Johannes Reuchlin und sein Kampf: Eine historische Monographie 383535129X, 9783835351295


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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Erstes Kapitel. Umwälzung der Seelen: ein Zeit-Hintergrund
Zweites Kapitel. Der junge Reuchlin
Drittes Kapitel. Das jüdische Problem meldet sich (Pico, Loans, Sforno)
Viertes Kapitel. Das vorbereitende Werk: ›Über das wundertätige Wort‹
Fünftes Kapitel. Humoristisches Zwischenspiel: Die beiden Komödien
Sechstes Kapitel. Rechtslage und Zustand des jüdischen Volkes in Deutschland zur Zeit Reuchlins. – Missive und Rudimenta
Siebentes Kapitel. Der Streit mit den Kölnern beginnt
Achtes Kapitel. Der Augenspiegel
Neuntes Kapitel. Weiterer Kampf. Bis zum päpstlichen Endurteil 1520
Zehntes Kapitel. Das vollendete Werk: ›De arte cabalistica‹
Elftes Kapitel. Die letzten Lebensjahre. Nachruhm, Porträt und Grabstein
Nachwort
Bibliographie
Nachwort von Karl E. Grözinger
Register
Editorische Notiz
Über den Autor
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Johannes Reuchlin und sein Kampf: Eine historische Monographie
 383535129X, 9783835351295

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Max Brod Johannes Reuchlin und sein Kampf

Max Brod Ausgewählte Werke Herausgegeben von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann in Zusammenarbeit mit Barbora Šramková und Norbert Miller

Max Brod Johannes Reuchlin und sein Kampf Eine historische Monographie Mit einem Nachwort von Karl E. Grözinger

Der Verlag dankt der Stadt Pforzheim, die die Drucklegung dieses Werks zum Gedächtnis an das 500. Todesjahr des Humanisten und Hebraisten Johannes Reuchlin großzügig gefördert hat.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© The Literary Estate of Max Brod at the National Library of Israel 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Aldus Roman Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf, © SG-Image unter Verwendung des Titelholzschnitts der ›Ketzerpredigt‹ von 1521 ISBN (Print) 978-3-8353-5129-5 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4813-4 ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4812-7

DEM ANDENKEN MEINER LIEBEN SCHWESTER SOPHIE

Inhalt ERSTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Umwälzung der Seelen: ein Zeit-Hintergrund

1 Der Beginn der Renaissance, nicht deutlich. Das Ende (Umschlag in die Karikatur) ist leichter zu fassen. – Ein Beispiel: Das Auftreten ›Agamemnons‹ in der Erzählung ›Euryalus und Lucretia‹ von Enea Silvio Piccolomini. 2 Verweltlichung im Zeichen der römisch-griechischen Kultur. Warum gerade damals? – Renaissancemenschen. ›Anziehendes Verbrechen‹. Protest; die zehn Gebote. – Die Thesen Heers: ›offene‹, relativ freie Periode des mittelalterlichen Europas, gefolgt (seit dem 13. Jahrhundert) von der ›geschlossenen‹, strengen Periode. – Die Grenzscheide: Ausrottung der Albigenser. – Richtiger: der 1. Kreuzzug. – Kastein übersetzt den Bericht eines jüdischen Zeitgenossen aus dem Jahr 1096. – Huizinga über den ›Herbst des Mittelalters‹. – Unerträglichkeit des kirchlichen Drucks. – Reliquienverehrung. – Dante über Aristoteles. – Höllenmilieu. – ›Die Gerechten aller Völker haben Anteil an der ewigen Seligkeit‹ (›an der kommenden Welt‹), ein Satz des Talmud. 3 Das Maß der Unduldsamkeit war voll. – Äußere Momente tragen zur seelischen Umwandlung bei. – Exzesse der neuen Freiheit. – Hutten an Pirckheimer. – Eine Mitte wird gesucht. – Der Jubelruf des Rabelais. – Dürers ›Meerwunder‹. 4 Syphilis. – Die Blague bei Rabelais. 5 Erasmus sieht die Katastrophe der Religionskriege voraus. – Seine allzu ängstliche Vorsicht. – Laurentius Valla. – Heidnische und christliche Motive, gemischt. – Die Dunkelmännerbriefe, ohne viel Witz wirksam. 6 Die Antike als Rettung. – Neuplatonismus. – Der echte Platon. Florenz. – Dirumpamus vincula eorum (Hutten).

ZWEITES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Der junge Reuchlin

1 Die freien Reichsstädte. – Pforzheim. – Pflügers Chronik der Stadt. – Die Bibliothek Reuchlins. – Ruinen seines Wohnhauses. 2 Seine Liebe zur Heimatstadt. – Lage der Stadt. – Sagen. – Hinweis auf Mörike und auf Reuchlins träumerische Veranlagung,

verbunden mit scharfer Erfassung des Wirklichen und mit Sachlichkeit. 3 Sprachstudien. Brief des Contoblacas an den Zweiundzwanzigjährigen. – Rückblick: Die Lateinschule in Pforzheim; 1473 Pariser Universität. – Kampf zwischen Realisten und Nominalisten. – Via antiqua, via moderna. – Reuchlins ›Philosophie in Symbolen‹. – Sein Lehrgang. Freundschaft mit Sebastian Brant. – Das erste Buch, der vocabularius breviloquus, in Basel, anonym. – Es ist heute noch nichts von Reuchlin in hochdeutscher Übersetzung erschienen. Ein Skandal! Dagegen Erasmus … – Orléans, Poitiers. – Der ungeliebte Beruf: Jus. 4 Tübingen. – Stuttgart. – Erste italienische Reise 1482, Florenz, Rom. – Die Medici. – Die 2. italienische Reise 1490 von größerer Bedeutung für Reuchlin. – Doktorat. – Reuchlins Familienleben, nach Decker-Hauff. – Im Dienste des Grafen Eberhard, in Italien und in Linz. 5 Der Dominikanerprior Jakob Louber in Basel. Der Kodex aus Ragusa. – Der Ordensprovinzial Sprenger. Der ›Hexenhammer‹. Reuchlin zwischen Mittelalter und Humanismus. Der Hexenwahn. Unangebrachte Höflichkeit Reuchlins. Die jüdische ›sitra achra‹.

DRITTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Das jüdische Problem meldet sich. (Pico, Loans, Sforno) 1490–1494, 1498

1 Schicksalvolles Zusammentreffen Reuchlins mit Pico da Mirandola. – Die Orphiker und Neuplatoniker. Gegenwirkung Savonarolas. – Ein höfischer Brief Picos im ›Stil der Zeit‹. 2 Picos Porträt und Abstammung. – Ein Lieblingskind des Schicksals. – Sprachstudien, auch hebräische. Geplanter Philosophenkongreß in Rom. Päpstlicher Bann. Kabbala (laut Pico) als Beweis für die Wahrheit des Christentums, von Reuchlin übernommen. Unrichtigkeit dieses Gedankens. Zobels Buch über den Messias. Sowohl spirituale wie politische Erlösung gefordert, beides gehört zur richtigen Konzeption des Judentums. 3 Einfluß des Cusanus auf Pico und Reuchlin. ›Genauigkeit gibt es nur in Gott‹. – Pico über die Kabbala. – Pico und Reuchlin beanstanden Fehler in den üblichen Bibelübersetzungen. Absolute Wahrheit gegen ›Engagement‹. – Andere Einflüsse Picos auf Reuchlin. – Mühlberger über Pico.

4 Reuchlin nach der 2. italienischen Reise. Juristerei. – Bei Kaiser Friedrich III. in Linz. – Reuchlin auf der Suche nach hebräischen (kabbalistischen) Büchern. Rabbi Margolith von Regensburg und sein Nachkomme. – Zwei Arten von Apostaten sind zu unterscheiden. – Jossel von Rosheim (S. Stern). – Sein Verwandter Jakob Loans, der Hebräisch-Lehrer Reuchlins. – ›Ad fontes‹. – Erasmus gegen das Hebräische. – Reuchlin orthodoxer Katholik, aber mit starkem Interesse für die Ursprache der Bibel. Dabei durchaus kein Judenfreund. Loans, die große Ausnahme. – Reuchlin schafft die Gestalt des schöpferischen ›guten‹ Juden, lange vor den zerstörerischen Gegentypen Marlowes und Shakespeares. – Das Dreigespräch in ›de arte cabalistica‹. – Reuchlin in Linz. Geadelt. Sein Wappen. – Der zweite Lehrer: Owadja Sforno aus Cesena. – Der Rationalismus der ersten modernen jüdischen Historiker. Er muß korrigiert werden. Die Arbeit Gershom Scholems. – Sforno spricht.

VIERTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Das vorbereitende Werk ›Über das wundertätige Wort‹. 1494

1 Der Brief des Leontorius an Wimpheling. – Johann von Dalburg und der Musenhof des Wormser Bischofs in Heidelberg. – Vorrede des Buches an den Bischof J. von Dalburg. – Die Absicht: Sieg des Christentums. 2 Inhalt des Werkes. – Skepsis des Sidonius. – Baruchias über das gottgesandte Wissen. Kabbala. – Sidonius verteidigt den Epikur und Lukrez. – Baruchias gegen Lukrez. – Capnion über das Gebet, gegen Lukrez. – Sidonius: Die Verwerfung des jüdischen Volkes, die Erwählung der Christen. Kirche und Synagoge. – Reuchlins heftigste Attacke gegen das Judentum. – Pfefferkorns Irrtum verständlich. – 12 Zeilen von Heine. 3 Reuchlins ablehnende Haltung gegen Baruchias. – Sidonius gegen die ›Thalmudim‹, von keinerlei Sachkenntnis (Reuchlins) getrübt. – Ein Streit, in dem beide Parteien das Streitobjekt nicht kennen. – Verwerfung der Magie. – Analogien und Unterschiede der beiden Dreigespräche. 4 Über Wunder. Naturphilosophie. Lob der hebräischen Sprache. – Heilige Namen. – Reuchlin über Unvollkommenheit der Übersetzung (Brief an den Abt von Ottobeuren). – Die Namen Got-

tes. – Einheit von Namen und Genanntem (Kratylos, Cusanus). – Volksglauben der Eskimos. – Seltsames über Erbsünde. – Capnion über die Gottesnamen. – Die Sfirót. – Das Tetragrammaton. – Der entfaltete Namen. 5 Reuchlins Orthodoxie. Er war kein Vorläufer Luthers. In wissenschaftlichen Fragen frei denkend, in religiösen überaus dogmatisch. – Linguistische Fehlgriffe. – Das wundertätige Wort wird aufgezeigt. Einschiebung eines 5. Buchstabens. – Hinweis auf Mörike, den mythenbildenden Dichter. Ekstatischer Abschluß des Buches. – Ein Druckfehler in der 4. Ausgabe des Buches.

FÜNFTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Humoristisches Zwischenspiel: Die beiden Komödien

1 Flucht Reuchlins nach Heidelberg 1496. – Diskussionen und Symposien. – Celtes, Dracontius, Wernher, Vigilius. 2 Vorläufer. – ›Sergius oder Das Haupt des Hauptes‹. – Sprachlicher Manierismus. – Kritik des chaotischen Stückes. – Satire gegen die Poetenfeinde. – Gegen den Reliquienmißbrauch. – Aufstieg des Stückes im 3. Akt. – Zerfahrener Schluß. 3 Die zweite Komödie (Progymnasmata, – ›Henno‹) wesentlich bedeutender. – Das Vorbild: Maître Pathelin. – Bee und Blee, der originelle Grundeinfall. – Hinweis auf Goldoni und Nachwirkung bei Shakespeare (Petrucius?). – Dichterbegabung Reuchlins. Neuaufführungen des Henno 1955, 1964. 4 Elsula tritt auf. Dann Henno. Das Stück rollt ab. Ein dramaturgischer Vorschlag, Abra betreffend. – Die höchst gelungene Szene beim Astrologen. – Gericht und happy end. – Erfolg. Nachahmungen. Wiederentdeckung durch niemand andern als Gottsched. Etwas über die Fragwürdigkeit mancher Polemik.

SECHSTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Rechtslage und Zustand des jüdischen Volkes in Deutschland zur Zeit Reuchlins. – Missive und Rudimenta

1 Reuchlin auf der Höhe seines Ruhmes. Richter des schwäbischen Bundes 1502–1512. – Privatpraxis als Anwalt. – ›Literatorum monarcha‹.

