 5. November bis zum 22. März mit 10 Hörern. 1 9 Der Inhalt dieser letzten 15 16
17
18 19
Ebenda, S. 207. J. Müller, Dissertatio inauguralis physiologica sistens commentarios de phoronomia animalium [...] IX. Decembris M D C C C X X I I . Bonnae, S. 43. Die Dissertation wurde jedoch am 14. Dezember verteidigt (Archiv der Universität Bonn). Adolf Trendelenburg, Zur Erinnerung an Christian August Brandis, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1868, Berlin 1869, S. 1 - 2 4 ; Friedrich von Bezold, Geschichte der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität von der Gründung bis zum Jahr 1870, Bonn 1920, S. 228-230; Franz Meyer, Die Briefsammlung Christian August Brandis, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 51, 1934, S. 356-365; Erich Feldmann, Christian August Brandis 1790-1867, in: 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818-1968 (Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn), Bonn 1968, S. 16-35; Christian Renger, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein, Bonn 1982, S. 185-187 Archiv der Universität Bonn. Exmatr. d. Med. Fak. 1822. Johannes Peter Müller. Ebenda, U 60. Für das Wintersemester 1821/1822.
Müller und Aristoteles
17
Vorlesungen, der von der eleatischen Schule bis zu Piaton reichte, ist uns aus der Vorlesungsniederschrift von Bernard August Jacobi bekannt, einem Theologiestudenten zuerst in Bonn und dann in Berlin. 2 0 Der Inhalt der Vorlesungen über Aristoteles ist nicht bekannt. Viele Hinweise aus dem Nachlaß von Brandis in der Universitätsbibliothek in Bonn lassen jedoch den Schluß zu, daß es sich um stark philologische Vorlesungen gehandelt haben muß, die unter Zuhilfenahme zahlreicher griechischer Zitate darauf ausgerichtet waren, die Hauptkonzepte der aristotelischen Metaphysik zu präzisieren. 2 1 Es ist anzunehmen, daß Brandis in diesen ersten Veranstaltungen eine gewisse Unerfahrenheit Studenten gegenüber an den Tag legte. Dies geht aus den Erinnerungen von Friedrich Back, einem Freund des jungen Müller, hervor, wo man lesen kann, wie Ernst Wilhelm Hengstenberg „in den Vorlesungen des jugendlichen und äußerst schüchtern auftretenden Dr. Brandis diesen durch Grimassen in Verlegenheit zu bringen versuchte". 2 2 Die Vorlesungen Brandis' hatten einen starken Einfluß auf Müller, und ein Zeugnis hierfür sind einige Passagen aus einem sehr wichtigen unveröffentlichten Brief - ein wahrhaftes intellektuelles Selbstportrait - das er seinem alten Lehrer Johannes Schulze am 18. Februar 1823 schrieb: „Schüler der Natur geworden und in diesem Gebiete zur treuesten Hingabe aufgefordert, bin ich dem besondern Studium der Philologie einigermassen entfremdet. Allein das Studium des Aristoteles namentlich in Naturwissenschaftlicher Beziehung hielt mich in dauernder Berührung mit einem mir unter so glücklichem Einfluss vorzüglich lieb gewordenen Bedürfniss allgemeiner und besonderer Bildung. Ich kann es nur mit der grössten Dankbarkeit anerkennen, wie viel ich den interpretirenden und geschichtlichen Vorträgen über den Aristoteles und im Allgemeinen über die alte Philosophie, überdies dem genaueren Umgange mit diesem Manne verschulde." 2 3 Leider fehlt - wenigstens bis jetzt - eine Dokumentation über die Beziehung von Brandis und Müller nach den Vorlesungen, die wahrscheinlich auch aufrechterhalten wurde, als Müller eine akademische Stellung an der Universität Bonn bekleidete. Wir haben jedoch einige Indizien, die darauf schließen lassen, daß es diese Beziehung wirklich gab. Brandis' Buch Aristoteles und seine Zeitgenossen, mit eigenhändiger Widmung von Brandis an Müller, habe ich schon angesprochen. 2 4 Es ist wahrscheinlich, daß auch die Scholia in Aristotelem, die Müller besaß, ein
20
Universitätsbibliothek Bonn, S 2602a.
21
Ebenda, S 1403, S 1404, S 1405, S 1406, S 1407, S 1409.
22
Rudolf Back, Friedrich Back. Lebensbild eines Hunsrücker Pfarrers, Berlin 1889, S. 25.
23
The Pierpont Morgan Library, New York. Heineman Science 48. Ich danke der Pierpont Morgan Library für die Erlaubnis, im Anhang an diesen Artikel die Abschrift dieses wichtigen Briefes von Johannes Müller vollständig zu veröffentlichen.
24
Bibliotheque Royale Albert I er . Bruxelles, M. 600.
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Geschenk des ehemaligen Lehrers waren, so wie es auch wahrscheinlich ist, daß die Ausgabe des Bandes Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, auf die man im Verkaufskatalog 25 der Bibliothek von Brandis stößt, diesem persönlich von Müller geschenkt worden war. In diesem Zusammenhang muß auch erwähnt werden, daß sich unter den Studenten, die in den Jahren 1821 und 1822 mit Müller in Poppelsdorf wohnten, auch Ernst Wilhelm Hengstenberg befand, der 1824 unter der Leitung von Brandis die Metaphysik von Aristoteles ins Deutsche übersetzen sollte. 26 Auf dem jetzigen Stand der Dokumentation ist es zwecklos, über die Gesprächsthemen von Brandis und Müller zu spekulieren. Dennoch ist darauf zu verweisen, daß Brandis der Sohn eines angesehenen Arztes - Joachim Dietrich Brandis - war, der 1795 den Versuch über die Lebenskraft veröffentlicht hatte. Müller besaß dieses Buch und zitierte es in seinem HandbuchΡ Hinzu kommt, daß Brandis sich über die Lektüre der naturwissenschaftlichen Schriften, 28 die er zusammen mit dem Vater las, Aristoteles näherte, für die er lebenslänglich Interesse hegen sollte, was unter anderem von einigen Vorlesungen über die Physik des Aristoteles bezeugt wird. 2 9 Weiter legitimiert dies die Annahme, daß Brandis auch persönlich daran gelegen sein könnte, mit einem jungen Arzt über aristotelische Fragen zu diskutieren. Was sich hingegen meiner Meinung nach mit Sicherheit behaupten läßt, ist, daß Müller über Brandis zu jenem außergewöhnlichen Revival von philologischen und philosophischen Aristoteles-Studien Kontakt bekam; ein Revival, das seine Hauptvertreter in Brandis selbst, in Immanuel Bekker, Adolf Trendelenburg und später in Hermann Boenitz hatte. Uber die Vorlesungen Brandis' kam Müller zur Metaphysik des Aristoteles. Der Brief an Schulze beweist, daß er sein Studium auf die naturwissenschaftlichen Werke ausdehnte. Doch ist es unwahrscheinlich, daß seine Finanzen es ihm als Studenten erlaubt hätten, die Opera omnia des Stagiriten oder die Historia animalium, von Schneider herausgegeben, zu erstehen, die in seiner Bibliothek anzutreffen sind. Doch war es ihm sicher möglich, sich in der Universitätsbibliothek Bonn aristotelische Texte zu besorgen. Diese war soeben gegründet worden und
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Verzeichnis der in allen Fächern der Theologie, Philosophie, Philologie, Geschichte, Jurisprudenz u. Literatur reichhaltigen Bibliotheken der verstorbenen Herren Chr. A. Brandis, [...] Lorentz [...] Hess in Emmerich [...], Bonn 1867, S. 73, n. 2365. Aristoteles Metaphysik. Ubersetzt von Dr. Ernst Wilh. Hengstenberg, mit Anmerkungen und erläuternden Abhandlungen von Dr. Christian August Brandis. Erster Theil, Bonn 1824. Joachim Dietrich Brandis, Versuch über die Lebenskraft, Hannover 1795; Catalog der hinterlassenen Bibliothek, a.a.O., S. 36; J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 39. Erich Feldmann, Christian August Brandis 1790-1867, a.a.O., S. 17. Universitätsbibliothek Bonn, S 1404.
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legte den Grundstock ihrer Bestände aus dem reichen Fundus alter Einrichtungen und mit einer imponierenden Politik der Neukäufe. 30 Und es ist auf jeden Fall eine Tatsache, daß man schon in seinen frühesten Schriften auf Zitate aus Werken von Aristoteles und den Gebrauch aristotelischer Begriffe stößt. In den Prolegomena seiner Dissertatio (1822) schrieb er: „Motus Vitalis sicuti omnis vitae manifestatio ab organonomia petit principium entelechiale. - Energiae phoronomicae vitales, actiones principiis vitalis κατα δύναμιν moventis in materia organica (et ipsa qua materia phoronomiae omnis materiae subjecta) ad calculum vocantur." In der Fußnote, mit dem Asteriskus gekennzeichnet, schrieb er: „Terminologiam Aristotelis quare usurpaverim, defendere omitto." 3 1 In der Dissertatio (S. 13, 16, 25) sind die meistzitierten aristotelischen Passagen aus De incessu animalium (c. 14 und c. 15). Die preisgekrönte Arbeit aus dem Jahr 1832 De respiratione foetus commentatio physiologica besteht aus drei Büchern, von denen das zweite und das dritte die Fötalatmung bzw. κατα δύναμιν und κατ' ένέργειαν beschreiben, wo man sehen kann, wie diese aristotelischen Konzepte im Rahmen von Müllers Gedankenführung eine komplexe koordinierende Funktion annehmen. In Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes (1826) erwähnt Müller Aristoteles hauptsächlich dort, wo er den menschlichen Blick und die Physiognomie diskutiert. 32 Aber der Einfluß Aristoteles' auf Müller macht sich am allerdeutlichsten in der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien bemerkbar. Von dieser Lehre über die allgemeine Physiologie der Sinnesorgane hat Müller zwei chronologisch getrennte Versionen erarbeitet. Die erste erschien in seinen Arbeiten der Jahre 1826 und 182 7,33 und die zweite stammt aus dem Jahr 1840 als 5. Lehrsatz der „Nothwendigen Vorbegriffe" zur Physiologie der Sinnesorgane im zweiten Band des Handbuches,34
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Wilhelm Erman, Geschichte der Bonner Universitätsbibliothek (1818-1901). Sammlung bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten, 37/38. Heft, 2. Serie, 20/21. Heft, Halle 1919; Richard Sander, Die Bonner Universitäts-Bibliothek in ihrer geschichtlichen Entwicklung, in: Bonner Mitteilungen 12, 1933, S. 18-34. Auf der Basis der erhaltenen alten Kataloge und des Verwaltungsmaterials der Universitätsbibliothek Bonn, die ich einsehen konnte, bin ich nicht in der Lage festzustellen, welche Werke Müller konsultiert haben oder mit Hilfe eines Dozenten ausgeliehen haben könnte. J. Müller, Dissertatio, a.a.O., S. 7. Ders., Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826, S.235, 238. Ebenda, S. 44-50; ders., Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 6 - 9 ; ders., Grundriss der Vorlesungen über die Physiologie, Bonn 1827, S. 53f. Ders., Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 254-258.
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Müller selbst führte den Kern der Doktrin auf Aristoteles zurück; sowohl 1826, mit der Übersetzung des aristotelischen Textes Ueber den Traum, als auch 1840, als er schrieb: „Die spezifische Reizbarkeit der Sinnesnerven reicht also zur Erklärung der Facta nicht hin, und wir sind genöthigt, jedem Sinnesnerven bestimmte Energieen im Sinne des Aristoteles zuzuschreiben, welche seine vitalen Qualitäten sind, wie die Zusammenziehung die vitale Eigenschaft der Muskel ist." 3 5 Daß die Schriften des Aristoteles Müller in seiner Ausformulierung der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien beeinflußt haben, ist inzwischen eine in der historischen Fachliteratur anerkannte Tatsache.36 Außer De insomniis kannte Müller mit Sicherheit auch De anima und De sensu et sensibilibus, die in bezug auf Müllers Lehre äußerst signifikante Passagen enthalten. Und dennoch werden oft auf der Suche nach dem historischen Ursprung der Lehre der spezifischen Sinnesenergien Passagen von Hobbes und Spinoza angeführt, ohne in Erwägung zu ziehen, daß diese Autoren in Wirklichkeit Argumente von Aristoteles benutzten. Müller schöpfte direkt bei dem Philosophen aus Stagira. Wenn jemand heute eine Geschichte der Lehre Müllers schreiben wollte, so müßte er auf jeden Fall berücksichtigen, daß er Aristoteles und gleichzeitig auch Goethe und Purkyne las und dies also mit einem Textverständnis, das sich an den neuen Doktrinen der physiologischen Optik inspirierte. Was, historisch gesehen, erstaunlich ist, ist die konzeptuelle Bereicherung, die Müller aus seiner Lektüre von Aristoteles zieht. Im Handbuch schreibt Müller: „Der Keim ist das Ganze potentia, bei der Entwicklung des Keimes entstehen die integrierenden Theile des Ganzen actu,"37 Solch aristotelische Anschauung durchdringt einen Großteil von Müllers Werk, von der Definition des Organismusbegriffs bis hin zu den Problemen der Embryologie, der vergleichenden Anatomie und seiner teleologischen Auffassung der lebenden Natur. 38 Dieses Durchdringen ausführlich zu illustrieren, sprengt den Rahmen, den ich mir für diese Arbeit abgesteckt hatte. Es ist mir jedoch daran gelegen, noch einige allgemeinere Betrachtungen anzufügen.
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Ebenda, S. 255.
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Vgl. ζ. B. Rudolf Weinmann, Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, H a m burg - Leipzig 1895, S. 13-14; Enzo Bonaventura, Le qualitä del mondo fisico, Firenze 1916, S . 2 3 7 ; Walther Riese/George E. Arrington, The History of Johannes Müller's Doctrine of the Specific Energies of the Senses: Original and later Versions, in: Bulletin of the History of Medicine 37, 1963, pp. 179-183, 281.
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J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 23. Klaus Sandführ, Das Verständnis vom Leben und vom Organismus im Werk von Johannes Müller (1801-1858). Die Eigenart des Lebendigen und die Methode seiner Erforschung
(Inaugural-Dissertation
Universität zu Bonn), Bonn 1979.
[...]
der
Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-
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Soviel Müller auch Schriften anderer Philosophen und besonders von Zeitgenossen wie Schelling und Hegel gelesen haben mag, kam - meiner Meinung nach keiner von ihnen, was Gewicht und Einfluß betrifft, an Aristoteles heran; keiner hat ihm für seine Gedankenführung ebenso ausschlaggebende ordnende und heuristische Elemente geliefert. Abgesehen davon ist die Anziehungskraft des aristotelischen Werkes auf einen biologischen Gelehrten nicht verwunderlich. Es wirkte im 16. und 17. Jahrhundert mit mehr oder weniger Erfolg auf die Wissenschaften des Lebendigen ein. Was vielleicht verwundern mag, ist, daß der Aristotelismus noch in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts bei einigen Biologen wach und lebendig war. Und dies beruht auf der Tatsache, daß die hinweisenden Bemerkungen und Verweise von Autoren wie Georges Cuvier, Ignaz Döllinger und Karl Ernst von Baer auf Aristoteles durch historiographische Vereinfachung vergessen oder entfernt wurden. 1816, auf dem Höhepunkt der naturphilosophischen Welle, schrieb Friedrich Strack, Professor der Naturgeschichte und der alten Sprachen am Gymnasium zu Düsseldorf, in der Vorrede seiner deutschen Ubersetzung der Historia animalium, daß sie „vielleicht das Mittel werden, manchen Leser für die einfache Weise des Naturstudiums zu gewinnen, von der die Naturphilosophie der neueren Zeit so viele, leider, gelockt hat" 3 9 . So gibt es in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts besonders in Deutschland ein Revival des aristotelischen biologischen Gedankenguts, das parallel zum gewichtigeren Revival der philologischen Studien läuft. Symptomatisch für diesen Parallelismus ist, daß der Müllerschen Übersetzung (1826) von De insomniis im Jahre 1823 eine kritische Ausgabe desselben Werks seitens eines Philologen vorausgegangen war.40 Das Revival des aristotelischen Gedankenguts auf dem Gebiet der Biologie war zum größten Teil eine Reaktion auf die Exzesse der Naturphilosophie, und das Schaffen von Aristoteles wurde für einige Autoren zu einem schlagkräftigen Instrument für die Reorientierung der Gedankenführung und der Forschung. Es spielte außerdem in jener Ubergangsphase von der Naturphilosophie zu den reinen Naturwissenschaften eine wichtige und charakterisierende Rolle - auch wenn dies nicht auf historiographischer Ebene untersucht wurde - , die in Johannes Müller einen ihrer Protagonisten hatte.
39
Aristoteles Naturgeschichte der Thiere übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Dr. Friedrich Strack [ . . . ] , Frankfurt a. M. 1816, S. X I .
40
Aristotelis de somno et vigilia, de insomniis et divinatione per somnum libri. Ad codd. et edd. vett. fidem recensuit atque illustravit Guilielmus Adolphus Becker, Lipsiae 1823.
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Anhang Johannes Müller an Johannes Schulze Bonn, 18. Februar 1823 O r i g i n a l : The Pierpont Morgan Library, N e w York. Heineman Science 48
[1] Hochwohlgeborner Herr Werden Sie sich meiner noch erinnern, wenn ich nach nicht weniger als 5 Jahren mich Ihnen nahe, um aus dem Kreise Ihrer vielfältigen Berufsarbeiten Ihre Aufmerksamkeit auf Augenblicke zu fesseln? Zu jener Zeit haben Sie es nicht unter Ihrer Würde geachtet, mein Lehrer zu seyn. Ich weiss nicht, ob der Antheil, den Sie damals an einem unentwickelten Keime genommen, Spuren meiner Persönlichkeit in Ihrem Gedächtnisse mir erhalten hat. Ich weiss nicht, ob jener Eindruck stark genug war, um mir bey dem, was ich Ihnen zu sagen die Ehre haben werde, zu Hülfe zu kommen. Ich glaube einmal Ihre Zuneigung und Ihr Wohlwollen besessen zu haben. Die Energie, mit welcher Sie auf eine Schaar von Jünglingen, deren Bildung auf das Unverzeihlichste vernachlässigt worden war, einwirkten, ist für mich von dem entschiedensten Einflüsse gewesen. Sie zählten mich nicht unter diejenigen, welche Sie die Dunkeln nannten, und deren Namen Ihnen so leicht vergesslich war. Ich bin so glücklich gewesen, des Einflusses, den eine zweckmässige Organisation der [2] Rheinischen Gymnasien bot, mich zu einer Zeit zu erfreuen, wo ich die Folgen der Vernachlässigung früherer Lehrer durch gesteigerte Anstrengung zu tilgen im Stande war. Ihre ganze Erscheinung hat die schlummernden oder eingeschläferten Kräfte zum Bewusstseyn und zum Leben aufgeboten. Sie sind Zeuge meiner Bemühungen gewesen, aufmunternder lebendiger Zeuge. Sie haben meiner ganzen späteren geistigen Entwickelung einen mächtigen Impuls gegeben. Ich bin nun am Schlüsse einer zweyten Bildungsperiode. Ich habe seitdem in der Natur, dem classischsten aller Bücher lesen gelernt; ich wühle in den Schriften von Männern, die zwar grösstentheils niederer Art sind, als die, deren Geist Sie uns aufzuschliessen suchten, die aber mit jenen Griechen, zu denen Bedürfniss mich oft zurückführt, die Einfalt und Gesundheit einer heiteren Lebensanschauung, nicht selten auch ihre Tiefe theilen. Inmitten der Naturwissenschaften erkannte ich mich in dem mir angewiesenen Elemente. Keine Lücke in mir blieb unausgefüllt, jede Kraft, jede Thätigkeit hatte ihr naturgemässes Object. Erst nun ward mir meine Stelle im Leben klar, werth und wichtig. Die Dämmerung war geschlossen; es begann zu tagen. Die Sprachbildung,
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die mathematischen Kenntnisse, in deren Weihe ich zum Theil durch Ihre unmittelbare Einwirkung, zum Theil durch Ihre mittelbare Veranlassung eingeführt worden, waren hinterlegte Güter, die ich nach Willen zu anderem Dienste aufrufen konnte. Ich hatte bald eine zu deutliche Einsicht in die mir bevorstehenden Verhältnisse, um zu glauben, das besondere Studium der Medicin dürfe mir überflüssig seyn, um ein gründlicher Naturforscher auf der gesunden Seite des Lebens zu werden. Ich hielt es für wesentlich nothwendig, in der Medicin zu graduiren. Ich glaubte diese Berührung [3] um so nothwendiger, je mehr sich der Naturforscher dem thierischen Factor der Lebensleiter nähert. Ich stand auf dem Puncte das ins Leben tragen, was ich in mich aufgenommen. Man hat mich vielseitig aufgefordert und es ist mein sehnlichster Wunsch diesen Schritt aufzuhalten und einer freyen Thätigkeit auf die mir gewohnte Weise größere Dauer zu leihen. Mein junges Alter macht mir überdies jenes zur Pflicht. So ist es mein fester Wille und Entschluss, mich ganz und auf immer dem academischen Leben zu weihen. Ich halte mich keineswegs zu diesem Zwecke so vorbereitet, wie ich es wünschen muss; eben so wenig kann ich mit meinen bisherigen Leistungen befriedigt seyn. Der ausserordentliche Königl. Regierungsbevollmächtigte und Curator der Rheinuniversität Herr Geheimrath Rhefues, dessen besonderen Wohlwollens ich mich bisher in nicht geringem Masse zu erfreuen hatte, hat dem Hohen Ministerium der Geistlichen] Untferrichts-] und Med[icinal] Angelegenheiten den Antrag gemacht, meinen beabsichtigten Aufenthalt in Paris in Beziehung auf die engverschlungenen Doctrinen der vergleichenden Anatomie, Zoologie und Physiologie, nebenbey auf practische Medicin und Chirurgie gnädigst zu unterstützen. Auch haben seine Excellenz der Staatsminister und Oberpräsident des Grossherzogth[ums] Niederrhein Freiherr von Ingersleben auf Veranlassung mehrerer Glieder des Medicinalcollegium in Coblenz, die an meinen Fortschritten lebhaften Antheil genommen, diesen Antrag eigens unterstützt. Das Verhältniss, in das mich ein glücklicher Zufall früher zu Ew. Hochwohlgeboren versetzt, ist zu heilig, als dass es mir nicht zur Pflicht machen sollte, an einer Sache, zu deren Beförderung Ihr Einfluss von der grössten Wichtigkeit ist, Ihr Wohlwollen in Anspruch zu nehmen. Diese Aufgabe ist für mich um so einladender, als mir dadurch Hoffnung wird, eine [4] frühere Berührung, aus der Sie zu grössern Arbeiten abgerufen worden, würdiger zu erneuern und zu befestigen. Schon vor anderthalb Jahren verwandte sich Herr Geheimrat Rhefues bey dem Hohen Ministerium um Unterstützung meines Aufenthaltes auf der Universität in Berlin. Die mir gewordene aufmunternde höchstgnädige Antwort kann nicht ohne Ihre Mitwirkung seyn. Sie ist mir ein Beweis, dass Ew. Hochwohlgeboren Ihren ehemaligen Schüler nicht vergessen hatten. Wie sehr man Sie in Ihrem Einflüsse auf einen Kreis Ihnen im Grunde fremder Jünglinge früher verkannte, wie wenig vielleicht auch wir fähig waren, diesen Einfluss nach seinem gerechten Mass und Werthe zu würdigen; wie sehr Ihre dringen-
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den Anforderungen mit dem trägen genügsamen Gange der Entwickelung einer verwahrlosten Jugend im Widerspruch standen, so bedurfte es doch nur dieses Reizes, um auch in mir die Indignation mit dem bisherigen Zustande rege zu machen. Mit dieser war für ein Individuum, das Kraft genug fühlte, dem ergangenen Rufe froh nachzukommen, viel gewonnen. Ich habe es nicht zu spät erkannt, wie wohlthätig gerade Sie zu uns geführt wurden, gerade Sie zu jener bestimmten Zeit. Ich freue mich Gelegenheit gewonnen zu haben, Ihnen den lebhaftesten Dank auszusprechen. Erlauben Sie mir, dass ich Sie in der Entwickelung meines Geistes einen Hebel erster Grösse nenne. Auch Ihnen darf ich meine Erstlinge in den Naturwissenschaften widmen. Betrachten Ew. Hochwohlgeboren die beyliegenden Exemplare als Beweis als Pfand dieser Anerkennung. Ich bin weit entfernt, dass diese Schriften mir ein Recht zu meiner Anforderung und Absicht geben. Ich kann jezt nur Pflichten haben. Ich habe nur Rechte, insofern man nachsichtig [5] genug gegen treue Ausübung der Pflicht mir jene einräumt. Wie jene Schriften entstanden sind, wird Ihnen aus ihnen selbst klar seyn. In der Preisschrift habe ich zu zeigen gesucht, wie ich über physiologische Gegenstände experimentire, und durch den Versuch dargethan, wie wenig Gewicht auf ein wahrscheinliches Räsonnement aus selbst nur wahrscheinlichen Gründen ohne Basis einer genauen Anschauung des Einzelnen und Besonderen zu legen sey. In der Inauguraldissertation habe ich zu zeigen mich bemüht, auf welche Art ich beobachte und wie ich die eigne Entdeckung mit dem vorhandenen Gemeingute verbinde. Die in der letztern niedergelegten Beobachtungen sind in einer Gesellschaft von Professoren und Studierenden (diesen meist jungen Ärzten) für Beförderung der Naturstudien unter dem Vorsitz meines hochverehrten Lehrers Nees von Esenbeck veranlasst. Gewiss sind Ew. Hochwohlgeboren von diesem für wissenschaftliches Leben auf der Rheinuniversität wichtigen Institute unterrichtet, indem es bisher nur unter den Augen des hohen Ministeriums bestand. Ich bin Ihnen schuldig, wenn ich Sie um Beförderung des von Geheimrath Rhefues ausgehenden Antrags bitte, Sie auch mit dem Gange meiner allgemein wissenschaftlichen Bildung bekannt zu machen. Ich handle im Gefühle der Pflicht, wenn ich dabey auf ein ermüdendes Detail eingehe. Ich wünsche, dass Sie diese Darstellung mit derjenigen Aufopferung und Verläugnung lesen mögen, mit welcher Sie einmal die unvollkommenen Schularbeiten des Jünglings durchgesehen haben. Schüler der Natur geworden und in diesem Gebiete zur treuesten Hingabe aufgefordert, bin ich dem besondern Studium der Philologie einigermassen entfremdet. Allein das Studium des Aristoteles namentlich in naturwissenschaftlicher Beziehung hielt mich in dauernder Berührung mit einem mir unter so glücklichem Einfluß [6] vorzüglich lieb gewordenen Bedürfniss allgemeiner und besonderer Bildung. Ich kann es nur mit der grössten Dankbarkeit anerkennen, wie viel ich den interpretirenden und geschichtlichen Vorträgen über den Aristoteles und im Allgemeinen
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über die alte Philosophie, überdies dem genaueren Umgange mit diesem Manne verschulde. Für das Studium der Philosophie entbehrte ich sehr ungern eine Sphäre wie Berlin. Ich habe durch Privatstudien der Schriften des Kant, Fichte und Schelling nach besten Kräften zu ersetzen gesucht, was freylich nur das Bedürfniss nach den Vorträgen eines Mannes wie Hegel nur steigern musste. Ebenso ungern entbehrte ich des Einflusses, den Rudolphi, Link, Lichtenstein auf mich hätten üben können, abgesehen von den Doctrinen der practischen Medicin, obgleich ich mit diesen Männern heimlich durch ihre Schriften befreundet bin. Das Element in dem ich mich bewegen musste, machte mir das Studium der neuern Sprachen, namentlich der mir früher ganz fremden Englischen und Italiänischen Sprache zur unerlässlichen Aufgabe. Ich bin darin durch einen besondern Umstand begünstigt worden. Ich habe unter Verhältnissen gelebt, die mich nöthigten, zur Sicherung meiner Existenz die Nächte oft mit Ubersetzungen mich abzumühen, um am Tage sorgenfrey meinen Studien leben zu können. Eine Frucht dieser Lucubrationen ist die sonst mit Liebe unternommene und ausgeführte Ubersetzung von Hamilton Observations on the utility and administration of purgative medicines. Dieser Umstand gab mir zur Bestreitung meiner Promotion einen nicht unbedeutenden Beytrag. Am Ende einer viertehalbjährigen academischen Laufbahn glaube ich mich zu jenem Schritte genugsam vorbereitet, in dem mich Gott und die Menschen unterstützen mögen. Noch während ich Ew. Hochwohlgeboren zu schreiben begriffen bin, erhalte ich durch Hr. Geheimrath die sehr aufmunternde Nachricht, daß es dem Hohen Ministerio gefallen [7] habe, den von derselben Behörde ausgehenden Antrag wegen Bestreitung der Kosten meiner Inauguraldissertation zu gewähren. Diese höchstgnädige Anerkennung steigert meine Hoffnungen und zugleich meine Wünsche. Ich habe mich in meiner Vorstellung an den Geheimrath Rhefues über meinen durchzuführenden bestimmten Lebensplan ausführlich, wie es mir nöthig schien, ausgesprochen. Ich habe dort die Motive angegeben, die mich zu dem Einen und dem Andern bestimmen. Ich bin dort jeder nöthigen Anfrage zuvorgekommen. Diese Vorstellung wird auch Ihnen zu Gesichte kommen. Selbst wenn ich Aussicht gehabt hätte, meinen Plan aus eignen Mitteln auszuführen, würde ich doch nicht versäumt haben, um die Aufmunterung der hohen Staatsbehörde zu werben. Diese würde nur dazu beygetragen haben, meinen Absichten einen sichern Grund und gerechten Rückhalt zu geben. Aus demselben Grunde muss ich jedem Mittel, das, wenn es auch an sich unschuldig, die Wissenschaft zum Gewerbe erniedrigt, ausweichen. Ich weiss nicht durch wessen Veranlassung oder durch wessen Schuld mir vor einiger Zeit der Antrag gemacht wurde, in einer ruchbaren gerichtlichen Sache eine nüchterne Prüfung der medicinisch-gerichtlichen Arbeiten zu unternehmen. So groß die Versprechungen und gehäuft die Aufforderungen waren, so sehr sich diese mit den Anforderungen des Gewissens im Einklang
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standen, ohne welches ich eine solche Anmuthung als Beleidigung hätte ansehen müssen, so sehr ich überzeugt bin, dass einer ernstern Prüfung der Sache von jener besondern Seite noch Vieles vorbehalten seyn dürfte, so sehr musste ich es als Misbrauch meiner schwachen Kraft ansehen, einem solchen Antrage willig zu seyn, wenn ich es auch hätte über mich gewinnen können, andre mir unverletzliche Rücksichten zu tilgen. Mir fiel dabey ein, was einst der alte Schneider dem jungen Pashow erwiederte, als dieser den Veteranen besuchte und seinen Namen gab: Sind Sie der junge Mann, der um in der literarischen Welt sich anzukündigen, auf den schmutzigsten aller Schriftsteller verfallen ist. Ich will lieber, wenn [8] ich es nöthig hätte, auch für meine physische Existenz zu arbeiten, mit Treue und Redlichkeit übersetzen, als einer Arbeit mich unterziehen, die nicht auf dem Gefühle des Berufs ruht, die nicht aus innerem selbstigem Drang mir Bedürfniß geworden. Wenn ich Ew. Hochwohlgeboren mit dieser kleinlichen Weitläuftigkeit hinhalte, so thue ich dies nur, weil ich glaube, es Ihnen schuldig zu seyn, weil ich mich gerne überreden möchte, dass mein früheres Verhältniss zu Ihnen mir eine freye ungefärbte Darstellung erlaube. Es ist mir ungemein erfreulich gerade jezt zum zweitenmale Ihrem Einflüsse zugeführt zu werden. Wollen Sie, geliebter Lehrer, gestatten Sie mir diese Anrede, ich fühle mich im Besitze grösserer Rechte bey diesem Namen, wollen Sie noch mehr für Ihren ehmaligen Schüler thun, der es sich zur Aufgabe gemacht, die Hoffnungen, die man von ihm gehegt hat, und die bey ihm selbstgestellte Forderungen sind, aufrecht zu erhalten? Ihre Stellung macht Ihnen das in vorzüglichem Grade möglich. Zeigen Sie mir den Weg zu einem Ziele, wo ich durch freye Thätigkeit den schönsten und zugleich den reinsten Dank für so viele mir gewordene höhere Aufmunterung niederlegen kann. Für jezt kann ich nur wollen, dass mein Streben immer nur zugleich diese Gesinnungen beurkunde. Wohlan denn, so habe ich Aussicht, dass diese Gesinnungen unausgesetzt sind, weil es mein Streben ist. Bonn am 18ten Februar 23 Ew. Hochwohlgeboren ganz ergebenster J. Müller Doctor der Medicin aus Coblenz
Müller u n d Aristoteles
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Johannes Schulze an [den Kultusminister Karl Frhr. vom Stein zum Altenstein] [Berlin], 6. März 1823 Original: The Pierpont Morgan Library, New York, Heineman Science 48, Auszug
[2] Zugleich erlaube ich mir Ew. Excellenz mit der Bitte um hochgeneigte Zurückgabe ein unter dem 18ten v. M. an mich gerichtetes Schreiben des Dr. Müller in Bonn nebst Anlagen ganz gehorsamst vorzulegen. Zu den Akten kann ich dieses Schreiben des Müller nicht geben; aber dasselbe zu Ew. Excellenz Kenntnis zu bringen hielt ich für meine Pflicht; ich schmeichle mir, von Ew. Excellenz hinreichend gekannt zu seyn, und so darf ich nicht fürchten durch ganz gehorsame Vorlegung dieses Schreibens meiner Seits den Schein einer Eitelkeit zu geben, von der ich mich - Gott sey Dank - frei weiss. Der Doktor Müller ist der Sohn eines Schusters aus Coblenz; sein Vater, ein ordentlicher Mann, ist bereits gestorben. Er hat viele Kinder und kein Vermögen hinterlassen; die edle geistreiche Physiognomie des jungen Müller zog mich an, als ich im Gymnasio zu Coblenz unterrichtete, und durch seine ausserordentliche Wissbegierde, seinen seltenen Fleiss, und sein bestimmtes sicheres und doch bescheidenes Wesen ist er mir damals lieb geworden. Herr Professor [3] von Esenbeck scheint auf ihn einen sehr entschiedenen Einfluss geübt zu haben. Der Doktor Müller ist der vierte meiner Schüler, den ich zur Theologie und Philologie heranzubilden dachte, und der sich späterhin den Naturwissenschaften gewidmet hat. Mich verwundert dieses nicht, wenn ich diese tiefere Beziehung des klassischen Alterthums zur Natur in Erwägung ziehe ...
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Sinnlichkeit und Sittlichkeit Spinozas „grenzenlose Uneigennützigkeit" und Johannes Müllers Entwurf einer Sinnesphysiologie
Wenn es gewisse Schwierigkeiten bereitet, die Bedeutung der Philosophie Baruch de Spinozas für Johannes Müller mit Hilfe der gängigen wissenschaftshistorischen Literatur zu rekonstruieren, liegt das vor allem daran, daß sie bislang eher als eine Marginalie betrachtet worden ist. Deswegen ist die Frage, warum immer wieder auf eine solche Verbindungslinie hingewiesen wurde, nicht leicht zu beantworten. Man muß nicht gleich die Kritik an einer übertriebenen Ideengeschichte, die es darauf anlegt, bloß keine Facette einer möglichen Beeinflussung unerwähnt zu lassen, bemühen, um festzustellen, daß ein historischer Vollständigkeitsanspruch in bezug auf Müller einhergeht mit der Hervorhebung seines enzyklopädischen Wissens und seiner außerordentlichen Vielseitigkeit. Der Nachteil einer solchen Vorgehensweise liegt auf der Hand: Wo alles oder fast alles „irgendwie" untergebracht wird, kann leicht der Eindruck der Beliebigkeit entstehen, was sich zuerst und vor allem an den Rändern bemerkbar macht; genau an diesen Rändern indes scheint die Beziehung zwischen Müller und Spinoza angesiedelt zu sein. Ein Einfluß Spinozas wurde vor allem im Hinblick auf die Seelenlehre im Handbuch der Physiologie des Menschen konstatiert. So beschränkt sich Emil du BoisReymond in seiner Gedächtnisrede auf die Bemerkung, daß Müller die Leidenschaften „nach Spinoza als gegeneinander wirkende Potenzen der Lust, Unlust [und] Begierde" 1 behandelt habe. Martin Müller weist in seiner philosophischen Studie über Johannes Müller darauf hin, daß Spinoza durch seine Analyse der Leidenschaften auf die ethischen Anschauungen Müllers gewirkt habe. 2 In jüngerer Zeit kommt Peter Schmidt durch seine quantitative Analyse zu dem Ergebnis, daß Spinoza im Kapitel „Vom Seelenleben" des Handbuchs der Physiologie des Menschen der mit Abstand meistzitierte Autor sei, was nicht überraschen kann, da
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Emil du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, in: Reden. 2. Folge. Leipzig 1887, S. 143-334, auf S.211. Martin Müller, Uber die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, Leipzig 1927, S. 64.
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Müller hier knapp sechs Seiten lang Lehrsätze aus Spinozas Ethik paraphrasiert hat. 3 Allgemeine Bemerkungen und Feststellungen ähnlicher Art ließen sich vermehren, ohne daß von einer genaueren Ortung der Spuren Spinozas in Müllers Werk die Rede sein könnte. Allerdings hat auch niemand seine Bedenken gegen eine solche Spurensuche so unmißverständlich ausgedrückt wie Karl Jaspers in seiner Spinoza-Studie, indem er, von der Rezeptionsgeschichte Spinozas ausgehend, den Blick auf Müller lenkt: „Von einer Wirkung kann man auch kaum reden, wenn der Physiologe Johannes Müller in sein einst berühmtes 'Handbuch der Physiologie des Menschen' (1833-1840) eine Ubersetzung der Affektenlehre aufnahm mit Bewunderung, aber ohne Fortsetzung der Analyse Spinozas." 4 Jaspers' These zielt auf den immanent philosophischen Diskurs und hat darin ihre Berechtigung, denn es ging Müller weder um eine originelle Spinoza-Interpretation noch um die systematische Fortschreibung einer philosophischen Affektenlehre. Der springende Punkt liegt jedoch darin, daß man sich auf die Frage nach dem Stellenwert Spinozas für das Handbuch konzentriert hat, und der ist - für sich genommen — eher gering zu veranschlagen. Hingegen scheint es mir Sinn zu machen, den Blick auf Müllers Frühwerk zu richten - vor allem auf die Phantastischen Gesichtserscheinungen - , um von dort aus noch einmal den Faden zum Handbuch aufzugreifen. In der 1826 erschienenen Schrift entwickelte Müller nicht nur sein Gesetz der spezifischen Sinnesenergien,5 er bemühte sich auch um eine
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Peter Schmidt, Zu den geistigen Wurzeln von Johannes Müller, Med. Diss., Münster 1973, S.241f. Es wäre allerdings irreführend, aus Schmidts quantitativer Methode zu folgern, Spinoza sei der zentrale Gewährsmann für das ganze Kapitel über die Seelenlehre gewesen. Müllers Spinoza-Paraphrase beschränkt sich auf die „Statik der Affekte". In den anderen Abschnitten kommt Spinoza jedoch fast gar nicht vor.
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Karl Jaspers, Spinoza, 2. Aufl., München 1978, S. 152.
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Den Versuch, Müllers Gesetz der spezifischen Sinnesenergien mit Spinoza zu erklären, macht Walter Bernard: Spinoza's influence on the rise of scientific psychology. A neglected chapter in the history of psychology, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 8, 1972, S. 2 0 8 - 2 1 5 , auf S.209f. In dieser Arbeit will Bernard den bislang vernachlässigten Einfluß Spinozas auf die Entwicklung der Psychologie gegenüber Descartes aufwerten. Problematisch scheint mir dieses Unterfangen jedoch gerade in der Frage der „Herkunft" des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien zu sein, denn aus dem Umstand, daß Müller im Vorwort zu den „Phantastischen Gesichtserscheinungen" die Bedeutung Spinozas für seine eigene Analyse hervorgehoben hat, lassen sich ebensowenig Schlüsse ziehen für Bernards These wie aus einem Spinoza-Zitat, das bereits den Keim des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien enthalten soll. Es lautet: „Die Idee eines jeden Modus, wodurch der menschliche Körper von äußeren Körpern affiziert wird, muß die Natur des menschlichen Körpers und zugleich die Natur des äußeren
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Fundierung und Legitimierung seiner Sinnesphysiologie als Wissenschaft. Er gab sich jedoch nicht nur Rechenschaft über einen handhabbaren Begriff von Wissenschaft - in Fortführung seiner Bonner Antrittsrede von 1824 sondern handelte auch über mögliche ethische Konsequenzen dieser Wissenschaft, um schließlich bei einer Charakterisierung der Tätigkeit des Wissenschaftlers selbst anzukommen. N u r scheinbar handelt es sich hierbei um divergente Ziele. Wie sie miteinander zusammenhängen, soll im folgenden aufgeklärt werden. Einen zentralen Faden für diese Verflechtung, so meine These, stellt Spinoza dar, und auch wenn Müller sich in dem Zeitraum von 1826 bis 1840 in einem ganzen Komplex vielfältig miteinander verwobener Fragen bewegt, so läßt sich die ganze Unternehmung gleichwohl mit einem ständigen Seitenblick auf Spinoza rekonstruieren. I. Im Vorwort zu den Phantastischen Gesichtserscheinungen wird Spinoza an zentraler Stelle erwähnt. Müller formuliert vorsichtig, grenzt sich entschieden ab und macht aber gleichzeitig klar, wie hoch er den Wert Spinozas für seine eigene Analyse veranschlagt: „Sollte der Verfasser in kurzem sich darüber erklären, was ihm eine wissenschaftliche physiologische Behandlung der Psychologie sey, so würde er, wenngleich gegen den Verdacht des Spinozismus sich wohl verwahrend, doch keinen Anstand nehmen die drei letzten Bücher der Ethik des Spinoza, welche von den Leidenschaften handeln und deren psychologischer Inhalt von den übrigen Lehren dieses Mannes als unabhängig angesehen werden kann, namhaft zu machen. Denn wenn diese Lehren auch nicht das rechte über das Leben in den Leidenschaften wären, wenn sie auch nicht die wahre Erklärung des Lebens in dieser Form wären, so erleidet es doch keinen Zweifel, daß sie wenigstens wirklich Erklärung des Lebens der Methode und dem Inhalt nach sind; was man von den meisten psychologischen Untersuchungen nicht sagen kann." 6 Rudolf Virchow interpretierte diese Stelle im Sinne einer Weiterführung zweier Thesen aus Müllers Inaugural-Dissertation, nämlich „dass nur der Physiolog Psycholog sein könne und dass es über die Natur hinaus keine Philosophie
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Körpers in sich schließen. [...] Es folgt zweitens, daß die Ideen, die wir von äußeren Körpern haben, mehr die Verfassung unseres Körpers als die Natur der äußeren Körper anzeigt." Benedictus de Spinoza, Die Ethik. Lateinisch u. Deutsch. Rev. Übers, von Jakob Stern. Nachwort von Bernhard Lakebrink, Stuttgart 1977, S. 159-161. Diese Aussage läßt sich in ihrer Allgemeinheit wohl kaum als philosophischer Vorläufer für Müllers Gesetz gewinnen. Johannes Müller, Ueber die Phantastischen Gesichtserscheinungen, München 1967 (Neudruck der Ausgabe Coblenz 1826), S. IV
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gebe" 7 . Leider hat Virchow seine Überlegung nicht weiter ausgeführt, doch wenn es mit der Verknüpfung von Müllers Thesen und seiner methodologischen Anleihe bei Spinoza etwas auf sich hat, wirft das die Frage nach einer kontinuierlichen Fortschreibung von Müllers wissenschaftlichen Intentionen noch einmal von einer neuen Seite auf. „Nemo psychologus, nisi physiologus" - dieseThese vertritt Müller bereits 1822, 8 vier Jahre später präzisiert und verschärft er sie dahingehend, „daß die physiologische Untersuchung in ihren letzten Resultaten selbst psychologisch seyn müsse" 9 . Voraussetzung für eine solche Auffassung ist die Charakterisierung der Seele als „eine besondere Form des Lebens unter den mannigfachen Lebensformen". 1 0 Müller beabsichtigt keineswegs, das Leib-Seele-Problem in seiner klassischen, also cartesischen Formulierung zu thematisieren. 11 Vielmehr versucht er eine Annäherung an die Lebensform der Seele, und zwar mit den Mitteln der Physiologie. Die zentrale methodologische Frage besteht darin, wie eine solche Physiologie aussehen müßte. Und weiter: Wenn - wie bereits zitiert - Spinoza eine „wissenschaftliche physiologische Behandlung der Psychologie" geleistet hat, bleibt zu untersuchen, ob und wieweit Müller sich auf diesen Ansatz eingelassen hat. Es hat nicht viel zu bedeuten, daß Müller sich ausdrücklich dagegen verwahrt, als „Spinozist" bezeichnet zu werden; gleichwohl handelt es sich nicht nur - wie man dem Zitat vielleicht entnehmen könnte - um eine Frage der Methode. Vielmehr schwingt - wie ich zeigen möchte auch ein Bewußtsein darüber mit, zu welchem Ende eine solche Physiologie betrieben werden soll. Diese Frage wird vor allem dann virulent, wenn Müller auf die von ihm so genannte „Nutzanwendung" der analysierten Phänomene eingeht, was nichts anderes als eine Skizzierung der ethischen Dimension seiner Physiologie darstellt, womit Müller sich noch einmal ganz in die Nähe Spinozas begibt. 7
Rudolf Virchow, Johannes Müller. Eine Gedächtnisrede, gehalten bei der Todtenfeier am 24. Juli 1858 in der Aula der Universität zu Berlin, Berlin 1858, S. 24.
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Nämlich in der Verteidigung seiner Dissertation. Vgl. Wilhelm Haberling, Johannes Müller. Das Leben des rheinischen Naturforschers, Leipzig 1924, S. 39f.
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J. Müller, Phantastische Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. III.
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Ebenda.
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Müller entscheidet sich nicht zugunsten einer dualistischen oder pantheistischen Sichtweise, wiewohl er beide Positionen ausführlich referiert. Vgl. J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 510-513. Schon aus diesem Grunde würde ich nicht der Vermutung von J. Steudel folgen, wonach Müllers Anlehnung an die Affektenlehre Spinozas auf seine pantheistische Uberzeugung zurückzuführen wäre. Vgl. Johannes Steudel, Johannes Müller und die Neurophysiologie, in: Von Boerhaave bis Berger: Die Entwicklung der kontinentalen Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Neurophysiologie, hrsg. von Κ. E. Rothschuh, Stuttgart 1964, S. 6 2 - 7 0 , S. 70.
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Im 3. Buch der Ethik entwickelt Spinoza eine Affektenlehre, die auf dem Prinzip aufbaut, „die menschlichen Handlungen und Triebe geradeso [zu] betrachten, als handelte es sich um Linien, Flächen oder K ö r p e r " . 1 2 Diese Behandlung „more geometrico" beruht auf der Annahme, daß die Gesetze und Regeln der Natur überall und immer die gleichen seien. Spinozas Konstruktion der Affektenlehre besteht darin, daß er von drei Grundaffekten ausgeht, die der menschlichen Natur notwendig zugehören, nämlich zunächst die Lust (laetitia), welche den Ubergang des Menschen von niederer zu höherer Vollkommenheit darstellt. Den Gegensatz dazu bildet die Unlust (tristitia), sie ist der Übergang des Menschen von höherer zu geringerer Vollkommenheit. Schließlich nimmt Spinoza noch die Begierde (cupiditas) an, worunter er das bewußte Bestreben des Menschen versteht, in seinem Sein auf unbestimmte Dauer zu verharren und welches dem Menschen zu seiner Erhaltung dient. 1 3 Aus dieser Trias und der Verknüpfung ihrer Elemente kann Spinoza sämtliche weiteren Affekte ableiten. Damit entwickelt er eine Methode, anhand derer der weitgespannte R a u m der Affekte mit ganz wenigen Prämissen ausgeleuchtet werden kann. Im Mittelpunkt steht dabei, daß die Verknüpfung nach einem klar definierten und schematisierten Ordnungsprinzip geschieht, wobei der jeweilige geistige Zustand (Lust, Unlust, Begierde) die Richtung einer jeglichen Affektäußerung vorbestimmt. So wäre beispielsweise H o f f n u n g „nichts anderes als unbeständige Lust, entsprungen aus der Vorstellung eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, über dessen Ausgang wir im Zweifel sind. Furcht dagegen ist unbeständige Unlust, ebenfalls entsprungen aus der Vorstellung eines zweifelhaften D i n g e s . " 1 4 Bei Schwinden des Zweifels geht die H o f f n u n g zunächst über in Zuversicht und dann in Freude, die Furcht hingegen wird zur Verzweiflung und endlich - als Zustand - zum Leid. Nach diesem Schema verknüpft Spinoza sämtliche Affekte zu einem Netzwerk von Gemütsbewegungen. Dabei kommt es ihm nicht so sehr auf eine Begründung für den Inhalt der Affektäußerung als auf eine streng formalisierte Beschreibung an. E s wird nun zu zeigen sein, daß Spinozas Prinzip der Analyse ein integraler Bestandteil von Müllers Erklärung der phantastischen Gesichtserscheinungen ist. D a s Sehsystem hat nach Müller wie jedes andere Sinnessystem eine spezifische Energie oder Lebensform, die es unabhängig vom Reiz nur Licht oder Dunkel und Farben sehen läßt. Eine Gesichtserscheinung kann auf dreierlei Weise bewirkt werden, nämlich (1) durch äußere Reize (Licht, mechanischer Druck, Galvanismus); (2) durch innere, organische Reize (gestörte Verdauung, Hirnkrankheiten 12 13 14
B. de Spinoza, Die Ethik, a.a.O., S. 253. Ebenda, S. 277; 395-397. Ebenda, S. 297.
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usw.), was durch das „Gesetz der Sympathie" 1 5 bewirkt wird; und (3) durch gesteigerte Vorstellung oder Einbildungskraft. Mit diesen wenigen Elementen kann Müller im Prinzip sämtliche Gesichtserscheinungen von der Photopsie bis hin zu Visionen und Halluzinationen als „ein und dasselbe Phaenomene [!] von seiner einfachsten bis zur höchsten Stufe der willkührlichen Sollicitation" 1 6 erklären, denn die spezifische Energie des Sehsinnes ist so beschaffen, daß sie auf die genannten Auslöser mit den Wahrnehmungen Licht, Farbe und Dunkel zu reagieren vermag. Die Zurückführung jeglicher visuellen Wahrnehmung auf jene drei Reizformen ist für Müller „der Grundgedanke aller physiologischen Untersuchung, [ . . . ] ohne den durchaus keine Einsicht in die Physiologie der Sinne möglich i s t " . 1 7 Nun ist Müllers Formulierung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien, wie oben angedeutet, keineswegs auf Spinoza zurückzuführen, doch enthält dieses Gesetz nur das allgemeine Konstruktionsprinzip, nicht aber das methodologische Rüstzeug für eine Fundierung der Sinnesphysiologie. Umsetzen läßt sich jener „Grundgedanke" nämlich erst und vor allem durch die Introspektion, und das heißt die subjektiven Gesichtserscheinungen. Auf der phänomenologischen Ebene sind sie für Müller „der alleinige Schlüssel zur physiologischen Wahrheit". 1 8 Es geht ihm also nicht um eine reine Aufzählung und empirische Beschreibung von allerlei Gesichtsphänomenen. Vielmehr sollen sie den Weg weisen „zu den wesentlichen dem Sinne selbst einwohnenden Energieen". 1 9 Dazu müssen die Phänomene jedoch erst einmal in ein Ordnungssystem gefaßt werden, und das richtet sich nicht, wie man annehmen könnte, nach den Inhalten der Wahrnehmung. Es ist in diesem Zusammenhang uninteressant für den Sinnesphysiologen, ob nun Quadrate, Lichtblitze oder Madonnenbilder wahrgenommen werden, und er interessiert sich auch nicht für die Modi der Wahrnehmung, also Licht, Dunkel und Farbe. Vielmehr geht es ihm um die physiologische Entstehung des Vorgangs, also die Auslösung der Wahrnehmung durch innere und äußere Reize sowie gesteigerte Phantasie. Erst von diesem einheitlichen Erklä-
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In seinem „Grundriss der Vorlesungen über die Physiologie" (Bonn 1827) definiert Müller dieses Gesetz folgendermaßen: „In den Sympathien leitet der Nerve die Erregung eines Organes auf ein entferntes Anderes, ohne selbst diese Leitung in einer Energie seiner selbst zu empfinden. Die Affection des sympathisch leitenden Nerven giebt sich nur in der Affection eines entfernten Organes kund." (S. 50.)
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J. Müller, Phantastische Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 43. Ders., Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826, S. 44.
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Ebenda, S. 65.
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Ebenda, S. X V
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rungsmodus her lassen sich die verschiedenen Phänomene aufschlüsseln und ordnen; und erst auf dem Boden eines solchen Ordnungsprinzips können die subjektiven Gesichtserscheinungen ihren zentralen Stellenwert in Müllers Konzept erhalten. Setzt man diese Konstruktion nun in Beziehung zur Analyse Spinozas, so scheint Müller sich bei der Fundierung seiner Sinnesphysiologie gerade in dem methodologischen Aspekt, den man als das Ordnungssystem für die Phänomene bezeichnen könnte, auf Spinoza zu beziehen. Natürlich handelt es sich nicht um eine innere Verwandtschaft der Affekte bzw. der Gesichtserscheinungen, d. h. sowohl die Auslöser wie die Modi der Wahrnehmung stehen in einem ganz anderen Kontext als die Grundaffekte. Von Bedeutung sind die formalen Ubereinstimmungen, indem nämlich ein ganz mannigfaltiger Komplex von Erscheinungen aus wenigen Prämissen abgeleitet wird. Es kommt Müller dabei nicht so sehr darauf an, daß Spinoza von drei Grundaffekten ausgeht; auch in anderen Affektenlehren des 17. Jahrhunderts - etwa bei Descartes oder bei Henricus Regius - war zwischen Grund- und Nebenaffekten unterschieden worden. Entscheidend ist Spinozas Ansatz, in dem das Prinzip der Ableitung aus wenigen Prämissen mit - wie Müller im Handbuch sagen wird - „absoluter N o t w e n d i g k e i t " erfolgt. Man könnte einwenden, daß es sich hierbei um ein durchaus geläufiges Prinzip der Naturwissenschaft handle, doch Müller insistiert gerade darauf, daß Spinoza dieses Prinzip in die Psychologie bzw. in die Philosophie eingeführt habe. Müller hat ebensowenig Interesse an einer jeweiligen Erklärung des Auftretens von geometrischen Figuren oder Madonnenerscheinungen, wie es Spinoza darauf absieht, Affekte wie Freude, Trauer, Wut usw. für sich genommen zu erklären. Gesichtserscheinungen wie auch Affekte haben ihren entsprechenden Platz in einem ganzen Komplex von Erscheinungen; und um ihrer nicht durch Vereinzelung oder Isolierung verlustig zu gehen, darf gerade nicht der Inhalt einer solchen Erscheinung zum Gegenstand der Analyse gemacht werden, sondern ihr formaler Charakter, der sich in ein Ordnungssystem einfügt. Diese beiden eng miteinander verknüpften Punkte scheinen mir den konkreten Hintergrund für die weiter oben zitierte Passage über Spinoza aus den Phantastischen Gesichtserscheinungen abzugeben. 2 0 Die darin geäußerte Bewunderung und 20
Siehe Antn. 6. Vgl. auch ders., Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 521: „Das Wissen dehnt sich hier nicht auf die absolute Erkenntniss des Wesens des Dinges aus, und ist nur insofern absolut, insofern gewisse Schlussfolgerungen aus einem Grundsatz, sei er Thesis oder Erfahrungssatz, mit absoluter Nothwendigkeit folgen, womit aber nur eine gewisse Reihe von Erscheinungen oder Verhältnissen aufgeklärt ist. Alle Wissenschaften sind dieser mathematischen Behandlung fähig, wenn sie einen gewissen Grad von Ausbildung erlangt haben. Die Philosophie wurde in dieser exacten Form von Spinoza behan-
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Anerkennung sind nicht als Pflichtübung aufzufassen. Wenn Müllers Fundierung und Legitimierung der Sinnesphysiologie aus drei Eckpfeilern besteht - dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, der Erkenntnis der Bedeutung der subjektiven Gesichtserscheinungen, sowie einem Ordnungssystem zum Verständnis dieser Phänomene, so dient die methodologische Anleihe bei Spinoza vor allem dem letzten der drei Punkte. Spinozas Unternehmen wird als eine Fallstudie präsentiert, als eine Anwendung der geometrischen Methode auf die Psychologie, die für Müller ein wissenschaftliches Lehrstück der Anwendung mathematischer Prinzipien bedeutet. An dieser Stelle tut sich allerdings auch der Graben auf, der Denken und Problemstellung der Philosophie des späten 17. und der Physiologie des frühen 19. Jahrhunderts voneinander trennt. Spinozas Vorgehensweise more geometrico ist kongruent mit seinem Parallelismus, der davon ausgeht, daß „die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz ist, die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird". 2 1 Das Vorhaben, Affekte genauso zu handhaben wie geometrische Figuren, wird abgesichert durch eine Identitätslehre, die die Seinsweisen von Physis und Psyche zusammendenkt. Damit umgeht Spinoza nicht nur die Schwierigkeiten, die Descartes vor allem in seiner Sinnesphysiologie gehabt hatte, um die Interaktion von res extensa und res cogitans plausibel zu machen; eine Lesart der Natur, die die Einheit aller Substanz annimmt, braucht sich auch die Frage nach der jeweiligen Eigenart von belebter und unbelebter Natur gar nicht erst zu stellen. Bekanntlich trat hier ein fundamentaler Wandel ein durch die Transformation des Lebensbegriffs im 18. Jahrhundert und die eigentliche Konstituierung einer Wissenschaft vom Leben. 2 2 Nun schließt Müller sich, wie wir gesehen haben, zwar in methodologischer Hinsicht Spinoza an, aber daß es in seiner Physiologie nur darum gegangen wäre, verschiedene Attribute einer Substanz zu definieren, wird man kaum behaupten können. Im Gegenteil geht es ihm um die Erkenntnis der Dynamik des Lebendigen, was darauf hinausläuft, die Physiologie jenseits mechanistischer oder physikalistischer Reduktionen anzusiedeln. Das beste Beispiel hierfür ist wiederum das Konzept der spezifischen Sinnesenergie, die Müller nicht anders denn als spezifische Lebensenergie auffaßt. 2 3 Deswegen hat Sinnesphysiologie - über den engeren Rah-
delt." Hier hätte man durchaus an Kant denken können, für den eigentliche Naturwissenschaft ja mathematisch ist. 21
B. de Spinoza, Die Ethik, a.a.O., S. 123.
22
Vgl. hierzu die beinahe schon klassischen Werke: Jacques Roger, Les sciences de la vie dans la pensee frangaise du XVIII e siecle, Paris 1963; Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966.
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In der Einleitung zum „Grundriss" heißt es unmißverständlich: „[Die Physiologie] hat zum Gegenstand das Leben des Organismus, dessen Wesenheit es ist, gegen jedwede
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men der Erforschung der Sinne hinaus - für Müller auch eine pars-pro-totoFunktion, indem sie sich als sinnfälliges, empirisch abgesichertes Vorbild für eine Wissenschaft vom „Leben des Organismus" darstellt. 2 4 Somit kann Müller in einem Teilbereich das einlösen, was er in seiner Rede von 1824 als „denkende Erfahrung" gleichsam in einer Art Forschungsprogramm festgelegt hatte; und er bedient sich bei seiner Konstruktion der Physiologie als Wissenschaft durchaus der Philosophie. Aber er macht genau an dem Punkte halt, wo sein Vorhaben gestört werden könnte, und eben deswegen wird die schwierige Frage, wie denn zwei grundsätzlich verschiedene Seinsbereiche - hier: anorganische und organische Natur - mit ein und derselben Methode - hier: der mathematischen Behandlung im Sinne Spinozas - hantiert werden können, gar nicht erst thematisiert. Eine Antwort auf dieses Problem scheint mir darin zu liegen, daß Müller auf unterschiedlichen Ebenen argumentiert. In einem allgemeinen Zugriff geht er davon aus, daß die Gesetzmäßigkeiten der Natur identisch seien und der Ursprung hierfür im Absoluten liege. Damit befindet sich Müller in engster Verwandtschaft zur naturphilosophischen Identitätslehre. Er braucht diesen Ansatz gerade dort, wo er seinen hohen Anspruch, daß Psychologie in ihren letzten Resultaten physiologisch sei, einzulösen sich vornimmt. Auf einer anderen Ebene jedoch hebt er das Organische mit dem Ziel hervor, den Irrtümern einer mechanistischen, chemischen und dynamischen Naturlehre, die er unter dem Begriff der „verständigen Physiologie" subsumiert, einen anderen Entwurf entgegenzuhalten. 2 5 Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß Müllers Unternehmungen einer Psycho-Physiologie und einer organischen Physiologie nicht vollständig miteinander kompatibel sind. Nur für die Entwicklung der ersteren, nicht jedoch der letzteren, beruft Müller sich auf Spinoza. Die Ursache für Einverleibung wie auch Abgrenzung von Elementen der Philosophie Spinozas ist jedoch nicht bloß mit einem allgemeinen Verweis auf die historische Differenz zum 17. Jahrhundert zu erklären, sondern hat mit Müllers spezifischem Gebrauch von Philosophie zu tun.
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äußere Einwirkung nicht in der A r t dieser äußeren Einwirkung, sondern in seinen ihm selbst zukommenden Energieen thätig zu seyn" (J. Müller, Grundriss, a.a.O., S. III). Gerade in dieser Betonung des Organischen scheint mir der tiefere Grund dafür zu liegen, daß sich ein Biologe wie Jakob von Uexküll (Der Sinn des Lebens, Bad Godesberg 1947) noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts so eng an Müller anschließen konnte. Vgl. auch den an v. Uexküll anknüpfenden Psychiater Rudolf Bilz, der in seinem Buch „Pars pro toto. Ein Beitrag zur Pathologie menschlicher Affekte und Organfunktionen" (Leipzig 1940), ein ganzes Kapitel mit „Die spezifische Energie" überschreibt (S. 2 7 8 - 2 8 5 ) und sich auch explizit auf Müller beruft. Vgl. hierzu die Passagen aus der Bonner Antrittsrede. J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie ..., a.a.O., S. 15-17.
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II. Mit der Entwicklung dieses ersten Problemkreises ist das Verhältnis von Müller zu Spinoza noch nicht vollständig ausgelotet, da Müller mehr vorhat als eine bloße methodologische Fundierung der Physiologie. Er sucht Wege zu einem Wissen vom Menschen, das identisch ist mit Aufklärung über sich selbst und das schließlich münden soll in eine Anleitung zur Sittlichkeit. Wie ist das zu verstehen? Paul Kluckhohn hat einmal darauf hingewiesen, daß bei Goethe „eine Naturschau, die ihr Einheitsstreben in Spinozas Pantheismus bestätigt fand", ergänzt wurde „durch das dynamische Moment", so daß sich das „ruhende Sein" mit dem „schöpferischen Werden" vereinte. 26 N u n bezog sich die Harmonisierung von Ruhe und Bewegung keineswegs nur auf eine Naturschau; sie war ebenso Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, das vor allem - so Kluckhohn - in WilhelmMeisters Lehrjahren Ausdruck fand und seinen Eindruck auf die junge Generation von Romantikern wie Novalis, Schelling und Friedrich Schlegel nicht verfehlte. Mir scheint, daß auch Müller - nicht zuletzt geprägt durch die Lehrjahre in Bonn von diesem Impuls noch erfaßt wurde; denn während er in der „Nutzanwendung" seiner Sinnesphysiologie sowie in seiner Affektenlehre von Anfang an zum „ruhenden Sein" tendiert und das Gleichgewicht in den Mittelpunkt stellt, ist sein Selbstverständnis als Wissenschaftler, ausgestattet mit Phantasie, Anschauungskraft und Verstand, eher auf ein „schöpferisches Werden" hin gerichtet. Auf der einen Seite also nimmt Müller Spinozas Anleitung zur Sittlichkeit ernst, auf der anderen Seite glaubt er es seiner eigenen Etablierung und Selbstbehauptung schuldig zu sein, die schöpferische Potenz des Wissenschaftlers, den Genius, hervorzuheben. Diese beiden Aspekte müssen noch etwas genauer betrachtet werden, zumal sich gerade hier die Verwurzelung Müllers in einer Zeit des Ubergangs Goethezeit, Klassik und Romantik neigten sich dem Ende zu - auf ganz eigentümliche Weise darzustellen scheint. Eine eindringliche Formel für den sittlichen Anspruch seiner Arbeit findet Müller zunächst nicht in einer allgemeinen Reflexion, sondern auf seinem ureigenen Gebiet, der Sinnesphysiologie: „Das Auge muß von dem Reichthum seiner Bewegungen Gebrauch zu machen wissen, ohne deshalb luxuriös zu seyn." 2 7 Mit diesem Satz ist schon in nuce ausgedrückt, was dann in den Phantastischen Gesichtserscheinungen entfaltet wird. Die Affektäußerung für Spinoza wie die Gesichtserscheinung für Müller sind ein geistiger Zustand, der auf bestimmten naturgegebenen Prämissen beruht, somit
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Paul Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik, 5. Aufl., Tübingen 1966, S. 14. J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie ..., a.a.O., S. 264.
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keineswegs nach moralischen Kriterien als gut oder schlecht zu bewerten ist. Auch kommt es nicht darauf an - es wäre auch unmöglich das eine oder andere vollständig zu unterdrücken. Das Ziel liegt vielmehr darin, mit beiden eine Umgangsform zu finden und sie womöglich produktiv umzusetzen. Für Spinoza liegt die Macht des Geistes in der klaren und deutlichen Erkenntnis und Beurteilung der Affekte. Dadurch sind die Affekte gleichsam schon beherrscht, d.h., dem Menschen ist ein Mittel an die Hand gegeben, zu seiner eigenen Vervollkommnung zu gelangen, die in der „Freiheit des Geistes oder [...] Glückseligkeit" 28 besteht. Ein ähnlicher Gedankengang findet sich auch bei Müller. In seiner Explikation des Nutzens der analysierten Phänomene postuliert er, daß erst durch die Leitung der Vernunft jene „Herrlichkeit und Gewalt der innern Sinnlichkeit" 29 in eine Bahn gelenkt wird, die schließlich zur Vervollkommnung des Menschen führt. Vor diesem Hintergrund bekommt Müllers Beschäftigung mit der Sinnesphysiologie eine ganz andere Nuance. Sie klärt nämlich den Menschen über sich selbst auf, wenn sie die Visionen, Halluzinationen usw. aus dem Luftraum der „pathologischen Symptome", der Dämonie und Verhexung auf den Boden der „Gesichtswahrheit" holt. 30 Entscheidend kommt es darauf an, wie man mit der unabänderlichen Gegebenheit der „Energieen unseres Sinnes" 31 umgeht. Für die Vergangenheit, und das heißt die Interpretation der Phantasie im Rahmen der Religion, konstatiert Müller „Verirrungen finsterer, aber reichbegabter Zeiten, die Sünden und Krankheiten des Urtheils in dem phantasiereichen, durch seine Phantasie geopferten Einzelnen als ein großes weltgeschichtliches Ereigniß [...], Zeugniß gebend wie von dem Irren des Menschengeistes, so zugleich auch in der Krankheit von der Herrlichkeit und Gewalt der innern Sinnlichkeit". 32 Die enormen Potenzen der Phantasie gilt es nach Müller produktiv umzusetzen, und zwar mittels einer harmoniestiftenden Austarierung durch den Verstand: „Nur wo die Phantasie und die Herrschaft des Verstandes gleich gesteigert sind, bleibt es in harmonischer Lebensbewegung beider." 33 Wenn bei Spinoza die Analyse hinführt zur Freiheit, die jenseits von Gut und Schlecht angesiedelt ist und die höchste Glückseligkeit des Menschen darstellt, so mündet die Analyse bei Müller in der emphatischen Evokation der „höchsten freiesten geistigsten Blüthe", indem zur „schönen Gabe der
28 29 30 31 32 33
B. de Spinoza, Die Ethik, a.a.O., S. 619. J. Müller, Phantastische Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 87 Ders., Z u r vergleichenden Physiologie ..., a.a.O., S. VI. Ders., Phantastische Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 88. Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 88.
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Sinnlichkeit" das „gedachte Gute" addiert wird. 3 4 Sinnlichkeit ist an sich unschuldig, „die Schuld tritt ein, wo unsere Organe afficirt werden, ohne daß der freie Wille für das Gute vorhanden ist, wo nicht genossen werden kann ohne das Schweigen, ohne das Vergeben der sittlichen Freiheit". 3 5 Die Sinnlichkeit muß also von der Sittlichkeit begleitet werden; das ist die letzte und höchste Aufgabe einer Analyse der subjektiven Gesichtserscheinungen, und eben bei der Vollziehung dieses Schrittes betrachtet Müller Spinoza als seinen Gewährsmann. Eine ethische Maxime allein hätte für Müller jedoch nicht ausgereicht; erst Spinozas spezifische Behandlung des Gegenstandes macht seinen Stellenwert für Müllers Absichten plausibel. Damit stellt sich die Frage nach der Standortbestimmung des Müllerschen Wissenschaftsansatzes im Jahre 1826 und seiner Konsequenzen. Zur historischen Einordnung Müllers, wie sie sich aus dem Selbstverständnis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergab, gehörte stets das Postulat einer Phaseneinteilung in der wissenschaftlichen Entwicklung Müllers. Bis zu seinem Aufenthalt in Berlin bei Karl Asmund Rudolphi 1823/24 sei Müller von Schelling beeinflußt gewesen, bis 1826 dann habe er Wissenschaft im Goetheschen Sinne betrieben und danach endlich habe sich Müller der empirischen Forschung zugewendet. 3 6 Das Problem dieser Einteilung liegt darin, daß sie den methodologischen Aspekt von Müllers Beschäftigung mit den subjektiven Phänomenen des Sehens ignoriert. Unabhängig davon, wie man Goethes Zugang zur Wissenschaft einschätzt, ist Müllers Aufgreifen Goethescher Impulse sehr wohl kalkuliert. 3 7 Hierbei ging es ihm primär um mögliche empirische Zugänge zu der komplizierten Welt der Wahrnehmung. Müller hat die subjektive Sinnesphysiologie in dem Moment aufgegeben, als sie ihm auf diesem Weg nicht mehr weiterhalf, aber das bedeutete keinen prinzipiellen Abschied von der Verfahrensweise: Er hat die Sinnesphysiologie weiterhin als zentrales Forschungsfeld angesehen und sich dabei sehr wohl auf die bis 1826 entwickelten Gedanken gestützt. 3 8 Nun hat Müller nicht nur sein wissenschaftliches Programm
34
Ebenda, S. 87.
35
Ebenda, S. 89.
36
Vgl. E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., der von einer „naturphilosophischen", einer „subjectiv-physiologisch-philosophischen" und einer „objectiv-physiologisch-anatomischen" Periode spricht; vgl auch M. Müller, Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, a.a.O., S. 19f.
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Niemand hat das schneller erkannt als Goethe selbst, der Müller in seinem Brief vom 29. März 1826 beinahe den Handschlag verweigert. Der Brief ist abgedruckt in: W Haberling, Johannes Müller, a.a.O., S. 70f.
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Diese Kontinuität ergibt sich allein schon aus einem Vergleich der sinnesphysiologischen Überlegungen in den Büchern von 1826 und im „Handbuch". Natürlich sind hier
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im engeren Sinne weitergeführt, auch seine aus der Sinnesphysiologie gezogenen allgemeinen ethischen Schlußfolgerungen finden ihre genauere Ausformung in der Affektenlehre, die sich zwar eng an diejenige Spinozas anlehnt, jedoch gerade vor dem durch die Sinnesphysiologie entfalteten Problemhorizont einen anderen Stellenwert bekommt, als er von Jaspers diagnostiziert worden ist. Dabei ist es nicht entscheidend, daß Müller Spinozas „Statik der Affekte" mit den drei Grundaffekten Lust, Unlust und Begierde im großen und ganzen übernimmt. Viel wichtiger scheint mir Müllers Gebrauch des Begriffes „Gleichgewicht" zu sein, der sich wörtlich oder sinngemäß durch das Handbuch der Physiologie hindurchzieht und beinahe eine programmatische Bedeutung einnimmt. „Gleichgewicht" bedeutet für Müller einen Zustand der inneren Ausgeglichenheit, des Abpufferns der Gefühle durch die Vernunft, aber auch umgekehrt des gefühlvollen Gebrauchs der Vernunft. Das Prinzip der gegenseitigen Regulation von naturgegebener Sinnlichkeit und Vernunft führt nach Müller zum Gleichgewicht, und nur so können sittliches Empfinden und Verhalten gedeihen, „denn Neid und Mitleid können aus denselben Quellen entspringen, wie die Statik der Leidenschaften ergiebt, und der jetzt mitleidige kann alsobald neidisch seyn, ohne mitleidig Vernunft mehr zu haben denn als neidisch. Spinoza Ethik 4. Buch" 3 9 . Die Vernunft aber faßt Müller ebenfalls in einem spinozistischen Sinne, wenn er sagt: „Die Unterordnung des Selbst unter die göttliche Weltordnung und das Unendliche ist die Vernunft, welche das besondere aus dem höchsten Allgemeinen ableitet." 4 0 Nun führt die vollständige Akzeptanz der Natur durch die Vernunft aber nicht nur zum „seligen Leben"; 4 1 mit dem Weg vom Allgemeinen zum Besonderen knüpft Müller ganz direkt an seine Bonner Antrittsrede an, denn dort hatte er die Verbindung von Philosophie und Physiologie daran geknüpft, daß die Naturbetrachtung zutage fördere, wie das Allgemeine das Einzelne aus sich hervorbringe und wie das göttliche Leben sich selbst erst durch die Schaffung des Endlichen offenbare. 4 2 Damit wird verständlich, daß die „grenzenlose Uneigennützigkeit" 4 3 Spinozas bei Müller
Unterschiede und Entwicklungen auszumachen, mitnichten jedoch ein völlig neuer Ansatz. Aus anderer Perspektive kommt Hans-Jörg Rheinberger zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen. Vgl. auch J . Steudel, Wissenschaftslehre und Forschungsmethodik Johannes Müllers, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 77, 1952, S. 115-118. 39
J . Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 550.
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Ebenda, S. 551.
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An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen werden, daß Müller sich hier neben Spinoza explizit auf Johann Gottlieb Fichtes „Anweisung zum seligen Leben" bezieht. Vgl. ebenda.
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J . Müller, Zur vergleichenden Physiologie . . . , a.a.O., S. 7f.
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Hierbei handelt es sich um eine Formel Goethes, die sich gegen Ende des 14. Buchs von
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in der Gestalt eines grenzenlosen Vertrauens in die Vollkommenheit der Natur aufgehoben ist. Diese Denkfigur spannt den Bogen von einer Begründung der Physiologie als Wissenschaft bis hin zu einer Ethik, die im Prinzip von denselben Fundamenten getragen ist. So weit kann die „ruhende Einheit" von Naturbetrachtung und Lebensgefühl aufrechterhalten werden. Abschließend bleibt nurmehr die Frage zu klären, ob und auf welche Weise sich die Selbstdarstellung des Naturforschers in das skizzierte Bild einfügen läßt. Auch hier ist zunächst von einem tiefen Graben zwischen dem 17. und dem frühen 19. Jahrhundert auszugehen. Simon Schaffer hat kürzlich überzeugend herausgearbeitet, daß die Selbstcharakterisierung als Genie zentraler Bestandteil des Bildes war, das die Naturforscher der Romantik von sich selbst zeichneten. 4 4 Für Novalis beispielsweise oder Johann Wilhelm Ritter war Experimentieren die adäquate Tätigkeit des Genies, und hierbei nahm der Selbstversuch eine bevorzugte Stellung ein. In diesem Kontext sind natürlich auch die Beobachtungen und Experimente zu den subjektiven Sinnesphänomenen anzusiedeln, und Müller knüpft nahtlos daran an. „Das nach Ideen thätige Einbilden des Künstlers und Naturforschers" bildet das letzte Kapitel und gleichsam den Höhepunkt der Phantastischen Gesichtserscheinungen, nachdem Müller die Steigerung und Ausschöpfung der natürlichen Potenzen der Phantasie - nun eben im sinnesphysiologischen Selbstversuch amalgamiert hat mit einer gleichzeitigen ordnungsstiftenden Vernunft. Müllers Annahme einer Verwirklichung dieser „harmonischen Lebensbewegung" im Künstler und im Naturforscher weist darauf hin, daß er gerade das Genie für immun hält gegenüber den Verirrungen einer überbordenden Phantasie. 4 5 Die
„Dichtung und Wahrheit" findet. Der weitere Zusammenhang lautet: „Was ich mir aus dem Werke [d. i. die Ethik, Μ . H . ] herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben, davon wüßte ich keine Rechenschaft zu geben, genug, ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzutun. Was mich aber besonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchtete." J . W v. Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Goethes Werke, hrsg. von E. Trunz, Bd. 10, 8. Aufl., München 1982, S. 35. 44
Simon Schaffer, Genius in Romantic natural philosophy, in: Romanticism and the Sciences, eds. A. Cunningham and N . Jardine, Cambridge 1990, pp. 8 2 - 9 8 . Zuvor hat bereits Walther Riese auf den Zusammenhang von Selbstversuch und Romantik hingewiesen und sich dabei explizit auf Müller bezogen: W Riese, The Impact of Romanticism on the Experimental Method, in: Studies in Romanticism 2, 1962, pp. 1 2 - 2 2 .
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Vgl. hierzu die Thesen von O d o Marquard, Uber einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M . 1982, S. 8 5 - 1 0 6 .
Sinnlichkeit und Sittlichkeit
43
Pointe besteht darin, daß die Phantasie - nun nicht mehr sich selbst überlassen, sondern „durch die Idee bestimmt" 4 6 - nach denselben Gesetzen verfährt wie der Naturprozeß selbst, woraus folgt, daß die „künstlerische Phantasie" und der „anschauende Sinn des Naturforschers" 4 7 nichts anderes darstellen als eine Rekonstruktion, ja eine Imitation der „Metamorphose der F o r m e n " 4 8 in der Natur. Etwas anders gewendet heißt es dann: „Die Phantasie bringt, nach denselben Gesetzen wie die Natur wirkend, das Gleiche in anderen geselligen Verhältnissen ausbildend, entwickelnd diese lebendige Metamorphose der Organismen zur sinnlichen Anschauung." 4 9 Der höchste Anspruch der durch die Idee geläuterten Phantasie besteht darin, sich in die Natur hineinzubeugen und aus ihr heraus zu sprechen. Der Künstler sucht dies mit „künstlerischer Phantasie" zu verwirklichen, der Naturforscher mit „anschauendem S i n n " . 5 0 War das Bündnis zwischen Künstler und Naturforscher um 1800 für eine kurze Zeit vollkommen, so setzt sich Müller bereits in einem wichtigen Punkte ab, wenn er konstatiert, daß beide genau da auseinandergehen, wo der Künstler „das Gesetz der Formenbildung und Verwandlung" realisiert, indem er den Bereich des „Wirklichen und Natürlichen" zugunsten der „idealen F o r m " überschreitet. 5 1 Diese Überschreitung ist dem Naturforscher nicht gestattet. Er realisiert jenes Gesetz in der Empirie. Der strategische Vorteil dieser Trennung ist ein doppelter: zum einen wappnet sich Müller gegen den Vorwurf einer frei flottierenden Spekulation, zum anderen aber bleibt das durch romantisches Denken geprägte Selbstwertgefühl des Naturforschers völlig unangetastet. Zur Rolle des Wissenschaftlers gehört von nun an „the heroic privilege of discovery", 5 2 das nicht zuletzt die soziale Funktion einer Konstituierung der wissenschaftlichen Autorität beinhaltet, und eben dieser Zusammenhang macht Müllers ethischen Rekurs auf Spinoza ambivalent. Es scheint unabwendbar zu sein, daß die Rechnung eines ungestörten seligen Lebens, der Harmonie und der grenzenlosen Uneigennützigkeit nicht ganz aufgeht. Der Physiologe des 19. Jahrhunderts vermag eben, selbst wenn er es möchte, kein Mystiker mehr zu sein. Im Gegenteil: Es kann gar nicht genug betont werden, wie sehr Müller bemüht ist, seine eigene Position als Physiologe zu finden und zu behaupten. 5 · 5 Zu diesem Behufe greift er auf Spinoza zurück, wie er sich auch
46
J. Müller, Phantastische Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 102.
47
Ebenda.
48
Ebenda, S. 101.
49
Ebenda, S. 103.
50
Ebenda, S. 102.
51
Ebenda, S. 105f.
52
S. Schaffer, Genius in Romantic natural philosophy, a.a.O., p. 94.
53
Nicht nur das. Er versucht auch, sein Programm für eine Reformierung der Physiologie
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MICHAEL HAGNER
anderer Gewährsleute versichert. Bei der Weiträumigkeit des Müllerschen Ansatzes würde es allerdings zu kurz greifen, ihn auf den einen oder anderen Einfluß festlegen zu wollen: Müller findet in viele Höhlen hinein, findet jedoch mit untrüglicher Sicherheit auch wieder den Weg nach draußen. Mein Vorschlag läuft zusammenfassend also darauf hinaus, die Vergleichende Physiologie und vor allem die Phantastischen Gesichtserscheinungen nicht nur als sinnesphysiologische Bücher im engeren Sinne zu lesen. Man sollte sie ebenso als eine Art Propädeutik für Wissenschaftler wie auch als ethische Studien auffassen. Dadurch versucht Müller eine Standortbestimmung seiner selbst als junger Wissenschaftler, indem er sich über sein eigenes Tun und Lassen Rechenschaft gibt. Sie geben mithin den Resonanzboden für ganz verschiedene Akkorde ab, was den außerordentlichen Anspruch markiert, der unter dem Stichwort Physiologie auf einmal zur Entfaltung kommt. Der Weg zur „Jahrhundertwissenschaft" Physiologie ist damit vorgezeichnet, auch wenn es letztlich ganz anders kam, als Müller gedacht hatte.
universitär zu etablieren. Vgl. dazu Michael Hagner, Sieben Briefe von Johannes Müller an Karl Ernst von Baer, in: Medizinhistorisches Journal 27, 1992, S. 138-155.
BETTINA WAHRIG-SCHMIDT
Müller und Kant Aspekte ihrer Begegnung im
Handbuch der Physiologie* Eine Diskussion des Verhältnisses von Müller zu Kant hat, soweit ich sehe, drei mögliche Ansatzpunkte: erstens die Bestimmung des Organismusbegriffs, zweitens die Analyse der Vermögenspsychologie und drittens das Wissenschaftsverständnis. Alle drei greifen ineinander; im Zentrum der folgenden Überlegungen steht der Begriff des Organismus, wobei allerdings die beiden anderen Themen immer wieder angespielt werden müssen. Ich möchte zunächst auf eine einflußreiche Studie über das Verhältnis zwischen Kant und Müller eingehen, um den thematischen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sich meine eigene Untersuchung bewegen wird, um anschließend die Entwicklung von Müllers Begriff des Organismus bis zum Handbuch der Physiologie des Menschen zu umreißen. Nach einigen Ausführungen über Kants Begriff des Organismus soll dann das Verhältnis Müllers zu Kant im Handbuch zur Sprache kommen.
I. Johannes Müller in Timothy Lenoirs Strategy of Life Timothy Lenoir stellt die These auf, daß die Philosophie Kants die sogenannten Teleomechanisten „geprägt" hat. 1 Diese machen, so Lenoir, in der Tendenz einen konstitutiven Gebrauch von der durch Kant nur als regulativ legitimierten Teleologie für die Theorie des Organismus. Lenoir betrachtet den „Teleomechanismus" als die Keimzelle eines Forschungsprogramms, das eine Reihe von zentralen Figuren der Biowissenschaften des 19. Jahrhunderts in Deutschland umfaßte und das sich langsam entfaltete: Das Konzept der Lebenskraft entwickelte sich Hand in Hand mit der Diversifizierung von Forschungsmethoden, und es können drei Gruppen von Forschern unterschieden werden, die nacheinander - ζ. T. zeitlich und persoDieser Beitrag ist Silvia Markun und H a n s Heinz H o l z gewidmet. F ü r eine sehr fruchtbare Diskussion des Manuskripts danke ich Michael Hagner und H a n s - J ö r g Rheinberger. 1
Timothy Lenoir, The Strategy of Life: Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology, Chicago - L o n d o n 1989 [zuerst 1982].
46
BETTINA WAHRIG-SCHMIDT
nell überlappend - entstanden: Die „vital materialists", die „Morphogenetiker" und die „functional morphologists". Die „vital materialists" (Blumenbach, Kielmeyer u. a.) verwenden den Begriff „Lebenskraft" in Analogie zu dem physikalischen Begriff der Kraft: Man erkennt jene wie diese nur an ihren Wirkungen; ihr Wesen ist nicht zu erforschen, und doch wirkt sie. Die Lebenskraft wird damit zu einem ontologisch mißverstandenen „Ding an sich". Sie erlaubt eine dynamische Auffassung des Organismus, ohne dessen Logik prinzipiell außerhalb der Logik des neuzeitlichen physikalischen Denkens ansiedeln zu müssen. Die „Morphogenetiker" (von Baer, Doellinger u.a.) verlegen dieses dynamische Prinzip dann zunehmend in die „Keime" und „Anlagen". Aus der vergleichenden Anatomie und noch stärker der vergleichenden Embryologie wird ein Forschungsprogramm entwickelt, das die Gesetze des Organischen in der Einheit des Lebendigen zur Erkenntnis bringen soll. Aus den Anfängen der Zelltheorie entwickelt sich dann als dritte Generation die Gruppe der „functional morphologists" (Liebig u. a.), für die der Begriff der Lebenskraft langsam in den Hintergrund tritt, indem sie den Zusammenhang von Struktur und Funktion im Einzelnen zu bestimmen versuchen; dennoch liegen ihren Äußerungen im wesentlichen noch die theoretischen Voraussetzungen des „Teleomechanismus" zugrunde. Lenoir schildert überzeugend die notwendige Kontinuität dieser drei Ansätze. Der Ubergang vom „vital materialism" zur Morphogenese und zur Zelltheorie folgt einer doppelten inneren Logik: derjenigen der theoretischen Ausformulierung und Differenzierung bestimmter Grundannahmen auf der einen und derjenigen der Weiterentwicklung von Forschungsmethoden und -programmen auf der anderen Seite. In diesen Prozeß lassen sich wiederum die Arbeiten von Johannes Müller fast nahtlos einpassen, was Lenoir gezeigt hat. Das einzige, was in diesem Bild ziemlich störend wirkt, ist, daß Müllers eigene gedankliche Entwicklung einen anderen Weg genommen hat. Der junge Müller hatte viel weniger mit Kant als mit Schelling und Hegel zu tun, 2 und er kam erst
2
Die Beiträge von Dietrich von Engelhardt und Nelly Tsouyopoulos in diesem Band belegen, daß Müller sowohl, was die Beziehung der Physiologie als Einzelwissenschaft zum Programm einer Philosophie als Gesamtzusammenhang des Wissens als auch, was seine Rezeption von Theorien aus der romantischen Medizin angeht, von der Tradition Schellings und Hegels ausgeht. Zur Kant-Rezeption Müllers vgl. Anm. 51. Im „Grundriss der Vorlesungen über die Physiologie" (Bonn 1827) wird Kant im Gegensatz etwa zu Schelling, Hegel und Bruno nicht erwähnt. Arthur Liebert (Johannes Müller, der Physiologe, in seinem Verhältnis zur Philosophie und in seiner Bedeutung für dieselbe. Zugleich ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des Neukantianismus, in: KantStudien 20, 1915, S. 3 5 7 - 3 7 5 ) betont ebenfalls die frühe und gründliche Bekanntschaft Müllers mit Kant. Auf seine Interpretation des Verhältnisses von Müller zu Kant wird
Müller und Kant
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ausführlicher auf Kant zu sprechen, als er bereits in den von Lenoir gekennzeichneten main stream biologischer Forschung in Deutschland eingeschert war und eine große Anzahl von Ergebnissen beigesteuert hatte. Damit liegt - bei allen Verdiensten von The Strategy of Life3 - der Verdacht nahe, daß der „Teleomechanismus", wenn es ihn denn überhaupt gab, nicht der Königsweg in die moderne Physiologie war, und wenn schon, dann nicht der einzige. Es stellt sich die Frage, ob das Kant-Zitat in den Prolegomena des Handbuchs nicht vielleicht bloßes Beiwerk zu einem unabhängig von Kant gereiften Organismusverständnis ist.
II. Philosophische Theoreme und Organismusvorstellungen von der Antrittsvorlesung bis zum Handbuch Folgt man Müllers Antrittsrede von 1824, so ist es für die Physiologie weder zulässig, sich ihre Grundbegriffe von der Philosophie „vordenken" zu lassen, noch, diese Begriffe ..unabhängig von ihr, im Zuge einer falsch verstandenen und nicht durchzuhaltenden Autonomie, zu entwickeln. Die Physiologie bedarf der Philosophie, und diese bedarf derjenigen Wirklichkeit, die sie in Gedanken faßt. Das Verhältnis beider ist jedoch keines einer Wesens- oder Strukturgleichheit und erst recht keines der Unterordnung der Einzelwissenschaft unter die übergreifende „Weltweisheit": „Die Physiologie bleibt nicht bei dem Begriff des Lebens stehen, sondern sowohl der Begriff als die Erfahrung sind ihre Elemente. Sie ist im Besitz der genauesten empirischen Kenntnisse aus allen Gebieten der Naturwissenschaft, aber alle ihre Operationen in der Empirie sind nur, um im Baconischen Sinn recht zu erfahren. Auf dieser Spitze greift das philosophische Denken die Erfahrung auf,
3
noch einzugehen sein. Vgl. auch Martin Müller, Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, in: Sudhoffs Archiv 18, 1926, S. 130-150, 209-234, 328-350. Lenoir hat vor allem den in der bisherigen Physiologiegeschichte üblichen Gegensatz zwischen materialistischer und vitalistischer Biologie aufgeweicht und exemplarisch das Programm einer Historiographie entworfen, die die Entwicklung von Konzepten in die Genese von Forschungsprogrammen integriert. Zur Kritik an Lenoir vgl. Kenneth L. Caneva, Teleology with Regrets. [Essay Review von T. Lenoir, The Strategy of Life], in: Annals of Science 47, 1990, pp. 291-300. Caneva kritisiert besonders, daß der Begriff des Teleomechanismus auf einer Fehlinterpretation von Kants „Kritik der Urteilskraft" beruhe und deshalb für die Analyse der Entwicklung der Physiologie wenig fruchtbar sei. Dem ersten Urteil würde ich mich anschließen, zum zweiten Einwand könnte man vermuten, daß historische Interpretationen vielleicht grundsätzlich auf solchen Mißverständnissen beruhen müssen. Vgl. meine Bemerkungen am Ende dieses Aufsatzes.
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BETTINA WAHRIG-SCHMIDT
um sie zu begreifen. Die falsche Physiologie will das Leben aus der Erfahrung erkennen - die wahre Physiologie denkt das Leben in die richtige Erfahrung." 4 Da die Physiologie aber immer schon von einem philosophisch gewonnenen Begriff des Organismus ausgehen muß, wird hier eine Kreisfigur gedacht: Das Denken einer Epoche durchschreitet den Kreis aus philosophischer und wissenschaftlicher Reflexion immer wieder und immer neu. 5 Müller entwickelt in seiner Antrittsrede das Programm einer Physiologie, die er später als Wissenschaft „der denkenden Erfahrung" 6 bezeichnet. In der Antrittsvorlesung heißt es: „Der Physiologe erfährt die Natur, damit er sie denke." 7 E r ist sichtbar davon beeindruckt, daß das Leben des Begriffs und der Begriff des Lebens in der Philosophie Schellings und besonders Hegels fast unentwirrbar miteinander verschlungen sind. Sein Programm ist, die Einheit und die Differenz beider Aspekte festzuhalten, eine Empirie zu entfalten, der das phaenomenon bene fundatum zugrunde liegt. Nicht umsonst schieben sich in diesem Text - der wie ein Gefängnis mit lebenden Mauern anmutet - das Urphänomen und das experimentum crucis ineinander. 8 Seine Aussagen über den Begriff des Lebens betonen dessen spekulativen Charakter und die Dynamizität alles Organischen. 9 E r erteilt der „Philosophie, welche nur die allgemeinen verständigen Denkbe-
4
Johannes Müller, Ueber das Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung [1824], in: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826, S. 1 - 3 6 , auf S. 7
5
Mir scheint eine Verwandtschaft dieser Denkfigur mit dem Enzyklopädiegedanken Hegels zu bestehen. Vgl. G . W F. Hegel, Enzyklopädie I, § 15, in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 8, S. 60, sowie ders., Logik II, in: Ebenda, Bd. 6, S. 571: „Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen [ . . . ] . " Vgl. den Beitrag von Dietrich von Engelhardt in diesem Band.
6
J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 522.
7
Ders., Ueber das Bedürfniß der Physiologie . . . , a.a.O., S. 34.
8
Müller fordert, „denselben Versuch unter unzähligen Modifikationen [zu] wiederholen. [ . . . ] Wir werden aus allen diesen Bemühungen einen Grundversuch, Erzversuch, das experimentum crucis kennen lernen, wo alle geheimen Auswege verschlossen sind, die Antwort rein ist. Das Resultat dieses gültigen Grundversuchs
ist das
Urphänomen,
worauf es bei dem ewigen Wechsel der komplizierten, in ihrer Zusammensetzung rätselhaften Phänomene in der Naturforschung allein ankommt." (Ebenda, S.23f.) 9
„Jenes Allgemeine, welches nicht im Gegensatze ist mit dem Besondern, sondern das Einzelne aus sich hervorbringt, jenes göttliche Leben [ . . . ] . " (Ebenda, S. 7f.)
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Müller und Kant
Stimmungen der Objekte enthält", eine Absage. Sie könne „von der Natur nicht als von einer lebenden handeln". 1 0 Müller warnt besonders vor einer schematischen Anwendung Kantscher Kategorien auf physiologische Prozesse. 11 Auch die teleologische Physiologie ist Müller zufolge nur eine Form der verständigen Auffassung des Organismus. „In der Natur hat nichts, was einer physiologischen Untersuchung unterworfen ist, einen Zweck. Alles ist in der Natur um seiner selbst willen da. Nur die Handlungen der Menschen haben Zwecke und nicht einmal die Handlungen desjenigen, dessen Tun das schönste und beste wäre, nicht aus der Einsicht der Nützlichkeit, sondern aus der Notwendigkeit seines Seins." 1 2 Der Grundriss der Vorlesungen über die Physiologie führt das drei Jahre zuvor skizzierte Programm weiter aus. Er zeugt von Müllers ausgeprägtem Methodenbewußtsein. Ein Kapitel über Philosophie belegt, daß auch hier noch explizit die Verbindung der Physiologie mit der Philosophie gesucht wird. Die Philosophie ist unentbehrlich für die Ortsbestimmung der Physiologie und ihrer Hilfsdisziplinen. Müller unterscheidet drei Arten von philosophischem Denken: das empirische oder verständige, das dialektische oder skeptische und das spekulative. Uber das dritte heißt es, die Physiologie könne „der Speculation wie der Dialektik nicht entbehren". 1 3 Gegenstand der Physiologie ist das Leben; und das Wesen des Organismus, der dessen Ausdruck ist, ist Selbsttätigkeit. Müller bleibt bei der Annahme der Dynamizität des Organischen und expliziert diese noch deutlicher als zuvor in dialektischer Terminologie. „Das Werden, Procediren des Allgemeinen zum Besondern, diese Unruhe des Begriffs ist eine nothwendige Bestimmung" des Lebensprozesses. 14 10
„Ich werde behaupten müssen, daß die Reflexion auf diesem Standpuncte [i. e. der verständigen Physiologie, B. W-S.] nur die Beziehungen des Zwecks und des Mittels, der Ursachen und der Wirkungen, des Allgemeinen und des Besonderen, des Begreifenden und des Begriffenen aufschließe, daß sie nur die Bedingungen nicht aber mit dem Lebendigen
11
des Lebens erörtern,
selbst sich befassen könne [ . . . ] . " (Ebenda, S. 5.)
Die Kritik Müllers gilt insbesondere der Physiologie Johann Christian Reils; die Kategorie der Kausalität findet Müller im Begriff des Reizes, die der Quantität in der Erregungstheorie und die der Modalität in der Indifferenz der Gegensätze. Vgl. ebenda, S. 16. Quantität ist kein Element der vier Kategorien; es fehlt die Kategorie der Relation; Müller zielt aber deutlich auf das „verständige Denken", also ein Denken im Anschluß an Kant.
12
Ebenda, S. 17f. Diese Unterscheidung zwischen Zwecken des Organismus und solchen der Menschen trifft Müller in ähnlicher Weise wie Kant, der zwischen innerer und äußerer Zweckmäßigkeit unterscheidet. Vgl. unten die Ausführungen über „Kant, die Teleologie und den Organismus".
13
J. Müller, Grundriss, a.a.O., S. IV
14
Ebenda, S. 2.
50
BETTINA WAHRIG-SCHMIDT
Sind also die inhaltlichen Positionen gegenüber der Antrittsvorlesung wesentlichen unverändert, so hat sich doch die Art D i e Antrittsvorlesung
der Darstellung
im
geändert.
entwickelt den Gegenstand der Physiologie aus dem
Begriff der Natur: Dieser ist der philosophische Fluchtpunkt wahrer physiologischer Forschung. I m Grundriss
ist der Zentralbegriff das Leben, dessen allge-
meinste Bestimmung das „Thätigseyn eines Wesens aus innerem,
dem Wesen
selbst immanenten
Kontinuität
Grund, Thätigseyn durch sich selbst" i s t . 1 5
besteht jedoch insofern, als nach der Definition Müllers „die ganze Natur in diesem Sinne Leben" i s t . 1 6 D i e beiden Momente der Selbsttätigkeit des Organismus sind potentia und actus. 1 7 D i e Prolegomena des Handbuchs
der Physiologie
zeigen eine deutliche Verän-
derung. 1 8 Zunächst wird hier nicht mehr vor allen anderen Bestimmungen versucht, einen Begriff des Lebens zu gewinnen. D i e Einleitung handelt vielmehr zunächst „von der organischen Materie", und im zweiten Teil der Prolegomena geht es dann um den „Organismus" und das „Leben". D i e Physiologie wird hier definiert als „die Wissenschaft von den Eigenschaften und Erscheinungen der organischen K ö r p e r " , 1 9 und die Philosophie kommt erst ins Spiel, wenn es um die Abgrenzung der Zuständigkeitsgebiete beider geht. 2 0 D e r zweite Abschnitt beginnt mit einer Definition des Organismus, die, so Müller, von Kant stammt. Bevor ich sie zu analysieren versuche, soll jedoch Kant selbst zur Sprache kommen.
15 16 17
18
19 20
Ebenda, S. 1. Ebenda. Müller spricht vom „allgemeinen Gesetz aller Entwickelung in der ganzen Natur, nämlich, daß das Allgemeine zu dem in ihm potentia enthaltenen Besondern actu lebendig procedirt, oder aus dem Besondern zu dem Allgemeinen zurückschreitet." (Ebenda, S. 72.) Mir lag die dritte Auflage des ersten Bandes von 1837 vor. Brigitte Lohff weist darauf hin, daß in der vierten Auflage von 1844 nicht mehr die Reflexion über die organische Materie, sondern diejenige über das Zellkonzept im Anschluß an Schwann zentral ist. B. Lohff, Johannes Müllers Rezeption der Zellenlehre in seinem „Handbuch der Physiologie des Menschen", in: Medizinhistorisches Journal 13, 1978, S. 247-258, auf S. 252. J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Bd. 1, 1. Abt., 3. Aufl., Coblenz 1837, S. 1. Vgl. ebenda, S. 19.
Müller und Kant
51
III. Kant, die Teleologie und der Organismus Kants Äußerungen über die teleologische Auffassung des Organismus finden sich in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft", dem zweiten großen Teil der Kritik der Urteilskraft.21 Kant wirft die Frage auf, unter welchen Umständen und mit welcher Berechtigung wir aus der „allgemeinen Idee der Natur, als Inbegriffs der Gegenstände der Sinne" 2 2 die Vorstellung entwickeln dürfen, daß die Dinge in ihr „einander als Mittel zu Zwecken dienen". 2 3 Er erklärt gleich zu Anfang, daß die Teleologie nur als „regulatives Prinzip" für die Beurteilung der Erscheinungen, nicht aber konstitutiv gebraucht werden dürfe. Wäre dies anders, dann müßte man einen absichtlich wirkenden, den Gesamtzusammenhang der Natur transzendierenden Verstand annehmen, was aber eben die Auffassung der Natur als „Inbegriff der Gegenstände der Sinne" 2 4 sprengen würde. Kant geht es also hier um die Begrenzung der Erfahrungserkenntnis auf ein wohldefiniertes Gebiet: „Um einzusehen, daß ein Ding nur als Zweck möglich sei, d. h. die Kausalität seines Ursprungs nicht im Mechanism der Natur, sondern in einer Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird, suchen zu müssen, dazu wird erfordert: daß seine Form nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich sei, d. i. solchen, welche von uns durch den Verstand allein, auf Gegenstände der Sinne angewandt, erkannt werden können; sondern daß selbst ihr empirisches Erkenntnis, ihrer Ursache und Wirkung nach, Begriffe der Vernunft voraussetze." 2 5 - Für ein Produkt der Kunst ist dies nicht schwierig zu denken; für ein Naturprodukt spezifiziert Kant jedoch weiter: „Ich würde vorläufig sagen: ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung ist." 2 6 Kant erläutert dies am Beispiel eines Baumes. Dieser erzeugt sich selbst 1. der Gattung nach, indem er sich fortpflanzt, 2. als Individuum, indem er sich ernährt und wächst und 3. indem seine Teile sich gegenseitig erhalten. Da nun diese dreifache Weise der Selbsterzeugung als einem Gegenstand der Sinne eignend gedacht werden muß, kann seine Besonderheit nur in der Art und Weise liegen, wie das Verhältnis seiner Teile zueinander bestimmt wird: „Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, daß die Teile (ihrem Dasein 21
22 23 24 25 26
Immanuel Kant, Werke, hrsg. von W Weischedel, Bd. 10, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1977 Vgl. auch Kants Schrift „Von dem Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie", in: Werke, Bd. 9, S. 137-170, und „Kritik der reinen Vernunft II", in: Werke, Bd. 4, S. 426-433. Kritik der Urteilskraft (im folgenden: K d U ) , a.a.O., S. 305. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 316f. Ebenda, S. 318.
52
BETTINA WAHRIG-SCHMIDT
und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind", und es „wird zweitens dazu erfordert: daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme: nicht als Ursache - denn da wäre es ein Kunstprodukt - sondern als Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurteilt." 2 7 Ein solches Naturprodukt, sagt Kant weiter, kann nur ein organisiertes Wesen sein. 2 8 Kant situiert diese Bestimmung zwischen zwei Vergleiche: zum ersten erläutert er den Begriff der Zweckursache mit dem Beispiel eines Hausbaus: Das Haus ist zwar die Ursache von Mieteinnahmen, aber umgekehrt ist auch „die Vorstellung von diesem möglichen Einkommen die Ursache der Erbauung des H a u s e s " . 2 9 Der zweite Vergleich ist derjenige zwischen einem organisierten Wesen und einer Uhr. „In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der andern, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des andern; ein Teil ist zwar um des andern Willen, aber nicht durch denselben da. Daher ist auch die hervorbringende Ursache derselben und ihrer Form nicht in der Natur (dieser Materie), sondern außer ihr in einem Wesen, welches nach Ideen eines durch seine Kausalität möglichen Ganzen wirken kann, enthalten." 3 0 Für Kant ist eine Zweckursache also immer zunächst mit der Vorstellung eines vernünftigen Wesens verbunden; der Vergleich der Entstehung eines Organismus mit dem Bau eines Hauses weist auf die notwendige Existenz einer äußeren denkenden Instanz hin; eine solche Instanz muß auch für die Entstehung einer U h r angenommen werden: ihre Teile stehen zwar in Wechselwirkung miteinander, bringen sich aber nicht gegenseitig hervor. Insofern trifft auf die Uhr - und auf das Haus - die dreifache Weise der Selbsterzeugung nicht zu, die Kant eingangs für das „Ding als Naturzweck" vorgeschrieben hatte. Der Vergleich des Organismus mit dem Hausbau auf der einen und der Uhr auf der anderen Seite erläutert gerade in der Abgrenzung 3 1 von beiden, wie der Zweckbegriff modifiziert werden muß, damit vom Organismus im Sinne eines „Dings als Naturzweck" gesprochen werden kann. Die drei Modi der Selbsterzeugung des 27
Ebenda, S. 320f.
28
Ebenda, S. 321f.
29
Ebenda, S. 320.
30
Ebenda, S. 322.
31
Vgl. Mary B. Hesse (Models and Analogies in Science, Notre Dame, Indiana 1966), die die heuristische Rolle der negativen Analogie herausgearbeitet hat.
Müller und Kant
53
Organismus stehen im Gegensatz zum Vorhandensein eines dem Gegenstand äußerlichen Produzenten (Uhr) und einer der Handlung vorausgehenden und unabhängig von seiner Hervorbringung stattfindenden Reflexion (Hausbau). Aus dieser doppelten Distinktion gewinnt Kant dem Begriff der Teleologie einen neuen Aspekt ab, indem er von der äußeren die innere Zweckmäßigkeit abgrenzt, 32 die vielleicht kurz die Immanenz der Idee und der Produktion genannt werden kann. Beide Aspekte, der ideelle Aspekt und der Produktionsaspekt, sind in der „inneren Zweckmäßigkeit" zusammengedacht. Die „Idee des Ganzen" ist Erkenntnisgrund der Organisation, und die Teile des Organismus sollen so aufgefaßt werden, daß sie „wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind". 3 3 An dieser Stelle muß noch einmal auf Timothy Lenoir eingegangen werden, dessen Begriff des „Teleomechanismus" sich an Kants Bestimmungen in der Kritik der Urteilskraft anlehnt. Lenoir zitiert den eben genannten Passus in englischer Ubersetzung, allerdings ohne den Zusatz „ihrer Form", 3 4 und behauptet, die Existenz solcher Naturzwecke sei „an objective fact of experience according to Kant" 3 5 . Konsequent verflüchtigt sich dann seine Auffassung einer teleomechanischen Biologie zu einer Theorie der Wechselwirkung, in der die Teile des Organismus „mutually cause and effect of one another" 36 seien. Lenoir könnte sich zwar auf die oben zitierte vorläufige Definition des Dings als Naturzweck in der Kritik der Urteilskraft beziehen. 37 Nur folgt auf sie erst die eben dargelegte Erläuterung
32
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36 37
Hegel sieht in dieser Distinktion das entscheidende Verdienst Kants, der damit den Weg vom bloß subjektiven Zweck zur Idee als Leben des Begriffs gebahnt habe. G. W F. Hegel, Logik, in: Werke, Bd. 6, a.a.O., S.440. Vgl. KdU, §§ 63 und 66. KdU, S. 321. „Secondly, it is required that the parts bind themselves mutually into the unity of a whole in such a way that they are mutually cause and effect of one another." T. Lenoir, The Strategy of Life, a.a.O., p. 25. Ebenda. - Lenoir stützt sich hier auf den letzten Abschnitt von § 65 KdU, wo es heißt: „Organisierte Wesen sind also die einzigen in der Natur, welche, wenn man sie auch für sich und ohne ein Verhältnis auf andere Dinge betrachtet, doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen, und die also zuerst dem Begriffe eines Zwecks, der nicht ein praktischer sondern ein Zweck der Natur ist, objektive Realität, und dadurch für die Naturwissenschaft den Grund zu einer Teleologie, d. h. einer Beurteilungsart ihrer Objekte nach einem besonderen Prinzip, verschaffen [...]." (KdU, S. 324.) Die Wendung „objektive Realität" bezieht sich hier auf einen Begriff und bezeichnet keineswegs eine Erfahrungstatsache. Hier geht es um die Denkmöglichkeit eines solchen Naturzwecks, nicht darum, seine Existenz zu behaupten. Vgl. KdU, S. 327, 347 T. Lenoir, The Strategy of Life, a.a.O., p. 117 KdU, S. 318.