2 Reuchlins Sorge um den befürchteten Untergang der hebräischen Sprache. – Habimah. – Anathi. – 2000 Jahre der Knechtschaft. – ›Aber fragt mich nur nicht: wie?‹ – Umrisse der jüdischen Existenz im Exil. – Die Römerzeit. – E. L. Ehrlich über Beschränkung der jüdischen Rechtsgleichheit (Konzil von Nicäa). – Die Schriften von Guido Kisch über den ganzen Komplex dieser Fragen. – Der besondere Rechtsschutz für die Juden und das Waffenverbot. – Sachsenspiegel. – Katastrophale Folgen. – Eine Glosse zum Sachsenspiegel 1325. 3 Das allmähliche Hinabgleiten der Juden auf der sozialen Skala (seit dem 1. Kreuzzug). – Die beiden Gründe hiefür: Haß seitens der Kirche, systematische Ausschließung aus den anständigen Berufen, Landwirtschaft und Handwerk. – Die Tragödie der Diaspora: Substanzverlust bis zum Selbsthaß. – Widerstand, autonome Wertskala. – Die Kammerknechtschaft der Juden, ursprünglich eine theologische (Augustinus u.a.), später eine politische Konzeption. – Gerade Kaiser Friedrich II., der geniale Hohenstaufe, der Verehrer der Kabbala, von Stefan George besungen, führt in Sachen der jüdischen ›Knechtschaft‹ den entscheidenden Schwertstreich 1236, 1237. – Entwicklung bis zu Kaiser Maximilian (Ranke). – Das odiose Privileg des Wuchers. – Generalprivilegium Friedrichs II. von Preußen. 4 Jossel von Rosheim versucht eine Sozialreform im jüdischen Sektor (Selma Stern). – Luthers fanatischer Antisemitismus. – Ablehnung seines monströsen Nazi-Programms durch heutige protestantische Autoritäten. (Analoge Bemühungen der Päpste Johannes XXIII. und Pauls VI., im Abschnitt 3.) – Reuchlin kein Judenfreund, doch ein redlich nach Gerechtigkeit strebender Mann, das Seltenste auf Erden. 5 Das deutsche Missive 1505. Ein flüchtiges Gelegenheitswerk. – Unterschied vom späteren, viel reiferen ›Augenspiegel‹. – Reuchlins mildes, vornehmes Wesen. – Die ›Rudimenta‹ hebräische Grammatik und Wörterbuch. – Reuchlins seltsame Stellung zur deutschen Sprache, später durch seinen kraftvollen Gebrauch des Deutschen korrigiert. – Pionierleistung eines worst-sellers. – Benützung hebräischer Quellen. – Stellt Raschi weit über Lyra. – Dennoch zwiespältiges Festhalten an Vorurteilen gegen die Juden.

SIEBENTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Der Streit mit den Kölnern beginnt

1 Der ›taufft Jud‹ Pfefferkorn. – Biographie eines widerlichen Menschen. – Zwei Arten von Konvertiten. Pfefferkorn gehört zu der aggressiven Sorte. – Sein Äußeres. Seine Streitschriften gegen das Judentum. – Ortwin Gratius. 2 Große Vergangenheit der Dominikaner. – Die Inquisition als Ursache des damaligen Verfalls? – Heutige Blüte dieses Ordens. – Hochstraten. Daten seines Lebens. 3 Kaiser Maximilians Mandat von Mantua 1509. – Charakteristik des Kaisers. – Sein Glanz, sein Schwanken. – Pfefferkorn besucht Reuchlin. – Pfefferkorn konfisziert in Frankfurt und anderwärts. – Mandat von Rovereto. – Rückstellung der beschlagnahmten Bücher (Mandat 1510). – Das vierte Mandat wählt einen langen Weg. – Indifferenz der Juden gegenüber dem ganzen weiteren Streit. Zwei Ausnahmen. – Reuchlins ›Ratschlag‹ gegen das Pfefferkornsche Anliegen. – Die Gutachten der Universitäten. – Mutian und sein Kreis. 4 Der Kaiser macht einen ›Schieber‹. – Pfefferkorn veröffentlicht unlegal den geheimen ›Ratschlag‹ Reuchlins. – Stilistisches Talent Pfefferkorns, ›Handspiegel‹.

ACHTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Der Augenspiegel

1 Reuchlins Antwort auf den ›Handspiegel‹ 1511. – Einteilung des ›Augenspiegels‹. 2 Reuchlins Pathos. – Sieben Gruppen der hebräischen Literatur. – Der Talmud. – Reuchlin gibt seine mangelhafte Kenntnis des Talmud zu. – Einige Irrtümer Reuchlins. – Fehlerhafte Verteidigung einer Gebetstelle. Ismar Elbogens Standardwerk über den ›Jüdischen Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung‹. – Der getretene Wurm krümmt sich. – Pfefferkorns dumme Verleumdung der Redensart ›Seid wilkum‹. Reuchlins Abwehr. – ›Die Heimlichkeit mancher Kunst‹. – Die weiteren 4 Gruppen der hebräischen Literatur werden verteidigt. – Reuchlins Toleranz. – Seine Sophismen. – Scholastische Disputation, 52 Argumente. – 34 Unwahrheiten Pfefferkorns. – Die Juden sitzen mit den Christen ›in einem Bürgerrecht und Burgfrieden‹. – Näch-

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stenliebe, auch den Juden geschuldet. – Verwahrt sich empört gegen die Verleumdung Pfefferkorns, der ihm Bestochensein vorwirft.

NEUNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Weiterer Kampf. Bis zum päpstlichen Endurteil 1520

1 Pfefferkorn predigt in Frankfurt gegen Reuchlin. – Der Frankfurter Stadtpfarrer Peter Meyer berichtet an die theologische Fakultät in Köln. – Arnold von Tungern. – Warnungsbrief Udalrics. – Reuchlin fühlt sich krank und schwach. – Submisser Brief an Tungern. – Weltmacht der dominikanischen Inquisition. 2 Reuchlin an Konrad Collin und an die Fakultät. – Parallel-Korrespondenz. – Barocke Konvention des Briefstils. 3 Unverhüllte Ansprüche der Kölner: Widerruf des Augenspiegels verlangt. – Reuchlins feste Haltung. – Abbruch der Korrespondenz. – Pfefferkorns ›Brandspiegel‹. 4 Der Kaiser gegen den Augenspiegel. – Reuchlins ›Defensio‹ 1513. – (Geigers ›Masochismus der Objektivität‹). – Audienz bei Kaiser Maximilian. – Die Kölner mobilisieren vier Universitäten. – Dann auch die Universität Paris. – Paris gegen Reuchlin. – Die deutschen Humanisten und einige deutsche Fürsten nehmen Reuchlins Partei. – Erasmus, Mutian, Pirckheimer. – Gefahr für Reuchlin: die hohen Kosten des Prozesses. – Ketzermeister Hochstraten lädt ihn vor sein Gericht in Mainz. – ›Dies irae‹ in Mainz. Niederlage Hochstratens. – Appellation an den Papst. – Das Urteil von Speyer 1514, Sieg Reuchlins (sein einziger Sieg in dem langdauernden Verfahren). – Die Kölner appellieren an Papst Leo X. – Das Gericht wird in Rom konstituiert. – Empfehlungen und Helfer. Unter ihnen groteskerweise auch Maximilian. Trotz des päpstlichen Schweigeverbots: umfangreiche Literatur auf beiden Seiten. – Die Dunkelmännerbriefe. – Rom vertagt die Entscheidung 1516. – Die Mitarbeiter der Dunkelmännerbriefe. – Analysen von David Friedrich Strauß und Walter Brecht. – Crotus Rubeanus und der Erfurter Kreis. – Einige Proben aus den Briefen. Der Magister Conradus aus Zwickau u. a. – Keine Äußerung Reuchlins über die Briefe. – Erasmus fällt um. – Nachahmungen. – Päpstliches Breve gegen die Briefe 1517. – Triumphus Capnionis (Hutten). – Pfeffer-

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korns ›Beschyrmung‹. – Reuchlins Arbeiten: 1517 Kabbala, 1518 De accentibus. – Illustrium virorum epistolae. – Die beiden Apologien Hochstratens 1518, 1519. – Der Graf von Nuenar. – Erasmus an Hochstraten. – Pfefferkorns letzte Schmähschrift. – Hochstraten ovans. – Das Eingreifen Sickingens, er droht den Dominikanern mit der Fehde 1519. – Urteil des Papstes gegen Reuchlin 1520. – Das Ereignis wird von den Wirren um Luther in den Hintergrund gedrängt. – Ein ironischer Schnörkel der Weltgeschichte: Leo X. regt die Drucklegung des ganzen babylonischen Talmud durch die Bombergsche Offizin in Venedig an. – Der wesentliche Unterschied der humanistischen und der reformatorischen Bestrebungen wird in Rom zu Reuchlins Schaden übersehen.

ZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

Das vollendete Werk ›De arte cabalistica‹

1 Gerade in der Zeit der wütendsten Angriffe gegen Reuchlin gelang ihm sein Meisterwerk. – Der einleitende Teil des Buches. – Veränderte Auffassung der Kabbala. Das Verdienst Gershom Scholems. – Merkaba-Mystik und jüdische Gnosis. – Kosmogonie und die Frage nach dem verborgenen Leben des Transzendenten. – Beziehungen zwischen Glauben und Naturwissenschaft. – Reuchlins ›symbolische Philosophie‹. – Die Planetengötter (Archonten) und Kafkas Legende ›Vor dem Gesetz‹. – Reuchlins Darstellung ist eine Mischung der früheren Merkawá-Mystik und der späteren theosophischen Lehre von den Sfirót. – Eine seiner Hauptquellen (Gikatilla) hat an diesen beiden Stufen Anteil. – Reuchlins (Simons) Lehre von den Kreaturen, vom ›Baum der zehn Zählungen‹; Naturphilosophisches. 2 Simon definiert die Kabbala. – Anlehnung an Pico. – ›Portae lucis‹. – ›Das Zerbrechen der Gefäße‹. – Simon über die Quellen seines Wissens. – Vier-Welten-Theorie. – Die höchste Stufe: Gott oder die Dunkelheit (das Nichts). – Philos überragende Bedeutung. – Die Lehre vom Demiurgen in der nicht-jüdischen Gnosis. Ein ›metaphysischer Antisemitismus‹ (Scholem). – Maßvolle Haltung Reuchlins. – Ejn-Soph (Unendlichkeit). 3 Reuchlins unrichtige Darstellung des angeblichen Gegensatzes zwischen Talmud und Kabbala. – Deutung des Buchstabens B,

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des ersten Buchstabens der Heiligen Schrift. – Symbolsprache. – Die doppelte Hölle. – Lobpreisung des glücklichen Kabbalisten. – Eine Geschichte von Rabbi Meir. – Warnung vor Magie. 4 Die beiden Partner ohne Simon. – Pythagoras. – Seine Zahlenlehre. – Pythagoras und die Seele des Euphorbus. – Seelenwanderung. – Verteidigung des Rätselstils. Platons ›Kratylos‹. – Bedeutsame Darstellung der pythagoräischen Lehre. – Das Gemeinsame der Weltreligionen. – Punkt, Linie, Fläche, Raum. – Gleichnissprüche. – Hinweis auf Lukian, auf Porphyrius. 5 Der Schankwirt schaltet sich ein. – Die Kölner Verleumder. – Wiederaufnahme von Simons Lehrvortrag: Die 50 Pforten der Erkenntnis. – Die Zahl 72. – Der richtige Kern der paradoxen und bizarren Zahlenmystik. – Das Buch Jezira. – Scholems Exegese der Sfirót-Theorie. – Reuchlin über Engel und Namen der Engel. – Dichterischer Vergleich mit der Musik (Reuchlin). – Jeder Mensch sieht die Engel in anderer Gestalt. – Die Sfirót, dem Buch ›Portae lucis‹ gemäß. – Gikatilla, zuerst unter dem Einfluß Abulafias, dann des Sohar (Mosche de Leon). – Simons Ekstase. 6 Die rationale und die irrationale Methode. Berührungspunkte. – Leben und Lehre Abulafias (nach Scholem und Jellinek). – Die Techniken der Schriftauslegung. – »Nur ein friedfertiger Mann, der sanft mit der Kreatur zu reden versteht«, kann den richtigen Weg finden. – Die Potenzen der Gegenseite, des Bösen. – »Durch gutes Leben einen guten Tod gewinnen.« – Weiteres über Abulafia. – Tagebuch eines seiner Schüler, von Scholem veröffentlicht. – Abschied der beiden Partner von Simon. – Widmung an den Papst.

ELFTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

Die letzten Lebensjahre. Nachruhm, Porträts und Grabstein

1 ›Der arme Konrad‹. – 1519 dreimalige Eroberung Stuttgarts. – Reuchlins redliche Bemühungen, Frieden zu stiften. Brief an Pirckheimer. 2 Er flieht nach Ingolstadt. – Akademische Tätigkeit. – Beziehung zu Luther, Melanchthon, Eck. – Reuchlin als Mitglied der Salve-Regina-Bruderschaft, als Priester (Decker-Hauff). 3 Lehramt in Tübingen 1521. – Letzte Veröffentlichung. – Briefe aus Bad Liebenzell. – Anadyomene. – Tod im Juni 1522. – ›Apotheose Reuchlins‹ von Erasmus.

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4 Nachruhm. Nicht lebendig geblieben. Nicht viel mehr als ein großer Name. Trotz Hinweisen von Seite der Humanisten, von Goethe, Wieland, dem Sohn Schubarts. – Biographien: Das klassische Werk L. Geigers. Es erschien vor fast 100 Jahren. Seither ist viel neues Material und richtigere Auffassung des Judentums, der Diaspora, speziell auch der von Reuchlin geliebten Kabbala, veröffentlicht worden. – Das Humoristikum der beiden gefälschten Porträts (das ›alte Weib‹ und der ›humanistische Einheitstyp‹). Das einzige echte Porträt. 5 Das Grab. – Irrtümer, Fehlschlüsse. – Das Grabmal in der Leonhardskirche zu Stuttgart.

NACHWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Nachwort von Karl E. Grözinger . . . . . . . . . . . . . . . . 502 BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547

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ERSTES KAPITEL

Umwälzung der Seelen: ein Zeit-Hintergrund 1

Wenn eine weltanschauliche oder künstlerische Bewegung ihren Höhepunkt erreicht, ja schon in ihre Karikatur umzuschlagen und absurd zu werden beginnt, dann ist sie am leichtesten zu konstatieren. Dann ist sie unfehlbar kenntlich. Freilich ohne großen Nutzen, denn die Bewegung ist ja schon in Entstellung oder im Abklingen begriffen, hat ihre ursprüngliche Kraft und Naivität verloren. Der Beginn einer Bewegung dagegen liegt wesentlich im Dunkeln. Vor der eigentlichen italienischen Renaissance gibt es eine Früh-Renaissance, vor dieser eine Vor-FrühRenaissance – und so weiter zurück bis zum karolingischen Renaissanceversuch einer universalen europäischen Bildung und noch weiter zurück bis zum unmittelbaren Anschluß an den letzten Wortführer der römischen Literatur, an Namatianus, der um 400 klagend die Ruinen des vom Westgoten Alarich verwüsteten Rom und des ganzen Römerreiches in schönen lateinischen Versen besingt. Die Neigung der Humanisten, in römischer Sprache oder doch im Bannkreis der Antike zu schreiben, zu gestalten, beginnt also, genaugenommen, fast ohne Lücke bereits am Ende des originär lateinischen Schrifttums und der Heidenwelt. Nur mit großer Ungewißheit, nur gradweise lassen sich Stufen unterscheiden: Zur Zeit Karls des Großen der Abt von Fulda, Hrabanus Maurus (dessen »Veni creator spiritus« bei Gustav Mahler neu auftönt), – späterhin — 17 —

Abälard – Dante, Petrarca, Boccaccio – Ariost, Tasso – und so bis zu Michelangelo. Ein machtvoller Strom reißt uns fort, es gibt keine oder nur wenig-merkliche Übergänge. Die Karikatur hingegen – sie macht sich leicht bemerkbar; sie grinst uns an. Man kann sie nicht übersehen. Heute zwar verwischt sich auch dieses Leicht-Bemerkbare, da sich so viel Karikatur in die Künste drängt, da allenthalben ein wenig talentvolles ›Theater des Absurden‹ begönnert wird, da die Ausnahme den Seltenheitswert verliert, indem alles Ausnahme sein will. Auch da kann es Schönheit geben; der Geist weht, wo er will; man muß sich dann allerdings schon an die Ausnahmen von den Ausnahmen halten. Das Geniale ist glücklicherweise zu allen Zeiten und in allen Völkern da und dort vorhanden. Ein Beispiel für jene Karikatur, die leicht auffällt, ist mir begegnet, als ich mich einst in die Briefe des Enea Silvio Piccolomini vertiefte, die Max Mell klingend übersetzt hat. In einem der Briefe (an Mariano Sozzini, 1444) ist die lieblich-sehnsüchtige Erzählung von ›Euryalus und Lucretia‹ enthalten, ein Meisterstück des sinnlichen Rausches und der allvernichtenden Melancholie, den besten Novellen des Boccaccio vergleichbar. Enea Piccolomini schrieb sie als junger Mann, indem er, um seinem Freund und Gönner, dem Reichskanzler Kaspar Schlick, zu schmeicheln, eine der köstlichsten Eroberungen des großen Lebemannes im Bilde festhielt, – er hat wohl dem Gegenstande viel von seiner eigenen Blutwärme und Verliebtheit mitgegeben. Später wurde dann aus Piccolomini Papst Pius II., einer von denen, die das Größte angestrebt und dabei viel Gutes bewirkt haben. Er kämpfte gegen den Sklavenhandel, gegen die Judenverfolgungen, war ein Freund des größten Philosophen vieler Jahrhunderte, des Nikolaus von Cues (Cusanus). Um das Vieldeutige auch hier nicht aus dem Blick zu verlieren: In Max Mells Einlei— 18 —

tung zu den Briefen erscheint Piccolomini als ziemlich charakterloses Individuum, bloßer Stellenjäger, Karrierist, dessen angebliches ›Ethos‹ nur in seiner schönen Formgestaltung liegen soll, – doch solch ein Mensch hat nie existiert, denn solch ein Ethos gibt es nicht. In der melodiereichen Jugendnovelle nun bleibt Siena Siena, Kaiser Sigismund als Mittelachse verändert sich gleichermaßen nicht, alles andere aber tritt im antiken Kostüm auf, durchsichtig pseudonym, aus Schlick wird Euryalus, aus der schönen Sienesin eine Lucretia, der betrogene reiche Ehemann bekommt sachgemäß den Namen Menelaos. Bis hierher ist alles (nebst den vielen Zitaten und Anspielungen auf Martial, Vergil und andere Klassiker der Antike) im Rahmen der von den Humanisten geliebten Methode gehalten. Nun aber wird, schon gegen Schluß der Erzählung, ein Bruder des betrogenen Gatten eingeführt, ein Bruder, der »fürchterlich argwöhnisch ist und Lucretia bewacht, als ob er für sie verantwortlich wäre«. Dieser Bruder des Menelaos hat zunächst, als ganz unbedeutende Nebenperson, gar keinen Namen – plötzlich aber heißt er … nun, wie heißt er? Nicht anders als Agamemnon, obwohl er gar nichts Königliches, nichts Zentrales und überhaupt nichts vom ›Hirten der Völker‹ an sich hat. Er ist nur eben der Bruder. Und als Bruder des Menelaos muß er, wenn er überhaupt heißt, Agamemnon heißen. Als ich zu dieser Stelle kam, mußte ich unwillkürlich auflachen. Und mir war, als hätte ich im Augenblick mehr über den Humanismus und die Renaissance erfahren, als wenn ich lange gelehrte Abhandlungen über diese so oft behandelten Ideenrichtungen gelesen hätte. Denn die Karikatur sagt eben oft mehr aus als der beste Spiegel. – Die leise Komik, die sich so mißlich in die humanistische Erneuerung, in eine der edelsten Bewegungen eingemischt hat, deren die Menschheit je fähig gewesen ist, – diese — 19 —

Offenbach-Komik macht in dem zufälligen ›Agamemnon‹ ihren ironischen Knicks. Wir werden auf diesen Seiten solchen Knicksen noch mehr, als uns lieb ist, begegnen. 2

Was uns hier als Karikatur erscheint, ist nicht bloße Formvollendung, Anpassung an die ›Kunst des Tullius‹ (so nannte man die bewunderte glatte rhetorische ciceronianische Latinität), später an die blutvolleren griechischen Originale – es ist mehr: es ist Verweltlichung im Zeichen der römisch-griechischen Kultur. Warum wurde diese gerade damals erneuert, in einem Schwung sondergleichen, in einer Entdeckerfreude, die ganzen Generationen zuerst in Italien, später in Frankreich, Deutschland, England den Lebensnerv gab? Die einfachste, allerdings nicht die exakteste Antwort auf diese Frage liegt wohl darin: daß man die strenge Zucht einfach nicht länger ertrug, daß das Maß voll, die Uhr abgelaufen war. Die Zucht, in der während des ganzen Mittelalters die Kirche und die christliche Gemeinschaft, auf der Disziplin des altrömischen Imperiums aufgebaut, – eine spirituelle Variante des antiken Kolonialismus –, den Erdkreis der westlichen Welt unterworfen und in vielleicht heilsamer, wenn auch allzu luftloser Ordnung gehalten hatte: diese Zucht war einfach nicht mehr auszuhalten. Man lehnte sich auf. Man wollte frei sein. Freiheit der körperlichen Triebe, zuerst idyllisch oder ästhetisch oder vornehm-stoisch, dann immer ungehemmter bis zu rasender Wildheit, unbeherrscht bis zu dem, was man mit dem scheußlichen Etikett des ›Renaissancemenschen‹ versieht und was zu so schreckenerregenden Monstren wie Cesare Borgia und seinem Vater-Papst geführt hat. Einem Geschichtsforscher (Willy Andreas), dem ich sonst für viel Belehrung, lichte — 20 —

Darstellung, reiches Datenmaterial u. ä. verbunden bin, entfährt (offenbar unwillkürlich) die Bemerkung: »An die italienischen Tyrannenfiguren des Quattrocento und Cinquecento erinnert keiner dieser deutschen Fürsten. Nirgends die unheimliche Mischung von Verbrechen und Raffinement, die jene so anziehend macht.« – Es steht wirklich »anziehend« da! Verbrechen – und gleich darauf: anziehend. Von einer derartigen Geschichtsbetrachtung mich völlig geschieden zu halten, sehe ich als eine meiner Hauptaufgaben an. Auf mich wirkt ein Verbrechen nie anziehend, immer abstoßend. Ich bekenne mich zu den ›Zehn Geboten‹. Frei wollte man damals, im Renaissance-Zeitalter, allerdings auch im geistigen Sinn sein – bis zum Machiavellismus oder bis zur Autonomie der forschenden Vernunft, in der Folge bis zur Atombombe und der Sackgasse des heutigen technologischen und politischen Zustandes, in dem, sagen wir es offen, ein ausreichender Ersatz für die Herrschaft der genauen mittelalterlichen Ordnung noch nicht oder nur in schwachen Ansätzen gefunden worden ist. – Ansätze, die allerdings die heilige, ja die einzige Hoffnung der Menschheit bilden. Mögen sie gedeihen und Macht gewinnen, diese heiligen Ansätze, eine Macht, die entgegen dem bekannten Wort nicht mehr böse wäre! Denn böse war ja auch das Mittelalter, in seiner Art sogar menschenfresserisch böse, ein gleichsam geordnetes Grauen, im Gegensatz zu dem ungeordnet labilen Grauen, das heute unser Schicksal ist. Böse war das Mittelalter, mit seinen Kreuzzügen, seinen Albigenserkriegen, seinem (noch nicht voll entwickelten) Hexenglauben, seinen Scheiterhaufen, seinen Geißelbrüdern, seinem von Aberglauben umgebenen ›schwarzen Tod‹ und ungezählten andern, durch Menschenunsinn gesetzten Ängsten und Toden, die es plagten und mehr als einmal weite Provinzen aus— 21 —

mordend bis in ihre Wurzeln zur Wüste machten. Böse war es, auch wenn wir die Einteilung übernehmen, die Friedrich Heer in seinem wissenden Buch ›Mittelalter‹ in Vorschlag bringt: die Einteilung in eine vergleichsweise heitere ›offene‹ Periode der ersten Jahrhunderte des Mittelalters (›offenes Europa‹ mit seinen beinahe toleranten, bunten, noch nicht durchdogmatisierten Erscheinungsformen) und eine dem Unheil zugänglichere, unfreiere, gleichsam zornigere Zeit, die um 1200 begonnen habe. Damals erlitt das Papsttum (nach Heer) seinen schweren Schock, indem es die Erfahrung machte: »Ganz Südwesteuropa, aber auch West- und Süddeutschland sind von ›Ketzern‹, von religiösen Nonkonformisten, unterwandert, die in einigen Fällen zur Gründung einer Gegenkirche schreiten.« Die Thesen Heers sind so markant, daß ich sie im Wortlaut hierhersetze, ohne den Versuch, sie umschreiben zu wollen: »Geschlossenes Europa: Wer die im 13. Jahrhundert mächtig voranschreitenden Prozesse innerer Abschließung und der Gleichschaltung, von gewaltigen und gewalttätigen Unifizierungen, die ja bis heute nicht zu Ende gekommen sind, verstehen will, muß diesen ersten Schock kennenlernen: In der Erfahrung, daß diese eine Christenheit plötzlich von Elementen unterwandert und durchsetzt ist, die religiös, weltanschaulich und bisweilen auch politisch sehr anders denken als die Kirche und ihr Kirchenvolk, setzt jene Kettenreaktion an, die durch innere Kreuzzüge (gegen die ›Ketzer‹), durch die Inquisition, die staatliche und kirchliche Überwachung des Denkens und Glaubens, die Fixierung des kirchlichen Glaubens und des weltlichen Wissens immer weiter getrieben wird. Der Unbefangenheit, mit der im offenen Europa der andere, der Mensch eines anderen Volkes, Glaubens, Geistes, — 22 —