54
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mit der Entwicklung des Begriffs der inneren Zweckmäßigkeit. Ein organisiertes Wesen, eben ein Ding als Naturzweck, muß Kant zufolge als ein „Ganzes aus eigener Kausalität" 38 verstanden werden, in dem „die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurteilt werden könnte" 3 9 . Diese Begrifflichkeit ist für die Erforschung des Organismus genauso notwendig wie das kausalmechanische Denken - ein Newton des Grashalms ist nach Kant nicht zu erwarten 40 - , aber sie ist nicht Gegenstand der bestimmenden, sondern nur der reflektierenden Urteilskraft. Kants Intention in der Behandlung der Teleologie ist es nicht, Grundzüge einer Theorie des Organismus zu entwickeln, sondern eine methodisch saubere Trennung zwischen Wissenschaft, Philosophie und Theologie zu erzielen, „um jeder Erkenntnisart ihre Grenzen ganz sorgfältig zu bezeichnen" 41 und um zu verhindern, daß sich der Forscher „unvermerkt von dem fruchtbaren Boden der Naturforschung in die Wüste der Metaphysik verirre" 42 . Ein Teil der immer wiederkehrenden „konstitutiven" Mißverständnisse dieses Kapitels beruht m. E. darauf, daß dies in unserem von Wissenschaft durchsetzten Jahrhundert allzu leicht aus dem Blick gerät. 43 Daß der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit eine Denknotwendigkeit für den Begriff des Organismus ist, hat für Kant die Konsequenz, daß die Methoden der Wissenschaften vom Leben zwar im systematischen Zusammenhang mit denen der anderen Naturwissenschaften stehen, sich aber doch von ihnen unterscheiden. Die Begriffe ihrer Gegenstände können nicht auseinander hergeleitet werden. Insbesondere ist es Kant zufolge nicht möglich, den Begriff des Organismus dogmatisch aus einem der existierenden philosophischen Systeme herzuleiten. Eine lebende Materie ist unabhängig vom Organismus nicht zu denken. 44
38
KdU, S. 321.
39
Ebenda.
40
KdU, S. 352; vgl. auch S. 364.
41
I. Kant, Von dem Gebrauch teleologischer Prinzipien . . . , a.a.O., S. 163.
42
Ebenda, S. 165.
43
Wichtig ist auch festzuhalten, daß Kant wiederholt den Begriff der Möglichkeit einsetzt, ihn jedoch ebenfalls nur in ideell-formaler Hinsicht zuläßt (KdU, S. 354f.). - Wie noch auszuführen sein wird, setzt an dieser systematischen Stelle Josef König ein, wenn er zeigt, daß die Gegenstände der kritischen und der spekulativen Philosophie sich unterscheiden (der eine ist endlich, der andere unendlich).
44
KdU, S. 345.
Müller und Kant
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IV Der Begriff des Organismus in den Prolegomena zu Müllers Handbuch der Physiologie Im ersten Abschnitt der Prolegomena findet unter dem Titel „Von der organischen Materie" eine Auseinandersetzung mit der Theorie der generatio aequivoca statt. Die Frage der Entstehung des Lebens, schließt Müller, „wäre überhaupt nicht die Aufgabe der empirischen Physiologie, sondern der Philosophie. Da die Ueberzeugung in der Philosophie und in den Naturwissenschaften eine ganz verschiedene Basis hat, so sind wir hier zunächst darauf angewiesen, das Feld einer denkenden Erfahrung nicht zu verlassen. Wir müsten uns also bescheiden, zu wissen, dass die Kräfte, welche die organischen Körper lebend machen, eigenthümlich sind, und dann die Eigenschaften derselben näher untersuchen." 45 Wenn er nun also über den Organismus schreibt, so fordert er von sich selbst nicht etwa dessen begriffliche Deduktion, sondern eine Definition, die erlaubt, die Eigenschaften der organischen Körper zu untersuchen, und zwar im Rahmen seines Wissenschaftsprogramms der „denkenden Erfahrung". Das erschwert allerdings jeden Versuch, den Einfluß philosophischer Theoreme auf die nun folgenden Seiten in Müllers Handbuch zu diskutieren, da sich der Autor nach eigenen Angaben auf ihnen außerhalb des rein philosophischen Diskurses befindet. Einerseits steht Müller hier im Einklang mit Kant, der ebenfalls eine Trennung der Zuständigkeitsbereiche von Philosophie und Wissenschaften fordert, andererseits hält der Physiologe grundsätzlich an dem Gedanken einer wechselseitigen Fundierung von Philosophie und Einzelwissenschaften fest. Begriffe seien in den Wissenschaften, so heißt es im zweiten Band des Handbuchs, „das wirklich vorhandene Allgemeine". 46 Das trennt ihn von Kant, der zwar eine reflektierende Grenzbestimmung und durch diese eine begriffliche Vermittlung beider Bereiche ausdrücklich zuläßt, 47 aber eine ontologische Denkfigur wie die eben zitierte als Grenz Übertretung betrachten würde. Doch zunächst die uns hier interessierenden Äußerungen zur Definition des Organismus: „Die organischen Körper unterscheiden sich nicht bloss von den unorganischen durch die Art ihrer
45
J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 19. - Vgl. hierzu auch I. Kant, Von dem Gebrauch teleologischer Prinzipien . . . , a.a.O., S. 163f. Kant bezeichnet das Operieren „mit erdachten Kräften" als „über die Naturwissenschaft hinaus" gehend und ist der Meinung, daß die Frage der Entstehung des Lebens „außer der Naturwissenschaft in der Metaphysik" liege.
46
„In den Wissenschaften kommen Begriffe vor, denn sie sind das wirklich vorhandene Allgemeine, was durch die Sinne selbst nicht mehr erfahren, sondern durch den Geist abstrahirt wird." Q. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 522.)
47
I. Kant, Von dem Gebrauch teleologischer Prinzipien . . . , a.a.O., S. 165f.
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Zusammensetzung aus Elementen, sondern die beständige Thätigkeit, welche in der lebenden organischen Materie wirkt, schafft auch in den Gesetzen eines vernünftigen Plans mit Zweckmässigkeit, indem die Theile zum Zwecke eines Ganzen angeordnet werden, und diess ist gerade, was den Organismus auszeichnet. Kant sagt: die Ursache der Art der Existenz bei jedem Theile eines lebenden Körpers ist im Ganzen enthalten, während bei todten Massen jeder Theil sie in sich selbst trägt." 48 Müller setzt hinzu, daß „die Theile ungleichartige Glieder eines Ganzen sind", 4 9 so daß der Verlust bestimmter Teile den Tod des Ganzen bedeutet. Es ist kein Zufall, daß Müller den Kantschen Bestimmungen hier zwei eigene Aspekte hinzufügt, nämlich den der „beständigen Thätigkeit", der ein Grundmotiv seiner früheren Schriften war, und denjenigen der Ungleichartigkeit. Sie stehen zwar beide nicht im Widerspruch zu Kants Text, gewichten ihn aber doch anders. Müller läßt hier, ohne daß dies für den Uneingeweihten sichtbar wird, das Leitmotiv des Prozedierens des Allgemeinen zum Besonderen anklingen. Es folgt ein langer Abschnitt über die Symmetrie bei organischen und anorganischen Körpern. Dann wird die Eingangsdefinition nochmals aufgegriffen: „Ich habe bis jetzt bloss die Eigenthümlichkeit der organischen Körper untersucht, dass sie organische Ganze sind, aus ungleichartigen Organen zusammengesetzt, welche den Grund ihrer Existenz in dem Ganzen haben, wie Kant sich ausdrückte." 50 Es sei nochmals an den oben zitierten Passus von Kant erinnert, in dem die „Idee des Ganzen" als „Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen"51 bezeichnet wird. Die Verkürzung, die Müller vornimmt, verstößt also gegen die Mahnung Kants, die Teleologie nur als regulati48 49
J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 19. Herbart sieht auch den Organismus als Einheit ungleicher Teile an, als eine Einheit, in der die Verschiedenheit der Teile unwesentlich geworden ist. Vgl. besonders Metaphysik: §§ 3 6 9 - 3 7 1 . Johann Friedrich Herbart, Allgemeine Metaphysik, nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre. Zweiter, systematischer Teil 1829, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von G. Hartenstein, Bd. 4: Schriften zur Metaphysik. 2. Teil, Leipzig 1854.
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J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S.23. KdU, S. 321; Hervorhebungen von mir. - Der Catalog der hinterlassenen Bibliothek des am 28. April 1858 in Berlin verstorbenen Geh. Medicinal-Rathes, Professors der Anatomie und Physiologie, Dr. Johannes Müller, Bonn: Georgi 1858, verzeichnet von Kant die „Kritik der reinen Vernunft" und die „Kritik der Urteilskraft", beide in der zweiten Auflage (Riga 1787 bzw. Berlin 1793). Der von Renato Mazzolini in diesem Band veröffentlichte Brief Johannes Müllers an Johannes Schulze vom 18. Februar 1823 macht wahrscheinlich, daß Müller Kant kennt und daß er ihn vielleicht sogar im Original gelesen hat: E r berichtet von „Privatstudien der Schriften des Kant, Fichte und Schelling".
Müller und Kant
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ves, nicht aber als konstitutives Prinzip der Biologie zuzulassen. 5 2 Ob sich Müller bewußt oder unbewußt über sie hinwegsetzt, muß hier zunächst offenbleiben. Jedenfalls finden sich auch im folgenden noch mehr Parallelen zum § 65 der Kritik der Urteilskraft, wenn man sich einmal darauf einläßt, diesen um den „regulativen" Aspekt zu verkürzen. Müller fährt nämlich fort: „Die organische Kraft des Ganzen, welche die Existenz des Einzelnen bedingt, hat aber auch die Eigenschaft, dass sie die zum Ganzen nothwendigen Organe aus organischer Materie erzeugt." 53 Auch Kant verwendet verschiedentlich Ausdrücke wie „bildende Kraft" 54 oder „Grundkraft" 5 5 , aber sie haben keine metaphysische Dignität, eher sind sie bestimmte Grundbegriffe, die eine Wissenschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt ihrer Entwicklung braucht, ohne daß damit ihr immerwährender Bestand garantiert wäre. Nachdem Müller den Begriff der Harmonie für unzureichend erklärt hat, wenn es um die Auffassung der Eigenart des Organischen geht, kehrt ein weiteres Element aus dem Text Kants wieder: „Bei einem zweckmässig zusammengesetzten Mechanismus, ζ. B. einer Uhr, kann das zweckmässige Ganze eine aus der Zusammenwirkung der einzelnen Theile hervorgehende Thätigkeit zeigen, die von einer Ursache aus in Bewegung gesetzt wird; allein die organischen Wesen bestehen nicht bloss durch eine zufällige Verbindung ihrer Elemente, sondern erzeugen auch die zum Ganzen nothwendigen Organe durch ihre Kräfte aus der organischen Materie." 5 6 Wenn Müller also eine eigentümliche Kausalität und eine eigentümliche Kraft für die Gesetze des Organischen postuliert, kann er sich durchaus auf Kant berufen, er könnte allerdings auch andere, seien es philosophische, seien es physiologische Autoren zitieren. Eine mögliche Erklärung dafür, daß er sich hier gerade auf den methodischen Vertreter des empirischen Denkens bezieht, wäre, daß es ihm um eine Abgrenzung des Gegenstandsbereichs der Physiologie geht. Die Bezugnahme auf Kant bringt ihn weder in den Verdacht der im schlechten Sinne spekulativen Deduktion seines Gegenstandes noch legt sie ihn auf irgendeine der damals existierenden physiologischen Schulen fest.
52 53 54
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Vgl. A . Liebert, Johannes Müller, der Physiologe, in seinem Verhältnis zur Philosophie ..., a.a.O. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 23. „Daher bringt auch, so wenig wie ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor [...]. Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft [...]." (KdU, S. 322.) I. Kant, Von dem Gebrauch teleologischer Prinzipien ..., a.a.O., S. 165. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 23.
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Müller macht allerdings konkretere Aussagen als Kant darüber, wie die „bildende Kraft" sich den „Materien mitteilt": Es ist die „Kraft des Keimes", in der sich die „vernünftige Schöpfungskraft" äußert: Diese „ist in dem Keime schon vorhanden, ehe selbst die späteren Theile des Ganzen gesondert vorhanden sind [...]. Der Keim ist das Ganze, potentia, bei der Entwickelung des Keimes entstehen die integrirenden Theile des Ganzen actu."57 Auch Kant leitet den Ursprung des Lebens und „alle Organisation von organischen Wesen (durch Zeugung) ab, und spätere Formen (dieser Art Naturdinge) nach Gesetzen der allmählichen Entwicklung von ursprünglichen Anlagen",58 Allein Müllers Ausdruck „vernünftige Schöpfungskraft" weist schon darauf hin, daß der Physiologe hier - nach Kantscher Bewertung - mindestens mit einem Bein in der „Wüste der Metaphysik" steht. Der Ubergang, der innerhalb des hier diskutierten Textes vollzogen wird, ist aber einigermaßen abrupt. Hier endet jede mögliche Beziehung zu Kant, und Müller führt ein dieser Philosophie gegenüber heterogenes Denkmodell ein, um das Wirken der „organischen Kraft" näher zu bestimmen, nämlich die Dialektik von potentia und actus. 5 9 Wenn Müller den Organismus (gerade in der Nähe des Kant-Zitats) als Einheit aus ungleichen Teilen bezeichnet, dann zeigt sich m. E. eine fortbestehende Nähe zur dialektischen Philosophie. (Identität der Identität und der Nicht-Identität. 6 0 ) Insofern ist es konsequent, daß er früh die Bedeutung der Zellenlehre erkannt und ihr in den späteren Auflagen des Handbuchs immer mehr Gewicht beigemessen hat. 6 1 Die Zellen - von Müller des öfteren als „physiologische Monaden" bezeichnet 6 2 - sind gleich und ungleich zugleich und vermitteln als Struktureinheiten die postulierte Einheit des Gleichen und des Ungleichen. 6 3 Die Entwicklung des 57
Ebenda, S. 23f.
58
I. Kant, Von dem Gebrauch teleologischer Prinzipien . . . , a.a.O., S. 164. Lenoir hat überzeugend die Notwendigkeit aufgezeigt, die in der Entwicklung von der „Lebenskraft" zu den „Keimen und Anlagen" liegt.
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In diesem Zusammenhang müßte untersucht werden, welche Bedeutung die Philosophie von Giordano Bruno hat, die bereits im „Grundriss" zitiert wird. Vgl. dazu die wenigen Bemerkungen von M. Müller, Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, a.a.O., S. 132, und A. Liebert, Johannes Müller, der Physiologe, in seinem Verhältnis zur Philosophie . . . , a.a.O., S.372.
60
G. W F. Hegel, Logik I, in: Werke, Bd. 5, a.a.O., S. 74.
61
Vgl. B. Lohff, Johannes Müllers Rezeption der Zellenlehre . . . , a.a.O.
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Vor allem in: J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 554f.
63
Das kommt noch in Virchows Bestimmungen des Begriffs der Zelle zum Ausdruck, wenn er sagt, „der Gedanke von der Einheit des Lebens in allem Lebendigen" finde „in der Zelle seine leibliche Darstellung"; in der Zelle seien die Aspekte von Einheit und
59
Müller und Kant
O r g a n i s m u s aus dem K e i m folgt d a m i t derselben D e n k f i g u r wie die inneren Prozesse des entwickelten L e b e w e s e n s :
Das
„Prozedieren des Allgemeinen
zum
B e s o n d e r e n " steht nach wie vor im H i n t e r g r u n d , wenn auch i m p l i z i t . 6 4 Deutlich w i r d dies etwa, wenn Müller v o m realen D a s e i n der Allgemeinbegriffe spricht.65 D a s Streben „ a u s d e m G a n z e n in die T h e i l e " , wie es in der Bildungsgeschichte der Genitalien heißt, das dort als adäquates Verfahren der physiologischen Forschung bezeichnet w u r d e , weil diese in ihm s o vorgeht, „ w i e die N a t u r bei den O r g a n i s m e n v e r f ä h r t " , 6 6 ist in die B e g r i f f s b e s t i m m u n g des O r g a n i s m u s als G a n z e s aus ungleichen Teilen eingezogen.
V Kant und die Idee des Lebens in Müllers Psychologie von 1840 D a s sechste B u c h der speziellen Physiologie, „ V o m Seelenleben", enthält im ersten Kapitel des ersten Abschnitts eine A b h a n d l u n g über das „Verhältniss der Seele z u r O r g a n i s a t i o n u n d z u r M a t e r i e " . D i e s e r ist wieder unterteilt in „ A . E r f a h r u n g s m ä s sige K e n n t n i s s e " und „ B . C o s m o l o g i s c h e S y s t e m e " . 6 7 A b s c h n i t t Α rekapituliert die wichtigsten Sätze aus den Prolegomena über die A b g r e n z u n g der organischen K ö r p e r von den anorganischen, insbesondere die A b g r e n z u n g des Wirkens der
64
65 66
67
Mannigfaltigkeit, Besonderem und Allgemeinem verwirklicht. „Aber das Leben hat außer dem Allgemeinen und Gemeinschaftlichen, wodurch es eben Leben überhaupt ist, etwas Besonderes und Eigenthümliches, wodurch es sich von anderen Arten des Lebens unterscheidet. Und auch dieses Besondere und Eigenthümliche findet sich an den Zellen wieder." Rudolf Virchow, Ueber die mechanische Auffassung des Lebens. Nach einem frei gehaltenen Vortrag aus der dritten allgemeinen Sitzung der 34. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte (Carlsruhe, am 22. September 1858), in: Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862, S. 1-33, auf S. 8f. Über die Monade als mögliches Modell des Real-Allgemeinen (ein Begriff, den König im Anschluß an Hegel entwickelt) vgl. Josef König, Das System von Leibniz [1946], in: Vorträge und Aufsätze, hrsg. von G. Patzig, Freiburg - München 1978, S. 27-61. Vgl. auch Hans Heinz Holz, Natur und Gehalt spekulativer Sätze, Köln 1980. Man könnte in dieser Perspektive (die eine von vielen möglichen ist) die Entwicklung der Zellenlehre als eine Art Implizitwerden des spekulativen Erbes in der Physiologie des 19. Jahrhunderts ansehen. Vgl. hierzu B. Wahrig-Schmidt, Der junge Wilhelm Griesinger im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Physiologie, Tübingen 1985. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 522; s. Anm. 46. Ders., Bildungsgeschichte der Genitalien aus anatomischen Untersuchungen an Embryonen des Menschen und der Thiere, nebst einem Anhang über die chirurgische Behandlung der Hypospadia, Düsseldorf 1830, S. IXf. Ders., Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 505-513.
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Zweckursache in einem Kunstprodukt von demjenigen in einem Organismus. 68 „Die Thätigkeit des in den Organismen eine Idee verwirklichenden Lebensprincips" 69 kann nur in Zusammenhang mit den Organismen selbst erkannt werden; das Lebensprinzip ist ihnen immanent. Müller zieht eine Verbindung zwischen ihm und dem aristotelischen Begriff der Seele.70 Beide sind immanent, unteilbar und potentia schon im Keim vorhanden. 71 Organ des Seelenlebens im engeren Sinne ist allerdings das Gehirn. 7 2 - Daß gerade in diesem Abschnitt, der „erfahrungsmäßige Kenntnisse" zum Gegenstand hat, ein Echo von Kants Kritik der Urteilskraft zu hören ist, gibt einen Hinweis darauf, welche Funktion die Nennung Kants in den Prolegomena vielleicht hatte: Es ging um die Bestimmung des Gegenstands der Physiologie als einer Erfahrungswissenschaft, wobei allerdings unmerkliche Erweiterungen der Kantschen Bestimmungen den Gegenstand des Physiologen Müller mitbestimmten. - Der nächste Abschnitt über die kosmologischen Systeme schließt die Erfahrungserkenntnis der physiologischen Seelenlehre dann wieder an die Sphäre der Philosophie an. In dieser Konstruktion kann nun einerseits wieder ein Beleg für das Weiterleben des enzyklopädischen Gedankens auch im Handbuch gesehen werden, andererseits hat Müller wiederum - betrachtet man sie aus der Perspektive der Abgrenzung des Gegenstandes - in der Kritik der Urteilskraft selbst ein Vorbild für ein solches Verfahren. § 80 des Werks von Kant nennt Pantheismus und Spinozismus als zwei philosophische Systeme, die - wenngleich auf unbefriedigende Weise - auf die Frage nach dem Einheit von finaler und mechanischer Kausalität antworten. 73 Das zweite Kapitel des ersten Abschnitts, „Vom Seelenleben im engeren Sinne", beschäftigt sich mit der Gegenstandsbestimmung der Seelenerscheinungen im engeren Sinne. 74 Es diskutiert die Frage nach den eingeborenen Ideen und charakterisiert kurz die Positionen von Hume und Kant. Für diesen seien die „reinen 68
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„Eine Idee liegt auch jedem Organismus zu Grunde, und nach dieser Idee werden alle Organe zweckmässig organisirt, aber diese Idee ist ausser der Maschine, dagegen in dem Organismus und hier schafft sie mit Nothwendigkeit und ohne Absicht." (Ebenda, S. 505.) Ebenda, S. 506. Vgl. den Beitrag von Gerlof Verwey in diesem Band. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 509. „Das Lebensprincip bedarf zu seiner Aeusserung in der Materie, wo es vorhanden ist, nur der chemischen Mitwirkung äusserer Einflüsse. Die empfindende und vorstellende Seele bedarf der schon organisirten Materie und der Organisation des Gehirns." (Ebenda, S. 508.) KdU, S. 377. Sie sind an den Begriff des Bewußtseins gebunden und werden genannt als „Empfinden, Vorstellen, Wollen, Denken". J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S.507.
Müller und Kant
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Verstandesbegriffe" (also die Kategorien) sowie die Anschauungsformen von „Raum und Zeit" vorgegeben. Müller nimmt eine Position ein, die weder mit Hume noch mit Kant vereinbar ist. Er hält nämlich auf der einen Seite gegen Hume an dem Begriff der angeborenen Vorstellungen fest; 75 sieht diese aber nicht durch Kantische oder Aristotelische Kategorien strukturiert, 76 sondern betrachtet sie vielmehr als ein allgemeines Vermögen der Abstraktion und Begriffsbildung oder „logos". 77 Müller setzt hier Herbarts Programm einer Vereinheitlichung des Vermögensbegriffs fort - dies ungeachtet der Tatsache, daß er dessen Seelenatomistik kritisch behandelt. 78 Man könnte diese Akzentsetzung Müllers vielleicht interpretieren als den Versuch, gegen eine starre Klassifikation der Formen der Seelentätigkeit die Dialektik von potentia und actus wieder in ihr altes Recht einzusetzen.
VI. Schluß Bleibt zu diskutieren, ob Müller in seiner Kant-Rezeption unbewußt den Versuchungen eines naiven Realismus erlegen ist 79 oder ob er - was mir plausibler erscheint - bewußt eine Kant-Interpretation malgre Kant vollzieht. Wenn dies letztere zutreffen sollte, dann müßte man fragen, welches Motiv er für eine solche Interpretation haben könnte, warum er, dem ein Fundus philosophischen Wissens zur Verfügung steht, ausgerechnet den Vertreter des verständigen Denkens heranzieht, um zu erläutern, wie der Gegenstand der Physiologie begriffen werden müsse und wie in Zukunft mit ihm umzugehen sei. Ich möchte im folgenden zwei Erklärungsmöglichkeiten vorstellen, deren innerer Zusammenhang, wie ich hoffe, aus ihrer Darstellung ersichtlich werden wird. 1. Eine mögliche Erklärung wäre, daß die Änderungen der Darstellungsweise in den Programmen von der Antrittsvorlesung bis zum Handbuch weniger auf eine Änderung der Begrifflichkeit als auf eine veränderte Strategie der (Selbst-)Präsentation des Fachs zurückzuführen sind: Müller würde sich dann zugleich taktisch und pädagogisch verhalten: taktisch, indem er sich nun nicht mehr dem Verdacht einer Nähe zur sogenannten „Naturphilosophie" aussetzen will, und pädagogisch, indem er dort ansetzt, wo er das Reich der Naturforschung seiner Zeit beheimatet sieht: im verständigen Denken. Er hat den enzyklopädischen Gedanken nicht 75 76 77 78 79
Ebenda, S. 518. „Diese scheinen mir vielmehr ein Product der Erfahrung und des Abstractionsvermögens zu sein." (Ebenda, S.519.) Ebenda. Zur Diskussion dieser Position vgl. den Beitrag von Stefano Poggi in diesem Band. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 555-558. Wie das etwa M. Müller, Uber die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, a.a.O., S. 340, sieht.
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vergessen, aber dieser kommt kaum noch zur Darstellung. Müller entwickelt jetzt sozusagen die Idee aus ihrer verständigen Bestimmung, wie sie Kant gegeben hat, er zeigt also, wie das verständige Denken aus sich heraustreibt, jedoch nicht mehr in einer Kritik an der „verständigen Physiologie", sondern so, daß ihre Grundbestimmungen einem Wechselbad von Empirie und Theorie aussetzt und dabei am Schluß eine Berechtigung behält, von Idee, potentia und actus zu reden. Die Auseinandersetzung Müllers mit Kant läßt sich durchaus verstehen als Moment in dem langen Prozeß, während dessen Müller versuchte, sein Programm einer Physiologie als einer Wissenschaft der „denkenden Erfahrung" zu formulieren und ihren Gegenstand zu bestimmen. 80 2. Müller bewegt sich hier sozusagen in einem Niemandsland zwischen der „Wüste der Metaphysik" und derjenigen einer ihre eigenen Voraussetzungen nicht mehr reflektierenden Empirie. Er artikuliert sich damit in der Diskussion eines bestimmten Gegenstandes (der Physiologie der 1830er Jahre), aber er reflektiert gleichzeitig ein philosophisches Problem, das sich u. a. in den Gemeinsamkeiten und Differenzen der Teleologiebegriffe von Kant und Hegel zeigt. Dieses Problem soll zum Abschluß benannt werden. Wie oben angedeutet, erkennt Hegel Kants Verdienste um die Entwicklung eines Begriffs der Teleologie durchaus an: In der „inneren Zweckmäßigkeit" habe er „den Begriff des Lebens, die Idee, aufgeschlossen und damit die Philosophie, was die Kritik der Vernunft nur unvollkommen, in einer sehr schiefen Wendung und nur negativ tut, positiv über die Reflexionsbestimmungen und die relative Welt der Metaphysik erhoben". 81 Der Abschnitt über die Teleologie in Hegels Logik ist das 3. Kapitel des 2. Abschnitts der Begriffslogik („Die Objektivität"); auf ihn folgt der 3. Abschnitt mit dem Titel „Die Idee", deren erstes Kapitel wiederum „Das Leben" heißt. 82 Die Themen der Zweckmäßigkeit und des Lebens liegen also für Hegel ähnlich nahe beieinander wie für Kant, und er lobt Kant fast als einen Vorgänger seiner selbst. Jedoch klingt Hegels Lob so, als habe Kant hier unbewußt über sich selbst hinausgewiesen, wobei er allerdings verschweigt, daß Kant überhaupt nicht über die Reflexionsbestimmungen hinauswill, und dies macht m. E. gerade den Unterschied zwischen dem Denktypus der Kantschen Philosophie und demjenigen der Hegeischen aus. Ich beziehe mich hier auf Josef König, 83 der den Unterschied zwischen dem spekulativen und dem kritisch-empirischen Denken vor allem darin sieht, daß beide mit verschiedenen Gegenstandsbegriffen arbeiten: Weil dem kritizistischen 80
Vgl. den Beitrag von Hans-Jörg Rheinberger in diesem Band.
81
G. W F. Hegel, Logik II, in: Werke, Bd. 6, a.a.O., S. 440f.
82
Ebenda.
83
Josef König, Der Begriff der Intuition, Halle/Saale 1926.
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Denken „die Mannigfaltigkeit notwendiges Moment ist, gründet es die Identität der Apperzeption selbst auf Synthesis [...]; weil andererseits die Möglichkeit des Bewußtseins von Mannigfaltigkeit Problem ist, ist ihm die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption letztes Prinzip". 8 4 Dagegen geht das spekulative Denken von der Einheit in der Mannigfaltigkeit aus. 8 5 Damit ist, was für das kritische Denken nur problematisch gedacht werden kann, für das spekulative durchaus legitimer Gegenstand, vorausgesetzt allerdings, dieses reflektiert den Unterschied zwischen dem eigenen und dem Gegenstand des kritischen Denkens. Der Gegenstand des kritischen Denkens ist endlich, derjenige des spekulativen unendlich. 8 6 3. Meine Vermutung ist nun, daß sich Müller dieses Problems durchaus bewußt war, daß er aber gleichzeitig seine Wissenschaftsauffassung einer bestimmten Leserschaft präsentieren mußte, die ihn so oder so allzu leicht mißverstehen konnte. Seine Auseinandersetzung mit Kant wäre dann weniger als konstitutives Mißverständnis des Kantschen Teleologiekapitels zu verstehen denn vielmehr als Versuch eines Grenzgangs in wissenschaftspolitischer Mission, der der Physiologie einen ähnlich großen Spielraum schaffen sollte wie die bis dahin von ihm favorisierte Hegeische oder Schellingsche Terminologie. 8 7 Bedenkt man den Einfluß seines Lehrbuchs, so scheint die Mission Erfolg gehabt zu haben. O b die prinzipielle Möglichkeit eines solchen Spielraums nun mit der Natur des hier behandelten Gegenstandes zu tun hat oder ob sie ein Phänomen ist, das beim Transfer von Philosophemen in Wissenschaften häufiger zu beobachten ist, mag dahingestellt bleiben.
84
Ebenda, S. 15.
85
Ebenda, S. 89.
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„Unter einem endlichen Objekt verstehen wir ausschließlich ein existierendes, also ein sei es raumzeitliches oder zeitliches Dasein habendes Objekt. Unendliche Objekte sind dagegen die Ideen oder Wesen dieser existierenden Objekte." Hauptrepräsentanten dieser beiden Denkformen sind für König Kant und Hegel. Ebenda, S. 5f.
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(die keineswegs aus dem Handbuch verschwunden ist).
NELLY TSOUYOPOULOS
Schellings Naturphilosophie: Sünde oder Inspiration für den Reformer der Physiologie Johannes Müller?
Zur Zeit Johannes Müllers gehörte die Philosophie zur Ausbildung der Mediziner an den Universitäten Deutschlands. Alle bekannten Physiologen jener Zeit waren philosophisch sehr gebildet. Die Medizin der Romantik hatte mehrere Richtungen, aber sie hatte auch einen gemeinsamen Charakter, nämlich die Aufwertung des Lebens als das Zentrum einer neuen, monistischen Anthropologie. Dieser Charakter entstand aus einer Krise, die wiederum das Ergebnis des Zusammenbruchs des Dualismus cartesischer Herkunft war, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Grundlagen der Medizin ausmachte. Die Philosophie von Leibniz, aber vor allem die von Immanuel Kant zerstörte den Glauben an die problemlose Wechselwirkung zwischen zwei heterogenen Substanzen wie Seele und körperliche Maschine, einen Glauben, auf den die Medizin mehr als zweihundert Jahre ihre Grundlagen baute. Aber nicht nur die Philosophie war verantwortlich für die Krise. Die empirische Forschung der Physiologen stieß ebenso wie die Philosophie an die Grenze des alten Modells. Die Physiologen jener Zeit beschäftigten sich mit der Untersuchung von Funktionen wie Verdauung, Atmung, Reizbarkeit und Regeneration. Großen Eindruck machten jene Experimente, welche zeigten, wie bei Tieren (insbesondere Polypen) verstümmelte Glieder wieder nachwachsen. Solche Lebensfunktionen konnten mit dem traditionellen Modell des Körpers als einer einfachen Maschine oder als eines hydraulischen Systems nicht befriedigend erklärt werden. Andererseits hatten die Untersuchungen zur Funktion des Nervensystems die engen Beziehungen vor Augen geführt, die zwischen diesem und dem psychisch-geistigen Zustand des Menschen besteht. Dies hatte wiederum die geltende Auffassung zerstört, wonach die Seele eine metaphysische Entität, also eine einfache Substanz mit kausaler Wirkung auf die körperlichen Veränderungen, sein könnte. Sowohl der Körper als eine Maschine als auch die Seele als eine metaphysische Entität verloren also ihre traditionelle Geltung für die Medizin. So ergab sich eine Krise, die letztlich sehr fruchtbar war und die Medizin zur Erweiterung ihres Horizontes animierte. Dies führte zu jenem Charakter, aufgrund dessen die romantische Medizin - trotz verschiedener Richtungen - als einheitlich und genuin aufgefaßt werden muß.
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N E L L Y TSOUYOPOULOS
In diesem Punkt trafen sich die Wege der Physiologie und der Philosophie abermals, da beide nach einer Neubestimmung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt trachteten. 1 Die philosophischen Vorschläge, welche damals in die äußerst assimilierungsfähige Medizin eingegangen sind, waren keinesfalls einseitig. So flössen in das medizinische Denken der Jahrhundertwende verschiedene philosophische Traditionen ein: der Sensualismus von Locke und Condillac wie auch die idealistische Philosophie von Kant, Fichte und Schelling (etwas später auch von Hegel und Schopenhauer), aber auch der Aristotelismus, Piatonismus und Spinozismus. Die großen Auseinandersetzungen um den neuen Rahmen einer medizinischen Theorie, bei denen neben philosophischen auch politische Gründe eine große Rolle spielten, hatten in Deutschland schon am Anfang des Jahrhunderts stattgefunden. Im Laufe der Zeit und zur Zeit der Ausbildung von Johannes Müller hatten sich die Epigonenkontroversen in der Medizin etwas abgeschwächt und ihren Charakter geändert. Die Übernahme philosophischer Positionen hatte schon weitgehend eine neue, monistisch geprägte Grundlage geschaffen, welche die Medizin dieser Zeit von der des 18. Jahrhunderts eindeutig unterscheidet. Sie war allerdings noch nicht zu einem einheitlichen Paradigma geworden. Ein Pluralismus beflügelte noch immer die Forschung. Der Einfluß der Naturphilosophie Schellings war zwar auch zu dieser Zeit dominierend, jedoch schon in verschiedene Richtungen gespalten. Die Übernahme philosophischer Standpunkte durch die Wissenschaften bringt meistens eine Trivialisierung und Verflachung der ursprünglichen Ideen mit sich. Andererseits trat durch die vielen Auseinandersetzungen ein Synkretismus auf. Das alles erschwert die Arbeit des Historikers. Am besten kann der Einfluß der Philosophie auf Johannes Müller an manchen konkreten Auffassungen des Physiologen gezeigt werden, die allerdings für seinen wissenschaftlichen Werdegang wichtig und relevant gewesen sein sollen.
I. Die neue Verlegenheit und der neue Kampf um die richtige Methode Nur durch eine richtige Methode kann sich die Physiologie als Wissenschaft behaupten. Dies war eine allgemeine Überzeugung und das Suchen nach der richtigen Methode eine erstrangige Aufgabe jener Zeit. Es ist daher kein Wunder, wenn dieselbe Frage nach der richtigen Methode eine zentrale Bedeutung in der Antrittsvorlesung von Müller hatte, die er am 19. Oktober 1824 an der medizinischen Fakultät der damals neu gestifteten Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn hielt. Der junge, erst 23 Jahre alte Kandidat hatte schon mehr als den Anfang einer 1
Siehe Brigitte Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik, Stuttgart - New York 1990, S. 105ff.
Schellings Naturphilosophie
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glänzenden Karriere hinter sich. Der Sohn aus der Handwerkerklasse, dessen Vater ihn für den Beruf des Sattlers bestimmt hatte, wurde an der von den preußischen Reformatoren gegründeten Universität aufgenommen, und schon im zweiten Jahr seines Studiums wurde ihm ein von der medizinischen Fakultät der neuen Hochschule ausgesetzter erster Preis für seine Arbeit Über die Atmung des Fötus zugesprochen.2 Als Müller die Antrittsrede hielt, war er gerade aus Berlin zurückgekehrt, wo er fast zwei Jahre bei Karl Asmund Rudolphi, einem der bekanntesten Physiologen seiner Zeit, gearbeitet hatte. Diese Begegnung war eine der wichtigsten seines Lebens. Eine tiefe Ubereinstimmung und Freundschaft entstand zwischen ihm und Rudolphi, dem Müller zehn Jahre später auf dem Lehrstuhl folgte. Viele von seinen wichtigsten späteren Arbeiten hatte Müller schon in dieser Zeit bei Rudolphi konzipiert (ζ. B. Über das Doppeltsehen, Über den Unterschied der Gesichtsvorstellungen von Menschen und Tieren, Über das Sehen der Insekten. Sogar berühmte spätere Arbeiten, wie die über das Bellsche Gesetz, haben hier ihren Anfang).3 Zu dieser Zeit reifte wahrscheinlich auch seine Einstellung über die Physiologie als Wissenschaft, die er nach seiner Rückkehr sogleich bei seiner Antrittsvorlesung vertrat. Was er zu sagen hatte, war infolgedessen keinesfalls die Idee eines Außenseiters. Sein Standpunkt war vielmehr der Standpunkt der Physiologie und Anatomie seiner Zeit, der Standpunkt der renommiertesten Zeitschriften, der Standpunkt Rudolphis und Lorenz Okens. Die Rede war im Sinne des wissenschaftlichen Kollektivs verfaßt, und Müller war damals schon der Liebling dieses Kollektivs. Aus dieser Akzeptanz wuchs auch seine Absicht und Aufgabe zur Reformierung der Physiologie. Vor diesem Plenum der Autoritäten, von denen seine wissenschaftliche Zukunft abhing, fühlte sich der junge Müller - im Gegensatz zu der Mehrheit der heutigen Kandidaten - keinesfalls verpflichtet, den Fortschritt des Faches durch eine neue, glänzende Tatsache zu glorifizieren. Er konnte es sich leisten, äußerst kritisch gegenüber dem Fach und dem letzten Stand der Forschung zu sein. Müller kritisierte zunächst jene Standpunkte, die noch Geltung hatten, und von denen er seinen eigenen Standpunkt klar unterscheiden wollte: „Ich habe nament-
2
Emil du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, gehalten in der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1858, in: Reden, hrsg. von Estelle du Bois-Reymond, 2. Aufl., Leipzig 1912, Bd. 1, S. 135-317, auf S. 143.
3
Vgl. ebenda, S. 167, auch S. 148, wo es heißt: „Im Jahre 1823 hatte er [Müller] auf Rudolphi's Veranlassung und unter seinen Augen in der hiesigen Tierarzneischule viele Versuche zur Prüfung der Bell'schen Ansichten über den N . facialis und N . trigeminus angestellt." Vgl. auch Johannes Müller, Gedächtnissrede auf Carl Asmund Rudolphi, in: Physikalische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1835, Berlin 1837, S. X V I I - X X X V I I I , auf S. X X X I I .
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lieh zu zeigen, wie und auf welche Weise die Physiologie, jede andere Weise ihrer Existenz ausschließend, zur Wissenschaft werde. Ich sagte, jede andere Weise ihrer Existenz ausschließend; denn in der Angabe dieses meines Standpunktes möchte ich sogar jeden anderweitigen Begriff, den man haben könnte, wenn man von der Gemeinschaft der Philosophie und Physiologie reden hört, ausschließen." 4 Abgesehen von der rein empirischen und einer extremen Richtung, die Müller als mythische Physiologie bezeichnet, welche zu seiner Zeit von einem renommierten Gelehrten, Gotthilf Heinrich Schubert, Professor für Naturgeschichte in Erlangen, repräsentiert wurde, 5 nennt Müller zwei andere Richtungen, von denen er hauptsächlich seine eigene Methode der wissenschaftlichen Physiologie zu unterscheiden versucht. Die eine ist diejenige, welche er unter dem Titel „die falsche Naturphilosophie", und die andere, die er unter dem Titel „verständige Physiologie" kritisiert. Die Titel sind polemisch gemeint und irreführend. Sie verleiteten daher auch oft die Historiker zu ungenauen und falschen Vermutungen. Bei „falsche Naturphilosophie" haben die meisten Historiker an Schelling gedacht.
II. Uber die falschen Methoden Das Vorbild einer Kritik an den vier falschen Methoden der Medizin, das Müller vor Augen hatte, ist die berühmte Kritik Galens an den medizinischen Methoden. 6 Müller allerdings hatte sein Vorbild nicht direkt von Galen, sondern sehr wahrscheinlich aus einer Studie von Röschlaub mit demselben Inhalt aus dem Jahre 1816.7 In dieser Studie untersucht Röschlaub die richtige Methode und Theorie der 4
Johannes Müller, Von d e m Bedürfnis der Physiologie nach einer
philosophischen
Naturbetrachtung, in: Biologie der Goethezeit, hrsg. von A . Meyer-Abich, Stuttgart 1949, S. 2 5 6 - 2 8 1 . A u f die große methodologische und wissenschaftstheoretische Bedeutung dieses kleinen Werkes machte schon J a k o b von U e x k ü l l a u f m e r k s a m in seinem B u c h „ D e r Sinn des L e b e n s " , München 1947 (unveränderter N a c h d r u c k mit einem A u s b l i c k von Thure von U e x k ü l l in: Scheidewege, Beiheft 4, Stuttgart 1977). Von U e x küll kommentierte in seinem Buch die Antrittsvorlesung von Müller und zeigte deren neue Relevanz auf. 5
Siehe Dietrich von Engelhardt, Schuberts Stellung in der romantischen Naturforschung, in: Gotthilf Heinrich Schubert. Gedenkschrift z u m 200. G e b u r t s t a g des romantischen Naturforschers (Erlanger Forschungen, Reihe A , B d . 25), Erlangen 1980, S. 11-36; Xavier Tilliette, Schubert und Schelling, in: E b e n d a , S. 5 1 - 7 1 .
6
Galen, D e sectis ad eos qui introdueuntur, in: Galeni O p e r a O m n i a , hrsg. von C . G . K ü h n , L e i p z i g 1821 (Nachdruck: Hildesheim 1965), B d . 1, S. 64-105.
7
Andreas R ö s c h l a u b , Versuch über die Methodik und Pseudomethodik in der klinischen Medizin, in: N e u e s M a g a z i n für die klinische Medizin, B d . 1, N ü r n b e r g 1816, S. 3 - 9 9 . Auch Müllers Lehrer der Physiologie an der Universität Bonn, Christian Friedrich N a s s e , beschäftigte sich mit der Methode der Physiologie, wie sein Buch „ U e b e r den
Schellings N a t u r p h i l o s o p h i e
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klinischen Medizin, aber auch der Physiologie, und es darf nicht befremden, wenn diese Studie erstaunliche Ähnlichkeit mit der Rede Müllers aufweist. Müller zitiert dabei Röschlaub nicht, aber es ist offensichtlich, daß er die Studie sehr gut gekannt hatte. Nicht nur die vier kritisierten Methoden sind in beiden Studien dieselben, sondern und vor allem befinden beide dieselbe Methode für die richtige, von der bei Galen noch nicht die Rede ist. Das stärkste Argument dafür, daß Müller Röschlaubs Studie genau kannte, ist jene Stelle, bei der Röschlaub seine eigene Theorie der Erregbarkeit, die er vor etlichen Jahren repräsentiert hatte, jetzt ebenfalls sehr kritisch betrachtet. 8 Müller übernimmt diese Stelle zwar nicht wörtlich, aber im gleichen Geiste der Kritik. Galen folgend bezeichnet Röschlaub die Pseudomethoden der Medizin als die empirische, die theoretisierende (methodische) und die rationelle. 9 Von Galen abweichend übt Röschlaub aber auch Kritik an der mystischen Methode, die er ebenfalls streng von der seinigen unterscheiden möchte. 1 0 Die einzige richtige Methode dagegen ist nach Röschlaub die intellektuelle Anschauung. 1 1 Die gefährlichsten von allen Pseudomethoden sind diejenigen, welche Erfahrung, Philosophie und Theorie kombinieren, sich dann als anspruchsvolle Methoden präsentieren und so leicht täuschen können. Röschlaub zählt hierzu die rationelle, aber vor allem die pseudomethodische Methode. Dieselbe Darstellung gibt auch Johannes Müller. Auch für ihn ist die einzig richtige Methode der Medizin die intellektuelle Anschauung. Auch bei ihm gibt es vier Pseudomethoden. Und während die rein empirische und die mystische oder mythische eher harmlos sind, hält Müller die beiden anderen für gefährlich, da sie aufgrund ihrer Fassade leicht täuschen können. Diese beiden Methoden haben bei ihm andere Namen, aber sie entsprechen den von Röschlaub genannten: Diejenige, die Müller als verständige Methode bezeichnet, entspricht der rationellen und diejenige, die er als falsche Naturphilosophie bezeichnet, entspricht der pseudomethodischen von Röschlaub. Solche Methoden, so die Auffassung beider Autoren, gab es in der Medizin zu jeder Zeit, und es gilt, dieselben in ihrer gegenwärtigen Form zu entlarven. D a die
Begriff und die Methode der Physiologie" (Leipzig 1826) zeigt. Auch wenn das Werk erst nach Müllers Antrittsvorlesung erschienen ist und nur wenige konkrete Ubereinstimmungen zwischen beiden bestehen, zeigt es nichtsdestotrotz - wie auch das Werk Röschlaubs - , daß die Frage nach der richtigen Methode, die Müller als T h e m a seiner Vorlesung gewählt hatte, ein heißes und vieldiskutiertes T h e m a der Zeit war. 8
A . R ö s c h l a u b , Versuch über die Methodik und Pseudomethodik, a . a . O . , S. 57.
9
E b e n d a , S. 34.
10
E b e n d a , S. 71.
11
Ebenda, S. 36f.
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Erwähnung von Namen, wohl aus verständlichen Gründen, von beiden Autoren der Romantik gemieden wird, ist die Identifizierung dieser Richtungen für den heutigen Historiker keine einfache Aufgabe, wohl aber eines Versuches wert. 1. Verständige
Medizin
Die rationelle Methode, meint Röschlaub, arbeitet mit Kategorien und Klassifikationen. Sie will den inneren Nexus zwischen Ursache und Wirkung ermitteln, bleibt aber bei der formalen Wahrheit. „So erhellet daraus schon, daß die rein rationalistische Methode schlechthin nicht dazu dienen könne, wahre medizinische Einsicht in den, oft erwähnten, inneren Kausalnexus, am Krankenbett zu gewähren." 1 2 Es ist nicht schwierig zu sehen, daß hinter dieser Methode jene Richtung kritisiert wird, welche unter dem Einfluß der Kantischen Philosophie entstand. Frederick Gregory hat darauf hingewiesen, daß die Entwicklung der Medizin im 19. Jahrhundert durch eine abwechselnde Verschiebung der Gewichte von den Schellingschen zu den Kantischen Grundsätzen hinsichtlich der Wissenschaft geprägt wird. 1 3 Dies läßt sich auch bei Röschlaub und Müller zeigen. In der Physiologie, scheint es, hatte nach dem großen Erfolg der Schellingschen Philosophie am Anfang des Jahrhunderts seit etwa 1810 das Kantische Prinzip wieder die Oberhand erhalten, nach welchem um 1820 wiederum Schelling die Oberhand gewann. Die Trennung nach Epochen gilt allerdings nur relativ, weil beide Standpunkte parallel existierten, und es ist vielmehr eine Frage der Betonung und manchmal des Einflusses jener Mediziner, die den einen oder den anderen Standpunkt repräsentierten. Kant hatte als einzige Elemente unseres Verstandes für die Erforschung der Natur und für die Objektivität der Erfahrung die Kategorien wie Kausalität, Q u a n tität, Qualität usw. zugelassen. Das Prinzip der Teleologie, welches Kant für die Betrachtung der lebendigen Natur wichtig findet, bestimmt er als ein nur regulatives Prinzip, d. h. als ein Prinzip, das unsere Vernunft der Natur leiht und nicht zu natürlichen Prozessen selbst gehören kann. Einer der frühesten Kantianer unter den Physiologen war Johann Christian Reil. In der Einleitung des ersten Bandes seiner renommierten Zeitschrift Archiv für die Physiologie schreibt Reil: „In der Tat würde die Philosophie der Medizin einen großen Dienst erweisen, wenn sie die Begriffe der Ärzte richtiger ordnete, ihr zweckmäßige Methoden zu untersuchen vorzeichnete, ihr bestimmte Regeln, aus Tatsachen Folgerungen, und aus einzelnen Beobachtungen allgemeine Gesetze zu entlehnen mitteilte, ihr die Grenze anwiese, über welche die menschliche Untersu12 13
Ebenda, S. 33. Frederick Gregory, Kant, Schelling, and the Administration of Science in the Romantic Era, in: Osiris 5, 1989, pp. 17-35, cit. p. 26.
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chung nie hinausgehen darf, und sie aus dem Reiche der Metaphysik, worin sie sich so gern verirrt, in das Gebiet der Physik zurück wiese." 1 4 Müllers kritische Abgrenzung klingt jetzt wie eine Antwort auf Reils Standpunkt: „Es ist eine sehr gewöhnliche Ansicht, daß man die sogenannten abgeleiteten Wissenschaften in einem solchen Verhältnis zur reinen Wissenschaft sich denkt, wie als bestimme die Philosophie [ . . . ] nur das Verhältnis der einzelnen Wissenschaften zueinander [...], wie als würden in der Philosophie nur die allgemeinen Denkbestimmungen gegeben, welche in der Behandlung der abgeleiteten Wissenschaften ihre Anwendung finden, die Formen und Schemata, in welchen und nach welchen der denkende Mensch den empirischen Inhalt der Lebenserscheinungen eher ordne als lebendig begreife. Eine solche Denkart befriedigt sich damit, indem sie die Objekte des Denkens zueinander in verständige Beziehung setzt, für die einzelne Wissenschaft die Methode der Behandlung anzugeben." 1 5 Müller distanziert sich von diesem Standpunkt: „Ich muß bemerken, daß ich im Verfolg meiner Vorlesungen die Philosophie zur Physiologie nicht in diesem Verhältnis betrachte, und will nur erinnern, daß in dieser Denkweise die Physiologie so wenig wie irgend eine andere Doktrin zum Recht einer Wissenschaft gelangen kann." Und Müller kommt dann zu dem Ergebnis: „Die Philosophie, welche nur die allgemeinen verständigen Denkbestimmungen der Objekte enthält, kann von der Natur nicht als von einer lebenden handeln." 1 6 Röschlaub gibt zu, daß auch er in seiner Vergangenheit dieser rationellen Methode in dem falschen Glauben, daß er nach der induktiven Methode Bacons verfahre, allzusehr getraut hatte. 1 7 Müller übernimmt diese Kritik und meint: „Zu einer Zeit betrachtet sie [d. i. die verständige Methode] die immer unbekannte Größe unter der Kategorie der Quantität, sie heißt dann Erregungstheorie." 1 8 Müller warf außerdem dieser Kantischen Methode vor, daß sie für die Naturwissenschaften bzw. für die mathematisierbaren Wissenschaften gedacht wurde, und daher nicht imstande war, das Leben zu erfassen und zu beschreiben. Es muß auch erwähnt werden, daß vor allem die Kantische Kritik der traditionellen Metaphysik weitgehend ins Bewußtsein der Physiologen eindrang, was eine gewisse Vereinfachung der Kantischen Lehre mit sich brachte. Man hatte sie dann als eine Methode, die mit dem reduktionistischen Sensualismus verträglich war, betrachtet. Diese
14
Johann Christian Reil, Archiv für die Physiologie, Bd. 1, Halle 1796, S. 5.
15
J . Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, a.a.O., S. 257.
16
Ebenda.
17
A. Röschlaub, Versuch über die Methodik und Pseudomethodik, a.a.O., S. 57f.
18
J . Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, a.a.O., S . 2 6 6 .
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Methode wurde so verstanden, als könnte man die Lebenserscheinungen als empirische Data beobachten und nach der Kategorie der Kausalität einordnen. Im besten Fall würde man in einer Kausalkette die Reduktionslinie erfassen, wie der spätere Neo-Kantianismus es auch mit Erfolg praktizierte. Diese vereinfachte Kantische Methode scheint in den zwanziger Jahren noch Erfolg gehabt zu haben: „Jetziger allgemeinster Zustand der theoretischen Medizin." 1 9 Daher versuchte Müller seine Auffassung von der wissenschaftlichen Physiologie in erster Linie gegen diese Auffassung abzugrenzen: „Indem ich zu reden gedenke von der innigen Verbindung der Philosophie mit der Physiologie, habe ich keine geringere Aufgabe übernommen, als zu zeigen, daß eine Doktrin, welche eine große Summe empirischer Kenntnisse zu ihrer Konstruktion konsumiert, eine Wissenschaft sei, und nicht etwa bloß eine logische Verbindung empirischer Tatsachen, welche nach den Kategorien des Verstandes geordnet sind." 2 0 Völlig erstaunt zeigte sich du Bois-Reymond über die Tatsache, daß Müller gegen die Kantischen Kategorien spricht: „Sehr bemerkenswert mit Rücksicht auf die neuere Erkenntnistheorie ist die entschiedene Stellung, welche Müller gegen Kants angeborene Verstandeskategorien nimmt. Er geht in Sensualismus (sie) soweit, daß er sogar die Apriorität des Kausalbegriffes bezweifelt." 2 1 Im Gegensatz zu du Bois-Reymond kommentiert Thure von Uexküll die Bedeutung der Distanzierung Müllers von den Kantischen Wissenschaftsprinzipien folgendermaßen: „Wenn wir unter diesem Gesichtspunkt an Johannes Müller herantreten und sehen, daß für ihn die Unzulänglichkeit objektivistischer Methoden für die Erkenntnis des Lebens den Ausgangspunkt bildet, genügt es also nicht, in einem historischen Abriß die Richtigkeit dieser Ausgangsstellung aufzuzeigen, sondern wir müssen den Weg verfolgen, den er aus dieser Situation hinaus zu finden glaubt. Erst dann werden wir entscheiden können, ob dieser Weg auch für uns gangbar scheint und ob uns Müller mehr zu sagen hat als eine Vorausnahme unserer allgemeinen geistigen Situation." 2 2 2. Die falsche Naturphilosophie In seiner Antrittsvorlesung wandte sich Müller auch gegen die falsche Naturphilosophie, gegen die Richtungen, die im Namen der Naturphilosophie Schellings die Prinzipien dieser Philosophie verrieten. Diese neuen Methodiker, ähnlich denen, 19
Ebenda.
20
Ebenda, S. 256.
21
E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S. 199.
22
Thure von Uexküll, Das Bedürfnis der Naturwissenschaft nach einer philosophischen Betrachtungsweise als Problem der Gegenwart, in: Jakob von Uexküll, Der Sinn des Lebens, a.a.O., S. 81-117, auf S. 97.
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die Galen in der Antike und Röschlaub zur Zeit Müllers kritisierte, sind diejenigen, welche den neuen Wein der wissenschaftlichen Entdeckungen in den alten Schläuchen der traditionellen Denkmethoden servieren. Sie übernehmen leicht die neuesten Ergebnisse der Physik und der Chemie wie auch das Vokabular der Philosophie, aber ohne die philosophische Verarbeitung derselben und ohne den alten Standpunkt geändert zu haben. So ist diese Methode schließlich nichts anderes als eine willkürliche Vermischung von empirischen und spekulativen Elementen. So die Kritik Müllers: „Ohne Anschauung des lebendigen Prozesses schwebt sie in einer unseligen Zweideutigkeit, einer lebendigen Betrachtung der Natur unfähig [ . . . ] Sie spricht von Polarisationen und Achsen in den lebendigen Dingen, sie tut dies, indem sie einen bloßen Verstandesbegriff der Physiker auf die lebendige Natur überträgt [ . . . ] und gefällt sich in einer unendlichen Wiedererkennung derselben Formen. [ . . . ] Die verständigen Erklärungsarten chemischer und physischer Aktionen, der Galvanismus, die Elektrizität [ . . . ] gehen ohne Rückhalt in die Physiologie ein." 2 3 Es handelt sich um eine Richtung aus der Tradition der Schellingschen Naturphilosophie, welche das Leben nicht als ein Werden bzw. einen Prozeß der Selbstreproduktion erklärt, sondern vielmehr versucht, die Lebensfunktionen in Analogie zu den Naturphänomenen, d. h. Chemie, Elektrizität und Magnetismus zu erklären. Das Prinzip der Polarität spielte bei diesen Erklärungen eine wichtige Rolle. In den Jahren zwischen 1810 und 1820 scheint diese Richtung innerhalb der Naturphilosophie sehr verbreitet gewesen zu sein. Einer ihrer renommierten Vertreter war Georg Prochaska (1749-1820), Professor der Anatomie und Physiologie in Wien. 1815 erschien sein Buch Versuch einer empirischen Darstellung des polaren Naturgesetzes; 1820 dann veröffentlichte Prochaska eine Neubearbeitung seiner Physiologie oder die Lehre von der Natur des Menschen. Darin heißt es: „Wie die Wirkung der Voltaischen Säule auf der Berührung ihrer Kettenglieder und der umgebenden Luft beruht, so beruht auch das Leben der organischen Körper auf der Berührung ihrer festen und flüssigen Teile und ihrer heterogenen Stoffe. [ . . . ] Die Gefässe werden auch in ihrem Verlauf auf mannigfaltige Weise gekrümmt und zu dem Ende verwebt, damit die darin bewegten Säfte in einer längeren Berührung mit den festen Teilen verweilen, und der das Leben begleitende Wechsel der Stoffe durch Zersetzung, Zusammensetzung, Absonderung, Ausschneidung, Formbildung u. dgl. gehörig vor sich gehen möge." 2 4 Und weiter: „Daraus ersehen wir, daß dieselbe Tätigkeit, die sich uns in der 23 24
J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, a.a.O., S. 264. Georg Prochaska, Physiologie oder Lehre von der Natur des Menschen, Wien 1820, S. 34f.
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Voltaischen Säule offenbaret, in der Erde und ihren sowohl unorganischen als organischen Körpern waltet, daß durch ihre polarische Kraft von Attraction und Repulsion, gleichsam durch ihren immerwährenden Streit mit sich selbst und mit der den Körpern eigenen Schwere, Adhäsion und Cohäsion, unter verschiedenen Umständen und Modificationen, aller Körper Mischungen und Formen, Zersetzungen und Zusammensetzungen, Erzeugung und Zerstörung, nebst andern Naturphänomenen, und überhaupt alles physische Leben, im Kleinen wie im Großen, hervorgebracht werden." 2 5 Dieselbe Richtung repräsentierte ebenfalls Johann Bernhard Wilbrand (1779-1846), seit 1809 Professor der Anatomie, Physiologie und vergleichenden Anatomie in Gießen. In seinem Buch Physiologie des Menschen heißt es: „Wir sehen hierin [in der Funktion der Respiration, Ν . T.] ein wahrhaft polares Verhalten, wie wir dasselbe in den Aeusserungen des Magnetismus, in der Richtung nach Norden und nach Süden wahrnehmen. [ . . . ] Es ist allerdings auch dasselbe Naturgesetz, welches die galvanisch-chemischen Erscheinungen erzeugt und welches in den Functionen der lebenden Organisation hervortritt." 2 6 Daneben beruft sich Wilbrand auch auf Prochaska: „Das in den galvanisch-chemischen Erscheinungen sich regende Princip dürfte wohl, seinem Wesen nach, ein allgemeineres seyn, und mit guten Gründen hat Prochaska bereits in der Physiologie hiervon Anwendung gemacht." 2 7 Aber auch Müller selbst war während seines Studiums von dieser Richtung beeinflußt, wie seine Dissertation von 1822 zeigt. 2 8 Zwischen der Verteidigung und seiner Antrittsvorlesung liegt die Zeit seines Aufenthaltes in Berlin. Es ist offensichtlich, daß Müller durch den Einfluß Rudolphis die Unfruchtbarkeit jener Methode bewußt geworden ist; 2 9 er meinte allerdings diese spezifische Richtung, wenn er von „falscher Naturphilosophie" sprach und keineswegs die ganze philosophische bzw. naturphilosophische Richtung, wie es du Bois-Reymond interpretierte 3 0 und wie es seitdem viele Historiker verstehen wollen.
25
Ebenda, S. 39f.
26
Johann Bernhard Wilbrand, Physiologie des Menschen, Giessen 1815, S. 113.
27
Ebenda, S. 124.
28
Johannes Müller, Dissertatio inauguralis physiologica sistens Commentarios de Phoronomia Animalium, Bonn 1822.
29
So sagte er es später auch selbst in seiner Gedächtnisrede auf Rudolphi. Vgl. J . Müller,
30
E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S. 147
Gedächtnissrede auf Carl Asmund Rudolphi, a.a.O., S. X X V I I I .
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III. Intellektuelle Anschauung Im Gegensatz zu der falschen Naturphilosophie ist die verständige Methode bei Müller, also die rationelle in der Terminologie Röschlaubs, keine falsche Methode. Sie ist allerdings nicht imstande, wahre Einsicht in die Natur zu verschaffen, geschweige denn, die Lebendigkeit der Natur darzustellen. So erklärt Röschlaub in seiner Studie, daß die einzige Methode, welche im Gegensatz zur rationellen imstande sei, zusammenhängende Einsicht zu vermitteln, die intellektuell-induktive Methode sei. 3 1 Diese Methode, deren Vorbild die sogenannte induktive Methode von Bacon ist, kann sich nach Röschlaub sowohl bei der klinischen Beobachtung als auch bei dem wahren Experiment bewähren. Im Prinzip ist sie eine Erfahrungsmethode. „Bei dieser Methode muß stets das sinnliche Anschauungsvermögen mit Wahrnehmen und Beobachten beschäftigt sein [ . . . ] Allein wirkliche Einsicht kommt nie durch jene allein zu Stande [ . . . ] Daher müssen mit dem sinnlichen AnschauungsVermögen immer zugleich auch höhere Geistes-Vermögen, [ . . . ] geschäftig sein." 3 2 „Die intellektuelle Anschauung ist das Organ alles transzendentalen Denkens", sagt Schelling. 33 Sie ist auch der Punkt, durch den Schelling grundsätzlich seine Philosophie von der Kantischen unterscheiden will. „Da unsere ganze Philosophie auf dem Standpunkt der Anschauung, nicht auf dem der Reflexion steht, auf welchem ζ. B. Kant mit seiner Philosophie befindlich ist [.. . ] . " 3 4 Im Gegensatz zu der Reflexion des Verstandes, die das in der Anschauung Gegebene ordnet, ist die intellektuelle Anschauung produktiv. Sie produziert den Gegenstand, den sie erfassen soll. 3 5 Der einzige Sinn, mit dem also diese Philosophie verstanden werden kann, ist der ästhetische. 3 6 N u r wenn wir in den Dingen unsere geistige Tätigkeit erblicken, können wir die Dinge an sich unmittelbar erkennen, 3 7 ähnlich wie der Lichtstrahl, mit dem wir sehen, das Anschauen selbst ist. 3 8 Allerdings unterscheidet sich Schelling von dem dogmatischen Idealismus, der nichts außer unserer subjektiven Tätigkeit anerkennt. Es gibt doch etwas, was die produktive Tätigkeit unserer Anschauung begrenzt: Wenn nämlich in diesem Zimmer ein Kubus steht, so kann meine produktive Anschauung keine Pyramide 31
A. Röschlaub, Versuch über die Methodik und Pseudomethodik, a.a.O., S. 38, 42.
32
Ebenda, S. 89f.
33
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des Transzendentalen Idealismus (1800), in: Sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. 3, Stuttgart - Augsburg 1857, S. 369.
34
Ebenda, S. 455f.
35
Ebenda, S. 369.
36
Ebenda, S. 351.
37
Ebenda, S. 428.
38
Ebenda, S. 430.
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produzieren. In diesem Teil des Raumes kann meine Anschauung nur in der Form des Kubus tätig sein. 3 9 Das ist aber das Besondere der Anschauung, daß sie gerade aus der Begrenztheit heraus produktiv wird. 4 0 Daher ist auch die Methode der Wissenschaft eine Kunst; daher der Wert der wirklichen Erfahrung, die nicht die passive Aufnahme des Vorhandenen, aber auch nicht ein völlig freies Produkt ist. Aus den Beschränkungen macht die intellektuelle Anschauung Fermente für die Produktivität. So wird die wirkliche Erfahrung originale Erkenntnis und neue Schöpfung. In diesem Sinne versteht auch Müller die Beobachtung und die wirkliche Erfahrung, die der Naturforscher durch die Anschauung gewinnen kann: „So gewiß es ist, daß die Reflektion [...] sich nicht zur Wissenschaft erheben kann, so gewiß ist, daß diejenige Physiologie, welche vermöge ihres philosophischen Organons [...] nur dadurch zur Wissenschaft wird, so viel sie von der philosophischen Anschauung des Lebensprozesses in sich hat." 4 1 Ein Vorbild für diese Methode sieht Müller in der Darstellung der Geschichte der Zeugung durch Caspar Friedrich Wolff. „In seiner Darstellung entwickeln sich die Teile sichtbar lebendig vor unseren Augen [...] die lebendige Anschauung begeistert jedes seiner Worte; in der Berührung seines Griffels werden die Keime groß, und es wird deutlich, daß es eine Beschreibung gibt, die philosophischer ihrer Natur nach ist, als alle metaphysische Untersuchung der Erklärungsgründe." 4 2 Der hohe Wert, den Müller der Beobachtung des Wissenschaftlers beimißt, beruht auf seiner Uberzeugung, die er mit Schelling teilt, daß die intellektuelle Anschauung die einzige richtige Methode für die Wissenschaft ist. Es handelt sich um eine Erfahrung, welche durch Ideen befruchtet wird und in der der Wissenschaftler wie ein Künstler viel mehr als das passive Sinnliche erfährt. So sagt Müller: „ D a gibt es eine Erfahrung, die nur von Ideen gebildet wird, und aus den Erfahrungen wieder entspringen uns auf unmittelbare Weise Ideen [...] Diese anspruchslose schlichte Anschauung der Natur, die in sich selbst gezwungen, in allen Dingen nur das Rechte der Dinge, die Wahrheit ihres Scheines erkennt, ist der Sinn des Naturforschers [...] Lasset einen solchen Geist erfahren, was ihr immer wollt, er erfährt mehr, als in den Dingen selbst scheinbar sinnlich Erkennbares ist." 4 3 39 40 41 42 43
Ebenda, S. 408. Ebenda, S. 410. J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, a.a.O., S. 260f. Ebenda, S. 278f. Ebenda, S. 280.
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Nur durch eine solche Methode vermag eine empirische Disziplin nach Schelling und nach Müller, Wissenschaft zu werden.
IV Die Einheit von Subjekt und Objekt Für Schelling ist die Natur unbewußte Produktivität. Sie ist genauso ein Ausdruck des Geistes wie die bewußte Produktvität. Die Materie ist keinesfalls eine andere Substanz als die geistige. Nach Schelling kann man weder das Denken als eine materielle Erscheinung, noch das Sein (Materie) aus dem Wissen erklären. „Es ist zwischen beiden überhaupt kein Kausalitätsverhältnis möglich, und beide können nie zusammentreffen, wenn sie nicht wie im Ich ursprünglich Eins sind. Das Sein (die Materie), als produktiv betrachtet, ist ein Wissen, das Wissen, als Produkt betrachtet, ein S e i n . " 4 4 So überwindet Schelling den Dualismus von Subjekt und Objekt oder von Sein und Denken. Müller übernimmt diesen Grundsatz der Schellingschen Philosophie als Prinzip der Physiologie, denn auch er geht von einer Einheit von Natur und Bewußtsein als zwei Ausdrucksformen lebendiger Produktivität aus. Von diesem Standpunkt her war für ihn die Belebung der Materie kein Problem: „Ich habe mich zu zeigen bemüht, wodurch die Physiologie sie selbst ist, und wie sie, in der Empirie zwar, als ihrem Boden, waltend, nur die ewigen Prozesse des Geistes in der Materie zu wiederholen nachahmt." 4 5 Er behielt dieses Prinzip in seiner ganzen Entwicklung bei. „Die organische Kraft ergießt sich gleichsam in einem Strom von den producirenden Theilen aus in immer neue producirte, während die alten absterben." 4 6 So ist bei Müller der Instinkt als Kunsttrieb die unbewußte Produktivität der Natur, und sie ist gleichermaßen vernünftig wie die bewußte, die in der Vorstellung erscheint. Doch für seinen Biographen du Bois-Reymond war diese philosophische Auffassung Müllers, wie übrigens alle philosophischen Auffassungen seines Lehrers, schwer verständlich. So schreibt er: „Jedermann weiß, daß Müller von Anfang an Vitalist war und bis an sein Ende blieb. [ . . . ] Doch ist schwer zu verstehen, wie er mit der Vorstellung allgemeiner Beseelung der Materie seinen Vitalismus verband, der vielmehr als Einkleidung der bewegenden Ideen Piatons erscheint." 4 7 Die Belebung der Materie und die innere, unbewußte Produktivität des Lebendigen ersetzen bei Müller - wie auch bei Schelling — die von Kant vorgeschlagene 44
Ε W J . Schelling, System des Transzendentalen Idealismus (1800), a.a.O., S.40Z
45
J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbe-
46
Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Bd. 1,
trachtung, a.a.O., S. 261. 4. Aufl., Coblenz 1844, S.31. 47
E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S.205.
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Zweckmäßigkeit: „ D a s Vernünftige der Tätigkeit des Lebensprinzips ist die Erzeugung der zweckmäßigen Organisation in der belebten Materie [...] Alle Probleme der Physik sind vor dieser schaffenden Tätigkeit gelöst." 4 8 „Wenn ein organischer Teil einen Schaden durch materielle Umwandlung erleidet, so entsteht in einem solchen Teile dann auch eine größere Tätigkeit zur Wiederherstellung dieses Schadens." 4 9 Diese Darstellung der Lebendigkeit der Natur unterschied Schelling streng von der Methode einer teleologischen Erklärung von Naturphänomenen. Wie er sagt: „ D i e Natur ist zweckmäßig ohne zweckmäßig erklärbar zu s e i n . " 5 0 Müller kritisiert im selben Sinne diejenige Physiologie, welche teleologische Erklärungen vorführt: „Diese Physiologie spricht nur von Funktionen der Organe, von ihren Zwecken, von ihrer Nützlichkeit. Sie bemüht sich zu zeigen, daß eine gewiße Einrichtung die beste sei. In der Natur hat nichts, was einer physiologischen Untersuchung unterworfen ist, einen Z w e c k . " 5 1 Auch das ursprünglich von John Brown stammende Prinzip der Einheit von Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit ist aus der Naturphilosophie Schellings von Müller übernommen worden. „Aber die ganze Natur ist [ . . . ] lebend, Todseyn ist daher nur eine relative Bestimmung. [...] Wo wir etwas todt nennen, [...] hat nur eine Veränderung des Lebens statt. D i e pathologischen Processe [...] können [...] als Veränderungen der physiologischen Processe auch Quellen der physiologischen Untersuchung werden." 5 2 Diese Identität des Physiologischen mit dem Pathologischen, welche für die Reform der experimentellen Physiologie eine große Rolle spielte, war zu jener Zeit (1823) schon sehr bekannt als Prinzip von Frangois Broussais. In Wirklichkeit jedoch handelt es sich um das Prinzip von Brown. Röschlaub hatte es schon 1795 in seiner Dissertation über das Fieber und Schelling in seinem Ersten Entwurf von 1799 propagiert. 5 3
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J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 717. Ebenda, S. 49. Ε W J . Schelling, System des Transzendentalen Idealismus (1800), a.a.O., S. 349. J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, a.a.O., S. 267. Johannes Müller, Grundriss der Vorlesungen über die Physiologie, Bonn 1827, S. 1, S. VII. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), in: Sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. 3, Stuttgart - Augsburg 1857, S.222. Siehe dazu: Nelly Tsouyopoulos, Die Erregungstheorie in Frankreich. Brownianismus
Schellings Naturphilosophie
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V Drei Arten von Kausalität Eine wissenschaftstheoretische Überzeugung Müllers, die er immer wieder betonte, ist die Unterscheidung der mechanischen und chemischen Kausalität von der Verbindung zwischen Reiz und Reaktion. Bei dem letzten Fall, der charakteristisch für das Organische ist, zeigt die Reaktion Eigenschaften, die gar nicht in dem Reiz als Ursache enthalten sind. Das chemisch Wirksame ζ. B. verbrennt die Haut. Das Organische dagegen reagiert auf das Chemische, wenn dies als Reiz wirkt, durch organische Wirksamkeit, z . B . durch Entzündung. „Der Sinnesnerve auf jedweden Reiz, was immer einer Art, reagirend, hat die ihm immanente Energie. [ . . . ] Anderseits bewirkt Alles, was auf ein Absonderungsorgan wirken kann, Veränderung der Absonderung, was auf den Muskel wirken kann, Bewegung." 5 4 Diese Reiztheorie hatte Müller ebenfalls aus der Schellingschen Naturphilosophie übernommen. Die Reiztheorie der Naturphilosophie (übrigens gemeinsames Ergebnis der Lehren Browns, Röschlaubs und Schellings) hatte zwei Grundprinzipien, die auch für die Physiologie sehr interessant waren: Der erste und wichtigste ist, daß die Reaktion des Organismus auf den Reiz weder eine quantitative noch eine qualitative Entsprechung zum Reiz, wie die sonstigen kausalen Faktoren hat. Die Antwort des Organismus ist unabhängig von den Reizen bzw. von den Wirkungen, die in den Reizen als Ursachen innewohnen. Als Konsequenz dieses Prinzips gilt weiter, daß die Reaktion des Organismus auf den Reiz eine dem Organismus eigene, spezifische Energie entfaltet; und schließlich ist der Reiz ein Ansporn für den Organismus, eine eigene innere Tätigkeit zu entfalten, wie ζ. B. bei der Regeneration oder bei der Wiederherstellung eines dem Organismus zugefügten Schadens. Diese Auffassung änderte die Sicht vieler organischer Phänomene wie der Entzündung, die in diesem Licht zum ersten Mal als wiederherstellender Prozeß verstanden wird. Oder die Geschwülste als produktive Prozesse ähnlich wie die Regeneration, aber gegen die Ökonomie des Ganzen, und schließlich die Sekretion als innere Tätigkeit mit spezifischen Produkten. Die Schellingsche Anregung in dieser Hinsicht war äußerst fruchtbar: „Die Erscheinungen der Secretion lassen sich nur aus einer spezifischen Reproduktionskraft verschiedener Organe erklä-
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auf den Kopf gestellt, in: History and Philosophy of the Life Sciences 11, 1989, pp. 8 3 - 8 8 . Johannes Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, Coblenz 1826, S. 6. F. W J. Schelling, Erster Entwurf, a.a.O., S. 175, Fußnote 1.
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NELLY TSOUYOPOULOS
VI. Das Experiment und die Reform der Physiologie Nach du Bois-Reymond war der jugendliche Müller „ganz versunken in dem Traummeer jener falschen Naturphilosophie, die während des ersten Viertels dieses Jahrhunderts der deutschen Wissenschaft tiefere Wunden schlug als aller Kriegslärm des westlichen Eroberers". 5 6 Müller habe sich in einem großen und gefährlichen Irrtum befunden. U n d so mahnt du Bois-Reymond: „Es ist nicht unnütz, uns zu erinnern, daß es in Deutschland eine Zeit gab, Müllers Jugendzeit, wo die Uberwucherung der Wissenschaft mit Ästhetik solche Verwilderung herbeigeführt hatte, daß sogar ein Talent ersten Ranges gleich ihm der Gefahr der Verirrung nicht entging. Für uns ward Müller Sieger in diesem Kampf; dies Land, das wir fröhlich bauen, hat er von den Drachen befreit und urbar gemacht." 5 7 Trotz allem rühmte du Bois-Reymond Müller als den Reformer der Physiologie: „So brachte Müllers Handbuch fast auf allen Punkten eine neue Physiologie. Es war aber nicht dies allein, sondern zugleich die Art dieser neuen Physiologie, die dem Werke seine außerordentliche Wirkung eintrug." 5 8 Und er stellte dabei die Frage: „Wenn aber die nicht unbillige Frage erhoben würde, warum für den Helden jenes Befreiungskampfes, für den Choragen der neuen Schule, gerade Müller gelten solle, der auf so langem Umwege sich ins rechte fand, [und jetzt kommt die Antwort, auf die jeder Politiker neidisch wäre:] weil eben im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, Freude sein wird vor neunundneunzig Gerechten." 5 9 Ich glaube dagegen, daß Müllers Reform der Physiologie und nicht zuletzt die neue experimentelle Methode nichts anderes war als die Konsequenz seiner Methode, seiner philosophischen Überzeugung und seiner neuen Einstellungen, also - nach du Bois-Reymond - seiner Sünde. Schelling selbst zeigte die Grenze der intellektuellen Anschauung, über die hinaus die Physiologie nicht gehen kann und an der das Experiment am Platz ist. So begreifen die Beobachtung und die theoretische Betrachtung die Sekretionkraft als eine spezifische Reproduktionskraft. 6 0 Dies war wohl etwas Neues, das auch die neue Auffassung vom Leben voraussetzte. Man könnte auch deduzieren, daß die Sekretionsorgane durch Reizung produzieren. Aber schließlich, wie so etwas geschieht, läßt sich, sagt Schelling,
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E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S. 143. Ebenda, S. 151. Ebenda, S. 200. Ebenda, S. 204. Ε W J . Schelling, Erster Entwurf, a.a.O., S. 176.
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„nicht anschaulich machen, solange hierüber nicht tiefer eindringende Experimente existieren". 6 1 So lange aber der Organismus als eine Maschine galt, das Leben als solches fehlte und Gegenstand der Physiologie die tote Materie war, die es nötig hatte, von einer metaphysischen Entität animiert zu werden, solange auch die Methode der Forschung die logische Systematik war, gelang es der Physiologie nicht, auch durch unzählige Experimente, die lebendigen Funktionen erfolgreich zu untersuchen. Müller selbst kritisiert die vielen Experimente seiner Zeit, die nur die unbekannten Tatsachen multiplizieren, weil sie das physiologische Experiment mit dem chemischen verwechseln. Sie suchen lebendige Funktionen wie Reizbarkeit, Sekretion, Sensibilität usw. zu erklären ohne einen Begriff vom Leben zu haben. Sie stellen die falschen Fragen. Es gibt aber einen „wesentlichen Unterschied des chemischen und physiologischen Versuchs in Hinsicht ihrer Gültigkeit. [...] Im chemischen Experiment ist das seiner Natur nach bekannte Reagens in dem Produkte seiner selbst und des unbekannten Stoffes oder seiner Teile enthalten." 6 2 Anders verhält es sich aber mit dem physiologischen Experiment. Die Antwort in dem Versuch ist immer nur dem Organismus eigen, ist eine Lebenserscheinung. „Was aber das Experiment in physiologischen Dingen unzuverläßig macht", sagte Müller, „ist dies, daß die Antwort der lebendigen Natur auf die Einwirkung des Reagens nicht die Natur des uns als bekannt vorausgesetzten Reagens als wesentlichen Teil in sich enthält. Denn alle Stoffe, alle Reize, auf den Organismus einwirkend, erregen in ihm nicht, was sie selbst sind, sondern ein von ihnen selbst Verschiedenes, die Lebensenergien des Organismus. Uber den Grund der Lebenserscheinung kann demnach der Versuch selbst nicht Aufschluß geben." 6 3 Daß diese ganze Veränderung des Denkens, die wir bei dem jungen Müller finden und die durch den Einfluß der romantischen Philosophie und Medizin bedingt ist, gerade diejenige war, die auch zu der neuen Art und Mentalität der späteren experimentellen und wissenschaftlichen Medizin führte, das können wir nur verstehen, wenn wir diese Texte mit anderen derselben Epoche vergleichen, die weniger oder gar nicht von der romantischen Philosophie beeinflußt waren. Wenn Müller mit dem damaligen Zustand der Physiologie als Wissenschaft nicht zufrieden war, so war er in erster Linie nicht zufrieden mit der Art, wie die Physiologen experimentierten: „Ich bin durch eigene vielfältige Erfahrungen mit der Schwierigkeit des physiologischen Versuchs vertraut geworden, und es beruht nicht auf einer vorgefaßten Meinung gegen eine mir selbst unzugängliche und darum verfeindete 61 62 63
Ebenda, S. 177. J . Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, a.a.O., S.270f. Ebenda, S. 271.
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Sache, sondern auf einer in einem selbstbetretenen Felde gewonnenen eigenen Erfahrung, wenn ich jener Richtung in ihrer jetzigen Ausdehnung, nicht beistimmen kann. Es ist darum auch unsere Sache, den Weg zu verzeichnen, auf welchem ausschließlich der physiologische Versuch auf Gültigkeit Anspruch machen und selbst der von uns sonst so hochgestellten schlichten Beobachtung bei weitem in der Erforschung der Geheimnisse der lebenden Natur voreilen kann." 6 4 Die von Müller kritisierten Experimente schufen Bedingungen, die zur Äußerung von Lebensfunktionen führten, um von den Lebensäußerungen wieder auf die Bedingungen zu schließen. So sammelten sich zu den unbekannten Phänomenen noch weitere hinzu, die dazu spekulativerweise als Ursachen betrachtet wurden. Müller war unzufrieden mit solchen Experimenten: „Man sieht alltäglich Versuch auf Versuch sich häufen, einen den Schein des anderen stürzen." 6 5 Das Experiment, das Müller befürworten möchte, war ein solches, das die Frage anders stellen sollte, und zwar: „So können wir nur auf solche physiologische Versuche größeren Wert legen, in welchen nicht von einer qualitativen Bedingung eine qualitative Reaktion verlangt wird, sondern in welchen, [ . . . ] die Bedingungen zur Tätigkeit dieses Organs aufgehoben werden." 6 6 Anstatt also nach den Ursachen von Lebensfunktionen zu forschen, was immer zu völlig unsicheren Ergebnissen führt, schlägt Müller vor, die Frage zu stellen, was denn dem Organismus passieren könnte, wenn eine ganz bestimmte Lebensfunktion verhindert wird. Dies führt zu konkreteren und eindeutigen Antworten. Wenn man fragt, was die Ursache einer lebendigen Funktion ist, so besteht immer die Gefahr, Unbestimmtes durch Unbestimmtes erklären zu wollen. Wenn man dagegen fragt, was passiert, wenn wir die Äußerung einer Funktion verhindern, so ist das Resultat eindeutig. Die praktische Durchführung dieser neuen Fragestellung scheint trivial, doch die Schwierigkeit lag nicht dort, sondern bei der Auffassung des Lebens. U m nach der negativen Bedingung einer Lebensfunktion zu fragen, muß man keine mechanische oder metaphysische Auffassung vom Leben haben. „Was passiert, wenn eine Drüse nicht funktioniert?" und „Was passiert, wenn eine Schraube nicht funktioniert?", sind zwei Fragen, die von Experimenten ganz verschiedener Art beantwortet werden müssen. Heute scheint es trivial, aber vor Müller und noch nach ihm glaubte man, daß es sich um dieselbe Art von Phänomenen handelte. Doch die Frage, warum z . B . ein Lebewesen stirbt, wenn ihm beide Vagus-Nerven entfernt werden, hat nur einen Sinn, wenn der Begriff des Lebens nicht völlig mechanisch ist. Man kann keine Experimente machen, um herauszufinden, warum ein Auto kaputt ist, wenn man ihm zwei Räder wegnimmt. Wenn man 64
Ebenda, S. 273f.
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Ebenda, S. 269.
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Ebenda, S. 274.
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die innere Sekretion als eine lebendige Produktivität des Organismus versteht, kann man auch fragen: Was geschieht im Organismus, wenn ein Sekretionsorgan aufhört zu sezernieren, wenn ihre Produktivität unterbunden wird? Das war eine neue Fragestellung und eine neue Art von Experiment. Diese neue Fragestellung setzte aber die philosophischen Prinzipien Müllers voraus: die Lebendigkeit der Materie, die Identität von Natur und Geist, die Vernünftigkeit als Produktivität von Natur und Geist und die Identität von Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod.
D I E T R I C H VON E N G E L H A R D T
Müller und Hegel Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Naturphilosophie im deutschen Idealismus
I. Historische Situation und historiographische Aufgabe Um die Komplexität und das Spektrum des Themas zu verdeutlichen, seien zwei Zitate aus jener Epoche um 1800 an den Beginn dieses Beitrages gesetzt: „Die Untersuchung jedes Seyns geschieht nach den 3 Seiten der Logik: 1. Das Denken bestimmt das Bestehen der Dinge als unterschiedener Einzelheiten nach ihren Eigenschaften und Zuständen. Die formelle Logik, die verständige Logik. 2. Das Denken zeigt das Aufheben dieser festen Unterschiedenheit, den Uebergang und die Veränderung derselben oder die Einheit unterschiedener Bestimmungen. Die Dialektik. Der Skepticismus. 3. Das Denken begreift das positive Selbstwirkende oder Wesenhafte in der Veränderung oder dem Uebergang. Die speculative Logik."1 Drei Typen der Logik werden in durchaus idealistischer Weise in dieser Formulierung unterschieden und in eine Hierarchie gebracht: der formellen oder verständigen Logik in der konventionellen Bedeutung dieser Disziplin folgt die dialektische oder skeptische Logik als Aufhebung und Vermittlung von Positionen und Gegenpositionen, an oberster Stelle steht die spekulative Logik, die Veränderung als synthetisierende Selbstbewegung der Erscheinungen und Prozesse begreift. Das zweite Zitat enthält eine Kritik an der romantischen Naturforschung oder einer spezifischen Form metaphysischer Naturforschung, die empirische Kenntnisse vernachlässigt und zu sehr auf dichterische Phantasie setzt: „Sie wissen von mir, daß ich mich nicht nur mit alter Literatur, sondern auch mit Mathematik, neuerlich mit der höhern Analysis, der Differential-Rechnung, mit Physik, Naturgeschichte, Chemie zu sehr beschäftigt habe, um mich von dem Schwindel der Naturphilosophie, ohne Kenntnisse und durch Einbildungskraft zu philosophie-
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Johannes Müller, Grundriss der Vorlesungen über die Physiologie, Bonn 1827, S. IV
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ren und leere Einfälle selbst des Aberwitzes für Gedanken zu halten, ergreifen zu lassen." 2 Mit diesen Zitaten von Johannes Müller und Georg Wilhelm Friedrich Hegel aus den Jahren 1827 und 1814 ist der Rahmen für die folgenden Überlegungen und Argumentationen abgesteckt, die nicht nur das Konzept einer möglichen Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft bei Müller und Hegel erläutern, sondern zugleich als besondere Grundlage für diese Verbindung die Hegeische Naturphilosophie herausstellen. Sowohl die angeführte Logikgliederung als auch die Ablehnung des romantischen Standpunktes spielen in diesem Zusammenhang eine spezifische Rolle. Aus dieser Interpretation ergeben sich ohne Zweifel zugleich Konsequenzen für die Beurteilung anderer philosophischer Einflüsse bei Müller, insofern diese nicht nur mit denen Hegels verglichen, sondern auch auf ihre Deutung durch den Philosophen zu beziehen sind; das trifft zum Beispiel für die aristotelischen Begriffe energeia und dynamis ebenso zu wie für das Lebensverständnis des Spinoza, von dem es in der Hegeischen Naturphilosophie heißt: „Als die Einheit des Begriffs und der nach Außen gekehrten Existenz, worin sich der Begriff erhält, ist das Leben die Idee; und in diesem Sinne nennt auch Spinoza das Leben den adäquaten Begriff, was freilich noch ein ganz abstracter Ausdruck ist." 3
II. Biographische Kontakte Die biographischen Kontakte zwischen Müller und Hegel beziehen sich nicht nur auf die Situationen des unmittelbaren Zusammenseins, sondern in einem weiteren Sinn ebenfalls auf Personen und Publikationen, über die Müller von Hegel und seiner Philosophie Kenntnis gewonnen und Anregungen aufgenommen hat, wie umgekehrt Hegel auch von Müller und seinen Forschungen. 4 2 3
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel an Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, 30. 7 1814, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 2, 3. Aufl., Hamburg 1969, S. 31. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Hermann Glockner, Bd. 9, 3. Aufl., Stuttgart 1958, § 337, Zusatz, S.451. Zu Hegel und Müller in diesem Zusammenhang: Robert S. Cohen/Max W Wartofsky (Eds.), Hegel and the sciences, Dordrecht - Boston 1984; Rolf-Peter Horstmann/ Michael John Petry (Hrsg.), Hegels Philosophie der Natur, Stuttgart 1986; Brigitte Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik: ein Beitrag zur Erkenntnisphilosphie der Medizin, Stuttgart 1990; Martin Müller, Uber die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, in: Sudhoffs Archiv 18, 1926, S. 130-150, 209-234, 328-350; M. J. Petry (Hrsg.), Hegel und die Naturwissenschaften, Stuttgart - Bad Canstatt 1987; Karl Post, Johannes Müller's philosophische Anschauungen, Halle 1905; Heinrich Schipperges, Johannes Müller im
Müller und Hegel
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Den Anfang bilden bei Müller die philosophischen Anregungen im Bonner Studium ab 1819. Hier hört er Philosophie bei Friedrich von Calker, Verfasser von Studien über Logik, Metaphysik und Geschichte der Philosophie, sowie Christian August Brandis, der ihn mit Aristoteles vertraut macht und von dem Abhandlungen über griechische Philosophen, Geschichte der Philosophie, auch Gedächtnisreden auf Schelling (1856) und Fichte (1862) stammen. Philosophische Impulse gehen ebenfalls von den Dozenten in den Naturwissenschaften und der Medizin aus: vor allem von den Vorlesungen von Karl Wilhelm Gottlob Kastner über Naturwissenschaft allgemein sowie über Chemie, Physik und Meteorologie; von Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck über Botanik; von August Goldfuß über die naturhistorischen Disziplinen; von Christian Friedrich Nasse über Physiologie; von Philipp Franz von Walther, bekanntlich ein Anhänger der Schellingschen Naturphilosophie, über Chirurgie und Augenheilkunde; von Christian Hinrich Ernst Bischoff, ebenfalls ein Schellingianer, über Gerichtliche Medizin. 5 Im Sommersemester 1823 und Wintersemester 1823/24 kommt es dann in Berlin zum direkten Kontakt mit Hegel. Müller besucht Vorlesungen bei dem Philosophen, wovon eine Notiz in einem ungedruckten Lebenslauf aus jener Zeit Zeug-
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Lichte der modernen Wissenschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für Kardiologie 76, 1987, Suppl. 4, S. 7-15; Peter Schmidt, Zu den geistigen Wurzeln von Johannes Müller. Eine quantitative Analyse der von ihm im Handbuch der Physiologie zitierten und verwerteten Autoren, Med. Diss., Münster 1973; Johannes Steudel, Wissenschaftslehre und Forschungsmethodik Johannes Müllers, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 77, 1952, S. 115-118. Zur Naturforschung im Zeitalter der Romantik vgl.: Roger Ayrault, En vue d'une philosophie de la nature, in: La genese du romantisme allemand 1797-1804, vol. 1, Paris 1976, pp. 11-167; Andrew Cunningham/Nicholas Jardine (Eds.), Romanticism and the sciences, Cambridge 1990; Dietrich v. Engelhardt, Bibliographie der Sekundärliteratur zur romantischen Naturforschung und Medizin 1950-1975, in: Romantik in Deutschland, hrsg. von R. Brinkmann, Stuttgart 1978, S. 307-330; ders., Romantische Naturforschung, in: Historisches Bewußtsein in den Naturwissenschaften von der Aufklärung bis zum Positivismus, Freiburg i. Br. 1979, S. 103-157; Alexander Gode-von Aesch, Natural science in German romanticism, New York 1941, Nachdruck 1966; Werner Leibbrand, Die spekulative Medizin der Romantik, Hamburg 1956; Roy Porter/Mikuläs Teich (Eds.), Romanticism in national context, Cambridge 1988; Karl Eduard Rothschuh, Naturphilosophische Konzepte der Medizin aus der Zeit der deutschen Romantik, in: Romantik in Deutschland, a.a.O., S. 243-266; Henricus Α. M. Snelders, Romanticism and Naturphilosophie and the inorganic natural science 1797-1840, in: Studies in Romanticism 9, 1970, pp. 193-215; Hans Sohni, Die Medizin der Frühromantik, Med. Diss., Freiburg i. Br. 1973.
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nis ablegt: „Hegel philosophiam me docet." 6 Hegel liest im Wintersemester 1823/ 24 über Naturphilosophie, verfaßt für sie eine neue Einleitung und legt auch ein neues Heft mit Ergänzungen zur Naturphilosophie an. Eine Nachschrift dieser Vorlesung, die von Müller besucht wird, hat sich erhalten; sie stammt von Karl Gustav Julius von Griesheim, ist bislang allerdings noch nicht gedruckt. Ediert wurde dagegen die Vorlesungsnachschrift von 1819/20.7 Die persönliche Verbindung zu Hegel bewegt Müller, dem Philosophen ein Exemplar seiner Abhandlung über die Entwicklung der Eier im Eierstock der Gespensterheuschrecken (1825) mit dem handschriftlichen Zusatz zuzusenden: „Den Herrn Professor Hegel wollte durch diese Blätter an einen stets dankbaren Zuhörer in schuldiger Ehrerbietung erinnern Dr. Jo. Müller." 8 In Müllers Bibliothek hat sich Hegels Enzyklopädie in der zweiten Auflage von 1827 befunden. Von Schelling besaß Müller Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip (1802), Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), Von der Weltseele (1806). Die von Marcus und Schelling herausgegebenen Jahrbücher der Medicin (1806-08) und die von Oken betreute Isis (1817-33) machen Müller ebenso mit den romantischen Beiträgen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Medizin vertraut wie die entsprechenden auch in seiner Bibliothek nachweisbaren und von ihm in seinen Schriften wiederholt zitierten Publikationen von Carus, Goldfuß, Isensee, Kastner, Kieser, Oken, Schubert, Troxler, von Walther und Windischmann. Im übrigen wird Müller in dieser Berliner Zeit konfrontiert mit Karl Asmund Rudolphis Polemik gegen „eine mit mißverstandener Philosophie verbundene Art der Naturstudien, welche sich lange ziemlich anspruchsvoll durch Mangel an einer exakten Methode und durch gewaltsame Tendenz zum Allgemeinen aussprach"9; seine eigenen Beschäftigungen „mit dem abstracteren Gebiet der Sinnesphysiologie" 1 0 werden von Rudolphi ebenfalls nicht gern gesehen. Bereits in den Bonner
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Emil du Bois-Reymond, Gedächtsnissrede auf Johannes Müller (1859), in: Reden, Bd. 2, Leipzig 1887, S. 143-334, auf S. 308.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Naturphilosophie, Bd. I: Die Vorlesung von 1819/ 20, hrsg. von M. Gies, Napoli 1982.
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Zit. nach M. Müller, Uber die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, a.a.O., S. 134; vgl. auch Wolfgang Neuser: Die naturphilosophische und naturwissenschaftliche Literatur aus Hegels privater Bibliothek, in: M. J. Petry (Hrsg.), Hegel und die Naturwissenschaften, a.a.O., S. 4 7 9 - 4 9 9 , auf S. 490.
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Johannes Müller, Gedächtnissrede auf Carl Asmund Rudolphi, in: Abhandlungen der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften. Aus dem Jahre 1835, Berlin 1837, S. X V I I - X X X V I I I , auf S. X X V I I I .
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Müller und Hegel
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Jahren fällt das Urteil unter Philosophen und Naturforschern über die idealistische Naturphilosophie und romantische Naturforschung ambivalent aus. Der Zenit der romantischen Naturforschung ist in jenen Jahren überschritten. Schelling verzichtet 1807 ausdrücklich und öffentlich auf weitere naturphilosophische Publikationen: „Seit ich den Mißbrauch, der mit den Ideen der Naturphilosophie getrieben worden, gesehen, entschloß ich mich, das Ganze bis auf eine Zeit, wo jener nicht mehr zu besorgen steht, einzig der lebendigen Mittheilung vorzubehalten." 1 1 Im Herbst 1824 kehrt Müller nach Bonn zurück und habilitiert sich. Seine
Antrittsvorlesung Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer
philosophischen
Naturbetrachtung aus diesem Jahr stößt auf großes Interesse bis in die Gegenwart; sie ist auch für diesen Beitrag eine zentrale Quelle. Die Beziehung Müllers zu Hegel und zur Naturphilosophie soll in der chronologischen Entwicklung an diesem O r t nicht weiter verfolgt werden. Von besonderer Bedeutung wäre in diesem Zusammenhang die leider nicht mehr erhaltene Rektoratsrede von 1848 Über das Verhält-
nis der neuen Richtung in der Naturforschung zu der Philosophie und dem Empirismus der abgelaufenen Epoche.
III. Identität und Differenz von Naturwissenschaft und Naturphilosophie Naturphilosophie ist für Hegel von empirischer Naturforschung unterschieden, die in ihren verschiedenen Dimensionen auf die folgende Weise beschrieben wird: „Was Physik genannt wird, hieß vormals Naturphilosophie, und ist gleichfalls theoretische, und zwar denkende Betrachtung der Natur, welche einerseits nicht von Bestimmungen, die der Natur äußerlich sind, wie die jener Zwecke, ausgeht, andererseits auf die Erkenntnis des Allgemeinen derselben, sodaß es zugleich in sich bestimmt sey, gerichtet ist, - der Kräfte, Gesetze, Gattungen." Auf diese so bestimmte Naturwissenschaft ist Naturphilosophie immanent bezogen: „Indem die Naturphilosophie begreifende Betrachtung ist, hat sie dasselbe Allgemeine, aber für sich, zum Gegenstand, und betrachtet es in seiner eigenen immanenten Nothwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begriffs." Naturphilosophie ist zugleich auf Naturwissenschaft angewiesen: „Nicht nur muß die Philosophie mit der Natur-Erfahrung übereinstimmend seyn, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung." 1 2 Naturphilosophie ist in einem mehrfachen Sinn von der Empirie abhängig: als Voraussetzung, als Bestätigung und bezogen auf den naturwissen11 12
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Kritische Fragmente, in: Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft 2, 1807, S. 303f. G. W Ε Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O., § 246, S. 37
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D I E T R I C H VON E N G E L H A R D T
schaftlichen Fortschritt: „[...] man muß sich mit dem begnügen, was man in der That bis jetzt begreifen kann. Es gibt Vieles, was noch nicht zu begreifen ist; das muß man in der Naturphilosophie zugestehen." 13 Uberhaupt muß in der Natur die Rolle des Zufalls anerkannt werden, die in der Grundbestimmung der Natur als „Idee in der Form des Andersseyns" 14 ihre philosophische Rechtfertigung besitzt: „Die Zufälligkeit und Bestimmbarkeit von Außen hat in der Sphäre der Natur ihr Recht. [...] Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstract zu erhalten, und die Ausführung des Besondern äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen. [...] Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Gränzen, und das Ungehörigste ist, von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen, - und, wie es genannt worden, construiren, deduciren." 15 Abhängigkeit von der Empirie und Übereinstimmung mit ihr dürfen nach Hegel mit philosophischer Begründung jedoch nicht verwechselt werden: „Ein Anderes aber ist der Gang des Entstehens und die Vorarbeiten einer Wissenschaft, ein Anderes die Wissenschaft selbst; in dieser können jene nicht mehr als Grundlage erscheinen, welche hier vielmehr die Nothwendigkeit des Begriffs seyn soll." 1 6 Naturphilosophie heißt metaphysische Grundlegung der Naturerscheinungen, der Naturkräfte und Naturprozesse nach der „Notwendigkeit des Begriffs". „Begreifendes Erkennen" meint die philosophische Vermittlung von Abstraktheit und Konkretheit, von theoretischer Generalisierung und empirischer Individualisierung, der die „sinnige Naturbetrachtung" etwa eines Goethe gegenübersteht, die mit ihren „Urphänomenen" zugleich zwischen Empirie und Metaphysik vermittelt: „In diesem Zwielichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtlich oder greiflich durch seine Sinnlichkeit begrüßen sich die beiden Welten - unser Abstruses und das erscheinende Dasein - einander." 17 Von dem „begreifenden Erkennen" und der „sinnigen Naturbetrachtung" unterscheidet sich wiederum die empirische Naturwissenschaft als Tatsachenerkenntnis, Kausalerklärung und Gesetzesbildung sowie theoretische Systematisierung mit einer entsprechenden Wissenschaftstheorie und Forschungsmethodologie. Aus seinem Verständnis der Beziehung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft entwickelt Hegel eine gedoppelte Kritik an der zeitgenössischen metaphysikfeindlichen Naturwissenschaft wie an der romantischen Naturmetaphysik. 13
Ebenda, Zusatz, S. 119.
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Ebenda, § 247, S. 49.
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Ebenda, § 250, S. 62f.
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Ebenda, § 246, S. 37
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel an Johann Wolfgang Goethe, 24. 2. 1821, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 2, Hamburg 1953, S. 249.
Müller und Hegel
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Der Naturwissenschaft wirft Hegel den Verzicht auf Metaphysik oder die Begrenzung auf eine verständige Naturwissenschaft oder Naturwissenschaft der Verstandeskategorien vor, die sich zugleich absolut setzt. An der romantischen Naturforschung wird die unangemessene Aufeinanderbeziehung von Idee und Wirklichkeit kritisiert: „Es liegt dabei wohl eine dunkle Vorstellung der Idee, der Einheit des Begriffes und der Objectivität, so wie daß die Idee concret sey, im Hintergrunde. Aber jenes Spiel des sogenannten Construirens ist weit entfernt, diese Einheit darzustellen, die nur der Begriff als solcher ist, und ebenso wenig ist das Sinnlich=Concrete der Anschauung ein Concretes der Vernunft und der Idee." 1 8 Verzicht auf Metaphysik führt nach Hegel nicht nur zu einem Auseinanderfallen von Natur und Geist, von Materie und Bewußtsein, von Leib und Seele, sondern ebenso zum Verlust der Einheit der Natur, zur Spezialisierung der einzelnen Naturwissenschaften, zur Verabsolutierung spezifischer Methoden und Disziplinen, zur Verabsolutierung zum Beispiel der Mathematik und der anorganischen Wissenschaften, d. h. etwa zur Reduktion der Organik auf Chemie, Physik oder Mechanik: „Man werfe doch der Philosophie nicht mehr 'ihr Abstrahiren von dem Besondern und ihre leere Allgemeinheiten' vor." 1 9 Entschiedener und grundsätzlicher wird die Naturforschung der Romantik von keinem Naturwissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts kritisiert. Zugleich erfährt mit der Distanz gegenüber der absoluten Idee oder der absoluten Vernunft die Kritik Hegels für die damalige Zeit wie für heute auch wieder eine Relativierung. In allgemeiner und zum Teil auch in wörtlicher Ubereinstimmung mit Hegel bestimmt der Naturforscher und Physiologe Johannes Müller - bei allen ebenso erkennbaren Abweichungen - das Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie und betont die Bedeutung der drei Formen einer formellen, dialektischen und spekulativen Logik für die Physiologie: „Alle diese Formen des Denkens unterwerfen sich dem empirisch bekannt gewordenen Stoff. Und aller empirisch bekannt gewordener Stoff läßt sich, wenn er begriffen werden soll, in jener 3fachen Weise des Denkens betrachten. Durch ihre Anwendung auf die Empirie entsteht die Wissenschaft. Die Physiologie, als die Lehre von dem Wesen, das gegen jede äußere Einwirkung nicht in der Art dieser letztern, sondern in seinen eigenen Energieen thätig ist, kann der Logik des Wesenhaften oder der Speculation wie der Dialectik nicht entbehren." 2 0 18
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, 4. Aufl., Stuttgart - Bad Cannstatt 1964, § 231, S. 441 f.
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G. W Ε Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O.,
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J. Müller, Grundriss, a.a.O., S. IVf.
§ 3 3 0 , S. 411.
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DIETRICH VON ENGELHARDT
Naturphilosophie und Naturwissenschaft sind auch nach Müller aufeinander bezogen und zugleich voneinander unabhängig, ihr Verhältnis besteht aus Differenz und Identität in durchaus spekulativem oder metaphysischem Sinne. Wie bei Hegel findet sich bei Müller die gedoppelte Kritik an einer romantischen Metaphysik der Natur und einer rein empirischen oder, wie man auch sagen könnte, positivistischen Naturwissenschaft, die jede Metaphysik verwirft. Müller mag auch von Hegels Kritik an der romantischen Naturforschung beeinflußt worden sein und nicht nur von der Ablehnung von naturwissenschaftlicher Seite. Der Formalismus der romantischen Naturforschung stößt auf besonderen Widerstand Müllers: „Sie spricht von Polarisationen und Achsen in den lebendigen Dingen, sie thut dieß, indem sie einen bloßen Verstandesbehelf der Physiker auf die lebendige Natur überträgt." 2 1 Neben der falschen Naturphilosophie romantischer Prägung spricht Müller noch von einer mythischen und mystischen Naturbetrachtung, letztere in der Antike besonders von Plato, in seiner Zeit vor allem von Schubert vertreten. Diese Naturphilosophie verdiene Anerkennung mit ihrer transzendenten Orientierung, sie gelange aber ihrerseits nicht zu einer immanenten Verbindung von philosophischer Idee und empirischem Phänomen. Diesen Mangel drückt Müller in einer Weise aus, die unmittelbar an die Hegeische Formulierung von der ideellen Unzulänglichkeit der romantischen Naturforschung erinnert, wenn von ihm festgestellt wird, daß die „mythische Physik vermöge ihrer wesentlichen Tendenz nicht von den ideellen Begriffen zu den vereinzelten Erscheinungen herniedersteigt, um die Idee in ihrer Produktion begriffen zu verfolgen", 2 2 d. h. nicht zur spekulativen Logik vordringt oder sich, wie Hegel sagt, nicht von der „Notwendigkeit des Begriffs" bestimmen läßt. Der falschen Naturphilosophie steht nach Müller die falsche Physiologie gegenüber, die von ihm als „verständige" Physiologie bezeichnet wird, durchaus im Sinne des Hegeischen Wortes von der verständigen Naturwissenschaft oder Naturwissenschaft der Verstandeskategorien. Erst aus der Verbindung mit der Philosophie werde Physiologie zu einer wahren Wissenschaft, nämlich nicht allein als „logische Verbindung empirischer Thatsachen, welche nach den Categorien des Verstandes geordnet sind", 2 3 sondern als eine nach Begriffen konstruierende Gliederung der empirischen Erkenntnisse oder naturalen Phänomene. „Die falsche Physiologie will das Leben aus der Erfahrung erkennen, - die wahre Physiologie 21
Johannes Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung [1824], in: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes der Menschen und der Thiere, Leipzig 1826, S. 13.
22
Ebenda, S. 12.
23
Ebenda, S. 3.
Müller und Hegel
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denkt das Leben in die richtige Erfahrung. Durch die Erfahrung sowohl als durch das philosophische Denken kommt die Physiologie zu Stande, zu sich selbst." 24 Ebenso in Ubereinstimmung mit der Hegeischen Feststellung über das gedoppelte Verhältnis der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft als Abhängigkeit wie Unabhängigkeit heißt es bei Müller über die empirische Orientierung der Physiologie und die transempirische Natur des Begriffs: „Und das ist das wesentliche Moment in der Verbindung der Philosophie mit der Physiologie und mit aller Naturwissenschaft, und zugleich ihre Scheidung, daß die Philosophie der Erfahrung durchaus nicht unmittelbar bedürftig, einer theoretischen Erkenntnis des Lebens fähig ist, die Physiologie aber die Bestimmung hat, die Lebenserscheinungen in ihrer ganzen Vollständigkeit nicht aus der Erfahrung, sondern aus dem Begriff des Lebens sie und somit die Erfahrung zu begreifen. Die Physiologie bleibt nicht bei dem Begriff des Lebens stehen, sondern sowohl der Begriff als die Erfahrung sind ihre Elemente. Sie ist im Besitz der genauesten empirischen Kenntnisse aus allen Gebieten der Naturwissenschaft, aber alle ihre Operationen in der Empirie sind nur, um im Baconischen Sinn recht zu erfahren. Auf dieser Spitze greift das philosophische Denken die Erfahrung auf, um sie zu begreifen." 25 Analog stellt Hegel fest: „Die Naturphilosophie nimmt den Stoff, den die Physik ihr aus der Erfahrung bereitet, an dem Punkte auf, bis wohin ihn die Physik gebracht hat, und bildet ihn wieder um, ohne die Erfahrung als die letzte Bewährung zu Grunde zu legen." 26 Müller nimmt weder Aristoteles noch Leibniz oder Schelling, sondern Hegel und dessen Logik auf, wenn er über das Verhältnis von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem schreibt: „Jenes Allgemeine, welches nicht im Gegensatze ist mit dem Besondern, sondern das Einzelne aus sich hervorbringt, jenes göttliche Leben, welches nicht außer der Natur oder vor der Natur ist und war, sondern, indem es das Endliche schafft, erst göttliches Leben wird, jenes Unendliche, welches nicht neben und über dem Endlichen steht, sondern durch das Begriffenseyn im Schaffen des Endlichen erst ganz ist und immer ganz erhalten wird, dieses ist das Princip der philosophischen Naturbetrachtung und dasjenige allein, was die Philosophie mit der Physiologie verbindet." 27 Eine ähnliche Passage wird sich bei anderen Naturwissenschaftlern der Zeit kaum finden lassen. Das Allgemeine geht nach Müller über das Besondere zum Einzelnen über; zwischen Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem besteht ein dialektischer 24
Ebenda, S. 7.
25
Ebenda.
26
G. W F. Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O.,
27
J. Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie . . . , a.a.O., S. 7f.
§ 346, Zusatz, S. 44.
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Zusammenhang. Terminologische Differenzierung und dialektische Verbindung dieser Begriffe kommen bei Müller vor, ein unmittelbarer Zusammenhang mit den empirischen Phänomenen wird aber nicht hergestellt. Hier ist eine Differenz gegenüber Hegel nicht zu verkennen, die über die Differenz einer mit der Naturphilosophie übereinstimmenden, sich aber an die Empirie haltenden Naturforschung hinausgeht. Eine weitere Differenz liegt darin, daß von Müller die beiden anderen spekulativen Verknüpfungen der Hegeischen Philosophie zwischen Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem nicht angeführt werden, mit anderen Worten die Schlußlogik des Philosophen nur eingeschränkt aufgegriffen wird. Abweichungen dieser Art können die genannten Übereinstimmungen zwischen Müller und Hegel allerdings nicht aufheben; hieran ist kein Zweifel: „Die Physiologie ist keine Wissenschaft, wenn nicht durch die innige Verbindung mit der Philosophie." 28 Auch in der Sprache und in einzelnen Begriffen bewegt sich Müller, vollkommen unabhängig von der Frage der Ubereinstimmung mit einer bestimmten philosophischen Position, in der Epoche des deutschen Idealismus und speziell immer wieder in der Terminologie Hegels. Die Unterscheidung etwa von Verstand und Vernunft nimmt eine gängige Differenzierung der spekulativen Philosophen auf. In seiner skeptischen Einschätzung der Royal Society formuliert Müller in diesem Sinne: „Man hatte, kann man mit einem großen Denker sagen, der Natur den Verstand gegeben, aber man hatte nicht Muth genug, ihr Vernunft zuzutrauen, und der ungeheure Körper wuchs ungleich an Geist und Gliedern." 29 Der große Denker ist ohne Zweifel Hegel, an dessen Sätze aus der Philosophie des Geistes Müller gedacht haben kann: „Vor Kant hat man bei uns keinen bestimmten Unterschied zwischen Verstand und Vernunft gemacht. Will man aber nicht in das die unterschiedenen Formen des reinen Denkens plumperweise verwischende vulgäre Bewußtsein heruntersinken, so muß zwischen Verstand und Vernunft der Unterschied festgesetzt werden, daß für die letztere der Gegenstand das An-und-fürsich-Bestimmte, Identität des Inhalts und der Form, des Allgemeinen und des Besonderen ist, für den ersteren hingegen in die Form und den Inhalt, in das Allgemeine und Besondere, in ein leeres Ansich und in die von Außen an dieses herankommende Bestimmtheit zerfällt." 30
28 29 30
Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 6. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Philosophie. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, in: Sämtliche Werke, Bd. 10, 3. Aufl., Stuttgart 1958, § 467, Zusatz, S. 362.
Müller und Hegel
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IV Empirie und Philosophie des Organismus Die Ubereinstimmungen zwischen Müller und Hegel zeigen sich nicht allein auf der Ebene der ontologischen Logik, der verwendeten Sprache und Begriffe, der allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaft, der Ablehnung einer romantischen Naturmetaphysik wie einer metaphysikfeindlichen Naturforschung, sondern ebenso in zahlreichen Teilbereichen der Natur, bei Müller naturgemäß vor allem im Bereich der Physiologie oder Organik, die nach ihm stets in den Bereich der Psychologie hinüberreicht, in erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragen und schließlich auch in Grundprinzipien einer Historiographie der Naturwissenschaften. Zugleich manifestiert sich in allen diesen Dimensionen die Differenz von Naturphilosophie und Naturwissenschaft im Sinne der von Hegel wie von Müller vertretenen Einheit wie Trennung der metaphysischen oder spekulativ deduzierenden Ebene und empirisch beobachtenden, erklärenden und theoretisierenden Ebene. Schließlich ist auch nicht zu übersehen, daß trotz seiner eindrucksvollen philosophischen Bildung Müller nicht als Philosoph, sondern als Naturwissenschaftler seine Position auf philosophische Begriffe bringt. Die phänomenal-notionale oder spekulative Konstruktion der Natur ist nicht die Aufgabe des empirischen Naturforschers. Naturwissenschaft gerät bei Müller in der Perspektive dieses Verzichts in die Nähe einer Naturästhetik eines Goethe und Alexander von Humboldt und damit in Distanz zu Schelling und noch mehr zu Hegel. Goethe kann einer entsprechenden Beschreibung seines Standpunktes als „sinniger Naturanschauung" durch Hegel zustimmen; das Präsent eines getrübten Glases, an dem sich das Urphänomen der Farbenlehre demonstrieren läßt, verbindet er dem Philosophen gegenüber mit dem geistreich-ironischen Ausdruck: „Das Urphänomen empfiehlt sich dem Absoluten." 3 1 Alexander von Humboldt will ausdrücklich in seinem Kosmos „eine empirische Ansicht des Natur-Ganzen in der wissenschaftlichen Form eines Natur-Gemäldes"32 geben. Müller zitiert seinerseits in der Passage über die „Sinnlichkeit des Naturforschers" aus der Antrittsvorlesung von 1824 zustimmend Humboldts Ansichten der Natur und Goethes Studien im Bereich der Naturforschung und zieht das bezeichnende Fazit: „Der Physiologe erfährt die Natur, damit er sie denke." 3 3 Mit empirischer Beobachtung und induzierendem Verstand läßt sich dieser Wendung nicht gerecht werden; Erfahrung muß hier ebenso als ideelle Erfahrung wie Denken als
31 32 33
Johann Wolfgang Goethe an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 13. 4. 1821, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 2, a.a.O., S.258. Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 1, Stuttgart 1845, S. 50. J. Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie ..., a.a.O., S. 34.
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spekulatives Denken verstanden werden. Müller kann auch Hegels Überzeugung nicht teilen, „dass ein absolutes Erkennen allerdings möglich sey, und dass der reine Gedanke des Geistes durch eine zur Gliederung seiner selbst auch den Dingen in der Natur vollkommen entsprechende Gedanken erzeuge". 3 4 Diese Ablehnung fällt allerdings nicht total aus; absolutes Wissen ist nach Müller auf der Ebene der Methodik möglich. In den empirischen Disziplinen gebe es Phänomene oder Dimensionen an den Phänomenen, in denen nach der mathematischen Logik oder spekulativen Logik verfahren werden könne, die Grenzen dieses Zuganges seien aber ebenso nicht zu übersehen: „Immer bleibt an den natürlichen Dingen ausser dem durch die Sinne erfahrenen und durch den logos zergliederten Eigenschaften das Meiste übrig. Das Wissen dehnt sich hier nicht auf die absolute Erkenntnis des Wesens der Dinge aus, und ist nur insofern absolut, insofern gewisse Schlussfolgen aus einem Grundsatz, sei er Thesis oder Erfahrungssatz, mit absoluter Nothwendigkeit folgen, womit aber nur eine gewisse Reihe von Erscheinungen oder Verhältnissen aufgeklärt i s t . " 3 5 Die unterschiedlichen Bereiche und Themen, die im einzelnen für einen Vergleich zwischen Müller und Hegel zentral sind, können den folgenden fünf Fragen zugeordnet werden, die nach Hegel von einer Philosophie des Organischen beantwortet werden müssen: 1) Entstehung des Organischen aus dem Anorganischen 2) Organische Gestaltung 3) Organische Assimilation 4) Reproduktion, Artenvielfalt, Krankheit und Tod 5) Entstehung des Geistes aus der Natur. Physiologie ist nach dem Selbstverständnis von Müller „die Wissenschaft von den Eigenschaften und Erscheinungen der organischen Körper, der Thiere und Pflanzen, und von den Gesetzen, nach welchen ihre Wirkungen erfolgen". 3 6 Das Wesen des Organismus wird in Auseinandersetzung mit Philosophen der Vergangenheit wie Gegenwart als zweckmäßige Koordination der Teile zur Erhaltung des Ganzen verstanden: „Im Organismus ist also eine die Zusammensetzung aus ungleichen Gliedern beherrschende Einheit des G a n z e n . " 3 7 Die spezifischen Charakteristika des Organismus: „Entwicklung, Wachsthum, Reizbarkeit, Fortpflanzung, Ver-
34
Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840,
35
Ebenda, S. 521.
36
Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, 3. Aufl., Coblenz
37
Ebenda, S. 20.
S. 520.
1838, S. 1.
Müller und Hegel
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gänglichkeit sind allgemeine Eigenschaften und Eigenschaften aller organischen Körper und Folgen der Organisation." 3 8 Die Entstehung des Lebens bleibt nach Müller aber empirisch ein Rätsel oder kann im Rahmen der Naturwissenschaften nicht erklärt werden: „Wie nun zuerst die organischen Wesen entstanden sind, auf welche Art eine Kraft, die zur Bildung und Erhaltung der organischen Materie durchaus nothwendig ist, aber anderseits sich auch nur an organischen Materien äussert, zur Materie gekommen ist, liegt ausser aller Erfahrung und Wissen." 3 9 Was von der Naturwissenschaft nicht geleistet werden kann, soll aber der Naturphilosophie möglich sein: „Indess die Lösung jenes Problems wäre überhaupt nicht die Aufgabe der empirischen Physiologie, sondern der Philosophie." 4 0 In der Naturphilosophie Hegels wird die Entstehung des Lebens aus der unbelebten Natur über die Chemie abgeleitet, in der sich in den neutralen Prozessen als Synthese der synthetischen und analytischen Prozesse der Begriff ergibt, der den organischen Erscheinungen zugrunde liegt: „Diese in Einem aus der Besonderung der unterschiedenen Körperlichkeiten sich hervorbringende concrete Einheit mit sich, welche die Thätigkeit ist, diese ihre einseitige Form der Beziehung auf sich zu negiren, sich in die Momente des Begriffs zu dirimiren und zu besondern, und diese ebenso in jene Einheit zurückzuführen, - so der unendliche sich selbst anfachende und unterhaltende Proceß, - ist der Organismus."41 In Ubereinstimmung mit Hegel wird von Müller an der Besonderheit des Organischen gegenüber der Welt der Chemie und Physik festgehalten: „Empfindung, Ernährung, Zeugung haben kein Analogon in den übrigen physischen Erscheinungen, und dennoch sind die Elemente der organischen Körper solche, welche in die Zusammensetzung der unorganischen Körper eingehen." 4 2 Anorganik unterscheidet sich von Organik, wirkt aber zugleich in ihr weiter. Das mechanistische Wissenschaftsprogramm zahlreicher Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts - ζ. B. auch Du Bois-Reymonds - wird von Müller nicht geteilt. In der Ausdehnung der Physiologie auf die Psychologie, insofern die Seele „nur eine besondere Form des Lebens" 4 3 sei, ist überdies ein romantischer Zug bei ihm zu erkennen. Weitere Studien müssen das physiologische Psychologieverständnis Müllers noch im Detail mit dem ideellen Organismuskonzept und leiblichen Seelenbegriff Hegels, der
38
Ebenda, S. 40.
39
Ebenda, S. 18.
40
Ebenda, S. 19.
41
G. W F. Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O., § 336, S. 445.
42
J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 1.
43
Johannes Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, Coblenz 1826 (Nachdruck: München 1967), S. III.
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Müllers Kritik an der empirischen wie abstrakten Psychologie teilt, in Beziehung setzen. In der allgemeinen Einteilung des Organismus werden von Müller wie von Hegel drei Formen des Organismus unterschieden: der geologische Organismus, der vegetabilische Organismus, der animalische Organismus; auch die Unterscheidung der mechanischen, chemischen und organischen Wirkungsweise in der Natur entspricht der Hegeischen Gliederung der Naturphilosophie in Mechanik, Chemie und Organik. Am animalischen Organismus, seiner individuellen Gestalt und Gestaltung werden von Müller ebenfalls in Ubereinstimmung mit Hegel drei Funktionen differenziert: Reproduktion, Irritabilität und Sensibilität. Diese Reihenfolge, die eher Schellings Auffassung wiedergibt, zumindest einer bestimmten Phase seiner Naturphilosophie, und ihre undialektische Verknüpfung bedingen dagegen eine Differenz zur Naturphilosophie Hegels und ihrer dialektischen Ableitung dieser organischen Funktionen. „Die Reproduction geht durch die Sensibilität und Irritabilität hindurch, und absorbirt sie; so ist sie entspringende, gesetzte Allgemeinheit, die aber, als das Sich-Produciren, zugleich concrete Einzelnheit ist. Die Reproduction ist erst das Ganze, - die unmittelbare Einheit mit sich, in der es zugleich zum Verhältnisse gekommen ist. Der animalische Organismus ist reproductiv; dieß ist er wesentlich, oder dieß ist seine Wirklichkeit." 4 4 Immer spielt nach Müller im Organismus auch ein seelisches Prinzip eine Rolle: „die vernünftige Seele" ist das „primum movens der Organisation", sie ist „der letzte und einzige Grund der organischen Thätigkeit", die Seele baut und erhält „ihren Körper nach den Gesetzen ihrer Wirksamkeit", durch „ihre organische Thätigkeit" geschieht auch „die Heilung der Krankheiten". 4 5 Dieses seelische Prinzip ist aber nicht Bewußtsein oder bewußte Intentionalität, sondern „die nach vernünftigem Gesetz sich äussernde Kraft der Organisation". Der Mediziner Georg Ernst Stahl habe diese Differenz zu wenig beachtet; Seele heißt hier nach Müller: organisierende Kraft, bewußtlos wirkende zweckmäßige Tätigkeit. Die Verbindung zum Bewußtsein ist allerdings gegeben, insofern Müller das Bewußtsein für „ein spätes Erzeugniss der Entwickelung selbst und an ein Organ gebunden" 4 6 hält. Erneut wird auch hier die Grenze des empirischen Wissens betont; in der Naturwissenschaft sei nicht auszumachen, ob diese Kraft des Organismus einmal getrennt von der Materie - als plastische Idee etwa - bestanden habe oder nicht. Die Vielfalt der Arten stellt seit dem 18. Jahrhundert die Frage nach einer Ord44 45 46
G . f E Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O., § 353, Zusatz, S.586. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S.24f. Ebenda, S. 25.
Müller und Hegel
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nung - der systematischen Beziehung, der zeitlichen Verbindung. Wandel wird von Müller zugegeben, Transformation als genealogische Verwandtschaft aber abgelehnt: „Thierarten sind im Verlaufe der Erdgeschichte durch Revolutionen der Erdrinde untergegangen und in den Trümmern vergraben; sie gehören theils ausgestorbenen, theils noch lebenden Gattungen"; es gibt bei den Pflanzen- und Tierarten „keine wahren Uebergänge von einer Art zur andern, von einer Gattung zur andern". 4 7 Auch von Hegel - wie ebenfalls von Schelling - wird die Idee der realen Transformation ausdrücklich verworfen: „Solcher nebuloser im Grunde sinnlicher Vorstellungen wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z . B . der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickeitern Thierorganisationen aus den niedrigem usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen." 4 8 Krankheit ist wie Gesundheit ein Merkmal des Lebens; das 18. Jahrhundert kennt eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, ihr Verhältnis zu bestimmen. Die Elementa Medicinae (1780) John Browns gewinnen bekanntlich große Beachtung und üben auch einen besonderen Einfluß auf die romantischen und naturphilosophischen Konzepte aus. Der schottische Mediziner erfährt bei Müller Anerkennung wie Ablehnung. Insofern Brown „durch Entdeckung einiger Gesetze der Reizbarkeit den ersten Schimmer eines wissenschaftlichen Systems der Medicin in einer noch rohen, für die Anwendung gefährlichen Gestalt" 4 9 entworfen habe, verdiene er Zustimmung. Nicht gutzuheißen sei aber Browns nosologische Differenzierung von asthenischen und sthenischen Krankheiten: „Indessen ist die Krankheit, worin die Lebenskraft vermehrt ist, ein Widerspruch, und es giebt nur unendlich viele locale oder allgemeine Fehler in der Zusammensetzung der organisierten Theile, wobei die allgemeinen Kräfte bald gleich von Anfang darniederliegen, oder im Anfange vorhanden, später abnehmen; daher ist die naturhistorische Eintheilung der Krankheiten nach den afficirten Organsystemen und nach den naturhistorischen Krankheitsbildern die zweckmässigste." 50 Auch in dieser Beziehung stimmt Müller mit Hegel überein, der ebenfalls einerseits Browns Versuch der Systematisierung anerkennt, andererseits aber bedauert, daß Brown das Wesen des Organismus nicht einsichtig gemacht habe. Nach Hegel stehen Krankheit und Tod nicht nur für die Endlichkeit des Individuums, sondern wesentlich zugleich für die Entstehung des Geistes aus der Natur: „Ueber diesem Tode der Natur, aus dieser todten Hülle geht eine schönere Natur, 47 48
Ebenda, S. 26. G. W Ε Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O., § 2 4 9 , S. 59.
49
J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 62.
50
Ebenda, S. 63.
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geht der Geist hervor." 5 1 Müller weist an diesem Punkt wie bei der Genese des Lebens aus der unbelebten Natur auf die Grenzen der Naturwissenschaft hin: „Die Frage, warum die organischen Körper vergehen, und warum die organische Kraft aus den producirenden Theilen in die jungen lebenden Produkte der organischen Körper übergeht und die alten producirenden Theile vergehen, ist eine der schwierigsten der ganzen allgemeinen Physiologie, und wir sind nicht im Stande, das letzte Räthsel zu lösen, sondern nur den Zusammenhang der Erscheinungen darzustellen." 5 2 Eine Nähe zwischen Müller und Hegel zeigt sich schließlich auch im Bereich der Wissenschaftsgeschichte oder der Theorie der naturwissenschaftlichen Entwicklung. Dialektik bestimmt Müllers Vorstellung von der Historie der Physiologie; diese Historie ist nach ihm zugleich Ausdruck oder Beispiel der gesamten Entwicklung der Naturforschung. Unterschieden werden die folgenden Perioden: a) dogmatische Periode: Antike und Mittelalter (Plato, Aristoteles, Epikur, Leukipp, Lukrez, Plotin etc.), b) physikalische Periode: Neuzeit (Kepler, Newton, Euler, Bernoulli etc.), c) physiologische oder theoretische Periode: Goethe, Himly, Troxler, Purkyne. 5 3 Noch grundsätzlicher heißt es über die ideellen Ursachen der historischen Genese der Naturwissenschaften: „Die Revolutionen in der Naturwissenschaft waren nur Veränderungen der Kategorien des Verstandes, der kategorischen Bestimmungen, unter welchen irgend ein Inhalt betrachtet wurde." 5 4 Wie Müller hier nahezu wörtlich Hegel aufgreift, belegt das folgende Zitat aus der Hegeischen Naturphilosophie über die Logik der Wissenschaftsgeschichte: „Alle Revolutionen, in den Wissenschaften nicht weniger, als in der Weltgeschichte, kommen nur daher, daß der Geist jetzt zum Verstehen und Vernehmen seiner, um sich zu besitzen, seine Kategorien geändert hat." 5 5
V Fazit Die Epoche um 1800 ist im Blick auf das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Philosophie überaus komplex; im besonderen Maße trifft dieses für die Biologie und Medizin zu, da diese beiden Disziplinen neben dem Verhältnis zur Philosophie auch noch in ihrer Beziehung zu den anorganischen Wissenschaften, der Physik und Chemie und den Geisteswissenschaften der Psychologie und Anthro51 52 53 54 55
G . W F. Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O., § 376, S. 719. J . Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 34. J. Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie ..., a.a.O., S. V I - X I X . Ebenda, S. 8. G . W F. Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, a.a.O., § 246, Zusatz, S.45.
Müller und Hegel
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pologie stehen, da Medizin schließlich nicht nur eine theoretische, sondern stets auch eine praktische Disziplin darstellt. Die wesentlichen Positionen jener Epoche sind: transzendental-mathematische Naturphilosophie, metaphysisch-spekulative Naturphilosophie, szientifische Naturphilosophie als Wissenschaftstheorie oder Methodologie der Naturwissenschaften, romantisch-metaphysische Naturforschung, empirische oder positivistische Naturforschung. Neben der transzendentalen Naturphilosophie von Kant und Fries steht die metaphysische Naturphilosophie in der spekulativen Form von Schelling und Hegel und der romantischen Form von Oken, Ritter, Schubert, Oersted, Steffens, um nur einige wichtige Vertreter dieser Richtung zu nennen. Das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Naturwissenschaft, was nach dem wissenschaftlichen Glaubensbekenntnis von Du Bois-Reymond Zurückführung der Naturerscheinungen auf Mechanik bedeutet, gibt die Idee einer Einheit von Philosophie und Naturwissenschaften als Identität und Differenz auf. Eine raffinierte Absicht vermutet Hegel, wenn er in der Einleitung seiner Naturphilosophie schreibt: „Es geschieht nicht selten, daß Mißbrauch und Verkehrung der Philosophie denjenigen, welche vom Hasse gegen die Philosophie befangen sind, erwünscht ist, weil sie das Verkehrte gebrauchen, um die Wissenschaft selbst zu verunglimpfen, und ihr gegründetes Verwerfen des Verkehrten auch nebuloser Weise dafür geltend machen wollen, daß sie die Philosophie selbst getroffen haben." 5 6 Der Verzicht auf die Verbindung geht aber nicht nur auf die Naturwissenschaft zurück. Die Philosophie selbst zieht sich von den Naturwissenschaften zurück, resigniert in gewisser Weise angesichts der empirischen Fülle. Bezeichnend sind die Sätze, mit denen der Hegelschüler Karl Rosenkranz seinen Vortrag auf der Naturforscher- und Arzteversammlung von 1843 einleitet: „Nur das Bewußtsein, einen Gegenstand zu verhandeln, welcher in der That von Seiten der Naturwissenschaft eben so viel Aufmerksamkeit, als von Seiten der Philosophie verdient, einen Gegenstand, der noch in der Verhandlung schwebt, läßt mich den Muth gewinnen, es neben jenen Männern zu wagen." 5 7 In dieser Perspektive besitzt das Verhältnis zwischen Hegel und Müller oder der spekulativen Naturphilosophie und empirischen Physiologie eine besondere Aussagekraft. Andere Naturforscher könnten ebenfalls herangezogen werden, die sich ihrerseits nicht auf empirisch-sensualistische, kantianische oder neukantianische Fundierungen reduzieren lassen, die vielmehr mit ihren empirischen Forschungen spekulativen Ideen und Deduktionen nahestehen oder sich mit ihnen vermitteln 56 57
Ebenda, S. 30. Karl Rosenkranz, Die Knotenlinie von Maaßverhältnissen 1843, in: Studien, Bd. 2, Leipzig 1844, S.63.
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lassen. Zu diesen gehören ζ. B. in der Biologie von Baer und Purkyne, denen sich Müller bekanntlich sehr verbunden gefühlt hat. Noch 1862 setzt sich Purkyne in einer Studie in der Zeitschrift ϊ,ίνα für die Hegeische Logik und ihren Wert für die empirische Naturforschung ein. 5 8 Im Blick auf die weitere Entwicklung des 19. Jahrhunderts kommt ohne Zweifel auch Haeckel und Ostwald wie schließlich den morphologischen und vitalistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung zu. Die Urteile über die Bedeutung der Philosophie bei Müller erweisen sich stets als Urteile zugleich über die Urteilenden. Du Bois-Reymond schätzt den Einfluß Hegels auf Müller für gering ein: „Er war aber in seiner Bahn als empirischer Forscher schon weiter fortgeschritten, als dass die Hegel'sche Lehre bei ihren abstracten Ausgangspunkten sich seiner hätte bemächtigen können. Auch findet man von einer Einwirkung dieser Lehre in seinen nächstfolgenden Schriften keine weitere Spur, als hier und da einen Anklang an Hegel'sche Terminologie, wie sie in der wissenschaftlichen Sprache jener Periode häufig sind." 5 9 Adolf Trendelenburg hält Müller für aristotelisch in Methode, Beobachtung und Prinzipien. 60 Aus der Perspektive des eigenen Wissenschaftsverständnisses urteilt Wilhelm Haberling in seiner Müller-Biographie aus dem Jahre 1924: „Auch bei dem Philosophen Hegel hörte er damals, ohne jedoch durch dessen Leben irgendwie beeinflußt zu werden." 6 1 Die Reihe dieser Interpretationen soll nicht fortgesetzt werden; ihre Perspektive und ihre Akzentuierungen sind offensichtlich.
58
Jan Evangelista Purkyne, Ustavy ν lüne akademie zrizene budtez näsledujici: 13. Ustav filosoficky, in: Ziva 10, 1862, S. 264; zu Purkyne vgl.: Josef Benes, Purkynuv odkaz ve vede a filosofii, Praha 1957; John R . Berg/Josef Sajner, J . E. Purkyne as a Piarist Monk, in: Bulletin of the History of Medicine 49, 1975, pp. 3 8 1 - 3 8 8 ; Dietrich v. Engelhardt, The Concept of Life and Organism in Hegel and Purkyne, in: Jan Evangelista Purkyne in Science and Culture. Scientific conference Prague, August 26th to 30th, 1987, vol. 2, Praha 1988, pp. 9 5 5 - 9 6 6 ; Vladislav Kruta, Georg Wilhelm Friedrich Hegel a Jan Evangelista Purkyne, in: Filosoficky Casopis 13, 1965, S. 2 8 2 - 2 8 4 ; I. Liskutin, J . E. Purkyne a Novalis, in: J . E. Purkyne 1787-1937, Praha 1937, S. 2 0 8 - 2 5 5 ; J . E. Purkyne (Vladislav Kruta, J . E. Purkyne - der Gelehrte und sein Schaffen; Mikuläs Teich, Die Weltanschauung J . E. Purkynes), Prag 1962; Richard Toellner, Naturphilosophische Elemente im Denken Purkynes, in: J . E. Purkyne. 1787-1869. Centenary Symposium, Prague September 8th to 10th, 1969, Brno 1971, S. 3 5 - 4 1 ; Erich Witte, Beitrag zur Kenntnis der Bildung von Purkyne, in: Sudhoffs Archiv 35, 1942, S. 3 4 8 - 3 5 6 .
59
E. D u Bois-Reymond, Gedächtsnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S. 156.
60
Zit. nach: Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu
61
Wilhelm Haberling, Johannes Müller. Das Leben des rheinischen Naturforschers,
Berlin, Bd. 2, Halle 1910, S . 4 6 6 . Leipzig 1924, S . 5 3 .
Müller und Hegel
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Das Verhältnis von Müller und Hegel läßt sich nach der vorliegenden Studie in den folgenden Momenten resümieren: 1. Müller wie Hegel lehnen eine positivistische Naturwissenschaft wie romantische Naturforschung ab und setzen sich zugleich für eine Verbindung von Philosophie und Naturforschung als Identität und Differenz ein. 2. Müller wie Hegel bestimmen diese Verbindung begrifflich und terminologisch in der Perspektive einer idealistischen Metaphysik der Natur; dieser Hintergrund ist auch für die Rezeption früherer philosophischer Positionen bei Müller gültig. 3. Die Ubereinstimmungen zwischen Müller und Hegel lassen sich auf verschiedenen Ebenen verfolgen: in der Ontologie (Allgemeines-Besonderes-Einzelnes), in der Naturphilosophie (Metaphysik-Empirie, Materie-Geist, Anorganik-Organik), in der Biologie (Organismusverständnis, Artenkonstanz, Leib-Seele-Beziehung), im Begriff der Wissenschaftsgeschichte. 4. Die ebenso bestehenden Differenzen, die nicht auf den Unterschied zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft zurückgehen, beziehen sich vor allem auf Müllers Distanz gegenüber dem spekulativen Verständnis der absoluten Idee und bringen ihn in eine spezifische Nähe zu Goethe und Alexander von Humboldt. 5. Als Vertreter einer Generation, deren Entwicklung jenseits des Zenits der romantisch-idealistischen Bewegung einsetzt und den Ubergang in das empirischpositivistische Zeitalter darstellt, hält sich Müller in seinen Publikationen mit naturphilosophischen Passagen zurück, die sich gleichwohl immer wieder in seinem Werk nachweisen lassen. 6. Aus der Abkehr von der romantisch-idealistischen Epoche und ihrer Aufeinanderbeziehung von Metaphysik und Empirie folgen historisch und in gewissem Maße auch systematisch notwendig die Verabsolutierung der Naturwissenschaften und Unterordnung der Welt des Lebendigen unter Mechanik und Physik. 7. Die Verbindung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft im Denken der Epoche um 1800 kann heute theoretisch wie praktisch anregend wirken theoretisch in der Aufeinanderbeziehung von transzendentalen und metaphysischen Prinzipien und empirisch-kausaler Naturforschung, praktisch in der Verbesserung des Verhältnisses von Mensch und Natur im Sinne eines gemeinsamen Schicksals.
BRIGITTE L O H F F
Johannes Müller und das physiologische Experiment
I. Vorbemerkungen Faßt man die Bemerkungen zusammen, die noch immer häufig in der Sekundärliteratur zu lesen oder in wissenschaftlichen Diskussionen zu hören sind, so stehen folgende Bewertungen über Johannes Müller unveränderlich stets im Raum: Er war zeit seines Lebens mehr Vitalist als physikalistisch orientierter Naturwissenschaftler, und infolgedessen stand er auch dem naturwissenschaftlichen Experiment in der Physiologie eher abgeneigt gegenüber. 1 Mit dieser Bewertung wird jedoch von den Autoren nicht die ihm zuerkannte Rolle in der Geschichte der Medizin angezweifelt. Sie erscheint mir nur so, als ob aus der Sicht der nachfolgenden Generation ein gewisser „Wermutstropfen" der uneingeschränkten Wertschätzung beigefügt werden müßte. Wenn man sich längere Zeit mit dem Werk und der Person Müllers beschäftigt hat, so fragt man sich, welche Funktion eine solche „Meinung" in der medizinhistorischen Forschung einnimmt. Ihren Anfang genommen hat diese Bewertung der Auffassung Müllers zum physiologischen Experiment mit dem biographischen Nachruf seines Schülers Emil du Bois-Reymond. 2 Ohne auf du Bois-Reymonds Äußerungen direkt Bezug zu nehmen, haben sich doch die späteren Biographen direkt oder indirekt dieser Einschätzung der Leistungen Müllers als eines Physiologen angeschlossen, der die Physiologie noch nicht als eine reine Naturwissenschaft aufgefaßt habe. Ein anderer möglicher Grund für das Beharrungsvermögen dieser Einschätzung
1
Aus philosophischer Sicht hat die Arbeit Martin Müllers,"Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müllers" (Leipzig 1927), dazu beigetragen, ihn in die Reihe der philosophierenden Physiologen einzureihen. Vgl. auch Karl Eduard Rothschuh, Geschichte der Physiologie, Berlin 1953, S. 118ff.; Gottfried Koller, D a s
2
Leben des großen Biologen Johannes Müller (1801-1858), Stuttgart 1958, S.46ff. Emil du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, in: Reden, hrsg. von Estelle du Bois-Reymond, 2. Aufl., Leipzig 1912, Bd. 1, S. 135-317
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liegt wohl in der Auffassung dessen, was der jeweilige Interpret des Müllerschen Werkes in einem idealtypischen Sinne als physiologisches Experiment definiert. Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Bewertung der experimentellen Forschung für die Medizin. Bezüglich der Erwartungshaltung, die an die Aussagefähigkeit dieser Methode gestellt wurde, um zu Erkenntnissen über die Natur - besonders der organischen Natur - zu gelangen, nimmt Müllers Werk eine Mittler- oder Übergangsposition zwischen der aus der Kritischen Philosophie und Naturphilosophie her bestimmten Rolle des Experiments im Erkenntnisprozeß und der des Positivismus ein. Die Art und Weise, wie physiologische Fragen experimentell behandelt wurden, hat sich in den letzten 150 Jahren gewiß sehr verändert. Ebenfalls setzten sich die Philosophen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße mit dem Experiment auseinander. 3 Erstaunlich ist zumindest, daß in keiner anderen Wissenschaft als in der Physiologie eine so strikte Trennungslinie zwischen der noch nicht ganz richtigen naturwissenschaftlichen und der richtigen Forschungsmethodik von seiten der Forscher und auch der Wissenschaftshistoriker gezogen wurde. Hier liegt die Vermutung nahe, daß es vielleicht an dem steten Streben der Mediziner liegt, als „ordentliche" Naturwissenschaftler anerkannt zu werden. U m nun Müllers Überlegungen über das Experiment einordnen zu können, sollten nicht nur seine eigenen Aussagen zu dieser Thematik herangezogen werden. Ebenfalls können die Bewertungen seiner Schüler kein hinreichendes Kriterium sein, um als Maßstab für sein Verständnis und seinen Anspruch an diese Forschungsmethode zu dienen. Die Bemühungen der Generation von Ärzten aus der Zeit der Romantik, die sich mit dem Experiment als einem Weg, um Einsichten über die Natur zu gewinnen, auseinandergesetzt haben, müssen dabei berücksichtigt werden. D a Müller von ihnen ausgebildet wurde, läßt sich besser erkennen, inwieweit seine Haltung mit der ihrigen übereinstimmte und worin sie abwich. Folgende Thesen leiten den weiteren Gang der Darstellung: 1) Die erkenntnistheoretische Begründung für den Einsatz des Experiments als
3
D i e A n f ä n g e einer „experimental p h i l o s o p h y " , die sich seit dem 17. Jahrhundert hauptsächlich in England mit dem Experiment im G e g e n s a t z z u m Wunder auseinanderzusetzen begann, ist von Peter D e a r in seinem Artikel „Miracles, experiments, and the ordinary course of nature", in: Isis 81, 1990, p p . 6 6 3 - 6 8 3 , dargestellt worden. D i e vornehmlich aus d e m Kreis der Wissenschaftstheoretiker und der neueren Erkenntnisphilosophie vorgelegten Analysen z u m Experiment wurden notwendig, als mit der Formulierung der nicht-euklidischen Geometrie und vor allem der Relativitätstheorie
wahrnehmbare
Erscheinungen und experimentelle Beobachtungen neu definiert werden mußten. Erinnert sei hier an die Arbeiten von H u g o Dingler, Ernst Cassirer und des Wiener Kreises.
Müller und das physiologische Experiment
107
unabdingbare Voraussetzung für eine tiefere Erkenntnis der Natur erfolgte sowohl in der Kritischen Philosophie Kants als auch in der Naturphilosophie Schellings. 2) Bei den Physiologen in der Zeit der Romantik bestanden keine prinzipiellen Vorbehalte gegenüber dem Einsatz des Experiments in ihrer Wissenschaft. Diskutiert wurde über Erkenntniswert und Grenzen dieser Methode, um Einsichten über die Funktion des Organismus zu gewinnen. Hierbei bezogen sich die Arzte auf die philosophischen Ansätze von Kant und Schelling. 3) Müller formulierte auf der Basis dieser Diskussion seine Forderungen an die experimentelle physiologische Forschung, und er konkretisierte diese Forderungen an ausgewählten Experimenten, um zu zeigen, wie weit die Aussagekraft des physiologischen Experiments reicht. O b durch wissenschaftliche Experimente allein die Tätigkeit des lebendigen Organismus erklärt werden kann, wird von Müller noch in Frage gestellt. 4) Die nachfolgende Physiologen-Generation erweitert das Spektrum und die Methode physiologischer Experimente. Rechtfertigungsstrategien und erkenntnistheoretische Begründungen über eine Grenze der experimentellen Erforschung des Organismus entfallen.
II. Überlegungen zum Experiment in der Philosophie Die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft formulierten Überlegungen zum Experiment sind zweifellos wegweisend für alle weiteren Betrachtungen und Analysen gewesen. Ohne die von Kant vorgelegte philosophische Begründung, daß der Experimentator die Natur „zwingen" müsse, auf seine Fragen zu antworten, ließen sich die Erwartungen und die Rechtfertigungen, jede Art von Experiment durchführen zu können, um die Natur zu erkennen, nicht verstehen. Kant schreibt in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Sie [die Naturforscher] begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie [ . . . ] die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht sich aber gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse [...]. Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach den allein übereinkommend Erscheinungen für Gesetze gelten können, in der einen Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen [den Prinzipien der Vernunft] ausgedacht, in der anderen Hand, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." 4 Gerät die Vernunft jedoch mit sich selbst in „Widerstreit", so dient das Experi4
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, hrsg. von W Weischedel, Darmstadt 1975, Bd. 4, S. Β X I V
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ment dazu, diesen Widerstreit aufzuheben. (Gerät die Vernunft nicht in diesen Widerstreit, so bedarf sie nicht des Experiments.) N u r sie allein liefert erst den Entwurf, der mittels des Experiments geprüft werden kann und somit eine „Gegenprobe" für die Wahrheit der Vernunfterkenntnisse ist. Die enge Verknüpfung zwischen dem Entwurf der Vernunft, der letztlich nur eine Bestätigung oder Widerlegung durch das Experiment erfährt - das Experiment allein kann zu keinen weitreichenden Einsichten über die Natur führen - , wird auch in der Naturphilosophie Schellings dargelegt. Ohne auf die naturphilosophischen Ideen der „Konstruktion der letzten Ursachen der Naturerscheinungen" einzugehen, 5 sei auf das folgende Zitat aus der Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799 verwiesen: „Die Natur muß also gezwungen werden, unter bestimmten Bedingungen, die in ihr gewöhnlich entweder gar nicht oder nur durch andere modificirt existiren, zu handeln. Ein solcher Eingriff in die Natur heißt Experiment. Jedes Experiment ist eine Frage an die Natur, auf welche zu antworten, sie gezwungen wird. Aber jede Frage enthält ein verstecktes Urtheil a priori; jedes Experiment [...] ist Prophezeiung, das Experimentiren selbst eine Hervorbringung der Erscheinungen." 6 Die Nähe zu Kants Definition des Experiments ist unübersehbar. Der Vorwurf, daß Naturphilosophie gleichzusetzen sei mit Experimentierfeindlichkeit, läßt sich zumindest auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Diskussion nicht halten. Daß diese Methode zu Erkenntnissen über die Natur führen kann, wird sowohl bei Kant als auch bei Schelling damit begründet, daß die Natur nach dem Prinzip der Kausalität geordnet und deshalb erkennbar und dem Erkenntnisvermögen der Vernunft zugänglich ist. 7 5
Vgl. dazu Brigitte L o h f f , D i e Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik, Stuttgart 1990, bes. K a p . 7. 2.
6
Friedrich Wilhelm J o s e p h Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie [1790], D a r m s t a d t 1975, S. 276. F ü r die Frage, o b die Ä r z t e in der Zeit der Romantik aus der Kantischen oder auch aus der Schellingschen Philosophie eine B e g r ü n d u n g für ihr eigenes Handeln ableiten konnten, ist es nicht notwendig, die unterschiedlichen Naturbegriffe dabei zu berücksichtigen. D i e s e Unterschiedlichkeiten lassen sich nur aus der Kenntnis des G e s a m t w e r k s begründen, sind also ein Ergebnis der philosophiegeschichtlichen
Interpretation. D a n e b e n
dürften auch in der Zeit
der
Romantik Nicht-Philosophen unter dem gleichen Nützlichkeitsaspekt philosophische Schriften „ b e n u t z t " haben, wie wir es heute mit modernen Philosophien in gleicher Weise tun (vgl. ζ. B. Poppers Falsifikationskriterium oder K u h n s Paradigmabegriff). 7
G r u n d a n n a h m e f ü r derartige Ü b e r l e g u n g ist, daß die Geordnetheit der Vernunft bzw. Ideen der vorgegebenen O r d n u n g in der N a t u r entspricht ( „ O r d o et connexio idearum idem est, ac ordo et connexio r e r u m " - Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata, Prop VII, 1677). D a s Problem, o b die organische N a t u r auch ausschließlich dem K a u s a -
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III. Das Experiment aus der Sicht der Physiologen in der Zeit der Romantik In der Zeit der Romantik fand eine erstaunlich intensive Auseinandersetzung seitens der Arzte über die Rolle des Experiments in der medizinischen Forschung statt. 8 Sowohl der Einfluß der Kritischen Philosophie als auch der der Naturphilosophie ist dabei deutlich nachzuweisen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, besteht bei den Ärzten Einigkeit darüber, daß das Experiment in Medizin und Physiologie eine unverzichtbare Methode zur Erforschung des Organismus sei. Allerdings fragte man sich, welche „Tiefe" der Erkenntnis man mittels dieser Methode erreichen und ob man durch das Experiment die Gesetze des Organismus (der Natur) erkennen könne. Hier unterscheiden die Physiologen deutlich zwischen der Erkenntnis von Naturzusammenhängen und der Entdeckung von Gesetzen. Mittels der experimentellen Forschung ist es nur möglich, verdeckte Zusammenhänge in der Natur der Wahrnehmung zugänglich zu machen. Durch Experimente allein lassen sich keine Naturgesetze entdecken, doch wird der Wissenschaftler in die Lage versetzt, Ursache und Wirkung zu entschlüsseln und einzelne Kausalketten nachzuweisen. Das, was durch das Experiment erfahren wird, entspricht nicht einer „sinnlichen Wahrnehmung, sondern [ist] ein absichtlicher Beweis der Uebereinstimmung unseres Urtheils mit der äußeren Natur". 9 Hier wird der Einfluß der Kritischen Philosophie erkennbar, da die „Urtheile", d.h. die theoretischen Entwürfe und Hypothesen, die der Forscher über den zu untersuchenden Gegenstand hat, entscheidend den Verlauf des Experiments und seine Interpretation beeinflussen. Besonders deutlich wird dieser Bezug zu Kants Definition des Experiments, wenn der Dorpater Physiologe C. A. Weinhold schreibt: „Eine Erfahrung mit einer getroffenen Vorbereitung heißt ein Versuch, dabey muß ein gewisser Vorsatz seyn, daß man wirklich durch den Versuch darauf ausgehe, der Natur eine Frage vorzulegen, und hierbey kommt wieder alles darauf an, daß man die Natur recht fragt. Was
8 9
litätsprinzip folgt, wird von Kant in der „Kritik der Urteilskraft" so beantwortet, daß in diesem Bereich zusätzlich ein teleologisches Prinzip gelten müsse. Für Schelling wird dieses Problem durch die Unterscheidung in natura naturata und natura naturans von vornherein teleologisch aufgefaßt. Vgl. B. Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie ..., a.a.O., S. 150-168. Karl Georg Neumann, Von der Natur des Menschen, oder Belehrung über den inneren Organismus des menschlichen Körpers und seines Geistes für alle gebildeten Menschenklassen, Berlin 1815, Bd. 1, S. 13.
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der Zufall herbeyführt, ist kein Versuch, weil der Vorsatz nicht war." 1 0 Aufgabe des Experimentators ist es, das Zufällige vom Wesentlichen bei einer experimentellen Beobachtung zu unterscheiden, was er nur mit Verstand und Vernunft zuwege bringt. Mittels der Vernunft und durch das Experiment die Natur zu „rekonstruieren", wie sie „wirklich" ist, läßt sich als uneingeschränkte Grundannahme bei den Wissenschaftlern in der Zeit der Romantik nachweisen. Bei der Vielfalt der wissenschaftsphilosophischen Betrachtungen der Arzte zur Rolle des Experiments in der Medizin sind auch Überlegungen zum Einfluß des Experimentators auf den experimentellen Aufbau und die daraus resultierenden Untersuchungsergebnisse formuliert worden. Es hat eine intensive Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen des Experiments im Erkenntnisprozeß und die Rolle des Experiments auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen im Gegensatz zur „reinen Beobachtung" gegeben. Diese sehr allgemeinen Reflexionen, die für jede experimentelle Wissenschaft gelten können, sind auch durch einige spezielle Überlegungen zum Experiment in der Medizin ergänzt worden. Neben immer wieder geäußerten ethischen Bedenken, die gegen das physiologische Experiment vorgebracht wurden, ist vor allem auf die Begrenztheit der Aussagen über die Funktion des Organismus durch das Experiment hingewiesen worden: „Bei allen schätzenswerthen Vortheilen, welche uns das Oeffnen lebender Thiere gewährt, bleibt daher bei manchen in der Oeconomie des ganzen Organismus höchst merkwürdige Erscheinung zurück, über welche diese Art Versuche keinen Aufschluss geben." 1 1 Mit dieser eher skeptischen Haltung schließen sich Physiologen der Position Schellings an, der den Wert der empirischen (experimentellen) Forschung für das Verständnis der Grundkräfte der organischen Materie grundsätzlich in Frage stellte. Die experimentelle Forschung am lebendigen Organismus muß für ihn zweideutig bleiben, da sich nicht entscheiden läßt, ob Grund- oder nebensächliche Wirkungen organischer Tätigkeit erforscht werden. Diese kritische Haltung läßt sich nur auf dem Hintergrund der Philosophie des Dynamischen verstehen, d. h. des Prinzips der ständigen Veränderung und Bewegung, die vornehmlich alles Belebte kennzeichnet. 12 Daraus ergibt sich, daß ein physiologisches Experiment anders gelagerte Probleme aufwirft als ein physikalisches oder chemisches. 10 11 12
Carl August Weinhold, Cyclus, ein Versuch über die menschliche Cultur des Menschengeschlechts, in der Wissenschaft und Kunst, Magdeburg 1822, S. 158. Ignaz Döllinger, Uber die Fortschritte, welche die Physiologie seit Haller gemacht hat, München 1824, S. 17. Vgl. B. Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie ..., a.a.O., S. 147. Die größte Nähe in der Entwicklung der realen Natur zum Prinzip des Absoluten ist für die Naturphilosophen das Prinzip der Tätigkeit. Organismen enthalten im Gegensatz zu anderen Naturobjekten in sich dieses Prinzip. Durch ständiges Tätigsein,
Müller und das physiologische Experiment
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Damit standen die Ärzte in der Zeit der Romantik vor dem Problem, daß das physiologische Experiment einerseits der wichtigste Weg war, tiefere Einsichten in das „innere Funktionieren" des Körpers und in seine Gesetze zu gewinnen, andererseits aber nur begrenzt aussagekräftig war, weil der Organismus als Ganzes nicht erfaßt werden kann. Sie erkannten also, daß das Experiment notwendig und unumgänglich war, der Objektbereich, den sie damit untersuchten, aber nur begrenzt dadurch erforscht werden konnte.
IV Müllers wissenschaftstheoretische Position Der enorme Einfluß Müllers als Lehrer ist sicherlich nicht nur mit dem Erfolg seiner Forschungsergebnisse zu erklären, sondern auch mit seiner Rhetorik und vor allem mit seinem Wissenschaftskonzept. 1 3 Dabei mußte der Anspruch von Wissenschaftlichkeit an der Praxis wissenschaftlicher Forschung gemessen werden, damit das Konzept den zeitgenössischen Forschern einleuchtete und als Leitlinie für deren konkrete Forschungsarbeit dienen konnte. Aus diesem Grunde ist eine Analyse von Müllers wissenschaftstheoretischer Position erforderlich. Der Begriff der Wissenschaftsphilosophie wird hier bewußt vermieden, denn es soll nicht danach gefragt werden, inwieweit Müller von der aristotelischen, Kantischen oder Schellingschen Philosophie beeinflußt worden ist. Im Vordergrund steht die Frage, welche Kriterien Müller für eine an der Wissenschaft orientierte Physiologie aufstellte. Es wird also nach seiner Interpretation von Begriffen wie Beobachtung, Experiment und Theorie im Verhältnis zum Erkenntnis gewinn zu fragen sein. Als erstes wäre zu untersuchen, ob Müller in seiner Vorstellung von den biomedizinischen Wissenschaften einem bestimmten Paradigma folgte. 1 4 Daß diese sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einem physikalischen Reduktionismus verschrieben haben, ist wohl unwidersprochen. Hierin hat Müller keine eindeutige oder einseitige Position bezogen. Einerseits vertritt er einen Physikalismus in der Physiologie, auf der anderen Seite scheinbar einen Vitalismus. Charakteristisch Veränderung läßt sich Lebendiges jedoch nicht fixieren. Das Experiment funktioniert nur, wenn Zustände fixiert werden. 13
Brigitte Lohff, Hat die Rhetorik Einfluß auf die Entwicklung einer experimentellen Biologie gehabt?, in: Disciplinae Novae. Zur Entstehung neuer Denk- und Arbeitsrichtungen in der Naturwissenschaft. Festschrift zum 90. Geburtstag von Hans Schimank, hrsg. von Chr. J. Scriba, Hamburg 1979, S. 127-146.
14
Den Wandel des Paradigmas in den biomedizinischen Wissenschaften untersuchte ich in der Arbeit: Fortschritt mit der Wissenschaft. Wissenschaft ist Fortschritt. Der Wandel des Fortschrittsbegriffs in der Medizin im 19. Jahrhundert, in: W Deppert, H . Kliemt, B. Lohff, J. Schaefer (Hrsg.), Wissenschaftstheorien in der Medizin. Ein Symposium, Berlin 1992, S. 3 2 8 - 3 6 3 .
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dafür sind bereits die ersten Sätze im ersten Band seines Handbuches der Physiologie des Menschen, in denen er die Physiologie als eine Wissenschaft beschreibt, die die Gesetze der Organismen zu erforschen hat. Er stellt sich aber sogleich die Frage, ob diese Gesetze von der gleichen Gestalt seien, wie sie in der Physik oder Chemie vorliegen, oder ob die zugrundeliegenden Gesetze des Körpers von anderer Art seien. Damit hat Müller noch keine eindeutige Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten getroffen, das Ziel physiologischer Forschung im voraus festzulegen. Gerade in den ersten Kapiteln seines Handbuches begibt er sich auf die Suche nach einer Beantwortung dieser offenen Frage und damit natürlich auch nach der Zielsetzung - die sich ja mit der Formulierung eines Paradigmas zwangsläufig ergibt - , wenn er die Physiologie in ihrer Wissenschaftlichkeit definieren will. Es ist von den Schülern und auch von Interpreten des Müllerschen Konzeptes der Physiologie möglicherweise folgendes fehlgedeutet worden: Müller beschäftigt sich im ersten Teil seines Handbuches ausführlich mit Problemen wie der generatio aequivoca oder mit dem Verhältnis der Teile und des Ganzen. Er diskutiert in extenso, ob das Ganze des lebendigen Körpers aus den Kräften der einzelnen Teile oder als Produkt organischer Kräfte zu verstehen sei. Er diskutiert, ob eine „vernünftige Schöpfungskraft" oder eine Kraft vorstellbar sei, die unabhängig von den einzelnen Teilen des Organismus wirkt und die zusätzlich zu den bekannten physikalischen Grundkräften vorhanden sein müsse, wenn man das Lebendige erfassen will. In den 98 Seiten der Prolegomena durchstreift Müller alle Fragen, die sich bei der Betrachtung über die Entstehung des Lebens und die Einwirkung spezieller Kräfte stellen. Diese Themen beschäftigten auch die Physiologen in der Zeit der Romantik in vielfältiger Weise. Die „großen" Fragen nach der Entstehung des Lebens, der organischen Materie, der Lebenskraft, dem Galvanismus und all den anderen Kräften von Zeugung, Entwicklung und Lebenserhaltung standen zu jener Zeit im Vordergrund, wenn man sich mit den Möglichkeiten und Aufgaben physiologischer Forschung auseinandersetzte. Daran Schloß sich für die Wissenschaftler in der Zeit der Romantik die Überlegung an, ob eine Physiologie diese Fragen zu beantworten hätte oder ob diese nicht mehr in ihren Aufgabenbereich fallen. 15 Müller greift diese Fragen auf, ohne von vornherein so zu tun, als lägen sie „außerhalb" eines wissenschaftlichen Diskurses in der Physiologie. In den jeweiligen Fragenkomplexen stellt er dem Leser alle möglichen Theorien und Hypothesen vor, die noch zu seiner Zeit in der Literatur nachzulesen waren. Er kommentiert, diskutiert und reflektiert, ob die eine oder andere Ansicht haltbar, angemessen oder wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich sei. 15
Vgl. B. Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie ..., a.a.O., S. 23-26, 203-208.
Müller und das physiologische Experiment
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Dieses führte bei den Schülern und auch späteren Rezensenten zu dem Mißverständnis, daß er noch mehr naturphilosophischer als naturwissenschaftlicher Physiologe gewesen sei. Denn nach Müller hat sich kein Verfasser eines Lehrbuchs mehr in dieser Ausführlichkeit darum bemüht, solche auf dem Grenzgebiet zwischen Physiologie und Philosophie liegenden offenen Probleme zu erörtern, gerade weil sie sich nicht mechanistisch oder physikalistisch beantworten ließen. 1 6 Ausflüge in solche Reflexionen gestatteten sich die Physiologen in akademischen Reden oder philosophischen Exkursen, aber nicht mehr in den Lehrbüchern. In den Prolegomena erfüllt Müller aber gerade das, was er in seiner Ausgangsdefinition als Frage aufgeworfen hat: Ist das Leben durch Physik und Chemie, also rein naturwissenschaftlich zu erklären, oder gibt es nur im Organismus wirkende Kräfte, die von anderer Qualität sind als die physikalisch-chemischen Kräfte? Wenn er sich diese Frage stellt, so muß er die jeweiligen Möglichkeiten Punkt für Punkt diskutieren und zwar gerade in den Fällen, wo die Meinungen oder Vorstellungen noch keine eindeutige Antwort zulassen. Er testet in diesem Bereich die Haltbarkeit der vitalistischen bzw. physikalistischen Argumente. Seine Methode, zu Erkenntnissen in der Physiologie zu gelangen, hat Müller 1830 wie folgt erläutert: „Ich bin zwar immer ein Freund von einer mit Methode angestellten, gedankenvollen, durchdachten, oder, was dasselbe ist, philosophischen Behandlung eines Gegenstandes, Denn [!] philosophische Einsicht ist mir überhaupt mit vernünftiger Einsicht gleichbedeutend." 1 7 So greift Müller auch Fragen auf, die innerhalb der Forschung schon zu einer bestimmten Sicht geführt haben (wie ζ. B. die epigenetische Theorie gegenüber der Präformationstheorie der Keimentwicklung), um hier die Art und Weise der Argumentation im Sinne einer „philosophischen Behandlung" des Gegenstandes vorzuführen. Wenn man sich an diese „philosophische Methode" hält, so wird man davon unabhängig, ob Einsichten auf dem Wege einer naturphilosophischen Reflexion, der schlichten Beobachtung oder des Experiments zustande gekommen sind. Diese Auffassung von der jeder physiologischen Forschung zugrundeliegenden philosophischen Methode hat ihn in den Augen der späteren Forscher in die Nähe der Naturphilosophie gerückt. In der eben zitierten Einleitung zur Bildungsgeschichte der Genitalien nutzt Müller die Gelegenheit, seine wissenschaftstheoretische Position darzulegen. Hier 16
17
Du Bois-Reymond hat ζ. B. diese Frage nach den Kräften, die den Organismus bestimmen, in seinem Artikel über „Elektrophysiologie" radikal und einfach definiert: „Es gibt in der Natur nur eine A r t von Veränderung, nämlich Bewegung und nur eine A r t der Wirkung von Körper zu Körper, nämlich die mechanische." (In: Fortschritte der Physik 3, 1847, S. 3 9 2 - 4 5 0 , auf S. 415.) Johannes Müller, Bildungsgeschichte der Genitalien, Düsseldorf 1830, S. VIII.
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formuliert er seine Vorstellung von der physiologischen und anatomischen Forschung und exemplifiziert dieses zugleich an einem spezifischen Gegenstand: der Urogenitalentwicklung. Damit konkretisiert er seine noch sehr allgemein gehaltenen Forderungen für die richtige, auf Beobachtung und Versuch basierende Physiologie, die er in seiner berühmt gewordenen Antrittsvorlesung Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung vom 19. Oktober 1824 erstmalig aufgestellt hat. Uber den Wert der Beobachtung und der wissenschaftlichen Erfahrung heißt es nun in der Vorrede zur Bildungsgeschichte: „Jene Art der Erfahrung, welche das Wesentliche von dem Zufälligen unterscheidet, ist die wahre Beobachtung [...], weil nämlich Verstand und Sinn dabei gleich thätig sind [...]. Beständen alle unsere Erfahrungen aus solchen Beobachtungen, so wäre alles weitere Theoretisiren unnöthig, und die Theorie wäre eine schlichte Erzählung der Thatsachen, von denen eine die Consequenz der andern ist." 1 8 Diese Äußerung ließe sich ohne Schwierigkeit durch gleichlautende Äußerungen der Ärzte aus der Zeit der Romantik ergänzen. Wenn alle Erfahrungen von der Art wären, daß sie „reinen Erfahrungen" entsprächen, dann wäre in der Tat die Theorie damit äquivalent. Das Neue an Müllers Auffassung der Physiologie ist, daß er der Theorie im Erkenntnisprozeß eine Art Hilfsfunktion zuweist und damit die Physiologie zu einer Erfahrungswissenschaft erklärt. Die Theorie hat seiner Auffassung nach die Funktion, den Mangel an „reiner Beobachtung" auszugleichen. Wären alle Fakten nach der philosophischen Methode gewonnen, dann entstünde die Theorie durch die „Erzählung" der Tatsachen. Da die „reine Beobachtung" einem Ideal entspricht und nur in den seltensten Fällen gelingt, kann der Forscher nicht auf die Theorie verzichten. Kritisches Denken und logisches Argumentieren sowie analoges Schließen sind die Methoden, um zu theoretischen Schlußfolgerungen zu gelangen. Diese Art von Theorie erfolgt aus der Summation der Erfahrungen mittels der philosophischen Methode. Zu unterscheiden ist diese Theorie von den regulativen Ideen, die überhaupt erst planmäßige wissenschaftliche Arbeit ermöglichen. Für Müller ist der Begriff der „organischen Bildung", das Voranschreiten vom Allgemeinen zum Besonderen in der Entwicklung des befruchteten Keimes, eine Metapher für die Untersuchung der organischen Natur, die sich genau in diesem Punkt von der Erforschung der physikalischen Welt unterscheidet. Damit führt er ein teleologisches Prinzip ein, das sich der reinen Kausalität entzieht. Die Ganzheitlichkeit der organischen Natur muß für ihn die Leitidee sein, um physiologische Beobachtungen und Experimente vorzunehmen. Müllers Forderung, die Physiologie als eine Erfahrungswissenschaft zu definie18
Ebenda,
S. X I I I .
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ren, bedeutet für ihn jedoch nicht das Ende einer Anbindung der Physiologie an die Philosophie. Nur so gelangt man, wie Müller es nennt, zur „denkenden Erfahrung", wobei für ihn Philosophie nicht die Bindung an das System eines bestimmten Philosophen bedeutet, sondern die Art und Weise des richtigen Denkens.
V Das physiologische Experiment „Nichts ist schwieriger als der gültige physiologische Versuch", 19 sagt Müller in seiner Antrittsvorlesung. Er greift diesen Gedanken in der Bildungsgeschicbte wieder auf und präzisiert ihn. Er kritisiert erneut, daß „bei manchem physiologischen Experimente zwar wohl Hände und Augen, aber nicht Kritik und Logik gewesen sind". 2 0 Zudem läßt er nur dasjenige Experiment gelten, was „sich in allen Fällen wiederholen lässt, das immer dieselben Resultate gibt, wie man es von jedem guten physicalischen Experimente zu fordern gewohnt ist". 2 1 Diese wissenschaftliche Grundhaltung hat Müller bereits zu Beginn seiner Forschungstätigkeit gewonnen und nie verlassen. Die Schwierigkeiten beim physiologischen Versuch liegen nach Müller in den Bedingungen, unter denen er durchgeführt werden muß, um zu sinnvollen Aussagen zu gelangen. Nur aus den schon bekannten Erscheinungen des Lebendigen gewinnen die Experimentatoren Kriterien für die Bewertung der experimentell hervorgerufenen Phänomene. Mit diesen in den Versuch eingehenden Voraussetzungen soll auf unbekannte Verhaltensweisen des Organismus geschlossen werden. Wenn dies gelingt, so ist das Experiment stets der Beobachtung vorzuziehen. Die Schwierigkeit jedoch, solche Schlußfolgerungen in bezug auf die wirklichen Verhältnisse des Organismus zu ziehen, veranschaulicht Müller an der Umsetzung physikalischer Reize in organspezifische Antworten. Aufgrund dieser theoretischen Überlegungen gelangt er bereits 1824 zu den Voraussetzungen seines zwei Jahre später formulierten Gesetzes von der spezifischen Sinnesenergie. Hat Müller in der Bildungsgeschichte noch einmal klar und unmißverständlich dargelegt, was für ihn wissenschaftliche Physiologie heißt und welche Anforderungen sowohl an das Können als auch an den Verstand des experimentell arbeitenden Physiologen zu stellen sind, so liefert er ein Jahr später den Beleg dafür, daß er seine theoretischen Forderungen praktisch einlösen kann. Mit der Bestätigung des „Bellschen Lehrsatzes" - dem experimentellen Nach19
20 21
Johannes Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung [1824], in: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, Leipzig 1826, S . 3 - 3 6 , auf S . 2 1 . J. Müller, Bildungsgeschichte, a.a.O., S. XI-XII. Ausführlich beschreibt er diese falsche Einstellung zum Versuch in: Von dem Bedürfniß der Physiologie ..., a.a.O., S.21. J. Müller, Bildungsgeschichte, a.a.O., S. XII.
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weis, daß die Rückenmarksnerven aus sensiblen u n d motorischen N e r v e n b a h n e n bestehen - , k a n n er n u n ad exemplum folgendes über das Experiment sagen: „Die Experimente [ . . . ] sind einfach, leicht u n d entscheidend, sie k ö n n e n an jedem O r t , zu jeder Zeit u n d von jedem Anatomen, Physiologen u n d Physiker mit demselben sicheren unzweideutigen Resultat wiederholt w e r d e n . " 2 2 Mit diesen Formulierungen ist Müller einen Schritt weiter gegangen als seine durch die N a t u r p h i l o s o p h i e geschulten Lehrer. Die Unabhängigkeit des Experiments von O r t , Zeit u n d Personen w u r d e bei den Ä r z t e n in der Zeit der Romantik in Frage gestellt. Gerade das organische oder physiologische Experiment k o n n t e ihrer Ansicht nach n u r mittels eines philosophischen „Tricks" - nämlich der A n n a h m e eines Idealorganismus - aus der ständigen Bewegung heraus in einem statischen Z u s t a n d gedacht werden, was real niemals möglich ist, solange Experimente am lebendigen Organismus vorgenommen werden. Müllers Ä u ß e r u n g e n fügen sich scheinbar nahtlos in eine m o d e r n e Definition des Experiments (Standardisierbarkeit, Wiederholbarkeit, Zeit-, O r t s - u n d Personenunabhängigkeit) ein. D e n n o c h stellt Müllers wissenschaftstheoretische Position einen notwendigen Ubergang zwischen naturphilosophischer u n d positivistisch-naturwissenschaftlicher Auffassung des Experiments in der Medizin dar. A u c h bezüglich der unterschiedlichen Aufgaben, die dem Experiment im E r k e n n t nisprozeß zufallen, vermittelt bzw. v e r k n ü p f t er die beiden Ansätze. Zwar stellt Müller in seiner Methodenkritik das physiologische Experiment auf dieselbe Stufe wie das physikalische, aber er deutet seine Rolle im E r k e n n t n i s p r o zeß anders als die nachfolgenden Generationen von Wissenschaftlern. F ü r Müller steht das Experiment nämlich nicht im Vordergrund, sondern sollte erst d a n n eingesetzt werden, w e n n alle anderen Erkenntniswege - Beobachtung, kritische P r ü f u n g bereits vorliegender Kenntnisse mittels logischen Denkens, Analogieschluß u n d ein genau durchdachtes Gedankenexperiment (als Vorbereitung f ü r das konkrete experimentum crucis) - beschritten worden sind. In der Vorrede z u r Bildungsgeschichte fordert er „unermüdliche E r f a h r u n g u n d Beobachtung". D e r Wissenschaftler müsse genau so verfahren wie die Natur, die vom allgemeinen Prinzip z u r E n t w i c k l u n g der Teile voranschreitet, u m d a n n auf einer qualitativ anderen Stufe aus dem Einzelnen wieder das G a n z e hervortreten zu lassen. Experimente k ö n n e n aber n u r auf der Stufe „des Einzelnen" ansetzen, d. h., es läßt sich n u r das Verhalten einzelner Strukturen experimentell erforschen.
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Johannes Müller, Bestätigung des Bellschen Lehrsatzes, dass die doppelten Wurzeln der Rückenmarksnerven verschiedene Functionen haben, durch neue und entscheidende Experimente, in: Frorieps Notizen 30, 1830, Sp. 113-117. Es ist bestimmt kein Zufall, daß Müller seinen Artikel mit diesen Worten eingeleitet hat. Es klingt wie ein „Schaut her und seht, es ist möglich, was ich gefordert habe."
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Der Forscher muß von allgemeinen Prinzipien ausgehen, um eine Gesetzmäßigkeit im Einzelnen überhaupt erkennen zu können, um dann wiederum vom Einzelnen zum Ganzen - und damit zu Gesetzen - zu gelangen. Ohne regulative Idee läßt sich eine experimentelle physiologische Forschung nicht vornehmen. Die experimentelle Analyse hat für ihn nur dann Sinn, wenn der Zusammenhang mit der Idee vom Lebendigen gewahrt bleibt. Müller vertritt hier einen - wie ich es umschreiben würde - holistisch-physikalistischen Denkansatz. Auf der Ebene der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Teilstrukturen greift das auf die Entschlüsselung physikalischer oder chemischer Zusammenhänge ausgerichtete Experiment. Die dem gesamten Organismus zugrundeliegenden Gesetze lassen sich deshalb nicht vollständig auf physikalische Gesetze reduzieren. So ist es für Müller durchaus vorstellbar, daß es Gesetze gibt, die nur innerhalb des Lebendigen gelten. Welcher Art diese den gesamten Organismus bestimmenden Gesetze auch sein mögen, es müssen einfache Gesetze sein. Diesen Schluß zieht Müller, weil in der Natur das Prinzip der Einfachheit gilt, d. h., die Natur verfährt nach einfachen Gesetzen, deshalb können die durch den Menschen erkennbaren oder zu erkennenden Gesetze nur einfach sein. Diese Einstellung beeinflußt aber auch die Rolle, die Müller dem Experiment im Erkenntnisprozeß zuweist. Experimente sind nur dann angebracht, wenn sie zu Aussagen über die physikalischen oder chemischen Eigenschaften des Körpers führen. Experimente im Bereich der Nervenphysiologie dienen für ihn ζ. B. dazu, etwas über die „Physik der Nerven" zu entdecken, was nicht gleichzusetzen ist mit den zugrundeliegenden Gesetzen des „Nervenprincips". Damit verändert sich das Feld der möglichen experimentellen Fragen oder auch der Spielraum für einen künstlichen Eingriff in die belebte Natur. Auch wird die Erwartungshaltung in bezug auf die aus dem Experiment gewonnenen Aussagen beeinflußt, denn er fordert, daß man lieber auf ein Experiment verzichten solle, wenn man nicht zu eindeutigen, wiederholbaren Ergebnissen kommen könne. Hermann von Helmholtz hat seinen Lehrer zutreffend charakterisiert, wenn er Müllers Position wie folgt beschreibt: „In seinen theoretischen Anschauungen bevorzugte er noch die vitalistische Hypothese, aber in den wesentlichen Punkten war er Naturforscher, fest und unerschütterlich: alle Theorien waren ihm nur Hypothesen, die an den Thatsachen geprüft werden mussten, und über die einzig und allein die Tatsachen zu entscheiden hatten." 2 3 Das Problem, wo die Grenze einer Reduktion liegt und die qualitativ andere Erklärungsweise eines vitalistischen Ansatzes beginnt, hat Müller nicht direkt angesprochen. Aber in der Vorrede zur zweiten Abteilung des ersten Bandes seines 23
Hermann von Helmholtz, Das Denken in der Medicin [1877], in: Vorträge und Reden, 5. Aufl., Braunschweig 1903, Bd. 2, S. 165-190, auf S. 181.
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Handbuchs geht er auf dieses Problem indirekt ein. „Es ist wahr, die empirische Physiologie löst die letzten Fragen über das Leben nicht, aber die Philosophie löst sie auch nicht auf eine solche Art, dass wir von dieser Lösung in einer Erfahrungswissenschaft Gebrauch machen könnten [...]. Eine Lösung der letzten Fragen, die wir für uns und Andere benutzen könnten, haben wir gesucht. Aber wir haben diejenige Lösung nicht vor uns, die wir mit dem Gange einer Erfahrungswissenschaft ohne weiteres vereinbaren könnten. [...] Die Physiologie befindet sich jetzt in einer Periode ihrer Entwicklung, welche der Aufnahme vorzugsweise speculativer Forschungen auf lange Zeit nicht günstig ist." 2 4
VI. Die Umsetzung und Durchsetzung seines wissenschaftstheoretischen Konzeptes Mit dieser Analyse hat Müller seine Haltung und Einschätzung des physiologischen Experiments festgelegt und zugleich als Maßstab für seine Bewertungen der Fortschritte der Physiologie und Anatomie in dem von ihm seit 1834 herausgegebenen Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin verwandt. Diese Jahresberichte25 haben eine wichtige Funktion für die Durchsetzung seiner Wissenschaftsauffassung. Die Besprechungen der neuesten Veröffentlichungen im gesamten Bereich der Physiologie, Embryologie, vergleichenden Anatomie etc. dienten Müller als eine variable Beispielsammlung, um seinen Lesern richtiges bzw. fehlerhaftes methodisches Arbeiten oder Argumentieren darzulegen. Dabei wird jede geäußerte Kritik oder der Nachweis eines Fehlers ausführlich begründet. Es werden entsprechende Gegenargumente vorgelegt und methodische Lösungswege vorgeschlagen oder eigene Ergebnisse dagegengehalten. In diesen Besprechungen vereint Müller seine Fähigkeit des rhetorisch angemessenen Argumentierens mit einer fundierten wissenschaftlichen Kenntnis. Allerdings sind nur noch vereinzelt verallgemeinernde Bemerkungen über Beobachtung und Versuch in der Physiologie zu finden. Müllers wissenschaftstheoretische Position, die sich bereits in der Antrittsvorlesung angedeutet hatte, war spätestens 1830 ausgereift. Weiteres Argumentieren auf abstrakter Ebene schien ihm nicht mehr sinnvoll zu sein. Da er seinen 24
Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, 2. Abth., Coblenz 1834, S. Vif. Diese Vorrede ist in den weiteren Auflagen nicht mehr enthalten. Müller setzt sich hierin speziell mit den Begriffen „organisch, organisirt" sowie dem Verhältnis von spekulativer Theorie und Erfahrungswissenschaft auseinander.
25
Die unterschiedlichen Berichte über die Fortschritte im Bereich der gesamten Anatomie und Physiologie werden von Müller nur von 1834 bis 1838 allein verfaßt. Danach gibt er nach und nach einzelne Bereiche ab. Vgl. dazu B. Lohff, Johannes Müller „Jahresberichte zur Physiologie" in Müllers Archiv der Jahre 1834-1838, in: Sudhoffs Archiv 65, 1981, S. 3 2 - 7 8 .
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Denkweg stets vor seinen Lesern offenlegte, wäre alles andere nur Wiederholung gewesen. Die Durchsetzung seiner Idee von Wissenschaft erfolgte jetzt im Detail und an konkreten Beispielen. Als Beispiel hierfür kann seine Definition der Rolle der Hypothese im Erkenntnisprozeß dienen. An ihr läßt sich zeigen, daß Müller solche wissenschaftstheoretischen Begriffe in späteren Jahren nur kurz angeschnitten hat. Der Bezug zu seinem theoretischen Wissenschaftskonzept ist dabei deutlich erkennbar. Um etwa die damals noch unerklärliche Entstehung der unwillkürlichen rhythmischen Muskelbewegung möglicherweise physiologisch zu deuten, fragt Müller, ob es nicht möglich sei, „durch eine klare Hypothese genügend zu erläutern, wie es kommt, daß der Impuls des Nervenprincips in dem vom N. sympathicus versehenen Theile mit Unterbrechung rhythmisch wirkt. Hypothesen sind in einer exakten und auf Facta sich stützenden Wissenschaft dann erlaubt, wenn eine definitive Erklärung zur Zeit unmöglich ist, wenn die hypothetische Erklärung den Facten nicht zuwider ist, vielmehr damit übereinstimmt, und wenn die Hypothese ein neues Feld zu ferneren Untersuchungen eröffnet. Das folgende scheint eine Hypothese von dieser Art zu sein." 26 Im folgenden erläutert er anhand des Bildes der elektrostatischen Anziehung und des Modells der Nerven als Halbisolatoren (Halbleiter) die mögliche Umsetzung des andauernden Nervenstroms zu einer periodischen Muskelkontraktion, betont dabei aber immer wieder, daß es sich um ein Modell, nicht um den physiologischen Vorgang der Nerven-Muskel-Innervation handelt. An einem anderen Beispiel läßt sich belegen, daß Müller in der Lage war, in wenigen Sätzen so etwas wie ein Forschungsprogramm zu formulieren und gleichzeitig einen Bereich neuer experimenteller Untersuchungen anzuregen. Bezüglich der Frage, wie die rhythmische Kontraktion des Herzens aus der kontinuierlichen Innervation zu erklären sei, schreibt er im Handbuch: „Die Ursache [der rhythmischen Kontraktion] muss also viel tiefer liegen. Es muss in der Organisation des Herzens und in der beständigen Wechselwirkung des Blutes mit den kleinsten Gefässen mit der Herzsubstanz, oder in der Wechselwirkung der Herznerven und der Herzsubstanz etwas liegen, was entweder anhaltend wirkt, worauf aber das Herz [...] nur periodisch reagirt, oder das selbst periodisch auf das Herz einwirkt. Die Lösung dieser Frage ist unendlich schwierig und bei dem jetzigen Standpunkte der Wissenschaft unmöglich." 27 Betrachten wir dieses Zitat etwas genauer, so sieht Müller mehrere Wege zur möglichen Beantwortung dieser Frage: 1) über die mikroskopische Struktur des 26 27
Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 71. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, 3. Aufl., Coblenz 1838, S. 188f.
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Herzens, 2) über die Innervation des Herzens und deren Reizeinwirkungen, 3) über das Blut in den Gefäßen des Herzens selbst, nämlich in Form eines biochemischen Reizauslösers, 4) über die Wechselwirkung der jeweiligen Faktoren und 5) über die Suche nach einem Zeitgeber, der diese periodischen Kontraktionen ermöglicht. In diesem kurzen Absatz aus dem Handbuch hat Müller ein Programm für den weiteren Weg entwickelt, auf welchem das Problem der Herztätigkeit weiter entschlüsselt werden kann. Daß hier auch eine experimentelle Erforschung mit ins Auge gefaßt wird, dürfte aus den wenigen Sätzen deutlich hervorgehen.
VII. Das Experiment in der Sicht der Müller-Schüler In seiner Gedächtnisrede hat du Bois-Reymond herausgestellt, daß Müller es als Experimentator leichter gehabt habe als seine Nachfolger: „Müller bedurfte noch nicht der langen Vorbereitung und der feineren Beredungskünste, die jetzt schon notwendig sind, um die Natur zu weiteren Zugeständnissen zu bewegen. Er konnte noch gerade, wie Faust, darauf losgehen, ohne sich um Mephisto's welsche Rezepte zu kümmern. Die Kunst der mathematischen Auffassung und Zergliederung der Aufgaben war ihm fremd, die Vertrautheit mit den Hilfsmitteln der Mechanik, welche beide dem Physiologen wie dem Physiker heute so nötig sind, besaß Müller noch nicht. [...] Was wir die Ästhetik des Versuchs nennen, war ihm fremd. Seine Art zu experimentieren war roh in den Nebendingen, aber großartig. [...] So ist seine Darstellung nicht inductorisch, sondern dogmatisch und daher für den angehenden Forscher minder bildend; indem die gewonnenen Ergebnisse vorausgeschickt, und dann durch anhängende Bemerkungen erläutert werden." 28 Mit dieser Charakterisierung ist der Grundstein für die Wertung Müllers als eines nicht wirklich naturwissenschaftlich orientierten Experimentalphysiologen gelegt worden. Die Forderung an das „moderne" Experiment, wesentlich deutlicher zwischen Haupt- und Nebeneffekten zu unterscheiden, hat Müller allerdings auch - wenngleich nur theoretisch - gefordert. Sie verbirgt sich in den seinerzeit typischen Begriffen vom „Zufälligen und Wesentlichen". Allerdings hat er weder den Einfluß der Untersuchungsgerate noch den Umstand berücksichtigt, daß die Mathematisierbarkeit der Untersuchungsergebnisse anzustreben sei. Ausgeschlossen hat Müller dieses nicht, und er verweist auch in seinen Überlegungen zur spezifischen Sinnesenergie bei akustischen Phänomenen darauf, indem er eine
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E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S.210f. Vgl. dazu B. Lohff, Emil du Bois-Reymonds Theorie des Experiments, in: Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert: Emil du Bois-Reymond, hrsg. von Gunther Mann, Hildesheim 1981, S. 117-128.
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mathematisch-physikalische Analyse der Klangphänomene durchaus für notwendig hält, um die Empfindung von Hörphänomenen damit zu vergleichen. 29 Die von du Bois-Reymond kritisierte Darstellungsweise, daß Müller erst die Ergebnisse vorlegt und dann die Begründung folgen läßt, ist kein haltbares Argument, da hier von einer rein induktiven Methode ausgegangen wird, die es ermöglichen soll, von den einzelnen Tatsachen zur Erkenntnis zu gelangen. Der Dogmatismus, den du Bois-Reymond hier Müller vorwirft, beruht wohl auf der Annahme, daß, wenn die Ergebnisse vorangestellt werden und dann erst die Begründung erfolgt, der Leser nicht Schritt für Schritt - und auf diesem Weg wie von selbst - zu den „wirklichen" Schlußfolgerungen gelangt. Wird das Ergebnis eines Versuches vorangestellt und die Begründung „nachgeliefert", dann ist eine vom Forscher implizierte Interpretation von vornherein vorgegeben, die den Leser zu einer bestimmten Sicht der Dinge zwingt. Daß die Darstellungsweise allein aber nicht darüber entscheidet, welche Zielsetzung der Verfasser mit seinem wissenschaftlichen Forschen verfolgt, belegt das Werk gerade von du Bois-Reymond. Alle seine physiologischen Experimente unterliegen dem metaphysischen Grundsatz, daß die organische Natur den mechanischen Gesetzen folge und sich durch die analytische Mechanik, d. h. die Mathematisierung der auf Mechanik zurückführbaren Vorgänge in der organischen Natur, entschlüsseln lasse. Daß es sich dabei um eine metaphysische Grundannahme handelt, hat du Bois-Reymond allerdings nicht gesehen. In diesem Punkt war Helmholtz wesentlich weitsichtiger, indem er den in seiner Zeit angestrebten „Materialismus" in der Physiologie als eine metaphysische Grundannahme erkannte. 3 0 Ein deutlicher Unterschied besteht allerdings zwischen Müller und der ihm nachfolgenden Generation von Physiologen. Die von Kant geforderte Haltung des Experimentators als „Richter", der die Natur zwingen muß, ihre Antworten zu offenbaren, widerstrebte Müller. Wenn er in seiner Antrittsvorlesung von dem Versuch spricht, der „künstlich, ungeduldig, emsig, abspringend, leidenschaftlich, unzuverlässig" sei, und davon, daß man „die Natur nur auf irgendeine Weise gewaltthätig versuchen [darf], sie wird immer in ihrer Noth eine leidende Antwort geben", 3 1 so darf man die Zeit, in der dieses geschrieben wurde, nicht außer acht lassen. 1824 wurde vor allem in Frankreich experimentalphysiologische Forschung in breitem Umfang betrieben. Frangois Magendie war einer ihrer prominenten Vertreter. Müller hat sich von Anfang an gegen seine Art und Weise zu experimentie-
29 30 31
J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, a.a.O., S. 460. H. Helmholtz, Das Denken in der Medicin, a.a.O., S. 186. J. Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie . . a . a . O . , S. 20.
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ren gewehrt. Die unzähligen an Grausamkeit teilweise nicht zu überbietenden Tierversuche führten seiner Ansicht nach nur selten zu „sinnvollen" Aussagen. 3 2 Natürlich experimentierte Müller nicht anders als Magendie, doch ging er mit der Frage, wann überhaupt ein Experiment sinnvoll sei, viel kritischer um. Zehn Jahre später führte Müllers Art und Weise der experimentalphysiologischen Arbeit zu bedeutenden Erfolgen (Bestätigung des Bellschen Lehrsatzes, Untersuchungen über Blut und Lymphe) und fand breite Anerkennung. Alexander von Humboldt berichtet darüber 1833 - anläßlich der Berufung Müllers nach Berlin - begeistert an Freiherr vom Stein zum Altenstein: „Ich habe den merkwürdigen, anspruchslosen Mann in Paris physiologische Versuche über den Ursprung der Rückenmarksnerven machen sehen - mit wahrer Meisterschaft." 3 3 Weitere zehn Jahre später begannen Müllers Schüler die Führung in der Experimentalphysiologie in Deutschland zu übernehmen. Die Einfachheit, mit der Müller noch experimentieren konnte, war ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr möglich. N u r mit „welschen Überredungskünsten" - und das heißt mit immer aufwendigerem instrumenteilen und mathematischen Rüstzeug - ließen sich die „flüchtigen Erscheinungen" noch festhalten. Für Müller war es zu seiner Zeit wesentlich einfacher, mit bescheidenen Mitteln, aber einer unermüdlichen Geduld und genauer vorheriger gedanklicher Vorbereitung, Experimente durchzuführen. So wie die Physiologen in der Zeit der Romantik über die erkenntnistheoretischen Grenzen und Möglichkeiten des Experiments in der Physiologie nachgedacht haben, so hat Müller die erkenntnistheoretischen Überlegungen konkretisiert und in ausgewählten Fragen erfolgreich umgesetzt. Auf dieser Basis ließ sich dann ohne erneute prinzipielle erkenntnistheoretische Begründungen die methodische Struktur experimenteller Forschung weiter ausbauen. Ein Bruch in der Auffassung über die Notwendigkeit des Experiments in der Physiologie läßt sich daraus nicht ableiten. Es ist lediglich eine schrittweise Erweiterung des Geltungsberei-
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Bereits in der von Müller kommentierten und ins Deutsche übersetzten Fassung des „Jahresberichts der Schwedischen Akademie der Wissenschaften über den Fortschritt der Naturgeschichte, Anatomie und Physiologie 1825" (Bonn 1828) kritisiert er Magendies Versuche über den Geruch als „naives Raisonnement" (ebenda, S. 106). Auch von anderen französischen Forschern vorgelegte Untersuchungen werden von Müller oft dahingehend kritisiert, daß diese auf falschen Voraussetzungen, mangelhafter Methodik und Interpretation beruhen und somit nur zu „scheinbaren" Ergebnissen führen. Alexander von Humboldt an den Freiherrn vom Stein zum Altenstein, 29. April 1833, in: Vier Jahrzehnte Wissenschaftsförderung. Briefe Alexander von Humboldts an das preußische Kultusministerium, hrsg. von K.-R. Biermann, Berlin 1985, S. 61.
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ches des Experiments in der physiologischen Forschung, allerdings mit all den Konsequenzen, die mit einer solchen Forschungsmethode dann auch verbunden sind.
HANS-JÖRG RHEINBERGER
Vom Urphänomen zum System der pelagischen Fischerei Uber das Verhältnis von Physiologie und Philosophie bei Johannes Müller"" Georges Canguilhem hat über Johannes Müller bemerkt: „Müller ist nicht nur jemand, der die Physiologie lehrt, indem er gleichzeitig dazu beiträgt, sie zu machen, er denkt sie auch." 1 Die Physiologie lehren, machen und denken: Dieser dreifache Anspruch umreißt ein Programm; mit seiner Formulierung gibt Canguilhem gleichzeitig einen Hinweis auf den Zugang zum Verhältnis von Physiologie und Philosophie bei Müller. Von Anfang an haben wir es mit einem globalen Entwurf zu tun, in der Weite seiner Geste durchaus romantisch, im Setzen der Perspektive aber gründlich jenseits spekulativer Systematizität. 2 Alles dreht sich darum, die beobachtende und die experimentelle Erfahrung der belebten Natur mit einem Denken zu verbinden, das sich als Organon einer konstruktiven Ordnung der Phänomene versteht; diese schafft erst die Voraussetzungen für eine Lehre, die das Prädikat einer Wissenschaft verdient, da und soweit sie sich ihrer eigenen Bedingungen vergewissert hat. In den folgenden Bemerkungen möchte ich die Transformationen bezeichnen, die das Programm bei seiner Einlösung dadurch erfahren hat, daß Müller sich bedingungslos auf den empirischen Wissenschaftsprozeß eingelassen, daß er also versucht hat, die Synthese von Machen, Denken und Lehren aus der Perspektive des Machens zu vollziehen. Es ist oft gesagt worden, er habe als Naturphilosoph begonnen, sei zum Physiologen mit theoretischem Anspruch geworden und habe als rein systematischer und deskriptiver Anatom
*
D e n H e r a u s g e b e r n , Michael H a g n e r u n d Bettina Wahrig-Schmidt, d a n k e ich f ü r die kritische D u r c h s i c h t des M a n u s k r i p t s .
1
G e o r g e s C a n g u i l h e m , L a constitution de la physiologie c o m m e science, in: E t u d e s d'histoire et de p h i l o s o p h i e des sciences, Paris 1975, p p . 2 2 6 - 2 7 3 , cit. p. 251 (Hervorhebungen hinzugefügt).
2
Ich w e n d e mich d a m i t gegen bis in die j ü n g s t e Zeit reichende historiographische Versuche, Müllers A u s g a n g s p u n k t gleichzusetzen mit der „letzten E n t w i c k l u n g s s t u f e " der „ N a t u r p h i l o s o p h i e " . Vgl. H e r m a n n Schlüter, D i e Wissenschaften v o m L e b e n zwischen Physik u n d M e t a p h y s i k , Weinheim 1985, S. 117.
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geendet. 3 Mir geht es darum zu zeigen, daß Müllers Verhältnis als das eines Physiologen zur Philosophie (nicht umgekehrt) von Anfang an von einem Koordinatennetz von semantischen Verweisungen und Gegenstandsbezügen beherrscht wird, das seinen Diskurs organisiert und gleichzeitig der fundamentalen Anordnung einer Praxis der Erzeugung und Ausbreitung von Wissen Vorschub leistet. Ich argumentiere also, daß es bei Müller keinen radikalen Positionswechsel gibt, sondern ein unablässiges Meißeln an einer Statue, das durch die Formen instruiert wird, die es selbst hervorbringt. Er wollte von Anfang an die Physiologie auf den Weg einer selbstkorrigierenden Forschung bringen, einer Rückkopplung von Denken und Erfahrung, die unabschließbar ist, und aus der es gerade deshalb, ist man einmal in sie eingetreten, kein Entrinnen gibt.
I. „Richtige" Naturphilosophie? Der Satz, von dem her sich Johannes Müllers Auseinandersetzung mit der Philosophie in seiner Bonner Antrittsvorlesung erschließen läßt, leitet diese ein und lautet: „Indem ich zu reden gedenke von der innigen Verbindung der Philosophie mit der Physiologie, habe ich keine geringere Aufgabe übernommen, als zu zeigen, daß eine Doktrin, welche eine große Summe empirischer Erkenntnisse zu ihrer Konstruktion konsumiert, eine Wissenschaft sei, und nicht etwa bloß eine logische Verbindung empirischer Tatsachen, welche nach den Kategorien des Verstandes geordnet sind; ich habe namentlich zu zeigen, wie und auf welche Weise die Physiologie, jede andere Weise ihrer Existenz ausschließend, zur Wissenschaft werde." 4 „Innige Verbindung der Philosophie mit der Physiologie" - das bezeugen die ganzen weiteren Ausführungen, Variationen zum Thema „innige Verbindung" 3
4
Vgl. u. a. Gottwalt Christian Hirsch, Die Forscherpersönlichkeit des Biologen Johannes Müller, in: Archiv für Geschichte der Medizin 26, 1933, S. 166-190; Gottfried Koller, Johannes Müller. Das Leben des Biologen 1801-58, Stuttgart 1958. Koller meint allerdings, Müller sei im Herzen weiter Philosoph geblieben, habe aber die Bezirke getrennt. Auch Schlüter folgt im wesentlichen einer solchen Resignationshypothese, wie man sie nennen könnte. Die Hartnäckigkeit dieser Periodisierung ist nicht unverständlich im ersten Hinblick auf Müllers eigene Verlautbarungen und sein spätes Schweigen, vor allem aber im Hinblick auf die Rolle, die er im historischen Selbstverständnis der deutschen Physiologie in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. zugewiesen bekam. Mit Emil D u Bois-Reymonds Gedächtnisrede auf seinen Lehrer war das Bild dieser Rolle vorgegeben, und es hat sich bis heute gehalten: Gedächtnissrede auf Johannes Müller, in: Reden, 2. Folge, Leipzig 1887, S. 143-334. Johannes Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung [1824], in: Vom Geist der Naturwissenschaft, hrsg. von Η . H . Holz und J. Schickel, Zürich 1969, S. 53-82, auf S. 53 (erste Hervorhebung hinzugefügt).
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meint nicht die Verknüpfung, welches vorgegebenen philosophischen Systems auch immer, mit einer empirischen Disziplin. Der Anspruch geht vielmehr dahin, für die Physiologie allererst das Statut ihrer Wissenschaftlichkeit festzulegen. Ein solcher philosophischer Anspruch hat sich im Prozeß der Konstruktion einer Wissenschaft einzulösen, die im Werden begriffen und dabei ist, den traditionellen Kreis der biologischen Disziplinen zugleich zu sprengen und neu zu organisieren. Wie macht man das? Was kann es heißen, die Philosophie auf eine solche Weise „innig" mit der Physiologie zu verknüpfen, daß letztere dadurch allererst zu sich selbst kommt und damit zur Wissenschaft wird? Müller geht per exclusionem vor und leistet damit gleichzeitig eine Kritik und Standortbestimmung des Fachs. Es heißt nicht, die Physiologie „mythisch" 5 zu betrachten, also - etwas verkürzt gesagt - gar nicht erst zu den empirischen Einzelheiten herunterzusteigen, sondern das Ganze bloß intuitiv, in „unmittelbarer Anschauung" zu fassen. 6 Es heißt aber auch nicht, im Sinne einer „falschen Naturphilosophie" die „Selbstüberhebung" 7 einer bloß verständigen Ordnung zu betreiben und Zusammenhänge zum Prinzip zu erheben, die dem Gegenstand letztlich äußerlich bleiben. Genau das geschieht aber im Namen des „Prinzips der Analogie der Formen", 8 das Müller als wesentlich für die „falsche Naturphilosophie" ansieht. Der „mythischen Behandlung in der Betrachtung der Natur" und der „falschen Naturphilosophie", mithin der „unmittelbaren Anschauung" und der „Selbstüberhebung" des Verstandes, beiden fehlt der angemessene Bezug auf das erfahrungswissenschaftliche Substrat. Der Vorwurf ist dahingehend zusammenzufassen, daß das Philosophisch-Werden der Physiologie - eine Kultur der Erfahrung könnte man es auch nennen - nicht von der Seite der Philosophie aus aufgenommen werden kann. Die „innige Verbindung" von Physiologie und Philosophie muß ausgehend von der Physiologie selbst, genauer, sie muß „vom Fortgang der Physiologie" her zuwege gebracht werden. N u n gibt es jedoch eine „falsche Physiologie" ebenso, wie es eine falsche Naturphilosophie gibt: Besteht diese in der Selbstüberhebung der verständigen Abstraktion, so jene, parallel dazu, aus der Selbstüberhebung der Erfahrung. Die falsche Physiologie will „das Leben aus der Erfahrung erkennen".
5 6 7
8
Ebenda, S. 59-62. Ebenda, S. 61; es mag damit die ursprüngliche Bedeutung des griechischen theorein gemeint sein, im Sinne des Ideals tatenlosen Anschauens. Ebenda, S. 64; Müller spricht von der „falschen Naturphilosophie" als einer „sich über sich selbst erhebenden verständigen Physiologie". Das trifft keinen speziellen naturphilosophischen Ansatz, wenn denn überhaupt einen naturphilosophischen; es trifft die philosophisch dilettierende Physiologie. Ebenda, S. 63.
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Die wahre Physiologie hingegen „denkt das Leben in die richtige Erfahrung". 9 Richtige Erfahrung ist im Fortgang der Physiologie sich ausrichtende Erfahrung; in sie kann das Leben hineingedacht werden, weil ihre Konstruktion selbst das Leben zur Darstellung bringt. Das „Leben" läßt sich weder deduktiv aus dem reinen Begriff noch induktiv aus der bloßen Erfahrung gewinnen. Wahre Physiologie ist Ko-Produktion von Erfahrung und Begriff. Noch einmal: Wie macht man das? Hier beginnen die Schwierigkeiten. In immer neuen Anläufen versucht Müller sprachlich einzuholen, was ihm als „Konstruktion" einer wissenschaftlichen Physiologie vorschwebt. Es gilt, „aus dem Begriff des Lebens [...] die Erfahrung zu begreifen", 10 heißt es an einer Stelle; der „Stoff" muß „vernünftig werden", an einer anderen.11 Nur so kommt die Physiologie „zu Stande", „zu sich selbst". 12 „Der Physiologe erfährt die Natur, damit er sie denke." 13 Alles kommt hier auf die Logik des verknüpfenden „damit" an: Es ist kein einseitig gerichtetes „um zu", sondern eine Art Äquivalenzbeziehung. So ist ein Zirkel „denkender Erfahrung" angelegt: Der wahre Physiologe steht immer schon in ihm. 14 Es gibt keine formal-logische Lösung des Problems, keine empiristische, keine rationalistische. Die wahre Theorie ist nicht aus sich selbst bestimmbar, so wenig die richtige Erfahrung es ist. Die einzige Möglichkeit liegt darin, ihr Wechselspiel gegenständlich zu konstruieren. Die Erfahrung „wird zum Zeugungsferment des Geistes", wie umgekehrt „aus der Idee" die Erfahrungen „hervorgehen". 1 5 Nur vermöge einer solchen Durchdringung mit dem „philosophischen Organon" 16 kann die - noch so verständig geordnete - empirische Erfahrung des Physiologen zu einer Wissenschaft werden, die ihren Namen verdient, die ihrem Gegenstand, dem Lebensprozeß, gerecht wird. Nur so kommt sie in die Lage, „in Gedanken die Natur eben so lebendig zu zeugen, wie der Begriff in unerschöpfter Tätigkeit verwirklicht wird". 1 7 Die Terminologie ist tastend, eklektisch auch, doch zeichnen sich die Konturen des Modells ab, das Pate steht, und gemäß dem Müller in der Physiologie den „Begriff in unerschöpfter Tätigkeit", das „Unendliche" in seiner wesentlichen
9
Ebenda, S. 57.
10
Ebenda, S. 56.
11
Ebenda, S. 58.
12
Ebenda, S. 57.
13
Ebenda, S. 81.
14
Dieser Figur geht Bettina Wahrig-Schmidt in ihrem Beitrag zu diesem Band nach.
15
J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie . . . , a.a.O., S. 81.
16
Ebenda, S. 58.
17
Ebenda, S. 67.
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Bestimmung, „zum Endlichen zu procedieren", 18 gern fassen möchte. Es ist die Morphogenese. Ihr großer Herold in der embryologischen Tradition ist Caspar Friedrich Wolff, an dem Müller genau das bewundert, daß „in der Berührung seines Griffels die Keime groß werden", daß ihm mithin eine Beschreibung glückt, die eben dadurch, aber auch nicht anders „philosophisch" ist, als daß sie in der Darstellung die Bewegung des Gegenstandes lebendig werden läßt; ja, die „philosophischer ihrer Natur nach ist, als alle metaphysische Erklärungsgründe". 19 Diese Stufe gilt es in der Physiologie erst noch zu erreichen. Sie soll über den kläglichen Zustand verständiger Hypothesen oder empirischer Begriffslosigkeit hinausgelangen, um das Leben „von dem Grunde einer lebendigen Erscheinung" her zu denken. 20 In der eigenwertigen Repräsentation der Phänomene, in der Verfolgung der Natur als „in der Zeugung in dem lebendigen Prozess zur Produktion begriffen" 21 bedarf es schließlich keiner dem Stoff äußerlich bleibenden Verstandeshypothesen mehr, weil die Dinge sich in der Ausrichtung der Erfahrung selbst in Ordnung gebracht haben werden. Was Müller anstrebt, läßt sich mit der Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Naturphilosophie in Verbindung bringen, wie sie Hegel im zweiten Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften auseinandergesetzt hat. 2 2 Dort nennt Hegel, § 246, zwei Weisen, das Ungenügen an den naturwissenschaftlichen Denkbestimmungen zu überwinden und über die bloße „Verstandesreflexion" hinauszugehen: Erstens den von Goethe vorzüglich eingeschlagenen Weg des „unbefangenen Geistes, wenn er lebendig die Natur anschaut" und auf diese Weise „das Leben und den allgemeinen Zusammenhang in derselben" fühlt. Zweitens die denkende Anschauung, Hegels Weg, die „das Zerstückelte zur einfachen Allgemeinheit" denkend zurückbringt, und damit das Unendliche in die Einheit seiner selbst und des Endlichen setzt. 23 Müller will nun, wie es scheint, beides zugleich, nämlich die „Erscheinungen des Lebens" „lebendig denken",24 Und wo 18 19 20 21 22
23
24
Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 79. Ebenda. Ebenda, S. 76. Dietrich v. Engelhardt (vgl. seinen Beitrag zu diesem Band) macht auf die Nähe zu Hegel in Müllers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaften aufmerksam, nicht ohne gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß Müller, im Unterschied zu Hegel, seine philosophische Position als Naturwissenschaftler bezieht. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, in: Werke, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1970, S.21 (Hervorhebung hinzugefügt). J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie ..., a.a.O., S. 56 (Hervorhebung hinzugefügt).
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Hegel, darin durchaus Kant folgend, den Erfahrungswissenschaften und der Philosophie ihr je eigenes Geschäft und ihren Bezirk vorbehält, beansprucht Müller Philosophisches gerade als Ferment der erfahrungswissenschaftlichen Aktivität selbst. Dieser doppelte Anspruch läßt den Text nicht zur Ruhe kommen; Erfahrung und Reflexion sind ständig dabei, die Stellen zu tauschen, eine Artikulation zu finden, durch die sie sich wechselseitig, eine in der anderen, manifestieren können. D a s ist das Programm von 1824. E s ist ambivalent in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Physiologie, hat keineswegs die Hermetik eines naturphilosophischen Begriffssystems, beansprucht aber dennoch, mehr anzuvisieren als eine bloß heuristische Allianz. Müller sucht, noch einmal mit den Worten der Antrittsrede, nach der „unbekannten physiologischen Größe". D i e Suche hat auszugehen von der „lebendigen Anschauung", die sich dann zur geduldigen Beobachtung diszipliniert und die sich schließlich der experimentellen Prozedur des Physiologen bedienen muß, obwohl „nichts schwieriger ist als der gültige physiologische Versuch", dessen Resultat das „Urphänomen" wäre. Denn der Versuch kann nur „chemisch-physiologisch" durchgeführt werden, obgleich die Größe selbst, nach der gefahndet wird, gerade nicht „biochemisch" gefaßt werden kann. 2 5 Der Experimentator darf das Ganze der lebendigen Anschauung nicht aus den Augen verlieren, die die unbekannte physiologische Größe allerdings nur intuitiv erfaßt, und er muß versuchen, sein Experimentalgebäude von einem gültigen Versuch her zu organisieren, der dennoch immer nur stellvertretend für die unbekannte physiologische Größe stehen kann. Man kann diese Rede als den Versuch lesen, die Grenzlinien eines Wissenschaftsfeldes neu abzustecken. 2 6 Physiologie heißt die L o s u n g für eine, wenn man so will, 25
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Ebenda, S. 68f., 72 (Hervorhebung hinzugefügt). Die Äußerungen Müllers zu Beobachtung und Versuch in der Antrittsrede sind oft als generelle Reserviertheit gegenüber dem Experimentieren interpretiert worden, das in seinem rohen Zupacken der Natur Zwang antut (beispielhaft dafür ist Jakob von Uexküll, Der Sinn des Lebens. Gedanken über die Aufgaben der Biologie mitgeteilt in einer Interpretation der zu Bonn 1824 gehaltenen Vorlesung des Johannes Müller Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, mit einem Ausblick von Thure von Uexküll, Godesberg 1947, S. 38-40). Man hat dabei meist übersehen, daß Müllers Vorsicht nicht auf das Experiment schlechthin, sondern auf die differentia specifica des physiologischen Experiments zielt. Das Experiment in der Physiologie ist sozusagen immer „daneben". Es findet zwangsläufig auf einer Ebene statt, auf welcher der Gegenstand nicht (mehr) als physiologischer bestimmt werden kann. Timothy Lenoir bemerkt in diesem Sinne: „Müllers Antrittsrede war darauf angelegt, junge Medizinstudenden darin zu bestärken, sich auf den Weg in eine neue Ära wissenschaftlicher Forschung zu machen." (T. Lenoir, The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology, Dordrecht 1982, p. 105.)
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biologische Orientierung des Forschungsprozesses an den vitalen Funktionen und ihrer Dynamik. Müllers Vision ist, die Physiologie als allgemeine Lebenswissenschaft aus dem engeren Rahmen der Medizin und ihrer Systeme herauszulösen, ihr einen Platz im Verband der Naturwissenschaften, und zwar mindestens neben, wenn nicht über den zeitgenössischen Paradigmenwissenschaften, der Physik und der anorganischen Chemie, zuzuweisen. Mit Müller geht, in Deutschland, die Wissenschaft vom Leben auf die Suche nach ihrem Begriff und zugleich nach ihrer Institution. Sie sollte die bisherigen Naturwissenschaften, als „Prozeduren", in sich resümieren, gleichzeitig als Lebenswissenschaft über sie hinausgehen und schließlich die Brücke schlagen zu einer erfolgreichen medizinischen Praxis. „Eine Theorie der Medizin", mit diesem Hinweis schließt Müller seine Rede, „kann nur von der rechten Physiologie ausgehen." 2 7 Eine solche Konstellation, ein solcher Ausgriff auf ein neues wissenschaftliches Zeitalter, konnte nach einem Begründungszusammenhang verlangen, der die gleichsam selbst organisch formulierte Verknüpfung von Erfahrung (Empirie), Verstand (Theorie) und Vernunft (Philosophie) in einer Superdisziplin Physiologie rechtfertigen mochte. Diesen Begründungszusammenhang versuchte Johannes Müller in seiner Bonner Antrittsvorlesung herzustellen. Ich will diese Exposition nicht abschließen, ohne noch einmal darauf hinzuweisen, daß in dem ganzen Text von der „rechten Physiologie" viel die Rede ist, nicht aber von der „richtigen Naturphilosophie" als einer Alternative zu der kritisierten „falschen Naturphilosophie".
II. Orientierungen Es war eine groß angelegte Vision, und die Frage stellte sich, wie sie in physiologischer und vergleichend-anatomischer Wissenschaftspraxis eingeholt werden konnte. Wenig später, im Jahre 1826, erschienen bereits zwei sinnesphysiologische Monographien. 28 Es folgten 1828 bis 1830 zahlreiche Einzelarbeiten 29 und, nach mehrjähriger Vorarbeit, 1830 ein Werk über die Struktur und Bildung der Drüsen sowie eines über die Bildungsgeschichte der Genitalien. 3 0 Die Vorrede zur letztge27
J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie . . . , a.a.O., S. 81.
28
Johannes Müller, Zur Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826; ders., Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum, den Philosophen und Ärzten gewidmet, Coblenz 1826.
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Insgesamt beläuft sich die Zahl in diesen drei Jahren auf etwa 20 Untersuchungen anatomischer und physiologischer Natur vorwiegend an Insekten, Amphibien, Reptilien und am Menschen.
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Johannes Müller, De glandularum secernentium structura penitiori earumque prima Formatione in Homine atque Animalibus, Leipzig 1830; ders., Bildungsgeschichte der
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nannten Arbeit enthält eine Bilanz von sechs Jahren zunächst vorwiegend sinnesphysiologischer, seit 1827 mehr vergleichend-anatomischer Tätigkeit, und sie beginnt mit einem Bekenntnis. Müller präsentiert diese Schrift als auf „bloße Beobachtung und anatomische Empirie gegründete Untersuchung", und er zählt drei Faktoren auf, die für die Richtung ausschlaggebend waren, welche seine Arbeit nahm: „Gelegenheit, Neigung, Übung in microscopischen Arbeiten". 3 1 Sie deuten an, was charakteristisch für seinen ganzen Forschungsstil wurde: das durchaus auch zufällige Aufgreifen von Problemen (Gelegenheit), die Identifizierung mit dem Forschungsobjekt (Neigung) und das Ausschöpfen einer vertrauten Technik (hier die Mikroskopie). Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre eine Abkehr vom sechs Jahre zuvor formulierten Anspruch vollzogen. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Müller sein Programm weiterverfolgt. Er nutzt das Vorwort zu einer Bemerkung über seine, wie es nun heißt, „Methode", und zwar im Sinne einer - durchaus auch als Selbstkritik zu lesenden Zwischenbilanz: „Besonders wünschte ich diess auf eine etwas bestimmtere und für mich selbst befriedigendere Art zu thun, als diess früher bei einer andern Gelegenheit von mir geschehen ist." 3 2 Die „innige Verbindung" von Physiologie und Philosophie, die bei jener andern Gelegenheit beschworen worden war, erfährt eine Verschiebung, die zunächst den Eindruck erweckt, als wäre das Problem lediglich noch semantischer Natur. Die „philosophische Behandlung eines Gegenstandes", liest man, ist eigentlich gar nichts anderes als eine „mit Methode angestellte, gedankenvolle, durchdachte" Behandlung; „philosophische Einsicht" ist gleichbedeutend mit „vernünftiger Einsicht". 3 3 Ist, was als Philosophie beschworen wurde, nun als umgangssprachliches Synonym für umsichtig angestellte empirische Forschung dingfest gemacht? Hat sich in der kompromißlosen Aufnahme der Forschungsarbeit aller darüber hinausgehende theoretische Anspruch ausgelöscht? Dies wäre verkürzt. Was jetzt „philosophische Methode" genannt wird, hat nach wie vor neben dem empirischen und verständigen auch ein vernünftiges Organon: Die erste, empirische Forderung ist, „unermüdet (zu) sei(n) im Beobachten und Erfahren". Die zweite, die Forderung an den Verstand ist, „auf analytischem Wege" zur Erkenntnis des Einzelnen vorzustoßen und von hier aus den „Begriff des Ganzen" zu fassen. Die dritte, die Forderung der Vernunft, besagt, „dass man,
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Genitalien aus anatomischen Untersuchungen an Embryonen des Menschen und der Thiere, nebst einem Anhang über die chirurgische Behandlung des Hypospadia, Düsseldorf 1830. J. Müller, Bildungsgeschichte, a.a.O., S. VIII. Ebenda, S. VII. Ebenda, S. VIII.