nicht selten aufgenommen wurde, entspricht die Befangenheit, die große Angst vor dem anderen, die nunmehr in Europa gesteigert und immer wieder neu belebt wird durch neue Schocks, die aber alle mit den Schockerlebnissen des hohen und späten Mittelalters zusammenhängen. Auf den Ketzer-Schock folgt der Türken-Schock. Neben diesen tritt der Schock vor den Hussiten, deren Heere ganz Mitteleuropa durchziehen. Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans, wollte gegen die Hussiten ziehen; ihre Feinde in Frankreich und England aber sehen sie selbst als eine Verwandte dieser ›Ketzer‹.« Es scheint mir allerdings, daß man die Grenzscheide zwischen dem »offenen« und »geschlossenen« Mittelalter besser um etwa 100 Jahre weiter zurück ansetzen sollte: Nicht erst die frevlerische Ausrottung der Albigenser, der provençalischen Hochblüte, einer farbigen Vor-Renaissance unter der kultivierenden Herrschaft der ›Dame‹ und mit dem Stempel des ritterlichen Frauendienstes, der an Platon anknüpfte, wiewohl nur halb-bewußt, gleichsam träumend, – sondern schon vorher bringt der Beginn der Kreuzzüge die schlimme Verwandlung. Die imposant unnachgiebigen, despotischen Figuren der Päpste Gregor VII. und Innocenz III. sind die Merksteine. Unter Gregors VII. Widersacher, dem fränkischen Kaiser Heinrich IV., hatten die Juden in Deutschland noch unangefochten leben, alle Gewerbe ausüben, Grundbesitz erwerben können. Mit den Kreuzzügen begannen die Judenverfolgungen am Rhein, in denen zum erstenmal die große Verdunkelung der Epoche ihren symbolischen (und freilich auch fürchterlich realen) Ausdruck fand. Die Inquisition mit ihrem entsetzlichen Geheimverfahren und ihren entsetzlichen Strafen, Nicht-Christen wie »häretischen« Christen gleichermaßen gefährlich, wurde allerdings erst 1215 durch — 23 —

das Laterankonzil zur bleibenden Institution verfestigt und erwürgte mit zunehmender Intensität alles freie Leben, drückte dem von der Kirche regierten Abendland den Stempel eines grausam totalitären Systems auf. Über den ersten Kreuzzug, der die Wendung zum Schlimmen brachte, lese man den nachfolgenden Bericht eines jüdischen Zeitgenossen, wie ihn Josef Kastein in seinem Buch ›Süßkind von Trimberg‹ übersetzt hat: »Er erspart uns jeden Kommentar«, wie Kastein richtig hinzusetzt. Die alte Quelle sagt: »Und nun werde ich erzählen von dem Hinrollen des Verhängnisses auch in den anderen Gemeinden, die erschlagen wurden für Seinen Namen, den Einzigen, und wie sehr sie Gott, dem Gott ihrer Väter, anhafteten, und wie sie Seine Einzigkeit bewährten bis zum Auspressen ihrer Seele. – Es war im Jahre 4856 (1096), damals, als wir auf Befreiung und Trost hofften … da erhoben sich zuerst freche Gesichter, ein Volk fremder Sprache, ein bitteres, ungestümes Volk der Franzosen und Deutschen; sie richteten ihr Herz darauf, nach der heiligen Stadt zu gehen, welche verbrecherisches Volk entweiht hatte, um das Grab des Nazareners dort aufzusuchen, die Ismaeliter, die Bewohner des Landes von dort zu vertreiben und das Land in ihre Hand zu zwingen. Sie machten ein Zeichen, ein Mal, das nicht gilt, an ihre Kleider, ein Kreuz, jeder Mann und jede Frau, die ihr Herz trieb, den Irrweg zum Grab ihres Gesalbten zu gehen, bis daß sie zahlreicher waren als der Heuschreck auf dem Erdboden. Als sie durch die Städte zogen, wo Juden waren, sprachen sie einer zum anderen: Seht, wir gehen einen fernen Weg, um das Grab zu suchen, unsere Rache zu nehmen an den Ismaeliten, und seht, unter uns sitzen die Juden, deren Väter ihn grundlos erschlagen und gekreuzigt haben; rächen wir uns doch zuerst an ihnen, tilgen wir sie weg aus den Völkern, oder sie — 24 —

mögen werden wie wir und sich zum Nazarener bekennen. … Als die Gemeinden ihre Reden hörten, ergriffen sie das Handwerk unserer Väter: Umkehr, Gebet und Wohltun. Damals aber erschlafften die Hände des heiligen Volkes, ihr Herz schmolz, ihre Kraft ward schwach, sie verbargen sich in innersten Gemächern vor dem kreisenden Schwerte und quälten ihre Seele im Fasten. Sie ließen einen großen und bitteren Aufschrei hören. Doch ihr Vater antwortete ihnen nicht. Er hüllte sich in ein Gewölk, daß ihr Gebet nicht hindurchdrang. … Als die Söhne des heiligen Bundes sahen, daß das Verhängnis sich erfüllen würde, die Feinde sie besiegen und in den Hof eintreten würden, da weinten sie alle, Greise und Jünglinge, Jungfrauen und Kinder, Knechte und Mägde, zu ihrem Vater im Himmel weinten sie über sich und ihr Leben. Das Urteil des Himmels nahmen sie als gerecht auf sich und sprachen zueinander: Wir wollen stark sein. Für eine Stunde werden die Feinde uns töten, aber unsere Seelen werden leben und bestehen im Garten Eden. Und sie sprachen aus ganzem Herzen und williger Seele: Dies ist der letzte Sinn: nicht nachgrübeln über die Weise des Heiligen. Er hat uns seine Lehre gegeben und das Gebot, uns töten zu lassen für die Einzigkeit seines heiligen Namens. Wohl uns, wenn wir seinen Willen tun. Wohl dem, der umgebracht, der geschlachtet wird. Für die kommende Welt ist er bestimmt. Ihm wird getauscht eine Welt der Finsternis um eine Welt des Lichts, eine Welt der Not um eine Welt der Freude. … Da schrien sie alle mit lauter Stimme und sprachen wie ein Mann: Nun haben wir nicht mehr zu zögern, denn die Feinde kommen schon über uns her. Gehen wir rasch, tun wir’s, opfern wir uns vor dem Angesicht Gottes. Jeder, der ein Messer hat, prüfe es, daß es nicht schartig sei, und komme und schlachte uns für die Heiligung des Einzigen; und dann schlachte er sich selbst an seinem Halse oder — 25 —

steche sich das Messer in den Leib. … Als die Feinde vors Dorf gekommen waren, da stiegen einige von den Frommen auf den Turm und warfen sich in den Rhein, der am Dorfe vorbeifließt, und ertränkten sich im Strom und starben allesamt. … Als Sarit, die bräutliche Jungfrau, sah, daß sie sich mit den Schwertern umbrachten, daß sie geschlachtet wurden, einer vom anderen, da wollte sie vor dem Schrecken, den sie sah, durchs Fenster auf die Gasse entweichen. Aber als ihr Schwiegervater, Herr Jehuda, Sohn des Rabbi Abraham des Frommen, das sah, rief er ihr zu und sprach: ›Meine Tochter, weil ich nun nicht gewürdigt ward, dich meinem Sohne Abraham zur Frau zu geben, so sollst du doch nicht einem anderen, einem Fremden zur Frau werden.‹ Er führte sie vom Fenster weg, küßte ihren Mund, erhob mit dem Mädchen zugleich seine Stimme im Weinen und sprach zu allen, die umherstanden: Seht ihr alle, dies ist das Trauzelt meiner Tochter. Und sie weinten alle, ein großes Weinen. Sprach zu ihr Herr Jehuda: Komm, meine Tochter, lege dich hin in den Schoß Abrahams unseres Vaters, denn mit einer Stunde erwirbst du seine Welt. – Er nahm sie, legte sie in den Schoß seines Sohnes Abraham, zerhieb sie mit einem scharfen Schwert mittendurch in zwei Stücke; dann schlachtete er auch seinen Sohn. Darüber weine ich, und mein Herz jammert. Und nachher, als die Söhne des heiligen Bundes getötet dalagen, kamen die Unbeschnittenen über sie her, um sie auszuziehen und aus den Gemächern zu räumen. Sie warfen sie nackt durch die Fenster zu Boden, Berge über Berge, Haufen über Haufen. Und viele unter ihnen lebten noch, als man sie hinuntergestürzt hatte; ein wenig Leben war noch in ihnen, und sie winkten mit ihren Fingern: Gebt uns ein wenig Wasser zu trinken. Als die Verblendeten das sahen, daß in ihnen noch eine Spur Leben war, fragten sie: ›Wollt ihr euch taufen lassen? — 26 —

So werden wir euch Wasser zu trinken geben, und noch könnt ihr gerettet werden.‹ Sie aber schüttelten mit dem Kopfe, blickten hin zu ihrem Vater im Himmel, als sprächen sie: ›Nein!‹, und wiesen mit dem Finger nach oben. Doch kein Wort konnten sie aus ihrem Munde hervorbringen vor der Menge der Wunden, die ihnen zugefügt worden waren. Und jene fuhren fort, sie zu schlagen, über das Maß, bis sie sie zum zweiten Male umgebracht hatten.« Kastein fügt hinzu: »Was hier mitgeteilt worden ist, illustriert die Vorgänge, die sich im Beginn des ersten Kreuzzuges (1096) in Speyer, Worms, Mainz, Köln und Trier abspielten. Es ist zu ergänzen, daß vielfach Juden bei diesen Angriffen zwangsgetauft wurden.« Wie schwer das kirchlich Systematische auf dem gesamten Geistesleben des späteren Mittelalters lastete, beschreibt J. Huizinga in einer schier unerschöpflichen Beispielfolge in seinem ›Herbst des Mittelalters‹, nachdem er zuvor die Modemanieren des Ritterdienstes und sein »schönes, lügnerisches Spiel« eben als Spiel entlarvt hat, dessen hohe ethische Grundsätze selten ernstgenommen wurden – außer von seinem seltsamen Relikt, dem Ritter Don Quixote, dessen rührendes Befolgen der hohen Moral des Rittertums in seiner Tragikomik und wahnhaften Naivität doppelt ergreifend wirkt. – Auch im Frauendienst des Mittelalters spricht modische Sitte das erste Wort, wenngleich (meiner Ansicht nach) hier wohl viel mehr Erfahrung und echtes Gefühl mitbeteiligt war, als Huizinga annimmt. Daß aber auch die Frömmigkeit des angeblich so frommen Mittelalters nicht vor ›Gschnas‹ und Routine geschützt ist, das ist das Erstaunlichste, was man aus dem zitierten wichtigen Buch herausliest. Da heißt es etwa: »Das Leben der mittelalterlichen Christenheit ist in all seinen Beziehungen durchdrungen und völlig gesättigt von religiösen Vorstellungen. Es gibt kein Ding und keine — 27 —

Handlung, die nicht fortwährend in Beziehung zu Christus und dem Glauben gebracht werden. Alles ist auf eine religiöse Auffassung aller Dinge eingestellt. Wir sehen eine ungeheuerliche Entfaltung innigen Glaubens, aber in der übersättigten Atmosphäre kann die religiöse Spannung, die wirkliche Transzendenz, das Heraustreten aus dem Diesseits nicht stets gegenwärtig sein. Bleibt jene Spannung aus, dann erstarrt alles, was doch bestimmt war, das Gottbewußtsein zu wecken, zu einer erschreckenden Alltäglichkeit (von mir kursiv gesetzt), zu einer erstaunlichen Diesseitigkeit in jenseitigen Formen.« Es folgen Beispiele aus dem Leben eines so hochstehenden Frommen, wie Heinrich Seuse. Sie wirken bei aller Echtheit recht verspielt, manieriert. – Kein Wunder, daß solch eine Tyrannis des christlichen Lehrgebäudes auf viele (und darunter auf sehr ehrliche und hohe Geister) als unerträglicher Druck wirkte. »Es ist ein Prozeß fortwährender Herabsetzung des Unendlichen zu Endlichkeiten, ein Auseinanderfallen des Wunders in Atome. An jedes heiligste Mysterium heftet sich, wie eine Muschelkruste am Schiff, ein Gewächs äußerlicher Glaubenselemente an, die es entweihen.« – Man könnte von einer Verpöbelung der hochgespannten Stimmungen des Christentums sprechen. Zu solch abergläubischen Entartungen gehört vor allem der Reliquienkult, gegen den Reuchlin eine seiner beiden lateinischen Komödien (›Sergius vel Capitis caput‹) schreibt. – Man möchte es nicht für möglich halten, aber in einem durchaus nicht kirchenfeindlichen, objektiven, in keiner Weise überschwenglichen, eher trockenen Buch der Wissenschaft, in Willy Andreas’ hier schon angeführtem ›Deutschland vor der Reformation‹ liest man über Reliquienverehrung: »Das Wittenberger Heiligtum enthielt Ruß aus dem Feuerofen der drei Jünglinge. Im Schleswigschen Augustinerkloster Bordesholm zeigte man von der — 28 —

heiligen Jungfrau die gesamte Nähausrüstung einer Dame von Rang, auch etwas von ihrem Haargeflecht und sogar ein wenig Ohrenschmalz.« In einem System von so viel Verstiegenheit war begreiflicherweise der philosophierenden Vernunft, dem lumen naturale, nichts als die Rolle einer Gefangenen, einer Dienstmagd der Theologie (ancilla theologiae) zugewiesen. Sie besaß keine autonomen Rechte. Ihre Aufgabe war nur, mit kunstvoller schulmäßiger (scholastischer) Akribie weitläufig das zu untermauern, was als Gebäude der Glaubenssätze von vornherein unbezweifelbar feststand. Zu einem anderen Ergebnis durfte, ja konnte sie nicht kommen. Nur zu diesem bedingungslosen ›Ja‹. – Des Abälard ›Ja und Nein‹ (Sic et non) wurde verworfen, sein Leben grausam zerstört; wiewohl auch er die kirchlichen Autoritäten nicht zu erschüttern, sondern im Gegenteil »die Widersprüche in den Schriften der Kirchenväter zu harmonisieren« (solvere controversias in scriptis sanctorum) bestrebt war. – An der bona fides der großen Kirchenlehrer des Mittelalters, z. B. eines Giganten wie Thomas von Aquino ist selbstverständlich nicht zu zweifeln. Sie waren aufs tiefste überzeugt, daß die Vernunft zu keinem andern Ergebnis kommen könnte als zu einer möglichst engen Annäherung an die Glaubenssätze. Zu diesem Ziel nahmen sie den (allerdings scholastisch interpretierten) Aristoteles als Führer. »Philosophus ille omnium perspicacissimus Aristoteles« (den scharfsinnigsten aller Philosophen) nennt ihn Abälard. Und Dante sagt von ihm: »Il maestro di color che sanno (Der Meister derer, die da wissen) Tutti lo miran, tutti onor gli fanno« (Alle bewundern ihn, alle geben ihm Ehre.)

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Er ist bei Dante auch gleich von seinem großen Erklärer begleitet, – denn infolge der Kriegserschütterungen und anderer verhängnisvollen Umstände kannte das Mittelalter nicht den originalen Aristoteles, sondern hauptsächlich den von arabischen und jüdischen Exegeten vermittelten. So findet ihn denn auch Dante in Gesellschaft des »Averrois, che il gran commento feo« (des Arabers Ibn Roschd, »der den großen Kommentar geschrieben hat« – ein Kommentar, der später in der Scholastik lebhaft angefochten wurde). Es ist nicht überflüssig, eine Zeile über die Lokalität hierherzusetzen, in der Dante den von ihm hochverehrten Klassikern (neben Aristoteles und Averroës auch dem Homer u. a.) begegnet. Dieses erschütternde Treffen spielt sich nämlich – in der Hölle ab. Denn die genannten Helden der Wahrheit und Schönheit waren ja ungetauft (»perchè non ebbe battesmo«, Hölle 4. Gesang). Wohl sind sie in diesem obersten Höllenkreise durch ein »nobile castello« mit siebenfacher Mauer und mit einem schönen Flüßchen nebst grünem Wiesenhang von dem eklen Höllengraus der Tiefe getrennt, auch sonst durch mannigfache Privilegien ausgezeichnet, durch »Schmerz ohne Qualen« geadelt, – aber die Pforte, die zum »Volk der Verlorenen« führt, hat sich eben doch schon längst – und zwar für ewig – hinter ihnen zugetan. Es gibt kein ergreifenderes und ernsteres Sinnbild für das »geschlossene Europa« als diese schwermütige Begegnung seines größten Dichters mit den heidnischen Vorbildern, die er liebt, – eine Begegnung, aus der Dante unter Leitung des gleichfalls eigentlich ›verdammten‹ Vergil, völlig überzeugt und doch mit ganz leisem, kaum ausgesprochenem Protest aufbricht, unsagbar zart in diesem Protest, der harte Mann, dem schon zuvor, ehe er den Höllengang antritt, jedes — 30 —

nichtige Mitgefühl (ogni viltà) untersagt worden ist. – Indessen hatte lange vorher der von diesem fanatisierten Europa mit Vernichtung bedrohte Talmud, um dessen Rettung sich Reuchlin sein unsterbliches Verdienst erstritten hat, das erlösende Wort gefunden: Tosefta Sanhedrin 13, 2: »Die Gerechten aller Völker haben Anteil an der kommenden Welt, d. h. an der ewigen Seligkeit.« 3

Das Maß der Unduldsamkeit war eines Tages voll. Dieses innere Moment darf nicht übersehen werden; wiewohl selbstverständlich auch noch viele äußere Momente hinzutreten mußten (und tatsächlich hinzugetreten sind), die den Überdruß zum Überlaufen brachten. Das ließ lichtere, triebfreundlichere Luft in den Kerker einfließen. Das gute Gewissen der Natürlichkeit regte sich in dem alten, durch asketische Verbote beirrten und verdorbenen, wir würden heute mit Freudscher Terminologie, aber nicht in seinem Sinne sagen: allzu sublimierten Adam. Solche äußere Momente der Umwandlung waren: die Entdeckungsreisen der seefahrenden Völker, der einströmende Reichtum der Neuen Welt und die Erweiterung des Horizonts, die Auffindung antiker Skulpturen und antiker Handschriften, die Erfindung der Buchdruckerkunst, die Eroberung Konstantinopels durch die Türken und die schon vorher angebahnte, nun aber gewaltig verstärkte Überflutung des Westens mit Trägern der griechischen Kultur, ferner das Aufsteigen der Nationalstaaten und des landesfürstlichen Zentralismus, des Beamtentums, des römischen Rechts; kurz eine ganze Kette politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen. Alle spielten hier entscheidend mit herein (Jacob Burckhardt ›Die Kultur der Renaissance in Italien‹, Ludwig Geiger ›Renaissance und Humanismus in Italien — 31 —

und Deutschland‹, Huizinga ›Herbst des Mittelalters‹). Die Zwangsgemeinschaft des totalitären Mittelalters zerfiel, aus den Trümmern stieg das souveräne allmächtige Individuum auf und orientierte sich an den Leitbildern der neu entdeckten Antike, in der man (zu Unrecht) die individuelle Komponente weit stärker empfand als den kollektiven Untergrund. Dieser Kollektivgeist hatte, zumindest bis zur skeptischen Spätzeit, das Altertum durchwaltet. Die Wichtigkeit dieses antiken Untergrunds sah man zunächst nicht. Man hatte vom kollektiven Zwang, von der Gewissensangst, den zurückgedrängten Velleitäten und ihren Zersetzungsprodukten einfach genug. Man exzedierte nun freilich in der entgegengesetzten Richtung, man genoß grenzenlos die problematische Freiheit des Freigelassenen. Indessen könnte nur die unendlich schwierige, die richtige Ausgewogenheit der Persönlichkeit gegenüber dem Gemeinwesen, der Freiheit gegenüber den Bindungen ein wirklicher Fortschritt genannt werden. Zurückblickend sehen wir heute, daß die einseitige Freilegung des Individuums, mag sie damals auch als allheilsamer Frühling bejubelt worden sein, in der Folge neben Großem auch durchaus Gemeines und tödlich Verderbliches erzeugt hat. Das »anziehende Verbrechen«, wie schon oben bemerkt. Wir sind einen weiten und durchaus nicht einwandfreien Weg geschritten, bis zu der schmerzlichen Feststellung, mit der Strindberg eine große Epoche verwerfen konnte: »Es ist schade um die Menschen«, – am Anfang dieses Weges aber mochte das schlimme Ende oder doch die Gefahr eines solchen Endes nicht geahnt werden. Man glaubte, die schmutzige Roheit einer abgelebten Zeit glücklich überwunden zu haben, alles stand in Blüte; verlockend wie Sirenenruf erklangen die berühmten und so oft zitierten Worte Ulrich von Huttens: »O Jahrhundert! O Wissen— 32 —

schaften! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch noch nicht, sich zur Ruhe zu setzen, mein Wilibald. Es blühen die Studien, die Geister regen sich: du, nimm den Strick, Barbarei, und mache dich auf Verbannung gefaßt.« So heißt es in dem Brief des stürmischen Ritters (Ulrichi de Hutten ad Bilibaldum Pirckheymer, patricium Norimbergensem, epistola, vitae suae rationem exponens). Allen Bedenken zum Trotz, die manchem wohl von Beginn an aufdämmerten, klang das Schlagwort: »O saecula, o litterae! Juvat vivere!« »Es ist eine Lust zu leben.« Die harte Wahrheit ergibt sich, daß die zuchtvolle Organisation durch die Kirche kein gutes Ergebnis gehabt hat. Aber auch die Freigeistigkeit, der man sich an Stelle der Unterordnung unter die Kirche hingab, hat bis heute keine endgültig und entscheidend besseren Resultate hervorgebracht. Das ist allem illusionären Fortschrittsglauben entgegenzuhalten, – allerdings nur provisorisch, in Erwartung einer besseren Ordnung. Der leise Hinweis auf meinen Entwurf in dem Buch ›Streitbares Leben‹ (Seite 525 ff.) sei hier gestattet. Noch jubelhafter als bei Hutten äußert sich das Hochgefühl der Renaissance in dem derben, doch von Grund aus festlich hellen Rabelais, dem gesündesten ungehemmtesten Lacher jener Zeit. Rabelais ist (was man nie vergessen sollte) ein jüngerer Zeitgenosse Reuchlins, der Dunkelmännerbriefe, des Ritters von Sickingen und Huttens. In seinem ›Gargantua‹ wird das Vitale ins Absurde gekehrt. Der wackere Flaubert hatte seine spitzbübische Freude an den Massen von Wein, Morgensuppen, Rehziemern etc., die der Riese Gargantua vertilgt, – »ganz einfach, das Genie hat seinen wahren Mittelpunkt im Ungeheuren«. »Wie die Pyramiden wachsen diese Bücher (Rabelais, Don Quixote) in dem Maße, als man sie genau betrachtet, und schließlich hat man Angst vor ihnen«. Die scholastische — 33 —

Besitzvermerke Reuchlins in: D. Kimchi ›Prophetae priores‹. Inkunabel 1485; und in: D. Kimchi ›Ezechielkommentar‹. Handschrift.

Methode wird von der Sprache aus in Grund und Boden gebohrt. Nachdem der junge Riese Gargantua die Glocken von Notre Dame gestohlen hat, um sie seiner Stute um den Hals zu hängen, sucht ihm ein vom Stadtrat abgeordnetes ›Stück Malheur‹, ein Theologe, die Beute abzuschwatzen, bringt aber nicht viel anderes heraus als die in den üblichen Disputationen vielbenützten Schablonen und Worthülsen: »Omnis glocka glockabilia in glockando glockans glockativo glockare facit glockabiliter glockantes«. Doch auch dieser ungeschlachte und an Unflätigkeiten nicht arme ›Gargantua‹-Roman erweist sich letztlich als Erziehungsroman, ein entfernter Vorläufer des ›Wilhelm Meister‹, sei es auch mit den schärfsten und oft auch übelstriechenden Ironien durchsetzt. Die Schlußkapitel handeln von der Abtei Thélème, die am Loire-Ufer für den völlig aus der Art geschlagenen Bruder Hannes nach seinem Siege als Ehrengabe gebaut wird. Aber der Frater erklärt, er wolle keine Gewalt und Oberhoheit über Mönche besitzen. Es wird also ein »Kloster nach seiner Eingebung« eingerichtet, sehr verschieden von allen andern Abteien, – ein humanistisches Asyl des Frohsinns, in dessen Regel es nur die eine Verfügung gibt: »Fais ce que voudras«. Schroffer (und für die Zukunft gefahrenvoller) konnte das Mittelalter nicht verabschiedet werden. »Tu, was du willst«. – Und der Gründungsbrief? – 1910 haben Engelbert Hegaur und Dr. Owlglass, letzterer aus dem alten ›Simplicissimus‹ bekannt, die beiden Romane des Rabelais, fünf Bände, zu unserem Ergötzen in ein sehr würziges Deutsch übertragen. Es wird über die erwähnte bedeutende Urkunde, dieses welthistorische Klostergründungsstatut erzählt: »Zum ersten, verordnete Gargantua in Übereinstimmung mit Hannes, dürften keine Mauern ringsum gebaut werden, weil alle andern Klöster durch solche von der Welt abgeschieden seien. – ›Freilich‹, setzte der Mönch — 35 —

hinzu, ›und von Rechts wegen. Denn hinter jeder Mauer kauert wer auf der Lauer und blickt sauer; drum gedeiht dort der Neid und das Verfolgungswesen.‹ Zum zweiten, weil in vielen Klöstern üblich ist, den Ort zu reinigen, den ein Frauenzimmer (ein anständiges und keusches mein’ ich) betreten hat: soll hier jeder Fleck gewischt und gefegt werden, auf dem zufällig ein Mönch oder eine Nonne gestanden. Weil sonst alles nach Stunden eingeteilt und geregelt sei, ward bestimmt, daß es hier keine Uhr und keinen Stundenweiser geben dürfe; alle Besorgungen sollten nach Zeit und Gelegenheit erledigt werden. ›Denn was ist der größte Zeitverlust?‹ fragte Gargantua. ›Das Stundenzählen. Was hat es für einen Vorteil? Die gröblichste Torheit ist doch, sich nach einem Glockenschlag zu richten, statt nach Bedürfnis und Verstand.‹ Item, weil bis dato bloß schielige, hinkende, bucklige, häßliche, närrische, blöde, lästerliche und anrüchige Frauenzimmer den Schleier genommen hätten, und bloß gichtische, krumme, dumme und zu sonst nichts taugliche Mannsbilder die Tonsur: so wurde dekretiert, die Aufnahme stünde nur hübschen, niedlichen und anmutigen Dirnlein und nur schönen, gesunden und stattlichen Burschen frei. Item, weil den Weibern der Besuch der Männerklöster und den Männern der Eintritt in Frauenklöster versperrt war – außer wenn es heimlich und verstohlen geschah – so wurde festgelegt, daß kein Mägdlein Schwester werden sollte, es seien denn schon Brüder da, und umgekehrt. Item, weil sonst Männlein und Weiblein nach dem Noviziat sich für immer und alle Zeit der Klosterschaft verpflichten mußten, wurde bestimmt, daß sie hier nach Belieben ein- und austreten könnten. — 36 —