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wie die liebe Natur bei der Entwickelung und Erhaltung der Organischen diesen verfährt, aus dem Ganzen in die Theile strebe". 34 Die vernünftige Darstellung, die „gedankenvolle, durchdachte" Konstruktion des Forschungsobjekts soll der eigentümlichen Bewegung des je besonderen Gegenstandes folgen: „Wir sehen die Entwickelung des Embryo aus dem Keim, wie ein Fortschreiten des Allgemeinen und Ganzen in seine integrirenden Theile." 3 5 Die Bildungsgeschichte der Genitalien36 zeigt, was es bedeutet, aus dem Unendlichen ins Endliche, aus dem Allgemeinen ins Einzelne zu prozedieren. Die Rekonstruktion der Embryonalentwicklung, die er damals bei Wolff bewunderte, ist zum Paradigma der „philosophischen" Konstruktion der Physiologie schlechthin geworden. In der gleichzeitigen Arbeit über die Struktur und Bildung der Drüsen glaubt Müller das „Gesetz der organischen Gestaltung" so bestimmen zu können, daß, wie er sich dann im Handbuch ausdrückt, „die mannigfachen Formen absondernder Drüsengebilde nur auf der verschiedenen Art beruhen, wie eine grosse absondernde Fläche im kleinen Raum realisirt werden kann". 3 7 Durch solche „vernünftigen Gesetze der Bildung" unterscheidet sich die Physiologie nach wie vor von der Physik: „In der Physiologie der Pflanzen und Thiere ist dem Begreifen ein grösseres Feld geöffnet." 38 Im vernünftigen Begriff des Organischen bewahrt die Physiologie aufgrund der nicht einholbaren Differenz ihres Gegenstandes den Anschluß an etwas, das Müller nach wie vor sich nicht scheut, philosophisch zu nennen. „Beständen alle unsere Erfahrungen aus solchen" - durch die philosophische Methode informierten - „Beobachtungen, so wäre alles weitere Theoretisiren unnöthig, und die Theorie wäre eine schlichte Erzählung der Thatsachen, von denen eine die Consequenz der andern ist." 3 9 Die Theorie wäre in der rechten Konstruktion der Phänomene aufgehoben, stünde den Erscheinungen nicht mehr in abstrakter Opposition als Hypothese gegenüber, hätte sie vielmehr selbst ergriffen. Aus der Perspektive eines solchen Ideals der für sich selbst sprechenden Ordnung der Tatsachen wird die unermüdliche Beobachtung - das Moment des Empirischen - , wird auch die analytische Aktivität der Zergliederung und der bloß hypothetischen Verknüpfung - das Moment der Tätigkeit des Verstandes - zu
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Ebenda, S. IX. Ebenda, S . X . Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Müllers „genetischer Methode" am Beispiel dieses Werkes bei T. Lenoir, The Strategy of Life, a.a.O., S. 105-111. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Bd. 1, Coblenz 1833, S.20f. J. Müller, Bildungsgeschichte, a.a.O., S . X . Ebenda, S. XIII.
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einer transienten Erscheinung, die gewissermaßen verschwindet im rekonstruierten Gesamtphänomen. Indem das wissenschaftliche Erkennen sich „dem Leben des Gegenstandes" übergibt, „emergiert das einfache sich übersehende Ganze selbst aus dem Reichtume, worin seine Reflexion verloren schien", sagt Hegel in der Phänomenologie des Geistes, es kommt zu seiner „einheimischen Form". 4 0 Man kann hier aber ebensogut an Goethe erinnern, nicht nur an die morphologischen Schriften, sondern auch an die optischen Arbeiten, wie er sie im Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt beschreibt: „Ich habe in den zwei ersten Stükken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst an einander grenzen und sich unmittelbar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und übersieht, gleichsam nur Einen Versuch ausmachen, nur Eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten darstellen." 41 Mit dem Ideal einer Selbstexplikation der Natur durch geordnete Phänomenreihen aber, die - im wohlsortierten naturhistorischen Kabinett, im anatomischen Theater - ihre eigene Theorie verkünden, konnte um 1830 die im wesentlichen auf Beobachtung beruhende vergleichende Anatomie Cuvierscher und die Morphologie Goethescher Prägung zweifellos am ehesten in Verbindung gebracht werden. Keineswegs sollte dies jedoch bedeuten, die im wesentlichen auf dem Versuch beruhende Physiologie auszuschließen - im Gegenteil. Müller hatte gehofft und lange darauf hingearbeitet, die Physiologie von einem solchen Goetheschen „Einen Versuch", von einem „gültigen Grundversuch" her aufzubauen. 42 Sein Problem war, daß ihm ein gültiges Experiment zur organischen Kraft, von dem her, als dem „Begriff des Ganzen", der Organismus sich physiologisch konstruieren ließe, nicht gelingen wollte. In den Prolegomena zum Handbuch von 1833 bemerkt er dazu: „Eine einzige Beobachtung organischer Anziehung und Abziehung an kleinsten Theilen wäre hier von unendlicher Wichtigkeit. Allein alle meine Bemühungen um ein Experiment in diesem Puncte sind fruchtlos gewesen." 4 3 Hier würden, wie man in der Vorrede zum gleichen Werk lesen kann, „vergleichend anatomische Thatsachen" bloß „die Mängel unserer Wissenschaft
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 52f., 65. Johann Wolfgang Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, in: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Erste Abteilung, Bd. 8: Naturwissenschaftliche Hefte, hrsg. von Dorothea Kuhn, Weimar 1962, S. 305-315, auf S. 312 (Hervorhebung hinzugefügt). J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie ..., a.a.O., S. 72. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 50 (Hervorhebung hinzugefügt).
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verdecken". 4 4 Was für die vergleichende Anatomie, was für die Embryologie geleistet schien, wollte sich für die Physiologie nicht erzwingen lassen. Weder der sinnesphysiologische 45 noch der neurophysiologische Zugang 4 6 hatten sich als ein Experimentalfeld erwiesen, das es ermöglichte, die physiologischen Tatsachen so zu organisieren, daß man hoffen konnte, sie würden preisgeben, was den Grund der Lebenserscheinungen ausmache. Unter diesen Bedingungen, das konnte Müller nicht verborgen bleiben, mußte der Begriff der organischen Kraft47 und damit der Begriff des Organismus,48 sofern er genau auf diesen Grund der Lebenserscheinungen zielte, selbst auf der Stufe einer „verständigen Abstraktion" verbleiben, konnte also der „denkenden Erfahrung", der „philosophischen Behandlung" nicht verfügbar gemacht werden. U n d an der „Selbstüberhebung" dieser Abstraktion, dem Spiel der „falschen Naturphilosophie", wollte er sich nicht beteiligen. Naturphilosophie, die ihren Namen verdient, kann nur ein mit den Dingen gehendes Denken sein, das sich im Beobachten und Experimentieren selbst betätigt und bestätigt. Liegt darin der Schlüssel für das Verständnis des Umstandes, daß Müller sich in den dreißiger Jahren immer mehr von physiologischen Untersuchungen im engeren Sinne abwandte und sich fast ausschließlich anatomisch-morphologischen Arbeiten widmete? Ihre Prozedur sah er als so gut begründet, daß - ein wesentlicher Punkt für den Wissen-
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Ebenda, S. IV Vgl. J . Müller, Zur Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes ..., a.a.O. J. Müller, Bestätigung des Bell'schen Lehrsatzes, daß die doppelten Wurzeln der Rükkenmarksnerven verschiedene Functionen haben, durch neue und entscheidende Experimente, in: Froriep's Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde, Nr. 646, März 1831, N o . 8 des X X X . Bandes, S. 113-117; Fortsetzung der Versuche über die Wirkung des mechanischen und galvanischen Reizes auf die vorderen und hinteren Wurzeln der Rückenmarksnerven, in: Ebenda, Nr. 647, April 1831, N o . 9 des X X X . Bandes, S. 129-134. Müller beruft sich in diesem Zusammenhang mehrfach auf ein „leider sehr unbekanntes herrliches Werk" (J. Müller, Bildungsgeschichte, a.a.O., S. X ) von Andreas Sniadezki: Theorie der organischen Wesen. Aus der polnischen Urschrift übersetzt von Andreas Neubig, Nürnberg 1821. Sniadezki konzipiert die organische Kraft als irreduzibel, aber nach dem Modell der Kraft, die nach Newton das physikalische Universum regiert (§ 25). Wir kennen zwar weder „die organisirende Kraft selbst" noch ihren Anfang; aber da „alle belebende Kräfte ein beständiger Gegenstand der Erfahrung und Beobachtung sind", so können sie doch „der Rechnung und Ausmessung unterworfen werden", und eben dadurch können wir „auch das Leben einigermaßen regieren und lenken" (§ 35). Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Zum Organismusbild der Physiologie im 19. Jahrhundert: Johannes Müller, Ernst Brücke, Claude Bernard, in: Medizinhistorisches Journal 22, 1987, S. 342-351.
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schaftsorganisator - „jedes, auch das beschränktere Talent, und die bescheidenste Fähigkeit für den Fortschritt des Ganzen das grösste Verdienst sich erwerben kann, was ja überhaupt die Vortheile einer guten Methode und des Schülers sind". 4 9 Zur Zeit der Niederschrift des Handbuchs der Physiologie des Menschen ist für Müller die Präsenz der Philosophie innerhalb der Naturwissenschaft methodologisch dingfest gemacht als „denkende Erfahrung". 5 0 Sie bezeichnet die synthetische Aktivität einer auf Beobachtung und Versuch beruhenden selbstevidenten Konstruktion der Phänomene. Was „denkende Erfahrung" meint - später wird auch der Ausdruck „philosophische Erfahrung" gebraucht, „wenn man will" 5 1 —, war am Beispiel der vergleichenden Anatomie gezeigt; die Physiologie war dazu erst unterwegs. Es kann hier nur angedeutet werden, daß Müller sie am Ende des Jahrzehnts mit Schwanns Zellentheorie dort anlangen sah. 1838 notierte er im Bericht über die Fortschritte der mikroskopischen Anatomie: „Sie" - Schwanns Entdeckungen - „begründen eine bisher unmöglich gewesene Theorie der Vegetation und Organisation." 5 2 Mit der Zelle schien die Physiologie dabei zu sein, jenes Allgemeine, jenen Begriff des Ganzen materialiter zu ergreifen, von dem aus sie zum Einzelnen würde prozedieren können. Müller räumt jedoch der Philosophie auch außerhalb der Naturwissenschaft durchaus ihr Recht ein, und zwar das einer genuin spekulativen Disziplin mit dem Anspruch auf „absolutes Erkennen"; 5 3 es stehen sich dann aber zwei verschiedene Denkweisen gegenüber, und es hat „die Uberzeugung in der Philosophie und in den Naturwissenschaften eine ganz verschiedene Basis". 5 4 Im zweiten Band des Handbuchs, im Buch vom Seelenleben, steht präziser: „Das eigentliche Gebiet der Philosophie sind die Begriffe vorzugsweise und ihre Verhältnisse zueinander. [ . . . ] Sie ist trotz ihrer Verwandtschaft zu der philosophischen Behandlung in den einzelnen Wissenschaften [ . . . ] eine selbständige Wissenschaft für sich selbst [.. ,]." 5 5 Zwei Gebiete also, zwei Weisen, zu Uberzeugungen zu kommen. Das Nachdenken 49 50 51 52
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J. Müller, Bildungsgeschichte, a.a.O., S.XII. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 18. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 522. Johannes Müller, Bericht über die Fortschritte der mikroskopischen Anatomie im Jahre 1838, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin 1839, S. C L X X X V I I I - C C V I I , auf S. C X C V I I (Hervorhebung hinzugefügt). Vgl. dazu ausführlicher Brigitte Lohff, Johannes Müllers Rezeption der Zellenlehre in seinem „Handbuch der Physiologie des Menschen", in: Medizinhistorisches Journal 13, 1978, 2 4 7 - 2 5 8 ; siehe auch T. Lenoir, The Strategy of Life, a.a.O., S. 142ff. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 520. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 18. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 522.
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der Dinge hat mit den Dingen zu gehen, das Nachdenken der Begriffe mit den Begriffen. Die Fakultäten haben ihre Grenzen. Die „philosophische Behandlung" in den Wissenschaften geht nicht in der Philosophie auf und umgekehrt. Daß beide, die Philosophie des Wissenschaftlers und die Philosophie des Philosophen, dennoch korrespondieren können, demnach unbeschadet ihrer Selbständigkeit „Verwandtschaft" haben, liegt letztlich, wie Müller unter Berufung auf Giordano Bruno formuliert, begründet in der Korrespondenz der „Hervorbringung der Naturdinge" mit der „Hervorbringung der vorgestellten Gattungen und Arten", 5 6 dem genus proximum und der differentia specifica des Begriffs. Die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis nach Begriffen liegt in letzter Konsequenz beschlossen in der Strukturähnlichkeit von Denk- und Naturprozeß. 5 7 Dennoch bleibt, wer diesen zum Sprechen bringen will, immer schon angewiesen auf die Ursprünglichkeit einer nicht hintergehbaren Verdoppelung.
III. Im Netz der Dinge Noch ein weiteres Mal hat sich Müller in gedruckter Form zur Methodologie der Physiologie geäußert: im Jahresbericht über die Fortschritte der anatomisch-physiologischen Wissenschaften im Jahre 1833.58 Obwohl die Bemerkungen im Jahresbericht an die Methodenreflexion von 1830 anschließen, findet hier etwas statt, was man als heuristische Unterlaufung bezeichnen kann. In dieser neuerlichen Verschiebung wird das philosophische Moment der Erfahrungswissenschaft umgedeutet zum Instrument des Forschungsprozesses selbst. Erinnern wir uns: Die Philosophie war ursprünglich als ein Organon angesprochen, das der physiologischen Erfahrung allererst zu den Weihen der Wissenschaftlichkeit verhilft, indem es sie und ihre verständigen Abstraktionen auf der „Spitze auf(greift) [...], um sie zu begreifen". 5 9 Dann wurde ihr die Aufgabe einer konstruktiven Darstellung zugewiesen, d. h. die Phänomene, die wissenschaftlichen Tatsachen so zu ordnen, daß sie ihre Geschichte selbst erzählen. Nun wird sie, das Element der Vernunft in
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Ebenda, S. 521 (Hervorhebung hinzugefügt).
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Man kann argumentieren, daß Müller damit in spinozistischer Manier den Cartesischen Dualismus unterläuft. Vgl. den Beitrag von Gerlof Verwey in diesem Band. Es sei jedoch darauf verwiesen, daß Müller gerade nicht einer Einebnung des historischen Stands disziplinärer Differenzierung in den Wissenschaften das Wort redet, und zwar weder in naturphilosophischer noch in physikalistischer Hinsicht. Vgl. den Beitrag von Michael Hagner in diesem Band.
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Johannes Müller, Jahresbericht über die Fortschritte der anatomisch-physiologischen Wissenschaften im Jahre 1833, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin 1834, S. 1-201.
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J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie . . . , a.a.O., S. 57.
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der Trias Erfahrung-Verstand-Vernunft, in die Rechte der Phantasie eingesetzt. Das Verfahren hat die typische Form einer Subversion: Die epistemische Struktur bleibt - vorerst - erhalten, aber dadurch, daß eines ihrer Elemente ausgetauscht wird, wird sich ihre Dynamik neu orientieren. Der Anspruch, die wissenschaftliche Tätigkeit unter die höhere Wahrheit der Vernunft zu bringen, sei es als ein Akt philosophischer Usurpation, sei es in Form einer, wie man sagen könnte, Philosophie der Sachen selbst, wird umgebogen in die - keineswegs weniger bescheidene - Forderung, die Kreativität des Forschungsprozesses zu gewährleisten. Das Geschick zu produktivem Forschen kann nur im Forschungsprozeß selbst, als „harmonisches Wechselwirken" zwischen „Erfahrung", „isolirendem Verstand" und „Phantasie" erworben und, immer prekär, gehandhabt werden. Denn Phantasie vor allem ist nicht α priori mit der Würde und der Gewißheit des Wahren versehen. Sie ist janusköpfig; durch sie sind „die meisten Irrthümer in den Naturwissenschaften entstanden", und sie kann sogar „die Beobachtung im Keim (verderben)". Aber: „Gleichwohl ist sie ein unentbehrliches Gut; denn sie ist es auch, durch welche neue Combinationen zur Veranlassung wichtiger Entdeckungen gemacht werden. Die Kraft der Unterscheidung des isolirenden Verstandes sowohl, als der erweiternden und zum Allgemeinen strebenden Phantasie sind dem Naturforscher in seinem harmonischen Wechselwirken nothwendig. Durch Störung dieses Gleichgewichts wird der Naturforscher von der Phantasie zu Träumereien hingerissen, während diese Gabe den talentvollen Naturforscher von hinreichender Verstandesstärke zu den wichtigsten Entdeckungen führt." 60 An anderer Stelle nimmt Müller historisch präzisierend Bezug auf das Forschungsunternehmen einer „Anatomie der neuern Zeit", für die das „Streben" charakteristisch sei, „nicht allein die Gesetze aufzufinden, durch welche eine grosse Anzahl anatomischer Facta begreiflich werden, sondern auch mit der Kenntnis dieser Gesetze durch Combinationen neue Wege zur empirischen Auffindung wichtiger Facta zu bahnen". Dies haben „Einige die philosophische Methode genannt". 61 Nach zehn Jahren unermüdlicher Forschung stellt sich das „innige Verhältnis" von Philosophie und Physiologie nun dar als harmonische Wechselwirkung von Beobachtung, Verstand und Phantasie bei der Anbahnung neuer Wege zur Entdeckung unbekannter wichtiger Fakten. Das bedeutet nicht Aufgabe eines Anspruchs, sondern seine Transformation in eine Form, die geeignet ist, ein ganzes Wissenschaftsfeld zu organisieren, wozu Müller sich in Berlin soeben anschickte. Es versammelt nicht Gleichgesinnte unter einem emphatischen philosophischen Bekenntnis, es setzt vielmehr auf die Kreativität vieler Köpfe unter der lockeren Richtschnur einer heuristischen Maxime. Das ist es, was bald die Müller60
J . Müller, Jahresbericht 1833, a.a.O., S. 3 - 4 (Hervorhebungen hinzugefügt).
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Ebenda, S. 2 (Hervorhebung hinzugefügt).
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Schule kennzeichnen sollte. „ D i e A u f g a b e war, etwas z u finden, was noch nicht bekannt war. [ . . . ] auch der kleinste F u n d galt, sofern er wirklich etwas N e u e s brachte, f ü r eine vollwertige E n t d e c k u n g . " 6 2 So schildert Bernhard N a u n y n seine E r f a h r u n g noch mit der Generation der späten Müller-Schüler Nathanael Lieberk ü h n und G u i d o Wagener. Müllers eigene Arbeit blieb vorwiegend vergleichend anatomisch u n d entwicklungsgeschichtlich festgelegt. D a s war der G a n g seiner E r f a h r u n g , die ihre N a c h träglichkeit entwickelt hat, der Selbstbescheidung wohl auch angesichts des physikalischen u n d chemischen M e t h o d e n s c h u b s gegen die Mitte des Jahrhunderts. I m S y s t e m der „pelagischen F i s c h e r e i " 6 3 der späteren Jahre fand sie ihre konsequente F o r t s e t z u n g . In diesem S y s t e m , als einem Weg z u r E n t d e c k u n g des U n b e k a n n t e n , hat Müller schließlich den letzten Schritt getan u n d der Phantasie als F o r s c h u n g s m a x i m e selbst noch materielle Gestalt verliehen. In Anbetracht der Schwierigkeit, Meeresplankton in K u l t u r zu n e h m e n , 6 4 war das M ü l l e r - N e t z genau die Vorrichtung, die er brauchte, u m die M e t a m o r p h o s e der Larvenstadien der Echinoderm e n 6 5 a u f z u k l ä r e n . D i e endlose Wiederholung des E i n s a m m e l n s , u n d nur die Wiederholung, machte dabei jene Ü b e r r a s c h u n g e n möglich, die vor vorschnellen 62 63 64
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Bernhard Naunyn, Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925, S. 73. Johannes Müller, Brief an seine Frau vom 30. 8. 1855 aus Bergen, in: Wilhelm Haberling, Johannes Müller. Das Leben des rheinischen Naturforschers, Leipzig 1924, S. 425. Hier wundert sich Koller zu Unrecht, warum Müller nicht zur „verhältnismäßig einfachen Methode" der künstlichen Befruchtung und in vitro Aufzucht von Echinodermen überging. G. Koller, Johannes Müller, a.a.O., S. 165. Müller war es 1852 gelungen, Psammechinus microtuberculatus bis zum ersten Larvenstadium zu ziehen, Paracentrotus lividus brachte er 1852 bis zum Beginn der Metamorphose. Für die meisten Echinodermen wurden jedoch erst in den folgenden Jahrzehnten Bedingungen gefunden, unter denen sie sich vom befruchteten Ei über die Larvenstadien gelegentlich auch zur Metamorphose entwickelten. Eine Ubersicht findet sich bei Theodor Mortensen, Studies of the development and larval forms of Echinoderms, Copenhagen 1921, pp. 12-18. Noch 1946 schreibt Thorson: „Es ist eine Tatsache, daß Echinodermenlarven sehr viel empfindlicher auf Veränderungen des Salzgehaltes und der Temperatur reagieren als zum Beispiel Larven der Gastropoden, der Lamellibranchier und der meisten Polychaeten. In unserer Hauptserie gingen immer die Echinodermenlarven zuerst ein, und sie befanden sich schon oft in voller Auflösung, wenn die anderen Gruppen invertebrater Larven noch kräftig oder gesund waren." Gunnar Thorson, Reproduction and larval development of Danish marine bottom invertebrates, with special reference to the planktonic larvae in the Sound (Oresund), in: Meddelelser fra Commissionen for Danmarks Fiskeri- og Havundersogelser, Ser.: Plankton, Bind 4, Nr. 1, pp. 1-523, cit. p. 363. Ich danke Wolfgang Dohle, Berlin, für die Literaturhinweise. Nach den Angaben Kollers hat Müller über 60 seiner 267 Publikationen den Echinodermen gewidmet (G. Koller, Johannes Müller, a.a.O., S. 159).
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Festlegungen bewahrten. Man muß, wie Müller schon 1824 postulierte, „denselben Versuch unter unzähligen Modifikationen wiederholen". 6 6 In einem Brief von 1852 schreibt er an seine Frau: „Übrigens gewährt die alte bewährte Fischerei so viel Arbeit, daß sie noch lange nicht erschöpft ist, wenigstens für mich nicht. Denn wenn man die Gegenstände wieder und wieder ansieht, so findet man immer wieder etwas neues an ihnen zu unterscheiden." 6 7 Ein Beobachtungs- oder Experimentalsystem muß so organisiert sein wie ein Müller-Netz: Es muß Maschen enthalten, in denen sich das noch nicht Bekannte verfangen kann. Es muß mehr und anderes „sehen" können als man selbst zu imaginieren in der Lage ist. 6 8 Im System der „pelagischen Fischerei" schuf Müller sich ein Instrument, das die subjektive Phantasie sozusagen exteriorisierte: Ungeahntes und Unahnbares mochte aus dem Meer auftauchen - eines Tages. Und so vermeldet ein Brief von 1853: „Nun ist bereits die siebente Abhandlung begründet. [ . . . ] Dabei haben sich einige in den früheren Jahren begonnene andere Materien hier weiter entwickelt und wachsen allmählich zu besonderen Reihen heran. Rätselhafte Unbekannte des Meeres treten bestimmter auf und werden sicherer bekannt, ohne daß sich ihr Ziel für jetzt noch bestimmen läßt." 6 9 Das bestimmte Gefühl, daß ein solches System seine Zeit hat, daß „meine Art der Fischerei [ . . . ] allmählich wie ein Licht ausgehen (wird), wenn sie erschöpft ist", 7 0 war dabei nur der konsequente Ausdruck der Erwartung, der sich mit einem solchen System verknüpfte: Es sollte und würde eines Tages durch ein neues System überholt werden. Und er bereitete sich darauf vor. „Höchst empfänglich" für eine neue „etwaige Bescherung", „wäre mir (am liebsten) etwas, was
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J. Müller, Von dem Bedürfnis der Physiologie ..., a.a.O., S. 72. Johannes Müller, Brief an seine Frau vom 4. 9. 1852 aus Triest, in: W Haberling, Johannes Müller, a.a.O., S. 372. Wenn sich Koller dabei die Vorstellung aufdrängt, daß Müller „genau genommen kein Forschungsziel" hatte (G. Koller, Johannes Müller, a.a.O., S. 220), so verkennt er genau dieses strategische Moment der Anheimgabe der Phantasie an die Ingenuität eines Forschungssystems. Johannes Müller, Brief an seine Frau vom 21. 9. 1853 aus Messina, in: W. Haberling, Johannes Müller, a.a.O., S. 393. Man beachte die Formulierung: Sie spricht gewissermaßen von einem „draußen" vorgehenden Erkenntnisprozeß. Johannes Müller, Brief an seine Frau vom 30. 8. 1853 aus Messina. Vgl. auch den Brief an Anders Retzius vom 18. 8. 1854 aus Berlin und den Brief an seine Frau vom 31. August 1854 aus Helgoland. Noch am 14. 7. 1855 schreibt er aus Berlin an seinen Sohn: „Ich werde übrigens nochmal versuchen, einen Fischzug in gewohnter Weise zu tun und möchte von dieser Fischerei noch nicht ganz Abschied nehmen." (In: Ebenda, S. 391, 407, 408, 417.)
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wieder ein paar Jahre anhielte und woran man alle Jahr ein Stück weiter arbeiten könnte." 7 1 Damit kommt die Kette dessen zu Ende, was in Müllers Denken - wie in seiner Forschungspraxis - jenen Ort besetzt hat, der die Wissenschaftlicbkeit der Physiologie garantieren sollte: die philosophische Transformation der Erfahrung, die philosophische Methode der Darstellung, die gezähmte Phantasie der Forschung, und schließlich - das System der pelagischen Fischerei. Unter der Voraussetzung, daß man ihn von Anfang an begreift als den Versuch, der empirisch orientierten biologischen Forschung ihren Status als Wissenschaft zu garantieren, ist dieser Entwicklungsgang alles andere als ein Prozeß des Verzichts auf jeden philosophischen Anspruch. 7 2 Er ist ein Produkt von Müllers eigener wissenschaftlicher Praxis, die Einlösung des philosophischen Anspruchs der Antrittsrede in einer bestimmten Form empirischer Forschungstätigkeit. Die Art dieser Einlösung impliziert ein grundlegend verändertes Verständnis der Lebenswissenschaften gegenüber dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die Biologie hat sich aus der „Naturgeschichte" gelöst und ist neben der Physik und der Chemie zum dritten Feld geworden, in dem sich in der kollektiven Arbeit vieler „Köpfe" jene Kohärenz etabliert, die nur in der selbstbewußten Verfügung über einen eigenen Gegenstand entstehen kann.
71 72
Johannes Müller, Brief an seinen Sohn vom 14. 7. 1855 aus Berlin. Vgl. dazu auch den Brief an seine Frau vom 30. 8. 1855 aus Bergen, in: Ebenda, S. 417, 425. Die Schwierigkeit für Emil Du Bois-Reymond in seiner Gedächtnisrede auf Müller besteht gerade darin, Müllers Weg aus philosophischen Anfangswirren zu einem konsequenten Induktionisten zu einer Bekehrung zu stilisieren, und andererseits daran festzuhalten, er sei auch in seinem reifen Werk Metaphysiker geblieben, nämlich Vitalist.
FREDERICK GREGORY
Hat Müller die Naturphilosophie wirklich aufgegeben?
Der Titel meines Beitrags wird denen, die mit dem Leben Johannes Müllers vertraut sind, vielleicht seltsam erscheinen. Bekanntlich hat Emil du Bois-Reymond die Frage, ob Müller die Naturphilosophie aufgegeben habe, dahingehend beantwortet, daß er seine Sympathie für die Naturphilosophie verloren habe, weil er nach seiner Studienzeit in Bonn anderthalb Jahre bei Karl Asmund Rudolphi in Berlin verbracht hatte. 1 In seiner Gedächtnisrede auf Rudolphi aus dem Jahre 1835 hat Müller selbst sich in ähnlicher Weise geäußert, wiewohl er einige Jahre später auch den schwedischen Chemiker Jörn Jacob Berzelius als Gewährsmann für seine Abwendung von einer idealistischen Behandlung der Naturwissenschaft erwähnte. 2 Ganz so einfach ist die Sache jedoch nicht. Aus der von Rudolf Virchow zufällig entdeckten Widmung an Hegel, die Müller in das diesem zugeeignete Exemplar seines 1825 erschienenen Buches Über die Entwicklung der Eier im Eierstock bei den 'Wespenheuschrecken und eine neu entdeckte Verbindung des Rückengefäßes
1
Emil du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin, 1860, S. 2 5 - 1 9 0 , auf S. 3 3 - 3 4 . O b w o h l du Bois-Reymond berichtet, daß Müller seine Frühschriften ins Feuer geworfen habe, soweit er ihrer habhaft werden konnte, blieb wenigstens eine Kopie seiner Dissertation „ D e Phoronomia Animalium" in seiner persönlichen Bibliothek. Vgl. Peter Schmidt, Z u den geistigen Wurzeln von Johannes Müller. Med. Diss., Münster 1973, S. 177.
2
Johannes Müller, Gedächtnissrede
auf Carl Asmund Rudolphi, zit. nach:
Ulrich
Ebbeke, Johannes Müller, der große rheinische Physiologe, Hannover 1951, S. 28. F ü r den Hinweis auf Berzelius vgl. E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S. 38. Vgl. auch Müllers Brief an Retzius vom 24. August 1834, in: Briefe von Johannes Müller an Anders Retzius, hrsg. von Gustaf Retzius, Stockholm 1900, S. 21.
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bei den Insekten geschrieben hat, 3 wissen wir ζ. B., daß Müller, während er bei Rudolphi in Berlin war, die Vorlesungen Hegels gehört und einen nachhaltigen Eindruck von ihnen behalten hat. Im Lichte von Hegels bekannter Aversion gegen „den Schwindel der Naturphilosophie" ist es möglich, daß sowohl Hegel als auch Rudolphi Müller dazu veranlaßt haben, sich während seiner Berliner Zeit gegen die Ubertreibungen einiger Naturphilosophen zu wenden. 4 Nach seiner Rückkehr aus Berlin im Jahre 1824 war er jedenfalls kein Gegner einer philosophischen Naturbetrachtung. Entgegen der Ansicht jener, die von einer angeblich unphilosophischen Phase nach 1824 reden, hat Müller stets seine Hochachtung für die philosophische Untersuchung gewahrt. Wir kennen nicht nur seine positive Einschätzung der Philosophie aus den Werken der späten zwanziger und dreißiger Jahre. Auch private Äußerungen etwa aus dem Jahre 1851 über Hermann Lotzes philosophische Behandlung der Physiologie gehen in dieselbe Richtung. 5 Rezente historische Untersuchungen haben unser Verständnis der romantischen Naturwissenschaft verändert und vertieft. Wenn man z . B . die herkömmliche These eines Bruches um 1830 akzeptiert, der zur Verdrängung der Naturphilosophie durch die Naturforschung und zu einer Widerlegung der Theorien Schellings und seiner Nachfolger geführt habe, dann verkennt man, daß das ganze 19. Jahrhundert hindurch romantische Themen die Entwicklung und Praxis der Naturwissenschaft stark beeinflußt haben. Simon Schaffer hat dazu bemerkt, daß „patterns of work such as the heroic privilege of discovery, the use of a disciplinary history as a means of legitimation of the division of labour in the sciences and the integration
3
Rudolf Virchow, Johannes Müller. Eine Gedächtnisrede, gehalten bei der Todtenfeier am 24. Juli 1858 in der Aula der Universität zu Berlin, Berlin 1858, S. 19. Du BoisReymond (Gedächtnissrede auf Johannes Müller, a.a.O., S. 37 und 177, Anm. 11) hingegen bestreitet einen Einfluß von Hegel auf Müller.
4
Zu Hegels Kritik an der Naturphilosophie vgl. Dietrich von Engelhardt, Naturphilosophie im Urteil der Heidelberger Jahrbücher der Literatur 1808-1832, in: Heidelberger Jahrbücher 19, 1975, S. 5 3 - 8 2 , auf S. 54f. Das Wort vom „Schwindel der Naturphilosophie" findet sich in Hegels Brief an Paulus vom 30. Juli 1814.
5
Vgl. ζ. B. Johannes Müller, Grundriss der Vorlesungen über die Physiologie, Bonn 1827, S. IV-V; Vorreden zu ders.; Bildungsgeschichte der Genitalien, Düsseldorf 1830; Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, Coblenz 1834, sowie den Brief an Hermann Lotze, den Müller am 12. Juli 1851 als Dank für die Zusendung von dessen „Allgemeiner Physiologie des körperlichen Lebens" schrieb (in: Max Wentscher, Hermann Lotze, Bd. 1: Lotzes Leben und Werke, Heidelberg 1913, S.366f.).
Hat Müller die Naturphilosophie wirklich aufgegeben?
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of laboratory teaching and lecture performance were all aspects of Romantic natural philosophy and its aftermath, the emergence of organized natural science". 6 In dieselbe Richtung gehen auch die Herausgeber des jüngst erschienenen Buches Romanticism and the Sciences, wenn sie in ihrer Vorrede schreiben, daß „the self image of the new 'men of science' was to be largely continued by Romantic themes - scientific discovery as the work of genius, the pursuit of knowledge as the disinterested heroic quest, the scientist as actor in a dramatic history, the autonomy of a scientific elite". 7 Es darf uns daher nicht überraschen, wenn wir beim späteren Müller Spuren seiner um 1824 vertretenen Meinungen wiederfinden. Daraus folgt jedoch nicht, daß der für den reifen Müller zu Recht behauptete Antagonismus zwischen Naturphilosophie und Naturforschung geleugnet werden muß. Ebensowenig ist zu bestreiten, daß sich die Befürworter der Naturphilosophie ab 1830 defensiv verhalten haben. Es gab unter den Wissenschaftlern einen zunehmenden Konsens darüber, daß die Positionen von Schelling und Hegel gegenüber der Naturwissenschaft nutzlos, unfruchtbar und der echten Forschung schädlich seien. Würde man leugnen, daß es zu dieser Zeit tiefe Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertretern der Naturwissenschaft gab, so wiederholte man denselben Fehler, den die Historiker begehen, die den Kampf zwischen Naturwissenschaften und Religion im späten 19. Jahrhundert bewußt übergehen. 8 Dabei kann man leicht nachweisen, daß dieser Gegensatz am Ende des Jahrhunderts von beiden Seiten allgemein anerkannt war. Analog dazu können wir feststellen, daß zu Müllers Zeit viele meinten, die Naturphilosophie habe sich in Mißkredit gebracht und müsse durch eine strengere Naturwissenschaft ersetzt werden. Die tiefer gehende Frage ist natürlich, ob wir diese Interpretation undifferenziert akzeptieren müssen. Poststrukturalisten würden vielleicht fragen: Ist es möglich, daß die Absicht der Autoren des 19. Jahrhunderts den Text nicht überlebt hat? Das erste Problem entsteht, wenn wir genauer untersuchen, wie und mit welcher Begründung die Naturphilosophie damals für obsolet erklärt wurde. Üblicherweise wurde sie im Ganzen abgelehnt, als ob die verschiedenen naturphilosophischen Systeme die gleichen Grundlagen gehabt hätten. Erst moderne Historiker
6
Simon Schaffer, Genius in Romantic Natural Philosophy, in: Romanticism and the Sciences, eds. Andrew Cunningham/Nick Jardine, Cambridge 1990, pp. 8 2 - 9 8 , cit. p. 94.
7
Ebenda, p. 8.
8
Vor allem zwei Historiker haben eine Kontroverse zwischen Naturwissenschaft und Religion im 19. J h . vehement bestritten: Owen Chadwick, The Victorian Church, Part 2, London 1972, pp. 1 - 3 9 ; ders., The Secularization of the European Mind, Cambridge 1975, pp. 161-188. Vgl. auch James Moore, The Post-Darwinian Controversies, Cambridge 1979, pp. 8 0 - 1 0 3 .
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wie Dietrich von Engelhardt haben auf die Notwendigkeit hingewiesen, hier genauere Differenzierungen vorzunehmen. 9 Der junge Müller bildet in unserem Kontext insofern eine Ausnahme, als er bei dem Versuch der Bestimmung einer bona fide Naturphilosophie auch eine „falsche Naturphilosophie" spezifisch identifiziert hat. Im Gegensatz dazu haben andere den Unterschied zwischen Schelling und seinen Nachfolgern nicht beachtet, geschweige denn die Differenzen zwischen Hegel, Schelling und Goethe. 1 0 Selbst Jakob Fries, ein Erzfeind von Schellings Naturphilosophie, wurde einzig und allein aufgrund des Titels eines seiner Hauptwerke, Die mathematische Naturphilosophie, als ein Naturphilosoph abgelehnt. 11 Der Bruch mit der Naturphilosophie war in der Tat nicht nur durch den Kontrast zwischen Naturforschung auf der einen und Schellings Naturphilosophie auf der anderen Seite motiviert, sondern auch durch denjenigen zwischen empirischer Naturforschung und klassischer Philosophie überhaupt, was auf eine Trennung von methodischen und Verstehensfragen hinausläuft. Wie wir wissen, hat Müller diese antiphilosophische Tendenz der Naturwissenschaftler stark bekämpft. In einer prinzipiellen Bemerkung in der Vorrede zur Bildungsgeschichte der Genitalien von 1830 schrieb Müller, die Philosophie sei - zu Unrecht - so sehr in Verruf geraten, daß „ein berühmter, nunmehr verstorbener Arzt und Professor jeden Irrthum seiner Schüler eine Philosophie nannte". 1 2 Müller protestierte gegen einen solchen Standpunkt und bezeichnete sich selbst als „Freund von einer mit Methode angestellten, gedankenvollen, durchsetzten, oder, was dasselbe ist, philosophischen Behandlung eines Gegenstands", doch seine Zeitgenossen konnte er damit nicht überzeugen. Von wenigen Naturwissenschaftlern abgesehen, die ihr philosophisches Anliegen dezidiert vertraten - erinnert sei besonders an den Friesianer Matthias Schleiden und an einige von Müllers Schülern - , waren die meisten Naturforscher der Meinung, der Erfolg der Erfahrungswissenschaften beweise, daß die Naturwissenschaft ganz gut ohne die Philosophie auskomme und daß diese die Entwicklung und den Fortschritt der Naturwissenschaft allenfalls behindert habe. 1 3 U m die Jahrhundertmitte war diese Einstellung so weit verbreitet, daß sie auch in populärwissenschaftlichen Werken zu einem Gemeinplatz wurde. Ludwig
9
Vgl. D . von Engelhardt, Naturphilosophie im Urteil der Heidelberger Jahrbücher der Literatur 1808-1832, a.a.O., S. 54f.
10
Ebenda, S. 54.
11
Vgl. Matthias Schleiden, Ü b e r den Materialismus der neuen deutschen Wissenschaft,
12
Zit. nach: Wilhelm Haberling, Johannes Müller. Das Leben des rheinischen Naturfor-
13
Vgl. Frederick Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany,
sein Wesen und seine Geschichte, Dorpat 1864, S . 4 3 . schers, Leipzig 1924, S. 106. Dordrecht/Boston 1977, p. 7.
Hat Müller die Naturphilosophie wirklich aufgegeben?
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Büchners Schmähreden gegen die Naturphilosophie und gegen eine „ältere" Philosophie in seinem Buch Kraft und Stoff sind hinlänglich bekannt. 1 4 Ein bislang wenig beachteter, aber gleich wichtiger Indikator für diese Diffusion der naturwissenschaftlichen Haltung ins gesellschaftliche Bewußtsein ist das Porträt der Philosophie in den damals viel gelesenen Naturwissenschaftlichen Volksbüchern von Aaron Bernstein. In seine Bemerkungen über die Erhaltung der Kraft flicht Bernstein ein für die Zeit typisches Urteil ein: „Die Frage klingt philosophisch und seitdem die sogenannte Naturphilosophie in dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts wahrhaft verwüstend auf alles, was Geist und Wissen heißt, eingewirkt hat, ist eine Frage, die philosophisch klingt, im Stande, Dutzende von Naturforschern in die weite Flucht zu jagen." 1 5 Und in den Erläuterungen zur Schwerkraft heißt es, daß man die Frage, weshalb ein Stein zur Erde fällt, heute besser beantworten könne als früher, da man die Ursache dem Stein zugeschrieben hatte. Diesen Fortschritt verdanke man nicht den „Naturphilosophen, denn diese spielen theilweise noch heutigen Tages mit ähnlichen thörichten Gedanken, wie die des Mittelalters", sondern den Naturforschern, „die erkannt haben, daß es nicht am Stein liege". 1 6 Mir kommt es hier darauf an zu zeigen, daß Müller dem von seinen Zeitgenossen hergestellten und von vielen Historikern übernommenen Stereotyp nie entsprochen hat. Wenn wir nicht aus der Einstellung Müllers etwas machen wollen, was sie nicht war, müssen wir seine Absage an Schellings Naturphilosophie mit äußerster Sorgfalt und Akribie nachvollziehen. Zunächst einmal muß man sich fragen, wie der durch die Postulate der exakten Forschung hervorgerufene totale Zusammenbruch der Naturphilosophie unser Verständnis verzerrt hat. Zum einen scheint dadurch unser Blick für den Kampf um die wissenschaftliche Methode, der einige der führenden Denker der dreißiger und vierziger Jahre beschäftigt hat, getrübt zu sein. 1 7 Vom Standpunkt des späten 20. Jahrhunderts aus ist es möglich, die Schwierigkeiten zu erkennen, in denen sich die damaligen Protagonisten befanden. Inzwischen haben wir eingesehen, wie unzureichend die Logik der Induktion ist. Uns ist bewußt geworden, daß das Subjekt die vorgeblich objektive Methode des Naturwissenschaftlers einfärbt und durchdringt. Ebenso haben wir besser verstehen gelernt, wie es die gesellschaftlichen und kulturellen Bestimmungen der Ideen und
14
Ludwig Büchner, Kraft und Stoff, Frankfurt 1855, S. X I I - X I V
15
Aaron Bernstein, Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 18, 4. Aufl., Berlin 1870, S. 24.
16
Ebenda, Bd. 3, S. 41.
17
Zur weiterführenden Analyse der Schwierigkeiten um die Mitte des 19. Jhs., eine Rationalität der Induktion zu entwickeln, vgl. Ε Gregory, Scientific Materialism, a.a.O., pp. 15Iff.
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Praxis der Naturwissenschaft widerspiegelt. Wiewohl die Wissenschaftler der Romantik die Reflexionen der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts natürlich nicht antizipieren konnten, haben sie dennoch immer wieder betont, daß eine einfache Bezugnahme auf Francis Bacon nicht ausreicht, um die Schwierigkeiten bei der Anwendung der induktiven Methode auf die Naturwissenschaften zu beseitigen, da der 'aktive' Anteil des Subjekts an jeglicher Wahrnehmung der natürlichen Welt eine voraussetzungslose Beobachtung unmöglich macht. Implizit war damit für die romantischen Denker eine instinktive Ablehnung des heraufziehenden positivistischen Verständnisses der Naturwissenschaft verbunden. 18 Eines der Kennzeichen der Ära nach der Blüte der romantischen und metaphysischen Naturphilosophie ist der Verlust dieser selbstreflektierenden und selbstkritischen Dimensionen in den wissenschaftlichen Werken der Naturforscher. Anders als seine berühmten Schüler hat Müller die Perspektive der romantischen Naturphilosophie, die Bedingungen des menschlichen Geistes zu berücksichtigen, vollauf gewürdigt. Sein Weg vom jugendlichen Enthusiasmus für Schellings Naturphilosophie zur begeisterten Rezeption der Weltanschauung Goethes und von dort zu dem „realistischen Standpunkt" der Handbuch-Periode ist bekannt. Ich möchte nun versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob der reife Müller die Naturphilosophie vollständig abgewiesen hat, indem ich sein Unbehagen gegenüber Schelling mit den Vorbehalten von Jakob Fries vergleiche, der zwanzig Jahre zuvor die Schellingsche Philosophie auch in Frage gestellt hatte. Bekanntlich optiert Schelling in seiner Naturphilosophie für den Primat der intellektuellen Anschauung gegenüber der sensiblen; nur die erstere ist ihm die entscheidende Vermittlungsinstanz zwischen dem Denken und den äußeren Dingen. 19 Als Schüler von Bonner Professoren, die Schellings Programm begeistert weitergaben, respektierte auch der junge Müller die intellektuelle Anschauung als wichtige Quelle der Naturbetrachtung. Doch je länger er im Labor forschte, desto verdächtiger wurde ihm die intellektuelle Anschauung als Grundlage seiner eigenen Denkkategorien. Während er in seinen ersten Arbeiten, wie du Bois-Reymond bemerkt, noch „gänzlich versunken [war] in dem Traummeer jener mit polaren
18
Zur Kritik „der blinden und ideenlosen Art der Naturforschung, die seit dem Verderb der Philosophie durch Bacon [ . . . ] allgemein sich festgesetzt hat", vgl. F. W J . Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: Sämmtliche Werke, 1. Abt., 2. Band, Stuttgart - Augsburg 1857, S. 70. Das Verhältnis von empirischer Naturwissenschaft und Naturphilosophie bei Hegel wurde kürzlich von Michael Petry und Petra Falkenburg kontrovers diskutiert -
vgl. Hegel und die Naturwissenschaften, hrsg. von
Michael J . Petry, Stuttgart 1987, S . 3 3 5 , 3 4 5 - 3 4 7 19
Zu den Ausführungen zur intellektuellen Anschauung vgl. F. W J . Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), a.a.O., S. 2 1 6 - 2 2 3 .
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Gegensätzen spielenden falschen Philosophie der Natur", 2 0 gestalteten sich seine methodologischen Reflexionen bald differenzierter. Er suchte eine Methode, die ein vertrauenswürdiges und genaues Porträt der wirklichen Welt ermöglichte. Zur Zeit seiner 1826 erschienenen Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes ist er bereits intensiv mit dem Problem der Induktion beschäftigt. Wie sehr er zu dieser Zeit mit sich selbst gerungen hat, geht auch aus der Rede Über das Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung deutlich hervor. Dabei darf man sich jedoch nicht auf Müllers Aussagen über den „richtigen" Standpunkt der Physiologie beschränken; die größere Beachtung muß vielmehr seiner Kritik an den bisherigen Bestimmungsversuchen einer philosophischen Grundlage der Physiologie geschenkt werden. Müller wies die Position einer - wie er sich ausdrückte - „verständigen Physiologie" zurück, weil man auf diesem Wege eine Erkenntnis der Welt erreiche, indem man die Erfahrung zusammen mit den bestimmenden Kategorien des Verstandes aufnahm. Müller wußte, daß Kant die mögliche Erkenntnis des Organismus begrenzt hatte, war jedoch nicht bereit, das für seine eigene Wissenschaft, die Physiologie, zu akzeptieren. Mit den Romantikern teilte er das Unbehagen an dem Postulat einer eingeschränkten Erkenntnis der Erscheinungswelt. Nach Müller reicht es nicht aus, „in den zufälligen Bedingungen der Erscheinungen den Grund derselben" zu suchen, da unsere Ergebnisse sonst das „Siegel der Unzuverläßigkeit" tragen - „und wie sie [die verständige Physiologie, F. G.] aus der Erfahrung deducirt ist, wird sie auch ewig aus der Erfahrung widerlegt werden können". 2 1 Die Kantische Position war für Müller nicht annehmbar, weil sie ihm keine sichere Verbindung des Denkens zur realen Welt zu enthalten schien. Wie Schelling ging Müller davon aus, daß Kant den dogmatischen Rationalismus und die theoretische Beliebigkeit des Empirismus überwunden habe, indem er das Erkennbare in der Natur so stark beschränkte, daß die reale Welt sich außerhalb der so gesetzten Grenzen befand. Als Konsequenz schien einigen Naturforschern in der Kantischen Philosophie eine sichere Erkenntnis der Natur nicht möglich zu sein, weil die Erfahrung selbst nur durch die Kategorien des Geistes zustande kam. Die Natur-
20
21
E. du Bois-Reymond, Gedächtnissrede auf Johannes Müller, S. 33. Du Bois-Reymond bezieht sich hier vor allem auf Müllers „Dissertatio inauguralis physiologica sistens Commentarios de Phoronomia Animalium" (Bonn 1822) sowie die „Beobachtungen über die Gesetze und Zahlenverhältnisse der Bewegung in den verschiedenen Thierklassen mit besonderer Rücksicht auf die Bewegung der Insecten und Polymerien", in: Isis 1, Heft 1, 1822, Sp. 61-76. Johannes Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, in: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, Leipzig 1826, S. 1-36, S. 17.
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Wissenschaftler spielten hier eher die Rolle von Gesetzgebern, als daß sie Gesetze entdeckt hätten; Erkenntnis der Natur war eher vom Geist als von der Natur abhängig. Kein Wunder, daß Müller sich - wie Fries - zunächst zu Schelling hingezogen fühlte. 2 2 Wenn nun einerseits Schellings Philosophie dem jungen Müller über das bloße Sammeln von Tatsachen hinaus ein tieferes Eindringen in die Welt des Erkennbaren versprach, so wurde er andererseits durch die Art, wie Schelling den philosophisch ungebildeten Empirismus kritisierte, bald enttäuscht. Ahnlich wie Fries glaubte Müller an die Notwendigkeit, der Masse der empirischen Informationen eine philosophische Dimension hinzufügen zu müssen, die Fries vor allem in der Induktion sieht. „Es ist Schellings großes Verdienst um die Naturphilosophie", schrieb er 1808, „daß er im großen den wissenschaftlichen Wert der Induktion garantiert hat, zu dem unsere besten Physiker oft unwillkürlich hingetrieben, doch kein Zutrauen fassen konnten." 2 3 Die Anhänger der Schellingschen Philosophie hielten es für ein probates Mittel, aus dem Idealen und mittels des Idealen in das Reale vorzudringen. Wie Fries konnte Müller dem Schellingschen System dann aber nicht mehr folgen, als er herausfand, daß es sich in Wirklichkeit nur um eine Philosophie ohne Empirie, eine mythische Naturbetrachtung, mithin eine falsche Naturphilosophie handelte. Schelling hat in der Tat den Kantischen Bruch geheilt, aber Müller ist mit der Methode seines Verfahrens nicht einverstanden. Müller meinte erkannt zu haben, daß sowohl Kant als auch Schelling die Wissenschaft in eine Sackgasse führten, aus der er selbst allerdings keinen Ausweg wies; denn mit seiner eigenen Lösung, die „verständige Physiologie" mit der Philosophie zu einer „Physiologie der denkenden Erfahrung" zu verbinden, war er für die Naturwissenschaftler seiner Zeit einfach nicht überzeugend. Es ist natürlich nicht zu leugnen, daß Müller sich die sogenannte „künstlerische Induktion" Goethes, die dem älteren Helmholtz so wertvoll erscheinen sollte, anzueignen suchte. 2 4 Wie im Falle Goethes selbst ist aber diese Position den Zeitgenossen unverständlich geblieben. Müller hat von dem Bedürfnis gesprochen, die Erfahrung, den Verstand und die Idee zusammenzubringen. Im Rückgriff auf Francis Bacon hat er auf die Notwendigkeit hingewiesen, „daß das philosophische Denken
22
Zum Vergleich der unterschiedlichen Einflüsse von Kants und Schellings Naturphilosophie vgl. Frederick Gregory, Kant's Influence on Natural Science in the German Romantic Period, in: New Trends in the History of Science, eds. Robert Ε W Visser a. o., Utrecht 1989, pp. 5 3 - 6 6 , p. 5 4 - 6 0 .
23
Jakob Friedrich Fries, Die neue Kritik der Vernunft II (1808), in: Sämtliche Schriften,
24
Vgl. Jeffrey Barnouw, Goethe and Helmholtz: Science and Sensation, in: Goethe and
Aalen 1969ff„ Bd. 5, S.319. the Sciences: A Reappraisal, eds. Frederick Amrine a. o., Dordrecht - Boston 1987, pp. 4 5 - 8 2 , pp. 69ff.
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die Erfahrung auf[greift], um sie zu begreifen", 25 und er hat auf dem Primat des Lebensbegriffes beharrt, um die Erfahrung in ihrer ganzen Vollständigkeit zu erfassen. Wie aber war dies möglich? Nicht durch den Verstand, sondern „durch ein Organ höherer Art", oder, wie es später im Handbuch heißen sollte, durch das Vermögen der Abstraktion, „ein Gedankending von dem Gemeinsamen vieler wiederkehrenden Verkettungen zweier Dinge, wovon das eine das andere fordert, zu machen". 26 Hier wurde versucht zu zeigen, warum Genauigkeit nicht möglich war. Nach Martin Müller bot Goethe hier keine wirkliche Hilfestellung, da dieser leichthin die Existenz „einer gewissen Kluft zwischen Idee und Erfahrung" zugegeben hatte, „die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht". 27 Müller war Schelling viel zu nahe, um eine solche Kluft zu akzeptieren, und für den Rest seines Lebens hat er zu verdeutlichen versucht, wie diese Kluft überbrückt werden könnte. Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien macht Müllers Problem eher noch komplizierter, denn auch hier schien es, als ob er zwei gegensätzliche Positionen gleichzeitig vertreten habe. Weil das Sinnessystem auf verschiedenartige Reize in bestimmter und für die einzelnen Sinne charakteristischer Weise antwortet, bildet es die Prozesse der äußeren Welt nicht getreu ab. Wir „empfinden" daher nicht Objekte, sondern - wie Müller sagt - , letztendlich nur uns selbst. So wird auch verständlich, warum die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien oft für die neukantianische Wendung des jungen Helmholtz verantwortlich gemacht wird. Aber Müller selbst und auch der junge Helmholtz gehen weiter als Kant, wenn wie Helmholtz meint - man einen unbewußten Schluß zu den realen Ursachen der Erscheinungen macht. 28 Martin Müller schreibt richtig, daß nach Müller „der Weg durch die Sinne das Bild der Dinge vollständig verändern müsse", so daß die wirkliche Beschaffenheit der Dinge uns unbekannt bleibe. „Aber es besteht", heißt es weiter bei Martin Müller, „ein festes kausales Verhältnis zwischen Dingen und Vorstellungen, so daß die Vorstellungen durchaus als Zeichen der Dinge gebraucht
25
26
27
28
J. Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie ..., a.a.O., S. 7. Müller fügt hier hinzu: „Die wahre Physiologie denkt das Leben in die richtige Erfahrung." A n anderer Stelle heißt es: „Der Physiologe erfährt die Natur, damit er sie denke" (S. 34). Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 519. Für den Hinweis auf das „Organ höherer Art" vgl. ders., Von dem Bedürfniß der Physiologie ..., a.a.O., S.31. Johann Wolfgang Goethe, Bedenken und Ergebung, zit. nach: Martin Müller, Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, in: Sudhoffs Archiv 18, 1926, S. 130-150; 2 0 9 - 2 3 4 ; 3 2 8 - 3 5 0 , auf S. 142. Hermann von Helmholtz, Ueber das Sehen des Menschen (1855), in: Vorträge und Reden, 2 Bde., 5. Aufl., Braunschweig 1903, Bd. 1, S. 85-117, S. 115f.
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werden können, und daß das Verhältnis der Vorstellungsinhalte zueinander das Verhältnis der Dinge zueinander wiedergibt." 2 9 Mit dem Insistieren darauf, daß wir jenseits der Welt der Zeichen in die hinter ihnen liegende reale Welt eindringen müssen, hören wir Echos jener entfernten Hoffnung, die Müller und Fries einmal mit der Schellingschen Naturphilosophie verbunden hatten. Sein ganzes Leben hindurch hat Müller an der in der Naturphilosophie immer wieder betonten Uberzeugung festgehalten, daß wir in unserer Begegnung mit der Natur einen vollen Zugang zu derselben Wahrheit haben, den wir durch die Kategorien des Geistes ausdrücken. Diese Hochachtung vor der Natur hatte ihm Schelling beigebracht. Mehr als mit den meisten Denkern seiner Zeit scheint Müller hier mit Ludwig Feuerbach übereinzustimmen, für den Schellings Naturphilosophie ein umgekehrter Idealismus war, worin die Natur nicht abgeleitet, sondern ursprünglich und unabhängig war. 3 0 Es ist nicht zu leugnen, daß Naturwissenschaftler aller Zeiten ihre Aufgabe in der Suche nach der Wahrheit gesehen haben. Der Historiker besitzt mit der Wahrheitsfrage ein Mittel, wodurch er die Behauptung überprüfen kann, daß Müller niemals völlig das Schellingsche Programm aufgegeben habe. Für unsere Zwecke müssen wir die beiden Haupttheorien der Wahrheit berücksichtigen, d. h. die Korrespondenz- und die Kohärenztheorie. Wir werden sehen, daß in bezug auf den Wahrheitsbegriff ein neuer Vergleich zwischen Müller und Jakob Fries möglich ist, aber diesmal, um sowohl den Unterschied als auch die Ähnlichkeit zwischen beiden klarzumachen. In der Korrespondenztheorie besteht die Wahrheit, wie der Name andeutet, aus einer Korrespondenz zwischen der Welt der Gedanken und der der Dinge. Hier wird die Natur als etwas begriffen, das völlig unabhängig von dem sie erkennenden Geist besteht. U m die Wahrheit einer Behauptung über die Natur zu etablieren, muß man die Übereinstimmung zwischen den angewandten rationalen Kategorien und dem durch Erfahrung gegebenen Begreifen nachweisen. Wenn die Wahrheit der Natur auf diese Weise begriffen wird, versteht man, daß sie unabhängig von den Wünschen und Absichten des die Natur erkennenden Geistes ist. Die Natur selbst übt einen zwingenden Einfluß auf die menschliche Einbildung aus. Wie Karl Popper und Hilary Putnam sagen, ist diese Wahrheitstheorie eine Theorie des Realisten, denn hier kann man von einer Realität sprechen, die unabhängig von der Theorie selbst ist. 3 1 Die Wahrheit wird durch· das bestimmt, was wirklich ist. 29 30
M . Müller, Ü b e r die philosophischen Anschauungen . . . , a.a.O., 229. Ludwig Feuerbach, Kritik der Schellingschen Philosophie, in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, hrsg. von Manfred Frank und Gerhard Kurz, Frankfurt a. M. 1975, S. 3 9 9 - 4 0 6 , auf S. 399f.
31
Karl Popper, Objective Knowledge: An Evolutionary Approach, Oxford 1983, p. 317;
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Unsere Erkenntnis der Natur, wenn sie richtig ist, ist diesselbe wie die Wahrheit der Natur. Die Betonung liegt hier auf der Entdeckung des Unbekannten, auf der Übereinstimmung mit der Autorität der Natur, auf der bestimmenden Rolle der Tatsache und auf dem Vermögen der Vorstellung, die Natur zu „kopieren". 3 2 Für einen Kantianer ist eine einfache Theorie der Korrespondenz unannehmbar: Weil metaphysische Bestimmungen der Wahrheit der Natur jenseits des Erkenntnisreiches liegen, kann man die Wahrheit nicht erreichen. Ein Jahr nach Kants Tod hat Fries weitergeführt, was in den Werken seines Meisters implizit über die Wahrheit enthalten war: „Wir können also nicht, wie es gewöhnlich geschieht, von der dem Irrthum entgegengesetzten Wahrheit sagen: Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstande; sondern nur Wahrheit eines Urteils ist die Übereinstimmung desselben mit der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft, in der es begründet ist." 3 3 Dieses Verständnis ist mit der Kohärenztheorie der Wahrheit vereinbar. Obwohl es mehrere Varianten dieser Theorie gibt, diejenige Hegels eingeschlossen, teilen alle die Behauptung, daß die Wahrheit eines Satzes in der Kohärenz dieses Satzes mit dem philosophischen System überhaupt besteht. Nach Ralph Walker ist der Antirealismus eine Version der Kohärenztheorie der Wahrheit. 3 4 Wenn die Wahrheit auf diese Weise begriffen wird, liegt die Betonung auf dem Erfinden und nicht auf der Entdeckung. Ebenso wird die Rolle der Voraussetzungen höher eingeschätzt als die Autorität der Natur selbst. Den Werten wird gleiches Gewicht gegeben wie den Tatsachen, und die Grenzen der Vernunft werden ernst genommen, so daß sich ein naives Vertrauen in ihr Vermögen, die Natur zu kopieren oder darzustellen, von selbst verbietet. Es ist leicht ersichtlich, daß Schelling wie Müller immer an einem Korrespondenzverständnis der Wahrheit festgehalten haben und daß hierin eine grundlegende Position der Romantiker besteht, die das ganze Jahrhundert hindurch gewirkt hat. Müller zweifelte niemals an der Möglichkeit einer Verbindung zwischen Denken und Dingen. Man müsse einfach auf dem „festen kausalen Verhältnis zwischen Dingen und Vorstellungen" 3 5 beharren. Es liegt vielleicht eine gewisse Ironie
Hilary Putnam, What is Realism?, in: Scientific Realism, ed. J . Leplin, Berkeley 1984, pp. 140-153, cit. p. 140. 32
Die Korrespondenztheorie der Wahrheit wird bisweilen auch „the copy theory of truth" genannt. Vgl. Ian Hacking, Representing and Intervening, Cambridge 1988, pp. 104, 113.
33
Jakob Friedrich Fries, Wissen, Glaube und Ahndung (1805), in: Sämtliche Schriften,
34
Ralph Walker, The Coherence Theory of Truth, New York 1989, pp. 19, 35.
35
M . Müller, U b e r die philosophischen Anschauungen . . . , a.a.O., S. 229.
a.a.O., Bd. 3, S.457.
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darin, daß der Realismus des älteren Müller und der Naturwissenschaftler im späteren 19. Jahrhundert eine innige und unleugbare Verbindung zu der geschmähten romantischen Epoche hat. Auf der anderen Seite ist klar, daß Müllers Realismus durchaus nicht naiv war. Während es undenkbar ist, daß er jemals zu der antirealistischen Ansicht der Kohärenztheorie der Wahrheit gekommen wäre, hat er immer wieder betont, daß wir nicht die reale Welt an sich wahrnehmen. Am Ende kann man sich der Frage, ob Müller die Naturphilosophie völlig aufgegeben habe, auch und gerade von philosophischer Seite aus nähern. Soweit es sich um induktive Schlüsse handelte, kam Müller zu der Schlußfolgerung, daß er einer einfachen intellektuellen Anschauung nicht mehr vertrauen könne. Ohne daß er es wußte, stimmte er hier mit Fries überein. Aber da er selbst weder das Problem der Induktion lösen, noch die Korrespondenztheorie der Wahrheit aufgeben konnte, blieb er Schelling stets näher als er dachte.
WILLIAM R . WOODWARD
Johannes Müller, Hermann Lotze, Jakob Henle und die Konstruktion des vegetativen Nervensystems"'
„Empfangen Sie meinen beßten Dank für das gütige Geschenk Ihres Werkes und den freundlichen Brief. Ich betrachte Ihre Arbeit als eine sehr bedeutende Leistung und stelle sie ohne Bedenken an die Spitze der Schriften über diesen Gegenstand, die allgemeine Physiologie, sowohl wegen der philosophischen Tiefe als der Schärfe in der Zergliederung der Begriffe und Ihre Sprache und wegen der Schulform der Darstellung zugleich. Am meisten zieht mich die kritische Analyse der allgemeinen physiologischen Vorstellungen an. Ich folge Ihnen hier mit dem lebhaftesten Antheil und mit der Spannung, mit der ich mich in meinen privaten Speculationen diesen Erwägungen hinzugeben gewohnt bin, aber auch mit der vollsten Anerkennung des von Ihnen entfalteten Talentes und Geistes, welche diese metaphysischen Dinge in einer Weise behandeln, wie ich sie selbst handzuhaben nicht im Stande seyn würde." (Johannes Müller an Hermann Lotze, 12. Juli 1851)1 Im vorigen Jahrhundert hat Johannes Müller mit einer Reihe von histologischen Beobachtungen und neurophysiologischen Experimenten die allmähliche Entdekkung des autonomen Nervensystems initiiert. Dieses vegetative Nervensystem besteht nach heutigem Kenntnisstand aus zwei sich ergänzenden Teilen: dem sym-
*
1
Für Hilfe bei der Übersetzung danke ich Reinhardt Pester, Andreas Kahlow, Hans Uwe Lammel, Petra Lennig und den Herausgebern dieses Bandes. Die Forschung für diese Arbeit wurde 1986 begonnen und durch Stipendien der Alexander-von-HumboldtStiftung, der National Science Foundation (SES 83-19542) und der National Endowment for the Humanities am Institut für Geschichte der Medizin in Heidelberg unterstützt. Beendet wurde die Forschungsarbeit 1990 mit einem Fulbright-Lehrvertrag am Interdisziplinären Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich bedanke mich für die Gastfreundschaft von Prof. Dr. Heinrich Schipperges in Heidelberg und Prof. Dr. Karl-Friedrich Wessel in Berlin. Müllers Brief bezieht sich auf Lotzes „Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens" (Leipzig 1851), die der Verlagsdirektor Salomon Hirzel auf Veranlassung des Autors an Müller geschickt hatte. Ich bedanke mich bei Dr. jur. Wilhelm Lotze, der mir 1986 Einblick in den Lotzeschen Familiennachlaß in Bad Homburg gewährte.
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pathischen Nervensystem, das hauptsächlich für die Ernährungsprozesse des Körpers zuständig ist, und dem parasympathischen System, das die Stoffwechselvorgänge regelt. Gemeinsam kontrollieren beide die unwillkürlichen Funktionen des Blutgefäßsystems, der inneren Organe und der Drüsen, während das Zentralnervensystem die willkürlichen Funktionen steuert.2 Im folgenden soll dieser Entdeckungsprozeß näher betrachtet werden. Neuere Wissenschaftsphilosophen im englischsprachigen Raum glauben, daß das Voranschreiten der Wissenschaften in gewissem Grade unabhängig von den sich ständig wandelnden Theorien der Naturwissenschaftler verläuft. Hinter dieser scheinbar harmlosen Behauptung verbirgt sich ein neuer Interpretationsansatz für die Konstruktion von „ortsgebundenem Wissen" (local knowledge). Joseph Rouse versteht ein solches Wissen als „Macht" in dreifacher Weise: (a) einzelne Agenten üben Macht über Personen und Institutionen aus; (b) diese Macht beeinflußt unseren Glauben, nicht aber die Welt, die durch ihn repräsentiert wird; (c) diese Macht wird auf die Naturwissenschaft ausgeübt, aber nicht in ihr.3 Macht entsteht und vergeht in ortsgebundenen Situationen - z.B. im Labor - durch Standardisierung, indem Naturwissenschaftler übereinkommen, welche Probleme sie angehen und welche Problemlösungen sie akzeptieren. Universelle Gültigkeit haben also nicht die Gesetze, sondern das wissenschaftliche „know how" im Labor sowie die Standards, die in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen vor und nach der Publikation ausgehandelt werden. Wissenschaftshistoriker sollten den wissen-
2
Friedrich Dorsch, Psychologisches Wörterbuch, 9. Aufl., Bern 1976. Siehe unter dem Stichwort „Nervensystem". Gegen Ende des 19. Jhs. hatten englische Mediziner den Begriff „autonomic nervous system" geprägt und seine Steuerung der glatten Muskulatur der Eingeweide, des Herzens sowie der Drüsen nachgewiesen, während Michael Foster die Funktion des Vagusnerven am Herz erläuterte. Im 20. Jh.beschrieb Walter Cannon die Regulierung der Emotionen durch den Thalamus sowie die homöostatischen Regulations-Mechanismen. Seit den 70er Jahren hat Stanley Schachter kognitive Komponenten nachgewiesen, so daß man das zweite Nervensystem nicht ohne weiteres auf unwillkürliche Funktionen reduzieren kann. Vgl. Kenneth J. Franklin, Α Short History of Physiology, London 1933; Gerald Geison, Michael Foster and the Cambridge Physiological School, Princeton 1979; Carol Wade/Carole Tavris, Psychology, New York 1989.
3
Joseph Rouse, Knowledge and Power. Toward a Political Philosophy of Science, Ithaca - London 1987, pp. 9, 119-121. Nancy Cartwright, Mary Hesse, Ian Hacking und gewissermaßen Larry Laudan gelten Rouse als „new empiricists". Siehe Larry Laudan, Progress and its Problems, Berkeley 1977, vgl. ders., Why was the Logic of Discovery Abandoned?, in: Scientific Discovery, Logic, and Rationality, ed. Th. Nickles, Dordrecht 1980. Nach Laudan entstand die hypothetisch-deduktive Methode erst, als die „Entdeckung" der Natur durch induktive Methoden problematisch wurde.
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Konstruktion des vegetativen Nervensystems
schaftlichen Fortschritt nicht länger als Folge von Entdeckungen mit Hilfe eines hypothetisch-deduktiven Modells verstehen, sondern als eine Konstruktion durch sich erweiternde Problemlösungsaktivität. 4 Wir möchten die „Entdeckung", oder besser, die Konstruktion des autonomen Nervensystems in dieser Perspektive und anhand der Beiträge von Müller, Lotze und Henle verfolgen. Figur 1: Cerebrospinales Nervensystem zentrales Nervensystem
peripherales Nervensystem
Vegetatives (autonomisches) Nervensystem sympathetisches Nervensystem
parasympathetisches Nervensystem
Die Physiologen erforschen den sympathischen und den Vagusnerv um 1840 Die Aufdeckung von Struktur und Funktion des vegetativen Nervensystems steht im Zusammenhang mit den Untersuchungen am Sympathicus und am Vagusnerv, insbesondere hinsichtlich der Nervenversorgung des Herzens. Das Blut war wie die Sinne und die Nerven ein bevorzugter Forschungsgegenstand in Leipzig. Die sogenannten vitalen Merkmale der Anämie und der Hyperämie sowie der Entzündung und der Kongestion gaben hinsichtlich des Problems der Blut-Bewegung Anlaß zu zahlreichen vitalistischen Spekulationen. Mit den Brüdern Ernst Heinrich und Wilhelm Weber begann 1826 eine mechanische Erklärung des Blutumlaufs, die schließlich 1850 mit Alfred Wilhelm Volkmanns Publikation Die Hämodynamik nach Versuchen gewissermaßen einen Höhepunkt fand. 5 Während der 1840er Jahre waren die Leipziger Physiologen Eduard Weber und Volkmann (ab 1838 in Dorpat, dann in Halle) und die Berliner Anatomen Johannes Müller und Jacob Henle (ab 1840 in Zürich, Heidelberg und Göttingen) damit beschäftigt, die Elemente des vegetativen Nervensystems zu erforschen. Die Isolierung der jeweiligen Funktionen des sympathischen und des Vagusnervs - letzterer kontrolliert den Herzschlag durch Hemmung - war ein großes Verdienst dieser scientific community. Interessanterweise weist die Geschichte der Forschungen und Kontroversen auf diesem Gebiet zahlreiche Parallelen mit den Diskussionen um das Gesetz der 4
J. Rouse, Knowledge and Power, a.a.O., pp. 9-17. Wegweisend für die Konstruktion vom Wissen durch die Forschungspraxis ist: Kurt Danziger, Constructing the Subject: Historical Origins of Psychological Research, New York - Cambridge 1990.
5
Ernst Heinrich Weber/Wilhelm Weber, Wellenlehre auf Experimenten begründet, Leipzig 1826; Alfred Wilhelm Volkmann, Die Hämodynamik nach Versuchen, Leipzig 1850.
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spezifischen Sinnesenergien auf. 6 Auch an dieser Debatte nahmen Müller und Henle in Berlin und Lotze, Volkmann und Ε. H . Weber in Leipzig teil. Diese in den dreißiger und vierziger Jahren geführten Kontroversen drehten sich hier wie dort nicht nur um Forschungsergebnisse, sondern auch um methodische Fragen. Es ging darum, einen Mittelweg zu finden zwischen den von den Berlinern vertretenen Experimenten durch vergleichende Beobachtung und der Leipziger Tendenz zur Mathematisierung von funktionellen Beziehungen. Für die Sinnesphysiologie stellte sich schließlich heraus, daß Müllers Behauptung, verschiedene Reize verursachten gleiche Empfindungen, übertrieben war; andererseits lenkten die Leipziger Physiologen später ihre Aufmerksamkeit wieder auf die eigentümlichen Sinnesnerven und ihre jeweiligen Funktionen. Ahnlich verhielt es sich mit dem vegetativen Nervensystem. Bekanntlich bestätigte Müller das Bell-Magendiesche Gesetz, demzufolge die Vorderwurzeln im Rückenmark die Bewegungen vermitteln, während die Hinterwurzeln die Empfindungen steuern. Daß er dabei auf provozierende Weise noch vom „organischen Nerv", vom „sympathischen Nerv" und vom „vegetativen Nerv" sprach, ließ eine Reihe von Fragen offen.
Die Formulierung der Problematik in Müllers Handbuch der Physiologie Müller initiierte diesen Forschungsprozeß mit einer Reihe von Experimenten zum autonomen Nervensystem, die von anderen Medizinern fortgesetzt wurden. Die Problematik des vegetativen Nervensystems wird in beiden Bänden seines Handbuches erörtert, und zwar an Schlüsselstellen jeweils zu Beginn des ersten und des zweiten Bandes. 1838 hieß es im Band 1 beispielsweise über das Blutgefäßsystem, daß die Muskelkontraktilität, die Hemmung, die aktiven Kongestionen und die organischen Affinitäten für den Zufluß des Blutes zuständig seien. 7 Bei Entzündungen und bei Turgeszenz der Geschlechtsorgane etwa stockte das Blut aufgrund eines gehemmten Durchgangs durch Kapillargefäße. Müller berichtete über Arbeiten von Kaltenbrunner, Baumgaertner, Treviranus, Koch und Wilson Philip; er ließ einen Bericht über ein Froschexperiment folgen, das ein Student unter seiner Anleitung durchgeführt hatte. „Ich wollte nun sehen, ob Application des Galvanismus auf eine hintere
6
7
William R. Woodward, Hermann Lotze's Critique of Johannes Müller's Doctrine of Specific Sense Energies, in: Medical History 19, 1975, pp. 147-157 Vgl. Guido Gozzi, Jakob Henles Züricher Jahre. 1840-1844, Zürich 1975. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, 3. Aufl., Coblenz 1838, S. 204. Vgl. Pauline Μ. H . Mazumdar, Johannes Müller, the Blood, the Lymph, and the Chyle, in: Isis 66, 1975, pp. 242-253.
Konstruktion des vegetativen Nervensystems
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Wurzel die Bewegung des Blutes in der Schwimmhaut beschleunigt, ein delicater und etwas complicirter Versuch, bei dem Herr Stud. Hoevel assistirte." Er zog aus seinen Ergebnissen den Schluß, daß „die Nerven wahrscheinlich nicht zur Unterstützung des Kreislaufes in den kleinen Gefäßen beitragen, obgleich es gewiß ist, daß die Anhäufung des Blutes in gewissen Theilen bei der Turgescenz [sie] vorzüglich von den Nerven abhängig ist". 8 Den organischen Nerven schrieb er in diesem Zusammenhang nur eine Funktion bei der Erektion zu, 9 und er verwechselte auch sonst die motorischen mit den somatischen Funktionen, wobei „somatisch" der moderne Name für jene Funktionen ist, die nicht von Gehirn- bzw. Rückenmarksnerven gesteuert werden. Das Herz und die Gefäße verhielten sich also seiner Ansicht nach wie Muskeln. Müller gab zu, daß „die Erklärung jener Phänomene [...] jetzt noch ganz unmöglich [ist]. Es kann seyn, dass die Zusammenziehung in allen jenen Fällen [durch] eine active Contraction [oder] bloss chemische Wirkung [oder] organische Affinität [oder] blosse Endosmose" erfolgt. 10 Noch 1840 - im Band 2 - unterschied er die vom Nervus sympathicus abhängigen automatischen Bewegungen anhand der beteiligten Muskeln und ihrer anatomischen Merkmale. Er nennt zwei nicht der Willkür unterstehende Arten von Muskeln: die quergestreifte Muskulatur, vor allem im Herzen, und die glatte Muskulatur, die im Darmkanal, im Uterus und in der Harnblase zu finden ist. Dann kommt er zu der schwierigen Frage: „Man nehme an, daß in dem N . sympathicus beständig Strömungen des imponderabeln Nervenprincips von dem Centrum (der Ursprungsstelle) nach der Peripherie, nach den Organen stattfinden. Wie kommt es, daß die continuirliche Bewegung in die periodische umgewandelt wird?" 1 1 Müller vergleicht die sympathischen Bewegungsnerven mit Halbleitern im Elektrometer, dessen Goldblättchen eine gewisse Quantität des Nervenprinzips binden können. Habe diese gebundene Quantität eine bestimmte Größe erreicht, so werde sie wieder freigesetzt. Im Gegensatz dazu erfolge die Zuckung eines willkürlichen Muskels auf den Reiz viel schneller. Allerdings gehe es nicht darum, schlicht das „in den Nerven wirkende Princip mit der Electricität zu vergleichen", sondern die Strömung eines Nervenprinzips oder eines Imponderabiliums zu verfolgen. 12
8 9 10
11 12
J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S.231. Ebenda, S. 226. Ebenda, S. 227f. Vgl. Brigitte Lohff, Hat die Rhetorik Einfluß auf die Entstehung einer experimentellen Biologie in Deutschland gehabt?, in: Disciplinae Novae. Zur Entstehung neuer Denk- und Arbeitsrichtungen der Naturwissenschaft. Festschrift zum 90. Geburtstag von Hans Schimank, hrsg. von C. J. Scriba, Hamburg 1979, S. 127-146. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, 3. Aufl., Coblenz 1840, S. 71. J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 220-231.
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Diese Untersuchungen dürften ein Beispiel dafür sein, daß der mächtige Einfluß Müllers auf die experimentellen Physiologen durch seinen Schüler Theodor Bischoff beschworen werden konnte: „Allein das Wirksamste war unzweifelhaft der Geist, in welchem Müller die Wissenschaft betrieb. Er war kein doctrinärer [...], sondern in allen Arbeiten Müllers tritt überall die Frage voran, und ihr folgt das eifrigste und genialste Bestreben, sie zu beantworten, ohne damit unseren eigenen Geist in Fesseln zu legen [...] es beunruhigt, macht aber auch begierig, selbst Etwas zur Lösung der Fragen beizutragen." 13 Und bei Rudolf Virchow heißt es: „In dem Physiologen Müller bewunderte man [...] die methodische Strenge des Forschers, das maassvolle Urtheil, die sichere Ruhe, die reiche Vollendung des Wissens [...] Daher gibt es keine Schule Müllers im Sinne der Dogmen, denn er lehrte keine, sondern nur im Sinne der Methode." 14 Für Müller selbst gab es nur zwei „grosse Entdeckungen [...] vom ersten Rang: [...] die Entdeckung des Kreislaufes und die Entdeckung der verschiedenen Functionen der vorderen und hinteren Wurzeln der Rückenmarksnerven."15 Die Differenzierung der „organischen Nerven" (vegetatives Nervensystem) vom zentralen Nervensystem kam erst später.
Lotzes Kritik an Müllers Theorie der sympathischen Bewegungsnerven Lotze erörterte das Problem des Herzschlags im Abschnitt über „Abweichungen der Herzbewegung" in seiner Allgemeinen Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften, wo er über Müllers Theorie der sympathischen Nervenleitung berichtete. 16 Lotze wandte erstens ein, daß die Wirkung der Gemütsbewegungen auf das Herz oder gar auf den Darmkanal ebenso schnell erfolge wie die Zuckung eines willkürlich erregten Muskels. Zweitens entfalle hiermit aber auch die Annahme der eigentlichen Puls-Theorie Müllers, die zudem auf einer unbewiesenen Analogie mit dem Verhalten von Imponderabilien beruhe. Lotze schlug vor, den Vergleich mit den Halbleitern aufzugeben und, statt nach theoretischen 13
Theodor Bischoff, Ueber Johannes Müller und sein Verhältnis zum jetzigen Standpunkt der Physiologie, München 1858, S. 2Z
14
Rudolf Virchow, Johannes Müller. Eine Gedächtnissrede, Berlin 1858, S. 28f.
15
Johannes Müller, Jahresbericht, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medicin 1, 1834, S. 1 (zit. nach: R. Virchow, Johannes Müller, a.a.O., S. 42, Anm. 40).
16
Hermann Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften, Leipzig 1842, S. 2 3 4 / 2 4 2 - 2 3 6 / 2 4 4 (2. Auflage 1848). - Im folgenden beziehen sich die Seitenangaben, wenn nicht anders vermerkt, auf beide Auflagen. Die Auflagen sind bis auf das Vorwort bis S. 2 0 5 / 2 0 7 fast seitenidentisch.
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Modellen zu suchen, die Nerven- und Muskelprozesse genauer zu erforschen. Daß der Muskel durch einen Reiz in einen bestimmten Zustand gerät, verdanke er nicht einer spezifischen, nur den motorischen Nerven eigentümlichen Tätigkeitsform, sondern bestimmten mechanischen Verhältnissen in ihm selbst. 17 In der Verbindung von empirischen und rationellen Erklärungsansätzen ging Lotze über Kant und Müller hinaus. Der Kant-Kenner und Friesianer Stephan Körner hat 1969 zwischen theorieabhängigen und kontextabhängigen Bedingungen bei der Anwendung einer wissenschaftlichen Theorie auf empirisches Material unterschieden.18 Lotze war einer der wenigen Physiologen in der Debatte um das autonome Nervensystem, die tatsächlich die kontextabhängigen Variablen im Sinne Körners - die Nerven- und die muskulären Prozesse - erkannten und ihre mechanischen und physiologischen Charakteristika herauszuarbeiten suchten. Damit ging er über das von Müller den Nerven zugeschriebene Lebensprinzip und seine zweifache sensorisch-motorische Teilung hinaus. Lotze formulierte seine mechanische Theorie zum ersten Mal 1841 in seiner Metaphysik. Dort stellte er ein hypothetisches System der Massen und Kräfte auf, in dem das Organische als deren bestimmte „Form der Vereinigung" angesehen wurde. Im Grunde konzipierte er also ein Gleichgewichtsmodell, in dem die Organe und die verschiedenen Triebe als Resultate von mechanischen Ursachen betrachtet werden konnten. Das hing zusammen mit dem „Zusammenhang der Dinge", einem Prinzip, das es Lotze erlaubte, die Einheit der Natur nachdrücklich zu betonen. In der Metaphysik erläuterte Lotze die Bestimmungen der Ontologie und Kosmologie, die zum Mechanismus und Organismus führen. Er kam zu dem Schluß: „welches auch der gegebene concrete Kreis der Erscheinungen in irgend einer Welt sein könnte, für den Beobachter in ihr würde sich der Zusammenhang derselben immer in ein System mechanischer Vorgänge verwandeln müssen"; 19 mechanisch aber bedeutete für ihn, daß jedes Phänomen als Wirkung „vieler Ursachen" zu erklären ist. „So gehört doch [...] das gesammte Reich der Wirklichkeit
17
Ebenda, S. 243/252, 2 0 6 / 2 0 8 - 2 0 7 / 2 0 9 .
18
Stephan Körner, Erfahrung und Theorie. Ein wissenschaftstheoretischer Versuch, Frankfurt a. M. 1977 [engl.: New York 1966], S.228f. Vgl. ders., Fundamental Questions in Philosophy, Harmondsworth 1969.
19
Hermann Lotze, Metaphysik, Leipzig 1841, S. 110f., 248. Bemerkenswerterweise gibt es eine Erzählung von Ε . T. A. Hoffmann in den „Serapionsbrüdern" mit dem Titel „Der Zusammenhang der Dinge", in der er sich über eine vulgarisierte teleo-mechanische Naturauffassung lustig macht. Man kann vermuten, daß Lotze bei seinen weitgespannten Interessen (er beschäftigte sich mit Autoren wie Heine, Chamisso, Justinus Kerner oder Karl Immermann) mit Hoffmanns Schriften vertraut war, auch wenn es dafür vorläufig noch keinen direkten Beleg gibt.
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auch als ruhendes Dasein in die Reihe der Causalprocesse, deren Wirklichkeit auch für die einfache Inhärenz des qualitativen Scheines an der Substanz wieder zum Bewußtsein gebracht zu haben, Herbarts Verdienst ist." 2 0 Dadurch wirkte Lotze nachhaltig und revolutionär auf die Ärzte seiner Zeit. Er verwarf die Suche nach den „allerersten Ursachen der Krankheit": „Dies ist ein total falscher Gesichtspunkt; an dieser Scale misst man mit Recht den Werth der Pathologie, denn sie ist theoretische, mit Unrecht den der Therapie, denn die ist praktische Wissenschaft." Die Handlungsweise des Arztes und Naturwissenschaftlers dürfe „nie ihrem Wesen nach nothwendig gegen die Krankheitsursache gerichtet" sein. 2 1 Die „radikale Kur einer Krankheit" gelinge durch den normalen mechanischen Ablauf der Prozesse im Körper, also „immer blos in der vollständigen Wegräumung aller Hemmungen, welche der Rückkehr des Lebens in ein dauerhaftes Gleichgewicht durch die Thätigkeit des regulatorischen Apparats entgegenstehen". 2 2 Krankheit und Gesundheit wurden dann zu unterschiedlichen Manifestationsweisen des Lebensprozesses, an denen sich dessen Gesetze studieren lassen. Sinn und Bedeutung von Krankheit und Gesundheit sind das dritte Element in seiner Theorie des wissenschaftlichen Wissens, nach den Gesetzen und dem wirklichen Geschehen. Der „Zusammenhang der Dinge" basiert so erstens auf Grund und Folge (Gesetze), zweitens auf Ursache und Wirkung (wirkliches Geschehen, Erscheinung) und drittens auf Mittel und Zweck (Bedeutung). 2 3 Eine weitere Differenz zwischen Müller und Lotze bestand in dessen intensiver Beschäftigung mit der Kantschen Philosophie, insbesondere wie sie in Jena von Jacob Friedrich Fries und Ernst Friedrich Apelt betrieben worden war. 2 4 Kant 20 21 22 23 24
Ebenda, S. 111. H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 47 Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 3 - 9 . Walter Gresky, Briefe von Hermann Lotze an Ernst Friedrich Apelt. 1834-1837, in: Blätter für deutsche Philosophie 10, 1937, S. 319-331; 11, 1938, S. 184-203. Gerd Buchdahl, Leading Principles and Induction: the Methodology of Matthias Schleiden, in: Foundations of Scientific Method in the Nineteenth Century, eds. R. N . Giere/ R. S. Westfall, Bloomington, Indiana 1973, pp. 23-52, beschreibt die Anwendung von Kantschen „Leitmaximen" auf biologische Probleme anhand von Matthias Schleiden aus der Jenaer Fries-Schule. Leitmaximen und heuristische Regeln gehen aus der Definition in der Transzendentalen Dialektik in Kants „Kritik der reinen Vernunft" hervor. Vgl. den übersetzten und revidierten Aufsatz von Buchdahl in: Matthias Jakob Schleiden, Wissenschaftsphilosophische Schriften. Mit kommentierenden Texten von J . F. Fries, Chr. G . Nees von Esenbeck und G . Buchdahl, hrsg. von U . Charpa, Köln 1989, S. 315-345. Buchdahl mißversteht Lotzes Ansatz als Reduktionismus anstelle einer Anwendung der induktiven Methode (S. 326-329).
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hatte scharf zwischen eigentlicher u n d uneigentlicher N a t u r w i s s e n s c h a f t getrennt; eigentliche N a t u r w i s s e n s c h a f t , wie z . B . die A s t r o n o m i e , g r ü n d e t sich auf sichere konstitutive Prinzipien, w ä h r e n d die uneigentliche nach E r f a h r u n g s g e s e t z e n vorgeht. Fries u n d die Friesianer versuchten, diese T r e n n u n g z u relativieren, i n d e m sie a n n a h m e n , d a ß der Weg z u m theoretischen Wissen d u r c h heuristische M a x i m e n f ü h r e ; 2 5 Fries definierte diese als „die M a x i m e n des reflectiven Urteils, die die I n d u k t i o n l e i t e n " . 2 6 Zusätzlich sprach er von physiologischen u n d therapeutischen Regulativen, die der O r d n u n g der D a t e n aus diesen Disziplinen d i e n t e n ; sie stehen auf einer n o c h niedrigeren E b e n e der G e w i ß h e i t . L o t z e forderte n u n , d a ß „als leitendes Regulativ [ . . . ] die mechanische T h e o r i e hier d i e n e n " k ö n n e - im o b e n g e n a n n t e n Sinn von „ F o r m e n der V e r b i n d u n g " . 2 7 E r f ü h r t e als heuristische M a x i m e f ü r die biologischen Disziplinen a u ß e r d e m die 25
26
27
Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Werke, hrsg. von W Weischedel, Bd. 5, Wiesbaden 1957, S. 7-135, auf S. 12f. Vgl. Frederick Gregory, Regulative Therapeutics in the German Romantic Era: The Contribution of Jakob Friedrich Fries (1773-1843), in: Clio Medica 18, 1983, pp. 179-201, cit. pp. 179-181. Gregory geht weiter als Buchdahl, indem er den Friesschen Begriff der rationellen Induktion erläutet. Vgl. F Gregory, Die Kritik von J. F. Fries an Schellings Naturphilosophie, in: Sudhoffs Archiv 67, 1983, S. 147-157. Buchdahl und Gregory beziehen das Konzept der leitenden Maximen auf Schleiden und Schelling. Dieses Konzept ist m. E. ein Vorläuferbegriff der Hypothese. Der Beitrag Lotzes zielte über die Theorie der Hypothese hinaus auf seine Anwendung innerhalb der Naturwissenschaft. Vgl. H. Korch u. a., Die wissenschaftliche Hypothese, Berlin 1972. Jakob Friedrich Fries, Regulative für die Therapeutik, nach heuristischen Propositionen der Naturphilosophie aufgestellt [1807], in: Sämtliche Schriften, Aalen 1969ff., Bd. 17, S.275f., 295ff. Vgl. ders., Neue Kritik der Vernunft [1808], in: Ebenda, Bd. 5, S. 311. H. Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 9. Im übrigen möchte ich kurz den Ansatz von Timothy Lenoir anführen, der Müller einem „vitalen Materialismus" und Liebig und Lotze einer „funktionelle Morphologie" zuordnet. Vgl. T. Lenoir, The Strategy of Life: Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century Biology, Dordrecht 1982. Lenoir entnahm seine Beispiele der Embryologie, während die von mir erläuterten sich auf die Tätigkeit des Nervensystems und den Mechanismus des Blutkreislaufes beziehen. Der Fortschritt der Wissenschaft von Müller zu Lotze kann durch Methoden sowie Wissenschaftstheorie beschrieben werden. Bei der Analyse von Forschungsprogrammen sollte man auch darauf achten, wie Naturwissenschaftler sich durchsetzen. Lotzes Kritik an Müller und Henle basiert auf einer Theorie der wissenschaftlichen Methode, die darauf beruht, spezifische Hypothesen gegen genauere empirische Beobachtungen zu testen. Das ging über die „teleomechanische Wissenschaftstheorie" sowie die „hypothetisch-deduktive Methode" hinaus und Schloß den Prozeß des Aushandelns von methodologischen Standards ein, der die Naturwissenschaftler zu
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Hypothese ein und insistierte: „Eine strenge Disciplin der Hypothesen ist ein Haupterforderniss, nämlich nicht nur eine solche Ausarbeitung der vermuthlichen Erklärungsgründe, durch die sie mit allgemeinen naturwissenschaftlichen Gesetzen übereinstimmen, sondern auch die Beurtheilung ihres Wahrscheinlichkeitsgrades, der davon abhängt, ob der physikalisch richtige Process auch der Eigenthümlichkeit der organischen Natur in Benutzung der mechanischen Hilfsmittel entspricht. Diese Beurtheilung einer Erscheinung nach den Analogien der übrigen bildet einen der schwierigsten Punkte; häufig hat man als solche allgemein-geltende Formen des Geschehens etwas aufgeführt, was selbst erst Ergebnis einer beliebigen Theorie gewesen ist." 2 8 Müllers Begriff der Halbleiter war eine solche Hypothese, die für Lotze zu weit von der organischen Wirklichkeit entfernt war. Der Halbleiter bezog sich nicht auf „die Formen der Verbindung" - in diesem Fall die subtilen funktionellen und strukturellen Beziehungen, die die Naturforscher auf dem Gebiet des Nervensystems gerade angefangen hatten zu entdecken. Lotze selbst litt unter Herzrhythmusstörungen. Er berichtete, daß „mit dem Ausfallen des Pulses nur schwache partielle Contractionen einzelner Herztheile stattzufinden scheinen, die zuweilen sich mehrere Sekunden wiederholend, eine wahre Convulsion des Herzens bildeten, ohne den normalen Kreislauf unterhalten zu können". 2 9 Diese persönliche Erfahrung hat sicherlich dazu beigetragen, sein Interesse für die Funktion des Herzens zu wecken.
Die neuropathologische Theorie der Kongestion und Entzündung: Lokale Reizung und Hemmung Lotze verdankt sein Wissen über das sympathische Nervensystem seinem damaligen Lehrer in Leipzig, Alfred Wilhelm Volkmann. Julius Heinrich Bidders und Volkmanns Über die Selbständigkeit des sympathischen Nervensystems kam für ihn allerdings zu spät, um es noch berücksichtigen zu können. 3 0 Albert Kölliker hatte seine Details über die anatomische Lage der Ganglien dieses „zweiten Nervensystems" 3 1 noch nicht publiziert; folglich mußten Lotzes physiologische Ideen noch neuen
Problemlösungen
herausforderte.
Vgl.
Kenneth
Caneva,
Teleology
with
Regrets, in: Annals of Science 47, 1990, pp. 2 9 1 - 3 0 0 . 28
H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 12.
29
Ebenda, S. 206/208.
30
Julius Heinrich Bidder/Alfred Wilhelm Volkmann, Die Selbständigkeit des sympathischen Nervensystems durch anatomische Untersuchungen nachgewiesen,
Leipzig
1842. 31
Albert Kölliker, Die Selbstständigkeit und Abhängigkeit des sympathischen Nervensystems, Zürich 1844.
Konstruktion des vegetativen Nervensystems
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ziemlich theoretisch ausfallen. Ein Schema von Henle illustriert das Problem: In welchem Maße wird das automatische Nervensystem unabhängig vom Gehirn und Rückenmark reguliert? Lotze begann mit einer Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Kongestion. Die passive Kongestion war eine mechanische, die aktive war nerval. Die passive Kongestion läßt sich auf Kräfte zurückführen, die der Stoßkraft des Herzens durch die Klappenapparate und die Elastizität der Gefäße entgegenwirken; 3 2 sie ist auch mit der allgemeinen Schwere, Kälte und Wärme, mit dem atmosphärischen Druck, der Muskelbewegung »n^^^ und der Stärke des Herzschlags selbst verbun-
Figur 2: Verlaufsschema des sympathetischen Nervensystems „Ein Theil der Faser (a) kommt aus dem Intercostalnerven (D). Ein anderer Teil (b) bleibt in dem Spinalganglion (B). Eine dritte Reihe von Fasern (c) scheint ins Rückenmark und Gehirn (A) einzugehen. Diese sind es also, von welchen entschieden werden sollte, ob sie Fortsetzungen der in den Grenzstrang (C) von der Peripherie aus eintretenden, oder neue, die Verbindung zwischen Ganglien und Rükkenmark bewerkstelligende Fasern seien, oder endlich, ob sie von den Centralorganen, als dem Orte ihrer peripherischen Ausbreitung, entspringen und in den Ganglien enden." (J. Henle, Handbuch der rationellen Pathologie, Bd. 1, Braunschweig 1846, S. 188.)
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den. 3 3 Dagegen wird die aktive Kongestion „von einem Einflüsse der Nerven auf das Gefäßsystem hervorgebracht, oder mit anderen Worten, durch vitale Ursachen erregt". 3 4 Lotze teilte die aktiven Kongestionen in verschiedene große Gruppierungen ein, von denen er bevorzugt die neuropathologischen Vorgänge behandelte. Die Schamröte beispielsweise zeugt vom Einfluß der Nerven auf die Bewegung des Blutes im Gefäßsystem. 3 5 Die Theorie des sympathischen Nervensystems ging weniger von einer zentralen Kontrolle seitens des Nervensystems als von einer Delegierung an autonome Kontrollmechanismen der Ganglien in den Organen aus. Hermann Nasse, Spezialist für die Pathologie des Blutes, bemerkte dazu in einer Rezension: „Bei seiner Erklärung dieser Erscheinung geht der Verf. von der freilich durchaus unerwiesenen Vermuthung aus, dass die Haargefässe unter dem Einflüsse von zwei Nervensyste-
H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 262/272. Ebenda, S. 271/281. Ebenda, S. 273/284. Ebenda, S. 274/285.
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men stehen." 3 6 Tatsächlich hatte Lotze geschrieben: „ich vermuthe, dass zwei Gefässnervensysteme jedes ihren besonderen Zusammenhang unter sich haben, dass das contrahirende [...] fast immer seine Zustände in sich communicirt, oder von einem einzigen Centraiorgane in gleiche Verhältnisse versetzt wird, während die erweiternden Nerven, mit den übrigen Nerven jedes einzelnen Organes verlaufend, die Circulation nach den Bedürfnissen desselben local verändern". 3 7 Er hielt es für wahrscheinlich, daß „die Nerven, die auf den Zustand der Capillargefäße Einfluß haben, nicht der gleichgiltigen nur räumlich angeordneten Gefäßverbreitung folgen, sondern mit den übrigen Nerven jedes Organes verlaufen und sich verästeln". Das sympathische Nervensystem ist in diffusen Ganglien in der Nähe der großen Organe lokalisiert. Die „Gefässnerven", wie die sympathischen Nerven noch genannt wurden, kontrollieren die großen Arterien und die Kapillargefäße. Lotze, dem es auch hier um dasjenige ging, was S. Körner „kontextabhängige Variablen" nennt, vermutete, daß die Gefäßnerven „zweierlei Functionen haben, entweder den Kreislauf zu unterstützen, oder die Ernährung der Theile und den Stoffwechsel zu reguliren". 3 8 Lotze hat noch einmal couragiert zwei bekannte Theorien angegriffen, allerdings ohne Namen zu nennen. Es handelte sich um die umstrittene Erklärung von Kongestion und Entzündung. Benjamin Stilling und Gustav Valentin hatten behauptet, die Erweiterung oder Kontraktion der Arterien sei auf die Reizung der vasomotorischen Nerven zurückzuführen; 3 9 Jakob Henle glaubte, die Lähmung der Gefäßnerven sei die Ursache - er vertrat also genau die entgegengesetzte Hypothese. Lotze antwortete, keiner dieser Faktoren könne die Schnelligkeit erklären, mit der wir erröten. Nach der mechanischen Attraktionshypothese sei eine vermehrte Wechselwirkung zwischen Gefäßwänden und Blut anzunehmen, jedoch vermöge keiner anzugeben, woher die Kraft dafür komme. Indirekt können Krämpfe eigentümliche Kongestionen auslösen und von der Normalität abweichende chemische Prozesse Stockungen veranlassen. 40 Lotze schlug jedoch vor, beide - Reizung und Hemmung - zu verknüpfen. Die bekanntesten Kongestionen kommen von entzündlichen Stockungen, wenn Sinnesreize wie Kälte und Wärme die antagonistischen Gefäßnerven überwinden. 36
37 38 39
40
Hermann Nasse, Bericht über die Leistungen in der allgemeinen Pathologie in den Jahren 1842 und 1843, in: Jahresbericht über die Fortschritte in der Biologie im Jahre 1843, Bd. 4, 1844, S. 156-173, 174-214, auf S. 164-165. H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 278/288. Ebenda, S. 275/285. Benjamin Stilling, Physiologische, pathologische und medizinisch-praktische Untersuchungen über die Spinalirritation, Leipzig 1840; Gustav Valentin, De functionibus nervorum cerebralium et nervi sympathici libri Ι\ζ Bern 1839. H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 269/279, 283/295-285/297
K o n s t r u k t i o n des vegetativen Nervensystems
167
Henles Theorie der Kongestion und Entzündung: Antagonismus der Cerebrospinal- und Gefäßnerven 1844 folgte Henle Lotzes Differenzierung von drei Theorien der „Congestion und E n t z ü n d u n g " . 4 1 Das Problem war, die Verzögerung der Blutbewegung und die daraus resultierende Anhäufung des Blutes während der Entzündung zu verstehen. Es gab drei Erklärungen dafür: a) physikalische oder chemische Veränderungen verursachen eine Art Gerinnung (Dubois), b) eine Anziehung des Blutes, die auf die Erweiterung zuführender Arterien folgt (J. Vogel), c) Erweiterung der Gefäße infolge Nerventätigkeit (Lotze). Henle stützte sich auf Lotzes Einwände gegen die ersten beiden Theorien 4 2 und beendete seine Darstellung mit einer weitschweifigen Verteidigung seiner eigenen Theorie eines „Antagonismus der Cerebrospinal- und Gefässnerven", wonach die Entzündung aus der Lähmung einer der beiden Nervenformen resultiert, die ihrerseits eine Abnahme des Gefäßtonus zur Folge hat. 4 3 Tatsächlich jedoch hatte Lotze eine neuropathologische Theorie aufgestellt, die von derjenigen Henles grundsätzlich abwich: „Allein ich halte es nicht für unwissenschaftlich, in dem einen Theile eine Verdichtung, in einem anderen selbst eine Auseinandertreibung der Molecüle als Erfolg der Nerventhätigkeit anzunehm e n . " 4 4 Die Kontraktion der Arterien unter dem Einfluß der Nerven vermöge den Blutstrom zu beschleunigen. Jedoch könne auch die Erweiterung der Arterien auf Nerveneinflüsse zurückgeführt werden.
Die Henle-Lotze-Kontroverse Lotze hatte 1842 die sich mehrenden Kenntnisse über antagonistische Bewegungsabläufe und hemmende Kontrollmechanismen im Organismus umrissen. Er hatte die Gelegenheit genutzt, um Henle zu kritisieren und ein Prinzip nervaler Steuerung der Blutzirkulation und der Entzündung zu formulieren. Auf dieser Basis gelang es ihm, sowohl 1842 in seiner Allgemeinen Pathologie als auch 1852 in seiner Medicinischen Psychologie emotionale Zustände, psychische Erkrankungen und physiologische Vorgänge miteinander zu verknüpfen. 4 5 Henle entgegnete 1844 mit einem Argument ad hominem: „Ref. kann dieser
41
J a c o b Henle, Bericht über die Arbeiten im Gebiet der rationellen Pathologie seit A n f a n g des Jahres 1839, in: Zeitschrift f ü r rationelle Medicin 2, 1844, S. 1 - 1 4 4 ; über Valentin, Stilling und Henle, S. 5 6 - 9 0 ; über die Paralyse, S. 67f.
42
Ebenda, S. 4 8 - 5 2 .
43
E b e n d a , S. 77f.
44
H . L o t z e , Allgemeine Pathologie und Therapie, a . a . O . , S. 278/288.
45
E b e n d a , S. 3 2 8 / 3 4 5 - 3 4 6 / 3 6 6 . Vgl. H . L o t z e , Medicinische Psychologie, L e i p z i g 1852, S. 2 3 3 - 2 8 8 .
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Meinung nicht zustimmen. Wer je in irgendeinem Zweige der Naturwissenschaften selbstständig geforscht hat, wird den Beweis aus der Analogie nicht gering schätzen." 4 6 Die Analogie, auf die sich Henle bezog, war die, daß die Reizung eine Kontraktion der Arterien bewirkt - demzufolge müßten sich auch die Kapillaren kontrahieren. Lotze erwiderte vier Jahre später in der zweiten Auflage seiner Pathologie·. „Der Idee, die dieser Ansicht zu Grunde liegt, fehlen übrigens Analogien, wenn man deren sucht, keineswegs." 47 Er erwähnte die antagonistischen Muskelgruppen, den Darmkanal, die Blasenmuskeln und den Uterus als Beispiele für Systeme, in denen „entgegengesetzt wirkende Kräfte sich im Gleichgewichte halten" und in denen eine automatische Bewegung durch eine willkürliche Bewegung außer Kraft gesetzt werden kann. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Entdeckung Eduard Webers, daß man bei heftiger Reizung der Vagus das Herz zum Stillstand bringen könne. 48 Mehr als auf die traditionellen Ausdrücke „Erregung" und „Depression" oder „Erregungslosigkeit" kam es Lotze 1848 in der zweiten Auflage seiner Pathologie darauf an, vier Hypothesen vorzustellen, die erklären können, ob sensible oder ob sympathische Nerven paralysiert werden: „1) Es kann die contractile Kraft der vasomotorischen Nerven spontan, ohne Reizzustand der sensiblen, vermindert sein, dies würde zu atonischen Congestionen führen. 2) Es kann die contractile Kraft der Gefässnerven vermehrt sein bei gleicher Reizlosigkeit jener; hieraus würde Blässe und Anämie der betroffenen Theile folgen. Bei völligen Lähmungen sensibler Nerven, ohne gleichzeitige Paralyse sympathischer Fasern, würde sich durch dieses Uebergewicht contractiler Wirkungen die trockene Mumification erklären, welche hier oft die paralysirten Glieder befällt, während gleichzeitige Verletzung sympathischer Fasern eine feuchte Destruction hervorruft. 3) Bei erhöhetem Reizzustand sensibler Nerven würde sich eine Herabsetzung der contractilen Nervenkraft, eine Erweiterung der Capillargefässe zeigen, der gewöhnliche Fall der Congestion. 4) Bei momentaner Ueberreizung sensibler Nerven würde endlich ein augenblickliches Uebergewicht der Contraction eintreten, welche vorübergeht, sobald jene Nerven von ihrer kurz dauernden Lähmung sich erholt haben, oder auch chronisch werden kann bei dauernder Paralyse derselben, wie oben unter 2."49
46
J. Henle, Bericht über die Arbeiten im Gebiet der rationellen Pathologie seit Anfang des Jahres 1839, a.a.O., S. 97.
47
H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 278/288.
48
Eduard Weber, Muskelbewegung, in: Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf die Pathologie, hrsg. von R. Wagner, Braunschweig 1846, Bd. 3/2, S. 1 - 1 2 2 . Vgl. H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 256/266.
49
H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, a.a.O., S. 278/289.