Item, weil jeder Ordensangehörige das Gelübde des Gehorsams, der Keuschheit und Armut ablegen mußte, verfügte man, daß hier alle unabhängig sein, reich werden und heiraten dürften. Das Aufnahmealter wurde für die Nönnlein zwischen dem zehnten und fünfzehnten, für die Fratres zwischen dem zwölften und achtzehnten Lebenslenz festgelegt.« Zum Erstaunen manierlich geht es in dieser Abtei zu, in der auch »auserwählte Büchereien« ihre Aufstellung finden »und zwar in griechischer, lateinischer, hebräischer, französischer, italienischer und spanischer Sprache, in jedem Stockwerk eine Sprache.« Man beachte, daß die drei hier an erster Stelle genannten Sprachen genau dem Kanon entsprechen, für den Reuchlin sein Leben lang und in Deutschland als erster gekämpft hat, – er, der das ›dreisprachige Wunder‹ genannt wurde. – Dieser Reuchlinsche Kanon ist bei Rabelais um die in Entwicklung begriffenen Volkssprachen erweitert, nach deren einer, der deutschen, Reuchlin nur unter den sonderbarsten Ausreden, aber schließlich doch gegriffen hat, und zwar auf die allertüchtigste Weise. Zur Erläuterung der Devise »Tu, was du willst« wird gesagt (und man kann diese Sätze bewundern, auch wenn man sie nach der optimistischen Seite hin etwa allzu leichtfertig aufgeplustert finden mag): »Tu, was du willst. Denn wackere, gut erzogene, gesunde und umgängliche Menschen haben von Natur aus einen Hang zum Guten und eine Abneigung gegen das Schlechte: ihre eingeborene Ehre. Knechtschaft und Zwang aber stachelt zu Widerspruch und Auflehnung und ist die Mutter alles Übels.« Dem humanistischen Leitbild gelten auch in aller Urweltpracht ihrer Schönheit die Verse, die man auf dem großen Tor der Abtei Thélème liest. Und sie erheben sich im Licht ihrer Schönheit zu besonderer Deutlichkeit, ihre — 37 —

Sprache schärft sich zu absoluter Konkretheit, zu äußerster Präzision (in der Übersetzung wäre nur das einem späteren Zeitalter angehörige Wort ›Pietist‹ als Anachronismus zu bemängeln): »Bleib vor der Türe, Heuchler, Pietist, Ergrauter Affe, Schmerwanst, Gurgelkropf, Du Hunne, der die kleinen Kinder frißt, Waldmenschenurbild mit dem Weichselzopf, Du Augenschmeißer, abgebrühter Wicht, Wortdrescher, Blähbauch, kahlgewichster Kopf, Windbeutel, Lispler, Stänker, Truggesicht, Scher’ dich zum Kuckuck oder Wiedehopf! Dein Lügendunst füllt meine Laubengänge, Du meckerst grell in unsre Festgesänge, Bleibt draußen, all’ ihr Tintenpharisäer, Ihr Skribifaxe, Sudler, Lugerfinder, Ihr feige Seelen, Kleckser, Rechtsverdreher, Faszikelschmierer, triste Bauernschinder! Zum Galgen mit euch bluterpichten Wanzen, An den ihr manchen Braven dekretiert! Dort mögt ihr wiehernd eure Tänze tanzen. Hier, hohe Herren, wird nicht prozessiert! Hier quillt der Freudenborn im Sonnenlicht; Für euer Handwerk taugt die Sonne nicht. Ihr aber, edle Herren, tretet ein, Seid hochwillkommen, Reisige und Reiter! Hier ist ein Heimatland für groß und klein, Pflegstatt und Schild für tausend Lebensstreiter. Kommt her zu mir: ich bin euch Bruder, Freund; Derselbe Blutsaft rinnt uns durch die Glieder, Dieselbe klare, warme Sonne scheint Auf unsre heiter-kühnen Seelen nieder. Hier ist der bunten Schönheit Adelssitz, Und durch die Hecken huscht der frohe Witz. — 38 —

Willkommen, die ihr für die Wahrheit streitet: Hier ist ein Ort der Zuflucht, ein Asyl. Hier blüht für euch, die ihr Verfolgung leidet, Ein stiller Anger und ein Friedensbühl. Die Lüge reckt ihr siebenfaches Haupt, Der blinde Haß vergiftet jede Quelle. So schließet alle, die ihr hofft und glaubt, Den Bund der Wahrheit und der steten Helle. Pflegt unser Kleinod, unsern Schatz und Hort, Von Ewigkeit zu Ewigkeiten fort! Seid hochwillkommen, schöngemute Frauen, Bringt holden Sinn und bringt uns Glück herein! Ihr Wunderblumen wie von Himmelsauen, Nachsichtig, herzensklug und herzensrein. In Freiheit grünt der Ehre feinste Blust! Euch Frauen recht zum innigen Ergetzen Schuf unser Herr die Gärten voller Lust Und schmückte sie mit abertausend Schätzen. So tretet ein! Die höchste Tugend übt, Wer sich in Liebe einem andern gibt.« Aus einer etwas früheren Zeit (1500), jedoch aus ähnlicher Stimmung stammt Albrecht Dürers bezaubernder Kupferstich ›Das Meerwunder‹, ein wahres Meisterstück der Gelöstheit und Südlichkeit. Trotz (oder gerade wegen) des kontrastierenden Hintergrunds der mittelalterlich getürmten, verwinkelten Ritterburg. An ihr vorbei zieht ruhig das mythologische Paar, die schöne nackte Frau und der pfiffig-würdige, ein wenig ins Bauernschlaue stilisierte Meergreis mit dem schuppigen Fisch-Unterleib, mit spärlichem, sehr spärlichem Gewand auf eine Riesenmuschel hingelagert. Welch eine Vision der Antike! Ich weiß ihr an einmaliger Größe und Traumhaftigkeit schlechterdings nichts an die Seite zu stellen. Das Wasser des breiten Flusses rauscht auf längs der Riesenmuschel, es geht ans Herz. — 39 —

Langsam, unaufhaltbar ziehen die beiden vorbei – wohin? Aufs offene Meer hinaus mit seinem Archipelagus, eis hala dian, zur heiligen Salzflut? Oder ins ewige zeitlose Nichts? Wie sind sie hergelangt, inmitten banale Wirklichkeit? Am Ufer, in der Ferne, ganz klein, wirft ein dicker Bewaffneter in ohnmächtigem Staunen beide Arme in die Höhe. Er weiß es so wenig wie wir, was der überraschende Anblick bedeuten soll. Vorbei, vorbei. Auf unbegreiflich geglückte Art ist dieses »vorbei, an uns Armen vorbei« zeichnerisch dargestellt, ein Blitz hat eingeschlagen, vorbei, vorbei, das ganze Bild singt geradezu dieses schmerzlich sehnsüchtige, glückselige, begnadete ›vorbei‹, es singt eine wilde Lorelei-Melodie, voll von Süßigkeit und elementhafter Übermacht. Und die Mienen der beiden Hauptfiguren, nicht minder rätselhaft als das berühmte Lächeln der Mona Lisa – die Miene der erschreckten, doch schon halb beruhigten blonden Frau – und die des selbstbewußten, von seinem Beuteglück ein wenig verwirrten oder berauschten See-Fauns mit seinem heidnischen Hirschgeweih, das wie ein Stern zackt, eine Krone. In panischem Schrecken schwimmen einige nackte Frauen ganz fern den Weidegebüschen des Ufers zu. Gehörte auch die blonde Schöne auf der Muschel zu der Schar der Badenden? Ist sie von dem Alten, einem Boten Neptuns, entführt worden? Hart genug hält er ihren runden Oberarm umklammert. Doch sie scheint sich in ihr Schicksal gefunden zu haben. Sie wird, selbst makellos schön, ins Reich der seligen Schönheit gebracht.

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Die Wirklichkeit gestaltete sich freilich recht anders, als Rabelais und die Leute von Thelema und die Freunde des ›Meerwunders‹ es sich vorgenommen hatten. Dazu tat schon der morbus gallicus (auch malum Franciae genannt) das Seine, dem der stürmische Hutten und viele tausend andere erlagen; Hutten, nicht ohne seine grauenerregende Schmierkur mit wissenschaftlicher Objektivität und sogar mit einer gewissen Ostentation dargestellt zu haben – die Schrift ist in aller Naivität seinem Erzbischof zugeeignet. Und die bald den Humanismus ablösenden Glaubenskämpfe heizten den Kessel, in dem der fluchbeladene Körper der Menschheit weiterhin schmorte. – Als ein Aufwachen aus jahrhundertelangem Alpdruck, als ein Augenblick und Atemzug reiner Menschlichkeit behält der Traum von der Abtei Thélème seinen unverlierbaren Wert, wiewohl er nur Verse, Sinnsprüche, Aufrufe liefert. Aber da nun einmal Verse und Sinnsprüche leuchtende Sterne sind und überdies gelegentlich auch anregen, und zwar gute Taten, wollen wir sie immerhin gelten lassen, wenn auch ohne allzu große Prahlerei. Übrigens fehlt auch bei Rabelais die Blague nicht; und das Schlußkapitel, in dem ein ›Rätsel‹, das man auf einer Bronzeplatte bei der Grundsteinlegung der Abtei findet, zunächst von dem sehr weise gewordenen Gargantua mit einem tiefen Seufzer dahin gedeutet wird, »daß die Jünger der reinen Menschenbotschaft (immer) verfolgt und verleumdet wurden«, – von Frater Hannes dagegen simpel als »eine verworrene und verknöselte Beschreibung des Ballspiels«: dieses Schlußkapitel liest sich ganz wie eine antizipierte Parodie auf die heute zur schlechten literarischen Gewohnheit gewordene Mode, einen berühmten Autor (man weiß wohl, wen ich meine) auf irgendeine weithergeholte, sonst aber beliebige Weise zu deuten. — 41 —

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Rabelaishaft also ging es zu, als die Renaissance ihren Höhepunkt erreicht hatte und schon drauf und dran war, in Manierismus und Barock umzuschlagen. Der maßvolle Humanismus hatte sich für eine knapp bemessene Weile durchgesetzt, jetzt räumte er wieder der ›rabies theologorum‹ das Feld, dem Wüten von Reformation und Gegenreformation mit ihren neuerdings sich verengenden Himmelsgewölben, unter denen Europa sein kostbarstes Blut in Bächen zu vergießen begann. Erasmus von Rotterdam hatte diese Katastrophe vorausgesehen – doch aus der Art, wie er sie abzuwenden suchte, aus den völlig unzulänglichen Gegenmaßnahmen, die er vorschlug (vgl. Friedrich Heers Einleitung zu seiner Anthologie ›Erasmus‹, über den Fürstenspiegel für den jungen Kaiser Karl V. et passim) scheint mir mehr des Erasmus ängstliche Vorsicht hervorzugehen, sein »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß«, als echte Menschenliebe. Sein Bestreben war, die dominierende Stellung als Autorität in allen Kulturfragen beizubehalten und gleichzeitig der persönlichen Gefahr auszuweichen, – aus diesem Grund, nicht aus Milde und wirklicher Friedensfreundschaft wollte er neutral dastehen. Denn wo er über einen Wehrlosen, Abgetakelten herfallen konnte (wie über den armen Hutten), tat er es gar nicht mild, sondern mit zerfleischendem Haß, rücksichtslos. Aber klug war er, sehr klug. Und es bleibt ihm der Ruhm, das Unheil vorhergesagt und, sei es auch mit dünner Stimme, unermüdlich gewarnt zu haben. Mit der Höchstschätzung eines natürlichen Lebens hatte der italienische Humanismus begonnen, hatte stillen Einspruch gegen das Zwangsgefüge der allmächtigen Kirche erhoben. Laurentius Valla stellte das Recht der Natur über alles. Das ist nicht das »secundum naturam vivere« (»der — 42 —