Konstruktion des vegetativen Nervensystems
169
Im Gegensatz zu Lotzes „möglichen Combinationen" der Störung nehme Henle „als ersten Grund [der Entzündung, W R. W] Lähmung der Gefässe an, die nach ihm durch Reize bedingt werden soll. Setzen wir dafür, wie mir wahrscheinlicher ist, Aufhebung der Contraction durch eine aktiv entgegenwirkende Kraft [.. .]." 50 Hier war Lotzes Standpunkt demjenigen Henles wiederum genau entgegengesetzt. 1844 umging Henle den entscheidenden Punkt, indem er Lotze für dessen Warnung kritisierte, physikalische Begriffe wie Permeabilität und Tonus für die Erklärung von Anämie und Hyperämie zu benutzen. Lotze bewegte sich noch einmal in eine neue Richtung. „Will man aber einen engern und charakteristischern Begriff der Entzündung aufstellen, so wird man ihn eben in diesem Zustande der Kräfte und der Mischung der Säfte finden." 5 1 Er erweiterte die zweite Auflage seiner Pathologie u.a. um genau 21 Seiten über die Zusammensetzung des Blutes, einschließlich der Faserstoffe; dabei ging es ihm um einen biochemischen Beitrag zu den „Veränderungen des Blutes" sowohl durch Entzündung als auch durch Ernährung und Wachstum. 52 Lotze war bestrebt, den Terminus „Entzündung" nicht zu sehr zu strapazieren und schlug daher vor, ihn auf eine Reihe näherliegender Phänomene zu beschränken. Er folgerte: „Ich finde in dem Allen nicht den geringsten Grund, Entzündung als eine eigenthümliche scharfbestimmte Krankheit zu fassen und in die Frage nach ihrem eigentlichen Wesen einzugehen; die einzige Erklärung kann hier, wie so oft in der Pathologie, nur die sein, dass die Art nachgewiesen wird, wie der Sprachgebrauch auf diese compacten Ausdrücke gekommen ist." 53 In dieser Beziehung hat er Henle sicherlich dazu angeregt, seine Hypothesen klarer zu begründen. Im Handbuch der rationellen Pathologie von 1846 widmete Henle dem sympathischen Nervensystem und seinen antagonistischen Wirkungen über 100 Seiten. Er behandelte hier die Teile des Nervensystems, die heute als parasympathisches und sympathisches Nervensystem bekannt sind. 54 Im Vorwort zur Ausgabe von 1848 seiner Pathologie und Therapie betonte Lotze: „Da die Nothwendigkeit einer stärkeren Hervorhebung der Polemik gegen nun schon veraltete Ansichten hinwegfiel, so ist der Verfasser bei dieser Auflage auf grössere Vollständigkeit des Materials und auf Ausfüllung einiger Lücken bedacht gewesen. [...] Hierin haben ihn die neueren pathologischen Werke, unter ihnen namentlich Henle's rationelle Pathologie unterstützt, und gern erkennt der Verfas50 51 52 53 54
Ebenda, S. 370/396. Ebenda, S. 398. Ebenda, in der 2. Aufl. (1848) sind hinzugefügt: S. 372-389, 390, 392-394. Ebenda, S. 370/395. Jakob Henle, Handbuch der rationellen Pathologie, 2 Bde., Braunschweig 1846-1851, Bd. 1, S. 154-281.
170
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ser an, dem zweiten Theile dieses Werkes mannigfache Anregungen zu verdanken, so wenig er auch die in dem ersten Theile desselben Werkes enthaltenen Betrachtungen für vollständig und genau zu halten vermag." 5 5 Es war also für Henle erforderlich geworden, den historischen und theoretischen Teil kritisch zu überarbeiten, während sich seine sorgfältige Erörterung alternativer nervaler Interaktionen als höchst originell erwiesen hatte. Henle hatte tatsächlich auf die Kritik reagieren müssen, um seinen Standpunkt gegenüber Lotze behaupten zu können. Vielleicht wird jetzt etwas besser verständlich, warum Müller von physiologischen Experimenten zum Nervensystem seit 1840, als er erst 39 Jahre alt war, Abstand nahm. 5 6 Er galt primär als Anatom, der sich auf makroskopische Beobachtung und Histologie stützte. Die weitere Teilnahme an der wissenschaftlichen Konstruktion des Nervensystems hätte, wie er wußte, andere Arten von wissenschaftlichem „know how" erfordert. Daß er Henle als seinen Nachfolger akzeptierte und daß er die Werke von Lotze mit Dankbarkeit entgegennahm, zeigt seine Größe in der Erkenntnis seiner eigenen Grenzen. 5 7
Zusammenfassung Diese Fallstudie hat gezeigt, wie ein Problem, das von Johannes Müller formuliert wurde, durch den Mediziner und Philosophen Hermann Lotze in einer Weise theoretisch neu gestellt wurde, daß es durch Jakob Henle und andere gelöst werden konnte. Müller unterschied die organischen Nerven von den Sinnesnerven und den Hirn- bzw. Rückenmarksnerven. Henles neuropathologische Hypothese der Hemmung der inneren Organe wurde später durch komplexere Hypothesen eines zweiten Nervensystems ersetzt. Erst nach 1890 war die Konstruktion des vegetativen (englisch: „autonomic") Nervensystems, die mit Müller begann, einigermaßen vollendet. 58 Interessant ist, daß die Machtverhältnisse unter den Wissenschaftlern
55
H . Lotze, Allgemeine Pathologie und Therapie, 2. A u f l . (1848), S. VI.
56
Gottfried Koller, D a s Leben des Biologen Johannes Müller. 1801-1858, Stuttgart 1958,
57
J . Müller an H . L o t z e : „ A u c h in dem speciellen Theil Ihres Werkes, obwohl ich darin
S. 138. noch nicht hinreichend tief eingedrungen bin, u m alles zu übersehen, stoße ich überall auf gar vieles Treffende und wohl zu beachtende, und auf manchen Geistesfunken. Wenn Sie den Physiologen zu der unmotivirten E n t d e c k u n g der centripetalen und centrifugalen Nervenströme G l ü c k wünschen, so unterschreibe ich diese Gratulation vollkommen und danke Ihnen für einen Augenblick des besten H u m o r s worin Sie mich versetzen." Vgl. hierzu A n m . 1. 58
Vgl. Kenneth J . Franklin, Α Short H i s t o r y of Physiology, a . a . O . ; Gerald G e i s o n , Michael Foster and the C a m b r i d g e Physiological School, a . a . O .
Konstruktion des vegetativen Nervensystems
171
selbst Einfluß auf den Prozeß solcher Konstruktionen nahmen. 5 9 So gab die philosophische Kritik an bestimmten Hypothesen aus etablierten Labors einen wichtigen Anlaß dazu, daß die scientific community ihre Befunde neu formulierte. Schon in den 1840er Jahren erkennen wir einen sich entwickelnden Konsens, trotz divergierender theoretischer Ansätze. Das Forschungsprogramm Müllers trug also durch solche kritischen Auseinandersetzungen zur Rekonstruktion der Medizin in seiner Epoche bei.
59
Lotze schreibt im Vorwort zu „Allgemeine Pathologie und Therapie" (2. Aufl., 1848, S. VI), daß er „schliesslich dieser zweiten Auflage dieselbe freundliche Aufnahme [wünscht], so wie dieselbe stillschweigende Benutzung, die ihm schon bei der ersten so oft das Vergnügen verschaffte, seine Ansichten mit andern oder mit denselben Worten in pathologischen Schriften wieder zu finden." Ich danke Petra Lennig dafür, daß sie meine Aufmerksamkeit auf diese Bemerkung und im allgemeinen auf das mutige Engagement Lotzes lenkte. Siehe ihren Beitrag: Rudolph Hermann Lotzes Konzept einer allgemeinen Pathologie, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 85, 1991, S. 637-640.
G E R L O F VERWEY
Johannes Müller und das Leib-Seele-Verhältnis Zur systematisch-philosophischen und philosophie- und wissenschaftshistorischen Ortung
Das Leib-Seele-Problem1 entstand mit Descartes. Zuvor gab es schon so etwas wie ein Problem des Leib-Seele- Verhältnisses, aber es war nur sekundär, da die „Lösung" dieses Verhältnisproblems im Prinzip schon durch eine allgemein metaphysische Begriffsbildung vorgezeichnet war. Bei Aristoteles z.B. läßt sich die begriffliche Bestimmung dieses Verhältnisses als ein Fall der Anwendung der allgemein metaphysischen Begriffe des Hylemorphismus verstehen: Erst durch die Anwendung der Begriffe Materie (ΰλη) und Form (είδος) auf das Leib-Seele-Verhältnis entstand die Lehre von der Seele (ψυχή) als forma corporis. (Ich spreche deshalb in einem solchen Fall vom Problem des Leib-Seele- Verhältnisses, und nicht von dem Leib-Seele-Problem). Mit Descartes entsteht das Leib-Seele-Problem im engeren Sinn („das LeibSeele-Problem"), oder präziser ausgedrückt, das Problem des Körper-Geist-Dualismus. Die Geschichte dieses Problems ist wesentlich die Wirkungsgeschichte des cartesischen Denkens. In der Neuzeit sehen wir eine Reihe von philosophischen Antworten auf dieses Problem auftauchen, entweder (1) dualistischer Art (Interaktionismus, Parallelismus, Epiphänomenalismus) oder (2) monistischer Art (Materialismus, Spiritualismus/Idealismus, Identitätstheorie, Doppelaspekttheorie). Die Philosophien im Umkreis des deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel), die im Hinblick auf das Leib-Seele-Verhältnis vielleicht am besten als Parallelismen monistischer Prägung zu charakterisieren sind, scheinen dadurch gekennzeichnet, daß sie insgesamt die (ontologisch-)dualistischen Voraussetzungen der Kontroverse um den Cartesianismus nicht übernehmen und, von anderen,
1
Der terminologischen Einheitlichkeit halber verwende ich den Ausdruck „Leib-SeeleProblem/Verhältnis" (analog dem englischen „body-mind-problem/relationship") für alle Verhältnisse, die sich aus den Begriffen „Leib" und „Körper" einerseits und „Seele" und „Geist" andererseits kombinieren lassen. Ohne diese Restriktion wäre es aus systematisch-philosophischen Gründen zu bevorzugen, in Kontexten, in denen unzweideutig die cartesische Position gemeint ist, über das Körper-Geist-Problem zu sprechen (hiernach angedeutet als: das Leib-Seele-Problem in engerem Sinn).
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e b e n i d e a l i s t i s c h - m o n i s t i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n a u s g e h e n d , das b l e m als ein p r i n z i p i e l l l ö s b a r e s Verhältnis-Problem
Leib-Seele-Pro-
f o r m u l i e r e n , das sich o h n e
weiteres in die n e u e , „ i d e a l i s t i s c h e " F a s s u n g des u m g r e i f e n d e n
Subjekt-Objekt-
Verhältnisses e i n b e z i e h e n l ä ß t . 2 V o m S t a n d p u n k t eines h e u t i g e n D u a l i s m u s aus, sei e r o n t o l o g i s c h ( E c c l e s ) , epis t e m o l o g i s c h (Feigl) o d e r s p r a c h l i c h ( W i t t g e n s t e i n ) o d e r sei er ein D o p p e l a s p e k t i v i s m u s , d e r an d e m i r r e d u z i b l e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n p h y s i s c h e n u n d geistigen E i g e n s c h a f t e n ( T h . N a g e l ) festhält, w ä r e die d e u t s c h - i d e a l i s t i s c h e A n t w o r t auf das L e i b - S e e l e - P r o b l e m n i c h t n u r als eine v o n a n d e r e n ( n i c h t - c a r t e s i a n i s c h e n ) V o r a u s s e t z u n g e n b e d i n g t e U m - o d e r Z u r ü c k b i e g u n g in die E b e n e des s e k u n d ä r e n „ P r o b l e m s " des L e i b - S e e l e - V e r h ä l t n i s s e s z u b e s c h r e i b e n , s o n d e r n o b e n d r e i n als eine Strategie
der
Umgehung
und
Verharmlosung
des Dualismus-Problems
zu kritisie-
ren.3 I n der P h i l o s o p h i e des 2 0 . J a h r h u n d e r t s gibt es eine A n z a h l b e d e u t e n d e r P h i l o 2
Der Ausdruck „Parallelismen monistischer Prägung" trägt dem Umstand Rechnung, daß „Parallelismus" im 19. J h . (bis ungefähr 1910) nicht nur eine ontologisch-dualistische Position, sondern auch ontologisch-monistische Varianten sowie identitätsphilosophische, identitätstheoretische und doppelaspekttheoretische Positionen (ζ. B. Schelling, Schopenhauer, Fechner) mitumfaßte (vgl. Ludwig Busse, Geist und Körper, Seele und Leib. 2. Auflage, Leipzig 1913; Rudolf Eisler, Leib und Seele. Darstellung und Kritik der neueren Theorien des Verhältnisses zwischen physischem und psychischem Dasein, Leipzig 1906). Der heute in der „philosophy of mind" gängige Sprachgebrauch (dem ich folge) hat die Bedeutung des Wortes auf die dualistische Variante eingeengt. (Man vergleiche dazu z . B . die bekannten, vielmals aufgelegten Einführungen von John Hospers, An Introduction to Philosophical Analysis, second ed., Englewood Cliffs, N . J . 1967 und Jerome A. Shaffer, Philosophy of Mind, Englewood Cliffs, N . J . 1968). Die bewußt globale Kennzeichnung „Parallelismen monistischer Prägung" bezieht sich (wie im Text kenntlich gemacht) nur auf den „deutschen Idealismus" im engeren Sinne Fichte, Schelling, Hegel; Kant, der zuweilen auch zum deutschen Idealismus gerechnet wird, wäre wohl als Vertreter eines dualistischen Parallelismus zu betrachten sein - vgl. ζ. B. Kant in seinem Brief an Marcus Herz, 1773, wo er schreibt: „die subtile u. in meinen Augen auf ewig vergebliche Untersuchung über die Art wie die organe des Korper mit den Gedanken in Verbindung stehen" (in: Kant's gesammelte Schriften, Bd. 10, 2. Abteilung: Briefwechsel, Erster Band: 1747-1788, 2. Aufl., Berlin - Leipzig 1922, S. 145).
3
Die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Dualismus" im Zusammenhang mit der Leib-SeeleProblematik wird übersichtlich dargestellt bei Josef Seifert, Das Leib-Seele-Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine systematisch-kritische 2. korr. u. erw. Aufl., Darmstadt
1989, S. 158-162.
(Der
Analyse,
„Eigenschaftdualismus"
T h . Nagels wird darin noch nicht berücksichtigt.) Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die im ersten Absatz genannten Dualismen (Interaktionismus, Parallelismus, Epiphänomenalismus) Spielarten eines ontologischen Dualismus darstellen. Die hier im
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
175
sophien, so verschieden wie z . B . die von Arnold Gehlen, Gilbert Ryle, Martin Heidegger und die von den post-Wittgensteinianern initiierte philosophy of action, die alle eine vergleichbare Strategie der Umgehung anwenden, indem sie, jede auf ihre Weise, argumentieren, daß das Leib-Seele-Problem ein falsch gestelltes oder Pseudo-Problem sei. Es sei tot, entlarvt oder uninteressant, und deshalb empfehle es sich, sich nicht weiter damit abzuquälen. Die mit diesen philosophischen Positionen einhergehende Tendenz der Entwertung des Leib-Seele-Problems wurde in den letzten Jahren besonders verstärkt durch das Emporkommen diverser Spielarten eines (mehr oder weniger konsequent durchgeführten) Materialismus oder Physikalismus. Diese Varianten eines szientifischen (wenn nicht szientistischen) Monismus oder Unitarismus werden inspiriert und getragen von Entwicklungen in (1) den Neurowissenschaften (neurosciences) (u.a. Neurophysiologie und die sich auf sie stützende Psychobiologie), (2) den kognitiven Wissenschaften (cognitive sciences) (kognitive Psychologie, Artifizielle Intelligenz) und in (3) der allgemeinen Systemtheorie. In all diesen Ansätzen wird das Leib-Seele-Problem entweder geleugnet (wie in den physikalistischen Spielarten von (1) und (2)) oder umgangen (wie in (1) und (3)) durch eine neue Formulierung: das Verhältnis des Physischen zum Geistigen wird interpretiert als ein Verhältnis biologischer Erscheinungen (Psychobiologie), als ein Verhältnis, das sich analog dem Verhältnis von hardware (Körper) und software (Geist) in der Computertechnologie erläutern läßt (kognitive Wissenschaften), oder es wird verstanden als ein Verhältnis von Systemen (allgemeine Systemtheorie) (L. von Bertalanffy); „systemism" (M. Bunge)). 4 Diese mehr im anglo-amerikanischen Bereich als in Deutschland wirksamen Entwicklungen in den Wissenschaften haben dazu beigetragen, daß heutzutage in der philosophischen Diskussion statt des traditionellen Leib-Seele-Problems in engerem Sinne ein Leib-Seele-Problem in erweitertem Sinne aktuell geworden ist, nämlich das Problem, in welcher Weise, jenseits der Alternative eines starken, ontologischen („cartesischen") Dualismus einerseits und eines physikalistischen Monismus hauptsächlich auf neuro- und kognitiv-wissenschaftlicher Grundlage
4
vierten Absatz berücksichtigten Dualismen sind, mit Ausnahme des zuerst genannten (Eccles), nicht ontologisch. Für eine allgemeine Charakteristik der Problemlage siehe Heiner Hastedt, Das LeibSeele-Problem. Zwischen Naturwissenschaft des Geistes und kultureller Eindimensionalität, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1989; für die Psychobiologie vgl. William R. Uttal, The Psychobiology of Mind, Hillsdale, Ν. J. 1978; für die allgemeine Systemtheorie vgl. Ludwig von Bertalanffy, The Mind-Body Problem: A New View, in: Psychosomatic Medicine 26, 1964, pp. 2 9 - 4 5 ; für den „systemism" vgl. Mario Bunge, The Mind-Body Problem. A Psychobiological Approach, Oxford 1980.
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G E R L O F VERWEY
andererseits an dem kategorialen Unterschied des Physischen und Geistigen, der physischen Eigenschaften und geistigen Eigenschaften, festgehalten werden kann (allerdings ohne daß, im Prinzip, Sinn und Bedeutung der diesbezüglichen wissenschaftlichen Forschung angezweifelt werden). 5 Es handelt sich dabei um eine Aufwertung, ja Rehabilitierung des Leib-Seele-Problems (wenn auch „in erweitertem Sinne"), die allen heutigen, sowohl explizit philosophischen als auch wissenschaftlichen (gegebenenfalls „szientistischen") Versuchen, den Leib-Seele-Gegensatz zu entschärfen, zuwiderläuft. Das bedeutet keine Rückkehr zu Descartes, sondern lediglich die Verteidigung einer Position, die, der sogenannten „Zweiseitentheorie" Fechners ähnlich, in der heutigen Philosophie in verschiedener Art und Weise als „double aspect theory" (Doppelaspektivismus) bekannt geworden ist (Th. Nagel, Ε Strawson, S.Hampshire, D . Davidson, B. O'Shaughnessy). 6 Für die systematische und historische Ortung der Müllerschen Stellungnahme zum Problem des Leib-Seele-Verhältnisses scheint mir folgendes wichtig: Es kann nicht übersehen werden, daß der große Aufschwung in den biologischen Wissenschaften seit den 1830er Jahren in Deutschland (nicht zuletzt durch die Leistungen von Müller selbst) im Schatten einer Philosophie stattfand, welche nichts weniger bewirkt hatte als die völlige Unterminierung des Cartesianismus. Zwischen dem Tiefstand des philosophischen Erbes des Descartes und dem Aufschwung der biologischen Wissenschaften (und, wie ich besonders hervorheben möchte: der Physiologie Müllers) besteht ein Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist nicht extern-real, im Sinne einer (mehr oder weniger komplexen) kausalen oder intentionalen Beziehung aufzufassen; er ist auch nicht ohne weiteres als innere Beziehung zu beschreiben, die - in souveräner Distanz zur historischen Kontingenz - eine (inhalts)logische Notwendigkeit in die Beziehung der beiden Glieder hineinträgt; sondern er läßt sich vielleicht am besten als „verständlicher Zusammenhang" (Weber, Jaspers) oder mit einem Plessner entlehnten Ausdruck als eine „sinngesetzliche Beziehung", d.h. eine Beziehung „sinngemäßer Ergänzung" beschreiben. 7 Tiefstand des cartesischen Erbes und Aufschwung der Biologie in Deutsch-
5
Die Vertreter dieser Option kommen vorzugsweise aus der Philosophie der kognitiven Wissenschaften oder aber sie entfalten ihre Stellungnahme mittels einer Kritik des heutigen Physikalismus in den kognitiven Wissenschaften und der artifiziellen Intelligenz (H. Dreyfus, Th. Nagel).
6 7
Vgl. Thomas Nagel, The View from Nowhere, New York - Oxford 1986, p. 30. Vgl. Helmuth Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der Deutschen Universität - Tradition und Ideologie [1924], in: Gesammelte Schriften, Bd. 10: Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 1985, S. 7 - 3 0 , auf S. 7 (sinngesetzliche Beziehungen), S. 13 (sinngemäße Ergänzung), etc. Vgl. auch unten Anm. 9.
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
177
land sind kulturell-historische Gegebenheiten, die irgendwie in ihrer Sinnrichtung miteinander korrespondieren und sei es auch nur in der (anti-cartesianischen) Begriffsbildung. Die schlichte Tatsache dieser konzeptuellen Parallelität zwischen der damaligen Philosophie und Biologie kann man erkennen, ohne sich damit gleich bestimmten kausalen Hypothesen oder geschichtsmetaphysischen Deutungen von Wesenszusammenhängen zu verschreiben. Die Bemerkungen zum Thema „Johannes Müller und das Leib-Seele-Verhältnis" sollen diesen Zusammenhang verdeutlichen. Drei Fragen möchte ich hier, versuchsweise, aufwerfen, indem ich sie als Thesen formuliere und im folgenden erläutere.
Erste These: Das Projekt der Müllerschen Physiologie läßt sich, systematisch und historisch, verstehen als die damals noch ausstehende wissenschaftliche Ergänzung zur philosophischen (d.h. deutsch-idealistisch-philosophischen) Überwindung des Cartesianismus. Die These besagt zweierlei: (1) der deutsche Idealismus bedeutet zweifelsohne eine Uberwindung des cartesischen Dualismus; ob diese Überwindung, „Aufhebung", gelungen ist oder nicht, ob sie nur Versuch, Intention ist oder Resultat, kann zunächst dahingestellt bleiben; (2) zwischen Müllers Physiologie und der idealistisch-philosophischen Uberwindung des Cartesianismus besteht ein sinngesetzlicher Zusammenhang: die Müllersche Physiologie (im Handbuch) läßt sich verstehen als wissenschaftliche Ergänzung zu jener idealistisch-philosophischen Überwindung. Aber (1) was bedeutet in diesem Zusammenhang „wissenschaftliche Ergänzung" ? Warum und in welchem Sinne soll die Wissenschaft die Philosophie ergänzen? Und (2) inwieweit und in welchem Sinne hat Müllers Physiologie überhaupt eine Beziehung zum cartesischen Leib-Seele-Problem? Auf die erste Frage möchte ich antworten: Der Einfluß Descartes' war nicht beschränkt geblieben auf die Philosophie; er bestand auch weiter in der physiologischen Psychologie in Frankreich, England und Schweden, als Müllers Physiologie schon geschrieben war und die Wissenschaft (Physiologie, Psychologie, Psychiatrie) in Deutschland sich faktisch benahm, als ob das cartesische Gespenst definitiv erledigt sei; das Überwunden-Sein des Cartesianismus war für diese Wissenschaft (und Philosophie) im 19. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit. So erklärt sich wohl auch der von St. Toulmin bemerkte Umstand, daß „German scientists and philosophers had authority, in a way their colleagues in other countries did not, to justify their ignoring the more rigid dichotomies of mind and matter".8 Müllers Physiologie hat entscheidend dazu beigetragen, daß diese Selbstverständlichkeit 8
Stephen Toulmin, Psychoanalysis, Physics, and the Mind-Body-Problem, in: The
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oder dieses „Vorurteil" (das Wort nicht unbedingt in abschätzigem Sinne verstanden) entstehen konnte. Und diese Leistung (ob positiv oder negativ zu bewerten, bleibe dahingestellt) kann m. E. als Parallele, ja Ergänzung zur deutsch-idealistisch-philosophischen Unterminierung des Cartesianismus angesehen werden. Man sollte die Implikation dieser Terminologie nicht übersehen: „Parallele" besagt hier: Ubereinstimmung, Korrespondenz zwischen Philosophie und Wissenschaft (Physiologie) in der begrifflichen Fassung des Problems - es soll die cartesianische Begriffsbildung überwunden werden. Aber „Ergänzung" bedeutet auch eine Differenz zwischen beiden in dem Sinne, daß die empirische Wissenschaft (in diesem Falle Müllers Physiologie) etwas leistet, was die Philosophie von sich aus nicht leisten kann und will, eben die empirisch-wissenschaftliche Ausführung und Gestaltung einer anticartesischen, „organizistischen" Theorie des Organismus, die der Philosophie zur Seite gestellt werden kann. 9 „Ergänzung" meint also auch einen Wechsel im Selbstverständnis: Es ist aus der Perspektive der empirischen Forschung gesprochen, wenn die Philosophie in jenem Sinne als ergänzungsbedürftig erscheint. Und es ist kaum daran zu zweifeln, daß dies auch die Perspektive des reiferen Müller war, wenn auch die Bedeutung von zeitgenössischen Philosophen wie Hegel und Schelling in anderen Punkten tiefgreifender genannt werden kann, als man früher wohl zu vermuten wagte. Eine Beziehung von Müllers Physiologie zum cartesischen Leib-Seele-Problem (zweite Frage) ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen: Eine explizit thematische Stellungnahme zum Leib-Seele-Problem wird man im Handbuch nicht finden. 10 Annual ot Psychoanalysis 6, 1978, pp. 3 1 5 - 3 3 6 , cit. p. 329. - Toulmin nennt hier Müller, Helmholtz, Meynert und Wernicke. 9
Abgesehen von der erkenntnistheoretischen Problematik bezieht der Anticartesianismus sich entweder auf (1) den Körper-Geist-Dualismus, oder auf (2) den mechanistischen Natur-, bzw. Körperbegriff (mit der impliziten Nichtunterscheidung von anorganischer, „toter", und organischer, „lebender" Natur, bzw. von Körper und Leib). Außerdem gab es Divergenzen im Anticartesianismus entsprechend den unterschiedlichen philosophischen Voraussetzungen seiner Vertreter. So ist der im vitalistischen Materialismus (entsprechend der Charakteristik Owsei Temkins (The philosophical background of Magendie's physiology, in: Bulletin of the History of Medicine 20, 1946, pp. 1 0 - 3 5 ) eines Magendie beheimatete Anticartesianismus in seinen philosophischen Voraussetzungen grundverschieden von dem „Organizismus" (bzw. Vitalismus) Müllers, für den der deutsche Idealismus den Hintergrund abgibt. Die erstere Gestalt des Anticartesianismus ist schlechterdings unvereinbar mit den „idealistischen Parallelismen" (vgl. Anm. 2); die zweite (Müllers) dagegen verhält sich (wie zuvor gesagt) zu diesen Parallelismen als eine „sinngemäße Ergänzung". -
Eine nähere
Bestimmung des Begriffes des „Organizismus" folgt unten in den Erläuterungen zur dritten These. 10
Implizit aber gewissermaßen „überall". A m wichtigsten: Johannes Müller, Handbuch
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
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Ich glaube jedoch, daß die damalige Problemlage eine Frage enthielt, die, o b w o h l nicht ausdrücklich formuliert, Müllers physiologische T h e o r i e sozusagen herausgefordert hat, nämlich die Frage: Wie ist nach Descartes eine wissenschaftliche Physiologie bzw. physiologische Psychologie möglich? D a s heißt: Wie ist ein intellektuelles Unternehmen möglich, das die wissenschaftliche Überwindung des cartesischen Vorurteils beinhaltet? Müllers Physiologie ist die A n t w o r t auf diese Frage, sei es auch implizit. Alexander von H u m b o l d t schrieb, als er Müller in einem Brief (vom F e b r u a r 1840) anläßlich des Erscheinens von dessen Handbuch gratulierte: „Sie haben die schwierigsten Probleme des O r g a n i s m u s u n d der Wechselwirkung der Seele auf das Organische [ . . . ] b e h a n d e l t . " 1 1 - „Die Wechselwirkung der Seele auf das O r g a n i sche" - das gehört gewiß z u m T h e m a „Leib-Seele-Verhältnis". Aber, o b s c h o n w o h l nicht zufällig von H u m b o l d t an erster Stelle genannt, sollte m a n nicht ü b e r s e hen, d a ß das T h e m a der Wechselwirkung der Seele mit d e m O r g a n i s c h e n n u r 35 Seiten von den u n g e f ä h r 1500 Seiten des ganzen Werkes u m f a ß t . D a ß die zeitgenössischen aktiven Wissenschaftler, aber auch Müller selbst, diese physiologische
11
der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 505-588 (Vom Seelenleben). Relevant für das Thema sind auch die Bestimmungen zur „Reflex(aktion)", „zerebralen Lokalisation"; die Lehre der spezifischen Sinnesenergien; das Verhältnis von Muskelaktivität und „Innervationsempfindung" (Wundt) sowie spärliche Äußerungen Müllers über die persönliche Unsterblichkeit und das Göttliche (vgl. J. Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, Coblenz 1826, S. 63, sowie ders., Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S.50). Der Ansicht, Müller vertrete im Medium einer wissenschaftlichen Theorie des Organischen die Strategie einer Umgehung des cartesischen Leib-Seele-Problems, wird, soweit ich sehe, nicht nur nicht widersprochen durch die Analyse und Zusammenschau der oben genannten Textstellen, sondern sie scheint mir auch im wesentlichen kompatibel zu sein mit Johannes Steudel, Johannes Müller und die Neurophysiologie, in: Von Boerhaave bis Berger: Die Entwicklung der kontinentalen Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Κ. E. Rothschuh, Stuttgart 1964, S. 62-70, auf S. 69-70, der einzigen mir aus der Sekundärliteratur bekannten Deutung des Leib-Seele-Verhältnisses bei Müller. Steudels Behauptung, Müller sei vermutlich dem Pantheismus, oder besser, dem Panpsychismus zugeneigt, wäre nur in dem Sinne zu präzisieren, daß es sich (1) bei Müller um eine Art regulativen oder methodischen Panpsychismus handelt und daß (2) dieser (regulative) Panpsychismus sich faktisch innerhalb der Grenzen hält, die durch die konzeptuelle Vorentscheidung, Seelisches als „Lebensäußerung des Organischen" aufzufassen, gesteckt sind („Organizismus" wäre eine bessere Bezeichnung). Der zweite Punkt ist entscheidend für die Zugehörigkeit zum „Umgehungs"Typus. Wilhelm Haberling, Johannes Müller. Das Leben des rheinischen Naturforschers, Leipzig 1924, S.229f.
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Theorie verstanden haben als das wissenschaftliche Seitenstück zur Überwindung des Cartesianismus, die im deutschen Idealismus für die Philosophie bereits vollzogen war, ist eine gewiß eingehender Begründung bedürftige, aber immerhin bestechende Hypothese über das Selbstverständnis der damaligen Physiologie bzw. physiologischen Psychologie.12 Jedenfalls scheint mir die Problemlage der damaligen Philosophie und Wissenschaft in Deutschland ein Selbstverständnis der Physiologie als wissenschaftliche (d. h. nicht-philosophische) Theorie des Organismus nahezulegen, das dem oben angedeuteten sinngesetzlichen Zusammenhang zwischen philosophischer Kritik am Cartesianismus und der Möglichkeit einer spezifisch „organizistischen" Biologie oder Physiologie entspricht. Einem derartigen Selbstverständnis zufolge wäre das ganze Handbuch Müllers - wenn auch implizit - auf das cartesische Leib-Seele-Problem bezogen. Zweite These: Als wissenschaftliche Antwort auf das Problem des cartesischen Dualismus kann das Müllersche Unternehmen (speziell hinsichtlich der spezifisch biologischen Begriffsbildung ihrer Theorie des Organischen und ihrer damit verknüpften Ausführungen über die Wechselwirkung des Organischen und der Seele) gesehen werden als Fortsetzung der philosophischen Strategie der Umgehung des cartesischen Problems im Medium der biologischen Wissenschaft. In der Einleitung habe ich schon das Nötige gesagt über die Strategie der Umgehung und Verharmlosung des Leib-Seele-Problems. Ich werde das nicht wiederholen. Statt dessen möchte ich zuerst erläutern, was es besagt, wenn wir von einem Wissenschaftler sagen, er bediene sich einer derartigen Strategie. Die umfangreiche Erörterung „Vom Seelenleben" in Müllers Handbuch gibt die dazu erforderlichen Anknüpfungspunkte. Wichtig scheint mir vor allem der konzeptuelle Vorgriff, demzufolge das Leib-Seele-Verhältnis als ein naturphilosophisches bzw. empirisch-physiologisches Problem auftreten kann. Theoretisch gibt es nach Müller 13 zwei verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis von Leben (und Seele) zur Materie (bzw. zum Körper) zu bestimmen. Nach der ersten dieser „cosmologischen Hypothesen" ist die „Materie selbst ohne ihr einwohnende Seele und Leben"; diese aus Pythagoras, Piaton, Neuplatonismus und Mystik überlieferte Anschauung besagt, „daß die Seele dem physischen Leibe 12
Eine nähere Begründung (im folgenden nur ζ. T. ausgeführt) würde idealiter zweierlei umfassen: (1) Auf dieses Selbstverständnis verweisende Aussagen von Zeitgenossen, und (2) Erläuterung des postulierten sinngesetzlichen Zusammenhangs durch Aufweis der anticartesianischen Perspektive in der physiologischen Begriffsbildung Müllers. Die Ausführungen im zweiten Abschnitt („Zweite These") beschränken sich auf den zweiten Punkt.
13
J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 5 1 0 - 5 2 3 .
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
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fremd, keine Kraft desselben und überhaupt keine Kraft der Materie" ist und „daß die Seele mit dem Körper in den organischen Wesen nur vereint ist". 14 Die zweite „cosmologische Hypothese" („die pantheistische Ansicht von der Weltseele und ihrem Verhältniss zur Materie") besagt, der ersten entgegengesetzt, „daß das Princip des Lebens aller Materie einwohnt und [...] nichts Anderes, als eine Kraft der Materie selbst ist". 1 5 Mit diesen beiden Hypothesen „entfernt sich die Untersuchung von dem Gebiete der empirischen Physiologie und geht in das der hypothetischen Speculation und Philosophie über". 1 6 Nichtsdestoweniger bleiben beide Hypothesen letztendlich bezogen auf die physiologische Empirie, indem sie - eingestandenermaßen - die erfahrungsmäßig begründete wissenschaftliche Alternative zur Frage des Verhältnisses von Leben (Seele) und Materie gewissermaßen auf philosophischer Ebene ergänzen. Man geht wohl nicht fehl zu behaupten, daß die theoretische Funktion dieser Hypothese die eines (methodischen) Regulativs für die physiologische Forschung darstellt, vergleichbar der der „materialistischen Hypothese" eines Griesinger. 17 Obwohl Müller zufolge beide Hypothesen mit den Resultaten der empirischphysiologischen Forschung verträglich sind, ist wohl mit Steudel anzunehmen, daß Müller selbst der zweiten, „pantheistischen" Hypothese zugeneigt war. 18 Wie sehr Müllers Überlegungen durch diese Hypothese und den darin enthaltenen konzeptuellen Vorgriff gesteuert werden, erhellt nicht nur aus Einzelheiten seiner empirisch-physiologischen Argumentation, sondern vor allem auch aus der Betrachtung des Ganges seiner Untersuchung bis zur Einführung des Begriffs der physiologischen Monade: Einer bis auf Aristoteles zurückgehenden naturphilosophischen Tradition folgend, identifiziert Müller zunächst (im 1. Abschnitt) Seelenprinzip und Lebensprinzip, um in einem zweiten Schritt (2. Abschnitt) das Seelenleben im engeren Sinn, d. h. das Seelenleben, so wie es sich äußert in „Vorstellen, Denken, Gemüth", davon zu unterscheiden. Im 3. Abschnitt folgt dann seine Auffassung von der Wechselwirkung der Seele und des Organismus, worin dieses Problem als Problem des „Verhältniss[es] der geistigen Kräfte zur Organisation" bestimmt wird; Müller fügt hinzu, daß es im Grunde nicht anders (bzw. nicht
14 15 16 17 18
Ebenda, S. 5 lOf. Ebenda, S. 511. Ebenda, S. 509. Vgl. Wilhelm Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Ärzte und Studirende, 3. Aufl., Braunschweig 1871, S. 6. Vgl. J. Steudel, Johannes Müller und die Neurophysiologie, a.a.O., S. 69f. Steudels Vermutung erfährt, so scheint mir, eine wesentliche Verstärkung durch die weiter unten angestellten konzeptuellen Überlegungen.
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Gerlof Verwey
weniger rätselhaft) sei als das Problem des ,,Verhältniss[es] anderer physischer Kräfte zur Materie". 19 Wenn schließlich im folgenden Verdienste und Schwächen der zwei rivalisierenden Erklärungsversuche bezüglich der Wechselwirkung von Seele und Materie dargestellt werden - die, welche sich dem Begriff der „Urteilchen der organischen Körper, Monaden in physiologischer Sinn" verschreibt; und die letztlich von Herbart vertretene Auffassung, welche „Monaden im Sinne der philosophischen Atomistik" postuliert - dann wird vollends deutlich, daß Müller von Anfang an eigentlich nur die erste Möglichkeit - die der physiologischen oder organischen Monaden - ernsthaft erwogen hat, bzw. daß er die „pantheistische" Hypothese vorgezogen hat. 2 0 Ins Prinzipielle gewendet: Es geht aus dem Gesagten hervor, daß Müllers Gedankenzug in seinen konstitutiven Schritten, sowohl gesondert als zusammengenommen betrachtet, schlecht paßt zur Annahme der ersten „cosmologischen" Hypothese, die besagt, „dass die Seele dem physischen Leibe fremd, keine Kraft desselben und überhaupt keine Kraft der Materie" ist. Der Gedankenzug Müllers erscheint nur sinnvoll, wenn das Verhältnis von Seele und Organismus, oder allgemeiner, von Leben/Seele und Materie von vornherein nicht als ein äußerliches und kontingentes (wie in der ersten „cosmologischen" Hypothese), sondern als ein inneres, d. h. logisch notwendiges Verhältnis verstanden wird. Gerade in diesem „von vornherein" birgt sich der konzeptuelle Vorgriff, der die oben genannte Umgehung des Problems des cartesischen Dualismus begründet. Wie aktuell die Strategie der „Umgehung" bis heute geblieben ist, zeigt in überraschender Deutlichkeit der Vergleich mit einem Autor, der 120 Jahre später lebte, nämlich Κ. E. Rothschuh. In seinem Buch Theorie des Organismus (1959) macht Rothschuh sich Gedanken über „eine Interpretation des Verhältnisses von Leben und Seele". Seine dort entwickelte Auffassung geht dahin, daß „das seelische Erleben [...] die Erscheinungsweise [ist], welche bestimmte neurophysiologische Akti-
19 20
J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 553. Für Müller sind die physiologischen Monaden „die organisirten vergänglichen Urteilchen [...], aus welchen [...] alle organische Gewebe bestehen, und [...] ihres Gleichen in sich und außer sich erzeugen" (ebenda, S. 555). Vgl. auch S. 509: „Der ganze Organismus besteht [...] aus einem System sich einander zu einem Ganzen ergänzenden, bis auf einen gewissen Grad selbstständigen Teilchen, mit der Fähigkeit ihres Gleichen zu erzeugen, gleichsam sekundären Monaden, insofern sie ihren Grund in der Urmonade des Keims haben, und zusammen wieder die Urmonade oder die Keimzelle aber explicite vorstellen. Die verschiedenen Monaden in diesem Ganzen haben durch ihre Structur und Materie verschiedene Kräfte, der Bewegung, Empfindung, Ernährung, Absonderung, oder es kommen verschiedene Naturkräfte an ihnen durch ihre Structur zum Vorschein."
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
183
vitätsformen für unsere innere Erfahrung annehmen. Das Leib-Seele-Verhältnis ist ein Leben-Seele-Verhältnis, ein Zuordnungsverhältnis zwischen bionom und psychonom geordneten Vorgangsreihen." Weiter heißt es: „Seelisches hängt mit Körperlichem parallelistisch zusammen. Eines wirkt nicht auf das andere. Ihre Beziehung hat den Charakter von Zuordnung und Entsprechung." Eine derartige Auffassung, so betont er, ist nicht materialistisch, denn sie leugnet nicht die Erlebniswirklichkeit: das Seelische ist ebenso wirklich wie das Physische, ja, „das seelische Erleben ist vielmehr die reifste und schönste Frucht am Baume des Lebens". 2 1 Schlüsselbegriff in diesen Ausführungen ist der Begriff der „bionomen Sinnhaftigkeit": „Leben ist eine Form sinnerfüllter Notwendigkeit. Seine Eigengesetzlichkeit nannten wir bionom, sie kennzeichnet die sinnvolle, den Lebenszielen zugeordnete Art des Zusammenwirkens der Glieder innerhalb der bionomen Organisation. Bionome Sinnhaftigkeit begegnet uns gleicherweise im körperlichen Prozeßgefüge wie im Merken und Wirken der Tiere und in unserem seelischen Erleben. Die innere Sinnhaftigkeit des Erlebens unterscheidet sich aber nur dem Grade nach von der Sinnhaftigkeit [sie] des organisch-biologischen Geschehens." Und Rothschuh schließt seine Betrachtung zusammenfassend mit den Worten: „Der hier entwickelte Leben-Seele-Vorschlag bezieht sich also auf die Zuordnung zwischen bionomer Ordnung im Körperlichen und psychonomer Ordnung im Seelischen. Er betrachtet seelisches Erleben als eine ,Lebensäußerung des Organismus' G.Müller 1826)." 2 2 Der Hinweis auf Müller ist wichtig, weniger aus historischen als aus systematischen Gründen: Wenn es zutrifft, daß seelisches Erleben aufgefaßt werden muß als „Lebensäußerung des Organismus", dann ist damit das Leib-Seele-Problem reduziert auf etwas relativ Harmloses und Sekundäres, nämlich auf das Problem des Verhältnisses von zwei Erscheinungsweisen des Lebens zueinander. In diesem Punkt sind Rothschuh und Müller sich einig. Das aber ist keine Lösung des Leib-Seele-Problems, sondern eine verharmlosende Uminterpretation und Ausdruck oder Folge einer konzeptuellen Vorentscheidung, durch die das Leib-Seele-Problem von vornherein entschärft wird. Das Problem bekommt damit zugleich eine neue Gestalt, in der es, aufgefaßt als Teilproblem eines anderen, allgemeineren Problems, reibungslos in den Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie eingefügt werden kann, sei diese die Rothschuhsche Konzeption der Konditionalkomplexe, die Wechselwirkungslehre Johannes Müllers oder die Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers. 23 21
Karl E. Rothschuh, Theorie des Organismus, München - Berlin 1959, S. 194.
22
Ebenda, S. 195f.; vgl. Johannes Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichts-
23
Vgl. Κ. E. Rothschuh, Prinzipien der Medizin, München - Berlin 1965, S. 7 1 - 1 2 6 ;
sinnes, Leipzig 1826, S. 22f.
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Einen schönen, indirekten Beleg dafür, wie sehr schon die deutsche Physiologie am Anfang des 19. Jahrhunderts in konzeptueller Hinsicht Müllers Antwort auf den Cartesianismus vorbereitet hat, liefert das vor kurzem erschienene Buch von Brigitte Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik. Es geht mir um zwei Hinweise: (1) Versuche, den kenntheoretischen Gegensatz (nämlich zwischen Subjekt und Objekt) zu überbrücken, so schreibt sie, findet man in der damaligen Bestimmung des Organismus als „Subjektobjekt". 2 4 Und (2): man war damals davon überzeugt, daß die Organismen (wie alle Naturdinge) relative Subjektobjekte sind. „Objektivität ist Ausdruck der Subjektivität, und folglich sind nur relative Subjektobjekte vorzufinden. In der Natur herrscht nun einmal mehr das eine über das andere und umgekehrt." 2 5 In dieser Sicht stehen das Objektive und das Subjektive in Wechselwirkung. Zum ersten Punkt möchte ich hinzufügen: Das Thema des Organismus als Einheit eines Subjektiven und Objektiven tritt an die Stelle des früheren cartesischen Leib-Seele-Problems, als seine „Lösung", Transformierung und Relativierung. Und zum zweiten Punkt ist zu sagen, daß diese Uminterpretation einhergeht mit einer Neubestimmung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses im Sinne einer die ganze Natur umfassenden Wechselwirkungslehre von spezifisch „biologischer" Prägung. - Hier scheint mir eine Linie sichtbar zu werden, die von der Physiologie im Zeitalter der Romantik über Müllers Begriff der physiologischen Monade („Zelle") bis zu v. Weizsäckers fast identischer Begriffsbestimmung des Organischen als „subjekthaltiges O b j e k t " führt; 2 6 auch der damalige Begriff der Wechselwirkung (nämlich des Subjektiven und Objektiven) funktionierte in diesem Zusammenhang wie später bei v. Weizsäcker der Begriff des Umganges. 2 7 biologisch-"interakWorauf es ankommt, ist, daß innerhalb eines derartigen tionistischen" Subjekt-Objekt-Relationismus die sogenannte Leib-Seele-Relation
Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis [1940], Frankfurt a. M. 1973; J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 5 5 3 - 5 8 8 . 24
Brigitte Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik, Stuttgart - New York 1990, S. 102. B. Lohff (Näheres siehe in ihrer Bibliographie) zitiert Döllinger 1806, Troxler 1807, Kessler 1805, J. J. Wagner 1853, Dömling 1802.
25
Ebenda, S. 105.
26
Vgl. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 554f.
27
Für die innere Zugehörigkeit der Begriffe „Umgang", „subjekthaltiges Objekt" und „Gestaltkreis" im Rahmen des „biologischen" Relationismus v. Weizsäckers, siehe Gerlof Verwey, Medicine, Anthropology, and the Human Body, in: The Growth of Medical Knowledge, eds. Η . A. M. J. ten Have, G. K. Kimsma and S. F. Spicker, Dordrecht 1990, pp. 133-162, cit. p. 145f.
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
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zu einem Verhältnis von kompatiblen Größen transformiert worden ist; 2 8 das Leib-Seele-Problem ist in dieser Transformierung entschärft und relativiert zu einem Teilaspekt dieses Subjekt-Objekt-Relationismus. Von dieser „biologischen", organizistischen Denkweise läßt sich zusammenfassend sagen, daß sie nicht nur in ihrer begrifflichen Bestimmung des Organischen als Subjektobjekt und in ihrer damit einhergehenden organizistischen Wechselwirkungslehre, sondern auch in ihrer weiteren Begriffsbildung schon über das cartesische Problem hinaus ist: Die physiologische Psychologie, die in den 1830er Jahren ihre Geburtsstunde feierte, bevorzugt konsequent Begriffe und Fragestellungen, die im Ansatz schon das heikle Leib-Seele-Problem überwunden haben - Begriffe (und diesbezügliche Fragestellungen) wie diejenigen des Reflexes und der zerebralen Lokalisation der geistigen Funktionen, die, zumindest der Möglichkeit nach, die sensomotorische Neurophysiologie mit der Biologie des Organismus verbinden. Wie R. Smith einmal richtig bemerkte, war es die Ambiguität, die ζ. B. den Begriff des Reflexes für die zutiefst anti-cartesianischen Disziplinen der Physiologie und der physiologischen Psychologie so anziehend machte: „it can refer to the underlying neurophysiological structure or to the movement of nervous impulse from sensory to motor nerves or to the psychological events of stimulus and response. It can refer to a precise, limited, automatic and unconscious event or it can refer to a complex, learned and conscious (though involuntary) event." 2 9 Nicht weniger charakteristisch für die (anti-cartesianische) physiologische Psychologie ist der Begriff der zerebralen Lokalisation, d. h. Lokalisation der geistigen Funktionen im Gehirn: mit den Ergebnissen der funktionellen Lokalisation wurde es möglich, Vorgänge im Bereich des Geistigen oder des menschlichen Verhaltens in physiologische Prozesse zu „übersetzen". Im Grunde ist die Sachlage bei Müller nicht anders. 30 Seine Gedanken zur Loka28
U m keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: es handelt sich hier also nicht um den in der Leib-Seele-Diskussion üblichen (cartesianischen) Interaktionismus, der (ontologisch) dualistisch ist, sondern um einen Interaktionismus zweier Größen innerhalb der einen „biologischen" (d. h. dem Leben zugehörigen) Dimension.
29
Roger Smith, The Background of Physiological Psychology in Natural Philosophy, in:
30
Die organizistische Psychologie Müllers, so scheint es auf den ersten Blick, geht einher
History of Science 10, 1973, pp. 7 5 - 1 2 2 , cit. p. 83. mit einem entschiedenen Anti-Lokalisationismus: „Nichts berechtigt uns im Gehirn besondere Organe oder Provinzen für diese Tätigkeiten (nämlich „Vorstellen, Denken, und Leiden oder die Leidenschaft") oder sie als für sich bestehende Vermögen der Seele anzunehmen" (J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 516). Es ist der Lokalisationismus der Phrenologie Galls, den Müller hier abweist. - Man sollte sich jedoch dadurch nicht irreführen lassen: Der Anti-Lokalisationismus (Globalismus) hat niemals eine totale Verwerfung des Lokalisationsgedankens beinhaltet; auch der Globalismus lokalisierte,
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lisation sind im Handbuch klar ausgesprochen: „Ob die Ursachen der verschiedenen Energien der Sinnesnerven in ihnen selbst liegen, oder in Hirn oder Rückenmarkstheilen, zu welchen sie hingehen, ist unbekannt, aber es ist gewiss, daß die Centraltheile der Sinnesnerven im Gehirn, unabhängig von den Nervenleitern, der bestimmten Sinnesempfindungen fähig sind." 3 1 Die spätere Neurologie und physiologische Psychologie sowie die Geschichte dieser Diziplinen haben diesem (hauptsächlich wohl impliziten) Lokalisationismus Müllers durchaus Rechnung getragen. 32 Es sei jedoch ausdrücklich betont, daß es der offenkundig aristotelischen Perspektive in der Lehre der spezifischen Sinnesenergien zuwiderläuft, ohne weiteres anzunehmen, Müllers impliziter Lokalisationismus teile die ontologischen und wissenschaftsphilosophischen (ggf. physikalistischen) Voraussetzungen der späteren „klassischen" Lokalisationslehre und deren einseitige Betonung des Ortes statt der Art der Empfindung (vgl. dazu das unten in der Erörterung der dritten These Ausgeführte). Eine solche Annahme bliebe ohne überzeugende Stütze, wie auch die folgende Überlegung nahelegt: Der Begriff der spezifischen Sinnesenergie zeigt sich gerade darin nicht nur dem Worte (Energie), sondern der Sache nach, dem aristotelischen δύναμις-ένέργεια-Schema verpflichtet, daß es die rätselhafte Vermittlungsfunktion - Vermittlung von etwas Organischem, Physiologischem und etwas Geistigem, Inhaltlichem - übernimmt. 33 Behauptung dieser
31 32
33
zwar nicht anatomisch-topographisch, in umschriebenen Hirnarealen, sondern „global", d. h. - gegebenenfalls - im Gehirn im Ganzen. Ebenda, S. 261. Vgl. dazu V von Weizsäcker, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1990, S. 355; Walther Riese, A History of Neurology, New York 1959, pp. 118ff.; Robert M. \oung, Mind, Brain and Adaptation in the Nineteenth Century. Cerebral localization and its biological context from Gall to Ferrier, Oxford 1970, p. 91; R. Smith, The Background of Physiological Psychology in Natural Philosophy, a.a.O., p. 87; sowie Henri Hecaen/Georges Lanteri-Laura, Evolution des connaissances et des doctrines sur les localisations cerebrales, Paris 1977, pp. 64f. Vgl. W Riese, A History of Neurology, a.a.O, pp. 122f. Die klassische Stelle bei Aristoteles, die wohl maßgebend gewesen sein dürfte für Müllers Verständnis des δύναμις-ένέργεια-Schemas (Das Sehen ist die „Energie" des der Potenz nach (δυνάμει) sehenden Auges, die Verwirklichung dieser Potenz) ist Metaphys. IX, 6 - 9 (Aristoteles, Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII(Z)-XIV(N), hrsg. von H. Seidl, Hamburg 1980). In der späteren Wirkungsgeschichte von Müllers Lehre der spezifischen Sinnesenergien ist der aristotelisch-metaphysische Sinn des δύναμις-ένέργεια-Schemas abhanden gekommen, wie z.B. deutlich aus den Arbeiten von Alfred Goldscheider (Die Lehre von den specifischen Energien der Sinnesorganen, Berlin 1881) und Rudolf Weinmann (Die Lehre von den spezifischen Sinnenergien, Hamburg - Leipzig 1895) hervorgeht.
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
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Vermittlungsfunktion und einseitiger, d. h. nur die eine, anatomische oder physiologische Seite betonender Lokalisationismus sind schlechterdings unvereinbar; umgekehrt schließt ebenso die postulierte Vermittlungsfunktion prinzipiell die Möglichkeit einer (sei es auch nur „globalen") Lokalisierung ein. Kurz gesagt, funktionelle Lokalisierung spielt eine Rolle (als Voraussetzung, nicht als Programm) bei Müller in der „klassischen" Lokalisationslehre (Ende des 19. Jahrhunderts) sowie in der heutigen Psychobiologie: Ohne Lokalisierung geistiger Phänomene im Gehirn kann die Psychobiologie nicht auf neurophysiologische Ergebnisse Bezug nehmen. 34 Man sollte aber nicht übersehen, daß im Begriff der funktionellen Lokalisierung, von Müller bis zur heutigen Psychobiologie, eine begriffliche Vorentscheidung wirksam ist, die dem Aufkommen des cartesischen Leib-Seele-Problems entgegenarbeitet. Dritte These: Müllers Physiologie (physiologische Psychologie) stellt den ersten Schritt in Richtung einer szientistischen Verharmlosung des Leib-Seele-Problems dar, die in der heutigen Psychobiologie ihre bis jetzt letzte Gestalt erreicht hat. Die Erläuterung dieser dritten These führt notwendig zur Betrachtung der späteren Wirkungsgeschichte der von Müller entwickelten Physiologie bzw. physiologischen Psychologie. Viktor von Weizsäcker hat einmal sich selbst über seine Lehrer Ludolf Krehl und Johannes von Kries - beide Schüler von Carl Ludwig - in die auf Müller zurückgehende Tradition der Physiologie gestellt und sich als „Urenkel dieses Ahnherrn der deutschen Physiologie" 35 bezeichnet. Schipperges folgerte aus diesem Zitat, v. Weizsäcker habe sich „selbstverständlich und in einem tiefverwurzelten Sinne als
34
35
Demgegenüber ist den Autoren recht zu geben, die, wie Martin Müller (Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, Leipzig 1927, S. 35) und W Riese (A History of Neurology, a.a.Ο, p. 123) an den aristotelischmetaphysischen Ursprung des Müllerschen Energiebegriffs erinnern. Es geht nicht darum zu erweisen, daß Müller Aristoteliker war (das geht m. E. entschieden zu weit), aber es geht darum zu betonen, daß nur das im Sinne des Aristoteles verstandene δ'ύναμις-ένέργεια-Schema im Stande war, das für das ganze sinnesphysiologische Unternehmen zentrale Problem der Vermittlung des Organischen und Seelischen (Inhaltlichen, Qualitativen) zu lösen. Es war (so darf man vermuten) gerade diese theoretische Leistung, nicht die Rücksicht auf seine Verwendbarkeit in der Forschungspraxis, die Müller dazu verführte, an jenes Schema anzuknüpfen. Vgl. H. Hastedt, Das Leib-Seele-Problem, a.a.O., S. 78. Für die Stellungnahme der heutigen Psychobiologie zur Frage der funktionellen Lokalisation siehe W R. Uttal, The Psychobiology of Mind, a.a.O., pp. 249-354. V von Weizsäcker, Natur und Geist [1954], in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1986, S. 9-190, auf S. 35.
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Johannes Müller-Schüler empfunden". 36 Das ist nicht ganz unwahr, aber gewiß eine Ubertreibung und sicherlich nicht aus der zitierten Stelle herauszulesen. Vielleicht sollte man sagen, daß v. Weizsäcker und Müller sich in einem tiefverwurzelten Sinne Goethe verbunden gefühlt haben. Abgesehen von dieser Verbundenheit mit Goethe ist aber das Auffallende an dem Verhältnis v. Weizsäcker-Müller weniger das beide Verbindende als das Trennende: v. Weizsäcker hat eine auffallend harte Kritik an der Physiologie Müllers, insbesondere an dessen Lehre der spezifischen Sinnesenergien, geübt (wie auch an der von v. Kries verteidigten Weiterentwicklung dieser Lehre). Das Erstaunliche an dieser Kritik ist, daß v. Weizsäcker sich letzten Endes auf Goethe beruft, gegen Müller! Von Weizsäckers Auseinandersetzung mit Müller und v. Kries soll hier nicht detailliert referiert werden.37 Ich möchte nur dasjenige hervorheben, was mir relevant scheint zur Unterstützung meiner dritten These. Nach v. Weizsäcker hat Müller mit seiner Lehre von den spezifischen Sinnesenergien der späteren Lokalisationslehre vorgearbeitet, die insofern eine Erweiterung des Prinzips der spezifischen Sinnesenergien sei, als sie dasselbe Modell des Nervensystems benutze - ein Modell, das auf dem sogenannten Leitungsprinzip beruhe (Leitungsprinzip: Punkt-Punkt-Verbindung zwischen spezifischen Endorganen und spezifischen Zentren im ZNS). Von Weizsäcker hat das Leitungsprinzip sowie den Begriff des Reflexes als den Eckstein der „klassischen" Neurophysiologie gesehen, und Müller ist für ihn ihr Ahnherr. Die Kritik v. Weizsäckers an Müller und dessen Epigonen v. Kries läßt sich nun folgendermaßen zusammenfassen: (1) Müller hat für die Sinnesphysiologie eine Entwicklung eingeleitet, in deren Verlauf das Interesse für den qualitativen Aspekt der Wahrnehmung allmählich verlorengegangen ist. Das heißt, die Frage: „Ist die Spezifizität einer Leistung an den Ort oder an die Art der Erregung gebunden?" wird seit Müller hauptsächlich beantwortet mit: „an den Ort". 3 8 (2) Die Müllersche Lehre von den spezifischen Sinnesenergien enthält einen impliziten Phänomenalismus und eine damit verknüpfte Tendenz, die Wahrnehmung zu subjektivieren. Mit anderen Worten: mit Müller entstand die Tendenz, den Wahrnehmungs-
36
Heinrich Schipperges, Johannes Müller im Lichte der modernen Wissenschaftsge-
37
Vgl. dazu Soemini Kasanmoentalib: De dans van dood en leven. De Gestaltkreis van
schichte, in: Zeitschrift für Kardiologie 76, Suppl. 4, 1987, S. 7 - 1 5 , auf S. 14. Viktor von Weizsäcker in zijn wetenschapshistorische en filosofische context, Zeist 1989, S. 9 6 - 1 0 0 , auf deren wertvolle Hinweise zur Beziehung von Weizsäcker-Müller ich mich im wesentlichen stütze. 38
V von Weizsäcker, Die Neuroregulationen, in: Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für innere Medizin, 34. Kongress 1931 Wiesbaden, hrsg. von A. Gerönne, München 1931, S. 13-24, auf S.20.
Müller und das Leib-Seele-Verhältnis
189
Inhalt als nur subjektiv zu bewerten und für wissenschaftlich irrelevant zu halten. Zusammen mit der einseitigen Betonung des Ortes statt der Art der Erregung hat die phänomenalistische und subjektivistische Tendenz eine progressive Physikalisierung der Sinnesphysiologie herbeigeführt: immer mehr wurden die Sinnesreize in physikalistischen, quantitativen Ausdrücken definiert. Das heißt, es wurde nicht mehr über Farben gesprochen, sondern über Lichtfrequenzen usw. Sinnliche Qualitäten wie Farbe, Ton, Geruch und Geschmack gerieten in dieser Weise aus dem wissenschaftlichen Blickfeld. So entstand in der Sinnesphysiologie der Brauch, die qualitative sinnliche Wahrnehmung nur noch anzuwenden als ein methodisches Hilfsmittel zur Erforschung des organischen Prozesses. Damit wurde (so v. Weizsäcker) diese qualitative sinnliche Wahrnehmung aus dem Zentrum der sinnesphysiologischen Fragestellung vertrieben. 39 Gegen diese von ihm so genannte und kritisierte (subjektivistische) „Kant-Joh. Müllerschen Lehre der Subjektivität der Sinne" stellt v. Weizsäcker einen sinnlichen Realismus, der behauptet, daß wir imstande sind, „zu sehen was ist". Er verweist damit ausdrücklich auf Goethes Auffassung der Wahrnehmung, derzufolge wir eine wirkliche Welt von Qualitäten und Dingen wahrnehmen. 40 Wie gesagt, es ist schließlich der von Müller so verehrte Goethe, den v. Weizsäcker gegen Müller ins Feld führt. Ich glaube, daß, deskriptiv-historisch gesprochen, v. Weizsäcker richtig gesehen hat. Die spätere, an Müller anknüpfende Entwicklung des Empfindungsbegriffs unterstützt tatsächlich v. Weizsäckers Ansicht: Das Problem der Zuordnung von physiologischem und psychologischem Aspekt der Empfindung wurde zunehmend umgangen, und der rein physiologische Empfindungsbegriff tendierte dazu, die Empfindung weniger als Inhalt denn als Prozeß aufzufassen. 41 Diese Entwicklung geht gewiß in Richtung einer letztlich wohl szientistischen Verharmlosung des Leib-Seele-Problems. 42 39
40 41 42
V von Weizsäcker, Einleitung zur Physiologie der Sinne, in: Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie, Bd. XI, hrsg. von A. Bethe u. a., Berlin 1926, S. 1-67, auf S. 3 - 6 , 54-56; V von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, a.a.O., S. 146. V von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, a.a.O., S. 170; ders., Einleitung zur Physiologie der Sinne, a.a.O., S.3-6, 54-56. Vgl. O. Neumann, Empfindung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, hrsg. von J. Ritter, Darmstadt 1972, Sp. 456-474, auf Sp. 471. Um Mißverständnissen vorzubeugen: meine dritte These (sowie die diesbezügliche These von Weizsäckers) geht nicht dahin zu behaupten, daß Müller ein unverfälschter Szientist war, sondern daß die Möglichkeit einer Entwicklung zum späteren Szientismus (bis zum Szientismus der heutigen Psychobiologie) in seinem Werk angelegt war. Aus der Perspektive einer Geschichte der Szientifizierung gesehen, lassen sich Müllers Organizismus und der (Bio-)Physikalismus seiner Schüler als Stadien in einem Prozeß
190
G e r l o f Verwey
D e r Weg von Müller bis z u m heutigen psychobiologischen Verständnis des Leib-Seele-Verhältnisses ist lang. A m A n f a n g dieses Weges steht Johannes Müller als „ A h n h e r r der deutschen physiologischen Schule". A b e r er war nicht nur ihr Ahnherr, er war auch, s o m ö c h t e ich (im G e i s t e v. Weizsäckers) h i n z u f ü g e n , ihr A d a m : mit Müller erfolgt der Sündenfall in der deutschen Physiologie. Von Weizsäckers B e m ü h u n g e n ins Paradies z u r ü c k z u k e h r e n , waren vergeblich. Wir werden ihm darin nicht folgen, o b w o h l wir der Tendenz in seinem Werk, der szientistischen Verharmlosung des Leib-Seele-Problems entgegenzuarbeiten, z u s t i m m e n .
verstehen. Anders gesagt, gerade weil Müller den naturphilosophischen Auffassungen des Organismus gegenüber den ersten Schritt in dem Prozeß der Szientifizierung machte, konnte später der physikalistische Szientismus einziehen; deshalb auch konnten seine Schüler ihn als Vorläufer erkennen und hatte auch v. Weizsäcker recht, als er Müller an den Anfang dieser Entwicklung stellte. Die von mir vertretene Ansicht ist also durchaus vereinbar mit der Tatsache, daß es in der Wirkungsgeschichte Müllers dann und wann Interpretationen seines Werkes gegeben hat, so wie ζ. B. enthalten in der Vitalismus-Kritik der Biophysikalisten, oder in der dem Biophysikalismus abgeneigten Müller-Rezeption bei Jakob von Uexküll, die den rfwii-physikalistischen Aspekt des Müllerschen Werkes hervorheben.
STEFANO P O G G I
Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung
I. Das Problem, das Gegenstand unserer Ausführungen sein soll, ist sehr komplex. Seine Darstellung muß sowohl auf die Geschichte der Philosophie als auch insbesondere auf die von Physiologie und Psychologie rekurrieren. Die folgenden Überlegungen sind daher als vorläufig zu verstehen, und wir möchten zunächst und vor allem auf eine Reihe von zentralen Äußerungen Johannes Müllers hinweisen, in welchen der Keim vieler Aspekte der darauffolgenden Diskussion liegt. Dabei ist die Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes von 1826 der für unsere Fragestellung wichtigste Text. In der Tat können die Ausführungen des späteren Handbuchs der Physiologie des Menschen als eine Erweiterung - und in einigen Fällen als eine Milderung - jener ursprünglichen Formulierungen gelten. Wir beziehen uns in erster Linie auf diejenigen Stellen des früheren Textes, wo es Müller um die Unterscheidung zwischen Individuum und Außenwelt geht. Das genuin philosophische Problem des Selbstbewußtseins wird hier von einem physiologischen Standpunkt aus behandelt, der sich besonders im Hinblick auf die spätere Diskussion (Helmholtz) über die Ursachen unserer Empfindungen als aufschlußreich erweist. Zunächst wirft Müller eine allgemeinere Frage auf, um das speziellere - aber entscheidende — Problem des Gesichtssinns zu erklären. Müller fragt, „wie die thierische Einzelheit dazu komme, ihre Sinnesenergieen als eine von ihr selbst verschiedene Sinnenwelt anzuschauen". 1 Der Begriff der Sinnesenergie wird erst einige Seiten später klargestellt, doch setzt Müller schon in den ersten Zeilen des zitierten Abschnitts diesen Begriff voraus. Er ist der „Grundgedanke" einer jeden sinnesphysiologischen Untersuchung, und deswegen lohnt es sich, ihm nochmals unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, wenn auch in einer sozusagen „eingeschränkteren" Formulierung (Müller bezieht sich nur auf den Gesichtssinn). Die-
1
Johannes Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, Leipzig 1826, S. 39ff.
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STEFANO POGGI
ser Grundgedanke besteht also darin, „daß die Energieen des Lichten, des Dunkeln, des Farbigen, nicht den äußeren Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsinnsubstanz selbst immanent sind, daß die Sehsinnsubstanz nicht afficirt werden könne, ohne in ihren eingeborenen Energieen des Lichten, Dunkeln, Farbigen thätig zu seyn; daß das Lichte, das Schattige und das Farbige nicht dem Sinn als etwas fertiges Aeußerliches existiren, von welchem berührt der Sinn nur die Empfindung desselben habe, sondern daß die Sehsinnsubstanz von jedwedem Reiz, welcherlei Art er immer sey, aus ihrer Ruhe zur Affection bewegt [-V2 Wir haben also einen klaren Anhaltspunkt: Die Gesamtheit unserer Sinne besitzt eine Art innere Kraft, eine ursprüngliche „Energie", und das ist für Müller eine unbestreitbare Tatsache. Die alltägliche Erfahrung bestätigt unsere ursprüngliche, naive Uberzeugung: Wir erleben durchgehend eine Menge von inneren Veränderungen. „Das Selbstbewußtseyn, dessen ursprünglicher Inhalt die dunkelsten anfänglichen Regungen des Selbstgefühls sind, ist Bewußtseyn innerer Veränderungen an demselben, welches bewußt wird." 3 Von diesen Veränderungen aber wissen wir noch nicht, „ob sie von einer von dem veränderten Selbst verschiedenen d. i. äußeren Ursache erregt worden sind, oder ob Eines und Dasselbe, welches verändert wird und sich dessen bewußt ist, auch sich selbst Grund der Veränderung sey". Als solches schließt das Selbstbewußtsein „das Bewußtseyn eines von dem Selbst Verschiedenen, nicht Selbstigen, aus". Die einzig klare und sichere Grundlage wird von der direkten, durchgängigen Kenntnisnahme der inneren Veränderungen geliefert und bewahrt. Jede Art von Äußerlichkeit bleibt ausgeschlossen: die „einzige Aeußerlichkeit des thierischen Bewußtseyns auf dieser Stufe [d. i. auf der Stufe der „Anfänge der Sensibilität", S. P.] sind eben nur die Veränderungen als Objecte der subjectiven Empfindung". 4 In den „Anfängen der Sensibilität" ist das Individuum wie eine in sich eingeschlossene Totalität, die - als „die alleinige Natur, innerlich und äußerlich zugleich"5 - sich als mit einer eigenen Räumlichkeit ausgerüstet erweist. Aber es ist zugleich ganz unmöglich - so lange wir auf dieser Ebene bleiben - , diese Räumlichkeit genauer darzustellen und zu analysieren: In der Tat ist das biologische Individuum nur als eine Potentialität - eine dynamis - zu betrachten, die sich 2
Ebenda, S. 44f. Die Bedeutung von Müllers Konzept der spezifischen Sinnesenergien wurde neuerdings hervorgehoben von Manfred Sommer, Evidenz im Augenblick, Frankfurt a. M. 1987, S. 169-171 (S. 168, 170 über Hering); S.32f„ 38, 62, 127-132, 2 3 6 - 2 3 9 (über Müller).
3
J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a.a.O., S. 39.
4
Ebenda, S. 40.
5
Ebenda.
Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung
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in vielfältigen Beziehungen zur Außenwelt entwickelt. U n d das Resultat dieser Entwicklung darf in erster Linie nichts anderes als der Erwerb unserer Raumvorstellung sein.
II. Von diesem ersten Anhaltspunkt aus können wir jetzt die Argumente Müllers weiterverfolgen. „Vor der Erziehung der Sinne, vor der Ausbildung anderer intellectueller Vermögen, auf der ursprünglichsten Stufe, wo das Thier ueberhaupt nur als sensibel betrachtet werden kann, ist eine Trennung der inneren selbstigen Veränderungen in solche, welche eine von dem Thier verschiedene Ursache der Erregung haben, nicht denkbar." 6 Aber eine solche „ursprünglichste Stufe", sozusagen einer Ur-Sensibilität, ist eine „ideale Stufe", eine Grenzsituation. Es ist zweifellos richtig, daß ein Mensch, der „mit der Ausbildung des Gefühlssinnes anfienge" 7 , sich nur seiner eigenen Leiblichkeit bewußt wäre. Das Selbstbewußtsein ist eine Abstraktion, die nur so lange rein bleibt, „als die Sinne ruhig und nicht selbstthätig sind, als das Thier sich nicht bewegt, oder als keine relativen Veränderungen in den verschiedenen Objecten der Sinne eintreten". Wenn das biologische Individuum - das „Thier" - die Unterschiede seiner Affektionen zu bemerken beginnt, dann hat der wirkliche Aneignungsprozeß eines echten, dynamischen Selbstbewußtseins seinen Anfang genommen. In diesem Prozeß spielt eine große, ja entscheidende Rolle das Zusammenwirken der Sinne, unter welchen der Gesichtssinn und der Tastsinn eine prominente Stelle einnehmen. So wird der Mensch „zunächst seinen eigenen Körper kennenlernen, als ein in allem Wechsel der anderen Sinneserscheinungen Bleibendes, welches [...] bei dem Wechsel anderer Sinneseindrücke, über welche er nicht Herr ist, mit willkührlicher Bestimmung der Bewegung gleichzeitig und diesen adäquat sich auch in dem Complex der anderen Gesichtserscheinungen verändere, und dessen Tastbewegungen inmitten der passiven Bewegungen der übrigen Gesichtsobjecte ihm als spontane erscheinen. Dadurch würde er genöthigt werden, dasjenige, was als ein Bleibendes in der veränderlichen Gesichtswelt besteht, und was mit der Selbstbestimmung gleichzeitig sich in der Gesichtswelt bewegt, in anderen Relationen zu anderen Gesichtsobjecten tritt, als ein solches anzuerkennen, was zwar mit jenen Object der Affection ist, zugleich aber, der selbstthätigen Affection fähig, mit seinem Selbstbewußtseyn vereinbar ist." 8 6
7 8
Ebenda, S.40f. Vgl. hierzu den Didaktischen Teil von Goethes Farbenlehre: Johann Wolfgang Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, 1. Abt., Bd. 4: Zur Farbenlehre. Widmung, Vorwort und Didaktischer Teil, bearb. v. R. Matthaei, Weimar 1955, S. 26f. J . Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a.a.O., S.41. Ebenda, S.42f.
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Es ist also nicht das Bewußtsein, sondern das Urteil, das „die Trennung äußerer Ursachen und innerer Veränderungen" 9 zur Folge hat. Wir haben damit die Unmittelbarkeit und Abgeschlossenheit des Bewußtseins verlassen. Der Prozeß der „Erziehung der Sinne" wird von der festen Überzeugung geleitet, daß ein Grund für alle inneren Veränderungen anzunehmen sei: „durch die Nothwendigkeit des Grundes vermöge des Urtheils" verwechseln wir also „unsere Affection in der Sinnesenergie, das Object in der momentanen Auesserung des Selbstbewußtseyns, mit der Ursache". 1 0 Wir befinden uns demnach in einem Zustand, der „nicht rein sinnlich" sein kann; man könnte sogar behaupten, daß die Hauptbedingungen einer wirklichen Erziehung der Sinne die Überschreitung der Grenze der reinen, „ideellen" Sinnlichkeit ist. Die „Abstraction des Selbstbewußtseyns" 1 1 ist nicht mehr rein. Mehr noch: an die Stelle jener „Abstraction des Selbstbewußtseyns" ist eine Abstraktion der Empfindungen getreten. Müller weist ausdrücklich darauf hin, daß es „uns durch die Erziehung des Sinnes nothwendig geworden [ist], die Empfindung als abstracte ohne concreten Inhalt als Gegenstand des Selbstbewußtseyns zu haben". 1 2
III. Es wäre natürlich aufschlußreich, dem Hegeischen oder Schellingschen Ton der Bemerkungen, die Müller diesen Zeilen folgen läßt, nachzuforschen. 1 3 „Jene Trennung der Affectionen in der Sinnesenergie von unserem Selbst, als ein demselben schlechthin Aeußeres, wird durch nichts mehr befördert, als durch das Gefühl des Mangels, nämlich die Unzureichbarkeit, aus sich selbst zehrend den Gestaltungsprozeß der thierischen Einzelheit fortzusetzen. So entsteht" - hier könnte man vielleicht auch an Fichte erinnern - „im Gegensatz des theoretischen Verhaltens das praktische Verhalten des Individuums gegen die Natur, wodurch wir Willens
9 10 11 12 13
Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 44. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie [1799], in: Sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. 3, hrsg. von K. W J. Schelling, Stuttgart - Augsburg 1858, S.91, 144-147, 149f„ 257-261; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 6: Jenaer Systementwürfe I, hrsg. von K. Düsing und H . Kimmerle, Hamburg 1975, S. 186ff„ 191, 193, 205, 215, 218, 223-226, 230, 235; vgl. auch ders., Werke, hrsg. von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, Bd. 9: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß (1830), 2. Teil: Die Naturphilosophie, §§ 344-346, 351-354, 359; Bd. 10: Enzyklopädie ..., 3. Teil: Die Philosophie des Geistes, S. 95f.; §§ 399f„ Frankfurt a. M. 1970.
Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung
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sind, die Natur als ein unseren Sinnen Aeußeres zur Selbsterhaltung uns zu unterwerfen." 1 4 Wir wollen jedoch einer anderen Diskussionslinie folgen und uns auf das Problem der Empfindung konzentrieren. Es wurde schon oben an den Grundgedanken aller sinnesphysiologischen Untersuchungen bei Müller erinnert, d. h. an das sogenannte Gesetz der spezifischen Sinnesergie. Auf seiner Grundlage muß prinzipiell zwischen den mechanischen und chemischen Prozessen einerseits und den organischen Prozessen andererseits unterschieden werden: Alle „einwirkenden Substanzen bewirken in dem thierischen Prozeß ein Anderes, als sie selbst sind, und die Art der Reaction hängt nicht wesentlich von dem Reiz ab, sondern sie ist eine von den in der thierischen Wesenheit gelegenen Energieen". 1 5 Die Bedeutung des Erziehungsprozesses der Sinne ist damit klar geworden: Sie liegt darin, „die Empfindung als abstracte ohne concreten Inhalt als Gegenstand des Selbstbewußtseyns zu haben". 1 6 Als Resultat jenes Prozesses sind wir in der Lage, das von unserer Empfindungstätigkeit sozusagen „Erreichte" als etwas von uns Verschiedenes, Äußerliches, Objektives aufzufassen. Wir betrachten und beschreiben die Masse der Empfindungen der verschiedenen Sinne. Aber gleichzeitig sollte unbedingt klar sein, daß wir nur einen Teil unserer inneren Zustände betrachten und beschreiben. Dennoch steht für uns fest, daß wir unsere Reaktionen gegenüber dem Äußeren betrachten und beschreiben können. Die Uberzeugung von der Existenz einer Außenwelt ist für Müller wohlbegründet; aber wir dürfen auf keinen Fall die begrenzte Tragweite - besser, die konstitutionelle Selbsttäuschung - unserer Sinne vergessen. Auch wenn die Rolle der Sinne im Entwicklungsprozeß unseres Wissens konsequent hervorgehoben werden muß, sollten wir uns stets vor Augen halten, was wir durch die Sinne erreichen können, d. h., was sie uns liefern und was nicht. Müller negiert keinesfalls die Möglichkeit einer empirischen Erkenntnis, aber er will uns auf die wirklichen Grundlagen dieser letzteren hinweisen. „Wenn auch wahr ist, daß wir von den Dingen der Erfahrung nicht anders als durch die Sinne wissen, von ihnen nichts als vermöge der Beziehung auf den subjectiven Sinn erkennen, so mögen wir denn doch über den Aeußerungen, als den Ursachen der Erregung, nicht die Wesenheiten und Wahrheiten der Sinne selbst vergessen, was wir uns nicht oft genug bei unserer subjectiven Stellung unter den Dingen wiederholen können." 1 7 Allerdings ist die Mahnung unentbehrlich, daß „was Alles uns die fünf Sinne an allgemeinen Eindrücken bieten, nicht die Wahrheit 14 15 16 17
J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a.a.O., S. 44. Ebenda, S.47f. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 49.
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der äußeren Dinge, sondern die realen Qualitäten unserer Sinne sind, daß die thierische Sensibilität allein in diesen rein subjectiven Zweigen ausgebildet ist. [...] Von den äußeren Dingen wissen wir nur, in wie fern sie auf uns in unseren Energieen wirken." 1 8
IV An diesem Punkt ergibt sich nun die entscheidende Frage: Wenn die Empfindungen, die durch eine innere Energie ausgelöst werden, als klares Symptom einer Reaktion unserer Sinne gegenüber einer Außenwelt oder etwas Äußerlichem gelten, wie kann das Verhältnis zwischen jenen Empfindungen einerseits und den Vorstellungen von diesem Äußerlichen andererseits gedacht werden? Die Untersuchung einer spezifischen Art von Sinnestätigkeit - des Gesichtssinnes - liefert die ersten Hinweise für die Beantwortung dieser Frage. In der Tat kommt Müller hier zu einer ersten grundlegenden Konzeption der Raumvorstellung, d. h. der meistbehandelten (wenn nicht der bedeutendsten) unter den Vorstellungen, die unsere Wahrnehmungstätigkeit (Müller selbst spricht allerdings nur von Empfindungen und Vorstellungen) begleiten und bedingen. Es erübrigt sich hervorzuheben, daß die Grundvoraussetzung der Müllerschen Darstellung die Anwendung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien auf den Fall des Gesichtssinnes ist. „Das gesunde durch keinen Einfluß gereizte Sehorgan sieht bei geschlossenen Augenliedern [!] sich in seinem ganzen Umfange finster, aber auch nur in seinem eigenen Umfange. Ist die Empfindung überhaupt negirt, ist das Organ gelähmt, so hört auch die sinnliche Anschauung der eigenen Ruhe als Dunkel auf." Und weiter heißt es: „Negation des Reizes bedingt nicht Negation der Empfindung. An dieser Grenze empfindet sich das Auge noch dunkel. Aber Negation der Empfindung negiert auch das sinnliche Dunkele. Die Netzhaut, wo sie die Empfindung der räumlichen Grenze hat, empfindet ihre räumliche Ausdehnung in der Energie des Lichtes." 1 9 Die letzte Behauptung, wonach die Netzhaut „ihre räumliche Ausdehnung in der Energie des Lichtes" 2 0 empfinde, hat weitreichende Konsequenzen. Hier hebt Müller vor allem die Bedeutung der Farben hervor. Wir haben schon oben bemerkt, daß der wirkliche Prozeß der Empfindungstätigkeit nicht das reine, abstrakte und starre Selbstbewußtsein sein kann. Dieser Prozeß hat seinen Anfang, wenn wir diese Abstraktion des Selbstbewußtseins verlassen, mit dem Spiel der Empfindungen. Im Falle der Lichtempfindung ist es ganz selbstverständlich, daß ein solches Spiel nichts anderes als das Spiel der verschiedenen Abstufungen von 18 19 20
Ebenda, S. 50. Ebenda, S.51f. Ebenda, S. 52.
Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung
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Farben sein kann. Insofern waren Müllers Polemik gegen die Newtonsche Farbentheorie und seine Anknüpfung an die Goethesche ganz konsequent. Seine Nähe zur Goetheschen Farbenlehre ist zwar unbestritten, 2 1 gleichwohl lohnt es sich, Müllers Verhältnis zu ihr präziser zu bestimmen. Dadurch wäre dann die Müllersche Konzeption der Raumvorstellung besser zu verstehen und, allgemeiner, seine Auffassung des Ubergangs von der Empfindung zur Vorstellung, d.h. des Wahrnehmungsprozesses, genauer zu analysieren. Selbstverständlich muß jede Untersuchung des Farbensehens zunächst die Frage nach der Farbenproduktion, nach der Farbentstehung stellen. Wir müssen die physiologischen von den physischen und beide von den chemischen Farben unterscheiden, aber das Hauptinteresse liegt in der „Farbenlehre vom Standpunkte der Physiologie", 2 2 d . h . den Empfindungen des Farbigen, die wir in uns beobachten und beschreiben und die als Hinweise, als Wegmarken für unsere Orientierung in der Außenwelt gelten. Wenn nun, vom Standpunkte der Physiologie aus, „das Licht und die Farben [ . . . ] nie ein sinnlich empfindbares Aeußeres, sondern immer ein sinnlich Empfundenes, die Energieen der Sinnlichkeit selbst" 2 3 sind, so sollen wir gleichzeitig auf das „äußere elementarische Licht" achten, auf das Licht nämlich, das eine ganz besondere Rolle in den Energien der Lichtempfindung im Sehorgan spielt. Dieses „Elementarische", „dessen wesentliche Wirksamkeit außer den Gesetzen seiner Bewegung wir [aber] nicht kennen", 2 4 unterliegt ständigen Veränderungen. Zwischen ihnen - den „Veränderungen desjenigen Elementarischen, welches, wenn es das Auge nach den Gesetzen seiner Bewegung afficiert, Licht genannt wird" 2 5 und der Entstehung der Farbwahrnehmungen im Sehorgan gibt es ein spezifisches Verhältnis. Von einem prinzipiellen Standpunkt aus - wir erinnern uns an die reine Abstraktion des Selbstbewußtseins - erregt in uns das Elementarische die Lichtempfindung; allerdings stößt das Einwirken dieses Elementarischen auf viele Hindernisse: die Farben sind die Empfindungen, die von den Störungen dieses „Elementarischen" erregt worden sind. Müller ist nicht nur mit der Goetheschen Auffassung ganz und gar einverstanden, er ist auch über den Streit zwischen Goethe und den Physikern genau orientiert. „Der Punkt der Controverse kann immer nur der seyn, von welcher Art die Veränderungen des Elementarischen sind, unter welchen statt
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Ebenda, S. 395, 408. Vgl. Wilhelm Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, Leipzig - Heidelberg 1862, S. 94. Vgl. auch Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S.300. J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a.a.O., S. 393. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 394.
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der Energie des Lichtes, die Energie der Farbe in dem Sehorgane erweckt wird." 2 6 Diese Veränderungen erleben wir in ihren Wirkungen, und diese repräsentieren für uns die einzig verläßliche Tatsache; aber die Physik hat dies ganz verkannt, und zwar ohne ihrerseits eine Erklärung zu liefern. „Statt diese Veränderungen des Elementarischen in den Brechungsphänomenen genau zu bestimmen, hat die Physik etwas ihr ganz Fremdes und nie zu ihrem Vortheil ihr Gereichendes übernommen, nämlich die Veränderungen der sinnlichen Energieen auf die Veränderungen des Elementarischen zu übertragen." Aber es gibt keinen zureichenden Grund für eine solche Verschiebung in der Beobachtung der Erscheinungen. Die Physik sollte ihre Aufmerksamkeit in erster Linie den Brechungsphänomenen widmen: In der Tat seien diese letzteren einer ausführlichen Darstellung noch bedürftig. „Die Veränderungen des Elementarischen selbst", behauptet Müller, „unter welchen es (gebrochen) in dem Auge statt Licht Farbe aufruft, sind aber so lange nicht zu ermitteln, als wir das, was verändert wird, das Licht seiner, ihm selbst zukommenden Natur nach nicht kennen. Von dem Elementarischen kennen wir nichts, als die Gesetze seiner Bewegung in durchsichtigen und zugleich brechenden Medien." 2 7 V
Müller hält den Standpunkt der Goetheschen Farbenlehre für wohlbegründet, was ihn nicht daran hindert, die Notwendigkeit einer Klarstellung und Ergänzung vieler Aspekte hervorzuheben. Zu den Unklarheiten gehört besonders die Beobachtung der Brechungsphänomene; 2 8 hier sind für Müller Präzisierungen sowie eine systematischere Darstellung unumgänglich: So „muß man wünschen, daß besonders in dem Abschnitte von den dioptrischen Farben der Vortrag eine mehr wissenschaftliche, unseren nunmehrigen mathematischen Kenntnissen von den Bewegungsgesetzen des Lichtes adäquate Gestalt erhalten hätte". Müller hebt die Rolle der Mathematik hervor: „Die Mathematik, als Begleiterin der Phänomene, kann zwar nie zur wahren Erkenntnis derselben, ihrer inneren Natur nach, etwas Wesentliches beitragen; und in diesem Betracht kann die Farbenlehre auch der Mathematik entbehren. Aber ich bin überzeugt, daß der Urheber der Farbenlehre mit mehr Bedeutung des mathematischen Theiles der Optik, auch ohne von mathe-
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Ebenda, S. 394f. Vgl. J. W Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, 1. Abt., Bd. 5: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil, hrsg. von R. Matthaei, Weimar 1958, S. 5 - 8 (§§15-23, vor allem § 20); ders., Die Schriften zur Naturwissenschaft, 1. Abt., Bd. 4, S. 37-49 (§§ 47-80). J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a.a.O., S. 395. Ebenda, S. 398.
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matischen Bestimmungen Gebrauch zu machen, jene Aussaat für den Widerspruch und die feindliche Bewegung zum Theil vermieden haben würde." 2 9 Die Bedeutung solcher Überlegungen Müllers darf nicht unterschätzt werden, denn der junge Physiologe ist zutiefst davon überzeugt, daß die Farbenlehre trotz aller möglichen Einwände gerade nicht an dem Punkt kritisiert werden kann, wo sie „die Ueberzeugung hegt, daß über die Natur des den Sinnen selbst Angehörenden weiter nichts gesagt werden kann, als daß es eben gesehen, gehört wird, daß aber der Versuch einer Farbentheorie schon von einer in allem Beginnen irrigen Grenzbestimmung Zeugnis geben muß". 3 0 Konsequenterweise trägt Müller „kein Bedenken, zu bekennen, wie sehr viel ich den Anregungen durch die Goethesche Farbenlehre verdanke, und [ich] kann wohl sagen, daß ohne mehrjährige Studien derselben in Verbindung mit der Anschauung der Phänomene selbst, die gegenwärtigen Untersuchungen wohl nicht entstanden wären". 3 1 Damit sind wir zum entscheidenden Punkte gekommen. Vom physiologischen Standpunkt aus betrachtet bleibt die Goethesche Farbenlehre absolut grundlegend. In der Tat haben wir keine andere Möglichkeit, das, was sich in unserem Sehorgan erzeugt, zu beobachten. Aber gleichzeitig ist es notwendig, das, was sich in uns ereignet, einer genaueren Analyse zu unterziehen, weil nur dadurch ein Nachweis unserer Vorstellung der Außenwelt, als Anerkenntnis einer sogenannten Wirklichkeit, möglich ist; und in dieser Hinsicht besitzt die Analyse der Bedingungen der Farbentstehung eine entscheidende Bedeutung. 3 2 Wir haben schon oben hervorgehoben, daß das „Elementarische" unter gewissen Voraussetzungen „in dem Auge statt der Empfindung des Lichtes die Empfindung des Farbigen, als Energie des Auges" 3 3 erweckt. Wenn wir also auf die Empfindungen als Wirkungen der Veränderungen in der Außenwelt achten, ist es klar, daß ein farbiges Element, eine farbige Abschattung, unsere Gesichtsempfindungen immer begleitet und sie als wirkliche Empfindungen einer Realität ermöglicht, die räumlich ausgedehnt ist und in welcher wir, um uns orientieren zu können, etlicher Bezugspunkte bedürfen. Kurz gesagt: um eine räumliche Vorstellung von den Dingen zu erhalten und ihnen einen Ort im Raum zuzuweisen, muß man farbige Gesichtsempfindungen haben. Der Text Müllers liefert dafür einen klaren Beleg. Auf der einen Seite wird die „ideelle", abstrakte Situation der „reinen" Lichtempfindungen dargestellt. „Das Elementarische, was wir Licht nennen, erweckt die Empfindung des Lichten als 29 30 31 32 33
Ebenda, S. 396f. Ebenda, S. 395. Ebenda. Ebenda, S. 404. Ebenda.
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Energie des A u g e s nur dann, wenn es in gleicher Intensität mit den afficirten Theilen der S e h s i n n s u b s t a n z in B e r ü h r u n g k o m m t . " 3 4 A u f der anderen Seite ist die Streuung des Lichts ein realer Prozeß, der uns eine Vorstellung der wirklichen Welt vermittelt, in der wir uns bewegen. „ D a s Elementarische, was wir Licht nennen, erweckt die E m p f i n d u n g der Farbe als Energie des A u g e s dann, wenn das Licht die S e h s i n n s u b s t a n z nicht gleichmäßig in allen Theilen afficirt, sondern über die in ihrer R u h e sich sinnlich dunkel anschauenden Theile des Markgebildes zerstreut w i r d . " 3 5 D a s Licht, das „ E l e m e n t a r i s c h e " , das von außen her unseren Gesichtssinn erregt, ist immer nur als zerstreutes vorhanden, u n d die B e d i n g u n g e n jener Zerstreuung „ s i n d in den trüben Mitteln u n d den brechenden Medien auf verschiedene Art gegeben".36 Gleichwohl m u ß der physiologische S t a n d p u n k t die Basis bleiben: In die Beschreibungen der Farbentstehung u n d ihres Z u s a m m e n h a n g s mit der E n t f a l t u n g unserer R a u m v o r s t e l l u n g flicht Müller i m m e r wieder B e m e r k u n g e n über die B e d e u t u n g eines solchen S t a n d p u n k t e s ein. D i e physiologischen Tatsachen, also Struktur u n d F u n k t i o n der N e t z h a u t , m ü s s e n H a u p t g e g e n s t a n d der B e o b a c h t u n g sein. D i e konsequente D u r c h f ü h r u n g einer solchen F o r d e r u n g kann auch einen weiteren A b s t a n d gegenüber der G o e t h e s c h e n Farbenlehre zur F o l g e haben. O h n e „ d e m Goethe'schen G r u n d s a t z e , daß z u r F a r b e n p r o d u c t i o n G r e n z e des D u n k e l n u n d Lichten nothwendige B e d i n g u n g s e y " , seine Berechtigung abzusprechen, kritisiert er die Vorstellung „ v o n der B e w e g u n g des dunkeln Feldes über den hellen G r u n d , u n d dieses über jenen, w o d u r c h an der G r e n z e die F a r b e n s ä u m e entstehen s o l l e n " . 3 7 D i e s e Vorstellung ist f ü r ihn nicht plausibel u n d hat ihren U r s p r u n g der Vorliebe f ü r die S y m m e t r i e z u verdanken; dagegen sei jedoch hervorzuheben, daß der Z u s t a n d der Dunkelheit als die „Stufe N u l l " der Tätigkeit der N e t z h a u t z u betrachten sei. „ D e n n dunkel ist Alles, w o die N e t z h a u t im Sehfelde sich selbst im Z u s t a n d e der R u h e s i e h t . " 3 8 A b e r gleichzeitig ist klar, daß die N e t z h a u t eine zentrale Rolle in der Vorstellung des R ä u m l i c h e n spielt. D i e A u f g a b e der Physiologie des Gesichtssinnes besteht - wie f ü r jede physiologische F o r s c h u n g - in der vorbehaltlosen B e o b a c h t u n g der Tätigkeit, des Verhaltens der O r g a n e , s o w i e in der B e s t i m m u n g der Verhältnisse zwischen diesen O r g a n e n (ihren Strukturen u n d Funktionen) u n d den F o r m e n unserer Sinnlichkeit, wenn nicht unserer Kategorien. Müllers H a l t u n g k o m m t auch in seiner K r i t i k an den streng empiristischen
34 35 36 37 38
Ebenda. Ebenda, S. 405. Ebenda, S. 406. Ebenda, S. 409. Ebenda.
Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung
201
Thesen des Physiologen Johann Georg Steinbuch zum Ausdruck. 3 9 Der wesentliche Inhalt der Auffassungen Steinbuchs besteht darin, daß die „Vorstellung des Räumlichen in den Sinnesenergieen den verschiedenen Sinnsubstanzen selbst abgesprochen und den mit Sinnen verbundenen Bewegungsorganen zugetheilt" wird. Die Netzhaut empfinde „nicht das räumliche Nebeneinander der Objecte in den Bildern; sondern diese Perception werde durch die Contraction der Augenmuskeln vermittelt". 4 0 Wenn also das „Maß des Räumlichen in der Vorstellung [...] durch das Maß der Muskelcontraction bestimmt" wird, „so wird der räumliche Unterschied auf der Retina zu einem zeitlichen der Contractionen, welche nöthig sind, um verschiedene Theile der Netzhaut nacheinander einer und derselben Beleuchtung auszusetzen". 4 1 Gegenüber diesen Thesen kann Müller behaupten, daß Steinbuch eben das voraussetzt, was er beweisen will, nämlich den Begriff des Raumes. Dieser Begriff erwächst nach Steinbuch aus einer „vorausgesetzten Unterscheidung von Contractionen verschiedener Theile Unserer selbst, also durch eine Anschauung unserer eigenen Räumlichkeit", jener Räumlichkeit, die auch den Hauptcharakter jeder möglichen „Unterscheidung in der Empfindung verschiedener Theile Unserer selbst, welche uns räumlich seyn kann", 4 2 darstellt. Das erste, grundlegende Erlebnis unserer Leiblichkeit ist zugleich das Erlebnis der Räumlichkeit, wenn auch ein trübes und dunkles Erlebnis, das einer tiefergreifenden Analyse zu unterziehen ist. Wie die physiologische Forschung im allgemeinen - und insbesondere die Physiologie des Gesichtssinnes - zeigt, kann der „Begriff des Raumes [...] nicht erzogen werden, vielmehr ist die Anschauung des Raumes und der Zeit eine nothwendige Voraussetzung, selbst Anschauungsform für alle Empfindungen. Sobald empfunden wird, wird auch in jener Anschauungsform empfunden. Was aber den erfüllten Raum betrifft, so empfinden wir überall nichts, als nur uns selbst räumlich, wenn lediglich von Empfindung, von Sinn die Rede ist." 4 3 Schon in den allerersten Anfängen der Sensibilität ist die Räumlichkeit da. Wir empfinden uns zuerst als räumlich. Die räumliche Anschauung der Leiblichkeit liegt „allen Bewegungen zu Grunde, und nicht durch diese kann der Begriff von Räumlichkeit entstehen". 4 4 Und der Gesichtssinn besitzt hier die höchste Relevanz: „Die Netzhaut sieht in jedem Sehfelde nur sich selbst in ihrer räumlichen Ausdehnung im Zustande der Affection; sie empfindet sich selbst in der größten Ruhe und Abgeschlossenheit des
39 40 41 42 43 44
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda.
S. 52ff. S. 52. S. 53. S. 55.
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Auges räumlich dunkel. Allerdings entsteht durch die Bewegung dieses Sehfeldes vermöge der Augenmuskeln erst der absolute Sehraum." Für Müller ist es absolut notwendig, die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Bewegung zu richten: „Die Bewegung hilft nicht die Sinnesenergieen bilden, sie macht den Sinn frei." 4 5
VI. Wir möchten zum Schluß einige provisorische Bemerkungen machen, die Ewald Hering und sein Verhältnis zu Müller in bezug auf das Problem der Wahrnehmung betreffen. In der Tat bilden die oben kommentierten Stellen der Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes den Anfang einer Entwicklungslinie in der deutschen Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts, die von der sogenannten nativistischen Auffassung des Wahrnehmungsprozesses (d. h. des Wegs von der Empfindung zur Vorstellung) geprägt ist. Diese Auffassung hat in der Entwicklung nicht nur der psychologischen, sondern der erkenntnistheoretischen Reflexion überhaupt eine wesentliche Rolle gespielt. 46 Dem „Nativismus" wird üblicherweise der „Empirismus" in der Sinnesphysiologie gegenübergestellt, und auch ihm wird eine ähnlich wichtige Rolle für die Entwicklung der philosophischen und psychologischen Ideen des vorigen Jahrhunderts zugeschrieben. Hering und Hermann von Helmholtz gelten als die jeweiligen Hauptvertreter der beiden Richtungen. Nach einer verbreiteten Interpretation hält der Nativist die Raumvorstellung für angeboren, während sie für den Empiristen ein Resultat der Erfahrung ist. 4 7 Schon zu Beginn der 1850er Jahre hatte Helmholtz in seinem berühmten Königsberger Vortrag Ueber das Sehen des Menschen erklärt, daß wir „aus der Welt der Empfindungen unserer Nerven [in] die Welt der Wirklichkeit" durch „einen Schluß" hinübergelangen: „wir müssen die Gegenwart äußerer Objecte, als die Ursachen unserer Nervenerregung vorausset45 46
47
Ebenda. Uber das Problem „Nativismus versus Empirismus" vgl. R. Steven Turner, Helmholtz, Sensory Physiology and the Disciplinary Development of German Physiology, in: The problematic science. Psychology in Nineteenth Century Thought, eds. M. Ash and W R . Woodward, New York 1982, pp. 147-166. Diese Interpretation beginnt in gewisser Hinsicht mit Carl Stumpf, Ueber den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, Leipzig 1873. Für eine zusammenfassende Darstellung vgl. Edwin G . Boring, Sensation and Perception in the History of Experimental Psychology, New York 1942; ders., A History of Experimental Psychology, New York 1947; Gerald S.Wasserman, Color Vision: An Historical Introduction, New York 1978. Eine kurze, aber klare Darstellung findet sich bei Wilhelm Trendelenburg, Der Gesichtssinn. Grundzüge der physiologischen Optik, Berlin 1943, S. 292-299.
G o e t h e , Müller, Hering und das Problem der E m p f i n d u n g
203
zen", was auf dem Grunde eines Satzes geschieht, den wir „aus der inneren Erfahrung unseres Selbstbewußtseyns [nicht] hernehmen" können. 4 8 Dieser Satz „keine Wirkung ohne Ursache" - ist „ein vor aller Erfahrung gegebenes Gesetz unseres Denkens". 4 9 Helmholtz hatte - wie bekannt - den Kantschen Ursprung dieses Standpunktes hervorgehoben und die Überzeugung geäußert, daß Kant „für die Lehre von den Vorstellungen überhaupt dasselbe leistete, was in einem engeren Kreise für die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung auf empirischem Wege die Physiologie durch Johannes Müller leistete". 5 0 Dabei bezog er sich in erster Linie auf die Untersuchungen Müllers zur Physiologie des Gesichtssinns. In der Tat aber konnte sich auch die nativistische Auffassung Herings auf die Thesen Müllers beziehen. Man erinnere sich beispielsweise daran, was Müller über die direkte Empfindung der Räumlichkeit in der Netzhaut gesagt hatte: Diese Empfindung ist - wie oben dargestellt — die deutlichste Erscheinung einer allgemeinen Bereitschaft des organischen Individuums, sich unmittelbar als räumlich zu empfinden. Hering hebt mehrfach die entscheidende Rolle Müllers in der Entwicklung der Sehtheorie hervor, nicht ohne gleichzeitig einen gewissen Abstand zu einigen Thesen Müllers zu nehmen. Schon in den Beiträgen zur Physiologie51 ist Herings Ansicht klar formuliert. Der Stellenwert von Müllers Lehre vom Gesichtssinn bleibt unangetastet, jedoch kritisiert Hering Müllers Erklärungen des binokularen Sehens und der Korrespondenz von Außenwelt und deren Repräsentation auf
48
H e r m a n n von Helmholtz, U e b e r das Sehen des Menschen [1855], in: Vorträge und
49
Ebenda, S. 396.
50
Ebenda. Schon Friedrich Albert Lange hat die Bedeutung der Müllerschen Anschauun-
Reden, 2 Bde., 3. A u f l . , Braunschweig 1884, Bd. 1, S. 3 6 5 - 3 9 6 , auf S. 395f.
gen hervorgehoben. Vgl. Ε Α. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart [1875], B d . 2, L e i p z i g 1926, S . 7 8 , 261, 2 7 3 f f „ 330, 333, 501. Siehe auch die berühmte und bedeutende S a m m l u n g H e r m a n n von Helmholtz, Schriften zur Erkenntnistheorie, hrsg. von P. H e r t z und M . Schlick, Berlin 1921. Zur Gesamtübersicht vgl. Stefano Poggi, I sistemi dell'esperienza. Psicologia, logica e teoria della scienza da Kant a Wundt, Bologna 1977; Klaus Christian K ö h n k e , Entstehung und A u f s t i e g des Neukantianismus. D i e deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M . 1986. 51
Ewald Hering, Beiträge zur Physiologie, L e i p z i g 1861-1864. Hering hebt - anders als Müller - die Rolle des gesamten optischen Apparats in der Entstehung der Raumvorstellung hervor: „ N a c h den jetzt vorherrschenden Ansichten ist die G r ö s s e und das Verhältniss der G r ö s s e gesehener D i n g e nicht sowohl von den räumlichen Verhältnissen des Netzhautbildes, wie Joh. Müller behauptet, als vielmehr von dem Produkt aus der Sehferne und dem sogenannten Gesichtswinkel abhängig, unter welch letzterem man den von mir als Lichtrichtungswinkel bezeichneten Winkel versteht." (Ebenda, S. 16.)
204
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den jeweiligen Netzhautstellen. Unter einem allgemeineren Gesichtspunkt jedoch bleiben die Grundvoraussetzungen des Heringschen Ansatzes diejenigen Müllers. Die Reaktionen der „Sehsinnsubstanz" bilden den Hauptgegenstand einer Physiologie des Gesichtssinnes. Diese Reaktionen sollten „als solche" untersucht werden, was vor allem durch direkte Beobachtung, Beschreibung und Analyse der sogenannten „subjectiven Erscheinungen" ermöglicht werde. Wie F. Hillebrand schreibt, stellt Hering „sich - ganz wie Joh. Müller - den äußeren Reiz nur als Anstoß für die Sehsinnsubstanz vor, ihr Eigenleben nach dessen inneren Gesetzen zu entwickeln, ein Eigenleben also, das nicht erst beginnt, wenn der äußere Reiz wirkt, sondern immer da war, solange die Substanz lebte, und durch den Reiz nur unter veränderte Bedingungen gestellt wird". 5 2 Wenn also Müller den Beitrag Goethes und Purkynes zur „Beobachtung der subjectiven Gesichtserscheinungen (ζ. B. der Nachbilder)" hervorgehoben hatte, wandte Hering - „hier abermals auf den Bahnen Joh. Müllers wandelnd" - für das „Studium dieser,subjectiven' Phänomene einen großen Teil seiner Forschungsarbeit" auf. 53 Es steht außer Frage, daß die Psychophysik Fechners - und, allgemeiner, die ganze „physikalische" Richtung in der Physiologie - einen großen Einfluß auf Hering ausgeübt hat. Er beobachtet und beschreibt die Tätigkeit der „Sehsinnsubstanz" immer von einem sozusagen „reduktionistischen" Standpunkt aus. Die Tätigkeit unseres Sehorgans ist nach Hering immer als die Tätigkeit einer „psychophysischen Substanz" zu betrachten.54 Aber es ist gleichzeitig klar, daß Hering und Müller keineswegs unvereinbare Standpunkte einnehmen. In seinem Handbuch der Physiologie hatte Müller auf die Möglichkeit (wenn nicht auf die Notwendigkeit) einer chemischen Erklärung der Tätigkeit der Sehsinnsubstanz gegenüber den Reizen der Außenwelt hingewiesen. Ebenso war Hering von der Bedeutung der räumlichen Struktur unseres Nervensystems zutiefst überzeugt. Müller hatte dies klar auf den Punkt gebracht: „Die Durchdringung ganzer Gliedmaßen, ja der meisten Theile unseres Körpers durch Gefühlsnerven, macht es dem Gefühlssinn möglich, die Raumausdehnung unseres eigenen Körpers in allen Dimensionen zu unterscheiden; denn jeder Punct, in welchem eine Nervenfaser endet, wird im Sensorium als Raumtheilchen repräsentiert." 55 Mehr noch: Wie schon in seiner Vergleichenden Physiologie hatte Müller auch im Handbuch (obschon vorsichti52 53 54
55
Franz Hillebrand, Ewald Hering. Ein Gedenkwort der Psychophysik, Berlin 1918, S. 28ff. Ebenda, S. 29. E. Hering, Zur Lehre vom Lichtsinne. V Grundzüge einer Theorie des Lichtsinnes, in: Wissenschaftliche Abhandlungen, 2 Bde., Leipzig 1931, Bd. 1, S. 177ff. Vgl. auch ders., Grundzüge der Theorie vom Lichtsinne, Berlin 1920, S. 47f. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 263.
Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung
205
ger) die Rolle der Farbempfindungen in der Entwicklung unserer Raumanschauung hervorgehoben. Laut Hillebrand knüpft Hering in diesem Punkt direkt an Müller an, wenn er der intensiven Erforschung des Raumsinnes großes Gewicht beimißt. 56 Diese Untersuchungen spielen bei Hering eine noch bedeutendere Rolle als jene über den Lichtsinn, weil - so Hillebrand - „es sich nicht bloß um die Aufdeckung neuer Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten handelte, sondern vielfach um die Beseitigung verkehrter Fragestellungen, um den Ersatz von Pseudoproblemen durch echte. Es gibt keinen Zweifel", führt Hillebrand weiter aus, „daß Hering hier die Forschung aus einem toten Geleise zurückgelenkt hat." Hering habe sich eindeutig für die Auffassung entschieden, „wonach die Leistung des Reizes nur darin besteht, die Sinnessubstanz zur Entwicklung ihres Eigenlebens anzuregen. Die Sehsubstanz reagiert vermöge einer angeborenen Energie auf Reize nicht nur mit Farben, sondern auch mit Raumdaten." 5 7 In mehrfacher Hinsicht stellen sich die Auffassungen Herings als Präzisierung und Weiterentwicklung der ursprünglichen Formulierungen Müllers über die angeborenen Sinnesenergien (in erster Linie in der „Sehsubstanz") dar. Unter dieser Voraussetzung ist es möglich, die Bedeutung von Herings sogenanntem Nativismus aufzuklären. Im Vordergrund bleibt die enge Beziehung zwischen der Gestalt unseres Nervensystems und den räumlichen Verhältnissen. „Wollte man Herings Lehre von der optischen Lokalisation", so nochmals Hillebrand, „mit einem Schlagwort charakterisieren, so würde sich der üblich gewordene Ausdruck ,Nativismus' dann am wenigsten empfehlen; viel bezeichnender wäre es, sie eine ,Lehre von den Raumempfindungen' zu nennen und damit die vollkommene Koordination von Farbe und Ort eines Sehobjekts anzudeuten. In der Tat gehört es ja zu den Fundamenten seiner Auffassung, daß das Sehorgan auf einen Reiz ebenso primär mit einem Ort wie mit einer Farbe reagiert und daß nicht erst eine weitere geistige Leistung nötig ist, um der - ursprünglich ortlosen - Empfindung einen sichtbaren O r t zu verschaffen." 58 Die „Koordination der qualitativen und der lokalen Variabein" bildet also einen Hauptgesichtspunkt der Heringschen Auffassung der Raumanschauung; und auf dieser Linie kann man seine Thesen als die konsequenteste Durchführung nicht nur der Formulierungen Müllers in der Vergleichenden Physiologie und im Handbuch, sondern auch der Goetheschen Farbenlehre betrachten. 59 Man erinnere sich nur an die Rolle, die die sogenannten 56 57 58 59
Ebenda, S. 270ff., 345ff„ 365. F. Hillebrand, Ewald Hering, a.a.O., S. 57f. Ebenda, S. 85. In bezug auf den Farbenkreis war Hering ganz anderer Auffassung als Goethe. Vgl. Hans H. Weber, Goethes oder Herings Farbenkreis?, in: Forschung und Fortschritte 16 (6), 1940, S. 65-68.