Natur gemäß leben«), das die Stoiker verkündeten. Es ist mehr. »Idem est enim natura quod deus«, sagt Valla, ein seltsames Vorspiel zu der viel späteren Lehre Spinozas, aber offenbar weniger radikal gemeint, denn vorsichtig setzt der als politischer antipäpstlicher Revolutionär verschriene Valla hinzu »aut fere idem«. (»Denn dasselbe ist die Natur wie Gott – oder beinahe dasselbe«.) Und Valla lehnt zwar die bei den Christen von alters her beliebte Tugend- und Pflichtenlehre der Stoa ab, denn des Menschen sinnliche Natur verlange nach Lust und Glück. Aber er mündet dennoch in eine quasi-christliche Doktrin: Aller Epikureismus, den er gegen die Stoa ausspielt, genüge nicht, uns Glückseligkeit, unser höchstes Gut, zu verschaffen. Die wahre Lust ist im irdischen Leben nicht zu erreichen, sondern nur in der ewigen Seligkeit, im Glauben. – So verläßt auch dieser am weitesten Vorprellende, der Klarsichtigste unter den Zeitgenossen, der Übersetzer der Ilias und des Thukydides, der Polemiker gegen die Echtheit der ›Konstantinischen Schenkung‹, dessen bahnbrechende Schrift für Hutten so entscheidende Bedeutung gewann, verläßt durchaus nicht das religiöse Fundament. Nur Machiavelli wurde wirklich zum Helden, mit all den fürchterlichen Konsequenzen, die aus der Sprengung sämtlicher sittlichen Bindungen (vom exzessiven und zum Absolutum erklärten Patriotismus abgesehen) mit mechanischer Grausamkeit hervorgehen mußten. Bei allen andern trieben christliche und heidnische Bestandstücke des Denkens mit einer uns heute seltsam berührenden Unbefangenheit bunt durcheinander herum. Allerdings ist diese Vermischung, oberflächlich gesehen, nur eine Modesache des literarischen Stils, – doch »der Stil ist der Mensch«, ohne tiefe innere Erschütterungen wäre es nie zu diesen gelegentlich konventionell anmutenden Manierismen des Ausdrucks gekommen, der die Gegen— 43 —

pole mischte. Wenn Boccaccio darlegen will, daß er seine verehrte Maria Fiametta zum erstenmal in der San-Lorenzo-Kirche in Neapel gesehen hat, so nimmt sein Bericht die folgende Gestalt an: »Es geschah an einem Tage, dessen erste Stunde Saturn beherrschte, an dem Phoebus mit seinen Rossen den sechzehnten Grad des himmlischen Widders erreichte, als ich in Neapel einen Tempel betrat, nach jenem benannt, der sich auf dem Rost verbrennen ließ, um unter die Götter versetzt zu werden.« – Und Enea Piccolomini schreibt einmal über den »fromm-heiligen« Papst Nikolaus, daß dieser gewiß im Paradies »mit Christus und dem alleinigen Gott Nektar schlürfe«. – Es geschah daher nur im Übermaß polemischen Eifers, daß der ehrliche Reuchlin einem Gegner, der ihn allerdings bis aufs Blut gereizt hatte, den verketzernden Vorwurf machte, dieser Gegner habe von der Jungfrau Maria als von »Jovis alma parens« (»Jupiters, d. h. Gottes erhabene Gebärerin«) geschrieben, – eine Metapher, die durchaus im Stile der Zeit lag und nur dann etwas Anstößiges gehabt hätte, wenn man diesem Stil abschwor (was Reuchlin gewiß nicht wünschte und was er auch persönlich nicht praktiziert hat). Daß die genauere Bekanntschaft mit der griechisch-römischen und hebräischen Denkart (Kabbala) die ernste Folge gehabt hat, das Joch der uniformen kirchlichen Oberherrschaft zu lockern: darin lag die entscheidende Wendung des humanistischen Abschnitts innerhalb der Renaissancebewegung. Nur durch die Erleichterung, die die Herzen und Sinne infolge dieser Lockerung spürten, ist das ungeheure Lachen zu erklären, das von dem zentralen literarischen Ereignis in jener Zeit ausgelöst wurde, von den ›Dunkelmännerbriefen‹. Denn der Witz in diesen, zugegebenermaßen recht geschickt gemachten ›Briefen‹ ist so dürftig, daß er allein das gewaltige Lachen und die Befreiung, die von ihm ausging, nicht zu rechtfertigen — 44 —

vermag. Man lachte nicht über die primitiven Witze, sondern darüber, daß es plötzlich »eine Lust war, zu leben«. Es war ein politisches Lachen, eine Art Kriegs- oder Trotzlachen, ein quasi-programmatisches Lachen aus endlich befriedigtem Haßgefühl. Ich gestehe offen, daß ich nicht mitlachen kann, daß mich die Lektüre dieser berühmten ›Briefe‹ ihrer Witzlosigkeit wegen immer nur melancholisch gestimmt hat, sooft ich zu ihnen griff. Und dabei lache ich gern und gut. Ich wüßte nicht, daß ich dem noch so hanebüchenen Humor bei Chaucer, bei Rabelais, im Don Quixote, in den besseren Geschichten des Boccaccio irgend etwas an Dienstwilligkeit schuldig geblieben wäre. Bei den ›epistolae obscurorum virorum‹ aber versage ich, obwohl ich durch so gute Autoren wie D. F. Strauß, Ludwig Geiger, Walther Brecht Unterweisung über die spezifische Art der Komik dieser ›Briefe‹ empfangen habe. Das Ergebnis: ich lache nicht, – aber ich weiß doch oder glaube zumindest zu wissen, warum die andern, die Zeitgenossen der Umwälzung, gelacht haben. – Das ist wohl auch etwas wert. 6

In gewissem Sinne war die Antike während des ganzen Mittelalters oder doch in bedeutenden Zeitabschnitten dieser Epoche präsent geblieben. In Klöstern wurden alte Handschriften sorgfältig kopiert, auch Catull und Ovid, und auf diese Art behielten die klassischen, gar nicht prüden Autoren ihr Leben; lateinisch ist die Sprache des deutschen Heldengedichts vom tapferen Waltharius, das in St. Gallen entstand; Dramen des in lateinischer Sprache schreibenden Puniers Terentius dienten als Vorlagen für Klosterdramen (nach Märtyrergeschichten) der Nonne Hroswita. Der Trojanische Krieg bildete in mannigfachen Umdichtungen (von Chryseis bis Cressida) den Hinter— 45 —

grund vielverbreiteter Ritterromane. Ähnlich die Äneis und der Alexanderzug. Und wer seinen Aristoteles nicht im kleinen Finger hat, dem fehlt einfach der Schlüssel für die subtilen und sehr viel Wesentliches ausdrückenden Geisteskämpfe der Scholastiker. – Dennoch läßt sich erst in der Renaissance und schon in den Ansätzen zu ihr etwas ganz Neues vernehmen: der erst zaghaft, dann immer vordringlicher sich durchsetzende Gedanke, den man mit den Schlagworten ›die Antike als Rettung‹ bezeichnen könnte, am handgreiflichsten zur Wirklichkeit gerinnend in dem tollkühnen Versuch des ›Volkstribunen‹ Cola di Rienzo, die altrömische Republik im 14. Jahrhundert fast 900 Jahre nach ihrem Untergang noch einmal aufleben zu lassen. Petrarca begrüßte diese antihistorische Verzückung und gab um ihretwillen die Freundschaft des mächtigen römischen Adels (Giovanni Colonna) auf. Dazu ein anderes: der mittelalterlich malträtierte Aristoteles wird in der Humanistenzeit nicht nur durch den originalen ersetzt, er wird überdies (zumindest in wichtigen Zentren) durch den neu zu verdienten Ehren kommenden Platon und die Neu-Platoniker verdrängt. Der griechische Gelehrte Georgios Gemistos nahm nicht grundlos den an Platon und an die ›Plethora‹, die Gottespräsenz der Neuplatoniker, erinnernden Namen Plethon an; beim Konzil in Florenz, das der Vereinigung der römischen und der Ostkirche gewidmet war, wenige Jahre vor dem Fall des oströmischen Reiches, warb er für die platonische und neuplatonische Philosophie, bekämpfte den Aristotelismus. Unter seinem Einfluß schrieb der Kardinal Bessarion, sein Schüler. Und Cosmus von Medici gründete die ›Platonische Akademie‹. In Florenz wirkten seither Marsilius Ficinus und Pico von Mirandola, der, von Elia Delmedigo im Hebräischen unterrichtet, die Kabbala in den Kreis seiner Interessen miteinbezog. Damit aber langte — 46 —

der Einfluß dieses Kreises bis zu Reuchlin hinüber. – Plethon selbst wollte (wie ein neuerer Forscher darstellt) »gegenüber dem mittelalterlichen abendländischen Christentum den Hellenismus als einen universalen Theismus entwickeln und zur Grundlage einer durchgreifenden Reform, einer wahrhaft humanen und ungebrochenen Daseinsgestaltung erheben. In diesem Sinne wird ihm die neuplatonische Ideenlehre zugleich zu dem Hilfsmittel, die hellenische Götterwelt wieder zu verlebendigen«. Kaiser Julian Apostata war also wieder auferstanden? – Nicht viele gingen so weit wie Plethon. Aber allen gemeinsam war die Richtung, der sie sich zuwandten: gegen die totalitäre Denk-Versklavung durch die mittelalterliche Kirche. Und viele lugten dabei in irgendeiner Form nach der ›Rettung durch die Antike‹ aus. Wobei allerdings der Rahmen des (von Mißbräuchen gereinigten) Christentums mehr oder weniger entschieden beibehalten wurde. Besonders gerade bei Reuchlin, ferner bei Pico della Mirandola, der in der letzten Zeit seines sehr kurzen Lebens unter den Einfluß Savonarolas geriet und der schon vordem (vergebens) nachweisen wollte, daß zwischen Platon und Aristoteles eigentlich Übereinstimmung herrsche. – Die Antike, an der sich die Zeit umorientierte, blieb also in vielen Punkten kirchlich oder zumindest im Sinne einer freien christlichen Kirche beeinflußt. Sehr stark ist das bei Erasmus zu merken, es entsprach seiner immer vermittelnwollenden Art. Doch mit so zarten Fingern konnte das Problem nicht von vielen angefaßt werden. Und »dirumpamus vincula eorum et projiciamus a nobis jugum eorum« (»durchbrechen wir die Fesseln jener [Feinde] und werfen wir ihr Joch von uns ab«) ist nach dem fehlgedeuteten 2. Psalm die Umschrift um das Porträt Ulrich von Huttens vor einer seiner Schriften, die den unmißverständlichen Titel trägt: ›Klage und Vermahnung gegen die übermäßig — 47 —

unchristliche Gewalt des Bapsts zu Rom und der ungeistlichen Geistlichen durch Herren Ulrichen von Hutten, Poeten und Orator der ganzen Christenheit und zuvoran dem Vaterland teutscher Nation zu Nutz und Gut, von wegen gemeiner Beschwernis und auch seiner eigen Notdurft in Reimens Weise beschrieben. Jacta est alea. Ich habs gewagt.‹ – Wie aufrichtig ist dieser in manchen andern Punkten, z. B. in seinem nationalen Chauvinismus weniger sympathische, immer aber höchst ehrliche Ritter, wie vielen Skribenten heute und je könnte er als ein Muster von Ehrlichkeit darin gelten, daß er seine eigene Interessiertheit (›Notdurft‹) an der Sache nicht verschweigt, obwohl ihm das Gemeinnützige gewiß wesentlich wichtiger war. Heute macht man das meist umgekehrt.