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„physiologischen Farben" bei Goethe spielen. In diesem Punkt bildet die Auffassung Herings einen klaren Gegensatz zu derjenigen von Helmholtz. Dessen scharfe Unterscheidung zwischen der Farbempfindung und der Raumwahrnehmung hat zur Folge, daß eine umfassende Erklärung unserer Raumanschauung unmöglich wird. Die Helmholtzsche Raumanschauung ist gewissermaßen als „geometrische" - und nicht als „farbige" - zu betrachten. Allerdings sollte man es sich nicht zu einfach machen. Von der physiologischen Warte aus betrachtet, sind beide Standpunkte - der Nativismus Herings und der Empirismus von Helmholtz - als zwei Äste ein und desselben Baumes zu betrachten. Die Rolle der retinalen Struktur und Funktion wird von beiden Seiten anerkannt, wenngleich die eine den Akzent mehr auf den Organisationsprozeß innerhalb der räumlichen Vorstellung setzt, die andere mehr auf den Entstehungsprozeß dieser letzteren. In jedem Falle bleibt die Tatsache bestehen, daß beide Theorien in erster Linie als physiologische Theorien zu betrachten sind. Dies hervorzuheben ist notwendig, damit nicht die Unterschiede zwischen Hering und Helmholtz zu einem absoluten Gegensatz gemacht werden. Wenn wir beider Anknüpfung an Müller als eine komplexe, aber unbestreitbare Tatsache ansehen, sind wir auch in der Lage, einige grundlegende Aspekte des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens des 19. Jahrhunderts genauer und ausführlicher zu bestimmen. Eine weitergehende Analyse der Beziehungen Herings und Helmholtz' zu Müllers Sinnesphysiologie - vor allem zu seiner Physiologie des Gesichtssinnes wäre in dieser Hinsicht aufschlußreich. Sie würde nicht nur ermöglichen, die traditionelle Interpretation der Helmholtzschen Auffassung zu berichtigen (wir denken an das Problem des Empirismus), 6 0 sondern auch - und das gilt besonders im Falle Herings - einige der wichtigsten Voraussetzungen der späteren Entwicklungen des psychologischen und philosophischen Denkens zu erklären. Dabei beziehen wir uns in erster Linie auf das Verhältnis von Farbempfindung und räumlicher Vorstellung, das als prototypisches Beispiel einer echt phänomenologischen Forschungsmethode gilt - einer Methode, die mit dem gestaltpsychologischen Ansatz - einem zutiefst philosophischen Ansatz - zur Reife gekommen ist.
60
Vgl. hierzu die in Anm. 47 genannten Arbeiten.
TIMOTHY LENOIR
Helmholtz, Müller und die Erziehung der Sinne
Hermann von Helmholtz formuliert seine Sehtheorie erstmalig in seiner 1855 gehaltenen Königsberger Rede Über das Sehen des Menschen. Wie er zu Beginn der Rede einräumt, könnte man es für eine ironische Pointe halten, daß ein Naturwissenschaftler und nicht ein Philosoph die Festrede zum 100. Jahrestag der InauguralDissertation Kants hält, nachdem es in der Zwischenzeit zu einer scharfen Abgrenzung der Naturwissenschaft von der Philosophie gekommen ist. Zudem hat Kant sich niemals über das Sehen als physiologischen Vorgang geäußert, und oberflächlich betrachtet könnte es scheinen, daß kaum irgendwelche philosophischen Probleme mit einer empirischen Behandlung des Sehvorgangs in Zusammenhang zu bringen wären. So nimmt es nicht wunder, daß Helmholtz erst ganz am Ende der Rede auf Kant zu sprechen kommt, nachdem er zuvor die Ergebnisse der zeitgenössischen Physiologie des Sehens ausgiebig vorgestellt hat. Die Zusammenfassung dieser Ergebnisse enthält jedoch nur wenig, was über die Sinnesphysiologie, wie sie Johannes Müller in seinem Handbuch der Physiologie des Menschen entwickelt hat, hinausgeht. Aber gerade dieser Umstand sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Helmholtz eine wohl durchdachte Strategie verfolgt, mit Hilfe derer er in gewisser Weise Müller gegen Müller selbst benutzt. Helmholtz' Absicht besteht letztlich darin, mit einer „Dekonstruktion" 1 Müllers den Blick auf Kant zu lenken, um diesen aus den theoretischen Fesseln einer transzendentalen Ästhetik herauszulösen und ihm eine praktische Wendung zu geben. Damit soll nicht die praktische Vernunft gegen die theoretische ausgespielt werden, sondern die aus der Vernunftkritik hervorgehende Theorie der Erkenntnis Kants soll für die Konstruktion einer Sinnesphysiologie in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus intendiert Helmholtz - als erwünschten Nebeneffekt - das Bündnis von Philosophie und Naturwissenschaft auf eine neue Grundlage zu stellen, wobei das Primat auf die
1
Vgl. hierzu die A p p l i k a t i o n des B e g r i f f s „ D e k o n s t r u k t i o n " auf die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n bei H a n s - J ö r g Rheinberger, E x p e r i m e n t , Difference, and Writing. I. Tracing Protein Synthesis, in: Studies in H i s t o r y and P h i l o s o p h y of Science 23, 1992, p p . 3 0 5 - 3 3 1 .
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Naturwissenschaft gelegt wird. 2 Das zeigt sich vor allem an der Transformation von Problemen, die früher ganz zur Domäne der Philosophie gehörten und nun zum Gegenstand der Naturwissenschaft geworden sind. Konkret: Kants Frage nach den Grundbedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis wird bei Helmholtz reformuliert zu einer experimentalphysiologisch faßbaren Frage nach den Bedingungen der Raumwahrnehmung. Helmholtz' Taktik besteht darin, Müller als einen Kantianer im traditionellen Sinne hinzustellen. Damit stellt er seinen ehemaligen Lehrer in einen Zusammenhang, der diesem - wie zu zeigen sein wird - nicht unbedingt gerecht wird, doch verschafft Helmholtz sich dadurch die Gelegenheit zur deutlichen Abgrenzung von Müller. Helmholtz löst alle wichtigen Elemente aus der Müllerschen Sehtheorie heraus - beispielsweise die anatomischen Grundlagen für die Theorie der identischen Netzhautpunkte oder das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien um damit ein gänzlich neues Mosaik zu entwerfen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Zeichenlehre hervorzuheben, die üblicherweise immer mit Helmholtz in Zusammenhang gebracht wird; Müller hat jedoch selbst schon eine Zeichenlehre entwickelt, die dann bei Helmholtz eine ganz andere Gestalt annimmt. Verständlich werden diese merkwürdig erscheinenden Operationen vor dem Hintergrund seiner Konstruktion einer empiristischen Sinnesphysiologie, die nicht mehr - wie bei Müller - das Sehen in einem Kontext aufzufassen versucht, bei dem Physiologie und Psychologie ununterscheidbar ineinandergreifen,·5 sondern Wahrnehmung als einen psychologischen Prozeß versteht. Man könnte den Zugang von Helmholtz zur physiologischen Optik letztendlich auf eine einzige Frage zuspitzen: Inwiefern sind die Grundlagen der räumlichen Wahrnehmung durch die physischen Gegebenheiten determiniert? Auch Müller hat sich diese Frage bereits gestellt; um jedoch zu verstehen, inwieweit sich Helmholtz von seinem Mentor entfernt, ist es notwendig, zunächst Müllers Sehtheorie, für sich selbst komplex und bisweilen mißverstanden, genauer zu untersuchen. Müller, seit Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit auch als Embryologe tätig,
2
Vgl. hierzu im allgemeinen die exzellente Studie von Klaus Christian K ö h n k e , Entstehung und A u f s t i e g des Neukantianismus: D i e deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M . 1986. In einer anderen Arbeit möchte ich zeigen, daß eine „Politik der materiellen Interessen" in der Helmholtzschen Rhetorik verborgen liegt. Vgl. T. Lenoir, Laboratories, Medicine, and Public Life in Germany, 1830-1849, in: T h e Laboratory Revolution in Medicine, eds. A . C u n n i n g h a m and R Williams, C a m b r i d g e 1992, pp. 14-71.
3
In diesem Punkt hat Müller die Linie seiner 1822 anläßlich der Verteidigung seiner Dissertation vertretene These „ N e m o psychologus, nisi p h y s i o l o g u s " ganz konsequent weiterverfolgt. Vgl. hierzu die Arbeit von Michael H a g n e r im vorliegenden B a n d .
Helmholtz, Müller und die Erziehung der Sinne
209
geht davon aus, daß die Ausbildung der Raumwahrnehmung als Teil der organischen Entwicklung aufzufassen sei. Danach beruhe die visuelle Wahrnehmung auf einer zuvor gegebenen Eigenwahrnehmung des Körpers als eines ausgedehnten. Nach Müller sind die Ursprünge der Raumwahrnehmung mit der Selbst-Bewegung und der Wahrnehmung der eigenen inneren Organe im Mutterleib anzusetzen. Er konstatiert, daß die Apperzeption des eigenen Körpers und seine Abgrenzung von anderen, fremden Körpern mit der Geburt voll ausgebildet sei. 4 „Die Frage ob die Idee des Raums im Sensorium selbstständig primitiv vorhanden ist und auf alle Empfindungen einwirkt, oder durch die Erfahrung erst successiv entsteht, kann hier ganz übergangen werden. Wir kommen darauf bei der Lehre von den Seelenfunctionen zurück. Hier ist nur soviel gewiss, dass die Vorstellung des Raums, wenn sie auch nicht primitiv dunkel im Sensorium vorhanden ist und beim Empfinden nur geweckt und applicirt wird, durch die ersten Vorgänge beim Empfinden des Gefühlssinnes bereits erfahrungsmässig entstehen muss. Die dunkeln Vorstellungen eines empfindenden, der Aussenwelt entgegengesetzten Körpers, der selbst den Raum erfüllt, von der Räumlichkeit der Aussendinge sind schon vorhanden und bis zu einigem Grad von Helligkeit und Sicherheit ausgebildet, ehe der Gesichtssinn mit der Geburt in Thätigkeit tritt." 5 Müller nimmt an, daß die für den Tastsinn verantwortlichen Sinnesnerven die Quelle seien für die allgemeine räumliche Empfindung des Körpers, „denn jeder Punkt, in welchem eine Nervenfaser endet, wird im Sensorium als Raumtheilchen repräsentirt". 6 Für Müller hängen der Tast- und der Gesichtssinn eng miteinander zusammen. Darüber hinaus „empfindet [die Nervenhaut des Auges] ihre eigene Ausbreitung und ihren gleichen Ort schon ohne alle äussere Affection, als Dunkel vor den Augen". 7 Helmholtz, Wilhelm Wundt u.a. haben solche Sätze als eine anatomische und physiologische Untermauerung der Kantischen Sichtweise verstanden, wie sie vor allem in der „Transzendentalen Ästhetik" der Kritik der reinen Vernunft entwickelt worden war, wonach die Vorstellung des Raums eine a priori gegebene Voraussetzung für alle Erfahrung darstelle.8 Müller ist sich darüber im klaren, daß die Fundierung der allgemeinen Rauman-
4
Vgl. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 362: „Das Fühlen und Sehen beruht auf denselben Grundanschauungen von der Ausbreitung unserer eigenen Organe im Räume."
5
Ebenda, S. 270.
6
Ebenda, S. 263.
7
Ebenda, S. 264.
8
Vgl. etwa Hermann von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, Hamburg 1867, S.249, 594; Wilhelm Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, Leipzig - Heidelberg 1863, S. 93-97.
210
TIMOTHY LENOIR
schauung auf neuroanatomischen Grundlagen Schwierigkeiten mit sich bringen könnte, ζ. B . in der Frage, wie man mit zwei Netzhäuten dennoch den Raum als einheitlich wahrnehme. Basierend auf der Tatsache der teilweisen Kreuzung der Sehnerven-Fasern hinter dem chiasma opticum (Fasern der nasalen Hälfte des linken Auges vereinigen sich mit denen der temporalen Hälfte des rechten Auges und umgekehrt) sowie der Macula als Mittelpunkt des Auges, nimmt Müller an, daß jeder Netzhautpunkt des einen Auges (ζ. B . links nasal) einen exakt korrespondierenden Netzhautpunkt im anderen Auge ( z . B . rechts temporal) besitze. Diese beiden Punkte sind gleich weit vom Mittelpunkt der jeweiligen Netzhäute entfernt, d. h., Müller geht von einer vollständigen Symmetrie aus. Zusammenfassend ist das Einfachsehen also dadurch bedingt, daß die korrespondierenden Punkte der beiden Retinae zwei Bestandteile einer einzigen organischen Einheit darstellen. „Das Einfachsehen an den identischen Stellen der Netzhäute beider Augen an einem O r t e muss in der Organisation der tieferen Theile oder Hirntheile des Sehapparates, und jedenfalls einen organischen Grund haben. Denn nie ist es eine Eigenschaft paariger Nerven, dass sie ihre Affectionen an denselben O r t setzen. Auch ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Identität der entsprechenden Stellen der Netzhäute die Folge einer gewissen Angewöhnung oder Vorstellung sei. D i e C o n gruenz der Netzhäute zu einem Sehfelde, welchen Grund sie haben mag, ist vielmehr der Grund aller fernem Vorstellungen, die aus dem Einfachsehen und D o p peltsehen entstehen." 9 Müller schlußfolgert, daß die „Congruenz der identischen Stellen beider N e t z häute [ . . . ] a n g e b o r e n " 1 0 sei. Mit diesen Sätzen wendet er sich explizit gegen Johann Georg Steinbuch, dessen Sehtheorie derjenigen von Helmholtz in einer Reihe von Punkten glich. Steinbuch folgte Locke und den Sensualisten und nahm daher an, daß der Sehvorgang überhaupt erst durch einen Lernprozeß konstruiert werde. E r führte aus, daß die Ursache für die Entstehung der Erfahrung einer räumlichen Ordnung nicht auf die Retina fallendes Licht sei. I m Gegenteil werde diese O r d nung aufgebaut durch die erlernte Assoziierung der zusammengesetzten Augenmuskelbewegungen, die die jeweilige Augenstellung für die Unterscheidung der verschiedenen Punkte im extrapersonalen Sehraum bedingen. Nach Steinbuch lernen wir sehen durch eine Verbindung des Tastsinns und anderer zoenästhetischer Empfindungen mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Muskelkontraktion, um die jeweils notwendige Augenstellung zu erreichen. Seine Theorie der „Bewegungsidee" symbolisiert dies als einen Lernvorgang. Dabei ist der Sehraum Ausdruck der kombinierten „Bewegungsideen" beider Augen. Müllers Argumente gegen Steinbuchs Empirismus haben später ebenfalls den 9 10
J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 380. Ebenda, S. 381.
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Eindruck verstärkt, daß Müller eine kantianische Position vertreten habe. Tatsächlich wendet er gegen Steinbuch ein, daß der Raum keinesfalls ein empirisches Konstrukt sein könne. Dazu heißt es schon 1826: „Der Begriff des Raumes kann nicht erzogen werden, vielmehr ist die Anschauung des Raumes und der Zeit eine nothwendige Voraussetzung, selbst Anschauungsform für alle Empfindungen. Sobald empfunden wird, wird auch in jenen Anschauungsformen empfunden. [ . . . ] So liegt denn die räumliche Anschauung der Leiblichkeit allen Bewegungen zu Grunde, und nicht durch diese kann der Begriff von Räumlichkeit entstehen." 11 Im Handbuch argumentiert Müller in beinahe gleichlautender Art und Weise gegen Steinbuch und Tourtual: „Bedenkt man aber, dass ein neugebornes Thier sogleich Anschauungen vom räumlichen Nebeneinander durch den Gesichtssinn hat und Bilder wahrnimmt, indem es auf die Zitzen der Mutter hingeht, so glaube ich lässt sich die Thatsache nicht bestreiten, dass vor aller Erziehung räumliches in der Retina als räumliches wahrgenommen werde." 12 In diesen Passagen kommt alles auf die unterschiedliche Bedeutung von „gelernt" und „erzogen" an. Müller insistiert nämlich auf der Erziehung und der Entwicklung der Raumwahrnehmung im Sinne einer natürlichen Entfaltung der anatomischen Strukturen und der organischen Dispositionen. Er wendet sich gegen Steinbuchs (und auch Herbarts) Versuch, das Sehsystem als ein Instrument anzusehen, welches durch Lernprozesse verbessert und verfeinert werden kann. Für Müller ist das Sehsystem eben kein formbarer Apparat, der ohne weiteres an verschiedene Bedingungen adaptiert werden kann. Die Grundvoraussetzungen für die Raumwahrnehmung - inklusive psychologischer Prozesse wie Entscheidungsvermögen beim Sehen - sind sämtlich eingebettet in organische Strukturen und physiologische Prozesse, die während des Wachstums und der morphologischen Entwicklung aktiviert werden. Dabei kommt es dann nicht mehr so sehr darauf an, daß bei jener Aktivierung auch Lernprozesse eine Rolle spielen. Was Müller demnach vorschwebt, ist ein „organizistisches" Modell für die Grundlagen der Raumwahrnehmung, das ganz andere Ziele verfolgt als Kants epistemologisches Modell, denn während dieser die Grundbedingungen gleichsam von vornherein festlegt, sind bei Müller die anatomischen Grundlagen, die morphologische Entwicklung im Mutterleib und die Entfaltung dieser Dispositionen nach der Geburt in einem Ordnungssystem zusammengefaßt. Die Alternative Empirismus-Nativismus ist also auf Müller nicht recht anwendbar, da er in entwicklungsgeschichtlichen Kategorien denkt. Wenn Müller mit Überlegungen wie den oben zitierten Steinbuchs empiristische 11 12
Johannes Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, Leipzig 1826, S. 54f. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 558.
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Theorie der Raumwahrnehmung aus den Angeln zu heben versucht, so vor allem deswegen, weil bei Steinbuch diese organische Komponente fehlt. Gleichwohl muß sich Helmholtz angesichts solcher Passagen geradezu ermutigt gefühlt haben, Müller als einen strikten Anhänger Kants mißzuverstehen: „Es war der ausserordentlichste Fortschritt, den die Philosophie durch Kant gemacht hat, dass er das angeführte Gesetz [der spezifischen Sinnesenergien] und die übrigen eingeborenen Formen der Anschauung und Gesetze des Denkens aufsuchte und als solche nachwies. Damit leistete er, wie ich schon vorher erwähnte, dasselbe für die Lehre von den Vorstellungen überhaupt, was in einem engeren Kreise für die unmittelbaren Wahrnehmungen auf empirischen Wegen die Physiologie durch Johannes Müller geleistet hat. Wie letzterer in den Sinneswahrnehmungen den Einfluss der besonderen Thätigkeit der Organe nachwies, so wies Kant nach, was in unseren Vorstellungen von den besonderen und eigenthümlichen Gesetzen des denkenden Geistes herrühre." 1 3 Im folgenden muß noch genauer untersucht werden, was Helmholtz mit „der besonderen Thätigkeit der Organe" meint und wie er deren „Einfluß" dann nach und nach zu dekonstruieren sucht. Die Identität der korrespondierenden Netzhautpunkte ist der eine Aspekt der Müllerschen Sehtheorie, den Helmholtz als „Nativismus" charakterisiert; der andere ist das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, das bekanntlich für jeden Nerven eine spezifische Antwort auf unterschiedliche Reize annimmt. Mit diesem Gesetz konnte Müller argumentieren, daß die visuelle Erfahrung subjektiv zu begründen sei. Danach sieht die Seele beim Sehvorgang nicht die äußere Welt; vielmehr ist es für Müller vor allem durch das von Purkyne erstmalig beschriebene Phänomen der Aderfigur klar, „dass man beim Sehen die Zustände der Nervenhaut und nichts Anderes als diese empfindet, und dass die Nervenhaut gleichsam das Sehfeld selbst ist, dunkel im Zustand der Ruhe, hell im Zustande der Erregung". 1 4 Durch diese Behauptung entstand sogleich ein Problem, das Müller als eines der schwierigsten der Physiologie betrachtet, nämlich die Frage nach der Beziehung zwischen Netzhaut und Seele: „Diesen Theil der Physiologie der Sinne kann man geradezu metaphysisch nennen, da es uns zur Zeit an genügenden empirischen Hülfsmitteln zur Aufklärung dieser Wechselwirkung gebricht. Wo wird der Zustand der Nervenhaut empfunden, in der Nervenhaut selbst oder im Gehirn?" 1 5 Angesichts des zeitgenössischen Wissensstandes der Sinnesphysiologie läßt Müller diese Frage unbeantwortet, auch 13
14 15
Hermann von Helmholtz, Ueber das Sehen des Menschen. Vortrag gehalten zu Königsberg am 27 Februar 1855, in: Vorträge und Reden, 2 Bde., 5. Aufl., Braunschweig 1903, Bd. 1, S. 85-117, auf S. 116. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 350. Ebenda, S. 351.
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wenn er zu der Annahme tendiert, daß in der Netzhaut einige entscheidende Anteile des Sehvorgangs zu lokalisieren seien und daß das Organ des Sehens sich aus der Netzhaut und dem Gehirn zusammensetze. Das Problem einer Interaktion zwischen Seele, Gehirn und Netzhaut wird nach Müller am besten gelöst, indem man die Aktivität der Sinnesnerven und die Tätigkeit der Seele zusammendenkt, d. h., „dass die höheren Sinnesnerven verschieden von andern Nerven näher an dem Wirken der Seele participiren, so dass die Seele bis in die Nervenenden der Retina fortwirke, indem die Sinnesnerven nur Fortsätze des Sensoriums sind". 16 Für Müller ist der Kernpunkt des Sehvorgangs eine Art Wahrnehmung von Ordnung, die gewährleistet ist durch das geordnete Mosaik der Nervenendigungen in der Netzhaut. Würde die Wahrnehmung der räumlichen Ordnung im Gehirn stattfinden, so müßte sich das retinale Mosaik durch den Sehnerven weiter fortpflanzen. Müller hält es jedoch für unwahrscheinlich, zumindest jedenfalls für unbewiesen, „dass die [!] ganze Mosaik der Retina durch eine Anzahl übereinstimmender Nervenfasern im Sensorium repräsentirt werde". 17 Trotz aller empirischen Schwierigkeiten des Nachweises einer Interaktion von Netzhaut und Gehirn ist für ihn jedoch klar, „dass alle Ordnung des Gesehenen im Sehfelde von der Ordnung der afficirten Netzhauttheilchen abhängt". 18 Die anatomische Organisation des Sehapparates ist also für Müller die Grundlage der Raumwahrnehmung und der Idee des Raums als einheitlich und geordnet. Daraus folgt keineswegs, daß er entscheidende konzeptionelle und emotionale Aspekte des Sehvorganges geleugnet hätte. Hierbei handelt es sich nach Müller um die vom Gehirn und von der Seele bestimmten Komponenten des Sehens. 19 Darüber hinaus verteidigt er die Ansicht, daß die Erziehung der Sinne eine wichtige Rolle spiele für die Entfaltung des Sehvermögens, vor allem in der Verbindung dieser konzeptionellen und emotionalen Anteile mit den anatomischen Gegebenheiten. So ist für Müller die Tiefenwahrnehmung keineswegs aus dem Netzhautbild abzuleiten, sondern das Resultat eines Lernprozesses. Analog dazu ist die Größe eines Gegenstandes zwar disponiert durch die Größe des affizierten Netzhautabschnitts, doch die konkrete Größenwahrnehmung ist Folge einer Entscheidung, die auf der Erfahrung und besonders auf einem Vergleich mit früheren
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Ebenda. Ebenda, S. 352. Ebenda, S. 352. Ewald Hering, ein entschiedener Verfechter Müllers, radikalisierte die Theorie der Raumwahrnehmung, wenn er von einer Traumwelt der Wahrnehmungen sprach, deren Gefangene wir seien. Vgl. E. Hering, Beiträge zur Physiologie, Leipzig 1862, S. 166. Diese Aspekte werden vor allem in dem Kapitel „Phänomene der Wechselwirkungen" des „Handbuchs" (S. 5 5 9 - 5 8 8 ) diskutiert.
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Darstellungen naher und ferner Gegenstände basiert. 2 0 In gleicher Weise schließlich wird das Urteil darüber, ob ein Netzhautbild mit einem äußeren Gegenstand korrespondiert, aufgrund von Erfahrung gefällt. 21 Ein weiterer, wichtiger Aspekt von Müllers Sehtheorie ist seine Zeichenlehre. Wahrnehmung besteht nach Müller aus zwei Komponenten: Vorstellung und Empfindung. Diese Unterscheidung ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit Kants Unterscheidung zwischen Form und Inhalt bei der Sinnes Wahrnehmung: „Die Vorstellung verhält sich daher zur Empfindung vielmehr wie ein Zeichen für eine Sache, aber wie ein Zeichen, welches nur für eine bestimmte Sache eintritt, und dessen Art daher von der Empfindung abhängig ist. [...] Die Vorstellung des Sinnlichen ist also von der Sinnesempfindung der Qualität nach geschieden, sie ist ein bloss Gewusstes, die Sinnesempfindung ein in der Energie des Sinnes Empfundenes und Gewusstes, das erste ein Zeichen für das letzte [...] Die Vorstellung und die Empfindung verhalten sich ohngefähr zu einander, wie ein Wort für eine Sache, eine Melodie in Noten für die Melodie selbst." 2 2 Nach Müller hat diese Symboltheorie der Wahrnehmung weitreichende Konsequenzen. Es ist nämlich nicht notwendig, daß die Wahrnehmungen so lange in der Erinnerung bleiben, wie ein bestimmtes Zeichen mit derselben Wahrnehmung assoziiert wird. Der Sehvorgang läßt sich analog zum Lesen erklären, wo dasselbe Zeichen eine spezifische geistige Vorstellung hervorruft. Darüber hinaus muß, wie beim Lesen, das Zeichen in keiner Weise identisch oder auch nur ähnlich mit den vorgestellten Dingen sein. Dieses Verhältnis von Vorstellung und Empfindung wendet Müller auf die räumliche Wahrnehmung an. Danach muß die geistige Darstellung der visuellen Wahrnehmung keinesfalls ausgedehnt sein, um etwa den räumlichen Vorgang in der Netzhaut zu repräsentieren: „Die Vorstellung räumlicher Gegenstände muss nicht nothwendig im Räume ausgedehnt zu [!] seyn. Vielmehr kann sich die Vorstellung zum sinnlichen Gegenstand, wie der Ausdruck einer Figur in einer algebraischen Gleichung zur Figur selbst oder wie die unendlich kleinen Differentialen zu den Integralen in der Analysis verhalten. Bei der Ungewissheit, ob im Opticus oder im Gehirn das sichtbare empfunden wird [...], lässt sich jedoch auch die Ansicht aufstellen, dass die Vorstellungen sinnlicher Gegenstände jedesmal auch in den Sinnesorganen, durch welche die Eindrücke stattgefunden haben, stattfinden, und also in räumlichen Verhältnissen wiederkehren." 2 3 Mit dieser Passage wird die Schwierigkeit des Müllerschen Entwurfes augen20 21 22 23
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. 362. S. 355. S. 526f. S. 527.
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scheinlich: An einem bestimmten Punkt seiner Beziehungskette von Netzhaut, Gehirn und Seele bedeutet der Ubergang von der Neuroanatomie zu einem psychologischen Phänomen notwendigerweise einen Sprung vom Physischen zum Psychischen, woraus unweigerlich folgern muß, daß Räumlichkeit letztlich auf ein Konzept der Nicht-Räumlichkeit zurückgeführt wird. Mit der Behauptung, daß wir beim Sehvorgang unsere eigene Netzhaut anschauen, verlagert Müller dieses Problem gewissermaßen nur eine Stufe weiter ins Gehirn. In der zitierten Passage versucht er dieses Dilemma dadurch zu handhaben, daß er ein ausgedehntes Ding einfach durch ein nicht-ausgedehntes, geistiges Symbol ersetzt. Mit der Verknüpfung von Zeichen und Wahrnehmung, sowie der Einbettung letzterer sowohl in das Bewußtsein wie in die Materialität der Sinnesenergie behauptet Müller letztendlich, daß die Repräsentation (der Außenwelt) zwar nicht selbst ausgedehnt, aber sehr wohl auf retinale Strukturen bezogen sei. Helmholtz, Wundt u.a. hielten dies keineswegs für eine befriedigende Lösung des Problems. Zusammenfassend hat Müllers Sehtheorie - von Helmholtz als „Nativismus" charakterisiert - zwei Eckpfeiler: das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien und die Lehre der identischen Netzhautpunkte. Darüber hinaus hob Müller die Rolle des Lernens bei bestimmten Aspekten des Sehens hervor, und er entwickelte eine Zeichentheorie des Sehens. Helmholtz stimmt mit Müller darin überein, daß die Spezifität der Sinnesenergien ein fundamentales Gesetz der Sinnesphysiologie sei, 24 und seine eigenen Arbeiten auf den Gebieten der physiologischen Farben-Theorie und der Akustik sollten in der Folgezeit erheblich dazu beitragen, Müllers Gesetz weiter zu bestätigen. Doch ohne die Einbettung in einen empiristischen Kontext konnte das Gesetz leicht als physiologische Variante eines objektiven Idealismus verstanden werden. Die Schwierigkeit für Helmholtz besteht nun darin, daß man womöglich zur Annahme einer Art prä-stabilisierter Harmonie von objektiver Außenwelt und subjektiver, intuitiv gefärbter Innenwelt verführt werden könnte, die beide zwar irgendwie miteinander zusammenhängen, letztlich aber doch ganz unabhängige Seinsbereiche darstellen. Folgerichtig stellt er die Frage: „Auf welche Weise sind wir denn nun zuerst aus der Welt der Empfindungen unserer Nerven hinübergelangt in die Welt der Wirklichkeit?" 25 Die Antwort hierauf wird in der Königsberger Rede zwar nur gestreift, doch enthält sie implizit bereits alle Elemente seiner empiristischen Theorie, die dann in der Physiologischen Optik zur vollen Entfaltung kommen werden. Helmholtz argumentiert dahingehend, daß wir den Kontakt zur Außenwelt durch konkrete Handlung herstellen. Wie ist das zu verstehen? Im Gegensatz zu Müller versucht Helmholtz, alle 24
H . v. Helmholtz, Ueber das Sehen des Menschen, a.a.O., S. 98, 116.
25
Ebenda, S. 115f.
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Bestandteile eines physiologischen Determinismus aus der Raumwahrnehmung zu entfernen. Zwar bediene sich das Gehirn in gewisser Weise der nervalen und muskulären Strukturen des Sehapparates, doch betrachtet er die Raumwahrnehmung selbst als ein rein psychologisches Phänomen. Anatomische und physiologische Grundlagen sind für Helmholtz eine Sache; eine wahre Erklärung der Raumwahrnehmung indes eine ganz andere. So vermißt man in der Rede von 1855 kaum zufällig jeglichen Hinweis auf die physiologische Bedeutung der korrespondierenden Netzhautpunkte. Nicht, daß Helmholtz Müllers anatomische Befunde in irgendeiner Weise in Zweifel ziehen wollte; er glaubt nur nicht, daß die korrespondierenden Netzhautpunkte eine unmittelbare Erklärung für das Einfachsehen darstellen. Die geistige Identifizierung dieser beiden Punkte als einheitlich hält er für das Ergebnis eines Lernprozesses, woraus folgt, daß die anatomische Korrespondenz an sich noch keine einheitliche Wahrnehmung gewährleistet. Es mag paradox erscheinen, daß Helmholtz auf die Eliminierung physiologischer und anatomischer Grundlagen in Müllers Entwurf zielt, aber nur so läßt sich sein Vorhaben durchführen, die Welt des subjektiven Idealismus zugunsten derjenigen des wissenschaftlichen Realismus zu verlassen. Dabei bleibt er durchaus auf dem Boden der Müllerschen Zeichentheorie, indem er sie mit einem auf H y p o these, Experiment und Lernen beruhenden strengen Empirismus kombiniert. Helmholtz meint, daß Sehen ein Erfahrungsprozeß sei und durch Übung immer wieder verstärkt werden müsse. Der Sehraum ist nicht angeboren oder sonstwie determiniert, sondern wird erfahrungsmäßig konstruiert und ist davon abhängig, daß und wie die sensorischen Stimuli mit den subjektiv hervorgerufenen Handund Augenbewegungen koordiniert werden. Hinreichende praktische Übung führt zu einem ganzen Komplex erlernter Handlungsmöglichkeiten, die schließlich zu den sogenannten „unbewußten Schlüssen" werden. Ironischerweise glaubt Helmholtz gerade mit diesem Gedankengang die Gräben zwischen Philosophie und Naturwissenschaft zuzuschütten, indem er meint, daß eine neue Generation von Kantianern auf dem Wege einer empirischen Psychologie Anschluß an den wissenschaftlichen Diskurs gewinnen könne. Vor allem die Arbeit auf zwei Forschungsgebieten - der Nervenleitgeschwindigkeit und des Binokularsehens - führte Helmholtz zu einer Ablehnung von Müllers Entwicklungstheorie. Die ab 1850 durchgeführten Untersuchungen zur Nervenleitgeschwindigkeit verfehlten ihre Wirkung auf Müller durchaus nicht, denn er trug Helmholtz' Ergebnisse höchstpersönlich in der Berliner Akademie der Wissenschaften vor. Dabei scheint er jedoch übersehen zu haben, daß Helmholtz sich mit diesen Ergebnissen von seiner eigenen - Müllers - Sehtheorie entfernen mußte. Indirekt geht diese Distanzierung aus einem Brief an seinen Vater hervor, in dem Helmholtz seine Gedanken zusammenfassend darlegt. Nachdem er zunächst erklärt, warum
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die Fortführung der Nachricht im Nerven und im Gehirn nichts prinzipell anderes für das Bewußtsein sei als die Fortleitung beispielsweise des Schalles, versucht er die relative Langsamkeit der Nervenleitung zu erklären, um schließlich einige Konsequenzen daraus zu ziehen: „Die Fortpflanzung ist aber in der That langsam genug, langsamer als der Schall. Dass uns die Zeitdauer dieser Fortpflanzung [im Nerven] so ungeheuer klein vorkommt, liegt daran, dass wir eben nicht schneller wahrnehmen können, als unser Nervensystem arbeitet, und uns deshalb die Zeiträume, welche dieses zu seinen Verrichtungen gebraucht, unwahrnehmbar klein sind. Wie ungenau übrigens unsere Zeitwahrnehmungen sind, wenn sie auf der Vergleichung der Wahrnehmungen zweier verschiedener Sinnesorgane beruhen, hat sich in der neueren Zeit auf überraschende Weise herausgestellt. [... Es ist unmöglich] zu bestimmen, ob die Schläge zweier leise gehenden Taschenuhren zusammentreffen oder zwischen einander fallen, wenn man jede Uhr an ein anderes Ohr hält, während nichts leichter ist, als diese Bestimmung, so bald man sie beide mit demselben Ohr hört. Ich habe mir dazu die Vorstellungsweise zurechtgemacht, dass man zwei Wahrnehmungen verschiedener Organe nur dann nach ihrer Zeitfolge bestimmen kann, wenn man dazwischen Zeit hat sich zu besinnen: ,jetzt hast du das eine wahrgenommen, aber noch nicht das andere'. Unsere Gedanken sind aber nicht so windschnell, wie man gewöhnlich glaubt, das habe ich auch bei meinen Versuchen erfahren, bei welchen ich von irgend einer Hautstelle her einen electrischen Schlag empfand und mir Mühe gab, so schnell wie möglich hinterher die Hand in Bewegung zu setzen, und die Zeit mass zwischen dem Schlage und dem ersten Anfang der Handbewegung. Bei energischer Aufmerksamkeit, wenn der Wille gleichsam bereit stand, so wie er die Nachricht empfing, zu handeln, verweilte die Nachricht etwa nur 1/10 Sekunde im Gehirn und wurde in dieser Zeit mit so maschinenmässiger Regelmässigkeit auf die Bewegungsnerven als Bewegungsreiz übertragen, dass ich glaube, die genannte Zeit wird hier nur durch die mechanisch nothwendigen Molecularvorgänge absorbirt; war aber die Aufmerksamkeit schon ermüdet, musste nach Empfang der Nachricht erst der Gedanke gefasst werden, was geschehen sollte, so war eine viel längere und ganz unregelmässige Zeit nöthig." 26 Wenn also Aufmerksamkeit, Denken und Entscheidungsvermögen in den Wahrnehmungsvorgang unmittelbar mit einfließen, kann die Wahrnehmung nicht - wie Müller angenommen hatte - ein instantaner Vorgang sein. Bei dem zweiten für unseren Kontext wichtigen Forschungsgebiet handelt es sich um die Experimente zum Binokularsehen mit dem Wheatstone-Stereoskop. Aus Sinnestäuschungen der Art, daß die separate Präsentation schwarzer und wei26
Brief an Ferdinand Helmholtz vom 26. Juli 1850, zit. nach: Leo Königsberger, Hermann von Helmholtz, 3 Bde., Braunschweig 1902, Bd. 1, S. 1 2 3 - 1 2 5 .
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ßer Bilder auf unterschiedliche Netzhaut-Areale zur Wahrnehmung eines einzelnen metallisch glänzenden Objekts führt, zog Helmholtz den Schluß, daß zur Wahrnehmung neben physiologischen Prozessen eben auch Entscheidungsvermögen und praktische Vernunft notwendig seien. Die Aufklärung solcher psychologischer Prozesse erklärt Helmholtz in der Rede von 1855 zu seinem Forschungsprogramm: „Die Natur der psychischen Prozesse zu bestimmen, welche die Lichtempfindung in eine Wahrnehmung der Aussenwelt verwandeln, ist eine schwere Aufgabe. Leider finden wir bei den Psychologen keine Hilfe", weil wir auf diese Prozesse „erst aus der physiologischen Untersuchung der Sinneswerkzeuge schliessen können. Die Psychologen haben daher die geistigen Acte, von denen hier die Rede ist, auch meist unmittelbar zur sinnlichen Wahrnehmung gerechnet, und keinen näheren Aufschluss über sie zu erhalten gesucht." 2 7 Grundlage für Helmholtz' empiristischen Ansatz ist seine Zeichentheorie der Vorstellung in Verbindung mit einem pragmatisch orientierten Realismus. Im Gegensatz zu Müllers Zeichentheorie, die auch weit weniger komplex war, orientiert sich Helmholtz an der zuerst von Hermann Lotze 2 8 aufgestellten Definition der Lokalzeichen. Helmholtz skizziert sie folgendermaßen: „Die Empfindung von Roth, welches die rechte Seite einer Netzhaut trifft, muss irgendwie unterschieden sein von der Empfindung desselben Roth, wenn es die linke Seite derselben Netzhaut trifft [...] Diesen vorläufig seiner Art nach unbekannt bleibenden Unterschied zwischen den Empfindungen, welche dieselbe Farbe in verschiedenen Netzhautstellen erregt, nennen wir mit Lotze das Localzeichen der Empfindung." 2 9 Der entscheidende Punkt ist nun, daß die „Entzifferung" dieser örtlichen Verschiedenheit auf der Netzhaut mit Hilfe von Übung und Erfahrung erfolgt, die sich konkret in Augenbewegungen, Kopf- und Körperstellung im Raum etc. ausdrückt. Die Raumwahrnehmung beruht mit anderen Worten darauf, „dass den Empfindungen der räumlich verschieden gelagerten Nervenfasern gewisse Verschiedenheiten, Localzeichen, anhaften, deren Raumbedeutung von uns gelernt wird". 3 0 Im Gegensatz dazu hatte Müller jegliche Verbindung von Wahrnehmung und Bewegung geleugnet. 31 Für ihn war die Lokalisierung der stimulierten Netzhautpunkte durch die unmittelbare Wahrnehmung der Retina bereits gegeben, während für Lotze und Helmholtz erst eine erlernte Augenbewegung zu 27 28 29 30 31
H . v. Helmholtz, Ueber das Sehen des Menschen, a.a.O., S. 111. Hermann Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, Leipzig 1852. H . v. Helmholtz, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens [1868], in: Vorträge und Reden, a.a.O., Bd. 1, S. 265-365, S. 332. Ebenda, S. 394. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 558.
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dieser Synchronisierung führt. Darüber hinaus bestreitet Helmholtz, daß wir überhaupt unsere eigene Netzhaut wahrnehmen können. Helmholtz betrachtet also das Auge als eine Art Meßinstrument, das die Funktion hat, eine brauchbare Landkarte der äußeren Welt zu erstellen. Die Welt unserer visuellen Erfahrung ist keineswegs bloß eine Kopie der äußeren Welt. Wahrnehmungen sind rein symbolische Repräsentationen, die von uns konstruiert werden, um die unterschiedlichen Gegebenheiten des sensorischen Inputs optimal handhaben zu können. Die einzige Wahrheit eines visuellen Symbols besteht nach Helmholtz in seinem praktischen Nutzen zur Orientierung in der Welt der Dinge. 3 2 Die Welt der visuellen Erfahrung - Helmholtz nennt ihre Elemente „Empfindungscomplexe" - ist eine Art symbolisches Stenogramm für die Summe sensorischer Eindrücke. In der Wahrnehmung eines Objekts sind Informationen über Richtung, Größe und Gestalt verknüpft mit solchen über Farbe, Helligkeit oder Kontrast. Keine dieser Informationen ist einfach gegeben; sie ist Resultat eines MeßVorgangs. Sie sind auch keineswegs über eine innere Logik miteinander verbunden, sondern entstehen durch Versuch, Irrtum und Wiederholung. Je häufiger solche Prozesse im Gehirn ausgelöst werden, desto schneller gehen sie auch vonstatten. Dem selbstbewußten Geist stellen sie sich mit derselben Notwendigkeit dar wie logische Schlüsse. U m die Geschwindigkeit jener Prozesse zu erhöhen, ordnet das Gehirn den Sinneseindrücken Symbole zu. Diese lernen wir in die Operationen unseres Geistes zu integrieren, so daß eine Kombination der unterschiedlichen Sinneseindrücke möglich wird. Dieses symbolische Kalkül wird uns bald so vertraut, daß wir nicht mehr mit dem Sinneseindruck selbst, sondern mit seinem Symbol hantieren, ganz so wie der Mathematiker mit Matrix und Vektor umzugehen gewohnt ist. Trotz dieser weitgehenden Analogien ist Helmholtz vorsichtig genug, Unterschiede zwischen den „Schlüssen der Logiker" und den unbewußten Schlüssen anzuerkennen: Während „erstere des Ausdrucks in Worten fähig sind, [sind es] letztere nicht, weil bei ihnen statt der Worte nur die Empfindungen und die Erinnerungsbilder der Empfindungen eintreten. Eben darin, dass diese sich nicht in Worten beschreiben lassen, liegt auch die grosse Schwierigkeit, von diesem ganzen Gebiete der Geistesoperationen überhaupt zu reden." 3 3 Dennoch ist die Wahrnehmung ein Resultat geistiger Vorgänge, bei der der Wille und die Kontrolle willkürlicher Bewegungen in gleicher Weise involviert sind wie beim Singen einer Arie oder beim Spielen einer komplizierten Violin-Sonate. 3 4 Zeichentheorie und pragmatischer Realismus stellen somit die Eckpfeiler dar für 32
H . v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, a.a.O., S. 442f.
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H . v. Helmholtz, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens, a.a.O, S. 358.
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Ebenda, S. 359.
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das neuerliche Bündnis von Philosophie und Naturwissenschaft, wie Helmholtz es in seiner Rede 1855 verspricht. Dabei ist für ihn vorausgesetzt, daß ein solches Bündnis sowohl die spekulative Philosophie des deutschen Idealismus hinter sich läßt wie auch die Transzendentalphilosophie der Kantischen Kritik der reinen Vernunft. Zum Vorbild wird vielmehr die praktische Philosophie aus der Kritik der Urteilskraft. Als Modell für diese praktische Wendung sieht Helmholtz die neueste Entwicklung der Philosophie nach der Revolution von 1848 an. 35 Einer ihrer Führer ist Immanuel Fichte, Sohn von Johann Gottlieb Fichte und enger Freund von Helmholtz' Vater. Nach dem Zusammenbruch des Frankfurter Parlaments plädieren Fichte und ihm Gleichgesinnte für eine neuerliche Beschäftigung mit den Grundlagen des Wissens, 36 wobei sie sich auf Kant berufen. Derjenige Philosoph, der am meisten zum Verständnis von Kants praktischer Philosophie beigetragen hatte, war Johann Friedrich Herbart. Zu seinen Lebzeiten nur ungenügend rezipiert, entfacht die Publikation von Herbarts sämtlichen Werken 1850-53 ein grundlegendes Interesse an seinem Kant-Verständnis. Es gibt vor allem in der Zeichentheorie und in dem Stellenwert der Augenbewegungen für die Konstruktion des Sehraumes eine Reihe von Parallelen zwischen Helmholtz' konstruktivistischer Sehtheorie und Herbarts empirischer Psychologie, worauf abschließend jedoch nur kurz eingegangen werden kann. Herbart geht davon aus, daß vom psychologischen Standpunkt aus der Raum nicht als etwas Reales angesehen werden könne, sondern daß er das Medium sei für die Repräsentation der verschiedenen Interaktionsprozesse zwischen uns und der Welt, die durch die Sinnesorgane vermittelt werden.37 Wie Helmholtz betrachtet er die 35
Vgl. hierzu im Detail K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, a.a.O. Ich möchte keineswegs behaupten, daß Helmholtz ein sorgfältiger Leser oder gar Exeget von Kants dritter „Kritik" gewesen wäre. Vielmehr möchte ich Helmholtz in jene Bestrebungen einbeziehen, die sich von einer idealistischen Politik weg hin zu einer Politik der materiellen Interessen bewegte. Foren für diese Diskussion waren vornehmlich die „Preussischen Jahrbücher" oder „Die Grenzboten", aber es konnte eben auch eine Königsberger Festrede sein, bei der diese pragmatische Wendung vorgeführt wurde.
36
Schon vor der 48er Revolution hatte Fichte die von ihm herausgegebene „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik" als Forum für die Bekämpfung alter „monarchistischer" Systeme der Philosophie (gemeint ist der spekulative Idealismus der Hegelianer) genutzt und für eine „republikanische", pluralistische Auffassung philosophischer Standpunkte plädiert. Siehe Hermann Ulrici (der Fichtes Mitherausgeber war), Die wissenschaftlichen Tendenzen im Verhältniß zu den praktischen Interessen, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 17, 1847, S. 24-37, auf S. 33.
37
Zu Herbarts Konzeption des Räumlichen vgl. die entsprechenden Kapitel in seiner „Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathe-
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räumliche Repräsentation beim Sehvorgang nicht als angeboren, sondern als erfahrungsmäßig bestimmte Konstruktion; und wie Helmholtz hält er den Sehvorgang für eine geistige Operation, bei der das Auge als Meßinstrument benutzt wird, wobei die Augenbewegungen eine große Rolle spielen: „Die ursprüngliche Auffassung des Auges kann nicht räumlich sein. Denn die Wahrnehmungen aller farbigen Stellen fallen in die Einheit der Seele zusammen, und hiebei geht von dem Rechts und Links, Oben und Unten u. s. w., welches auf der Netzhaut des Auges stattfand, jede Spur verloren. [...] Aber beim Sehen ist das Auge in Bewegung; es verrückt den Mittelpunct seiner Gesichtsfläche; hiemit ist unaufhörlich ein Verschmelzen der gewonnenen Vorstellungen [...], und eine zahllose Menge von einander durchkreuzenden Reproductionen verbunden, für die wir gar keine Worte würden finden können, wenn sie uns im gebildeten Zustande noch neu wären." 38 Wilhelm Wundt, der diese Stelle bei der Besprechung der Differenzen zwischen Herbart, Kant und Müller zitiert, fügt hinzu, daß Lotzes Theorie der Lokalzeichen eine konsequente Weiterführung der Herbartschen Überlegungen sei 39 - womit der Kreis zu Helmholtz sich gewissermaßen geschlossen hätte. Wundt und Helmholtz ging es vor allem darum, den Raum als ein rein psychologisches Phänomen aufzufassen. Der Lösungsvorschlag von Steinbuch und Herbart hatte sich auf den Zusammenhang von Augenbewegungen und Netzhautpunkten berufen, aber erst Helmholtz vermochte diesen Zusammenhang plausibel und en detail nachzuweisen. Seine ingeniöse Lösung des Problems der räumlichen Lokalisation, die ein Grundpfeiler seiner empiristischen Sehtheorie ist, kann in dieser Zusammenfassung nur angerissen werden. Wie kommt es, daß man ein Objekt, obwohl man es kraft der Augenbewegungen sozusagen abtastet, dennoch als räumlich stabil wahrnimmt? Müller beantwortete diese Frage als Folge der organisch vorgegebenen Anordnung der Nervenendigungen in der Netzhaut und einer Konservierung dieser Ordnung im Gehirn. Helmholtz hingegen versucht, jeglichen physiologischen oder mechanischen Determinismus zu vermeiden und eine psychophysische Lösung zu finden, indem er ein Prinzip für die geistige, wenn auch unbewußte Steuerung der Augenbewegungen annimmt. Augenbewegungen sind das mechanisch faßbare Äquivalent zu dem psychischen Prozeß. Die Stärke des Helmholtzschen Unternehmens besteht nun gerade in diesem Punkt: während etwa Wilhelm Wundt die Augenbewegungen mit dem Prinzip der kleinsten Muskelanstrengung erklärt, beharrt Helmholtz auf
38 39
matik" (in: Sämmtliche Werke, hrsg. von G. Hartenstein, 13 Bde., Leipzig 1850-1893, Bd. 6 (1850), S. 117-147). J. F. Herbart, Lehrbuch der Psychologie, in: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 5 (1850), S. 119. W Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, a.a.O., S. 101.
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einem optischen Prinzip, das vor allem in der Vermeidung von Doppelbildern besteht. Helmholtz nennt dies das „Princip der leichtesten Orientirung". 4 0 Sein meisterhafter Gedankenschritt besteht nun darin, das Korrelat für sein psychologisches Prinzip in einer mathematisch entwickelten Gesetzmäßigkeit zu finden, die darauf hinausläuft, daß Augenbewegungen nach dem Prinzip der Fehlerminimierung ablaufen, wobei er sich explizit auf das „Princip der kleinsten Fehlerquadrate in der Wahrscheinlichkeitsrechnung" 41 bezieht. Auf der einen Seite ist also das Auge ein Meßinstrument, welches sich in mathematischer Form beschreiben läßt, auf der anderen Seite jedoch handelt es sich um die Realisierung eines visuellen Interesses. Mit anderen Worten führt die Seele immer dann Experimente mit dem Auge durch, wenn ein Objekt unsere Aufmerksamkeit erregt. Dabei wäre die allererste retinale Stimulation als Hypothese zu betrachten, die dann anhand der oculomotorischen Abtastung des Objekts „überprüft" wird. Mit seinen Ausführungen über die Augenbewegungen hat Helmholtz das Versprechen seiner Königsberger Rede eingelöst. Seine pragmatische Orientierung wie auch seine definitive Abnabelung von Müller können kaum deutlicher zum Ausdruck kommen als in dem Schlußsatz der Arbeit von 1863, wo er die Augenbewegungen mit dem Matrosen vergleicht, der seinen Gang dem Schwanken des Schiffes anpaßt: „Eine ähnliche Art zwingender Gewohnheit, hergeleitet aus dem Bedürfnisse der Orientirung, meine ich, beherrscht auch die Augenbewegungen, und ich halte es deshalb nicht für nöthig nach anatomischen Einrichtungen zu suchen, die das Gesetz dieser Bewegungen bestimmen." 4 2 (Übersetzung:
40 41
42
Michael
Hagner)
Hermann von Helmholtz, Ueber die normalen Bewegungen des menschlichen Auges, in: Archiv für Ophthalmologie 9/2, 1863, S. 153-214, auf S. 158. Ebenda, S. 169. Für eine ausführliche Analyse dieser mathematischen und physikalischen Anteile der Lehre von den Augenbewegungen verweise ich auf meine Arbeit „The eye as a mathematician", die in Kürze in einem von David Cahan herausgegebenen Band über Helmholtz erscheinen wird. H. v. Helmholtz, Ueber die normalen Bewegungen des menschlichen Auges, a.a.O., S. 195.
E R I K A KRAUSSE
Johannes Müller und Ernst Haeckel: Erfahrung und Erkenntnis
Ernst Haeckel gehörte zu den engen Vertrauten, welche am 2. Mai 1858 den Sarg Johannes Müllers zu Grabe trugen. E r hatte kurz zuvor sein medizinisches Staatsexamen absolviert und beabsichtigte, sich bei Müller zu habilitieren. Sein persönliches Verhältnis zu Müller charakterisierte er im Vorwort seiner „dem Gedächtnis seines frühverstorbenen Lehrers" gewidmeten Radiolarienmonographie wie folgt: „Ich verehre in Johannes Müller dankbar den Lehrer, der vor Allem bestimmend und leitend auf meine wissenschaftliche Entwicklung eingewirkt hat, von dem ich die mächtigste Anregung zur Erforschung des thierischen Lebens erhielt, wie er mich persönlich auch in das höchst genussreiche Studium der pelagischen Fauna einführte." Haeckel hoffte, mit dieser Widmung „das ernste Streben zu bezeugen, auf der von ihm vorgezeichneten Bahn der Naturforschung fortzuschreiten". 1 I m folgenden soll deshalb untersucht werden, inwieweit Haeckel methodisch und inhaltlich dieser vorgezeichneten Bahn folgte und wodurch er sich von Müller abgrenzte. Dazu werden die persönlichen Kontakte zwischen beiden Gelehrten, der persönliche und literarisch vermittelte Einfluß Müllers auf das Forschungsprogramm, den Forschungsgegenstand und die Forschungsmethoden und philosophische Grundpositionen dargestellt, wobei Aussagen Haeckels herangezogen werden, sofern solche vorliegen.
I. Die persönlichen Beziehungen zwischen Haeckel und Müller D i e biographischen Kontakte vollzogen sich auf drei Ebenen: 1. durch den Besuch der Vorlesungen über vergleichende Anatomie und Physiologie, die Haeckel im Sommer- und Wintersemester 1854/55 bei Müller hörte, 2. bei praktischen Übungen in vergleichender Anatomie im Anatomischen Museum, 3. während gemeinsamer meereszoologischer Exkursionen nach Helgoland 1854 und Nizza 1856.
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Ernst Haeckel, Die Radiolarien (Rhizopodoia radiaria). Eine Monographie, Bd. 1, Berlin 1862, S.XII.
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Haeckel war von Müller fasziniert und zählte ihn zu den größten Naturforschern des 19. Jahrhunderts, gleichrangig mit Georges Cuvier, Karl Ernst von Baer, Jean Baptiste de Lamarck und Charles Darwin. N o c h 50 Jahre nach den persönlichen Begegnungen erinnerte er sich der Gespräche und schilderte sie in seinem Berliner Vortrag (1905) mit folgenden Worten: „Seine Vorlesungen über vergleichende Anatomie und Physiologie - die geistreichsten und anregendsten, die ich je gehört habe - hatten mich so gefesselt, daß ich von ihm die Erlaubnis erbat und erhielt, in seinem großartigen Museum der vergleichenden Anatomie [ . . . ] die Skelette und andere Präparate zu studieren und abzuzeichnen. Müller (damals 54 Jahre alt) hatte die Gewohnheit jeden Sonntag Nachmittag im Museum allein zuzubringen; er ging dann oft stundenlang in den weiten Sälen auf und ab. [ . . . ] D a n n und wann aber wandte sich mein großer Meister seitwärts zu dem kleinen Tische, an welchem ich (als 20jähriger Student) in einer Fensterecke saß und gewissenhaft die Schädel von Säugetieren, Amphibien und Fischen abzeichnete. Ich durfte ihn dann um Erklärung besonders schwieriger anatomischer Verhältnisse bitten und wagte einmal schüchtern die Frage: ,Sollten denn nicht alle diese Wirbeltiere, deren Skelettbau trotz aller äußeren Verschiedenheiten derselbe ist, ursprünglich von einer gemeinsamen Urform abstammen?' D e r große Meister wiegte bedächtig sein gedankenvolles Haupt und sagte: J a wenn wir das wüßten! Wenn Sie dieses Rätsel einmal lösen, dann würden Sie das Höchste erreichen.'" 2 In ähnlicher Weise schildert Haeckel auch die gemeinsamen Bootsfahrten beim Dredgen auf der Nordsee, über die er schon in seinen Briefen an die Eltern begeistert berichtet hatte. Haeckel führte diese Gespräche - von denen wir nicht wissen, ob sie wörtlich so stattfanden - in seinem Vortrag 1905 an, um den damaligen Stand der Biologie zur Frage der Abstammung der Organismen zu kennzeichnen: Wie für Müller, „so galt bis 1858 auch für alle anderen Anatomen und Physiologen, Zoologen und Botaniker die organische Schöpfungsfrage für ein ungelöstes Problem, die große Mehrzahl hielt es sogar für unlösbar und transzendent". 3 Auch Haeckel selbst war zu dieser Zeit noch Anhänger der Schöpfungstheorie. Erst 1860, nach der Lektüre von Darwins Entstehung
der Arten,
bekannte er sich ganz spontan zu dieser wie er
feststellte „eine neue Epoche für die systematische organische Naturforschung" einleitenden Evolutionstheorie. 4 Während Müllers Werk den Höhepunkt und Abschluß der Epoche der vergleichend-anatomischen, deskriptiven Physiologie bildete und von ihm in einer Person noch das Gesamtgebiet von Anatomie, Physiologie und Zoologie repräsentiert 2 3 4
Emst Haeckel, Der Kampf um den Entwickelungsgedanken, Berlin 1905, S. 23f. Ebenda, S. 25. E. Haeckel, Die Radiolarien, a.a.O., S. 231f.
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werden konnte, stand Haeckel am Wendepunkt zweier Epochen und vollzog den Paradigmenwechsel gewissermaßen selbst mit. Seine methodische Ausbildung hatte er in der „vor-phylogenetischen" Periode erhalten und nutzte sie jetzt zur Erklärung evolutionärer Abläufe und genealogischer Zusammenhänge.
II. Welchen Einfluß übte Müller auf Haeckel bezüglich der gewählten Forschungsgebiete und der Forschungsmethoden aus? Haeckel, der sich bereits als Schüler solide Kenntnisse der botanischen Systematik erworben hatte, war ein talentierter Zeichner und verfügte über die Fähigkeit, rasch Formen zu erfassen und bildlich darzustellen. Diese Begabung mag ihn wohl bewogen haben, sich unter dem Einfluß von Albert von Koelliker, Karl Gegenbaur und Müller der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte der Tiere als „Lieblingswissenschaft", wie er selbst äußerte, zuzuwenden, und nicht - wie ein gewichtiger Teil der Müller-Schüler - die experimentelle Physiologie zu wählen. Die Mitschrift von Müllers Vorlesung über vergleichende Anatomie bezeichnete Haeckel als das „kostbarste Produkt" seiner akademischen Kollegia, und er beabsichtigte, das sorgfältig ausgearbeitete und illustrierte Kollegheft nach dem Tode Müllers als „Leitfaden der vergleichenden Anatomie" zu publizieren, was auf Einspruch der Familie Müllers aber unterblieb. 5 Der definitive Entschluß, später als Zoologe und nicht als Arzt tätig zu sein, reifte bereits 1854 auf der erwähnten Helgolandexkursion unter dem unmittelbaren Einfluß Müllers, bei dem er ja dann auch seine Doktorarbeit mit einer zoologischen Thematik Über die Gewebe des Flußkrebses (1857) abschloß. Hier trafen sich die Neigungen und Fähigkeiten des Schülers und die aktuellen Interessen des Lehrers in idealer Weise. Wie B. Lohff 6 dargestellt hat, konzentrierte sich Müller in den letzten Lebensjahren völlig auf die Planktonforschung. Die Briefe Haeckels an seine Eltern geben Zeugnis von der Begeisterung, mit welcher er die Vielfalt und Schönheit dieser pelagischen Organismen bewunderte, deren Bau und Entwicklungsstufen er unter Müllers Anleitung während der Helgolandexkursion studierte. 7 Er nahm so unmittelbaren Anteil an Müllers Arbeiten zur Aufklärung des Entwicklungszyklus der Echinodermen, später (1856 in Nizza) auch der Radiolarien und übernahm ebenso die von Müller in die Planktonforschung eingeführten 5 6 7
Eintragung Haeckels im Verzeichnis der Vortragshefte (1852-1856). Ernst-HaeckelHaus, Jena, Best. B, Abt. 1. Nr. 335, S. 17. Brigitte Lohff, Johannes Müllers Weg zur Planktonforschung. Vortrag auf dem Gedenksymposium zum 70. Todestag Ernst Haeckels am 13. 6. 1989 in Jena. Ernst Haeckel, Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern. Eingeleitet von Heinrich Schmidt, Leipzig 1921, S. 118.
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Methoden wie das Dredgen mit Schöpfnetzen aus sogenannter Müller-Gaze, die der meeresbiologischen Forschung neuen Aufschwung gaben. Da Haeckel bis zum Tode Müllers unter dessen direktem Einfluß stand, nimmt es nicht wunder, daß er anschließend versuchte, den von diesem eingeschlagenen Weg der Planktonforschung konsequent fortzuführen. Während einer von Gegenbaur angeregten meereszoologischen Exkursion nach Italien im Jahre 1859 versuchte Haeckel zunächst, an Müllers Studien zur mikroskopischen Anatomie der Echinodermen anzuknüpfen, kam damit aber nicht zum Erfolg. Unerwartet reiche Funde neuer Radiolarienarten bewogen ihn dann, die letzte Arbeit Müllers über die Radiolarien des Mittelmeeres weiterzuführen. Die mikroskopisch kleinen, filigranartigen, durch eine ungeheure Formenvielfalt und -Schönheit ausgezeichneten Radiolarien kamen Haeckels wissenschaftlichen Interessen ebenso entgegen wie seinen zeichnerischen Fähigkeiten. Sie befriedigten sein künstlerisches und ästhetisches Empfinden in gleichem Maße. Vergleicht man Müllers Arbeit Uber die Thalassicollen, Polycystinen und Acanthometren des Mittelmeeres (1858) mit Haeckels im Anschluß an seine Italienreise erarbeiteten Radiolarienmonographie (1862), so wird deutlich, wie wenig sich Haeckel zu dieser Zeit von Müllers Forschungskonzept zu lösen vermochte, wie er aber unter dem Einfluß der Entwicklungstheorie Darwins versuchte, die Klassifikation dieser Tiergruppe nun auf Verwandtschaft zu gründen. Haeckel hatte Müllers Abhandlung während seiner Reise im Gepäck, und er gesteht im Vorwort seiner Monographie: „Dieser vorzüglichen Abhandlung verdanke ich es zum grossen Theil, dass ich das reiche Material, welches mir der Hafen von Messina lieferte, von Anfang an in entsprechender Weise verwerthen konnte. Ich betrachte sie als das sichere Fundament, auf dem es mir möglich war, den umfangreichen Bau meiner Monographie auszuführen." 8 In der gesamten Anlage folgte Haeckel im wesentlichen der Gliederung Müllers, wie aus der folgenden Gegenüberstellung hervorgeht.
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E. Haeckel, Die Radiolarien, a.a.O., S. VI.
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Müller und Haeckel MÜLLER Geschichtliche Einleitung I. Über die Organisation und die Lebenserscheinungen der Thalassicollen, Polycystinen und Acanthometren. II. Über die Verwandtschaft und die Systematik der Thalassicollen
III. Über das Wachstum der Polycystina IV Über die pelagische Verbreitung der Thalassicollen [...]. V Beschreibung der vom Verfasser beobachteten Gattungen und Arten
HAECKEL 1. Hälfte: Allgem.Teil I. Geschichtl. Einleitung II. Anatomisch-physiol. Schilderung des Organismus der Radiolarien A. Körperbau B. Lebenserscheinungen IV Betrachtungen über die Grenzen der Verwandtschaften der Radiolarien und über die Systematik der Rhizopoden im Allgemeinen III. Übersicht der Verbreitung der Radiolarien 1. Versuch eines natürlichen Systems 2. Hälfte: Spez.Teil Systematische Beschreibung der Familien, Gattungen und Arten der Radiolarien [...].
Daneben fügte Haeckel seiner Monographie Abbildungstafeln bei, die sich in der Gestaltung stark an Müllers Darstellungen anlehnten. Als Haeckel mit seinen Untersuchungen begann, waren 58 Radiolarienarten bekannt. Von ihnen hatte Müller 40 beschrieben, unter der Bezeichnung „Radiolarien" zusammengefaßt und als Rhizopoden erkannt. Haeckel konnte im Golf von Messina allein 144 neue Arten entdecken. Dieses reiche Material gestattete ihm, sich insbesondere dem Feinbau der von dem Kieselskelett umschlossenen Zentralkapsel und dem extrakapsulären Zytoplasma (bei Haeckel als Weichkörper bezeichnet) zuzuwenden und Müllers erste Grundaussagen dazu weiter auszuführen. Die Einzelligkeit der Radiolarien vermochte er ebensowenig nachzuweisen wie Müller, obwohl er die Zellkerne bereits beobachtete, ohne sie aber als solche zu deuten, was erst Richard Hertwig 1879 gelang. Im wesentlichen bestätigte Haeckel die von Müller getroffenen Aussagen über die Verwandtschaft der Radiolarien und über die Systematik der Rhizopoden im Allgemeinen. Auch er begründete sein System der Radiolarien nach den Kriterien der Skelettbildung, wobei er alle bisher bekannten lebenden und fossilen Formen zu erfassen suchte und die bestehenden Systeme von Müller und insbesondere das von Christian Gottfried Ehrenberg revidierte. Als wichtigstes Einteilungsmerkmal nutzte Haeckel die von Müller erkannte
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Tatsache, daß bei bestimmten Radiolariengattungen das Skelett aus 20 Stacheln zusammengesetzt ist, welche konstant nach einer bestimmten mathematischen Ordnung symmetrisch verteilt sind. Er bezeichnete dieses Ordnungsprinzip als „Müllersches Stellungsgesetz". 9 Während der Ausarbeitung des Systems der Radiolarien wurde Haeckel im Sommer 1860 mit der Darwinschen Theorie bekannt, zu der er sich sofort spontan bekannte und die er zu beweisen versuchte. „Darwins Interpretation der Linnaeischen Hierarchie als ein System, das seine gemeinsame Abstammung widerspiegelt", stellte, wie Ernst Mayr 1984 formuliert, „nicht nur das Prinzip der Kontinuität wieder her, sondern bedeutete auch ein gewaltiges Forschungs-Programm", 10 dem sich Haeckel sofort anschloß. Morphologische Ähnlichkeit bedeutete nun Abstammungsnähe, Differenzierung und Vervollkommnung drückte gleichzeitig Höherentwicklung aus. Also mußte sich nun eine Klassifikation der Organismen auf Verwandtschaft gründen, und insbesondere die Übergangsformen gewannen systematische Bedeutung. Im Kapitel „Versuch eines natürlichen Systems der Radiolarien" nahm Haeckel das neue Konzept Darwins auf. Obwohl er zugeben mußte, daß die Radiolarien nur geringfügig variieren, hob er zahlreiche Ubergangsformen bei Acanthometren hervor, um Darwins Behauptung zu untermauern, daß die größten Genera am meisten zur Abänderung der Spezies neigen. Dabei betonte er, daß sich doch, obwohl erst ein geringer Teil der Radiolarienfauna erschlossen sei, „eine ziemlich ununterbrochene Kette verwandter Glieder herstellen läßt". Gerade jetzt müsse „jeder Beitrag besonders willkommen" sein, „den die Detailforschung zum Nachweis der allmählichen Entwicklung der organischen Wesen aus gemeinsamen Stammformen liefern kann". 1 1 Das im wesentlichen Müllers Prinzipien folgende „Natürliche System der Radiolarien" wird somit zur genealogischen Stammtafel. Als Urform der Radiolarien sah Haeckel eine einfache Gitterkugel mit zentrifugalen Stacheln an. In den nachfolgenden systematischen Monographien versuchte er, anhand weiterer Tiergruppen (Medusen, Schwämme, Staatsquallen), deren Abstammungsverwandtschaften von „niederen" zu „höheren" Taxa nachzuweisen. Die Systematik stellt nach Haeckel keine besondere Wissenschaft neben der Morphologie dar, sondern bildet den „concentrierten Extract aller Resultate der gesammten Morphologie selbst". 12 9 10 11 12
Ebenda, S. 226. Ernst Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Heidelberg 1984, S. 172. E. Haeckel, Die Radiolarien, a.a.O., S.231. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 1: Allgemeine Anatomie der Organismen, Berlin 1866, S. 39.
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Es war deshalb sicherlich kein Zufall, daß Haeckel die Reform der Morphologie auf der Basis der Evolutionstheorie zum Gegenstand seines programmatischen Hauptwerkes wählte, da zum Zeitpunkt des Kontaktes zwischen Haeckel und Müller, wie H.-J. Rheinberger in seinem Beitrag treffend feststellt, die Morphologie Müllers „methodisches Prinzip" war. Dazu kam nach Müllers Tod eine gleichsinnige Beeinflussung durch Gegenbaur. Wie Haeckel betont, habe er im „unmittelbaren Verkehr [ . . . ] mit Johannes Müller die empirischen Grundlagen und die herrschenden Anschauungen der dualistischen Morphologie nach ihrem ganzen Umfang und Inhalt kennengelernt" und sich dabei „im Stillen jene monistische Opposition" ausgebildet, die in der Generellen Morphologie ihren Ausdruck findet. 1 3 Als Ziel dieses Werkes formulierte er in der für ihn typischen polemischen Art, „diesen heillosen und grundverkehrten Dualismus aus allen Gebietstheilen der Anatomie und Entwickelungsgeschichte völlig zu verdrängen und die gesammte Wissenschaft von den entwickelten und von den entstehenden Formen durch mechanisch-causale Begründung auf dieselbe feste Höhe des Monismus zu erheben, in welcher alle übrigen Naturwissenschaften seit längerer oder kürzerer Zeit ihr unerschütterliches Fundament gefunden haben". 1 4 Sein Buch sollte eine ähnliche Bedeutung für die Entwicklung der Morphologie erlangen wie Müllers Handbuch für die Entwicklung der Physiologie. Die Morphologie sollte nicht länger als „Dienerin" und als „untergeordnete Hilfswissenschaft" der Physiologie betrachtet werden. Haeckel versuchte, die in der Morphologie noch herrschenden „teleologischen und vitalistischen Dogmen", wie er im Vorwort seiner Generellen Morphologie hervorhob, durch die mechanisch-kausale Betrachtungsweise zu ersetzen und der „fortschreitenden Verwilderung und allgemeinen Anarchie", die seit Müllers Tod auf diesem Gebiet durch Vernachlässigung der Denktätigkeit eingetreten sei, Einhalt zu gebieten. 15 Namen werden dabei zunächst nicht genannt, aber wie die späteren Ausführungen zeigen, wendet sich Haeckel hier insbesondere gegen Louis Agassiz und Karl Bogislaus Reichert. 1 6 Haeckel differenzierte - das hatte er bereits in seinem Stettiner Vortrag Über die Entwicklungstheorie Darwins 1863 klar zum Ausdruck gebracht - die zeitgenössischen Biologen grundsätzlich in zwei feindliche Lager: die progressiven Darwinisten und die konservativen Gegner Darwins, die Vertreter der Schöpfungslehre und der Konstanz der Arten. Er transformierte damit automatisch biologische Sachverhalte auf eine weltanschauliche Ebene. Aus
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Ebenda, S. XVII. Ebenda, S.XIVf. Ebenda, S. XIV, S. 6. Louis Agassiz, A n Essay on classification, London 1859; Karl Bogislaus Reichert, Die Morphologie auf dem Standpunkt der systematischen Naturauffassung, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin 23, 1856, S. 1.
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diesem Kontext heraus werden sowohl seine scharfe Polemik als auch die eigentlich weltanschaulichen Auseinandersetzungen vorbehaltene Wortwahl verständlich. Im vierten Kapitel „Methodik der Morphologie der Organismen" werden die theoretisch-methodologischen Grundlegungen deutlich, die Haeckel von Müller und Matthias Jacob Schleiden annahm und aus seiner Sicht interpretierte. Haeckel stellt hier als naturwissenschaftliche Methoden, die sich notwendig gegenseitig ergänzen müssen, „Empirie und Philosophie", die er mit „Erfahrung und Erkenntnis" gleichsetzt, ferner „Analyse und Synthese" sowie „Induktion und Deduktion" gegenüber. Als sich gegenseitig ausschließende naturwissenschaftliche Methoden sieht er unter Berufung auf Schleiden „Dogmatik und Kritik" sowie „Teleologie und Kausalität", die er einfach mit „Vitalismus und Mechanismus" gleichsetzt, sowie „Dualismus und Monismus" als Gegensatzpaare an. Bezüglich des Verhältnisses von Empirie und Philosophie beruft sich Haeckel auf Zitate von Schleiden und Müller: „Die wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind weder allein durch Zergliedern der Begriffe der Philosophie noch allein durch blosses Erfahren gefunden worden, sondern durch eine denkende Erfahrung, welche das Wesentliche von dem Zufälligen in der Erfahrung unterscheidet und dadurch Grundsätze findet, aus welchen viele Erfahrungen abgeleitet werden. Dies ist mehr als blosses Erfahren, und wenn man will, eine philosophische Erfahrung." 1 7 Diesem Zitat aus Müllers Handbuch fügte Haeckel ein weiteres aus Schleidens Grundzügen der wissenschaftlichen Botanik an, welches den Rückstand der Morphologie gegenüber physikalischen Theorien in einer „Nichtachtung methodologischer Verständigung" begründet sieht. Die Ursache, so Schleiden, sei darin zu suchen, daß man sich einerseits „nicht um scharfe Fassung der leitenden Prinzipien bekümmert, andererseits selbst die allgemeinsten und bekanntesten Anforderungen der Philosophie hintangesetzt" habe. 1 8 Der von Müller proklamierte Weg der „denkenden Erfahrung" erschien Haeckel als einzig richtige Methode: „Es ist dies die gegenseitige Ergänzung von Beobachtung und Gedanken, der innige Zusammenhang von Naturbeschreibung und Naturphilosophie, die nothwendige Wechselwirkung zwischen Empirie und Theorie." 1 9 Ausdrücklich hob er hervor, daß Müller, „der in den Augen der meisten jetzt lebenden Biologen als der strengste Empiriker und Gegner der Naturphilosophie 17
E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 63. Das Zitat stammt aus: Johan-
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E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 64. Das Zitat stammt aus: Mat-
nes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Coblenz 1840, S. 522. thias Jacob Schleiden, Die Botanik als induktive Wissenschaft. Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik nebst einer methodologischen Einleitung, Leipzig 1849, S. 75. 19
E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 64.
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gilt, die Fülle seiner zahlreichen und grossen Entdeckungen viel weniger seinem ausgezeichneten sinnlichen Beobachtungstalent, als seinem combinirenden Gedankenreichthum und der natürlichen Philosophie seiner wahrhaft denkenden Beobachtungsmethode" verdanke. Niemals könne die bloße Entdeckung einer Tatsache einen Fortschritt in der Naturwissenschaft herbeiführen, „sondern stets nur der Gedanke, die Theorie, welche diese Thatsache erklärt, sie mit verwandten Thatsachen vergleichend verbindet und daraus ein Gesetz ableitet". „Der reine Empiriker bringt", so Haeckel, nur „einen ungeordneten Steinhaufen zusammen, der reine Philosoph [...] baut Luftschlösser, welche der erste empirische Windstoß über den Haufen wirft." N u r durch die immanente Wechselwirkung von empirischer Beobachtung und philosophischer Theorie könne das Lehrgebäude der Naturwissenschaft wirklich zustande kommen. 2 0 Nach Haeckel ist Empirie nur die erste und niederste, Philosophie dagegen die letzte und höchste Stufe der Erkenntnis. „Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist in diesem Sinne Naturphilosophie", führte er aus. 21 Es ist bezeichnend für Haeckel, daß er das methodologische Kapitel mit einem weiteren Zitat Müllers schließt: „Die Phantasie ist ein unentbehrliches Gut, denn sie ist es, durch welche neue Combinationen zur Veranlassung wichtiger Entdekkungen gemacht werden. Die Kraft der Unterscheidung des isolierenden Verstandes sowohl als der erweiternden und zum allgemeinen strebenden Phantasie sind dem Naturforscher in einem harmonischen Wechselwirken nothwendig. Durch Störung dieses Gleichgewichtes wird der Naturforscher von der Phantasie zu Träumereien hingerissen, während diese Gabe den talentvollen Naturforscher von hinreichender Verstandesstärke zu den wichtigsten Entdeckungen führt." 2 2 Der Müllersche Phantasiebegriff wird in späteren Werken Haeckels als Leitmotto für die kühnen Hypothesen zur Ableitung der Wirbeltiere wiederholt benutzt und offensichtlich auch zum Leitmotiv seines Handelns. Haeckel bezeichnet es als Selbsttäuschung der „rein empirischen" Richtung der neueren Biologie, „wenn sie die nackte gedankenlose Beschreibung innerer und feinerer, insbesondere mikroskopischer Formverhältnisse als wissenschaftliche Zoologie oder wissenschaftliche Botanik" preise und sie stolz der früher vorherrschenden reinen Beschreibung der Formverhältnisse, der Systematik, gegenüberstelle. Er sieht vielmehr die Aufgabe nicht nur in einer Beschreibung, sondern in 20 21 22
Ebenda, S. 73f. Ebenda, S. 67. Ebenda, S. 74. Das Zitat stammt aus J. Müller, Jahresbericht über die Fortschritte der anatomisch-physiologischen Wissenschaften im Jahre 1833, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin 1, 1834, S. 1-79, 97-201, auf S. 4.
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einer Erklärung der Form und im Nachweis der Gesetzmäßigkeiten der Formbildung. Erst dann würden beide zur Wissenschaft. 23 Nach Haeckels Ansicht müßten sich in gleicher Weise analytische Untersuchung des Einzelnen und synthetische Betrachtung des Ganzen ergänzen, ebenso wie induktive und deduktive Methode stets miteinander verquickt werden müßten, wie dies Müller besonders für entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen anzuwenden forderte. Im Handbuch der Physiologie des Menschen sah Haeckel diese methodischen Prinzipien ideal verwirklicht. So schreibt er noch in den Welträthseln (1899): „Dieses klassische Werk gab viel mehr als der Titel besagt; es ist der Entwurf zu einer umfassenden vergleichenden Biologie'. Noch heute steht dasselbe in Bezug auf Inhalt und Umfang des Forschungsgebietes unübertroffen da. Insbesondere sind darin die Methoden der Beobachtung und des Experiments so mustergültig angewendet wie die philosophischen Methoden der Induktion und Deduktion." 2 4 Teleologische und vitalistische Auffassungen lehnte Haeckel generell ab. Seiner Ansicht nach existiert weder ein Ziel noch ein Plan der organischen Entwicklung, und das beste Argument „für die ausschließliche Gültigkeit mechanisch wirkender Ursachen auf dem Gesamtgebiet der Biologie" gegen Teleologie und Vitalismus sei die Darwinsche Theorie, die Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein. 25 Er identifizierte vitalistische und teleologische Betrachtungsweise, weil es, wie er sagt, für die Sache völlig gleichgültig sei, „unter welchem Namen sich die erstere verbirgt, und ob sich das von der Materie verschiedene organisierende Princip, welches das ,Leben' und den .Organismus' erzeugt und erhält, ,Lebenskraft' nennt, oder ,Vitalprincip', organische Kraft oder Schöpferkraft', systematischer Grundcharakter' (Reichert), zweckmässiger Bauplan des Organismus', Schöpfungsgedanke (Agassiz) oder ideale Ursache, Endzweck oder zweckthätige Ursache (Endursache, causa finalis)". Alle diese scheinbar so verschiedenen Ausdrücke seien nur „äusserlich verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe irrige Vorstellung" einer nicht an die Materie gebundenen, von physikalischen und chemischen Kräften verschiedenen Kraft. 2 6 Haeckel versuchte wiederum, anhand eines Zitats aus Müllers Handbuch nachzuweisen, daß Müller im Grunde genommen überhaupt kein Vitalist gewesen sei, wobei er allerdings Textstellen aus dem ersten und dem zweiten Band zu einem Zitat zusammenfügt und einen entscheidenden Satz wegläßt. Das Zitat lautet bei Haeckel: „Ein mechanisches Kunstwerk ist hervorgebracht nach einer dem Künstler vorschwebenden Idee, dem Zwecke 23 24 25 26
E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 71. E. Haeckel, Die Welträthsel, Bonn 1899, S. 54. E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 100. Ebenda, S. 97.
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seiner Wirkung. Eine Idee liegt auch jedem Organismus zu Grunde, und nach dieser werden alle Organe zweckmässig organisirt; aber diese Idee ist ausser der Maschine, dagegen in dem Organismus, und hier schafft sie mit blinder Nothwendigkeit und ohne Absicht. Denn die zweckmässig wirksame Ursache der organischen Körper hat keinerlei Wahl und die Verwirklichung eines einzigen Plans ist ihre Nothwendigkeit, vielmehr ist zweckmässig wirken und nothwendig wirken in dieser wirksamen Ursache eines und dasselbe." 27 „Man darf daher die organisirende Kraft nicht mit etwas dem Geistesbewußten Analogen, man darf ihre blinde nothwendige Thätigkeit mit keinem Begriffsbilden vergleichen." Den bei Müller hierauf folgenden Satz: „Die organische Kraft dagegen, die Endursache des organischen Wesens, ist eine die Materie zweckmässig verändernde Schöpfungskraft", ließ Haeckel aus und zitierte den darauffolgenden: „Organismus ist die factische Einheit von organischer Schöpferkraft und organischer Materie." 2 8 Anhand dieses ziemlich willkürlich zusammengefügten Zitats versuchte Haekkel, die „inneren Widersprüche" der Müllerschen teleologischen Auffassungen aufzudecken. „Wenn, wie Müller sagt, zweckmäßig wirken und nothwendig wirken in dieser wirksamen Ursache im Organismus eines und dasselbe ist, so fällt die zweckthätige Causa finalis mit der mechanischen Causa efficiens zusammen, so giebt die erste sich selbst auf, um sich der letzteren unterzuordnen, so ist die mechanische Auffassung der Organismen als die allein richtige anerkannt", stellte Haeckel fest. 2 9 Weiter heißt es: „Allein die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte sich allmählich in ihr Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären; seine reformirte Lebenskraft steht nicht über den physikalischen und chemischen Gesetzen der Natur, sondern sie ist streng an dieselben gebunden; sie ist schließlich nichts weiter als das,Leben' selbst, d. h. die Summe aller Bewegungserscheinungen, die wir am lebendigen Organismus beobachten." 3 0 Müller dürfe deshalb nicht, wie dies neuerdings geschehe, „als Vitalist schlechtweg beurtheilt werden; sondern vielmehr als der erste Physiologe, der dem herrschenden metaphysischen Vitalismus eine physikalische Grundlage zu geben versuchte; er führte eigentlich den indirecten oder apagogischen Beweis für sein Gegentheil", wie Emil du Bois-Reymond in seiner Gedächtnisrede richtig bemerkt
27
J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 505.
28
Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, 3. Aufl., Coblenz
29
E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 95.
30
E. Haeckel, Die Welträthsel, a.a.O., S. 54.
1837, S. 25.
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habe. 3 1 In gleicher Weise sei dem Vitalismus durch die Zellentheorie Schleidens der Boden entzogen worden. Haeckel selbst war zwar in ontologischer Hinsicht Materialist, doch wichtiger als eine Kausalanalyse war ihm eine monistische Gesamtschau der Natur, wobei er sich insbesondere auf Goethe und Müller berief. Müllers Methode der „denkenden Erfahrung" entsprach dem Wesen Haeckels weit mehr als das rein empirische, kausalanalytische Vorgehen seines Lehrers Koelliker. Bereits als Student klagte er seinen Eltern, daß ihm - im Gegensatz zu Koelliker - eine allgemeine naturphilosophische Ansicht und ein Überblick über das Ganze ein Bedürfnis sei. 3 2 Haeckel suchte stets, allgemeine Gesetzmäßigkeiten, übergreifende Zusammenhänge und Hypothesen oder Modelle aus seinen Beobachtungen abzuleiten und Theorien aufzustellen, wobei er stets die Einheit der gesamten Natur, der anorganischen und der organischen einschließlich des Kosmos im Blick hatte. Meist ging er dabei, ebenso wie Müller, von einer allgemeinen regulativen Idee aus. Zweifellos waren ihm Müllers Arbeiten über den Bau der Echinodermen (1853), über die Thalassicollen, Polycystinen und Acanthometren (1858), die vergleichende Anatomie der Myxinoiden (1835) sowie die Arbeit über den Bau und die Lebenserscheinungen von Branchiostoma lubricum (1844) dabei Vorbild. So berief er sich bei der Formulierung seiner Grundformenlehre neben den grundlegenden Arbeiten von Gustav Jäger, Georg Heinrich Bronn und Hermann Burmeister auch auf Müllers Arbeiten über den Bau der Echinodermen (1854). Haeckels Grundformenlehre bestand in dem Versuch, über die traditionelle Einteilung der Organismen in radiär-symmetrische, bilateral-symmetrische und irreguläre Formen hinaus, ein auf stereometrischen Prinzipien beruhendes Formensystem zu schaffen, ähnlich der in der Kristallographie üblichen Einteilung in Kristallklassen. Müllers Arbeiten seien in diesem Zusammenhang vor allem deshalb zu beachten, „weil sie das notwendige Ziel einer scharfen stereometrischen Erkenntnis der organischen Formen richtig erkannten und dasselbe in der festen Bestimmung einer allgemeinen Grundform suchten, wenn sie es auch nicht erreichten". 3 3 Die Ursache dafür sah Haeckel darin, daß deren Betrachtungen von den Flächen der Tierkörper ausgegangen seien, nicht aber deren Achsen und Pole berücksichtigt hätten, die maßgeblich die Grundzüge der Tiergestalt bestimmten. Das Haeckelsche System mit 40 auf die Verhältnisse der Körperachsen und -pole begründeten Grundformen war so kompliziert und unpraktikabel, daß es sich ebenfalls nicht durchsetzen konnte. Er hatte mit seinem „promorphologischen System" das weitaus höhere Ziel verfolgt, ein „generelles Formensystem" der gesamten Natur und der vom Men31
Ernst Haeckel, Die Lebenswunder, Stuttgart 1904, S. 55.
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E. Haeckel, Entwicklungsgeschichte einer Jugend, a.a.O., S. 50.
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E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 387.
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sehen geschaffenen Kunstprodukte zu schaffen, was er trotz mehrfacher Versuche der Vereinfachung seines Systems nicht erreichen konnte. Inwieweit Müllers Ausführungen zum Problem der Embryonalentwicklung verschiedener Tiergruppen im achten Buch des Handbuchs auf die Formulierung des Biogenetischen Grundgesetzes Einfluß genommen haben, läßt sich nicht klar entscheiden, da Haeckel selbst sich dazu nicht äußert und ihn an dieser Stelle auch nicht zitiert. Vergleicht man aber die Aussagen beider, dann wird deutlich, wie Haeckel das typologische Konzept von Müller und v. Baer umdeutet und den Kausalnexus zwischen Ontogenese und Phylogenese zum Gesetz erklärt und als Methode phylogenetischer Forschung einführt. Müller lehnte die Auffassung, daß eine Wiederholung von Adultstadien niederer Tiere in der Embryogenese höherer Tiere auftritt, ab und führte aus: „Der Mensch könnte höchstens seinen Verwandten ähnlich seyn, nämlich den Wirbelthieren. [...] Anfangs tragen aber die Embryonen aller Wirbelthiere das Gemeinsame und Einfachste vom Typus eines Wirbelthieres am reinsten an sich, und daher gleichen sich die Embryonen aller Wirbelthiere in der ersten Zeit so sehr, dass es oft schwer ist, sie von einander zu unterscheiden." 34 Haeckel weist in seiner Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen darauf hin: „Neuerdings, nachdem wir auf diese berühmte Typenlehre die Descendenztheorie angewendet haben, sind wir zur Erkenntnis gelangt, daß dieser gemeinsame ,Typus', die Folge der Vererbung ist; alle Tiere eines,Typus' stehen in dem Verhältnisse unmittelbarer Blutsverwandtschaft zueinander, sind Glieder eines Stammes und können von einer gemeinsamen Stammform abgeleitet werden." 3 5 Die vier Cuvierschen Typen (Vertebraten, Articulaten, Mollusken und Radiaten) werden so zu Stämmen oder Phylen, wobei die Radiaten auf Grund neuerer Forschungen in weitere Stämme untergliedert werden. Mit dieser evolutionistischen Umdeutung stellt sich der Kausalnexus für Haeckel wie folgt dar: „Die Ontogenie ist die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenie, bedingt durch die physiologische Funktion der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung)." 36 Dabei betont er, daß dieses Gesetz nicht nur für die embryonale Entwicklung innerhalb der Eihüllen gelte, sondern auch für die Metamorphosen, d. h. die Umbildungen, welche das Individuum nach Verlassen der Eihüllen durchläuft. Wie wichtig das für die Erkenntnis der Stammesgeschichte sei, zeige das Beispiel der Echinodermen, für deren Ursprung die Paläontologie keine ausrei34 35 36
J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S. 716. Ernst Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen, Bd. 1, 5. verb, und verm. Aufl., Leipzig 1903, S. 264. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 2: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen, Berlin 1866, S. 300.
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ERIKA KRAUSSE
chenden Beweise liefere. Hier gebe allein die wunderbare, von Johannes Müller vor 70 Jahren entdeckte „Metamorphose der Echinodermen" befriedigenden Aufschluß. Auch über die Phylogenie der Wirbeltiere und der Gliedertiere seien die wichtigsten Aufschlüsse durch die Metamorphose ihrer Larven und Jugendzustände, ebenso wie durch die embryonalen Umbildungen ihrer Keime zu erhalten. 3 7 Da Müller in seinen Darstellungen von den einfachsten Lebenserscheinungen der niederen Tiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren bis hin zum Menschen verfolgte, war für Haeckel eine evolutionäre Umdeutung leicht möglich. Eine Anlehnung an Müllers Methode zeigt sich besonders in Haeckels Anthropogenie. Wichtige Beweise für sein „Natürliches System auf der Grundlage der Stammesgeschichte" lieferten ihm Müllers Untersuchungen über die Myxinoiden, die Cyclostomata, insbesondere die Arbeit über Branchiostoma lanceolatum oder Amphioxus, das Bindeglied zwischen Chordaten und Vertebraten. Haeckel betonte, daß die unschätzbare Bedeutung, welche Amphioxus (Branchiostoma) als der einzige noch lebende Vertreter der Schädellosen für die Morphologie der Vertebraten besitze, schon 1842 von Müller richtig erkannt worden sei, indem er ihn als Vertreter der Leptocardia, einer niedersten Ordnung der Fische, an den Anfang der Wirbeltierreihe stellte. Haeckel suchte den hohen Wert dieses „Urtypus" für die Stammesgeschichte des Menschen dadurch auszudrücken, daß er in dem ersten Stammbaum-Entwurf von 1866 den Lanzelot oder das Lanzettierchen (Amphioxus lanceolatus) zum Repräsentanten einer uralten Klasse der Acranier erhob. „Der Amphioxus, die niederste Wirbeltierform und die Ascidie, die nächst verwandte wirbellose Tierform", schlußfolgerte er aus deren prinzipiell übereinstimmender ontogenetischen Entwicklung, „stammen beide von einer und derselben ausgestorbenen Stammform ab: Chordaea; diese wird im wesentlichen die Organisation der Chordula besessen haben."· 58 Diese Zitate belegen wiederum das methodische Vorgehen Haeckels, der, wie er im Alter konstatierte, stets zwei Aufgaben vor Augen hatte: einerseits die empirische Erfahrung der einzelnen Objekte, die Kenntnis und genaueste Beschreibung der unmittelbar zu beobachtenden Tatsachen, andererseits deren Beziehung zum Ganzen und die Erkenntnis ihrer Ursachen. Auf weitere Einflüsse Müllers kann im Rahmen dieses Beitrages nicht eingegangen werden. Abschließend soll nur noch das Problem des Haeckelschen Monismus betrachtet werden. Wie schon erwähnt, schließt Haeckel seine methodologische Einleitung der Generellen Morphologie mit der Gegenüberstellung von Dualismus 37
Ernst Haeckel, Fünfzig Jahre Stammesgeschichte. Historisch-kritische Studien über die Resultate der Phylogenie, Jena 1916, S. 110.
38
E. Haeckel, Anthropogenie, Bd. 1, a.a.O., S. 591.
Müller und Haeckel
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und Monismus und entscheidet sich klar für eine monistische Weltanschauung, während Müller diese nur als eine mögliche Weltsicht diskutierte. Inwieweit Haekkel durch die von Müller in seinem Handbuch im Kapitel „Cosmologische Systeme" erörterte Philosophie des Pantheismus 39 beeinflußt wurde, läßt sich nicht nachvollziehen. Er selbst nimmt bei der ersten Darstellung seiner monistischen Auffassungen darauf keinerlei Bezug, sondern beruft sich auf den Linguisten August Schleicher und auf Goethe: „Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unverkennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung, oder wie man ihn sonst bezeichnen mag, ist für die naturwissenschaftliche Anschauung unsrer Tage ein vollkommen überwundener Standpunkt. Für diese giebt es keine Materie ohne Geist (ohne die sie bestimmende Nothwendigkeit), aber ebenso wenig auch keinen Geist ohne Materie. Oder vielmehr es giebt weder Geist noch Materie im gewöhnlichen Sinne, sondern nur Eins das Beides zugleich sei." 40 In der Aufhebung des Gegensatzes von Kraft und Stoff, von Geist und Materie und des auf dieser Antinomie gegründeten Gegensatzes von Erfahrung und Denken durch den Monismus sieht Haeckel das Α und Ο jeglicher wirklichen „Wissenschaft". Aus der immanenten Verbindung von Empirie und Philosophie bei Müller wird bei Haeckel die „vollendete Philosophie der Zukunft", 41 das System seines Monismus, dessen Ausbau Haeckel sein gesamtes Alterswerk widmete. Auch in der Wissenschaftsrhetorik läßt sich ein Unterschied vermerken. Obwohl sich auch hier viele gemeinsame Elemente - wie beispielsweise der argumentative Stil - nachweisen lassen, waren doch Müllers Diskurse stets von kritischer Selbstbeschränkung geprägt, während Haeckel seine Ergebnisse mit unbeirrbarer Selbstgewißheit und Überzeugungskraft vortrug und dabei Müller als Autorität und als seinen Kronzeugen anrief.
39
40 41
Müller stellt hier die Grundzüge des Hylozoismus und Giordano Brunos kosmologisches System der idealistischen Philosophie gegenüber und zitiert Bruno: „Kurz ein Geist findet sich in Dingen und es ist kein Körper so klein, der nicht einen Theil göttlichen Substanz in sich enthielte, wodurch er beseelt wird." (J. Müller, Handbuch, Bd. 1, a.a.O., S.513.) E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 105. Haeckel zitiert hier August Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, Weimar 1863, S. 8. E. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 1, a.a.O., S. 108.
H A N S - U L R I C H LESSING
Dilthey und Johannes Müller Von der Sinnesphysiologie zur deskriptiven Psychologie
Es gehört zweifellos nicht zu den Selbstverständlichkeiten des wissenschaftlichen common sense, von einer Wirkung der Sinnesphysiologie Johannes Müllers auf das Denken Wilhelm Diltheys zu reden, gelten sie doch als ausgesprochen typische Repräsentanten der beiden wissenschaftlichen Kulturen. Müller, der Begründer der modernen Physiologie, „Deutschlands größter Physiologe", wie Benn ihn nannte, 1 markiert den Beginn der exakten naturwissenschaftlichen Forschung in Deutschland. Als Physiologe, vergleichender Anatom und Zoologe zählt er zu den bedeutendsten und angesehensten deutschen Naturforschem des 19. Jahrhunderts. Wie etwa Lange schreibt, wurde Müller „der einflußreichste Bahnbrecher für die streng naturwissenschaftliche Richtung in der Physiologie". 2 Darüber hinaus rechnet man ihn zu den wichtigsten Anregern der experimentellen Psychologie und damit auch zu den Wegbereitern einer naturwissenschaftlich orientierten, „erklärenden" Psychologie; die Emanzipation der Psychologie von der Philosophie - mitbedingt nicht zuletzt durch die Einführung des Experiments in die psychologische Forschung - geht auf seinen Einfluß zurück: die wichtigsten Vertreter dieser Bestrebungen, wie etwa Helmholtz und Wundt, waren Schüler Müllers. Sein Gesetz der spezifischen Sinnesenergien - von Helmholtz als empirische Bestätigung Kants popularisiert - gewann entscheidende Bedeutung in der Erkenntnistheorie und wurde insbesondere für den Neukantianismus bedeutsam. Obwohl Müller, als Zeitgenosse und Schüler Goethes, „auf der Schwelle zwischen der Naturphilosophie der Romantik und der auf den Errungenschaften der exakten anorganischen Naturwissenschaften aufbauenden Experimentalphysiologie" steht, 3 kann man ihn also zweifellos einen der Väter und herausragenden Repräsentanten der modernen exakten Naturwissenschaften nennen.
1
G o t t f r i e d B e n n , G o e t h e u n d die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n (1932), in: E s s a y s u n d Reden in der F a s s u n g der E r s t d r u c k e , hrsg. von B . H i l l e b r a n d , F r a n k f u r t a. M . 1989, S. 18Z
2
Friedrich A l b e r t L a n g e , Geschichte des M a t e r i a l i s m u s u n d Kritik seiner B e d e u t u n g in der G e g e n w a r t , hrsg. von A . Schmidt, B d . 2, F r a n k f u r t a. M . 1974, S. 531.
3
U l r i c h E b b e c k e , J o h a n n e s Müller, der große rheinische Physiologe, H a n n o v e r 1951, S.8.
240
H A N S - U L R I C H LESSING
Demgegenüber erscheint Dilthey geradezu als der klassische Geisteswissenschaftler. Er kommt von der Theologie her und hat sich insbesondere als Schleiermacher-Biograph und Geistesgeschichtler einen hervorragenden Namen gemacht. E r gilt als Begründer der Geisteswissenschaften, mit seinem Namen verbindet sich
das Forschungsprogramm einer Kritik
der historischen
Vernunft,
d.h. einer
erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. Darüber hinaus zählt Dilthey zu den Klassikern der Hermeneutik, ist Anreger einer „verstehenden" Psychologie und hat vor allem durch seine - wie es hieß - „feinsinnigen" literaturgeschichtlichen Aufsätze, zusammengefaßt in seinem erfolgreichsten Buch Das Erlebnis und die Dichtung5, Generationen von Geisteswissenschaftlern beeinflußt. 4
Es scheinen also auf den ersten Blick keine größeren Gegensätze denkbar als diejenigen zwischen Müller und Dilthey. Vergleichbar scheinen beide allenfalls in ihrer wissenschaftlichen Rastlosigkeit, der ständigen Ausdehnung ihrer Forschungsbereiche und der fast sprunghaften Zuwendung zu neuen Arbeitsfeldern. Dieses Bild, das in etwa die verbreiteten Deutungsschemata widerspiegelt, wird nun entscheidend relativiert, wenn man sich die ersten Phasen in Diltheys Entwicklung vergegenwärtigt. Hier zeigt sich Dilthey als jemand, der den neuen naturwissenschaftlichen Bestrebungen wie auch den empiristischen Strömungen in der Philosophie seiner Zeit gegenüber durchaus aufgeschlossen ist. Nun wußte man zwar - nicht zuletzt durch Georg Mischs großen Vorbericht zum Band V von Diltheys Gesammelten Schriften (1924) 6 —, daß der junge Dilthey stark angeregt war durch diesen naturwissenschaftlich-empiristischen Geist der Jahrhundertmitte, aber die ersten Dilthey-Schüler und Herausgeber seiner Schriften interessierten sich nicht so sehr für diese Phase seiner „positivistischen Neigungen" und richteten statt dessen ihren Blick auf den späten, „hermeneutischen" Dilthey, der einen vehementen Kampf gegen die Ubermacht des naturwissenschaftlichen Geistes in der Philosophie und in den Geisteswissenschaften führte, so daß der frühen Phase seines Denkweges in der Forschung lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es bedeutete daher geradezu einen Durchbruch, als Frithjof Rodi mit seiner
4
Vgl. Hans-Ulrich Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften, Freiburg - München 1984.
5
Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing - Goethe - Novalis - Hölderlin. Vier Aufsätze, Leipzig 1906 (15. Aufl., Göttingen 1970).
6
Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, 20 Bde., hrsg. von B. Groethuysen, G. Misch u.a., Leipzig - Berlin 1914ff., Göttingen 1970ff. Im folgenden wird aus den Ges. Sehr, unter Angabe der römischen Bandzahl zitiert.
Dilthey und Müller
241
wegweisenden Untersuchung Morphologie und Hermeneutik7, durch die die neuere Dilthey-Forschung eingeleitet wurde, zeigen konnte, wie wichtig gerade der Naturwissenschaftler Müller für die Konzeption von Diltheys Ästhetik war. Aber nicht nur in der Ästhetik lassen sich die Wirkungen Müllers auf Dilthey nachweisen. So ist insbesondere auch in Diltheys Psychologie - und hier, wie ich zeigen werde, wider alle Erwartung bis zuletzt - der Einfluß von Müller virulent. I. Als Johannes Müller Ende April 1858 überraschend und unter auch heute nicht vollständig geklärten Umständen stirbt, ist der eine Generation jüngere, 24jährige Theologiestudent Wilhelm Dilthey mit Studien zur Kirchengeschichte befaßt. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Untersuchungen zur ältesten christlichen Religionsphilosophie, die - wie er anmerkt - auf eine „Art von Geschichte der Emanationssysteme der 3 ersten Jahrhunderte" hinauslaufen. 8 In der Folge verlegt Dilthey sein Arbeitsgebiet auf die erste Periode der Scholastik, mit dem Ziel, dieses Thema zum Gegenstand einer Dissertation zu machen. Etwa gleichzeitig kommt er durch Ludwig Jonas in Kontakt mit Schleiermachers Nachlaß und ist beteiligt an der Herausgabe von dessen Briefen. Aus diesem Editionsprojekt ergibt sich der Plan zu einer Entwicklungsgeschichte Schleiermachers (Leben Schleiermachers), deren erster Band vollständig erst 1870 vorliegt. Der geplante zweite Band, dessem Abschluß sich Dilthey fast lebenslänglich widmete, bleibt unvollendet; die Fragmente dieses Bandes werden erst 1966 aus dem Nachlaß herausgegeben. Im Jahre 1859 beteiligt sich Dilthey an einer von der Schleiermacherstiftung gestellten Preisaufgabe. Das Thema lautet: „Das eigentümliche Verdienst der Schleiermacherschen Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich von Ernesti und Keil, ins Licht zu setzen." Seine Studie wird preisgekrönt. Diese umfassende Untersuchung, die noch heute zu den klassischen Arbeiten zur Geschichte der Hermeneutik rechnet, wird von Dilthey nicht publiziert und ebenfalls erst aus dem Nachlaß editiert. Diese beiden Arbeitsfelder, die Kirchengeschichte und Schleiermacher, bestimmen die erste Phase von Diltheys wissenschaftlicher Entwicklung. Seine Absicht, mit Untersuchungen zur mittelalterlichen Kirchen- und Philosophiegeschichte zu promovieren und sich zu habilitieren, muß Dilthey allerdings aufgeben. Eine Augenerkrankung zwingt ihn, von diesen Plänen, deren Verwirklichung mit intensiver Lektüre von Handschriften verbunden ist, Abschied zu nehmen. Statt dessen 7 8
Frithjof Rodi, Morphologie und Hermeneutik. Zur Methode von Diltheys Ästhetik, Stuttgart u. a. 1969. Der junge Dilthey Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852-1870, hrsg. von C. Misch, Leipzig - Berlin 1933, S. 70.
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H A N S - U L R I C H LESSING
beschließt er, sich - wie er rückblickend schreibt - „mit der Promotion durch eine sehr oberflächliche Abhandlung über Schleiermachers Ethik abzufinden". 9 Er wird im Januar 1864 promoviert und habilitiert sich nur ein knappes halbes Jahr später aufgrund einer „Untersuchung über die Grundlagen der Ethik" - Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins. Im Wintersemester 1864/65 beginnt Dilthey in Berlin als Privatdozent seine Lehrtätigkeit. Vergegenwärtigt man sich diese erste Periode von Diltheys wissenschaftlicher Biographie, dann wird man dem Hinweis in einer späteren Selbstdarstellung zustimmen müssen, wo Dilthey schreibt: „[Ich] kam von geschichtlichen Studien zur Philosophie." 1 0 Immer wieder hat Dilthey in seinen - allerdings nicht eben zahlreichen - autobiographischen Texten auf den Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere verwiesen, der in historischen Arbeiten lag, und in diesem Zusammenhang zugleich auch die entscheidende Grundlage seiner wissenschaftlichen Existenz genannt: die Historische Schule. So schreibt er etwa: „Ich bin von der Geschichte hergekommen. Als ich hier [in Berlin, H . - U . L.] studierte, umgab mich noch die historische Schule." 1 1 Neben der Historischen Schule - zu Diltheys Lehrern zählten u. a. Boeckh, Ritter, Ranke und Trendelenburg - nimmt aber auch die andere große geistige Bewegung um die Mitte des 19. Jahrhunderts erheblichen Einfluß auf ihn: der Empirismus und die im weitesten Sinn naturwissenschaftlich inspirierte Philosophie. Vor allem die frühe, intensive kritische Beschäftigung mit den empiristischen Theorien von Mill und Buckle - und wohl vermittelt dadurch auch mit Comte - , wie vor allem aber auch die freundschaftliche Auseinandersetzung mit dem heute nahezu völlig vergessenen Völkerpsychologen Moritz Lazarus, zu dessen Berliner Freundeskreis er gehörte, 1 2 bestimmen ganz entschieden den philosophischen Bildungsprozeß des jungen Dilthey. Mit diesen Positionen teilt Dilthey die Ansicht einer - wie Wundt es später einmal vorsichtig formuliert hat - „Anlehnung" der Geisteswissenschaften an die Psychologie. 1 3 Ebenso wie Mill, Lazarus und viele andere Autoren jener Zeit postuliert Dilthey die Notwendigkeit einer „psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften". Die entscheidenden Differenzen betreffen die konkrete inhaltliche Fassung des jeweils zugrundegelegten Begriffs von Psychologie sowie die konkrete Durchführung der geforderten
9 10
Ebenda, S. 283. Ges. Sehr. V I I I , S. 176.
11
Ges. Sehr. V, S. 10; vgl. auch ebenda, S. 7.
12
Vgl. Hans-Ulrich Lessing, Dilthey und Lazarus, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie
13
Wilhelm Wundt, Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologi-
und Geschichte der Geisteswissenschaften 3, 1985, S. 5 7 - 8 2 . schen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, Leipzig 1912, S. l f .
243
Dilthey und Müller
„psychologischen Grundlegung". Einig weiß sich der junge Dilthey allerdings zeitweilig mit diesen Ansätzen in der Hoffnung, mit Hilfe der Psychologie Gesetze des geschichtlichen Lebens aufzustellen, um so zu einer „exakten" Wissenschaft des Geistes zu k o m m e n . 1 4 D e r junge Dilthey steht somit - formelhaft gesagt - im Spannungsfeld von Historischer Schule und Empirismus. Dilthey selbst empfindet sich zu jener Zeit, d. h. in den 60er und frühen 70er Jahren, - wie er später bekennt - in seinem philosophischen Streben gewissen Zielen des Empirismus verwandt. 1 5 Mit Recht konnte man daher - wie etwa Troeltsch und Gadamer - äußern, daß Dilthey zwischen „Positivismus und Romantik" stehe, und es ist sicher auch zutreffend, wenn man geradezu von der „romantisch-positivistischen Doppelnatur des jungen Dilthey" spricht. 1 6 Eine prägnante und aufschlußreiche Schilderung dieser spannungshaften A t m o sphäre im Berlin der frühen 60er Jahre des 19. Jahrhunderts gibt Dilthey im Nachruf auf seinen Jugendfreund, den Germanisten Wilhelm Scherer. Als Scherer an die Berliner Universität kam, so berichtet Dilthey, „überwogen damals noch von ihrer Gründung her die Geisteswissenschaften. Auf Wilhelm von Humboldt, Fr. A . Wolf, Schleiermacher, Hegel, Savigny als ihre nächsten Vorfahren blickten die Gelehrten zurück. Berlin war noch der Sitz der historischen Schule. [ . . . ] Aber die Jüngeren, die sich zu Berlin in den sechziger Jahren zusammenfanden [ . . . ] , hatten nun auch ihr eigenes Leben. [ . . . ] Unter diesen herrschte der Geist einer veränderten Zeit. D i e Erfahrungsphilosophie, wie sie Engländer und Franzosen ausgebildet haben, wurde ihnen durch Mill, C o m t e und Buckle nahe gebracht, und von ihr aus formten sich ihre Überzeugungen. D i e aufstrebenden Naturwissenschaften forderten eine Auseinandersetzung mit denselben, wollte man zu festen Ansichten gelangen."17 Dieser Zug der jungen Generation bestimmt auch die weitere Entwicklung des jungen Dilthey. Mitten in seiner Arbeit am ersten Band des Leben
Schleiermachers
erhält Dilthey Ende 1866 - im vierten Semester seiner Universitätstätigkeit - einen R u f an die Basler Universität. Seine Lehrtätigkeit dort beginnt er im Sommersemester 1867. Diese, allerdings nur kurze, Zeit in Basel - nach nur einem Jahr wird Dilthey nach Kiel berufen - ist für seine intellektuelle Entwicklung von besonderer Bedeutung. Dilthey beginnt seine Lehre mit einem Psychologie-Kolleg - ein Fach, über das er bis dahin noch nicht gelesen hat. Dazu schreibt er in einem Brief vom 10. März 1867 an seinen Freund Scherer: „Ich habe mich entschlossen, Psychologie zu 14 15 16 17
Vgl. u. a. Ges. Sehr. XVIII, S. 206; Der junge Dilthey, a.a.O., S. 50, 81f. Vgl. Ges. Sehr. V, S. 4. F. Rodi, Morphologie und Hermeneutik, a.a.O., S. 60. Ges. Sehr. XI, S. 242f.
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lesen im Sommer, um diesen letzten großen Block, der mir an vielen Stellen die Aussicht versperrte, gleich wenigstens in eine rollende Bewegung zu bringen." 1 8 Dieser selbst auferlegte Zwang, den „letzten Block" Psychologie zum wenigsten „in eine rollende Bewegung" zu bringen, erzeugt bei Dilthey aber keine Lähmung, sondern er erweist sich geradezu als intellektuelles Stimulans. Dies artikuliert er in einem großen autobiographischen Brief vom Mai 1870, ebenfalls an Scherer: „Dort in Basel begann ich mit Anthropologie und Psychologie und erhielt dadurch einen ganz neuen Anstoß. Johannes Müller und Helmholtz faßten mich völlig; ich hörte ein Jahr durch die physiologischen Vorlesungen meines Freundes His und erhielt von ihm Anleitung im Präparieren. Erst im dritten Basler Semester, schon nach Kiel berufen, gewann ich über mich, zu dem Schleiermacher zurückzukehren [ . . . ] . " 1 9 Es verdient also zunächst hervorgehoben zu werden, daß Dilthey, der in seinem späteren Denken energisch Ubergriffe der Naturwissenschaften auf Philosophie und Geisteswissenschaften zurückwies, sich in Basel intensiv und sogar praktisch 2 0 in die Naturwissenschaften seiner Zeit einarbeitet. Insbesondere die Physiologie und die Physik finden sein reges Interesse. Zu Wilhelm His (1831-1904), einem Schüler von Müller, entwickelt sich - wie Diltheys Briefe jener Zeit deutlich machen - eine enge, freundschaftliche Beziehung. Bedeutsam ist nun in diesem Zusammenhang ein Hinweis, den Dilthey in einem Brief an seinen Bruder Karl vom März 1868 gibt. Dort ist zu lesen: „Sonst habe ich viel Physiologie der Sinne mit meinem Freunde und Collegen, dem Physiologen His getrieben. Dabei ist denn auch die fundamentale ästhetische Abhandlung, über der ich brüte, weiter gekommen." 2 1 Bei der hier angesprochenen „fundamentalen ästhetischen Abhandlung" handelt es sich um die erst 20 Jahre später veröffentlichte große Untersuchung Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, die sogenannte Poetik von 188722, über die im folgenden noch zu sprechen sein wird.
18
Der junge Dilthey, a.a.O., S. 233; vgl. auch den Brief vom 2. 1. 1867 an die Eltern, in: Ebenda, S.229.
19
Ebenda, S.283f.
20
Vgl. seinen brieflichen Hinweis: „Die zwei Theorien, welche ich aus meinen physiologischen Studien mitgebracht habe, sind noch unfertig und nichts davon je gesagt." (Ebenda, S. 285.)
21
Ebenda, S. 256.
22
Ges. Sehr. VI, S. 103-241.
Dilthey und Müller
245
II. Diltheys Begegnung mit der zeitgenössischen Sinnesphysiologie insbesondere Müllers, die ihm kompetent durch seinen Freund His vermittelt wird, hat weitreichende Folgen in seinem Denken hinterlassen. Dilthey rezipiert vor allem zwei Theoreme Müllers: zum einen das sogenannte Gesetz der spezifischen Sinnesenergien und zum anderen den Phantasiebegriff, wie er in der frühen Schrift Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen entwickelt ist. 2 3 Zunächst gewinnt Müller Bedeutung für Dilthey dadurch, daß er als einer der ersten Forscher den Zusammenhang physiologischer Vorgänge mit psychischem Geschehen untersucht hatte und damit zu einem entscheidenden Wegbereiter der modernen, naturwissenschaftlich orientierten Experimental-Psychologie geworden war. Im Rückblick auf die wesentlichen naturwissenschaftlichen Leistungen der ersten Jahrhunderthälfte hebt Dilthey in seinem Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie diese Seite des wissenschaftlichen Lebenswerks heraus, indem er schreibt: „In der Physiologie macht Joh. Müller Epoche: physiologische Begründung von der Lehre der Subjektivität der Sinneswahrnehmung; Anfang einer experimentellen, vergleichenden, entwicklungsgeschichtlichen wissenschaftlichen Theorie der Sinneswahrnehmungen [.. . ] . " 2 4 Vornehmlich diese Leistung, die physiologische Begründung der Lehre von der Subjektivität der Sinnesempfindungen, wird von Dilthey entschieden aufgenommen und in seinen eigenen erkenntnistheoretischen Überlegungen im Kontext einer Kritik der historischen Vernunft verwertet. Wie viele seiner Zeitgenossen sieht Dilthey in Müller denjenigen, dem die empirische Verifikation des Kantischen Programms gelungen war. 2 5 Dilthey teilt damit in etwa Langes Auffassung, der sagen konnte: „Die Physiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus, und Kants System kann gleichsam als ein Programm zu den neueren Entdeckungen auf diesem Gebiete betrachtet werden." 2 6 Dementsprechend lassen sich in Diltheys Vorlesungen zur Erkenntnistheorie und Logik wie zur Psychologie der 70er und 80er Jahre sowie noch in seiner späten 23
Johannes Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung, Coblenz 1826; zit. nach dem Neudruck in: U . Ebbecke, Johannes Müller, der große rheinische Physiologe, a.a.O., S. 7 7 - 1 8 7 Zu Diltheys Rezeption von Müllers Phantasiebegriff vgl. vor allem F. Rodi, Morphologie und Hermeneutik, a.a.O., dem das hier Entwickelte vielfach verpflichtet ist.
24
W Dilthey, Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie, hrsg. von H . - G .
25
Vgl. etwa Ges. Sehr. XVII, S. 5.
Gadamer, Frankfurt a. M. 1949, S. 202. 26
Ε Α. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Bd. 2, a.a.O., S. 850.
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System-Vorlesung, aber auch in den Manuskripten aus dem Umkreis seines Projektes einer Kritik der historischen Vernunft die Einflüsse Müllers feststellen, die allerdings auch - wie hier nicht ausgeführt werden kann - entschieden problematische Folgen etwa für Diltheys Verstehenstheorie haben. Jeweils bei der Behandlung des Erkenntniswertes der Empfindungen wird Müllers Gesetz grundsätzlich zustimmend zitiert. Dilthey entnimmt diesem Gesetz, das er als Beweis der von einflußreichen Strömungen der modernen Philosophie vertretenen Lehre von der Phänomenalität der Außenwelt versteht, - kurz gesagt die Widerlegung jeglicher Abbild- oder Widerspiegelungstheorie: Empfindungen sind nicht Abbilder der Reize, sondern deren Folgen, sie sind daher nur Zeichen für die Anwesenheit solcher äußeren Reize. 2 7 Die aus diesem Theorem folgende Möglichkeit einer intellektualistischen Auslegung dieses erkenntnistheoretischen Grundsatzes, den Dilthey in seinem „Satz der Phänomenalität" faßt, 2 8 wird von ihm allerdings scharf abgewiesen. Diese intellektualistische Auslegung des „Satzes der Phänomenalität", die zur „Traumphilosophie", dem Solipsismus führt, 2 9 versucht Dilthey in subtilen erkenntnistheoretischen Erörterungen zu widerlegen. Sein Ziel ist es dabei, die Realität der Außenwelt gegen den Phänomalismus zu beweisen, und er stützt sich dabei auf den Gedanken vom „Widerstandserlebn i s " . 3 0 Damit greift er auf Überlegungen zurück, die u. a. auch von Müller formuliert worden sind. 3 1 Ebenso wie in Diltheys Erkenntnistheorie ist auch in seiner Psychologie der Einfluß Müllers und seiner Schule manifest, wie insbesondere an den PsychologieVorlesungen der 70er und 80er Jahre zu ersehen ist. Dilthey versteht seine Psychologie in diesem Zeitraum als „Erfahrungswissenschaft" und lehnt eine metaphysisch fundierte Psychologie strikt ab. Dabei formuliert er die erstaunliche These: „Die Psychologie kann nicht der Naturwissenschaft untergeordnet werden, aber sie kann nur mit Hilfe der Ergebnisse der Physiologie wissenschaftlich vollendet werden." 3 2 Für Dilthey enthalten somit „die Gesetze der Physiologie unentbehrliche Hilfsmittel für die Psychologie als Erfahrungswissenschaft". 3 3 Dies liegt genau auf der Linie Müllers, der schon in seiner Promo-
27
Vgl. u. a. Ges. Sehr. XVIII, S. 80-87, 100-102; X I X , S. 189-195.
28
Vgl. Ges. Sehr. V, S. 9 0 - 9 2 ; X I X , S. 5 8 - 7 5 ; X X , S. 2 6 4 - 2 7 1 .
29
Ges. Sehr. X X , S. 265.
30
Vgl. bes. Ges. Sehr. V, S. 9 8 - 1 0 5 , 130ff.; X X , S. 2 9 9 - 3 1 0 .
31
Vgl. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen,
32
Wilhelm Dilthey, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Wintersemester 1883/84.
Bd. 2, Coblenz 1840, S.268ff. Nachschrift G. Wallenberg, S. 8. 33
Ebenda, S. 9.
Dilthey und Müller
247
tionsthese sein Credo auf die später berühmt gewordene Formel gebracht hat: „Nemo psychologus, nisi physiologus." Die Bedeutung, die Dilthey der Physiologie bei der Behandlung psychologischer Probleme zumißt, wird besonders deutlich in seiner Analyse der Wahrnehmung. So zeigen Diltheys Untersuchungen der Empfindungen und der Sinnesorgane sehr nachdrücklich seine - allerdings nicht unkritische - Aufnahme des zeitgenössischen sinnesphysiologischen Forschungsstandes. Ein festes Lehrstück in diesem Zusammenhang ist Müllers Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, dem Dilthey in seinen Kollegs nicht selten einen eigenen Paragraphen widmet, ζ. B. mit dem Titel Die Beziehung zwischen den Reizklassen und den Empfindungsqualitäten. Joh. Müllers Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien (so in der Psychologie-Vorlesung vom Wintersemester 1885/86).
III. Nicht nur in seiner Erkenntnistheorie und der Psychologie im engeren Sinne rezipiert Dilthey Müllers Sinnesphysiologie, sondern auch und vor allem in seiner Ästhetik, genauer: in der Poetik. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Müllers schon genannte Jugendschrift Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Ein erster Hinweis auf Müller im Kontext ästhetischer Fragestellungen findet sich in Diltheys Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften von 1865. Dilthey behandelt dort die Ästhetik als - wie er formuliert eine der „realen Wissenschaften des Geistes, vermöge deren nunmehr der Inhalt des Geistes erkannt wird" und führt im § 51 dieses Abschnittes („Analyse der einzelnen Formen der Kunst, von ihrem physiologisch-psychologischen Grunde aus") neben Helmholtz' Lehre von den Tonempfindungen, Goethes Farbenlehre u. a. auch Müllers Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere an. 34 Wie, wann und durch wen Dilthey auf Müller aufmerksam wurde, muß offenbleiben. Es läßt sich nicht mehr feststellen, ob es - wie Rodi es für möglich hält durch die Lektüre von Fechners Elemente der Psychophysik geschah oder durch die Vermittlung seines Lehrers Trendelenburg, der in seinem Hauptwerk, den Logischen Untersuchungen, Müller häufig zitiert, oder vielleicht auch durch den freundschaftlichen Verkehr mit Moritz Lazarus, der - wie dieser selbst berichtet von Müller stark beeindruckt war. 35 Wie nachhaltig Müllers Schrift Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen 34 35
Ges. Sehr. XX, S. 30; vgl. auch Ges. Sehr. I, S. 59; XVII, S. 329. Vgl. Moritz Lazarus, Aus meiner Jugend. Autobiographie, Hrsg. von N . Lazarus, Frankfurt a. M. 1913, S. 117f.
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noch vor der Basler intensiven Aneignung der Sinnesphysiologie mit Hilfe von His auf Dilthey wirkte, wird dokumentiert durch den Aufsatz Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig, den Dilthey unter Pseudonym 1866 in Westermanns Monatshefte veröffentlichte. 3 6 Dieser Aufsatz ist - wie Rodi gezeigt hat - eine popularisierende Zusammenstellung wesentlicher Partien von Müllers Schrift, wobei sich Dilthey auch nicht scheut, teilweise wörtlich der Vorlage zu folgen. Besonders angezogen wurde Dilthey durch Müllers Phantasiebegriff, der seinen eigenen Absichten entgegenkam, dem Wesen der produktiven Einbildungskraft des Dichters auf den Grund zu gehen, um durch die Erkenntnis der elementaren psychischen Prozesse einen Zugang zu der von ihm noch zu dieser Zeit intendierten exakten Wissenschaft des Geistes zu gewinnen. 3 7 Wie Müller lehnt Dilthey entschieden die assoziationstheoretische Erklärung der Phantasie ab und übernimmt den von Goethe stammenden, bei Müller sinnesphysiologisch unterbauten Gedanken der Metamorphose zur Erklärung von Phantasieprozessen. Müllers Gedanke der Bildmetamorphose impliziert die Ablehnung der mechanistischen Assoziationspsychologie, gegen die Dilthey schon früh sein Konzept einer konkreten, deskriptiven Psychologie gesetzt hatte, die er seit Mitte der 60er Jahre auch „Realpsychologie" nennt. 3 8 Besonders der dritte Teil von Müllers Buch („Das Eigenleben der Phantasie") und hier insbesondere der erste Abschnitt, der das „Lebensgesetz für die Metamorphose der Phantasiebilder" behandelt, liefert Dilthey Anregungen und Argumente für seine Absicht, wissenschaftlich dem produktiven dichterischen Vermögen auf die Spur zu kommen. Wenn Müller davon spricht, die „Lebensform der Phantasie" sei „dichtende Vorstellung", 3 9 und versucht, das Lebendige der Einbildungskraft physiologisch zu erklären, so sieht der junge Dilthey hier Stützen für seine eigenen Überlegungen. Insbesondere Müllers Ablehnung der „kläglichen Assoziationsgesetze", die das „Leben der Phantasie" verleugnen, findet Diltheys Zustimmung. Müller nennt diese Assoziationsgesetze „Regeln, die darum schon keine Gesetze sind, weil ihrer viele über dieselbe Sache und weil sie in sich selbst widersprechend Willkür und Zufälligkeit an die Stelle des lebendigen Fortschrittes setzen". 4 0 Diese sogenannten Gesetze verfehlen das „Lebensgesetz der Phantasie": „In den sogenannten Assoziationsgesetzen liegt das Gesetzmäßige bloß in dem Inhalt der Vor-
36
Ges. Sehr. XV, S. 93-101.
37
Vgl. Ε Rodi, Morphologie und Hermeneutik, a.a.O., S. 62f.
38
Vgl. Hans-Ulrich Lessing, Realpsychologie, in: Historisches Wörterbuch der Philo-
39
J. Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 174.
40
Ebenda, S. 175.
sophie, hrsg. J. Ritter und K. Gründer, Bd. 8, Basel 1992 (im Druck).
Dilthey und Müller
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Stellungen, in den Objekten der Assoziation, nicht aber in dem Assoziierenden, in der Phantasie selbst, und die empirische Psychologie wiederholt hier, was sie immer getan hat, sie stellt Beziehungen zwischen den Produkten auf und läßt das Leben des produzierenden Geistes gehen." 41 In der Phantasie ist - so Müller „kein Springen und Hüpfen von Assoziiertem zu Assoziiertem, sondern ein immerwährendes Erweitern und Beschränken des sinnlich Vorgestellten, in dessen kontinuierlichen Fortgang die erinnerten Vorstellungen fallen". 42 Das „Eigenleben der Phantasie" 43 gilt es unverfälscht freizulegen, und so zeigt sich, daß die Phantasie „nach keinem andern Gesetz tätig" ist als nach dem „allgemeinen der Metamorphose". 4 4 Die Phantasie wird nun von Müller - unter Rekurs auf Goethes Metamorphose-Gedanken - bestimmt: sie „erscheint in ihrer höchsten Vollendung, wenn sie ihre Formen nach denselben Gesetzen verwandelt, als die Natur selbst in der Metamorphose der Formen verfährt, in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Formen ein Wesentliches in anderen Beziehungen darstellend". 45 Das heißt: die Phantasie „ist nach denselben Gesetzen wie die Natur tätig, ihr Lebensgesetz ist das der Metamorphose selbst". 46 Diese Bestimmung der Phantasie, bei der Müller sich durchgängig durch Goethe inspiriert zeigt, kehrt fast wörtlich in Diltheys kleinem Aufsatz von 1866 wieder, wo er vom „Gang der entfesselten Phantasie" bei Hölderlin und Lenau spricht und bemerkt: „Es wäre sehr ungenügend, hier von Ideenassoziation zu reden, welche nur durch Ähnlichkeit oder Kontrast geleistet ist. Das ist nicht der Gang einer schöpferischen Phantasie [...]. Dieser Gang liegt vielmehr in der gesetzlichen Metamorphose der Bilder, wie sie Goethe, wo er von der angeborenen Genialität des Dichters [...] redet, so wundervoll darstellt." 47 Bei Müller fand Dilthey also Mittel, die ihm bei seinem Bemühen um die wissenschaftliche Erfassung des Wesens der Phantasie helfen konnten. Die Phantasie war ihm sozusagen ein Paradigma für das Wesen, d. h. die Lebendigkeit des Geistes selbst. Dilthey sah hier die Möglichkeit, die Grundlagen zu einer exakten Wissenschaft des Geistes zu legen, die „von den untersten Vorgängen des Seelenlebens aufwärts" 4 8 streng wissenschaftlich die Gesetze des geistigen Lebens aufbaut. Daß Müllers Phantasiebegriff Diltheys Bemühungen um eine Erfassung der pro-
41 42 43 44 45 46 47 48
Ebenda. Ebenda, S. 178. Ebenda, S. 179. Ebenda, S. 181. Ebenda, S. 182. Ebenda. Ges. Sehr. XV, S. lOOf. W Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, a.a.O., S. 130.
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duktiven Einbildungskraft fortwirkend mitbestimmt hat, läßt sich durch alle weiteren Texte zur Poetik verfolgen. Besonders deutlich faßbar wird dies in der Poetik von 1887, deren erste Entwürfe - wie schon erwähnt - in Diltheys Basler Zeit entstanden. Im Mittelpunkt dieser Abhandlung steht der Versuch einer „psychologischen Erklärung des dichterischen Schaffens", wobei der Metamorphosegedanke eine entscheidende Rolle spielt. 4 9 In einem Brief an seinen Freund, den Grafen Yorck von Wartenburg, bemerkt Dilthey dazu: „Unter Metamorphose der Einzelvorstellungen verstehe ich, daß die Einzelvorstellung, das Bild nicht ein constantes Atom des Seelenlebens ist, sondern ein unter wechselnden Bedingungen auftretender Vorgang, und zwar wirkt die Vertheilung der Gefühlserregung in dem einzelnen Bilde Verstärkung der Intensität einzelner Bestandteile, Ausdehnung, Verschiebung der Theile. Vorstellungen ändern sich also nicht nur von außen, gleichsam in ihren Relationen, während sie selber fest bleiben, sondern sie sind Agenden, Vorgänge, die je nachdem aus dem Inbegriff der Erregungsvertheilung ihnen Gefühlserregung zuwächst innere Veränderung erleiden. [ . . . ] Da diese Sätze bewiesen werden können, da die ganze innere Gehirnphysiologie und -pathologie dasselbe Ergebniß in ihrer Art hat: ist die psychische Atomistik nicht mehr zu halten und muß einer lebendigeren Psychologie Platz machen." 5 0 Die Argumente für eine lebendigere Psychologie stammen, wie unschwer zu bemerken ist, aus dem Fundus von Müllers Phantasietheorie. Wie sehr nun Dilthey in seiner Poetik seinen „positivistischen Neigungen" nachgibt und mit seiner Psychologie des dichterischen Schaffens - gegen seine eigentliche Intention und trotz seines Plädoyers für eine nicht-atomistische Psychologie - in die Nähe der von ihm strikt abgelehnten „erklärenden Psychologie" gerät, zeigt auch ein Brief vom Dezember 1886, ebenfalls an Yorck. Dilthey berichtet darin von seiner Arbeit an der Poetik und bemerkt: „Ich habe gezögert daranzugehen, definitiv zu schreiben, da ich stets glaubte eine Entdeckung wie die des Lautgesetzes auf dem Gebiet der Grammatik in Folge meiner analytisch hergestellten Elementarvorgänge nun machen zu können: sie schwebte vor mir her: ich muß indeß darauf verzichten sie zu erzwingen, sondern hoffen, daß später ein glücklicher Augenblick mich beschenkt." 5 1
49
Vgl. Ges. Sehr. V I , S. 176, 99.
50
Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg
51
Ebenda, S. 64.
1877-1897, hrsg. von S.v. d. Schulenburg, Halle (Saale) 1923, S . 5 8 .
Dilthey und Müller
251
IV Daß Dilthey diese Annäherung an die „erklärende Psychologie" später als entschieden zu weitgehend empfand, zeigt sich an seinen Umarbeitungsplänen der Poetik aus den Jahren 1907/08. Nach diesen Plänen sollte die Poetik tiefgreifend verändert und insbesondere die erklärend psychologischen Partien radikal eliminiert werden. 52 So war u. a. vorgesehen, das zentrale Kapitel „Versuch einer psychologischen Erklärung des dichterischen Schaffens" „umzuarbeiten nach Strukturpsychologie", wie Dilthey in einer Anweisung notiert. 53 Das Programm zu einer solchen Strukturpsychologie, die radikal gegen die „erklärende Psychologie" gerichtet ist, hatte Dilthey 1894 mit seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie vorgelegt. 54 Mit dem Begriff „erklärende Psychologie" bezeichnet Dilthey die zeitgenössische naturwissenschaftlich orientierte Psychologie. Diese „erklärende Psychologie" ist ein Spezialfall erklärender Wissenschaft. Dilthey versteht darunter „jede Unterordnung eines Erscheinungsgebietes unter einen Kausalzusammenhang vermittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen (d. h. Bestandteilen des Zusammenhangs)". 55 Demzufolge versucht die erklärende Psychologie einen „Kausalzusammenhang" aufzustellen, „welcher alle Erscheinungen des Seelenlebens begreiflich zu machen beansprucht. Sie will die Konstitution der seelischen Welt nach ihren Bestandteilen, Kräften und Gesetzen genauso erklären, wie die Physik und Chemie die der Körperwelt erklärt." 56 Entscheidend ist also für jede Version von erklärender Psychologie die Intention einer Kausalerkenntnis psychischer Phänomene und Prozesse, die ihre Basis hat in eindeutig bestimmten psychischen Elementen, Atomen gleichsam des seelischen Lebens. Wesentlich ist also ihr „synthetischer oder konstruktiver Gang". 5 7 Dilthey bezeichnet sie daher auch als „konstruktive Psychologie". 58 Dilthey bestreitet nun unter Berufung auf seine Grundansichten - „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir." 59 - die Möglichkeit einer solchen Psychologie und setzt dagegen eine neue, „beschreibende und zergliedernde Psychologie". Er versteht darunter „die Darstellung der in jedem entwickelten 52 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. Ges. Sehr. VI, S.310ff. Ebenda, S. 312. Ges. Sehr. V S. 139-237. Ebenda, S. 139. Ebenda. Ebenda, S. 158. Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 144.
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menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist." Ihr Gegenstand sind „Regelmäßigkeiten im Zusammenhange des entwickelten Seelenlebens". „Jeder von ihr benutzte Zusammenhang" kann - und dies macht nach Dilthey ihre Bedeutung aus - „durch innere Wahrnehmung eindeutig verifiziert werden", ein jeder solcher Zusammenhang kann „als Glied des umfassenderen aufgezeigt werden [...], der nicht erschlossen, sondern ursprünglich gegeben i s t " . 6 0 Entscheidend für Diltheys Konzeption ist also der Ausgang „vom erlebten, ursprünglich und mit unmittelbarer Mächtigkeit gegebenen Zusammenhange". 6 1 Diese von Dilthey postulierte deskriptive Psychologie ist somit eine „verstehende" Psychologie, sie klärt dasjenige analytisch-begrifflich auf, was man immer schon weiß, da man es erlebt; sie läßt sich ihre Kategorien nicht „von außen" vorgeben, sondern gewinnt sie aus dem „Leben selbst". Das Ziel einer so bestimmten beschreibend-zergliedernden Psychologie ist die „unbefangene und unverstümmelte Auffassung des Seelenlebens", was bedeutet: „Die volle Wirklichkeit des Seelenlebens muß zur Darstellung und tunlichst zur Analysis gelangen [.. . ] . " 6 2 Methodologisch heißt dies: „Die Psychologie muß den umgekehrten Weg einschlagen, als den die Vertreter der Konstruktionsmethode gegangen sind. Ihr Gang muß ein analytischer, nicht ein konstruktiver sein. Sie muß vom entwickelten Seelenleben ausgehen, nicht aus elementaren Vorgängen dasselbe ableiten." 6 3 Somit stehen Auffassung, Beschreibung und Analyse der Totalität des entwikkelten Seelenlebens im Zentrum der von Dilthey geforderten deskriptiven Psychologie. Die Bedingung der Möglichkeit dafür liegt in der spezifischen Weise, wie uns Seelenleben gegeben ist. Die Naturobjekte erkennen wir - so Dilthey - „von außen", durch die Leistungen unserer Sinne; Zusammenhang - etwa von Ursache und Wirkung - wird zwischen diesen Objekten nur durch eine im Erkenntnissubjekt stattfindende Synthesis gestiftet. Die innere Wahrnehmung dagegen, durch die uns die psychischen Vorgänge und Zusammenhänge gegeben sind, beruht auf einem „Innewerden, einem Erleben", das heißt: „sie ist unmittelbar gegeben". 6 4
60
Ebenda, S. 152; vgl. Hans-Ulrich Lessing, Psychologie, beschreibende und zergliedernde, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1653-1655.
61
Ges. Sehr. V, S. 153.
62
Ebenda, S. 168.
63
Ebenda, S. 168f.
64
Ebenda, S. 170.
Dilthey und Müller
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Dieses psychologische Programm, das Dilthey in der Folge in Richtung auf eine „Strukturpsychologie" weiter ausbildet, gibt also den Hintergrund ab für die geplante Umarbeitung der Poetik, zu der es aber nicht mehr gekommen ist. E s markiert einen deutlichen Abstand zu seinen Versuchen einer Erklärung der produktiven Einbildungskraft, die durch Müllers Phantasiebegriff inspiriert waren. N u n gibt es allerdings einen Text Diltheys, in dem dieser Abschied von den positivistischen Neigungen des frühen und mittleren Dilthey relativiert wird. Gemeint ist eine Passage des großen Aufsatzes Das Wesen der Philosophie, der 1907 veröffentlicht wird, 6 5 also just zu der Zeit, als Dilthey so radikal die erklärende Psychologie aus seiner Poetik ausmerzen wollte. Dieses sehr bedeutsame Textstück ist - soweit ich sehe - bislang bei der Beschäftigung mit Diltheys Psychologiekonzeption nicht oder nur selten herangezogen worden. Die Rede ist hier von den beiden Formen von „Regelmäßigkeiten im Seelenleben", die die Psychologie zu berücksichtigen habe. Wegen der besonderen Bedeutung sei der erste, hier interessierende Teil des Textes vollständig wiedergegeben. Dilthey skizziert seine Bestimmung der deskriptiven Psychologie und äußert in diesem Zusammenhang, daß die „Regelmäßigkeiten im Seelenleben", also der Forschungsgegenstand der Psychologie, „von zweierlei A r t " seien: „[1.] D a s Seelenleben zeigt Gleichförmigkeiten, die an den Veränderungen in ihm festgestellt werden können. In bezug auf diese verhalten wir uns ähnlich wie gegenüber der äußeren Natur. Die Wissenschaft stellt sie fest, indem sie aus den zusammengesetzten Erlebnissen einzelne Prozesse aussondert und Regelmäßigkeiten an denselben induktiv erschließt. So erkennen wir die Prozesse von Assoziation, Reproduktion oder Apperzeption. Jede Veränderung ist hier ein Fall, der in dem Verhältnis der Unterordnung unter die Gleichförmigkeiten steht. Sie bilden eine Seite des psychologischen Erklärungsgrundes für die geistigen Erzeugnisse: so enthalten die eigentümlichen Bildungsprozesse, in welchen Wahrnehmungen zu Phantasiebildern sich umbilden, den einen Teil der Erklärungsgründe für Mythos, Sage, Legende und künstlerisches Schaffen. [2.] Die Vorgänge des Seelenlebens sind aber noch durch eine andere Art der Beziehung miteinander verbunden. Sie sind als Teile z u m Zusammenhang des Seelenlebens vereinigt. Diesen Zusammenhang nenne ich die psychische Struktur." 6 6 Dies heißt, daß Dilthey in der Zeit seiner größten Müller-Ferne den Sinnesphysiologen sozusagen hinterrücks wieder in seine - nun nicht unerheblich modifizierte, d. h. erweiterte - psychologische Konzeption hereinholt. Zwar nennt Dilthey hier keine Namen, doch ist unzweideutig, auf wen mit der Wendung von den „eigentümlichen Bildungsprozessen, in welchen Wahrnehmungen zu Phantasiebil65 66
Ges. Sehr. V, S. 339-416. Ebenda, S. 372f.
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dem sich umbilden" und die „einen Teil der Erklärungsgründe für Mythos, Sage, Legende und künstlerisches Schaffen" enthalten, angespielt wird: auf niemanden anderes als auf Johannes Müller, dessen nahezu lebenslängliche, aber durchaus spannungsvolle Wirkung auf Dilthey damit offenbar wird.
URSULA BAATZ
Die Sinne und die Wissenschaften Zur Erkenntnistheorie bei Johannes Müller und Ernst Mach
Wer um die Mitte oder gegen Ende des 19. Jahrhunderts sich in irgendeiner Weise mit Physiologie befaßte, konnte die Arbeiten Johannes Müllers nicht übersehen. Daß Ernst Mach, der „Großvater" des Wiener Kreises, einer derjenigen war, die aus Müllers Werk Wesentliches übernahmen, ist bis jetzt nicht wirklich thematisiert worden. Offensichtlich übernommen hat Mach von Müller die nativistische Auffassung des Raumes, das Konzept der Sinnesenergien, die Theorie der Innervationsgefühle, die Mach später jedoch aufgab, und das Wahrnehmungskonzept der Phantastischen Gesichtserscheinungen.1 Damit ist aber nicht geklärt, welche Bedeutung den Gedanken Müllers in den theoretischen Konzeptionen von Ernst Mach zukommt. Während Müller aus dem Umkreis der romantischen Naturphilosophie kommt, wird Mach unter die Vorläufer des Positivismus eingereiht und ist selbst dezidiert gegen jede Metaphysik eingestellt. Der Positivismus des Wiener Kreises vertritt gegenüber der Metaphysik einen sprachkritischen Standpunkt. Die Sätze der Metaphysik sind, so Carnap, nicht falsch, sondern sinnlos, weil entweder in syntaktischer oder semantischer Hinsicht falsch. Mach dagegen gibt für seine antimetaphysische Einstellung eine andere Begründung und gleichzeitig auch eine Genealogie mit. Im ersten Paragraphen seiner „Antimetaphysischen Vorbemerkungen" zur Analyse der Empfindungen nennt er sein Programm. Worauf er hinaus will, ist eine Physiologie der Sinne, die zwar einerseits auf die Unterstützung durch die Physik zurückgreift und diese mit ihren Resultaten unterstützt, andererseits ihre „eigentümliche Entwicklung fortsetzen" kann, die mit der Methode, wie sie „von Männern wie Goethe, Schopenhauer u. a., mit größtem Erfolge aber von Johannes Müller" eingeschlagen wurde, nämlich „die Empfindungen an sich zu untersuchen". 2 Machs Kritik der Metaphysik ist also eine Hinwendung zur Sinnlichkeit und kein primär sprachkritisches Unternehmen. Ernst Mach, gelesen mit der Brille des Positivismus, ist ein
1 2
John Blackmore, Ernst Mach, His Life, Work and Influence, Berkeley 1972, pp. 55f. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 2. Aufl., Jena 1900, S. 1.
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Ursula Baatz
anderer als Ernst Mach, gelesen mit der Brille jener, die auf ihn großen Einfluß hatten, w i e eben Müller oder auch Fechner. Metaphysisch, also der Kritik zu unterziehen und „bei genauer Beobachtung der Veränderlichkeit" 3 unhaltbar, sind für Mach Begriffe w i e Ich, Seele, Substanz, also Begriffe, die für Müller Bedeutung haben, und zwar im Zusammenhang der Physiologie als theoretische Konzepte. Wo also kann der Konvergenzpunkt zwischen einem Metaphysiker und einem Antimetaphysiker liegen? Deutlich sichtbar wird dieser Konvergenzpunkt in Machs vielreproduzierter Zeichnung von der „Selbstanschauung des Ich". Diese Zeichnung ist nämlich keine graphische Umsetzung von Müllers philosophischem Ansatz der Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes,4 sondern die graphische Wiedergabe einer Stelle aus Müllers Handbuch der Physiologie^: „Wenn w i r mit einem Auge sehen, so wird die eine Seite des Sehfeldes vom Bilde der einen sichtbaren Seite der Nase eingenommen. [ . . . ] Bilder von Theilen unseres Körpers können also in der ganzen Peripherie des Sehfeldes erscheinen, und z w i schen den Bildern von unsern Körpertheilen liegen dann die Bilder der äussern Gegenstände. Wenn wir mit einem Auge sehend die Nasenspitze fixiren, so ragt das Bild der Nase von der einen Seite des Sehfeldes bis in die Mitte. [ . . . ] Wird das Auge mehr nach abwärts gewandt, so erscheint am untern Theil des Sehfeldes nicht mehr bloss die Nase, die Wangen und die Lippen, sondern auch der Rumpf und die Extremitäten. Bei jeder Stellung des Auges aber sieht es immer einen Theil unseres Körpers, der eine bestimmte Stelle in der Peripherie des Sehfeldes oben oder unten oder an den Seiten einnimmt, und das Bild unserer Körpertheile macht einen integrirenden Theil der meisten Gesichtsempfindungen und Gesichtsvorstellungen aus. Obgleich die Bilder unseres Körpers auch nur auf dem Sehfelde unserer Netzhaut abgebildet, und von diesem aus dem Sensorium präsentiert werden, so legt ihnen das Sensorium mit derselben Sicherheit wie den Bildern äusserer Gegenstände Objectivität bei." Mach gibt in seiner Zeichnung nur das phänomenal Erfaßbare wieder, nicht aber Müllers Interpretationen. Der Grund: „Schon bei Johannes Müller finden w i r einen Ansatz zu ähnlichen Betrachtungen. Sein metaphysischer Hang hindert ihn
3 4 5
Ebenda, S. 4. Dies wird nahegelegt durch Manfred Sommer, Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt a. M. 1987, S. 33. Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Bd. 2, Berlin 1840, S. 356.
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aber, dieselben konsequent zu Ende zu führen." 6 Müller beschreibt in dieser mittels Zeichnung zitierten Stelle den Körper als ein Außending, das auf der Netzhaut abgebildet wird, und so wird alles zum scheinbaren Bild: „Genau genommen ist das Bild unserer Hand, das wir sehen, nicht die Hand selbst, sondern nur ihr Schein. Wir greifen nach Etwas, und indem wir diess thun, geschieht im Bilde des Sehfeldes und der Netzhaut dasselbe, wir sehen, dass wir greifen, indem der Schein unserer Hand den Schein des Objectes ergreift." 7 Was Müller teils im Idiom des Idealismus, teils in dem Repräsentationsmodell, dem alles zur Vorstellung und im weiteren zum Schein wird, darstellt, gibt Mach in einer anderen, an einer Sprechgewohnheit der empirischen Wissenschaften geschulten Weise wieder. Er analysiert zunächst anhand der Zeichnung das Verhältnis von Physik und Psychologie bzw. Physiologie: „Beobachte ich ein Element Α im Gesichtsfelde, und untersuche dessen Zusammenhang mit einem anderen Element Β desselben Feldes, so komme ich aus dem Gebiet der Physik in jenes der 6 7
E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, a.a.O., S. 19. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 356f.
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Physiologie oder Psychologie, wenn Β, um den treffenden Ausdruck anzuwenden, den ein Freund gelegentlich beim Anblick dieser Zeichnung gebraucht hat, die Haut passiert." 8 Diese Elemente sind Töne, Farben, Drücke, Räume, Zeiten usw. Das Primäre sind diese Empfindungen. U n d es kommt nun auf die Betrachtungsweise an, ob sie physikalisch oder physiologisch oder psychologisch gesehen werden. Die Elemente treten gewöhnlich nicht einzeln auf, sondern als Empfindungskomplexe, die dann „besondere Namen erhalten und als Körper bezeichnet werden". 9 Dies alles gilt auch für das Ich. So fällt für Mach der Gegensatz zwischen Ich und Welt, Empfindung und Ding weg - es sind Komplexe von Elementen, die aus Gründen praktischer Notwendigkeit und vorläufiger Orientierung mittels Begriffen eingeteilt und segmentiert werden. Es versteht sich, daß damit auch der Gegensatz von „Außenwelt" und „Innenwelt" aufgehoben ist - in jedem Fall kann nur von Empfindungen die Rede sein, denn diese Empfindungselemente, so Mach, sind das einzige für uns Beobachtbare, Gegebene; alles andere ist hypothetisch, metaphysisch und daher müßig. Ein Repräsentationsmodell ist also hier nicht angemessen; aber auch das idealistische Modell paßt nicht, selbst nicht als Inversion. 1 0 Machs Fortführung von Müllers durch „metaphysischen H a n g " behinderter Analyse gewinnt ihre „Konsequenz" nicht zuletzt aus der Fortentwicklung der empirischen Wissenschaften, aber auch aus den großräumigen Veränderungen, die das 19. Jahrhundert charakterisieren. Ins Auge springt zunächst die industrielle Revolution, die den Lauf des Jahrhunderts entscheidend prägt: Telegraph, Eisenbahn, Gas, elektrisches Licht, Telephon, aber auch Trommelrevolver, Schreibmaschine und Kinematograph sind Neuerungen, die die Physiognomie des gesellschaftlichen Lebens allmählich, aber grundlegend verändern. Gleichzeitig damit verändert sich auch die Wissenschaft vor allem in den Sparten, die mit dem Leben zu tun haben. Die Physiologie wird eine Wissenschaft, die Lebendiges nach Modellen der Mathematik, Physik und Chemie zu rekonstruieren sucht. Mit der Harnstoffsynthese durch Wöhler war der Nachweis gelungen, daß auch im Bereich des Organischen Analyse und nachfolgende Rekon-
8 9 10
E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, a.a.O., S. 13. Ebenda, S. 2. M. Sommer, Evidenz im Augenblick, a.a.O., vertritt die These, daß Mach als „Inversion der Gnosis" zu verstehen sei. Das heißt, daß er die Tendenz zur Entweltlichung, die für die Gnosis Erlösung bestimmt, umkehrt zu einer Verweltlichung, die Erlösungscharakter hat. Dies scheint aber nicht nur im Hinblick auf die Müller-Rezeption bei Mach fragwürdig. Vgl. Ursula Baatz, Ernst Mach und der Buddhismus, in: Conceptus 56 (12), 1988, S. 19-33.
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struktion möglich ist. Damit muß das Phänomen des Lebendigen nicht auf eine „Kraft" als Ursache zurückgeführt werden, sondern kann nach Faktoren und Bedingungen analysiert werden. So ist die Zurückweisung des Ausdrucks „Lebenskraft" zur Erklärung physiologischer Vorgänge in dem einschlägigen Artikel Rudolf Lotzes in Wagners Handwörterbuch der Physiologie ein folgerichtiger Schritt. Obwohl sich die Lebensdaten von Mach und Müller überschneiden - Müller lebte 1801-1858, Mach 1838-1916 leben sie in verschiedenen Welten. Das betrifft sowohl die politische Szene - Mach ist Parteigänger der Sozialisten und fortschrittlichen Kräfte, Müller mehr dem Bestehenden zugewandt - als vor allem das, was man seit Husserl „Lebenswelt" nennt. Für einen Wissenschaftler betrifft dies aber nicht nur die persönlichen Lebensbedingungen, sondern auch seine Arbeit. Ohne dies hier näher ausführen zu können, sei darauf hingewiesen, daß sich Stil und Methode wissenschaftlicher Arbeit gerade in den Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert grundlegend wandeln. Daß Physik und Chemie, also Wissenschaften, die sich zunächst mit unbelebten Körpern befassen, zu Grundlagenwissenschaften für die Medizin und Physiologie werden und damit eine durchgehende Mathematisierung als möglich erscheint, auch wenn sie sich de facto als nicht durchführbar erweist, ist nur ein Zug in diesen Veränderungen. Anatomie und Pathologie, die für die Medizin eine Fülle neuer Erkenntnisse bringen, befassen sich ebenfalls mit - nicht mehr belebten - Körpern. Mit Körpern, und zwar insofern sie abzählbar sind, befaßt sich auch die Statistik, die eine zunehmende Rolle schon in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus erhalten hat, sowohl für volkswirtschaftliche als auch militärische Planungen der Bewegung der stark zunehmenden Bevölkerung. Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinen statistische Verfahren für die Medizin zwar als umstrittene, jedoch für das Gesundheitswesen wie auch für die Ätiologie von Krankheiten notwendige Methode. 1 1 Für die wissenschaftliche Methode bedeutet dies eine grundlegende Änderung. Denn bis dahin hatte die aristotelische Logik, nach der das Einzelne in eine Stufenfolge immer höherer Allgemeinbegriffe - der „porphyrische Baum" - einzuordnen ist, die Vorgehensweise bestimmt. Dabei ist die Form des Einzelnen — eines Tiers, einer Pflanze, eines Menschen - das, was in der Prädikation in Beziehung zu anderen Formen oder zu allgemeineren Begriffen gesetzt wird. Die Statistik dagegen ist „eine Beobachtungsweise, welche das Individuelle absichtlich verwischt, ignoriert und nur die wesentlichsten, am stärksten zusammenhängenden Umstände ins Auge faßt". 1 2 Menschen werden so unter Absehung von ihrer individuellen Lebensgeschichte und von ihren Entschlüssen en masse erfaßt. Ein Fremd11
Alfons Fischer, Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, 2 Bde., Berlin 1933 (Nachdruck: Hildesheim 1966), Bd. 2, S. 304, 344.
12
Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, 4. Aufl., Leipzig 1920, S.28.
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Ursula Baatz
Wörterbuch des ausgehenden 19. Jahrhunderts vermerkt zum Begriff Masse: „die Menge, der Stoff, Klumpen, Teig, Haufen; der Bestand, das Ganze eines Körpers, insofern derselbe als aus gleichartigen Theilen zusammengesetzt (also mehr mechanisch, als chemisch) betrachtet wird". 13 Die Denkform ist nicht mehr am Modell von Substanz und Akzidens orientiert, sondern an mathematischen Funktionsausdrücken, die Relationen angeben, in die Variable eingesetzt werden können. Diese Relationsausdrücke geben zugleich - ζ. B. im Falle der Bevölkerungsstatistik - eine prognostische Regel für das Verhalten der Bevölkerung an, in der sowohl die durchschnittlichen, „normalen" Fälle berücksichtigt werden als auch die „anomalen". Anomal ist, was von der Norm abweicht. Das, was Norm und damit Regel ist, ergibt sich aus dem statistischen Durchschnitt, der zugleich auch als Wertmaßstab fungiert. Auch in der um die Jahrhundertmitte beginnenden Serienproduktion gibt es eine Norm, die die durchschnittlich zulässige Abweichung der Maße der einzelnen Teile eines Werkstücks festlegt, d. h. den Spielraum, in dem Abweichungen die Funktionsfähigkeit des Produkts nicht beeinträchtigen. Die Festlegung von Normmaßen (die „Meter"-Konferenz fand 1875 in Paris statt) führte zum Verschwinden der vielen verschiedenen Maßsysteme, die es bis dahin gegeben hatte. Nicht zuletzt für die Experimente an Lebendigem wurde durch diese Normierung der Bau von Apparaten möglich, bei denen Versuche unter vergleichbaren Bedingungen durchgeführt wurden und daher zu vergleichbaren Resultaten führten. Damit - und dies bedürfte einer ausführlicheren Darstellung als hier möglich - wurde eine weitere Voraussetzung dafür geschaffen, Lebendiges und auch den Menschen darzustellen wie mechanische und maschinelle Abläufe. 14 Dieser Wandel zeigt sich deutlich z.B. im Bereich der Psychologie. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts war die „Lehre von der Seele" ein Teil der Philosophie und orientierte sich an einer Denktradition, die von „Allgemeinem" und „Einzelnem" ausging. Der Fokus der Wahrnehmung aber verlagerte sich zunehmend auf die als Masse erscheinende Welt der Körper, und auch die Psychologie begann sich am Vorbild der Mathematik zu orientieren bzw. Methoden der Physiologie zu übernehmen. Der Begriff „Seele" - Müller konnte dieses Wort noch problemlos für Erklärungen benutzen — erfuhr einen Bedeutungsschwund. Die alte, philo13 14
Johann Christian August Heyse, Allgemeines und erklärendes Fremdwörterbuch, 16. Aufl., Hannover 1879. Vgl. dazu die wissenschaftshistorischen Beiträge in: Jean Clair/Cathrin Pichler/Wolfgang Pircher (Hrsg.), Wunderblock: Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989. Der Hinweis auf die Rolle der Massenproduktion stammt aus einem Gespräch mit Friedrich Kittler. Vgl. dazu Ursula Baatz, Wir Kinder der Vergangenheit - das 19. Jahrhundert und wir. ORF-Radiokolleg, 21.-24. März 1991.
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sophische Psychologie sah das Seelenleben in den Vermögen der Seele am Werk, also in der Wahrnehmung, dem Willen, dem Denken etc. U m die Mitte des 19. Jahrhunderts ist „Seele" nur noch ein „phänomenologischer Ausdruck" für Erscheinungen, die über den physikalischen und physiologischen Befund hinausgehen. Die neuen Methoden der Psychologie, nämlich empirische, d. h. statistische Methoden, geben neue Erklärungen für die Phänomene der Wahrnehmung, des Denkens und des Willens, die zwar vielleicht nicht immer befriedigend sind, aber jedenfalls ohne das Wort „Seele" plausible Erklärungen liefern können. U m die einzelnen Lebensgeschichten und Entschlüsse, die auf diese Weise außer Sicht geraten, bemüht sich dann die Psychoanalyse, und zwar zunächst dann, wenn diese Lebensgeschichten nicht mehr normal, sondern pathologisch, also von der Norm abweichend verlaufen. Wenn Mach also Müllers Deskription in seiner Zeichnung umsetzt, dann deswegen, um die idealistische Formulierung einer „Selbstanschauung des Ich" durch den Verweis auf einen konkreten Körper - seinen, Machs Körper - zu klären. Das Wort „Ich", das Mach in seinen Schriften häufig verwendet, da er oft Phänomene aus eigener Erfahrung schildert, ist kein metaphysischer Ausdruck, sondern begriffsökonomisches Handwerkszeug, das den komplizierten Verweisprozeß, der dieses deiktisch gebrauchte Wort 1 5 ersetzen müßte, abkürzt. Müller dagegen entwickelt seinen Begriff des „Ich" am Modell des Körpers. Erstens ist das Ich ein Subtraktionsprodukt: „Das Ich kann der meisten Glieder des Organismus entäußert seyn und es ist noch ebenso ganz wie vorher." Zweitens entwickelt sich das „empfindende, selbstbewußte Ich" aus dem Gegensatz zu etwas Bestimmendem, nämlich zuerst dem Uterus und später dem Widerstand der Körperwelt, sowohl des eigenen als auch des fremden: Im letzteren Fall erweckt „das berührende Glied die Vorstellung keiner dem Ich unterworfenen und zum lebendigen Ganzen gehörigen Theile". 1 6 Müller trennt also „Ich" und „Körper" tendenziell, doch nicht mit cartesianischer Strenge, sondern eher als Teil einer Dialektik des Selbstbewußtseins. Mach dagegen ebnet die Differenz zwischen „Geist" und „Materie" ein, indem die Empfindungselemente beides umfassen. N u n hält aber Mach trotz seines Monismus die Hautgrenze zwischen eigenen und anderen Körpern aufrecht, die Grenze U , die den Übergang zwischen dem Ich im engeren Sinn und dem Ich im weitesten Sinn ausmacht; jene Grenze, die nötig ist, um konstatieren zu können, daß z . B . zwei Forscher miteinander arbeiten. 1 7 Die Differenz zwischen den Körpern wird daher nicht eingeebnet, sondern nach 15 16 17
Elmar Holenstein, Menschliches Selbstverständnis, Frankfurt a. M. 1985, S. 72. J. Müller, Handbuch, Bd. 2, a.a.O., S. 269. E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 11.
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einem Modell dargestellt, dessen Grundlagen aus Müllers Konzeption der Sinnesenergien kommen. Wie bedeutsam dieses Konzept der Sinnesenergien und überhaupt Müllers Grundsatzüberlegungen zum Thema „Sinne" für Mach waren, läßt sich den Notizbüchern von Mach entnehmen. In dem Notizbuch 50, dem Manuskript der Vorlesung über „Sinnesempfindungen" aus dem Jahr 1896, notiert Mach unter der Uberschrift „spezifische Ideen": „Phantastische Gesichtserscheinungen (1826), 3 - 5 , 6-7, 8, 10; Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes (1826), 39-40, 42, 44-45; Handbuch (1840) [d. i. der zweite Band], 250-272." Er fügt die Bemerkung hinzu: „Physiologischer und philosophischer Gehalt der Lehre." 1 8 Müllers Konzept der spezifischen Sinnesenergien ist einerseits physiologisch begründet, andererseits aber in eine Theorie des Selbstbewußtseins eingebunden. Damit erhält die aristotelisch anmutende Rede von einer Sinnes-„Energie" eine durchaus unaristotelische Wendung. Müller richtet sich zunächst gegen eine Abbildtheorie, die die Netzhaut und den optischen Apparat des Auges als den einzigen Agenten des Sehens annimmt. Am Sehen ist das Gehirn mitbeteiligt. „Die Netzhaut ist also nur die äußere Extremität der Sehsinnsubstanz für das äußere Sinnesleben. Die Sehsinnsubstanz entspringt mit lichtempfindlichen Theilen im Gehirn selbst, setzt sich durch die Sehnerven fort und endigt als Netzhaut, welche allein durch das Elementarische affiziert werden kann, während die inneren Theile von allen organischen Reizen affiziert werden können." 1 9 Das Auge sieht qua Sinnesenergien, was immer es sieht. Die Nerven sind also nicht nach der damals in Mode kommenden Metapher als Telegraphendräte aufzufassen, die Nachrichten, Bildchen in diesem Fall, von außen nach innen transportieren. Sehen ist vielmehr etwas, was den ganzen Organismus, das „lebendige Ganze" einbezieht. Was sichtbar wird, sind keine äußeren Qualitäten, sondern die Qualitäten des Organs als Antwort auf die Affektionen, die von außen oder von innen kommen. Die Qualität der Reaktion ist eine spezifische: „Außer der Empfindung des Dunklen, der Farben und des Lichtes gibt es aber nimmer andere Zustände und Lebensäußerungen der Sehsinnsubstanzen des Auges." 2 0 Aristotelisch, d. h. nach dem Modell von „dynamis" und „energeia" gedacht, ist das Licht die „dynamis" des Auges, das in „energeia" übergeht, und zwar so, daß in der Wirklichkeit der Wahrnehmung - der „energeia" - das Sein der Wahrnehmung und das Wahrnehmbare ein und dasselbe, ihrem Sein nach aber verschieden sind. 18 19 20
Rudolf Haller/Fritz Stadler (Hrsg.), Ernst Mach. Werk und Wirkung, Wien 1988, S. 194. Johannes Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, hrsg. von U. Ebbecke, Hannover 1951, S. 91. Ebenda, S. Ζ
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Müller beschreibt diese metaphysische Sichtweise nun wie ein physiologisches Vermögen, d. h. als in seiner Grundlegung physikalisch-chemisch, vor allem aber anatomisch analysierbar. Für das angenommene „anfängliche Selbstbewußtsein" sind die Sinnesenergien alles, was Erfahrung ausmacht. Innen und Außen sind zunächst nicht unterscheidbar, und nur durch eine allmähliche Erziehung der Sinne durchs Spiel und damit einsetzende Urteilstätigkeit entwickelt sich ein selbstbewußtes Subjekt, das Innen und Außen unterscheiden kann. Nun sind aber die spezifischen Sinnesenergien interne Zustände des Subjekts. Beim Sehen z.B. spricht Müller von einer subjektiven Affektion der Sehsinnsubstanz, und damit wird die Unterscheidung Außen - Innen zurückgenommen ins Innen. Dem Äußeren, „Elementarischen", können keine selbständigen Qualitäten zugeschrieben werden. 21 Mit dieser Wendung versucht Müller, eine Mittelposition einzunehmen. Einerseits vermag die Seele ohne physiologische Fundierung nichts, aber andererseits kann ohne physiologische Fundierung auch nicht von Selbstbewußtsein oder Seele geredet werden. Müller versucht so, die Waage zu halten zwischen einem sozusagen aristotelischen Standpunkt, für den die Wahrnehmung ein Vermögen der Seele ist, und einem modernen, für den die Seele eine Funktion der Wahrnehmung ist. Damit erhält aber der aristotelische Begriff der „energeia" eine subjektivistische Wendung. Denn was wir über das Sein der Wahrnehmung und das Wahrnehmbare wissen, ist ja selbst über die Sinne vermittelt, also eine Konstruktion von Welt, die auch unsere Physiologie mit einbezieht, zugleich aber durch unsere organismische Konstruktion vorgegeben ist. Das „Elementarische" kann nur noch ein Postulat sein. Wenn Müller von „Sinnesenergie" spricht, dann ist es nicht die aristotelische „energeia". Eine Trennung von Subjekt und Objekt, die Rede von unerkennbarem „Elementarischen" ist völlig unaristotelisch. 22 Denn der Horizont der aristotelischen Philosophie ist ein lebensweltlicher Zusammenhang von Wahrnehmung, Wahrgenommenem, Sprechen und Umgehen damit. Seit dem Schnitt zwischen Denken und Körperlichkeit, der für die Neuzeit konstitutiv ist, läßt sich jedoch ein lebensweltlicher Zusammenhang p h i l o s o p h i s c h nur mehr als Rekonstruktion ver-
21 22
E b e n d a , S. 90. „Mit dieser D i c h o t o m i e von fremder Körperwelt und eigener E m p f i n d u n g s w e l t fällt, folgenreich für das ganze 19. Jahrhundert, die philosophische Reflexion hinter Kant zurück auf den cartesianischen D u a l i s m u s von res extensa und res cogitans", resümiert S o m m e r (Evidenz im Augenblick, a.a.O., S. 41) das K o n z e p t der spezifischen Sinnesenergien in seiner philosophischen Tragweite. D a ß Müller aber nicht nur nach diesem Schema zu interpretieren ist, konzediert er an anderer Stelle, w o er v o m „physiologischen Idealismus" Müllers spricht.
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treten. Oder aber man tut den Schritt zurück in eine „künstliche Naivität" 2 3 , ζ. Β. eben in einen Monismus Machscher Prägung mit seinem Grundbegriff der „Empfindung". „Das Empfinden, welches zugleich physisch und psychisch ist, bildet die Grundlage alles psychischen Lebens." 2 4 Die Elemente, in die sich alle physischen Befunde auflösen lassen - Farben, Töne, Wärmen, Räume, Zeiten usw., finden sich sowohl innerhalb als auch außerhalb von U, der räumlichen Umgrenzung unseres Leibes. Liegen sie innerhalb, werden die Elemente auch Empfindungen genannt. „Das Physische und das Psychische enthält also gemeinsame Elemente, steht also keineswegs in dem gemeinhin angenommenen schroffen Gegensatz." 2 5 Von Physischem und Psychischem kann aber nur die Rede sein in bezug auf meinen Leib, denn dies ist die Grundlegung aller Erfahrung und allen Sprechens über Erfahrung. „Die Teile des menschlichen Leibes stehen in einem Zusammenhang, und fast alle Lebensvorgänge ragen in irgendeiner Weise ins Großhirn, also ins Bewußtsein hinein", 2 6 wobei alle Organe spezifische Energien als Lebensäußerung zeigen. 2 7 Der physiologische Befund ist so für Mach die nicht unproblematische Basis für Empfindungen. Nicht unproblematisch, weil die Feststellung, Physisches und Psychisches seien eine Einheit und der Mensch ein Teil des Ganzen der Natur, 2 8 den Umstand nicht ausgleicht, daß auch die Physiologie eine „Auslegungsgeschichte" hat. Die Beschreibung, die vom Leib des Menschen gegeben wird, ist geschichtlich und kulturell variabel. Mach selbst benutzt einerseits die Beschreibung, die die Physiologie seiner Zeit bietet. Andererseits bezieht er sich auf eine Vielfalt von eigenen alltäglichen Erfahrungen, etwa das Fahren in der damals neuen Eisenbahn, seine Handlähmung infolge eines Schlaganfalls usw. Er ist damit ein Beispiel für das, was „Lebenswelt" in einer Gesellschaft bedeutet, in der Technik und Naturwissenschaft Produktionsfaktoren der Wirklichkeit sind. Müller formuliert sein Gesetz der spezifischen Sinnesenergien gegen eine, wie er sagt, mechanistische Beschreibung der Sinnestätigkeit. Machs Übernahme dieses Konzepts ist ambivalent. Denn einerseits sieht er die Forschungen der Physiologie als Weiterführung der Arbeit der Automatenverfertiger früherer Zeiten, ja er hält auch einen „automatischen Postbeamten" für möglich. Andererseits verfolgt er selbst eine andere Physiologie als die traditionelle. So kritisiert er Descartes, der die 23 24 25 26 27 28
E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 16. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 69. Ebenda, S. 158. E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, a.a.O., S.228f.
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Lebewesen als Automaten auffaßt. Die regelhafte Bestimmtheit menschlichen und tierischen Verhaltens ist für ihn aus Gründen der Denkökonomie der Annahme einer „frei und gesetzlos wirkenden Seele" zwar vorzuziehen, doch wird sich diese Annahme selbst schwer widerlegen lassen, „da die Erfahrung immer einen undurchschauten Rest von Tatsachen aufweisen wird". 2 9 Dieser undurchschaute Rest resultiert aus unserer leiblichen Verfaßtheit, für die Sinnesempfindungen und nicht Begriffe das Primäre sind. Wie schon vorher deutlich wurde, verschwindet bei Machs Konzept der spezifischen Sinnesempfindungen die Grenze zwischen außen und innen. Es ist zwar die Grenze U, die Hautgrenze, die deutliche Markierung der Einheit des Individuums, doch das Ich, mit dem dieses Individuum sich selbst manifestieren kann, erfährt eine merkwürdige Erweiterung: denn Mach unterscheidet zwischen einem engeren und einem weiteren Ich. Das engere Ich ist an die Hautgrenze gebunden; da aber innerhalb wie außerhalb dieser Grenze „Elemente" zu finden sind, welche innerhalb von U Empfindungen heißen, kann Mach sagen, daß das Ich im weitesten Sinne „die Welt eingeschlossen enthalte" 3 0 , und zwar als Empfindung und deren erinnerte Form, die Vorstellung. Dies läßt sich in Müllers Überlegungen darüber wiederfinden, wie die „thierische Einzelheit dazu komme, ihre Sinnesenergien als eine von ihr selbst verschiedene Sinneswelt anzuschauen"; nämlich als jene Phase der Rekonstruktion, in der das Selbstbewußtsein bloß die Veränderungen seiner inneren Zustände bemerkt. Dieses „isoliert gedachte, anfängliche Selbstbewußtsein" 3 1 weiß durch die Sinne von nichts als von sich selbst. Wenn „die thierische Einzelheit sich überhaupt räumlich empfindet, so ist auf dieser ersten Stufe nicht etwa ein Unterschied gegeben in der Empfindung der den Raum erfüllenden thierischen Leiblichkeit [...], sondern bei dem Ausschluß alles Äußeren, von dem Selbst verschiedenen, empfindet das Individuum in den Anfängen der Sensibilität nur sich selbst räumlich ausgedehnt, nur sich selbst den Raum erfüllend". 3 2 Für Müller ist diese „Abstraction des Selbstbewußtseins" nur möglich unter der Voraussetzung, daß es keine weitere Tätigkeit der Sinne, keine eigenen Bewegungen und keine äußeren Veränderungen gibt. Diese dem Tier zugeschriebene Abstraktion des Selbstbewußtseins gelangt zu einer Trennung von innen und außen durch das Spiel, in dem Veränderung durch Bewegung und Objekterfahrung eintritt - das, was Müller dann als Erfahrung mit 29 30 31
E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 27. Ebenda, S. 9. Johannes Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegung der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826, S. 40.
32
Ebenda.
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den verschiedenen Formen des Widerstandes beschreibt (vgl. oben, Handbuch). Dadurch kommt es zu einer „Erziehung der Sinne" und zu einer „Ausbildung des Urteils". Während Müllers Rekonstruktion der Entwicklung des Selbstbewußtseins eine Abstraktion an den Anfang setzt, die Bewegung und Veränderung ausschließt, schließt Mach von Anfang an Bewegung mit ein. Lebendiges ist durch Bewegung ausgezeichnet: die Pflanzen wenden sich nach dem Licht, der Frosch schnappt nach der Mücke, das kleine Kind greift nach allem und steckt es in den Mund. Und diese Bewegungen sind Empfindungen, die ihrerseits mit optischen, haptischen etc. Empfindungen verknüpft sind, zugleich mit angenehmen oder unangenehmen Empfindungen, die Erinnerungsspuren hinterlassen: das kleine Kind, das sich einmal am Feuer verbrannt hat, zuckt vor der Flamme zurück. In Machs Konzept sind Empfindungen also grundlegend auch solche der Eigenbewegung und der Fremdbewegung. Diese Empfindungen, so sagt er, sind aber weder bewußt noch unbewußt. Bewußtsein entsteht erst durch die Einordnung der Empfindungen in die Erlebnisse der Gegenwart,3·5 d. h. in den Zusammenhang gegebener Qualitäten, der seine physiologische Entsprechung im Gehirn hat. Aus den Empfindungen entstehen durch Erinnerung und „Weiterspinnen" dann Vorstellungen. Und Mach führt als Beleg für diese These im weiteren Müllers Schrift Über die phantastischen Gesichtserscheinungen an. Was Müller hier beschreibt, sind für ihn Beispiele von „selbstständigen, wesentlich an das Sinnesorgan gebundenen Erscheinungen, welche durchaus den Charakter des objectiv Gesehenen an sich tragen".·54 Die Anfänge solcher Lebensäußerungen reichten „gewiss tief in der Entwicklungsreihe der Tiere herab". 35 Wo Müller ein „Elementarisches" als das Andere des Selbstbewußtseins annimmt, gibt es für Mach nur Empfindungselemente. Wenn Müller die Physiologie nur dann Wissenschaft sein läßt (in seiner Antrittsrede), wenn sie die philosophische Anschauung des Lebensprozesses in sich hat; und in der Empirie „die ewigen Processe des Geistes in der Materie zu wiederholen nachahmt",·56 dann ist dies für Mach nicht vertretbar. Statt solcher metaphysischen Konzeptionen sieht Mach in der Bewegung das Charakteristikum der Lebewesen, und das begriffliche Denken ist rückgebunden an Sinnlichkeit, d.h. an Wahrnehmung und Empfindung. Aus diesem Grund nimmt Mach auch Stellung gegen den Müller-Schüler Helmholtz und seine an 33
E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 44.
34
Ebenda, S. 129.
35
E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum
36
J. Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 90.
Psychischen, a.a.O., S. 128.
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Wundt anschließende Theorie der unbewußten Schlüsse zur Erklärung von Wahrnehmungsphänomenen wie ζ. B. Nachbildern. Man kann Machs Position so als eine Weiterführung der Aufklärung verstehen, als eine Rehabilitation der Sinnlichkeit. 37 Dies ist aber nur die eine Sicht des Primats der Empfindungen. Empfindungen und erinnerte Empfindungen (Vorstellungen) sind „an die historischen Schicksale des Großhirns gebunden", das ein Teil der physischen Welt ist. Der Leib als Ganzes erscheint Mach als historische Gegebenheit, denn bereits im embryonalen Leben ist der „Mechanismus" da, der die Basis des Lebensprozesses ist. „Dieses weitere Ich hängt schon mit unserem ganzen Leib, ja nicht minder mit dem Leib unserer Eltern untrennbar zusammen. Endlich können wir auch die von der gesamten physischen Umgehung ausgelösten Sinnesempfindungen zum Ich im weitesten Sinn rechnen, und dieses ist dann von der Welt nicht mehr trennbar." 38 Es ist also der Leib, der den Platz von Selbstbewußtsein und Seele einnimmt. Empfindungen und Vorstellungen sind funktional vom Leiblichen abhängig, daher physiologisch mit Mitteln der modernen Naturwissenschaften darstellbar. Den Leib als funktionalen Zusammenhang darzustellen, ist ein moderner Gedanke. Und trotzdem wiederholt Mach damit ein antikes und bis ungefähr zu Müllers Zeit wirksames Konzept, nämlich das der Weltseele, jedoch von der anderen Seite her gedacht. So läßt sich auch die Bedeutung der Bewegung für das Lebendig-Sein als eine Wiederholung aristotelischer Auffassungen sehen, aber eben unter dem Gesichtspunkt moderner Naturwissenschaft.39 Die „künstliche Naivität" ermöglicht es, eine einheitliche Sicht der Welt wiederzufinden. Das Programm der Einheitswissenschaft, das der Wiener Kreis aufstellt, folgt dieser Orientierung Machs, aber in logizistischer Form. Mach dagegen stellt den Leib und seine Empfindungen vor die begriffliche Arbeit und die Logik, integriert diese aber als Denkökonomie, die für das Überleben und die Anpassung nötig ist. Der Konvergenzpunkt zwischen Antimetaphysiker und Metaphysiker ist der Leib - verschieden interpretiert, ist die leibhaftige Existenz von Menschen doch das, was die Kontinuität menschlicher Geschichte ausmacht. So kann Mach ältere, vorwissenschaftliche Traditionen mit einbeziehen, ohne deswegen seinen Status als Naturwissenschaftler, genauer als Physiker, aufzugeben. Dieselbe Haltung findet sich auch in Machs wissenschaftstheoretischen Überlegungen wieder, die er in Erkenntnis und Irrtum darlegt. Besondere Aufmerksamkeit verdient Machs Rezeption der Phantastischen Gesichtserscheinungen. Hier findet Mach die Brücke zwischen den leibhaften Empfindungen und der Arbeit eines Wissenschaftlers, der mit Begriffen operiert. 37
Vgl. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im R a h m e n des neuzeitlichen Rationalismus,
38
E . M a c h , Erkenntnis und Irrtum, a . a . O . , S. 6 6 .
39
Dies müßte hinsichtlich des Bewegungsbegriffs aber noch einmal interpretiert werden.
Stuttgart 1981.
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Die Brücke zwischen Begriffen und Empfindungen bilden nach Mach die Vorstellungen. Dies sind zunächst Erinnerungen gehabter Sinnesempfindungen, die durch einen Assoziationsverlauf sich allmählich zu Begriffen entwickeln. 4 0 Vorstellungen werden durch Sinnesempfindungen ausgelöst, sie können unvollständige Empfindungen ergänzen oder weiterführen und die Empfindungen ersetzen. Der Unterschied zwischen Vorstellungen und Empfindungen ist im „normalen psychischen Leben" deutlich. Uberraschenderweise spricht Mach von einem „Organ der Vorstellungen", das er im Gehirn lokalisiert. Damit reformuliert Mach im Stile der Gehirnphysiologie das alte „Phantastikon" oder Organ der Einbildungskraft, von dem Müller annimmt, daß es auf die Sehsinnsubstanz wirkt und Phantasiegebilde hervorruft. Ganz im Sinne Müllers sagt Mach: „Ein solches Organ wird vorzüglich geeignet sein, die physiologische Beziehung zwischen den verschiedenen Energien zu vermitteln."41 „Das physiologische Experiment und die einfache Selbstbeobachtung belehren uns darüber, daß ein solches Organ seine eigenen zweckmäßigen Lebensgewohnheiten, sein besonderes Gedächtnis, fast möchte man sagen, seine eigene Intelligenz hat." 4 2 Im folgenden zitiert Mach „die lehrreichsten hierher gehörigen Beobachtungen" aus der Feder von Johannes Müller. Doch es ist nicht nur ein Referieren von Angelesenem: „Ich kenne alle Arten von Gesichtsphantasmen aus eigener Anschauung", schreibt er wenig später.4·5 Und so folgt ein Bericht über seine eigenen Erfahrungen mit „Phantasmen", vornehmlich solchen, die er beim Einschlafen oder in einem halbdunklen Raum beobachtet hat. Müller dagegen: „Nicht in der Nacht allein, zu jeder Zeit des Tages bin ich dieser Erscheinungen fähig", 4 4 und von Goethe berichtet Müller, daß dieser die Bilder und ihre Verwandlungsformen selbst bestimmen könne, was ihm selbst nicht gelinge. Solche „visionären Umstrukturierungen" sind neuerdings in einer groß angelegten Untersuchung „ätiologie-unabhängiger veränderter Wachbewußtseinszustände" 45 als eigene Kategorie von Phänomenen eingeführt worden. Vielleicht sollte man genauer sagen, daß damit diese Phänomene, die seit längerem Gegenstand vornehmlich der Psychopathologie bzw. der Kunst waren, damit wieder in die Psychologie einge-
40 41 42 43 44 45
Machs Rezeption von Herbart soll an anderer Stelle untersucht werden; gerade hier ist sie offensichtlich. E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, a.a.O., S. 128. Ebenda, S.129. Ebenda. J. Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 103. Adolf Dittrich, Ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wachbewußtseinszustände, Stuttgart 1985.
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führt werden. Die Einbildungskraft - das aristotelische Phantastikon - hat bis ins 17. Jahrhundert ihren angestammten Platz unter den Erkenntnisvermögen gehabt. „Diese Position verliert sie mit Kant - endgültig, möchte man sagen, wenn man die romantische Philosophie als Intermezzo betrachtet." 46 Vielleicht sollte man hinzufügen: sieht man von Machs Erkenntnistheorie ab. Denn den Anteil von Phantasie an wissenschaftlicher Forschungsarbeit sieht er als bedeutend an. „Nur die poetische Phantasie ermöglicht, neue Probleme und Methoden zu entdecken, deren Wert durch Anpassung an das vorhandene Theoriegefüge und bisweilen durch einen Bruch mit eben diesem immer erfolgsabhängig bleibt", resümiert Haller die Funktion der poetischen Phantasie für Machs wissenschaftstheoretische Konzeption. 47 Die poetische Phantasie hat bei Mach Methode - es ist das Gedankenexperiment, und er gibt eine recht ausführliche Darstellung der Methoden, denen ein solches Experiment zu folgen hätte. Die Quelle für diese Anwendung der poetischen Phantasie für die Wissenschaft ist Müllers Schrift Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, die immer wieder von ihm in diesem Zusammenhang zitiert wird. Müller ist nicht die ausschließliche Referenz für Machs Überlegungen zum Thema Gedankenexperiment, aber die häufigste. Die Verbindung der Gesichtsphantasmen mit wissenschaftlicher Arbeit findet sich bereits bei Müller formuliert. Dazu muß er die zu seiner Zeit bereits teilweise in den Bereich der Psychopathologie verwiesenen Phantasiegebilde wissenschaftlich verorten. Die Theorie der spezifischen Sinnesenergien ist dieser Ort: „Wenn also das Organ, welches in seiner Affektion phantasiert, durch die exzessive Macht seiner Tätigkeit auf die Sehsinnsubstanz wirkt, so kann dies nur unter Lichterscheinungen geschehen. Das Phantastische setzt in dem Organ der Licht- und Farbempfindung wie jeder Reiz nur Licht und Farbe. Umgekehrt wenn das affizierte Auge seinen Affekt den Organen des Phantastischen und des Vorstellenden oder anderen Organen des Gehirns, deren Lebensform wir geistig nennen, mitteilt, so kann die Wirkung auf das Phantastische, Vorstellende, Denkende nur sein Steigerung und Belebung des Phantastischen, Vorstellenden, Denkenden." 48 Müller ist nicht der einzige, der derartige Phänomene erforschte. Purkyne und Fechner haben solche Forschungen ebenfalls betrieben, beide unter Gefährdung ihrer Gesundheit; ebenso auch Plateau in Frankreich. Auch Müller bezahlte mit einer depressiven Phase die intensiven Forschungen über die Gesichtsphantasmen. 46
Gernot Böhme/Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1989, S.231.
47
R. Haller/F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach. Werk und Wirkung, a.a.O., S. 355.
48
J. Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 98.
270
URSULA BAATZ
Alle drei greifen in den Ablauf der Wahrnehmungen ein - Purkyne etwa, indem er sich u. a. das Auge mit einem Säckchen aus Eisenfeilspänen beschwert, um die Raumwahrnehmung eines ellipsoiden Auges zu erforschen. Fechner und Plateau operierten mit ζ. T. extremen Versuchsbedingungen, um Nachbilder u. ä. zu erforschen; Müller widmete den frei steigenden Bildern viel Zeit und Aufmerksamkeit, und das mag zu psychischen Dissoziationserscheinungen geführt haben. Mach ist mit diesen Arbeiten vertraut; anders als die genannten sind bei ihm aber keine mit dieser Thematik der subjektiven Gesichtserscheinungen
zusammenhängenden
Krisen festzustellen. Allerdings bemüht er sich auch nicht um eine ausführliche experimentelle Erforschung dieser Phänomene, sondern nimmt sie als gegeben in sein wissenschaftstheoretisches Konzept auf. Vor allem aber zieht er eine deutliche Trennlinie zwischen Phantasmen und Halluzinationen. „In der Hallucination mögen sich die Bilder an einen grob sinnlichen Erregungszustand anschließen, bei der schöpferischen Phantasie gruppieren sie sich um einen herrschenden hartnäckig wiederkehrenden Gedanken. D a ß das Phantasieren des Künstlers der Halluzination näher steht als jenes des Forschers", ist für ihn eindeutig. 4 9 Anders Müller, der angesichts des Eigenlebens der Phantasie bemerkt, „daß schon ein sehr kräftiger Verstand dazu [gehört], daß die Gesundheit des Geistes sich erhalte". 5 0 Diese Differenz ist wohl mehr als nur persönliche Eigenheit. In den 60 Jahren zwischen dem Erscheinen der Phantastischen ersten Auflage der Analyse
der Empfindungen
man die Erstpublikation von Erkenntnis
Gesichtserscheinungen
und dem der
bzw. den rund 80 Jahren, rechnet
und Irrtum,
wandelt sich der Umgang mit
solchen Phänomenen. „Der Wandel des Wahnsinns vom enthusiasmos zum pathologischen S y n d r o m " 5 1 veränderte im 19. Jahrhundert den gesellschaftlichen O r t von Einbildungskraft. In einem Vortrag vor der Gesellschaft der Arzte in Wien hatte etwa Theodor Meynert sehr deutlich Demarkationslinien gezogen: Das „wilde Terrain des Wunderbaren" ist gekennzeichnet durch ein „jähes Abstürzen vom Niveau der physikalischen und physiologischen Gesetzmäßigkeiten". 5 2 T h e rapie und Kunst wurden zum Refugium der Einbildungskraft - der psychoanalytische Prozeß lebt von dieser Welt der Bilder, und die Expressionisten konnten Müller und auch Goethe für sich reklamieren. 5 3 Beide spielten in der naturwissenschaftlichen Diskussion schon zu Ende des 19. Jahrhunderts nur dann eine Rolle,
49 50 51 52 53
E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 197. J. Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 157. Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973, S. 101 f. Theodor Meynert, Uber hypnotische Erscheinungen, in: Wiener Klinische Wochenschrift 1, 1888, S. 451-453, 473-476, 495-498, auf S.453. Vgl. Hermann Bahr, Expressionismus, München 1916.
Die Sinne und die Wissenschaften
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wenn es um Abgrenzung vorphysikalistischer Zeiten ging. 54 So ist Machs „kühler" Umgang mit den Phantasmen zeitbedingt - doch um so mehr fällt auf, daß er Müller und Goethe positiv nennt, Müller sogar als Gewährsmann. Damit deutet sich an, daß Mach ein anderes Wissenschaftskonzept im Sinn hat als das Programm der Physikalisten. Trotzdem aber distanziert er sich nie von dem naturwissenschaftlichen Denken und der Fortschrittsidee, die damit verbunden ist. Auch Müller hat seine Untersuchung über die Phantasmen durchaus im Sinne der Aufklärung geschrieben. Diese Phänomene sind ihm seltene, „aber auch die höchsten und reinsten Blüten der Sinnlichkeit und des sinnlichen Lebens, hoch erhaben über jene befangenen Visionen, in welchen die Superstition als religiöse Schwärmerei oder Aberglaube die Geschöpfe des Eigenlebens unserer Sinne entweder verehrt oder anbetet oder fürchtet". 55 Die wissenschaftliche Anwendung für die Physiologie liegt darin, daß durch die Tätigkeit der Phantasie die Metamorphosen des Lebendigen zur sinnlichen Anschauung gebracht werden können. Der Typus - oder, um mit Goethe zu sprechen, das Urphänomen - kann so eine Regel zur Hervorbringung erhalten, mithin einen Platz in der Theorie wissenschaftlichen Arbeitens, wie ein Morphologe dies unternimmt. Die Idee und der von ihr „beigebrachte" Begriff bestimmt die Sphäre der Form, in der sich die Phantasie nach dem Gesetz der Metamorphose bewegt, das das Lebensgesetz der Natur ist. „Hier ist kein Springen und Hüpfen von Assoziiertem zu Assoziiertem, sondern ein immerwährendes Erweitern und Beschränken des sinnlich vorgestellten, in dessen kontinuierlichen Fortgang die erinnerten Vorstellungen fallen. Die Assoziation besteht also hier nur in der Subsumtion des Einzelnen unter ein allgemeines und in dem Bilden des Allgemeinen zu einem Konkreten. Mit Unrecht sagt man hier, dem ersten Einzelnen wird das zweite Konkrete assoziiert. Das zwischen beiden liegende Ahnliche oder das Allgemeine ist ein notwendiger Akt des Fortschritts." 56 Und an anderer Stelle verdeutlicht Müller noch einmal diese Methode der Metamorphose: „In allem geht die Phantasie nicht über das einige Gesetz ihres Eigenlebens, ihr Gebilde zu beschränken, zu erweitern, hinaus, aber sie ist nicht mehr willkürlich und spielend, sondern von der Idee bestimmt, sie verändert auch hier dieselbe Form beschränkend, erweiternd, aber nur in der Sphäre des von der Idee beigebrachten Begriffs der Form, aus dem sie hier nicht heraustreten kann." 5 7 Vergleicht man damit eine Beschreibung der Grundmethode des Gedankenexperiments in Erkenntnis und Irrtum, so fällt die Ubereinstimmung sofort auf: „Wie 54
Vgl. Hermann von Helmholtz, Vorträge und Reden, 2 Bde., 5. Aufl., Braunschweig
55
J. Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 110.
56
Ebenda, S. 178.
57
Ebenda, S. 134f.
1903.
272
Ursula Baatz
man sieht, ist die Grundmethode des Gedankenexperimentes, ebenso wie jene des physischen Experimentes, die Methode der Variation. Durch wenn möglich kontinuierliche Variation der Umstände wird der Geltungsbereich einer an dieselben geknüpften Vorstellung (Erwartung) erweitert; durch Modifikation und Spezialisierung der ersteren wird die Vorstellung modifiziert, spezialisiert, bestimmter gestaltet; und diese beiden Prozesse wechseln." 58 Auch die Unterschiede sind deutlich. Wo Müller von Ideen, Begriffen, Formen spricht, heißt es bei Mach: Umstände, Geltungsbereich von Vorstellungen. Das spekulative Pathos ist mit dem Wandel der Zeit, aber auch mit dem Wandel der Thematik geschwunden. Bei Müller ist von Pflanzen, Insekten, Tieren die Rede: Die Phantasie „sieht in der lebendigen Pflanze ein durch Keimen und Wachstum entwickeltes Vielfaches, an welchem ein identischer Teil aus identischen Teilen entspringt, die wesentlich gleichen Teile durch Sukzession verschieden ausgebildet werden, so daß ein mannigfaltiges, scheinbar verbundenes Ganzes identischer Glieder vor unsern Augen steht". 59 Mach dagegen erörtert den Fall von Steinen und die Gravitationsbewegungen der Weltkörper oder auch geometrische Gesetzmäßigkeiten: „Je nachdem man sich den Kreis mit dem Zirkel beschrieben, oder durch einen starren Winkel mit stets durch zwei feste Punkte geführten Schenkeln erzeugt denkt, oder darauf achtet, daß zwei Kreise immer als ähnlich und ähnlich liegend angesehen werden können, ergeben sich immer neue Eigenschaften. Die Veränderung, Bewegung der Figuren, kontinuierliche Deformation, Verschwindenlassen und unbegrenzte Vergrößerung einzelner Elemente sind auch hier die Mittel, welche die Forschung beleben, neue Eigenschaften kennen lehren und die Einsicht in deren Zusammenhang fördern." 6 0 Angeregt werden Gedankenexperimente durch paradoxe, einander widerstreitende Elemente der Beobachtung, die die Gedanken nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. In gewisser Weise läßt sich die Metamorphose von Lebendigem als eine solche Problemstellung auffassen, obwohl Müller daran nicht gedacht hat. Für ihn ist die Methode der Veränderung durch Phantasie ein Weg, um Einzelnes und Allgemeines dort zueinander zu bringen, wo sich ein Prozeß kontinuierlicher Veränderung der Formen vollzieht. Es ist eine Weise des Verstehens, nicht des Erklärens, und im Hintergrund steht das alte Weltbild, nach dem die Arten unveränderlich sind und das einzelne Lebewesen seine Entwicklung gemäß der Teleologie, die durch die Spezies umschrieben ist, durchläuft. Müller sieht dies als einen „Varia-
58 59 60
E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 191. J. Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen, a.a.O., S. 183. E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 199.
Die Sinne und die Wissenschaften
273
tionskreis". 61 Der Ausdruck „Variation" findet sich auch bei Mach, wenn er von der Methode der Gedankenexperimente spricht. Und „Variation" nennt Husserl die phänomenologische Methode, die zur Ideation führt. Diese erst in den Ideen dargestellte Methode, das Allgemeine als neue Gegenständlichkeit zur Selbstgegebenheit zu bringen, ähnelt Müllers Anleitungen zum wissenschaftlichen Umgang mit den Phantasmata der Einbildungskraft verblüffend: „Wir vollziehen also exemplarisch irgendwelche singulären Bewußtseinserlebnisse, genommen, wie sie sich in der natürlichen Einstellung geben, als reale menschliche Fakta, oder wir vergegenwärtigen uns solche in der Erinnerung oder in frei fingierender Phantasie. Auf solchem exemplarischen Grunde, der als vollkommen klarer und reiner vorausgesetzt sei, erfassen wir und fixieren wir (frei variierend und im reinen Überhaupt das invariant Verbleibende allgemein herausschauend) in adäquater Ideation die reinen Wesen, die uns interessieren." 62 Es scheint aber, daß Husserl die Methode der Variation nicht von Müller übernommen haben kann. Die ausführliche Chronik von Husserls Leben gibt keinerlei Zeugnis der Müller-Lektüre an, wohl aber der Mach-Lektüre. 63 Die historische Frage, woher der Einfluß kam, kann hier offenbleiben. Es scheint interessanter, die drei verschiedenen Modelle in ihrer Art des Umgehens mit dem Problem des Allgemeinen und des Einzelnen noch einmal kurz zu rekapitulieren. Hier zeigt sich, daß Müller und Husserl einander näher sind, was das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem angeht. Beide sehen dieses Verhältnis als eines der wechselseitigen Bestimmung. Müller sieht auf „Lebensgesetze" der Natur und will die Metamorphose der Lebewesen nach den Gesetzen der Spezies zur Anschauung bringen. Husserl dagegen untersucht intentionale Aspekte des Subjekts und setzt für eine erfolgreiche Variation bzw. Ideation die natürliche Welt „in Klammern". Die Erforschung der natürlichen Welt ist Sache der Einzelwissenschaften. Die Phänomenologie untersucht Singularitäten nur insofern, als sie der Gegenstand von - wie Husserl sagt - „Bedeutungsintentionen" sind. Die Bedeutungen ihrerseits sind individueller, spezieller und genereller Art - also Abstraktionen. Für Mach ist das Einzelne ein Empfindungskomplex, der selbst ein Teil weiterer komplexer Umstände ist. Abstraktionen dienen sowohl im Alltag wie in den Wissenschaften der Denkökonomie, somit der Anpassung der Lebewesen an ihre Lebensumstände. Auch das Ich ist ein Empfindungskomplex. Mach erweist sich so als Denker des „Anderen der Vernunft", wie der Leib auch genannt wurde. Daß er dies als Physiker und Physiologe bzw. Psychologe tut, gibt 61 62
Timothy Lenoir, The Strategy of Life, Dordrecht - Boston 1982, pp. 151f. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, hrsg. von W Biemel, Den Haag 1950, S. 74.
63
Vgl. Karl Schuhmann, Husserl-Chronik, Den Haag 1977.
274
URSULA BAATZ
ihm einen besonderen Status. Denn gerade in diesen Disziplinen hat die Mathematisierung zwar zu großartigen Ergebnissen, aber auch zu einer „Anästhetisierung" 6 4 geführt, die als Objektivität verstanden wird. Dabei bleibt der eigene Leib ausgeklammert, der jedoch nolens volens - also auch gegen die Absicht eines ausgepichten Rationalisten - die faktische Bedingung jeder menschlichen Lebensäußerung ist. In der komplexen Situation des heutigen Wissenschaftsbetriebes - als Stichwort für den Spannungsbogen seien nur „Artificial Intelligence" und Gentechnologie genannt - ist Machs unidealistischer Rückgriff auf Müller wirklich eine gute Erinnerung an die leibhaftige Endlichkeit unserer menschlichen Existenz: nicht mit dem Gestus des Moralisten, sondern des Wissenschaftstheoretikers.
64
Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1989.
H A N S - U W E LAMMEL
Müller, Feuerbach und Lenins
Materialismus und Empiriokritizismus Aber einmal, in den Fluren der Universität, sagte ich, wenn man immer mit der Krupskaja ins Bett geht, schreibt man am Ende ein so scheußliches Buch wie „Materialismus und Empiriokritizismus". Sie schlugen mich fast zusammen und beschimpften mich als Faschisten. Umberto Eco, Das Foucaultsche
Pendel
„In der itzigen Zeit kann man nur unter zwei Dingen wählen, man kann entweder ein Mensch oder Bürger werden, und man sieht nur, was man vermeiden, nicht aber was man umarmen soll. Die Bürger haben die ganze Zeitlichkeit besetzt, und die Menschen haben nichts für sich selbst als sich selbst." „Eines Tages [...] werde ich sprechen können, ganz leicht und frei. Es ist noch zu früh, aber es ist nicht immer zu früh. Was bleibt. Was meiner Stadt zugrunde liegt und woran sie zugrunde geht. Daß es kein Unglück gibt außer dem, nicht zu leben. U n d am Ende keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben." Die hier vorgetragenen Gedanken sind eine Kompilation. Den ersten Teil entnahm ich einem Brief, den zweiten Teil schulde ich einer Erzählung. Der erste Teil wurde vor etwa 190 Jahren formuliert, der zweite im Herbst 1989. Der erste Teil gehört in einen Brief von Clemens Brentano an seinen Bruder Franz vom 20. Dezember 1798,1 der zweite ist der Schluß einer viel umstrittenen Arbeit von Christa Wolf. 2 Vielleicht wird man fragen, was dieser Einstieg mit dem gewählten Thema, mit Ludwig Feuerbach, Lenin und Johannes Müller, zu tun habe. Nun, darauf kann man, wenn man mag, gespannt sein, auch wenn ich schon jetzt, und das ist nicht als Zurücknahme gemeint, hinzufügen möchte, daß Einstieg und Thematik Ausdruck der Dialektik von Vorläufigkeit und Endgültigkeit in unserer Disziplin sein könnten, wir demzufolge wie auf unserem Forschungsfeld - gleichsam über die Quellen zur Wissenschaftsgeschichte gebeugt - die Rolle von Individuum, Subjektivität und Zeitumständen auch bei uns selbst, in der Art und Darstellung der Ergebnisse, ins Kalkül zu ziehen hätten. Was die Kompilation anbelangt, zunächst indessen so viel dazu: Brentano formulierte seine Einsicht am Beginn einer Epoche, die sich
1
Clemens Brentano, Briefe, hrsg. von F. Seebaß, Bd. 1: 1793-1809, N ü r n b e r g 1951, S. 18.
2
Christa Wolf, Was bleibt, Berlin - Weimar 1990, S. 76.
276
H A N S - U W E LAMMEL
dazu aufgerufen sah, die „Zeitlichkeit" von Natur und Geschichte, Mensch und Gesellschaft begreifend zu beherrschen. Das Resümee von Frau Wolf steht am Ausgang eines historischen Abschnitts, in dem eines dieser Programme nicht aufgegangen, sondern gescheitert ist. Im folgenden möchte ich darlegen, in welchen Zusammenhängen Feuerbach und Lenin auf Müller Bezug nehmen und auf welche Weise sie ihn bei der Erörterung eines umschriebenen philosophischen Problems als Gewährsmann bzw. als O p p o nenten reklamieren. Das soll, soweit das mein Vermögen erlaubt, eingebettet sein in einen größeren Kontext, nämlich jenen der Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. Dabei soll das Augenmerk auf die Tatsache gelenkt werden, daß die Auseinandersetzung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie keine zweier neutraler Disziplinen, ihr Widerstreit vielmehr Ausdruck einer differenten sozialen Einbettung, also Produkt unterschiedlicher Interpretation ihrer Resultate durch sich gegenüberstehende politische Kräfte war. 3 In seinem 1909 erschienenen Buch Materialismus und Empiriokritizismus, in dem sich Lenin mit einigen russischen Revisionisten auseinandersetzt, die versuchten, die Grundanschauungen des Marxismus mit Hilfe der „modernen Erkenntnistheorie", wie sie aus der Naturwissenschaft entstanden war, in Frage zu stellen, bezieht der Autor bei der Analyse der Krise der modernen Physik auch Johannes Müller mit ein, wobei es um die Leugnung der bzw. den Zweifel an der Erkennbarkeit der objektiven Realität durch die Physik geht; bisher habe unter den Physikern nach „allgemeinem Einverständnis Materialismus" geherrscht, nunmehr sondere sich die „Schule des 'Physikalischen' Idealismus" ab. 4 Lenin, der hier die Philo3
Vgl. u. a. Kurt Bayertz, Naturwissenschaften und Philosophie. Drei Gründe für ihre Differenzierungen im frühen 19. Jahrhundert, in: Die Teilung der Vernunft. Philosophie und empirisches Wissen im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von M. Hahn und H . J. Sandkühler, Köln 1982, S. 102-120; Hans Jörg Sandkühler, Die Wissenschaft und das Ganze der Bewegung. Roland Daniels in der Wissenschaftgeschichte des Sozialismus, in: Roland Daniels, Mikrokosmos. Entwurf einer physiologischen Anthropologie. Erstveröffentlichung des Manuskripts von 1851, hrsg. von H . Eisner, mit Annotationen und Beiträgen von J. Bleker, H . Eisner, R. Mocek und H . J. Sandkühler, Frankfurt a. M. 1988, S. 2 7 5 - 3 1 1 .
4
Wladimir Iljitsch Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 306. Die erste deutsche Ubersetzung erschien 1927. Bis dahin blieb das Werk den deutschen und europäischen Naturforschern so gut wie unbekannt. Vgl. dazu Gerhard Harig, Der materialistische
Kern
der
Naturwissenschaft
in Deutschland,
in:
Schriften
zur
Geschichte der Naturwissenschaften, hrsg. von G. Harig und G. Wendel, Berlin 1983, S. 2 4 3 - 2 5 6 .
Müller, Feuerbach und Lenin
277
sophie Ernst Machs im Auge hat, welche nach dem Urteil einiger Zeitgenossen „die Philosophie der Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts", „die neueste Philosophie der Naturwissenschaften", den „neueste[n] naturwissenschaftliche[n] Positivismus" verkörpere, 5 möchte zunächst darauf aufmerksam machen, daß der Machismus mit eben nur dieser einen „Schule in einem Zweig der modernen Naturwissenschaft ideologisch verbunden" sei, 6 da es selbst aus den Reihen der Physiker Kritiker dieser Position, wie es das Beispiel Ludwig Boltzmanns zeige, gebe, die naturwissenschaftlich materialistisch argumentierten. Lenin steht bei seinem Versuch, in einer Zeit beschleunigter Vergesellschaftung der Wissenschaft und Verwissenschaftlichung des gesellschaftlichen Lebens vermöge der Philosophie eine Brücke zur Naturwissenschaft zu schlagen, um auf diese Weise der Arbeiterbewegung ein naturwissenschaftlich fundiertes, für ihren sozialen Kampf geeignetes Weltbild zu liefern, am Ende einer Reihe gleichnamiger Bestrebungen, denen es um das Konzept eines wissenschaftlichen Sozialismus ging, ein Anspruch, der von fast allen Theoretikern der Arbeiterbewegung erhoben wurde. 7 Erst in den 90er Jahren wird dieser Anspruch angefochten und zum zentralen Streitpunkt zwischen marxistischer Orthodoxie und neukantianischem Revisionismus. Dabei eignen dem Ausdruck „wissenschaftlicher Sozialismus" zwei unterschiedliche Bedeutungen: zum einen ist die Wissenschaftsförmigkeit der sozialistischen Theorie angesprochen, zum anderen die objektive Fundiertheit des sozialistischen Ziels. 8 Am Beginn des 19. Jahrhunderts war nicht nur eine Trennung der Naturwissenschaft von der Philosophie, eine Teilung der Vernunft, vollzogen worden, vielmehr hatte sich die Naturwissenschaft zu einer Autorität entwickelt, an der man nicht mehr vorbei konnte und die man zu respektieren hatte. Jeglicher Verzicht auf naturwissenschaftliche Einsicht galt als Ausdruck eines Verzichtes auf Vernunft schlechthin. Die Naturwissenschaft hatte einerseits das Paradigma der Rationalität übernommen und sich in den Augen der Epoche als überlegene Denkweise erwie-
5
Ebenda, S.305. Hier geht es vor allem gegen A. Bogdanow (1873-1928), Ε S.Juschkewitsch (1873-1945) und N . Walentinow (geb. 1879). Vgl. hierzu W I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a.a.O., S.449f., 469, 498.
6
Ebenda, S. 306.
7
Vgl. hierzu u. a. Kurt Bayertz, Naturwissenschaften und Sozialismus: Tendenzen der Naturwissenschafts-Rezeption in der deutschen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, in: Social Studies of Science 13, 1983, pp. 3 5 5 - 3 9 4 .
8
Ebenda, p. 36Z „Die Naturwissenschaften sind hier das Modell für einen Theorietypus, der streng an der Wirklichkeit orientiert ist und deshalb auch praktisches Handeln anleiten kann. [ . . . ] wie die technische Veränderung der Natur ihre theoretische Basis in den Naturwissenschaften hat, so soll die politische Veränderung der Gesellschaft ihr Fundament im wissenschaftlichen Sozialismus bekommen", schreibt Bayertz.
278
H A N S - U W E LAMMEL
sen. Andererseits existierte kein zwingender Grund, nicht annehmen zu können, daß nicht die Philosophie eines Tages einen ebenso festen Pfad in Richtung Gewißheit einzuschlagen imstande sein werde. Allein die letzte Aussage wurde im Verlaufe der folgenden Jahrzehnte immer stärker in Frage gestellt, und das sowohl von Philosophen als auch von Fachwissenschaftlern, um schließlich bestritten zu werden. Die positivistische Identifizierung von Rationalität und Naturwissenschaft, wie sie von der Naturwissenschaft selbst vorangetrieben wurde, setzte sich immer stärker durch und führte dazu, daß man in der Philosophie nicht nur eine von der Naturwissenschaft verschiedene, sondern dieser geradezu entgegengesetzte, ihr hinderliche Denkweise erblickte. 9 Die Philosophie besetzte ihrerseits das Feld der Erkenntnistheorie und strebte in Form des Neukantianismus eine Vermittlung zwischen altem philosophischem Idealismus und neuem naturwissenschaftlichem Materialismus an. 1 0 Lenin versucht, sich in gewisser Weise dieser Entwicklung entgegenzustellen. Nicht nur, daß er die Ebenbürtigkeit philosophischer Erkenntnisse gegenüber den naturwissenschaftlichen zu beweisen trachtet: Lenin ist bemüht, für seine politische Zielsetzung, die ohne die Annahme der Gestaltbarkeit von Geschichte, der möglichen revolutionären Veränderung der bestehenden Verhältnisse unhaltbar gewesen wäre, die Naturwissenschaften in das Schlepptau zu nehmen. Für die Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse und einen zunächst ideellen Entwurf einer neuen menschlichen Gemeinschaftlichkeit ist die Frage nach der Erkennbarkeit der Realität von zentraler Bedeutung. Ebenso wie die physikalischidealistische Schule der Machisten eine positive Beantwortung dieser Frage in Zweifel ziehe, habe es, Lenin zufolge, zu Anfang des Jahrhunderts die „physiologischen Idealisten" gegeben, deren Gewährsmann Johannes Müller gewesen sei. 1 1 Lenin verläßt sich bei seiner Argumentation gegen diesen physiologischen Idealismus auf das, was er bei Ludwig Feuerbach dazu gefunden hatte, ohne die Zusammenhänge zu prüfen. 1 2 Für ihn sind sowohl der Versuch Friedrich Albert Langes, die Physiologie zugunsten des Kantschen Idealismus und einer Widerlegung des Materialismus auszuspielen als auch die Bestrebungen von Johannes Rehmke, die Physiologie zur vermeintlichen Bestätigung des Kantianismus als „verbesserten Kantianismus" ins Feld zu führen, unstatthaft, da sie einen Zusam-
9 10
Vgl. K. Bayertz, Naturwissenschaften und Philosophie, a.a.O., S. 108f. Siehe vor allem Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1986, bes. S. 168-230.
11 12
W I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a.a.O., S. 306f. Ludwig Feuerbach, Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit, in: Gesammelte Werke, hrsg. von W Schuffenhauer, Bd. 11: Kleinere Schriften IV (1851-1866), Berlin 1982, S. 180.
Müller, Feuerbach und Lenin
279
m e n h a n g der Physiologie m i t d e m philosophischen Idealismus, „ v o r w i e g e n d k a n tianischer P r ä g u n g " , h e r s t e l l t e n . 1 3 Augenfällig ist die Interpretationsbreite, die der Müllersche Text offenbar e i n r ä u m t u n d v o n dessen scheinbarer A m b i v a l e n z n o c h z u reden sein w i r d . Physiologischer u n d physikalischer Idealismus als die A n s i c h ten Müllers u n d M a c h s sind für L e n i n reaktionäre Philosophien, z u denen sich z w a r ein Z w e i g der N a t u r w i s s e n s c h a f t hingezogen gefühlt habe; dieser „ Z i c k z a c k " sei aber n u r v o n „zeitweiliger" N a t u r , „eine vorübergehende krankhafte Periode in der G e s c h i c h t e der Wissenschaft, eine W a c h s t u m s k r a n k h e i t , hervorgerufen v o r allem d u r c h den jähen Z u s a m m e n b r u c h der alten eingebürgerten B e g r i f f e " . 1 4 F ü r die K r i s e der m o d e r n e n Physik u n d das H e r e i n b r e c h e n des „physikalischen" Idealismus m a c h t L e n i n zwei D i n g e v e r a n t w o r t l i c h : z u m einen die scheinbare E n t f e r n u n g der Physik v o n ihren objektiven Tatsachen d u r c h die m a t h e m a t i s c h e F o r m u l i e r u n g ihrer Ergebnisse, z u m anderen das Prinzip der Relativität des W i s sens, das aus der U n k e n n t n i s der Dialektik heraus nicht verstanden w e r d e . 1 5 M a n hatte den E i n d r u c k , die M a t e r i e verschwinde, u n d nicht die D i n g e , s o n d e r n die E m p f i n d u n g e n seien die eigentlichen „ E l e m e n t e der W e l t " . L e n i n ist der U b e r z e u 13
Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2. Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant, 9. Aufl., Leipzig 1915, S. 3 9 0 - 3 9 4 ; Johannes Rehmke, Philosophie und Kantianismus. Ein Vortrag, gehalten in der allgemeinen Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte am 21. September 1882, Eisenach 1883, S. 15f. Ebenda, S. 16f., heißt es: „Ich will den Verdacht hier nicht unausgesprochen lassen, dass in den kantianisierenden Männern der Naturwissenschaft der Schein jenes K o n sensus von Physiologie und Kantianismus gefördert und das sonst so helle Auge des Naturforschers getrübt worden sei durch moralische und soziale Erwägungen, so dass Wünsche und Bestrebungen sittlicher Art, die ja an sich durchaus untadelhaft sind, aber eben doch niemals die Zirkel der Wissenschaft stören dürfen, einen Konsensus da sehen Hessen, wo vielleicht keiner vorhanden ist. Es mochte diesen Männern besonders der schwarze Verdacht, dass die Naturwissenschaft als solche die Priesterin der Metaphysik der Gasse, des Materialismus, sei, eine mit Recht abzuweisende Verdächtigung erscheinen, und so schlugen sie denn wohl rasch mit beiden Händen ein, als ihnen der Kantianismus die seinigen herüberbot. Denn durch nichts doch liesse sich anscheinend gründlicher jener Verdacht beseitigen, als durch den Kantianismus, den Metaphysik-Töter; so mochten sie sich von dem Materialismus, diesem natürlichen' metaphysischen Schatten der Naturforschung los und ledig fühlen, ohne sich doch zu der Rolle eines Peter Schlemihl verurteilt zu wissen." Siehe auch Arthur Liebert, Johannes Müller, der Physiologe, in seinem Verhältnis zur Philosophie und in seiner Bedeutung für dieselbe. Zugleich ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des Neukantianismus, in: KantStudien 22, 1915, S. 3 5 7 - 3 7 5 .
14
W I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a.a.O., S. 307.
15
Ebenda, S. 310.
280
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gung, daß die Physik diese Verirrungen durchmache, weil sie sich nicht direkt und von Anfang an vom metaphysischen zum dialektischen Materialismus zu erheben vermochte. 1 6 Diesen Schritt werde sie nicht bewußt, sondern spontan vollziehen, und er ergebe sich aus den inneren Bedingungen der Naturwissenschaft. 1 7 Die Entwicklung selbst geht Lenin insgesamt zu langsam und zu widersprüchlich vor sich; er hält die Zeit für gekommen, daß die Arbeiterklasse ihren Kampf nicht mehr mit der Naturwissenschaft und um sie führe, sondern ihrer Frömmigkeit dieser gegenüber entsage und ihre Radikalität auch auf weltanschaulich-philosophischem Gebiet zum Tragen bringe. 1 8 Lenin vergewissert sich hier insgesamt mehr prophetisch denn sachlich der Naturwissenschaft, um die Konzeption seines historischen Materialismus zu untermauern. Und es ist nicht zufällig, daß in seinem Buch im Anschluß an den eben besprochenen Teil die Darlegungen über Empiriokritizismus und historischen Materialismus angeschlossen werden. Lenin, dem die Ungleichzeitigkeit im Marxschen Werke wohl bewußt war - auf der einen Seite die exakte, naturwissenschaftlicher Rationalität verpflichtete historische Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, auf der anderen Seite das „irreale und utopische Moral- und Politikelement" mit der Orientierung auf eine vom Kapitalismus freie Menschheit 1 9 - , war viel zu sehr bemüht, den theoretischen Auflösungsprozeß in der russischen sozialdemokratischen Bewegung mit einer neuen politischen Zielorientierung, die die Gewißheit und Zuverlässigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis hat, zu unterbrechen. U m die Plausibilität einer revolutionären Veränderung zugunsten des Proletariats zu stützen, mußte er sich sowohl der Naturwissenschaft überhaupt als auch in besonderem Maße der Erkenntnisse der Sinnesphysiologie versichern, die von den Naturwissenschaften zwar mitreflektiert wurden, deren Problematik aber nirgends so konzis wie bei Johannes Müller diskutiert worden war. Während Lenin in seinem Buch also gegenüber den Naturwissen16 17
Ebenda, S. 315. Ebenda, S. 316: Die Physik „steuert auf diese einzig richtige Methode und einzig richtige Philosophie der Naturwissenschaft nicht direkt hin, sondern im Zickzack, nicht bewußt, sondern spontan, wobei sie ihr ,Endziel' nicht klar sieht, sondern sich ihm tastend, sich wankend nähert, manchmal sogar mit dem Rücken voran. Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären. Die Entbindung verläuft schmerzhaft. Außer dem lebendigen und lebensfähigen Wesen kommen unvermeidlich gewisse tote Produkte, einige Abfälle zum Vorschein, die in die Kehrichtgrube gehören. Zu diesen Abfällen gehört der ganze physikalische Idealismus, die ganze empiriokritische Philosophie samt dem Empiriosymbolismus, Empiriomonismus usw. usf."
18
Vgl. K. Bayertz, Naturwissenschaften und Sozialismus, a.a.O., S. 357.
19
Siehe besonders Gerd Irrlitz, Ankunft der Utopie, in: Sinn und Form 42, 1990, S. 9 3 0 - 9 5 5 , auf S. 934f.
Müller, Feuerbach und Lenin
281
Schäften das Dialektische zur Geltung bringt, ist er andererseits genötigt, gegenüber dem Revisionismus „sowohl in der politischen Ökonomie als auch in den Fragen der Taktik und in der Philosophie überhaupt, in der Erkenntnistheorie ebenso wie in der Soziologie" das Materialistische seiner Weltsicht hervorzuheben. 2 0 Wenn das 19. Jahrhundert mit einem Worte Franz Mehrings ein Jahrhundert des Siegeszuges des naturwissenschaftlichen Materialismus war, 2 1 so möchte Lenin das gerade beginnende 20. Jahrhundert zu einem Säkulum seiner Gesellschaftstheorie, des historischen Materialismus, gestalten, und das nicht zuletzt angesichts der Erfahrungen der niedergeschlagenen Revolution von 1905. Die Reserven von Seiten der Naturwissenschaft gegenüber dem historischen Materialismus waren offenbar, von seiten der Gesellschaftstheoretiker kündigten sie sich an. Führte im ersten Fall der naturwissenschaftliche Materialismus mit seinem angeblichen Verzicht auf Philosophie zu einem platten Naturalismus in der Gesellschaftstheorie, wonach soziale Phänomene nur besondere Ausprägungen natürlicher Erscheinungen waren, so brachte es im zweiten Fall die Übernahme naturalistischer Tendenzen in der Arbeiterbewegung mit sich, daß der Versuch, die proletarische Weltanschauung auf reduktionistischem Wege zu „verwissenschaftlichen", zu ihrer Entpolitisierung führte, wie es beispielsweise Karl Kautskys darwinistische Ethik zeigt. 2 2 Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stand ein erkenntnistheoretisches Problem, dessen sinnesphysiologische Grundlagen Müller entwickelt hatte. Doch bevor wir zu jenem von Lenin zitierten Text Müllers übergehen, noch einige Bemerkungen zu Ludwig Feuerbach. Ahnlich wie Lenin hatte sich 60 Jahre zuvor Feuerbach für eine Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft ausgesprochen und ihr problematisches Verhältnis erörtert. Wie dort so hier geht es neben der erkenntnistheoretischen um die soziale Funktion von Philosophie, um die Lösung gesellschaftlicher Probleme. Wie Lenin wendet sich Feuerbach in seiner Philosophiekritik gegen die bisherige systematische und repräsentative Funktion von Philosophie, die in enger Verbindung zur Religion stehe. „Die Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft,
20
W I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a.a.O., S. 334.
21
Franz Mehring, Die Welträtsel, in: D i e N e u e Zeit, 18, 1899-1900, S. 419. Vgl. weiterhin Lenins Einschätzung über das Verhältnis von Marx und Engels zu Feuerbach: „ D e s halb machten sie Feuerbach den Vorwurf, daß er den Materialismus nicht bis zu E n d e einhält, daß er den Materialismus wegen der Fehler einzelner Materialisten fallengelassen hat, daß er gegen die Religion k ä m p f t e mit dem Ziel, sie zu erneuern oder eine neue Religion zu schaffen, daß er in der Soziologie nicht vermochte, sich von der idealistischen Phrase frei zu machen und Materialist zu werden." (W I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a . a . O . , S. 343.)
22
K . Bayertz, Naturwissenschaften und Sozialismus, a . a . O . , S. 374f.
282
H A N S - U W E LAMMEL
die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden", schreibt er 1843 in seinen Vorläufigen Thesen zur Reformation der PhilosophieΡ Die Naturwissenschaft als Inbegriff einer auf die Wirklichkeit orientierten und allen Spekulationen und idealistischen Verklärungen entgegengesetzten Denkweise, als der natürliche Feind von Theologie und Idealismus, war für Feuerbach ebenso von Belang wie ihr sicherer Gang, d.h. die stetige Anhäufung von Wissen über die Natur mit dem Status unbezweifelbarer Gewißheit. Dieser Objektivitätsanspruch war allen Philosophiekritikern gemeinsam und Bestandteil eines politischen Programms, „das in den Naturwissenschaften die entscheidende Triebkraft des gesellschaftlichen Fortschritts" - den man sich als „Zug reiselustiger Leute" vorstellte - „und der Veränderung der politischen und sozialen Zustände Deutschlands [...] sah". 24 Man konnte das beispielsweise wie David Friedrich Strauß sagen: „Wir Philosophen und kritischen Theologen haben gut reden gehabt, wenn wir das Wunder in Abgang decretirten; unser Machtanspruch verhallte ohne Wirkung, weil wir es nicht entbehrlich zu machen, keine Naturkraft nachzuweisen wußten. [...] Darwin hat die Naturkraft [...] nachgewiesen, er hat die Thür geöffnet, durch welche eine glücklichere Nachwelt das Wunder auf Nimmerwiederkehr hinauswerfen wird. Jeder, der weiß, was am Wunder hängt, wird ihn dafür als einen der größten Wohltäter des menschlichen Geschlechts preisen." 25 Und Feuerbach ist 1850 in seinem Aufsatz Die Naturwissenschaft und die Revolution der Uberzeugung, daß der Naturforscher aufgrund seiner Beschäftigung mit der Natur, die nichts wisse von den Anmaßungen und Fiktionen, durch die der Mensch im Rechte die Existenz seiner Nebenmenschen beschränke und verkümmere, „nicht nur Demokrat, selbst auch Sozialist und Kommunist, freilich nur im vernünftigen und allgemeinen Sinne des Wortes", notwendig werden müsse. 26 Feuerbach will bei der Begründung seiner Anschauung die bisherige Trennung von Leib und Seele, Denken und Sein, überwinden, indem er den Menschen als ,,lebendige[n] Superlativ des Sensualismus", als ,,absolute[n] Sensualist[en]", begreift, bei dem die „Sinnesempfindung aus einem relativen", wie bei den Tieren „niederen Lebenszwecken untergeordneten Wesen ein absolutes Wesen, Selbstzweck, Selbstgenuß" wird. 27 Die Physiologie könne zwar die Erscheinungen des
23
Ludwig Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, in: Gesammelte Werke, Bd. 9: Kleinere Schriften II (1839-1846), 2. Aufl., Berlin 1982, S.262.
24
K. Bayertz, Naturwissenschaften und Philosophie, a.a.O., S. 118.
25
David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, 4. Aufl., Bonn
26
Ludwig Feuerbach, Die Naturwissenschaften und die Revolution, in: Gesammelte
1873, S. 180f. Werke, Bd. 10: Kleinere Schriften III (1846-1850), Berlin 1971, S.350f. 27
Ders., Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, in: Ebenda, S. 144.
Müller, Feuerbach und Lenin
283
Lebens, aber nimmermehr das Wesen des Lebens erkennen. 28 Das Wesen des Lebens sei die Lebensäußerung. 29 „Leben heißt Leben, empfinden Empfindungen äußern [...], was du nicht sinnlich bist, das bist du auch nicht. Dein Wesen fällt ohne, ja, wider dein Wissen und Wille in die Sinne. [...] Sinnlichkeit ist Wirklichkeit [...] ist Vollkommenheit." „Die Wissenschaft", heißt es bei ihm weiter, „wenigstens die analysierende, ist daher dem Leben entgegengesetzt; sie geht von
28 29
Feuerbach setzt sich hier insbesondere mit dem von Karl Hermann Scheidler (1795-1866) verfaßten Artikel „Dualismus" in der von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber seit 1818 herausgegebenen „Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste" auseinander. Scheidler, seit 1826 ordentlicher Honorarprofessor der Philosophie in Jena, dem es als aktivem Burschenschaftler aller Wahrscheinlichkeit nach gelang, mit dem Ausruf „Wenn Ihr das unterschreibt, kriegt Ihr künftig keine Stellen!" die Annahme der im Wintersemester 1817/18 von den Studenten Riemann und Karl Müller - zwei ehemaligen Lützower Jägern aus Mecklenburg unter der Aufsicht von Heinrich Luden ausgearbeiteten 35 Grundsätze und 12 Beschlüsse der Urburschenschaft durch die Jenaer Studentenschaft zu verhindern, reklamiert in seinem Beitrag die Trennung von Leib und Seele, wobei letztere Gegenstand ausschließlich der Psychologie, die philosophisch bearbeitet werden müßte, und nicht der Physiologie sei. Obgleich Scheidler eine Unmenge Gewährsleute für seine Position ins Feld führt - die Reihe reicht von Piaton über Platner, Fries, Tetens, Schmid, Schubert, Burdach, Rudolphi, Hartmann bis zu Stark, erscheint der Name Johannes Müller hier nicht. Dieser Umstand verwundert kaum mehr, da Müller formuliert hatte: „Es ist eine andere ziemlich geläufige Vorstellung, wenn man glaubt, der Physiologie sey etwas Philosophisches mitgetheilt durch die Verbindung mit der Psychologie. Diese Vorstellung pflegt auch wohl die Physiologie und Psychologie in einem Gegensatz zu betrachten, und spricht von einer Doctrin, welche die vergleichende beider sey. In dieser Vorstellung von Gegensätzen, welche nicht existieren, ist die Physiologie so gut wie die Psychologie eine empirische, und es kann, was darin Physiologie heißt, nicht durch die Gesellschaft der Psychologie philosophisch werden, indem in der einen sowohl als in der andern nur Thatsachen der sinnlichen Erkenntniß auf eine verständige Weise geordnet werden. Die Physiologie und höhere Psychologie sind so wenig getrennt, als die Philosophie den Gegensatz von Körper und Geist anerkennt." (Johannes Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung. Eine öffentliche Vorlesung, gehalten auf der Universität zu Bonn am 19ten October, in: Zur Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826, S. 5.) Siehe auch den Aufsatz von Michael Hagner in diesem Band. L. Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, a.a.O., S. 134. Ebenda.
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außen nach innen, aber das Leben von innen nach außen; sie sucht das Leben in der Tiefe und das Leben existiert doch nur auf der Oberfläche; sie sucht das Wesen hinter den Sinnen, und es liegt doch vor den Sinnen d a . " 3 0 Und schließlich: „Die Evangelien der Sinne im Zusammenhang lesen, heißt denken." 3 1 Diese von Feuerbach 1846 skizzierten Zusammenhänge, die er als Erläuterung seiner 1843 entstandenen Grundsätze der Philosophie der Zukunft verstanden sehen wollte, befinden sich in erstaunlicher Nähe zu Johannes Müller, der in seiner Bonner Antrittsvorle-
sung Ueher das Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen
Naturbe-
trachtung in dem Abschnitt „Sinnlichkeit des Naturforschers" geäußert hatte: „Die Erfahrung wird zum Zeugungsferment des Geistes. Nicht das abstrakte Denken über die Natur ist das Gebiet des Physiologen. Der Physiologe erfährt die Natur, damit er sie denke." 3 2 Es ist die gemeinsame Position eines kritischen Empirismus. Doch damit war erst der äußere Rahmen dafür geschaffen, in dem sich die Auseinandersetzung Feuerbachs und, wie wir aus dem oben Dargelegten bereits wissen, Lenins mit Müller vollziehen wird. Die Vermittlung von Körper und Geist, Objekt und Subjekt, Individuum und Umwelt stellte als erkenntnistheoretisches Thema einen Bestandteil der Überlegungen naturphilosophisch orientierter Arzte und Naturforscher schon um 1800 dar. Erinnert sei nur an August Eduard Kessler und Stephan August Winkelmann. 3 3 Müller und Feuerbach nehmen sich dieses Problems an, wenn auch von unterschiedlichen Fragestellungen aus. Während Müller mehr die sinnesphysiologische Seite eines Organismus, der nur vermöge der Sinne ein Verhältnis zur Außenwelt aufbauen kann, interessiert, ist für Feuerbach
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Ebenda, S. 137. Weiter heißt es dort: „Die Vernunft ist ein Schluß, aber ebensowohl die Prämissen als die Konklusionen dieses Schlusses sind sinnlichen Wesens; die Sache der Vernunft ist nur, sie zu vermitteln, Wesen zu kopulieren, aber nicht Wesen zu erzeugen. [ . . . ] wir tragen durch den Verstand keinen Sinn erst in die Natur hinein, wir übersetzen und interpretieren nur das Buch der Natur; die Worte, die wir mit den Sinnen darin lesen, sind keine leeren, willkürlichen Zeichen, sondern bestimmte, sachgemäße, charakteristische Ausdrücke."
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Ebenda, S. 150. Feuerbach, schreibt Lenin, war .„Materialist unten, Idealist oben'. Das gleiche gilt in gewissem Maße auch für Büchner, Vogt, Moleschott und Dühring, mit dem wesentlichen Unterschied, daß alle diese Philosophen im Vergleiche zu Feuerbach Zwerge und jammervolle Pfuscher" gewesen seien ( W I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a.a.O., S. 333).
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J. Müller, Von dem Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbe-
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August Eduard Kessler, Uber die Natur der Sinne. Ein Fragment zur Physik des
trachtung, a.a.O., S. 34. animalischen Organismus, Jena 1805; Stephan August Winkelmann, Begrif [!] des Idealismus. Ein philosophisches Gespräch, Göttingen 1803.
Müller, Feuerbach und Lenin
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der sensualistisch-materialistische Ansatz Argumentationsmittel zur Begründung seines anthropologischen Materialismus. 34 Feuerbach prägt in diesem Zusammenhang die Formulierung von dem „physiologischen Idealisten" Müller, 35 wie sie unkritisch Lenin übernehmen wird. Er zitiert aus Müllers Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes jene Passagen, in denen es um die Frage des Stellenwertes des Reizes für die Ausprägung der Empfindung geht und wo Müller der Überzeugung Ausdruck verleiht, daß „alle nur denkbaren Reize, welche in was immer für einer Form auf die Sehsinnsubstanz zu wirken vermögen", auf diese nur so wirkten, „daß ihre Dynamis, die Empfindung des Dunkeln, welche sie auch ohne Reiz hat, zu ihren Energien, zur Empfindung des Lichtes und des Farbigen treiben". Und Feuerbach begreift nicht, warum für Müller dasjenige, was „Licht genannt wird", „nicht der erste und vornehmste Impuls zur Erzeugung der Empfindungen des Lichtes und der Farbe, sondern unter vielen andern der gewöhnlichste" sei. 36 Feuerbach sieht sich hier bei der Formulierung seiner materialistischen Weltsicht von Müller alleingelassen und interpretiert ihn aufgrund von dessen scheinbar ambivalenter Haltung und der eigenen ideologischen Fixierung. Denn gerade das Kant und der Aufklärung verpflichtete dialektische Moment in Müllers Denken, das in ähnlicher Tradition steht wie Marx' Verständnis von Kritik und positiver Wissenschaft, 37 ist dem Mechanizisten Feuerbach fremd; hier wittert er einen erneuten Einbruch des Idealismus. Denn natürlich ist damit gesagt, „daß wir in den Dingen der Erfahrung nicht anders als durch die Sinne wissen, von ihnen nichts als vermöge der Beziehung auf den subjektiven Sinn erkennen", und Müller mahnt, „über die Äußerungen, als den Ursachen der Erregung, nicht die Wesenheiten und Wahrheiten der Sinne selbst [zu] vergessen, was wir uns nicht oft genug bei unserer subjektiven Stellung unter
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Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 337: „Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie - die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft." W I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a.a.O., S. 306f. J. Müller, Von der Vermittlung des Subjectes und Objectes durch den Gesichtssinn, in: Zur Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen, a.a.O., S.45f. Siehe hierzu H. J. Sandkühler, Kritik und positive Wissenschaft. Zur Entwicklung der Marxschen Theorie, in: Karl Marx. Kritik und positive Wissenschaft, hrsg. von M. Hahn und H. J. Sandkühler, Köln 1986, S. 17-41, sowie die sich daran anschließende Diskussion, ebenda, S. 41-48.
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den Dingen wiederholen" könnten. 3 8 Er will deutlich machen, daß die Einwirkungen der Außenwelt auf ein organisches Wesen nicht kausalmechanischen Gesetzen folgen, sondern neuartige Interaktionsformen darstellen, bei denen die Spezifität des Organischen eine besondere Rolle spielt. Müller konzediert, daß die Bedingungen etwa für verschiedene Töne oder verschiedene Farben in den äußeren Dingen gegeben sind. „Die Wesenheit der äußern Dinge und dessen, was wir äußeres Licht nennen, kennen wir nicht, wir kennen nur die Wesenheiten unserer Sinne; und von den äußeren Dingen wissen wir nur, in wie fern sie auf uns in unseren Energien wirken." 3 9 Im Anschluß daran entwickelt Müller eine Überlegung, die sehr weit über die Feuerbachsche materialistische Uberzeugung hinausreicht: „Wäre es nun möglich, von dem äußern Lichte Etwas aus einer ihm selbst adäquaten Wirkung an andern Dingen zu erkennen, so kann dies gewiß nie durch das Auge gesehen [werden], von welchem es durch Erfahrung ausgemacht ist, daß es gegen alle Arten von Reiz nicht in den ihnen adäquaten, sondern in eigenthümlichen von jenen verschiedenen Energien reagiere. Wir müßten die physicalischen Wirkungen des Lichtes auf Substanzen untersuchen, welche selbst nicht thierische oder pflanzliche Einzelheiten sind. O b auf diesem Wege etwas zu gewinnen sey, haben wir nicht zu untersuchen. U m den Erfolg dieser Untersuchung, um das Wie dieser Wirksamkeit darf das Auge selbst nicht verlegen seyn, wenn dem sogenannten Lichte überhaupt nur die Gesetze seiner Bewegung durch durchsichtige Medien zukommen." 4 0 Müller bleibt hier einer Voraussetzung seiner Betrachtungen treu, daß nämlich dem Organischen gegenüber dem Anorganischen besondere Gesetzmäßigkeiten eigen seien: „Alle Substanzen, alle Reize, welche auf das lebende Organische wirken, setzen weder ihre eigene Wirksamkeit in das Organische, wie im mechanischen Proceß, noch verbindet sich die einwirkende Substanz mit der leidenen Organischen zu einem neutralen Product, sondern alle einwirkenden Substanzen bewirken in dem thierischen Proceß ein Anderes, als sie selbst sind, und die Art der Reaction hängt nicht wesentlich von dem Reiz ab, sondern sie ist eine von den in der thierischen Wesenheit gelegenen Energien." 4 1 Und das stellt gerade einen zweiten Unterschied zwischen Müller und Feuerbach dar. Für Feuerbach ist „das wahre Princip des Denkens und Lebens, der Philosophie und Physiologie", nicht mehr das „Ich" des Idealisten, sondern „Ich und Du, Subjekt und Objekt, unterschieden
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J. Müller, Von der Vermittlung des Subjectes und Objectes durch den Gesichtssinn, a.a.O., S. 49. Ebenda, S. 50. Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 47.
Müller, Feuerbach und Lenin
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und doch unzertrennlich verbunden". 4 2 Aber während Feuerbach diese Aussage abstrakt philosophisch verstanden wissen will, steckt hinter Müllers Überlegung die Frage danach, wie es möglich sein kann, daß ein organisches Ich ein organisches Du anschauen und erforschen kann, wenn die mechanische Kausalität in dieser Beziehung keine Rolle mehr spielt und eine neue Interpretationsform von organischen Zeichen entwickelt werden muß. Was Müller hier in die physiologische Diskussion einbringt, war praktisch eine Altlast der Naturphilosophie und durch diese schon in vielfältiger Form, wenn auch von einem anderen Ansatz her, bearbeitet worden. 4 3 Was hingegen die materialistische Feststellung von der Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit angeht, deren Kriterium in der Praxis der Umweltaneignung zu suchen ist, sind die Positionen beider, wie schon angedeutet, so unterschieden nicht. Müller geht hierbei von einem speziellen Entwicklungsprozeß der sinnlichen Realitätserfahrung durch den Menschen aus: Der im Umgang mit seinen Sinnen Ungeschulte, beispielsweise das Neugeborene, nehme das mit den Augen Erfaßte zunächst als zu seinem Körper gehörig an und erfahre erst im Spiel den Unterschied zwischen sich selbst und der Umgebung. Darin bestehe eine erste Objekt-SubjektDifferenzierung. Eine zweite vollziehe sich dergestalt: „Jene Trennung der Affection in der Sinnesenergie von unserem Selbst, als ein demselben schlechthin Außeres, wird durch nichts mehr befördert, als durch das Gefühl des Mangels, nämlich die Unzureichbarkeit, aus sich selbst zehrend den Gestaltungsprozeß der thierischen Einzelheit fortzusetzen. So entsteht im Gegensatz des theoretischen Verhaltens das practische Verhalten des Individuums gegen die Natur; wodurch wir Willens sind, die Natur als ein unseren Sinnen Außeres zur Selbsterhaltung uns zu unterwerfen." 4 4 Das ist meiner Auffassung nach nichts anderes als die Müllersche Antwort auf die Frage Feuerbachs, warum die Katze ihre Krallen „statt nach der Maus, nicht lieber nach ihren eigenen Augen" ausstrecke, „wenn die Maus, die sie sieht, nur in ihren Augen" existiere, „nur eine Affection ihrer Sehnerven" sei. 4 5
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L. Feuerbach, Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit, a.a.O., S. 181. Vgl. u. a. Bettina Wahrig-Schmidt, Der junge Wilhelm Griesinger im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Physiologie. Anmerkungen zu den philosophischen Wurzeln seiner frühen Psychiatrie, Tübingen 1985, bes. S. 3 5 - 9 3 ; Brigitte Lohff, Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik. Ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medizin, Stuttgart - New York 1990. J. Müller, Von der Vermittlung des Subjectes und Objectes durch den Gesichtssinn, a.a.O., S. 44. L. Feuerbach, Uber Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit, a.a.O., S. 174.
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Zusammenfassend läßt sich festhalten: Der junge Müller, der kein Physiologe in positivistischer Absicht, sondern, modern gesprochen, ein Epistemologe war, 4 6 kann sich eine Physiologie ohne Philosophie nicht vorstellen; dabei hat er sowohl die Begrifflichkeit, das theoretisch-kritische Denkvermögen einer Wissenschaft im Auge, wie er sie in der Philosophie aufgehoben sieht, als auch die zunächst nur philosophisch erfaßbare Besonderheit, die aus dem Umgang mit organischem Leben erwächst, was meiner Uberzeugung nach beides Resultat der Auseinandersetzung mit Kant und der Naturphilosophie war. Mit der Jahrhundertmitte verändert sich die Stellung der Naturwissenschaft in der Hinsicht, daß sie zum Garanten jeglichen gesellschaftlichen Fortschritts avanciert und ihre Ergebnisse in diesem Sinne von allen politischen Kräften interpretiert werden. Erinnert sei nur an Feuerbachs Dictum: „Der Naturforscher sieht, wie die Natur in einem ewigen Fortschritt begriffen ist, wie sie nie mehr auf eine einmal überschrittene Stufe zurückfällt, [ . . . ] er gewöhnt sich dadurch unwillkürlich daran, alle Dinge von einem universellen Standpunkt aus zu betrachten, folglich auch an die Politik den großartigen Maßstab der Natur anzulegen." 4 7 Die Naturwissenschaft selbst gebärdet sich dabei positivistisch und antimetaphysisch, beides als Schlag gegen die Philosophie, und wird damit in Deutschland zum Nährboden einer neuen Metaphysik. Die in diesem Kontext stattfindende Rezeption Müllers macht deutlich, daß durch den für die Naturwissenschaft notwendigen Reduktionismus und ihre gesellschaftliche Indienstnahme die weitreichenden kritisch-empirischen Ansätze des frühen 19. Jahrhunderts nicht fortgeführt wurden. Statt dessen gelangen diese Ansätze zwischen die Fronten von Ideologien, verlieren ihr Kritikpotential und unterliegen somit einseitiger Interpretation. In dieser jüngsten Entwicklung steht Lenin, der nunmehr in zwei Richtungen zu streiten hat. Einesteils ist die Voraussage von Engels, die Philosophie würde eines Tages in positiver Wissenschaft aufgehen, 4 8 nicht eingetreten, anderenteils schafft sich ein Teil der Naturwissenschaft eine eigene Philosophie und kann vermöge dieser, Lenin zufolge, unmöglich Bündnis-
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Siehe hierzu den Aufsatz von Hans-Jörg Rheinberger in diesem Band. L. Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, a.a.O., S. 348f. Siehe hierzu auch H . J . Sandkühler, Vergleichsweise Wahrheiten. U b e r Analogien als Grenzen der Erklärung,
in: Erklären. Verstehen. Begründen.
Eine Ringvorlesung,
hrsg. von
G . Pasternack, Bremen 1985, S. 9 - 3 3 , bes. S. 24f. 48
Vgl. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1978, S. 480: „Die Naturforscher fristen der Philosophie noch ein Scheinleben, indem sie sich mit den Abfällen der alten Metaphysik behelfen. Erst wenn Naturund Geschichtswissenschaft die Dialektik in sich aufgenommen, wird all der philosophische Kram - außer der reinen Lehre vom Denken - überflüssig, verschwindet in der positiven Wissenschaft."
Müller, Feuerbach und Lenin
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partner der Arbeiterbewegung im sozialen Kampf bleiben, da sie ihren ursprünglichen materialistischen Standpunkt verlassen hat. Lenin benötigt aber gerade im Angesicht der theoretischen Auseinandersetzung in der Arbeiterbewegung und zur Durchsetzung seiner Zielvorstellung, der proletarischen Revolution, weltanschauliche Bündnispartner, so daß er sich veranlaßt sieht, der Naturwissenschaft ihre gegenwärtige Haltung als idealistisch und somit zeitweilig zu konzedieren, als „Abfall" und „Wachstumskrankheit". Seiner Ansicht nach habe sie gleichsam ihre Bringepflicht gegenüber dem gesellschaftlichen Fortschritt nur einseitig erfüllt. In diesem Zusammenhang ist sein Aufgreifen Müllerscher Vorstellungen und ihre unkritische Etikettierung als physiologischer Idealismus zu verstehen, obgleich man hinzusetzen müßte, daß ihm inhaltlich Müller objektiv näher stand, als es ihm selbst, der durch die Brille Feuerbachs blickte, klar sein konnte. 4 9 Unabhängig von dem von Lenin intendierten politischen Ziel, das die Basis seines Werkes Materialismus und Empiriokritizismus bildet, ist seine Betonung der Selbständigkeit der Philosophie gegenüber der Naturwissenschaft als deren kritisches Pendant gerade aus heutiger Sicht nur zu unterstreichen. Aber während man im 19. Jahrhundert davon ausging, daß die Philosophie eines Tages auf der Stufe von Wissenschaftlichkeit und Gewißheit der Naturwissenschaft ankomme, ist Lenin der Uberzeugung, daß das Umgekehrte nunmehr eintreten werde; die Naturwissenschaft werde sich auf die Philosophie zubewegen müssen, um mit einer neuen philosophischen Gewißheit die eigene Krise überwinden zu können. Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß Marx und Engels, in deren gesamtem Werk keinerlei Auseinandersetzung mit Müller stattfindet, ihrem Gewährsmann in physiologischen Fragen, dem Kölner Armenarzt Roland Daniels, der eine physiologische Anthropologie, eine materialistische Konzeption des Organismus, verfaßte, in der Johannes Müller eine wichtige Rolle spielt, eine 49
Hans Niels Jahnke macht in seiner Erwiderung auf den Beitrag von Bayertz, „Naturwissenschaft und Philosophie" (a.a.O., S. 126f.) auf den generellen und tiefgreifenden Umstrukturierungsprozeß im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft aufmerksam, bei dem die Rolle der Philosophie nachhaltig verändert werde. Jahnke sieht in diesem Zusammenhang drei Phänomene: Auf der einen Seite gewinnen im 19. J h . Konzepte hoher Allgemeinheit wie Kultur, Zivilisation und Bildung eine große Bedeutung; sie spielen eine nicht unwesentliche Rolle bei der Lösung wissenschaftsorganisatorischer Probleme. Andererseits verlieren epistemologische Konzeptionen ihre universelle Relevanz; statt dessen bilden sich „bereichsspezifische Epistemologien" heraus. Drittens scheint zwischen diesen beiden Ebenen der Zusammenhang nicht mehr in einer geschlossenen theoretischen Konzeption herstellbar, vielmehr sei diese Art und Weise, wie sie aufeinander wirken, vielfach indirekt, implizit und auch widersprüchlich; die komplexer werdenden sozialen Beziehungen spiegelten sich als Differenzierungen des epistemologischen Subjekts wider.
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durchaus eigene Anschauung beispielsweise in erkenntnistheoretischer Hinsicht zubilligten. In einem Brief von Engels an Marx vom 3. April 1851 heißt es: „Daß sich der Kerl auf die ,Begriffe' als das Vermittelnde zwischen den Menschen etc. steift, ist erklärlich; Du wirst das einem über Physiologie Schreibenden nicht ausreden. Er rettet sich immer schließlich mit dem Argument, daß jede faktische Thatsache, die auf den Menschen einwirkt, Begriffe in ihnen provocirt, und daß die Reaktion gegen diese Thatsache also zwar in zweiter Instanz eine Folge der Thatsache, in erster aber eine Folge der Begriffe ist. Gegen diese formelle Logik ist freilich nichts zu sagen." 5 0 Engels, der die Entstehung des Danielsschen Werkes mit verfolgt, ist sich dieser Nicht-Eindeutigkeit wohl bewußt, setzt er doch hinzu: „Ich meine, es wäre am besten ihm zu schreiben, er wisse jetzt welchen Mißdeutungen diese und jene Partieen ausgesetzt seien und solle sie also so ändern daß die ,wahre' Ansicht deutlich hervortrete." 5 1 Daß indessen Daniels' Position Feuerbach gegenüber, den er als letzten spekulativen Philosophen, „der sein Pferd zu Tode reitet", begreift, durchaus nicht unkritisch war, zeigt ein Brief an Marx vom 5. April 1851: „Ich weiß recht wohl, daß Feuerbach mit seiner ,Anthropologie' ein großes Wort gelassen ausspricht, unter dem er sich etwas ganz anderes vorstellt, als die wirkliche [Anthropologie], und eben deshalb muß er reaktionär werden, sobald ihm die wirkliche gegenübertritt. [ . . . ] Bei mir handelt es sich um das Zustandekommen der Begriffe überhaupt, rein physiologisch betrachtet, ich versuche die Wissenschaft von der Philosophie zu befreien, und da bietet sich mir kein anderer Uebergangspunkt dar, als Feuerbach. Ich nehme absichtlich seine ,Anthropologie' für Ernst und bin vollkommen überzeugt, daß für die Zukunft F. reaktionär auftreten w i r d . " 5 2 In der Person von Daniels wird praktisch deutlich, daß sich die naturhistorische und die geschichtlich-soziale Seite des Menschen konzeptionell nicht vereinigen lassen und mit naturwissenschaftlichen Mitteln eine Gesellschaft nicht zu begründen ist, und das besonders auch deshalb, weil das Danielssche Individuum ganz auf der Position Feuerbachs abstrakt, „für alle Zeiten, alle Völker, alle Zustände" geltend und auf diese Weise „nirgends anwendbar" bleibt. 5 3 50
Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Abt. III: Briefwechsel, Bd. 4, Berlin 1984, S. 90.
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Ebenda.
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Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der deutschen klassischen Philo-
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sophie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2., Berlin 1962, S. 289-307, auf S. 289. Zu Daniels siehe besonders: Helmut Eisner, Roland Daniels (1819-1855) in der frühen sozialen Bewegung des Rheinlandes, in: Roland Daniels, Mikrokosmos, a.a.O., S. 1 8 7 - 2 4 0 ; Johanna Bleker, Roland Daniels und die Medizin seiner Zeit, in: Ebenda,
Müller, Feuerbach und Lenin
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Erlaubt ist am Schluß vielleicht noch eine Bemerkung, um gleichsam den Bogen zum Anfang meines Beitrages zu schlagen. In einer Heidelberger studentischen Wohngemeinschaft fand ich vor einiger Zeit auf einem an die Wand gepinnten Blatt den Gedanken, den man auch am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz hören konnte: „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg." Man fragt sich, was wohl ein Heidelberger Medizinstudent heute unter Sozialismus verstehen könnte; vielleicht das, was er aus der utopischen und klassischen sozialistischen und kommunistischen Literatur kennt; möglicherweise das, was ihm seine Eltern als eine denkbare Alternative zu der Gesellschaft mitgegeben haben, in die er hineingeboren wurde; oder etwa das, was er vor dem Herbst 1989 besuchsweise in einem osteuropäischen Land erfahren hat? D a fällt einem der alte Fontane ein: Man sieht nur das, was man weiß. Ist die heutige Welt wirklich noch so weit und exakt erkennbar, daß man aus den Resultaten ihrer Analyse eine revolutionäre Umgestaltung des bisherigen vornehmen kann? Der Sozialismus als das Machbare? Der Sozialismus als ein naturwissenschaftliches Experiment, das danebenging und wiederholt werden könnte? „Experimente [ . . . ] als das Wort Gottes [ . . . ] machen ein ephemeres Glück und sinken mit tausend anderen in eine verdiente Vergessenheit. Das wäre nun Alles noch gut, wenn man nicht von der sichersten Gewähr der einfachen [ . . . ] ruhigen leidenschaftslosen [ . . . ] Beobachtung, welche ihr Talent voraussetzt und nicht jedes Mannes Sache ist, [ . . . ] leichtfertig abgeführt würde." 5 4 Noch einmal habe ich kompiliert, diesmal aus den Texten des gleichen Autors: Wir sind wieder bei Johannes Müller.
S. 2 4 1 - 2 5 9 ; Reinhard Mocek, Roland Daniels physiologischer Materialismus - der naturwissenschaftliche Materialismus am Scheideweg, in: Ebenda, S. 2 6 1 - 2 7 4 ; ders., Historischer und physiologischer Materialismus. Roland Daniels „Mikrokosmos" im Vergleich mit Prinzipien der materialistischen Geschichtsauffassung, in: Karl Marx. Kritik und positive Wissenschaft, hrsg. von M. Hahn und H . J. Sandkühler, Köln 1986, S. 2 0 3 - 2 1 6 . Lothar Knatz weist in seiner Diskussionsbemerkung (ebenda, S.219) darauf hin, daß es wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Werk von Daniels und dem von Wilhelm Weitling gäbe, insbesondere „der gemeinsame grundlegende Rekurs auf die Physiologie und [ . . . ] Johannes Müller". 54
J. Müller, Zur Vergleichenden Physiologie, a.a.O., S. X I X - X X , S. 27.
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KREMER
Kommentar
„Die Urteile über die Bedeutung der Philosophie bei Müller erweisen sich stets als Urteile über die Urteilenden", schreibt Dietrich von Engelhardt mit Recht in seinem Beitrag im vorliegenden Band. Das gilt natürlich in gleichem Maße für die hier entwickelten Einsichten. So ist es unvermeidbar, daß, wer aus mehr medizinhistorischem Interesse dieses Buch über Johannes Müller in die Hand nimmt, unterschwellig Echos der rezenten historiographischen Revisionen der Geschichtsschreibung deutscher Medizin und Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hört. In jüngster Zeit ist der Stand der Forschung hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit und Emanzipation unterschiedlicher Disziplinen in preußischen akademischen Zentren im 19. Jahrhundert von Autoren wie Steven Turner wiederholt unter die Lupe genommen worden. 1 Die Bedeutung dieser neueren Forschungen liegt, so Turner, in der Tatsache, daß sie die Fundamente der Idee einer deutschen wissenschaftlichen, intellektuellen und institutionellen Autonomie, die mit der Prägung des „Humboldtschen" Wissenschaftsbegriffs seinen Anfang genommen habe, ins Wanken bringen. Charakteristisch hierfür ist die größere Aufmerksamkeit, die der funktionalen Rolle der Wissenschaften in einer sich in zunehmendem Maße industrialisierenden, rationalisierenden und regulierenden Gesellschaft geschenkt wird. Ebenso bedeutsam ist die Akzentuierung der ideologischen Positionen, die die Naturwissenschaften (und -Wissenschaftler) in einer modernen Gesellschaft einfordern: die Multidimensionalität der an diesem Prozeß beteiligten „actors" (Β. Latour) steht im Vordergrund. Vieldiskutierte Themen wie die Kontinuität oder Diskontinuität deutscher Wissenschaftskultur werden damit in einen größeren Kontext gestellt.
1
R. Steven Turner, Science in Germany, in: Science in Germany. The intersection of institutional and intellectual issues, ed. Κ. M. Olesko, in: Osiris, second series, 5, 1989, pp. 296-304; ders., German Science, German Universities: Historiographical Perspectives from the 1980s, in: „Einsamkeit und Freiheit" neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preussen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts, hrsg. von G. Schubring, Stuttgart 1991, S. 24-36.
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Verschiedene dieser historiographischen Tendenzen zeichnen sich auch deutlich in den spezifischen Bereichen der deutschen Medizin- und Biologiegeschichte ab. Sie werden zudem von einer insbesondere von amerikanischen Autoren wie Ch. Rosenberg und J . H . Warner 2 in Angriff genommen historiographischen Strömung befruchtet, die sich vornehmlich auf die medizinische Praxis richtet. Vor diesem Hintergrund wird die häufig analysierte Beziehung zwischen biomedizinischtheoretischen und philosophischen Entwürfen aus der Perspektive wissenschaftlicher und sozialer Handlungsweisen heraus konstruiert; eventuelle soziale Differenzen zwischen den unterschiedlichen Bereichen werden in die Überlegungen mit einbezogen. 3 Es liegt auf der Hand, sich zu fragen, wie die von den Autoren dieses Bandes vertretene methodologische Herangehensweise an das Thema „Johannes Müller und die Philosophie" sich zu diesen rezenten medizinhistorischen Ansätzen stellt. Diese Frage ist darum auch interessant, da einigen der hier vertretenen Beiträge entgegenzuhalten wäre (und zweifellos auch von verschiedenen der hier partizipierenden Autoren an anderer Stelle argumentiert wird), daß eine nähere Untersuchung zum Selbstverständnis der deutschen Physiologie und Medizin in den ersten vier Dezennien des 19. Jahrhunderts einem Studium der Beziehung zwischen Johannes Müller und der Philosophie vorausgehen sollte. Es ist nicht erstaunlich - wohl aber etwas komplizierend - , daß eine Versammlung von Autoren solch unterschiedlicher Couleur nicht zu einer einheitlichen Sicht der Position Johannes Müllers, seiner Physiologie und der zeitgenössischen Philosophie geführt hat. Daß die Schlußfolgerungen einiger Beiträge zuweilen diametral einander gegenüberstehen, wie z . B . hinsichtlich Müllers „Nativismus" oder seiner Akzeptanz bzw. Ablehnung eines Kantschen oder Schellingschen Zweckmäßigkeitsbegriffs in seinem Organismusbild, ist ein Ausdruck dieser verschiedenen Grundpositionen. Abgesehen von einem unterschiedlich explizierten Aktualitätsbezug, der bei einer Thematik wie der Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften immerhin naheliegt (siehe ζ. B. die Schlußbemerkungen von v. Engelhardt und Verwey), lassen sich die unterschiedlichen Betrachtungsweisen auf drei Felder verteilen: 1. Zunächst können die Darstellungen der Beziehung zwischen Johannes Müller und der Philosophie geordnet werden an Hand der Frage, ob Müller mehr eine kreative oder eine rezeptive Position zugemessen wird. Die Pfeile in den zumeist 2
Vgl. The Therapeutic Revolution, eds. Ch. E . Rosenberg and M. J. Vogel, Philadelphia 1979; John Harley Warner, The Therapeutic Perspective. Medical practice, knowledge, and identity in America 1820-1855, Cambridge, Mass. 1986.
3
Siehe ζ. Β. Thomas Η . Broman, The Transformation of Academic Medicine in Germany 1780-1820, PhD Princeton University 1987, pp. 165-218.
Kommentar
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linear skizzierten Einflußschemata zielen von unterschiedlichen Philosophen auf Müllers Gedankengut und vice versa. D e r jeweilige Empfänger der Ideen wird bisweilen zu untätig hingestellt, die Interaktion in den Grenzbereichen von Physiologie und Philosophie wird unzureichend problematisiert. Außerdem wird nur in einigen Beiträgen (ζ. B . von U w e Lammel und Ursula Baatz) explizit der C h a rakter der Einflußpfeile reflektiert. Implizit kann man jedoch in den Beiträgen vier Verbindungstypen unterscheiden. Aufsätze wie die von v. Engelhardt über Müller und Hegel konstruieren die Interaktion als rhetorische Strukturgleichheit. Wenn dagegen etwa Renato M a z z o lini Aristoteles' Einfluß auf Johannes Müller beschreibt, setzt er Müllers Intentionali tät bei Inkorporierung aristotelischer Ideen voraus. Bettina Wahrig-Schmidts Beitrag suggeriert so etwas wie ein E c h o von Kant in den Schriften von Müller; nicht einfach einen bewußten oder unbewußten Import von Kants Ideen, sondern eine Umgestaltung dieser Ideen, sobald sie mit den Schichten und Texturen von Müllers Ideen kommunizieren. U n d schließlich gibt es Beiträge, wo die Pfeile weniger zwischen Personen als zwischen Person und Programm gezogen werden, z . B . in den Aufsätzen von Stefano Poggi und Timothy Lenoir über Müller und die nachfolgende Sinnesphysiologie oder bei Lammel in seinem Beitrag über Müller, Lenin, Subjektivismus und Idealismus. Von Lammeis Analyse abgesehen, ist es allgemein auffallend, daß von der Weise, wie Literaturkritik und Ideengeschichte Texte inzwischen problematisieren, hier fast keine Spur zu entdecken ist. 4 2. Eine weitere methodologische Differenzierung kann zwischen den Beiträgen vorgenommen werden, die Müllers Sprachverwendung mehr formal hinsichtlich ihrer Analogien zu philosophischen Diskursen analysieren, und solchen, die Müllers Aussagen eher funktional-strategisch und rhetorisch zu lokalisieren versuchen. Besonders Hans-Jörg Rheinberger interpretiert die philosophischen Elemente in Müllers Texten primär in bezug auf die Stadien seines Lebenswerkes einer Etablierung der Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Rheinbergers mehr strategische Vorgehensweise ist aber deutlich in der Minderheit. Das liegt womöglich daran, daß keiner der Autoren, die doch im großen und ganzen du Bois-Reymonds Diskontinuitätsthese, wonach Müller sich radikal von der Naturphilosophie abgewendet habe, verwerfen, sich fragt, ob es eine Bedeutung haben könnte, daß die meisten der besprochenen, „philosophischen" Texte von Müller frühe, vor-Berlinische Texte sind. Es ist ebenso erstaunlich, wie wenig auf die zeitgenössische Rezeption von Müllers frühen Reden und Schriften eingegangen wird. Wäre es z . B . nicht 4
Eine Übersicht aus der Perspektive der intellectual history gibt John Ε. Toews, Intellectual history after the linguistic turn, in: American Historical Review 92, 1987, pp. 879-907.
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wichtig und interessant gewesen zu erwähnen, wie Müllers Bonner Kollegen auf seine Umschreibung der „falschen Naturphilosophie" reagierten? 5 Eben da, wo interessante intertextuelle Parallelen gezogen werden - wie in Nelly Tsouyopoulos' Identifikation eines Artikels von Röschlaub aus dem Jahre 1816 als mögliche Quelle für Müllers Antrittsvorlesung - , werden diese nicht weiter interpretiert. Dieser Mangel rhetorisch-funktionaler Lokalisierung der Texte gibt Anlaß zu Problemen. Im Kleinen zeigt sich das, wenn Renato Mazzolini in seinem Beitrag mittels eines übrigens hochinteressanten, bis jetzt noch nicht veröffentlichten Briefes zu zeigen versucht, daß Müller in seinen Bonner Jahren von Aristoteles' Schriften durchdrungen gewesen sein soll. Wenn man Funktion und rhetorische Wirkung des Briefs hinterfragt, der an Johannes Schulze, Müllers ehemaligen Koblenzer Lehrer, Förderer und hohen Beamten des Kultusministeriums gerichtet ist, sind Müllers Äußerungen in diesem Brief nicht unbedingt entscheidend. Aber auch wenn v. Engelhardt auf Grund struktureller Ubereinstimmungen von Müllers und Hegels Texten meint, daß „Müller wie Hegel eine positivistische Naturwissenschaft wie romantische Naturforschung ablehnen", und sie sich brüderlich für eine Verbindung von Philosophie und Naturforschung als „Identität und Differenz" einsetzen, könnte man sich fragen, ob bei einer schärferen funktionellen Definition der spezifischen Belange von Hegel und Müller ihre strukturelle, scheinbare Ubereinstimmung nicht diametral auseinandergeht. 3. Die dritte Achse könnte man die kontextuelle nennen. Sie dreht sich um die Frage, ob Müllers Beziehung zur Philosophie in einem medizinisch-biologischen, sozial-politischem oder in einem bloß philosophischen Kontext situiert wird. Viele Autoren erkennen zwar, daß - aus der Perspektive der damaligen empirischen Forschung - die Philosophie als ergänzungsbedürftig konstruiert werden kann, jedoch unterlassen sie eine Erörterung etwa der Auseinandersetzungen über den Status der medizinischen Empirie. Einige Autoren führen die Thematik einer Krisis in der Medizin ein, indem sie von einem Zusammenbruch des cartesianischen Dualismus oder von tiefgreifenden Konflikten zwischen romantischen und k a n o nischen Ansätzen ausgehen. Hingegen werden soziale und politische Einflüsse zwar erwähnt, doch ein ähnlich privilegierter Status (wie den Texten) wird diesem nicht-philosophischen Kontext als Objekt der Analyse nicht gegeben. Inwiefern tragen dann die Beiträge neue Erkenntnisse im Vergleich zu früheren 5
A . C . P. Callisen, Medicinisches Schriftsteller-Lexicon der jetzt lebenden Verfasser, B d . 13 (1833), erwähnt zwei Rezensionen der Bonner Antrittsvorlesung von 1824 und vier Besprechungen der Publikation der Rede in der „Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes" von 1826. P u r k y n e beispielsweise kritisiert in seiner Besprechung (Breslauer Zeitung, N r . 99, v o m 26. 6.1826) Müllers O p p o s i t i o n gegen Experimente und stellt die Frage, o b sich wohl Beispiele finden ließen f ü r Müllers „wahre" Physiologie.
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Kommentar
Analysen dieses reichen Themenkreises bei, bzw. inwiefern werden Problemstellungen neu formuliert? F ü r Müller-Liebhaber ist der erste Teil des Buches vielleicht der am meisten vertraute. Unsere Besprechung schöpft ihre Beispiele vorwiegend aus diesem Teil des Buches, obwohl einige methodische Punkte der Kritik auch auf den zweiten Teil anwendbar sind. Als primärer Ausgangs- und Kontrastierungspunkt war den Autoren die alte vielfach auch rhetorisch benutzte - Müller-Typisierung gegeben, durch welche er als Prototyp für den Naturwissenschaftler herangezogen wurde, der in seiner Jugend noch von der Naturphilosophie beeinflußt war, sich dann aber glücklich von diesem „Irrweg" freimachen konnte. D e r Zweck dieses Bandes sollte sein, den Blick aufs neue auf das philosophische Erbe der deutschen Physiologie des 19. Jahrhunderts zu richten, das uns in der Person Müllers begegnet, um damit vielleicht ältere Typisierungen der Beziehung zwischen Physiologie und Philosophie zu dekonstruieren. Das alte Image, das hauptsächtlich von der Generation direkter Müller-Schüler, und besonders von du Bois-Reymond abstammt, ist auch 1926 in modifizierter Form nochmals wiederholt worden in Martin Müllers wichtiger Publikation Über
Anschauungen des Naturforschers Johannes
die
philosophischen
Müller.
6
Es fällt ins Auge, daß die Beiträge des vorliegenden Bandes, die sich mit dem Einfluß von Kant, Schelling, Hegel und eben Aristoteles auf Johannes Müller beschäftigen, die Fragen und den primären begrifflichen Bezugsrahmen von Martin Müllers Arbeit kaum übersteigen. D e r Tenor von Martin Müllers Darlegung ist zwar typisch für die 20er Jahre unseres Jahrhunderts: so stammt s. E. Müller vor allem von Goethe ab, dessen Einfluß in diesem Band nur indirekt diskutiert worden ist. Aber auch Martin Müller führt - von fast denselben Primärquellen ausgehend schon viele der methodischen Überlegungen Johannes Müllers an. Auch er sieht ζ. B . den Schellingschen Ursprung von Müllers methodischem Begriff der „Intellectuellen Anschauung", dem Tsouyopoulos und Gregory einen zentralen Platz einräumen; allerdings bewertet M . Müller diese Anschauung als ein „verhängnisvolles Geschenk". Auch er kommentiert die von Johannes Müller differenzierte Betrachtung der Erkenntnistheorie und biologischen Forschung in verstandesmäßige Physiologie, mythische Naturphilosophie, falsche Naturphilosophie und mit Philosophie verbundene Physiologie, um endlich bei Müllers D i k t u m „die wahre Physiologie denkt das Leben in die richtige Erfahrung" anzukommen. Auch er erläutert das Problem des kantianischen Anteils an Müllers Raumvorstellung. Was sind hier die neue Akzente? Während die meisten Autoren innerhalb dieses 6
Martin Müller, Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, in: Sudhoffs Archiv 18, 1926, S. 130-150, 2 0 9 - 2 3 4 , 3 2 8 - 3 5 0 .
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M. Müllerschen Rahmens operieren und Johannes Müllers Erkenntnistheorie und Methode oder seine Ideen über das Subjekt-Objekt-Verhältnis zu analysieren versuchen, sind es insbesondere die Wertungen der internen Beziehungslinien zwischen Müller und den Philosophen, die oft von M. Müllers Interpretation unterschieden sind. U n d um diese Beziehungen aufzuwerten, sucht man andere Beziehungsebenen. Nelly Tsouyopoulos etwa zeichnet ein ganz positives Bild von Müllers Akzeptanz der Schellingschen „Einheit von Natur und Bewußtsein als zwei Ausdrucksformen lebendiger Produktivität". Ausdrücklich weist sie auf Schellings begriffliche Einflüsse in Müllers „Reiz-Reaktionstheorie" hin. Im allgemeinen kann man sagen, daß die meisten Autoren der oben genannten Diskontinuitätsthese von du Bois-Reymond nicht mehr anhängen. Doch schon 1952 behauptet Johannes Steudel, daß die Idee einer Diskontinuität in Müllers Arbeiten nur deswegen ungehindert entstehen konnte, „da er in der Berliner Zeit seine Gedanken immer mehr in sich verschloß. Selbst mit seinen engsten Mitarbeitern hat er nicht mehr über die Ziele gesprochen, die seine Forschung trugen, da auch sie für wesentliche Züge seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit blind waren". 7 Eine genaue Darlegung der intern-strukturellen Beziehungen zwischen physiologischen und philosophischen Texten ist gewiß sinnvoll. Mit dieser methodologischen Beschränkung jedoch kann eine weitere Erklärung z . B . der Dynamik von Müllers eigenen Äußerungen über Physiologie und Philosophie, der Unterschiede zwischen seinen Positionen und denjenigen seiner Schüler wie Haeckel und Helmholtz, ergo des Problems der Kontinuität versus Diskontinuität in Physiologie oder Philosophie nicht hinreichend erfaßt werden. Das zeigt sich in der schon erwähnten Tatsache, daß auf der Grundlage eng interpretierter Ausdrucksähnlichkeit mit fast genausovielem Recht gegenläufige Interpretationen präsentiert worden sind. Aus mehr rhetorisch-funktionaler Perspektive ist kürzlich in einigen Arbeiten die Entstehung der Physiologie in Frankreich und Deutschland als Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis diskutiert worden. 8 Diese Arbeiten können vielleicht eine Richtung zeigen, die einige der hier vertretenen Autoren (siehe ζ. B. Brigitte Lohff) schon eingeschlagen haben, doch auch hinsichtlich der Beziehung zwischen Müllers Philosophie und Physiologie noch weiter durchgeführt werden 7 8
Johannes Steudel, Wissenschaftslehre und Forschungsmethodik Johannes Müllers, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 77, 1952, S. 115-118. John E. Lesch, Science and Medicine in France: The Emergence of Experimental Physiology. 1790-1855, Cambridge, Mass. 1984; The Investigative Enterprise: Experimental Physiology in Nineteenth-Century Medicine, eds. W Coleman and F. L. Holmes, Berkeley 1988.
Kommentar
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könnte. Angesichts der Probleme einer Protodisziplin, die dringend ihre eigene Wissenschaftlichkeit und Methodologie zu etablieren versucht, wird ein Heer von zusätzlichen actors in Bewegung gesetzt: Kuratoren der Universitäten, Kultusminister und Beamte, andere (praktizierende) Mediziner und Wissenschaftler, Studenten und Assistenten. Ein Arsenal von zusätzlichen Erwägungen wird bei der Beurteilung des philosophischen Gehalts der erwähnten Texte einbezogen; nicht an letzter Stelle stehen medizinisch-praktische Aspekte. Daß man in diesem Buch versucht hat, die Philosophie und Physiologie als wechselseitig einander beeinflussend darzustellen, ist ein großer Gewinn. Es erfordert aber ein weitergehendes Gespräch und unterstreicht die Notwendigkeit weiterer interdisziplinärer Forschung.
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Nachgedanken zum Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung
„Johannes Müller und die Philosophie" benennt eine Sichtweise auf ein historisches Phänomen. Die Umstände, unter denen man versucht, kollektiv ein solches Phänomen wie die Konstitution der experimentellen Physiologie im 19. Jahrhundert zu beleuchten, haben unvermeidbare Nebeneffekte. Ist dieser Versuch vielseitig, arbeitsteilig, aber nicht hierarchisch strukturiert, und orientiert er sich an textproduzierenden Individuen und ihren Beziehungen zueinander, so entsteht eine gewisse Aufspaltung, die lauter oder leiser nach Einheitsstiftung ruft. Aber Einheit kann nicht von einer Heftklammer hinten oder vorn gestiftet werden, und ein Kommentar kann nicht einmal als Heftklammer dienen. Statt dessen möchte ich unter Berücksichtigung derjenigen Beiträge, die sich mit Müllers Verarbeitung der Philosophie in der Physiologie befassen, einige sich daraus ergebende Fragen noch einmal analysieren. Es geht nicht darum, einzelne Untersuchungen bewertend zu kommentieren, sondern um den Versuch, ihre Ergebnisse produktiv zu verarbeiten. Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Untersuchungen werde ich verschiedene Arten des Einflusses der Philosophie auf die Wissenschaft unterscheiden, zwei Möglichkeiten erörtern, bei Müller einen solchen Einfluß empirisch feststellen zu können, und im Zusammenhang mit diesen beiden Möglichkeiten einige Überlegungen anstellen über das weltanschauliche Programm der Naturphilosophie und über das physiologische Programm Müllers. In diesen vier kurzen Reflexionen im Rückgriff auf Kant versuche ich, mir etwas Klarheit zu verschaffen über das eigentümliche Phänomen eines empfundenen Bedürfnisses des Physiologen nach einer philosophischen Naturbetrachtung.
I. Philosophie und Wissenschaft Im Prinzip hatte Ch. C. Gillispie recht, als er immer wieder die grundlegenden Ähnlichkeiten zwischen den p h i l o s o p h e s der französischen Aufklärung und den Naturphilosophen der deutschen Romantik in der Haltung zur Wissenschaft her-
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vorhob. 1 Überhaupt hatte er recht, die deutsche Romantik (statt etwa die deutsche Aufklärung) als inhaltliches Gegenstück zur französischen Aufklärung zu betrachten. Unrecht hatte er allerdings, insofern er die Haltung dieser beiden Bewegungen zur Wissenschaft als anti-wissenschaftlich verdammte, bloß weil sie mit seiner eigenen nicht übereinstimmte. In beiden Bewegungen suchte er vergeblich nach der strikten Trennung von theoretischer Erkenntnis der Natur und moralisch-praktischer Einsicht in die Natur des Menschen und in die dieser angemessenen Gesellschaftsform, wie sie von der Wissenschaftstheorie dieses Jahrhunderts favorisiert wird und die von manchem zum Maßstab der historischen Bewertung erhoben wird. Naturwissenschaftliche Theorie und gesellschaftliche Praxis sollen miteinander nichts zu tun haben: „The significance of Newtonian physics for human affairs is that it has none." 2 Ganz verzerrend wird diese Perspektive allerdings, wenn es sich nicht mehr um die Philosophen selbst handelt, sondern um die Naturwissenschaftler, die mit den Mitteln dieser Philosophen über ihre eigenen Fächer reflektierten. N u r von einer solchen Perspektive ist es überhaupt überraschend und deshalb auch erklärungsbedürftig, daß ein Vitalist - und dazu noch Naturphilosoph - auch eine (positive) Schlüsselrolle in der Entwicklung der experimentellen Naturwissenschaft spielen konnte. Dieses Vorurteil der herkömmlichen Wissenschaftsgeschichtsschreibung kommt auch deutlich zutage in der bisher gängigen Behandlung von Johannes Müller: der konstruierte Gegensatz zwischen seiner ursprünglichen Neigung zur Naturphilosophie und seiner experimentellen Arbeit in der Physiologie; der jugendliche Pferdefuß der Naturphilosophie, der auch bemüht wird, um seine spätere Aufgabe des Experimentierens und seine Hinwendung zur morphologischen Beobachtung zu erklären. Allerdings, wenngleich die These der schädlichen Auswirkungen der Naturphilosophie etwa eines Diderot oder eines Schelling auf den wissenschaftlichen Fortschritt jetzt eher als verschwiegene Deutungsvorgabe denn als Forschungsresultat verstanden wird und heute vielfach eher als Absetzungspunkt denn als Leitbild dient, so ist die Gegenthese von einer positiven Auswirkung der Naturphilosophie auch nicht ohne ihre eigenen Schwierigkeiten. Bei jedem großen Naturwissenschaftler, der der Philosophie eine erkenntnisfördernde Rolle in seiner Arbeit zuschreibt, kann man doch fragen, ob er in Wirklichkeit wegen oder trotz seiner philosophischen Vorlieben erfolgreich wurde. Neben der nicht ausreichend geklärten Frage, wie denn ein positiver oder negativer Einfluß einer Philosophie auf den Inhalt einer wissenschaftlichen Disziplin 1
2
Vgl. Charles Coulton Gillispie, Lamarck and Darwin in the History of Science, in: Forerunners of Darwin: 1745-1859, eds. Η. Bentley Glass a. ο., Baltimore 1959, pp. 265-291. Ebenda, p. 279.
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empirisch nachzuweisen wäre, gibt es auch prinzipielle Schwierigkeiten in dem Miteinander der beiden Disziplinen. Die Wissenschaft macht Fortschritte nicht dadurch, daß sie nach vorgegebenen Zielen hinstrebt, sondern indem sie das tut, was sie kann, mit dem was sie hat, dort wo sie ist. Erst diejenigen Probleme sind lösbar - vielleicht sogar als Problem richtig formulierbar - , zu deren Lösung Mittel bereitstehen oder realistisch zu beschaffen sind, bzw. Probleme werden entwickelt in Hinblick auf gegebene Theorien und beherrschte Methoden, die natürlich auch modifiziert werden können; andere Probleme, so wichtig und gar dringend sie sein mögen für die wesentlichen Ziele der Menschheit, werden nicht gelöst. Die wissenschaftliche Entwicklung bzw. ihr Fortschritt ist mittelbestimmt, nicht zielorientiert. Ob die Philosophie hingegen außer in technischen Fragen Fortschritte macht, die nicht auf Fortschritte in den Einzelwissenschaften zurückzuführen sind, ist durchaus fraglich. Sie kann zielorientiert sein; vielleicht muß sie es sein, weil (wie Kant sagt) „sie mit Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, [...] die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft".3 Das „Ignorabimus" von du Bois-Reymond zeigt dagegen, daß und wohin die Wissenschaft solche unbeantwortbaren Fragen abweisen kann. Soll allerdings die Philosophie nicht nur die Reflexion über Sinn und Zweck, Genesis und Geltung der wissenschaftlichen Erkenntnis zur Aufgabe, sondern auch e r k e n n t n i s l e i t e n d e Funktion haben, dann können durchaus Konflikte entstehen. Sind die wissenschaftlichen Mittel zu den von der Philosophie vorgegebenen Zielen (zufällig) da, werden Erfolge erzielt; sind sie nicht da, werden Zeit und Arbeit vergeudet. Ob das in der Wissenschaft Verfügbare ein adäquates Mittel zu einem bestimmten von der Philosophie vorgegebenen Zweck ist, weiß man allerdings erst hinterher. Es gibt aber auch Zusammenhänge, in denen ein produktiver Einfluß der Philosophie durchaus möglich ist, sowohl formaler wie inhaltlicher Natur. Eine erste solche Möglichkeit kann erläutert werden durch die Einführung einer Unterscheidung zwischen Wissenskorpus und Wissensbild bzw. -Vorstellung,4 also zwischen dem kognitiven Gehalt einer Wissenschaft und der Stellung und Vorstellung dieses Wissens und dessen Verfolgung in der Meinung derer, die zählen. So kann man zu zeigen versuchen, daß die romantische Bewegung - auch wenn ein direkter Einfluß auf das Wissenskorpus einer bestimmten Wissenschaft schwer nachzuweisen ist jedenfalls zur Aufwertung des Bildes des Wissenschaftlers und der wissenschaftlichen Forschung in der Öffentlichkeit und im Staat führte und daß sie auch zur 3 4
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, A vii. Zu dieser Terminologie vgl. Yehuda Elkana, Anthropologie der Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1986, S.46ff.
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konkreten Ausgestaltung des Inhalts dieses Bildes beitrug. 5 Gegen die traditionelle Ansicht einer nachteiligen Rolle der Philosophie ist auch einzuwenden, daß die zeitgenössische Kritik an der Naturphilosophie nicht unbedingt anti-philosophisch als solche war und auch ihre eigene, konkurrierende Philosophie hatte. Der Gebrauch des Bildes der Naturphilosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um die Philosophie überhaupt abzuwerten und die empirische Naturwissenschaft von der Philosophie strikt zu trennen, hat möglicherweise mehr mit den Nachwirkungen des Scheiterns der bürgerlichen Revolution von 1848 zu tun als mit einem etwaigen negativen Einfluß der Philosophie auf die Wissenschaft. 6 Einen zweiten Zusammenhang, in dem der Inhalt nicht nur des Wissensbildes, sondern auch des Wissenskorpus mit der Philosophie verknüpft wird, könnte man anhand einer Bemerkung Kants verdeutlichen: Uber das Bedürfnis der bloß deskriptiv verfahrenden Wissenschaften nach Philosophie hat Kant einmal geschrieben: „Die bloße Polyhistorie ist eine zyklopische Gelehrsamkeit, der ein Auge fehlt - das Auge der Philosophie." 7 In diesem Sinne wäre das Bedürfnis nach Stiftung eines erklärenden Zusammenhangs unter den Tatsachen ein Bedürfnis nach Theorie, wissenschaftlicher Theorie. Hier wäre Philosophie so etwas wie das theoretische Moment der empirisch-wissenschaftlichen Praxis, und der Philosoph, falls er personell getrennt existieren sollte, wäre der Theoretiker unter den Praktikern, so etwa wie Darwin von seinen Reisekameraden an Bord der „Beagle" der Philosoph genannt wurde. Es gibt aber auch eine noch weitergehende Möglichkeit, den Inhalt der Wissenschaft mit der Philosophie zu verbinden. In einer Umbruchs- oder Aufbruchsphase einer Wissenschaft, wo das herkömmliche Begriffssystem ins Wanken gerät oder ein völlig neues konstruiert werden muß, müssen die Wissenschaftler eine Sprache finden, in welcher sie über die Begriffe, die sich wandeln oder erfunden werden müssen, reden können. Und diese Sprache kann kaum eine andere als eine philosophische sein. Hier gäbe es zwar ein eindeutiges inhaltliches Bedürfnis einer Wissenschaft nach der Philosophie - aber nicht unbedingt nach einer bestimmten Philosophie. Solange die Bedeutungen der physikalischen Begriffe durch die innerwissenschaftliche Diskussionen noch nicht wieder festgelegt sind, brauchen die Wissenschaftler eine gemeinsame philosophische Sprache, um über die Begriffe zu reden. Es gibt aber nicht notwendig eine Übertragung des Inhalts der Philosophie, die zur Verfügung steht, auf den Inhalt der neuen oder reformierten Wissenschaft. 5 6
Vgl. die Beiträge von Gregory, Lenoir und Tsouyopoulos in diesem Band. Vgl. Wolfgang Lefevre, Wissenschaft und Philosophie bei Feuerbach, in: Rationalität und Sinnlichkeit bei Feuerbach, Berlin 1992 (im Druck).
7
Immanuel Kant, Logik. Vorrede, § vi, in: Studienausgabe, Bd. 3, hrsg. von W Weischedel, Darmstadt 1959, S.471.
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Man könnte daher behaupten, pragmatisch könne man besser (oder schlechter) über physiologische Begriffe in dem Hegeischen System als etwa in dem Comteschen reden, ohne behaupten zu wollen, die Physiologie sei dadurch hegelianisch geworden. In der Umbruchssituation der Physik in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts haben viele führende Physiker die Philosophie Kants als Mittel zur Reflexion über Begriffe und Praxis der Physik benutzt, ohne daß die heutige Quantenphysik dadurch kantianisch wurde.
II. Philosophierende Wissenschaft Diese beiden letztgenannten Möglichkeiten, die Philosophie in die Wissenschaft hineinzubringen, hat auch Johannes Müller gesehen. Die erste, die Philosophie als theoretisches Moment der Empirie, sah er schon in der verständigen Physiologie gut aufgehoben. Die zweite, die Philosophie als Sprache über Begriffe, ließ er neben der denkenden Physiologie als Philosophie weiter bestehen. 8 Seine Sicht der Rolle der Philosophie in der Wissenschaft scheint aber noch ehrgeiziger gewesen zu sein. Er hat nicht nur über seine Praxis als Physiologe mit philosophischen Mitteln, die er von Kant, Hegel, Schelling u. a. entlehnt hatte, 9 reflektiert, er beanspruchte sogar, die Physiologie mit diesen Mitteln zu durchdringen, um sie so erst zur eigentlichen Wissenschaft zu machen. Seinem Anspruch nach gab es einen kognitiven Bezug zwischen dem Inhalt seiner philosophischen Naturbetrachtung und dem Inhalt seiner Physiologie. Wie sollten wir die Existenz eines solchen Bezugs nachweisen? Und wie soll man denn überhaupt eine „vernünftige" oder „denkende" im Gegensatz zu einer bloß „verständigen" Physiologie verstehen? Unter Umgehung des Problems, wie denn eigentlich eine philosophische Position sich physiologisch realisieren kann, scheint es mir zwei Möglichkeiten zu geben, diese Fragen anzugehen, d. h. zwei Möglichkeiten, die nicht selbst schon eine Klärung des Bedingungsverhältnisses von Philosophie und Physiologie voraussetzen. Wie in der antiken Proportionslehre müßte man Gleiches mit Gleichem vergleichen: 1) Man vergleiche die tatsächlichen Inhalte und Verfahrensweisen von Müllers (denkender) Physiologie mit denjenigen eines in den Augen Müllers beispielhaft verständigen Physiologen. 2) Man vergleiche seine philosophische Reflexion über die physiologische Praxis, die er lehrte, mit der Reflexion seiner Schüler über die physiologische Praxis, die sie bei ihm lernten. Müllers Modell einer vernünftigen Physiologie ist das Studium der Morphogenese, von der Driesch sagte, sie sei „des Vitalismus eigentlicher Boden, aus ihr allein
8 9
Vgl. den Beitrag von Rheinberger in diesem Band. Vgl. die Beiträge von Wahrig-Schmidt, v. Engelhardt, Hagner, Mazzolini und Tsouyopoulos in diesem Band.
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saugt er recht eigentlich seine K r ä f t e " . 1 0 Und Müller nennt auch Namen: Der für ihn vorbildliche vernünftige Physiologe ist Caspar Friedrich Wolff, dessen Über die Bildung des Darmkanals im bebrüteten Hühnchen durch die Ubersetzung von J . F. Meckel 1812 wieder ins Gespräch gebracht wurde; der vorbildlich verständige Physiologe ist Johann Christian Reil, der Lehrer von Müllers Bonner Lehrer, Friedrich Nasse. Es müßte möglich sein, durch einen Vergleich der physiologischen Praxis von Wolff, Reil und Müller, d. h. durch Herausarbeitung derjenigen Gemeinsamkeiten von Wolff und Müller, die gleichzeitig Differenzen zu Reil darstellen, den Unterschied in der Praxis zwischen einer „vernünftigen" und einer „verständigen" Physiologie im Sinne Müllers zu klären. Das, was an Müllers Programm einer philosophischen Durchdringung der Wissenschaft mehr ist als die übliche Vorrede-Philosophie, die naturwissenschaftlichen Büchern manchmal vorangestellt zu werden pflegt, müßte sich nicht notwendig nur im kognitiven Gehalt seiner Physiologie selbst zeigen. Es könnte auch in der philosophischen Reflexion von Müllers Schülern über die eigene Praxis zu finden sein. Da Müllers Schüler bei ihm nicht Philosophie, sondern Physiologie studierten, wäre zu hoffen, daß mindestens die Besseren unter ihnen seine explizite Philosophie sich nur soweit zu eigen machten, als sie wirklich in der Praxis ihrer Wissenschaft verkörpert und aus der Reflexion über sie gewonnen wurde. Das heißt, wir können vielleicht den nicht direkt bestimmbaren philosophischen Input in Müllers Physiologie an dem philosophischen Output bei seinen Schülern messen. Aber dann haben wir als Input Das Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung und als Output das Ignorabimus von du Bois-Reymond und die Welträtsel von Haeckel. Angenommen, daß beide Richtungen berechtigt sind, das Erbe Müllers anzutreten: Was sagt uns dies über die Art von philosophischer Naturbetrachtung, die Müller durchgeführt hat?
I I I . Ü b e r K a n t hinaus: die Naturphilosophie Die Frage nach dem Zusammenhang von theoretischer und praktischer Vernunft durchzieht das kritische Projekt von Kant; aber im Ergebnis ist die Beziehung zwischen den beiden Bereichen recht bescheiden. Das bloß Faktische darf natürlich keinen Einfluß haben auf den Inhalt dessen, was moralisch zu verwirklichen ist, aber der umgekehrte Einfluß des Normativen auf das Faktische muß möglich sein, wenn die Freiheit Konsequenzen haben soll. Daß der Mensch als moralisches Subjekt in der materiellen Welt handeln können soll, war allerdings nur eine moralische Notwendigkeit für Kant, eine Forderung, die er aufstellte: es soll so sein. Daß die Möglichkeit einer solchen Handlung mindestens widerspruchsfrei zu denken
10
Hans Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und Lehre, Leipzig 1905, S. 103.
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sei, wollte er in der Kritik der reinen Vernunft bewiesen haben - nicht die Existenz der Freiheit, sondern bloß ihre (logische) Möglichkeit. In der Einleitung zur dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, faßte Kant diesen Gedanken zusammen: „Der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme."11 Der deutsche Idealismus ging noch einen Schritt über Kant hinaus, indem er die Geltung von Kants Forderung unterstellte und daraus Konsequenzen für die Kenntnis der Natur zog. Im sogenannten Altesten Systemprogramm des deutschen Idealismus stoßen wir unter dem Titel „Eine Ethik" auf folgenden Kernsatz: „Die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben." 12 Aus der Kantischen Behauptung der moralischen Notwendigkeit einer Welt, die unsere moralischen Handlungen mindestens zuläßt, wurde ein Programm zur inhaltlichen Erkenntnisgewinnung über eben diese Welt. Wir haben - auch nach Kant - durch Apperzeption einen direkten Zugang zu uns selbst als moralische Subjekte, als Dinge an sich. Nach dem Systemprogramm sollen wir dann aus der a priori Erkenntnis der moralischen Natur des Menschen Bedingungen für die Struktur der materiellen Wirklichkeit herauslesen können: Denn sie muß nicht nur so beschaffen sein, daß ein moralisches Wesen (wie wir es sind) in ihr handeln kann, sondern sie ist auch für diese moralischen Wesen da. Aus dieser Notwendigkeit läßt sich manches über die Welt spekulativ vorgreifen, wenn wir die Natur des Vernunftwesens Mensch als Ausgangspunkt nehmen. Diese Zuversicht, daß die menschliche Freiheit und die naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht nur vereinbar seien, sondern daß die moralische Handlung sogar erkenntnisleitend sein könnte, wich dem eher nüchternen Versuch, über das faktische Wissen der Wissenschaften in der Perspektive der menschlichen Freiheit zu reflektieren. Auf jeden Fall aber, ob beim jungen Schelling oder beim alten Hegel, bilden Wissenschaft, moralische Praxis und die Reflexion auf beide weitgehend noch Momente einer Einheit. Auch wenn man bei einem spekulativen System den Verdacht nicht unterdrücken kann, daß es in Wirklichkeit von Anfang an an der Empirie entlang „konstruiert" wurde, so bleibt es nichtsdestotrotz ein System, d. h., alles hat darin seinen nicht ganz beliebigen Platz. Die Erkenntnisse einer 11
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Β X I X f . , in: Studienausgabe, Bd. 5, Darmstadt
12
Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, hrsg. von M . Frank und G . Kurz,
1957, S. 247f. (Hervorhebung Ρ Μ.). Frankfurt a. M . 1975, S. 110.
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einzelnen Wissenschaft werden integriert in eine Reflexion über das Gesamte der menschlichen Erkenntnis und Praxis. Weil sie Momente eines Systems sind, haben sie auch Konsequenzen für andere Bereiche. Und weil der Ausgangspunkt die moralische Natur des Menschen war, war für die spekulative Konstruktion der Welt die wichtigste Wissenschaft eben die Wissenschaft vom Menschen. War im 18. Jahrhundert die Newtonsche Mechanik die Leitwissenschaft, an der weltanschauliche Fragen gestellt und geklärt wurden, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Evolutionstheorie, so war es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich die Physiologie, an der die praktische und politische Brisanz der Wissenschaft zum Ausdruck kam. Angesichts der Einbindung von empirischem Wissen, theoretischer Integration und praktischer Reflexion in der Naturphilosophie, von der Müller ausgeht, dürfte es klar sein, daß der agnostische Kantianismus von Helmholtz und du Bois-Reymond nicht das alleinige philosophische Erbe Müllers sein konnte. Gab du BoisReymond die Fragen nach dem Zusammenhang von Wissen und Praxis an eine Philosophie weiter, die keinen Anspruch auf verbindliches (wissenschaftliches) Wissen mehr erheben durfte, so sollte es nicht überraschen, daß andere, wie Haekkel und Moleschott, 13 die diese Fragen nicht der Unverbindlichkeit überlassen wollten, versucht haben, sie direkt mit den Mitteln der Naturwissenschaft anzugehen, als wären sie Fachfragen ihrer Disziplinen. Beide Vorgehensweisen sind in ihrer Einseitigkeit mögliche Nachfolger der Müllerschen Einheit von Fachwissen und philosophischer Reflexion unter der Bedingung der erfolgten Institutionalisierung der Trennung von Philosophie und Wissenschaft. 14
IV Gegen Kant: das holistische Experiment Kant hatte, mehr oder weniger explizit, den Vitalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts als die gültige Form der Biologie seiner Zeit akzeptiert, wiewohl er auch einen wichtigen Einwand gegen eines der Grundpostulate dieser Schule hatte. Er hat im Vitalismus den fehlerhaften Versuch gesehen, einen Grundwiderspruch in der entstehenden Wissenschaft vom Leben aufzulösen. In seiner „Kritik der teleologischen Urteilskraft" formulierte er diesen anscheinenden Grundwiderspruch in den kognitiven Ansprüchen der Biologie als eine „Antinomie": Sie sollte bestehen zwischen dem allgemeinen mechanistisch-reduktionistischen Erklärungsideal der Biologie einerseits und ihrer holistischen Konzeptualisierung des Organismus 13
14
Moleschott studierte nicht bei Müller, sondern bei seinem ersten Schüler Jakob Henle. Vgl. Gottfried Koller, Das Leben des großen Biologen Johannes Müller (1801-1858), Stuttgart 1958, S.226. Zu diesem Prozeß im frühen 19. Jh. vgl. W Lefevre, Wissenschaft und Philosophie bei Feuerbach, a.a.O.
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andrerseits. Der Vitalismus löste diesen Widerspruch, indem er zwar alle Erscheinungen eines organischen Systems auf nicht hinterfragbare allgemeine Grundeigenschaften der materiellen Teile reduzierte, aber unter diesen Eigenschaften aller Materie auch eine holistisch wirkende Lebenskraft vorsah, die nur in und aufgrund von bestimmten Strukturen (ζ. B. Fasern, Schleimgewebe, organischen Molekülen) geäußert werden sollte: Holismus und Reduktion wurden insofern versöhnt, als nicht die Einwirkung eines Ganzen auf seine Teile angenommen wurde, sondern nur die systemdeterminierte Auslösung einer allen Teilen schon immanenten (holistischen) Potenz. Die Ursache dieser Potenz galt als unerforschlich.15 Auch Müller sagte: „auf welche Art eine Kraft, die zur Bildung und Erhaltung der organischen Materie durchaus nothwendig ist, aber anderseits sich auch nur an organischen Materien äussert, zur Materie gekommen ist, liegt ausser aller Erfahrung und Wissen". 1 6 Die (ontologische) Reduktion eines organischen Systems auf die Eigenschaften seiner Teile impliziert aber keine (Theorie-)Reduktion der Biologie auf Physik, weil mindestens eine allgemeine Eigenschaft der Materie, die Lebenskraft, keine Rolle in der Physik spielte, so daß es dem Vitalismus gelungen ist, eine reduktionistische Biologie zu begründen und nicht bloß eine neue Fassung der organischen Physik. Kant dagegen bot für die beiden sich widerstreitenden regulativen Prinzipien (reduktionistisches Ideal und holistische Konzeptualisierung) einen anderen modus vivendi (oder movendi) an, der es der Biologie erlauben sollte, mechanistisch zu bleiben, ohne auf eine phänomenologisch befriedigende Konzeptualisierung des Organismus verzichten zu müssen. Aber die Autonomie der Biologie gegenüber der Physik wurde nicht ontologisch in den Eigenschaften der Materie begründet, sondern bloß methodologisch in einer mechanistischen Eigentümlichkeit unseres Verstands bzw. unserer Methode. Die scheinbare kausale Einwirkung des organischen Ganzen auf die Eigenschaften der organischen Teile sollte man immer deuten, als wäre sie eine Einwirkung der Idee des Ganzen (durch einen verständigen Agenten) auf die Teile, ohne zu unterstellen, daß es diesen verständigen Agenten wirklich gibt - aber auch ohne zu unterstellen, daß wirklich eine kausale Einwirkung vom Ganzen auf die Teile vor sich geht. Diese Problematik spricht Müller u. a. in seiner Bonner Antrittsrede und in den Prolegomena zu seinem Handbuch der Physiologie direkt an, wenn er das physio-
15
Vgl. Ε McLaughlin, Newtonian Biology and Kant's Mechanist Conception of Causality, in: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses 1990, Bd. II. 2, Bonn 1991, S. 5 7 - 6 6 .
16
Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, Coblenz 1834, S. 18 (Hervorhebung P. M.).
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logische Experiment analysiert. 17 Vielleicht können wir hier beginnen, die Konturen seiner „vernünftigen" Physiologie zu sehen. Kant hatte einen Denkansatz bereitgestellt, der dem mechanistisch experimentierenden Wissenschaftler sein holistisches Organismusbild läßt, wenn er eins haben will. Dagegen fragt Müller in seiner Überlegung nicht, wie er eine mechanistische Praxis mit seinem Holismus vereinbaren soll, sondern wie eine seinem Organismusbild entsprechende Praxis aussehen soll: wie er holistisch experimentieren soll. Nach der Kritik der Urteilskraft ist der menschliche Verstand per se mechanistisch, so daß anläßlich einer bestimmten Erfahrung, nämlich der des Organismus, wir die zwecksetzende Vernunft ins Spiel bringen müssen. Kant hatte von einer „Kausalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht wird" gesprochen, wobei er die kausale Einwirkung der Teile auf das Ganze meinte. 18 Müller argumentiert auch mit denselben drei Elementen - Erfahrung, Verstand, Vernunft - und scheint mit seiner Berufung auf das Vernünftige der Physiologie die umgekehrte Kausalverbindung des Ganzen auf die Teile zu meinen. „Wir sehen die Entwickelung des Embryo aus dem Keim, wie ein Fortschreiten des Allgemeinen und Ganzen in seine integrierenden Theile. Diess ist in den physikalischen Gesetzen nicht der Fall." 1 9 Kant hatte zwar zugestanden, es könne „eine Kausalverbindung nach einem Vernunftbegriffe (von Zwecken) gedacht werden, welche sowohl abwärts [Ganzes-Teil] als aufwärts [Teil-Ganzes] Abhängigkeit bei sich führen würde". 2 0 Aber, weil er die zweite (denkbare) Art Abhängigkeit - die des Teils vom Ganzen - für experimentell nicht simulierbar hielt, meinte er, wir sollten es der Natur auch nicht unterstellen: Wir manipulieren die Eigenschaften eines Ganzen dadurch, daß wir über die Teile verfügen, nicht umgekehrt. Die „Analytik der teleologischen Urteilskraft" schließt mit der Forderung, deshalb der Natur keine holistischen Wirkungsweisen zu unterstellen: „Dies geschieht, um das Studium der Natur nach ihrem Mechanismus an demjenigen fest zu halten, was wir unserer Beobachtung oder Experimenten so unterwerfen können, daß wir es gleich der Natur, wenigstens der Ähnlichkeit der Gesetze nach, selbst hervorbringen könnten; denn nur so viel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zu Stande bringen kann." 21 Wenn aber das Experiment nicht per se mechanistisch wäre, dann müßte man in der Wissenschaft auch holistische Erklärungen mit den holistischen Experimenten 17
Vgl. die Beiträge von L o h f f , Rheinberger und Wahrig-Schmidt in diesem B a n d .
18
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Β 289, Β 314, S . 4 8 4 , S. 500. Vgl. Peter M c L a u g h l i n ,
19
Johannes Müller, Bildungsgeschichte der Genitalien, D ü s s e l d o r f 1830, S. X .
Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, B o n n 1989, S. 44ff., 137ff. 20
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Β 289, S. 484.
21
E b e n d a , A 3 0 5 - A 306, S. 497f.
Nachgedanken
311
zulassen. Müller fordert, „daß man wie die liebe Natur bei der E n t w i c k l u n g und Erhaltung der organischen Wesen verfährt, aus dem Ganzen in die Teile strebe". 2 2 N u r wenn man holistisch experimentieren kann, darf man die Natur auch holistisch betrachten, wäre die Kantische Position. Müllers Position scheint die zu sein: Weil die Natur holistisch ist, muß man auch so experimentieren. Vielleicht liegt hier der Keim einer Erklärung dafür, was Müller wirklich operationell mit der vernünftigen im Gegensatz zur verständigen (Kantischen) Physiologie gemeint hat. U n d wenn Kant zunächst recht gehabt haben sollte, hätten wir vielleicht auch den Anfang einer Erklärung, warum Müller später zunehmend vom eigentlichen Experiment zu einem Verfahren übergegangen ist, das er selbst „bloße Beobachtung und anatomische Empirie" nannte. 2 3
V Schluß D i e Frage bleibt natürlich noch offen, was denn das Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung ist und wie man zu diesem Bedürfnis stehen soll. Ich habe versucht, aufgrund der mir vorliegenden Forschungen vier Aspekte dieser Frage etwas näher zu beleuchten: 1) die Einflußmöglichkeiten einer Philosophie auf eine Einzelwissenschaft; 2) die Möglichkeit den Erfolg eines solchen Einflusses zu dokumentieren; 3) das Bedürfnis der Physiologie (aber auch einer jeden anderen Einzelwissenschaft) nach einer Ortsbestimmung ihrer Tätigkeit im Gesamt der menschlichen Praxis, die ihren eigenen Standards an Wissenschaftlichkeit genügt; und 4) die Hoffnung der Physiologie, als biologische Grundwissenschaft mit Hilfe der Philosophie die durch ihre eigenen Methoden und Instrumente gesetzten Schranken zu überwinden.
22 23
J. Müller, Bildungsgeschichte der Genitalien, a.a.O., S. IX. Ebenda, S. VIII.
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Welsch, Wolfgang (1987): Ästhetisches Denken, Stuttgart. Wentscher, Max (1913): Hermann Lotze, Heidelberg. Winkelmann, Stephan August (1803): Begrif des Idealismus. Ein philosophisches Gespräch, Göttingen. Witte, Erich (1942): Beitrag zur Kenntnis der Bildung von Purkyne, in: Sudhoffs Archiv 35, S. 348-356. Woodward, William R. (1975): Hermann Lotze's Critique of Johannes Müller's Doctrine of Specific Sense Energies, in: Medical History 19, pp. 147-157 Woodward, William R./Ash, Mitchell G. (Hrsg.) (1982): The Problematic Science: Psychology in Nineteenth-Century Thought, New York. Wundt, Wilhelm (1862): Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, Leipzig - Heidelberg. Wundt, Wilhelm (1912): Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, Leipzig. Young, Robert M. (1970): Mind, Brain and Adaptation in the Nineteenth Century. Cerebral localization and its biological context from Gall to Ferrier, Oxford.
Autorenverzeichnis
Dr. Ursula Baatz, Institut für Philosophie, Universität Wien Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt, Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Medizinische Universität zu Lübeck Prof. Dr. Frederick Gregory, Department of History, University of Florida, Gainesville Dr. Michael Hagner, Institut für Geschichte der Medizin, Georg-August-Universität Göttingen Dr. Godelieve van Heteren, Faculteit der Medische wetenschappen, Katholieke Universiteit Nijmegen Dr. Erika Krauße, Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Richard Kremer, Department of History, Dartmouth College, Hanover, New Hampshire Dr. Hans-Uwe Lammel, Institut für Geschichte der Medizin, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Timothy Lenoir, Program in the History of Science, Stanford University, Stanford, California Dr. Hans-Ulrich Lessing, Institut für Philosophie, Ruhr-Universität Bochum PD Dr. Brigitte Lohff, Institut für Geschichte der Medizin und Pharmazie, ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Renato Mazzolini, Dipartimento di Stori della Civiltä Europea, Universitä degli Studi di Trento Dr. Peter McLaughlin, Institut für Philosophie, Universität Konstanz Prof. Dr. Stefano Poggi, Istituto di Filosofia, Universitä degli Studi di Firenze Dr. habil. Hans-Jörg Rheinberger, Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Medizinische Universität zu Lübeck Prof. Dr. Nelly Tsouyopoulos, Institut für Theorie und Geschichte der Medizin, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
334
Autorenverzeichnis
Dr. Gerlof Verwey, Psychologisch Laboratorium, Katholieke Universiteit Nijmegen Dr. Bettina Wahrig-Schmidt, Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Medizinische Universität zu Lübeck Prof. Dr. William R. Woodward, Department of Psychology, University of New Hampshire, Durham
Namenverzeichnis
Agassiz, Louis 229, 232 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum 27, 122 Apelt, Ernst Friedrich 162 Aristoteles 11-21, 24, 61, 93, 100, 181, 186, 187, 262, 295, 296, 297 Arrington, George E. 20 Ayrault, Roger 87 Baatz, Ursula 258, 260, 295 Back, Friedrich 17 Back, Rudolf 17 Bacon, Francis 47, 71, 75, 93, 148 Baer, Karl Ernst von 21, 46, 102, 224, 235 Bahr, Hermann 270 Barnouw, Jeffrey 150 Baumgaertner, Karl Heinrich 158 Bayertz, Kurt 276, 277, 278, 280, 281, 282, 289 Becker, Wilhelm Adolph 21 Bekker, Hermann 18 Bell, Charles 67, 115, 122, 158 Benes, Josef 102 Benn, Gottfried 239 Berg, John R. 102 Bernard, Walter 30 Bernoulli, Jakob 100 Bernstein, Aaron 147 Bertalanffy, Ludwig von 175 Berzelius, Jörn Jacob 143 Bezold, Friedrich von 16 Bidder, Julius Heinrich 164
Bilz, Rudolf 37 Bischoff, Christian Hinrich 87 Bischoff, Theodor 160 Blackmore, John 255 Bleker, Johanna 290 Blumenbach, Johann Friedrich 46 Boeckh, August 242 Boenitz, Hermann 18 Bogdanow, Α. A. 277 Böhme, Gernot 269 Böhme, Hartmut 269 Boltzmann, Ludwig 277 Bonaventura, Enzo 20 Boring, Edwin G. 202 Brandis, Christian August 13, 14, 16-18, 87 Brandis, Joachim Dietrich 18 Bratuscheck, Ernst Carl Ludwig 11 Brentano, Clemens 275 Broman, Thomas H. 294 Bronn, Georg Heinrich 234 Broussais, Frangois 78 Brown, John 78, 79, 99 Brücke, Ernst 7 Bruno, Giordano 46, 58, 137, 237 Buchdahl, Gerd 162, 163 Büchner, Ludwig 146, 284 Buckle, Thomas 242, 243 Bunge, Mario 175 Burdach, Karl Friedrich 283 Burmeister, Hermann 234 Busse, Ludwig 174
336 Cahan, David 222 Calker, Friedrich von 87 Callisen, A. C. Ε 296 Caneva, Kenneth L. 47, 164 Canguilhem, Georges 125 Cannon, Walter 156 Carnap, Rudolf 255 Cartwright, Nancy 156 Carus, Carl Gustav 88 Cassirer, Ernst 106 Chadwick, Owen 145 Chamisso, Adalbert von 161 Colli, Giorgio 9 Comte, Auguste 242, 243, 305 Condillac, Etienne Bonnot de 66 Cuvier, Georges 21, 134, 224, 235 Daniels, Roland 289, 290f. Darwin, Charles 7, 224, 228, 229, 232, 304 Davidson, Donald 176 Dear, Peter 106 Descartes, Rene 35, 36, 173, 176, 177, 179, 264 Diderot, Denis 302 Dilthey, Karl 244 Dilthey, Wilhelm 239-254 Dingler, Hugo 106 Dittrich, Adolf 268 Döllinger, Ignaz 21, 46, 110, 184 Dömling, Johann Josef 184 Dorsch, Friedrich 156 Dreyfus, Η . 176 Driesch, Hans 305f. Du Bois-Reymond, Emil 7, 29, 40, 67, 72, 74, 77, 80, 97, 101, 102, 105, 113, 118, 120f„ 126, 141, 143, 144, 148f„ 233, 295, 297, 298, 303, 306, 308 Dubois, Peter Moritz 167 Dühring, Eugen 284 Ebbecke, Ulrich 15, 239, 245 Eccles, John C. 174, 175 Eco, Umberto 275
Namenverzeichnis Ehrenberg, Christian Gottfried 227 Eisler, Rudolf 174 Elkana, Yehuda 303 Eisner, Helmut 290 Engelhardt, Dietrich von 46, 48, 68, 87, 102, 129, 144, 146, 293, 294, 295, 296, 305 Engels, Friedrich 281,288, 289,290 Epikur 100 Ermann, Wilhelm 19 Ernesti, Johann August 241 Ersch, Johann Samuel 283 Esenbeck, Christian Gottfried Daniel Nees von 27, 87 Euler, Leonhard 100 Falkenberg, Petra 148 Fechner, Gustav Theodor 174, 204, 247, 256, 269, 270 Feigl, Hubert 174 Feldmann, Erich 16, 18 Feuerbach, Ludwig 152, 275f„ 278, 281-287, 289f. Fichte, Immanuel 220 Fichte, Johann Gottlieb 25, 41, 56, 66, 87, 173, 220 Fischer, Alfons 259 Fontane, Theodor 291 Foucault, Michel 36 Franklin, Kenneth J. 156, 170 Frantzius, Alexander von 12, 13 Fries, Jakob Friedrich 101, 146, 148, 150, 152, 153, 161, 162f„ 283 Gadamer, Hans-Georg 243 Galen 68f„ 73 Gall, Franz Joseph 185 Gegenbaur, Karl 225 Gehlen, Arnold 175 Geison, Gerald 156, 170 Gillispie, Charles Coulton 301 Gode-von Aesch, Alexander 87 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 20, 38, 40, 41f„ 90, 95, 100, 103, 129, 134, 146,
Namenverzeichnis 148, 150, 151, 188, 189, 191, 193, 197-200, 204, 205f„ 234, 237, 239, 248, 249, 255, 268, 270, 271, 297 Goldfuß, Georg August 87, 88 Goldscheider, Alfred 186 Gozzi, Guido 158 Gregory, Frederick 70, 146, 147, 150, 163, 297, 304 Gresky, Walter 162 Griesheim, Karl Gustav Julius von 88 Griesinger, Wilhelm 181 Gruber, Johann Gottfried 283 Haberling, Wilhelm 12, 15, 32, 40, 102, 139, 146, 179 Hacking, Ian 153, 156 Haeckel, Ernst 7, 102, 223-237, 298, 306, 308 Hagner, Michael 44, 137, 208, 283, 305 Haller, Rudolf 269 Hamilton, James 25 Hampshire, Stewart 176 Harig, Gerhard 276 Hartmann, Philipp Carl 283 Hastedt, Heiner 175, 187 Hecaen, Henri 186 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 21, 25, 46, 48, 53, 58, 62, 63, 66, 85-103, 129f„ 134, 143, 144, 145, 146, 148, 153, 173, 174, 178, 194, 243, 296, 297, 305, 307 Heidegger, Martin 175 Heine, Heinrich 161 Helmholtz, Ferdinand 217 Helmholtz, Hermann von 7, 117, 121, 150, 151, 178, 191, 202, 203, 206, 207-210, 212, 215-222, 239, 244, 247, 266,271,298, 308 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 17, 18 Henle, Jakob 155, 157, 158, 163, 165, 166, 167-170, 308 Herbart, Johann Friedrich 56, 61, 162, 182,211,220, 221,268 Hering, Ewald 191, 192, 202-206, 213
337 Hertwig, Richard 227 Hesse, Mary B. 52, 156 Heyse, Johann Christian August 260 Hillebrand, Franz 204, 205 Himly, Ernst August Wilhelm 100 Hirsch, Gottwalt Christian 126 Hirzel, Salomon 155 His, Wilhelm 244, 245, 248 Hobbes, Thomas 20 Hoevel 159 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 161 Hölderlin, Friedrich 249 Holenstein, Elmar 261 Holz, Hans Heinz 59 Hospers, John 174 Humboldt, Alexander von 95, 103, 122, 179 Humboldt, Wilhelm von 243, 293 Hume, David 60f. Husserl, Edmund 259, 273 Immermann, Karl 161 Ingersleben, Karl Heinrich Ludwig Freiherr von 23 Irrlitz, Gerd 280 Isensee, Emil 88 Jacobi, Bernard August 17 Jäger, Gustav 234 Jahnke, Hans Niels 289 Jaspers, Karl 30, 176 Jonas, Ludwig 241 Juschkewitsch, Ρ S. 277 Kaltenbrunner, Georg 158 Kant, Immanuel 25, 36, 45-63, 65, 66, 70, 71, 72, 75, 77, 101, 107-109, 111, 121, 130, 149f„ 153, 161, 162f„ 174, 189, 203, 207, 208, 209, 211, 212, 214, 220, 221, 245, 263, 269,285, 294, 295, 297, 301, 303, 304, 305, 306f„ 308-311 Kasanmoentalib, Soemini 188 Kastner, Karl Wilhelm Gottlob 87, 88
338 Kautsky, Karl 281 Keil, Karl August 241 Kepler, Johannes 100 Kerner, Justinus 161 Kessler, August Eduard 184, 284 Kielmeyer, Karl Friedrich 46 Kieser, Dietrich Georg 88 Kittler, Friedrich 260 Kluckhohn, Paul 38 Knatz, Lothar 291 Koch, Carl Friedrich 158 Köhnke, Klaus Christian 203, 208, 220, 278 Koller, Gottfried 105, 126, 139, 140, 170, 308 Kölliker, Albert von 164, 225, 234 Kondylis, Panajotis 267 König, Josef 54, 59, 62f. Korch, H. 163 Körner, Stephan 161,166 Krehl, Ludolf 187 Kries, Johannes von 187, 188 Kruta, Vladislav 102 Kuhn, Thomas S. 108 Lamarck, Jean Baptiste de 224 Lammel, Hans-Uwe 295 Lange, Friedrich Albert 203, 239, 245, 278f. Lanteri-Laura, Georges 186 Latour, Bruno 294 Laudan, Larry 156 Lazarus, Moritz 242, 247 Lefevre, Wolfgang 304, 308 Leibbrand, Werner 87 Leibniz, Gottfried Wilhelm 65, 93 Lenau, Nikolaus 249 Lenin, Wladimir Iljitsch 275-281, 284f„ 288f„ 295 Lennig, Petra 171 Lenoir, Timothy 45-47, 53, 58, 130, 133, 136, 163, 208, 273, 295, 304 Lenz, Max 12, 102
Namenverzeichnis Lesch, John E. 298 Lessing, Hans-Ulrich 240, 242, 248, 252 Leukipp 100 Lichtenstein, Hinrich Martin 14, 25 Lieberkühn, Nathaniel 139 Liebert, Arthur 12, 46, 57, 58, 279 Liebig, Justus 46 Link, Heinrich Friedrich 25 Liskutin, I. 102 Locke, John 66,210 Lohff, Brigitte 50, 58, 66, 86,108, 109, 110, 111, 112, 118, 120, 136, 159, 184, 225, 287, 298, 310 Lotze, Hermann 144, 155, 157, 158, 160-170, 218, 221, 259 Luden, Heinrich 283 Ludwig, Carl 187 Ludwig, Otto 248 Lukrez 100 Mach, Ernst 255-274, 276, 279 Magendie, F r a ^ o i s 121f., 158, 178 Marcus, Adalbert Friedrich 88 Marquard, Odo 42, 270 Marx, Karl 280, 281, 285, 289, 290 Mayr, Ernst 228 Mazumdar, Pauline Μ. H . 158 Mazzolini, Renato 56, 295, 305 McLaughlin, Peter 309, 310 Meckel, Johann Friedrich 306 Mehring, Franz 281 Meyer, Franz 16 Meyer, Jürgen Bona 13, 14 Meynert, Theodor 178, 270 Mill, John Stuart 242, 243 Misch, Georg 240 Mocek, Reinhard 291 Moleschott, Jakob 284, 308 Moore, James 145 Mortensen, Theodor 139 Müller, Karl 283 Müller, Martin 12, 15, 29, 40, 47, 58, 61, 86, 88, 105, 151, 152, 153, 297, 298
Namenverzeichnis Müller, Max
13
Nagel, Thomas 174, 176 Nasse, Christian Friedrich 68, 87, 306 Nasse, Hermann 165f. Naunyn, Berhard 139 Neumann, Karl Georg 109 Neumann, O. 189 Neuser, Wolfgang 88 Newton, Isaac 7, 54, 100, 197, 302 Nietzsche, Friedrich 9 Novalis 3 8 , 4 2 O'Shaughnessy, Brian 176 Oersted, Hans Christian 101 Oken, Lorenz 67, 88, 101 Ostwald, Wilhelm 102 Pashow 26 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 86 Petry, Michael J. 148 Philip, Wilson 158 Plateau, Joseph Antoine Ferdinand 269, 270 Platner, Ernst 283 Piaton 17, 77, 92, 100, 180, 283 Plessner, Helmuth 176 Plotin 100 Poggi, Stefano 1 1 , 6 1 , 2 0 3 , 2 9 5 Popper, Karl Raimund 108, 152 Post, Karl 86 Prochaska, Georg 73 Purkyne, Jan Evangelista 20, 100, 102, 204, 212, 269, 270, 296 Putnam, Hilary 152, 153 Pythagoras 180 Ranke, Leopold von 242 Regius, Henricus 35 Rehfues, Philipp Josef von 23, 24, 25 Rehmke, Johannes 278f. Reichert, Karl Bogislaus 229, 232 Reil, Johann Christian 49, 70f., 306
339 Renger, Christian 16 Retzius, Anders 140, 143 Rheinberger, Hans-Jörg 41, 62, 135, 207, 229, 288, 295, 305, 310 Riemann 283 Riese, Walther 20, 42, 186 Ritter, Heinrich Julius 242 Ritter, Johann Wilhelm 42, 101 Rodi, Frithjof 240f„ 243, 245, 247, 248 Roger, Jacques 36 Röschlaub, Andreas 68-71, 73, 75, 78, 79, 296 Rosenberg, Charles 294 Rosenkranz, Karl 101 Rothschuh, Karl Eduard 87, 105, 182, 183 Rouse, Joseph 156, 157 Rudolphi, Karl Asmund 25, 40, 67, 74, 88, 143, 144, 283 Ryle, Gilbert 175 Sajner, Josef 102 Sander, Richard 19 Sandführ, Klaus 20 Sandkühler, Hans Jörg 276, 285, 288 Savigny, Karl Friedrich von 243 Schachter, Stanley 156 Schaffer, Simon 42, 43, 144, 145 Scheidler, Karl Hermann 283 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 21, 25, 38, 40, 46,48, 56, 63, 65-83, 87, 88, 89, 93, 95, 98, 99, 101, 107, 108f., 110, 111, 144, 145, 146, 148, 150, 151, 152, 153, 154, 163, 173, 174, 178, 194, 294, 297, 298, 302, 305, 307 Scherer, Wilhelm 243f. Schipperges, Heinrich 86, 187, 188 Schlegel, Friedrich 38 Schleicher, August 237 Schleiden, Matthias Jacob 146, 162, 163, 230, 233 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 240, 241,242, 243, 244 Schlüter, Hermann 125, 126
340
Namenverzeichnis
Schmid, Carl Christian Erhard 283 Schmidt, Peter 12, 29f., 87, 143 Schneider 26 Schopenhauer, Arthur 66, 174, 255 Schubert, Gotthilf Heinrich 68, 88, 92, 101, 283 Schuhmann, Karl 273 Schulze, Johannes 15f., 17, 18, 22-27, 56, 296 Schwann, Theodor 136 Seifert, Josef 174 Shaffer, Jerome Α. 174 Smith, Roger 185, 186 Snelders, Henricus Α. M. 87 Sniadezki, Andreas 135 Sohni, Hans 87 Sommer, Manfred 192, 256, 258, 263 Spinoza, Benedictus de 20, 2 9 - 4 4 , 86, 108 Stahl, Georg Ernst 98 Stark, Carl Wilhelm 283 Steffens, Henrich 101 Steinbuch, Johann Georg 201, 210f., 212, 221 Steudel, Johannes 32, 41, 87, 179, 181, 298 Stilling, Benjamin 166, 167 Strack, Friedrich 2 Strauß, David Friedrich Strawson, Peter 176 Stumpf, Carl 202 Stürzbecher, Manfred
282
13
Tavris, Carole 156 Temkin, Owsei 178 Tetens, Johann Nicolas 283 Thorson, Gunnar 139 Tieck, Johann Ludwig 248 Tilliette, Xavier 68 Toellner, Richard 102 Toews, John E. 295 Toulmin, Stephen 177f. Tourtual, Caspar Theobald 211 Trendelenburg, Adolf llf., 14, 16, 18, 102, 242
Trendelenburg, Wilhelm 202 Treviranus, Gottfried Reinhold 158 Troeltsch, Ernst 243 Troxler, Ignaz Paul Vitalis 88, 100, 184 Tsouyopoulos, Nelly 46, 78, 296, 297, 298, 304, 305 Turner, R. Steven 202, 293 Uexküll, Jakob von 37, 68, 130, 190 Uexküll, Thure von 68, 72 Ulrici, Hermann 220 Uttal, William R. 175, 187 Valentin, Gustav 166, 167 Varrentrapp, Conrad 15 Verwey, Gerlof 60, 137, 184, 294 Virchow, Rudolf 7, 13, 31f„ 58f„ 143f„ 160 Vogel, Julius 167 Vogt, Carl 284 Volkmann, Alfred Wilhelm
157, 158, 164
Wade, Carol 156 Wagener, Guido 139 Wagner, Johann Jakob 184 Wahrig-Schmidt, Bettina 59, 295, 305, 310 Walentinow, N . W 277
128, 287,
Walker, Ralph 153 Walther, Philipp Franz von 87, 88 Warner, John Harley 294 Wasserman, Gerald S. 202 Weber, Eduard 157, 168 Weber, Ernst Heinrich 157, 158 Weber, Hans H. 205 Weber, Max 176 Weber, Wilhelm 157 Weinhold, Carl August 109, 110 Weinmann, Rudolf 20, 186 Weizsäcker, Viktor von 183f., 187-190 Welsch, Wolfgang 274 Wentscher, Max 144
186,
341
Namenverzeichnis Wernicke, Carl 178 Wheatstone, Charles 217 Wilbrand, Johann Bernhard 74 Windischmann, Karl Joseph 88 Winkelmann, Stephan August 284 Witte, Erich 102 Wittgenstein, Ludwig 174 Wolf, Christa 275, 276
Wolf, Friedrich August 243 Wolff, Caspar Friedrich 76, 129, 133, 306 Woodward, William R. 158 Wundt, Wilhelm 179, 197, 209, 215, 221, 239, 242, 267 Yorck von Wartenburg, Paul Young, Robert M. 186
250
EBERHARD DÖRING
Zufall der Forschung Aspekte zur Kunst der Erkenntnis
f:
1992. 224 Seiten 170 mm χ 240 mm Hardcover 68,- DM ISBN 3-05-02233-7
f 4 f
Dem Diktum Nietzsches „bevor gedacht wird, muß schon gedichtet worden seit? folgend stellt Eberhard Döring einen Abriß der neuzeitlichen Philoso- ? phie von Cusanus bis Goodman vor, der sich mit der Genesis von Theorien y beschäftigt, bevor von deren Geltung die Rede sein kann. Sein Thema „Zufall der Forschung" birgt die Kritik an der Konzeption des kritischen ft Rationalismus, wie er u. a. aus Poppers „Logik der Forschung" - auf die f der Titel anspielt - hervorgegangen ist. ^ Dementsprechend stehen vor allem ästhetische Fragestellungen zur „Kunst ·| der Erkenntnis" im Vordergrund der Betrachtung, woraus sich ein Pragma- 1;· tismus in Anlehnung an Kant, Hegel, Peirce, Rorty u. a. ergibt, der sich ( sowohl als Rationalitätskritik als auch im Sinne einerfunktionalen Relativie- ' rung der Ontologie versteht. j ν Aus dem Inhalt: % - Zur Vermittlung von Rationalität und Realität bei Popper g - Zur funktionalen Entitätsspezifikation bei Nikolaus von Kues - Zur Dynamisierung der transzendentalen Apperzeption bei Kant $ - Zur Kritik am kontrafaktischen Ideal bedeutungsidentischer Begriffe •-r bei Hamann - Zur idealistischen Überwindung der Erkenntnistheorie bei Hegel - Zur semiotischen Philosophie der Bildung und der unendlichen Semiose bei Rorty und Peirce j - Zur internen Überwindung des Realismus bei Hilary Putnam - Zur artifiziellen Erzeugung von Weltversionen bei Nelson Goodman Bestellungen richten Sie bitte an Ihre Buchhandlung oder an den
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J E A N PAUL M A R A T
Über den Menschen oder über die Prinzipien und Gesetze des Einflusses der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele Übersetzt von
JOACHIM WILKE,
herausgegeben von
G . MATTHIAS TRIPP
1992. 304 S e i t e n - 5 Abb. Hardcover 124,- DM ISBN 3-527-17576-8
Jean-Paul Marat, im englischen Exil lebend, hat sein bedeutendes philosophisches Werk 1775/76 in Amsterdam publiziert. Von den Zeitgenossen, besonders von Voltaire, verworfen und bis in die Gegenwart eher gering geschätzt, erhellt „ Überden Menschen"dennoch in einzigartigerweise die anthropologischen Voraussetzungen von Marats politischem Handeln. Die in dem Buch entwickelten Gedanken zur Einheit von Physik und Metaphysik, physischem und moralischem Verhalten stellen Marat in die Reihe jener Philosophen des 18. Jahrhunderts, die die gedanklichen Fundamente der Revolution von 1789 legten. Aus dem Inhalt: Vorrede Einleitung Erstes Buch: Worin die Physik des menschlichen Körpers behandelt wird Zweites Buch: Worin die menschliche Seele behandelt wird Drittes Buch: Worin der wechselseitige Einfluß der Seele und des Körpers abgehandelt wird Viertes Buch: Worin der Einfluß der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele erklärt wird Fortsetzungen des ersten Buchs Anhang von G. Matthias Tripp Nachwort Chronik der Lebensdaten von Jean-Paul Marat Bibliographie Bestellungen richten Sie bitte an Ihre Buchhandlung oder an den
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