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ZWEITES KAPITEL

Der junge Reuchlin 1

Hutten gehörte als eine der letzten großen Gestalten dem absinkenden Stande der Reichsritterschaft an, die nach kurzer Blütezeit infolge wirtschaftlicher Umwälzungen (Frühkapitalismus) und ›Vervollkommnung‹ der Mordwerkzeuge (Feuerwaffen) wieder in Degeneration begriffen war, wie etwa zwei Jahrhunderte vorher, zur Zeit Rudolfs von Habsburg, da sie zur Raubritterschaft entartet erschien. »Reiten und Rauben ist keine Schande, – das tun die Besten im Lande«. Ehe dieser Spottvers sich ernstlich durchsetzte, hatte es unter der Ritterschaft die höchsten Gestalten der deutschen Dichtkunst gegeben, Wolfram von Eschenbach, Heinrich von Morungen, Walther und die andern. Der Ritter von Hutten ist ihr später, politisierter, aber immer noch sprachgewaltiger Nachfahr. Neben dem niedergehenden Rittertum, das noch einmal in Franz von Sickingen einen Mann der Tat und zugleich des kühlen politischen Planens, einen Berserker mit Weitblick (seltener Fall!) hervorbrachte, steigen aber die andern Stände empor, immer entschiedener das bürokratische Territorialfürstentum, dem die Zukunft gehörte, – die Bauernschaft, die dann in großem, schlecht organisiertem, sei es auch elementar berechtigtem Aufruhr zusammenbrach, – die freien Reichsstädte und großen Provinzialhauptorte, die dem kulturellen Fortschritt durch alle konservativen Hemmungen ihres Eigenlebens hindurch immer wieder zum Durchbruch verhalfen: so die Hansestädte des Nordens; — 49 —

Köln, das man ›das Rom Deutschlands‹ nannte; die reiche Feste der Fugger: Augsburg; das kunstreiche Nürnberg; Erfurt mit seiner bedeutenden eigenständigen Universität; Straßburg, die Stadt des ›Narragonien‹-Fahrers Sebastian Brant, und Basel, das ›goldene Tor der Schweiz‹, Stadt des Reformkonzils und der humanistischen Buchdruckereien. Pforzheim ist in der Perlenschnur dieser Städte des deutschen Südwestens eine der weniger bedeutenden (3 000–4 000 Einwohner!), aber eine der schönsten Perlen. Von allen Punkten der Stadt aus fliegt der Blick zu den Vorhöhen des Schwarzwaldes. Drei Flüsse (Enz, Nagold und Würm) durchströmen die Ebene, vereinen die Ebene, vereinen sich im Gebiet der Stadt. Sie gehörte zum alten Bestand der Markgrafschaft Baden, und über 150 Jahre lang war sie Residenz der Markgrafen. Sie war also nicht reichsunmittelbar. Es gibt eine zwischen 1190 und 1197 ausgestellte Urkunde, in der Pforzheim noch ›villa‹ genannt wird, das ist, wie ich dem grundgelehrten und reich dokumentierten Buch von J. G. F. Pflüger ›Geschichte der Stadt Pforzheim‹ entnehme, nicht mit ›Weiler‹ zu übersetzen, sondern mit Dorf oder Flecken; in unserem Falle mit Marktflecken, da die Urkunden bereits einen Markt erwähnen. Die Hauptmerkmale der mittelalterlichen Städte, Mauern und Gräben, besaß Pforzheim damals noch nicht. Wohl aber zu Reuchlins Zeit, 300 Jahre später. Der schöne Stich von Merian, noch über 150 Jahre später, zeigt außer vielen Kirchtürmen auch Stadttürme, Bastionen, Festungsanlagen. Erich Rummel hat in der Festschrift von 1955 auf eine weit frühere handgezeichnete Darstellung der Stadt (von Gadner) aufmerksam gemacht, die die »einstige strategische Wichtigkeit« Pforzheims verdeutlicht. Der Name der ursprünglich römischen Siedlung weist auf ›porta‹ (das Tor zum Schwarzwald) oder ›portus‹ (Hafen, Halteort der Flöße). Die letztere Ableitung dürfte die rich— 50 —

tige sein, sie wird durch die Benennung auf einem Meilenstein aus der Römerzeit bekräftigt. – Nach den Sturzfluten der Völkerwanderung wurde Pforzheim erst alemannisch, dann fränkisch, wechselte mehrmals den Herrn (den Gaugrafen), wurde geteilt und wiedervereinigt, kam dann an die hohenstaufischen Schwabenherzoge, die dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einige der mächtigsten und kulturell bedeutsamsten Kaiser gaben. Ein Pfalzgraf bei Rhein erwarb durch Heirat mit einer Staufentochter den Besitz der Stadt, auf demselben Wege (als Mitgift) ging die Stadt an einen Marchio de Badin, einen badischen Markgrafen, über und blieb dann viele Jahrhunderte lang diesem Regentengeschlecht untertan. Man sieht: der Satz »Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube« (»Andere mögen Kriege führen, du, glückliches Österreich, heirate«) gilt nicht nur für Österreich und Kaiser Maximilian I.; auch andere Herrschaftsmächte haben diese Art von Bereicherung gern praktiziert. Leider nie wörtlich, nie alternativ. Sie haben nämlich alle sowohl geheiratet als Kriege geführt. Gegen das Heiraten ist ja öfters gar nichts einzuwenden, Krieg aber ist immer der äußerste Frevel, dessen die Menschheit fähig ist, die eigentliche, nicht mit dem fiktiven Dogma zu verwechselnde Ursünde und Erbsünde, die Selbstzerstörung kat’ exochen. – »Der Menschheit blutgedüngtes Saatenfeld Hab ich durchwandert mit entsetzen Augen …« Diese und andere Bereicherungsmethoden auf dem besagten Feld der Menschheit bestimmen den Stand der Dinge zur Zeit der Geburt eines Friedliebenden, – Reuchlins (am 28. Dezember 1455). Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde Baden, nicht ohne historisch und politisch untermauerten Widerstand, mit Württemberg vereinigt.

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Kommt man heute in die schöne, gewerbefleißige, bijouterietrunkene Stadt, so findet man von wirklichen Spuren ihres berühmtesten Bürgers fast nichts vor. Doch wie wenig oder wie viel bedeutet ›Wirklichkeit‹! Jedenfalls gibt es ein höchst modernes Reuchlinhaus (Volksbibliothek, Sammlungen, Vortragssäle), ein Reuchlingymnasium, ein Reuchlinmuseum. Aber das sind Schöpfungen einer Spätzeit, eines Heute. Pietätvoll, wirksam. Wie auch die beiden inhaltsreichen Festschriften zu Reuchlins 400. Todestag (1922) und 500. Geburtstag (1955), die seine Geburtsstadt mit sachlich hochbedeutenden Beiträgen zeitgenössischer Gelehrter herausgegeben hat, eine wesentliche Bereicherung der Reuchlin-Literatur darstellen. (Ich zitiere sie im folgenden häufig, mit den Chiffren F. 1 und F. 2). Nur geradezu historische Erinnerungen der ›Wirklichkeit‹ sind sie natürlich nicht. Den zweiten Weltkrieg hätte Pforzheim recht gut überstanden, – da brach gegen das Ende der Schicksalszeit, die bisher an der Stadt ohne spektakulären Eingriff vorbeigegangen war, ein totales Bombardement über die Gassen herein. Binnen zweiundzwanzig Nacht-Minuten kamen 17 000 Menschen um. Fast alle Gebäude, auch fast alle Altertümer, gingen in Flammen auf. Über die Gründe dieser Maßregel der Alliierten gibt es natürlich nur Vermutungen. So hörte ich, daß die verbündeten Westarmeen bei ihrem Vorrücken in Straßburg Pläne des deutschen Oberkommandos aufgefunden hatten, deren Mitnahme in der Hast des Rückzuges vergessen worden war. Aus diesen Plänen ging, so sagt man, hervor, daß in einigen Pforzheimer Werkstätten, die auf Feinmechanik spezialisiert waren, gewisse sehr kunstreiche Bestandteile hergestellt wurden, deren Bestimmung den Bürgern Pforzheims unbekannt war. Sie dienten den Fernraketen V 2, die von Peenemünde aus in London furchtbare Zerstörungen anrichteten. — 52 —

Ganze Wagenladungen solcher Bestandteile sollen von Pforzheim regelmäßig an die Ostsee abgegangen sein. Kurzerhand beschlossen die Alliierten, die Stadt Pforzheim ›auszuradieren‹, was denn auch approximativ geschehen ist. Der Satan des Krieges, wenn er einmal losgelassen ist, schlägt eben nach allen, auch den am wenigsten vorherzusehenden Seiten rasend um sich. »Der Menschheit blutgedüngtes Saatenfeld …« Die wichtigsten Kulturdenkmäler und historischen Gebäude der Stadt wurden nach der Katastrophe von 1945 restauriert, so die Schloß- und Stiftskirche St. Michael, der Chor der Barfüßerkirche (Franziskaner) u. a., darunter auch einiges, was auf die Reuchlinzeit zurückweist. Wie überhaupt der Stadtrat unter dem tatkräftigen Oberbürgermeister Dr. Johann Peter Brandenburg alles tat, um auch das Andenken an Reuchlin neu zu beleben, ja zu steigern. – Die Reuchlin-Kammer im Obergeschoß der Sakristei der Schloßkirche zu St. Michael war allerdings nicht mehr zu retten. Hier soll Reuchlin, der ja nach Absolvierung der Pforzheimer Lateinschule nur besuchsweise in die Heimatstadt kam, Vorlesungen gehalten haben. Sein Katheder und Bücherschrank wurden noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts gezeigt, wie ein Chronist berichtet. Seine Bibliothek, die er laut Melanchthons Gedächtnisrede testamentarisch zur Aufbewahrung im St. Michaelsstift und zu freiem öffentlichen Gebrauch, jedoch nicht zum Verleihen bestimmt hatte, wurde von den Markgrafen bei Verlegung der Residenz nach Durlach, später nach Karlsruhe gebracht. (Hermann Wahl ›Reuchlinstätten in Pforzheim‹.) Ein Verzeichnis der Bücher und Handschriften dieser Bibliothek hat 1913 K. Christ in einem Heidelberger Sammelband der Vatikanischen Bibliothek entdeckt und bibliographisch durchleuchtet. Karl Preisendanz hat in der Festschrift 1955 (vorher schon skizzenhaft W. Bram— 53 —

bach in F. 1) eine sehr gründliche Analyse dessen veröffentlicht, was wir von Reuchlins Bibliothek haben und über sie wissen. F. 2 bringt das Verzeichnis der hebräischen und griechischen Bestände. Die Bibliothek hat Reuchlin in den späten Kriegs-, Schatten- und Fluchttagen seines Lebens als »Hälfte seiner Seele« bezeichnet. Nur weniges davon ist übriggeblieben, so daß das Verzeichnis unschätzbar bleibt; denn aus diesem Verzeichnis kann manches in seinen Schriften, da wir die Quelle seines Wissens erfahren, richtig verstanden werden; vor allem aus dem allerdings nur in flüchtigen Andeutungen erhaltenen Verzeichnis seiner hebräischen Schätze. – W. Brambach, S. Baer und S. Landauer haben einen Handschriftenkatalog der einst im Besitz Reuchlins befindlichen, jetzt verstreuten Codices herausgegeben, über den Preisendanz schreibt: »Immer … wird man auch beim Blick in das nur wenige Seiten fassende Heft beklagen, daß von Reuchlins einst stattlicher Sammlung lateinischer, griechischer und hebräischer Handschriften und Drucke nur eine so geringe Zahl erhalten bleiben durfte; sie kann heute nur mehr als sichtbares Symbol der Bücherliebe ihres rastlos schaffenden Besitzers gelten, der in schwerer Zeit lieber sterben als den Untergang seiner Bibliothek erleben wollte.« Der letzte Wille Reuchlins ist nicht wörtlich überliefert. Nur dem Umstand, daß er nicht befolgt wurde, ist es zu verdanken, daß wenigstens ein kleiner Überrest der Bücher und Handschriften auf uns gekommen ist. Dagegen brachte die verheerende Unglücksnacht paradoxerweise – allerdings nur vorübergehend – Reste eines Gebäudes zum Vorschein, die einst vielleicht zum Wohnhaus der Eltern Reuchlins gehört haben. Reuchlins Vater Georg war weltlicher ziviler Administrator, Stiftsverwalter oder Schaffner jenes geistlichen Ordens, der in unlöslicher, lebenslanger Verstrickung mit dem Schicksal des — 54 —

großen Sohnes stand und auch noch heute – wie später dargelegt werden soll – in eine gewisse lokale Berührung mit seinem Gedächtnis, sei es auch anscheinend nur zufallsmäßig, eingetreten ist. Ich meine hier den Dominikanerorden (auch Praedikantenorden, Predigerorden genannt). »Von Reuchlins Geburtshaus wissen wir nur«, so berichtet Hermann Wahl, »daß es im Bereiche des Dominikaner-Klosters, also auf dem Schulplatz oder in dessen näherer Umgebung zu suchen ist … 1294 wird das Predigerkloster erstmals genannt … Zwar umzog eine Mauer den Klosterbezirk, doch lag es in der Natur des Bettelordens, daß er nicht streng von den umgebenden Bürgerhäusern abgeschlossen war. Die Wohnungen der Laienbediensteten und der Wirtschaftsgebäude können wohl außerhalb der Mauern gelegen haben. Die Zerstörung des Stadtkernes 1945 legte an der Südseite der Reuchlinstraße eine turmartige Ruine frei, die vorher ganz in die schmalen, aber tiefen Häuser des 18. und 19. Jahrhunderts eingebaut war. Das Gebäude ließ zwei übereinanderliegende Kellergewölbe, ein Erdgeschoß und zwei Obergeschosse mit gotischen Fenstern erkennen. Die Stilmerkmale rechtfertigen die Annahme, daß der Bau etwa gleichzeitig mit dem Kloster entstanden sein könnte … Es besteht also durchaus die Möglichkeit, daß es das Schaffnerhaus des Klosters und damit Reuchlins Geburtshaus gewesen sein könnte. Wenn Steine reden könnten, wüßten wir es. Sie hätten es aber tun müssen, bevor sich die Spitzhacke des ›Gotischen Hauses‹ bemächtigte.« – Grundrisse, die von zwei Studenten angefertigt wurden, einige Architekturteile im Museum und eine Zeichnung der Ruine in dem erwähnten Sonderheft – das ist alles, was überdauert. Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale.

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Reuchlin zeigte in seinem Wesen, das universal gerichtet war und einer Gemeinschaft oder Sodalität aller Wissenden und Guten zuneigte, doch auch eine stark lokalpatriotische Seite. Er vergaß nie, seinem Autorennamen die Herkunftsbezeichnung hinzuzusetzen, schrieb: »Johannes Reuchlin Phorcensis« – (das ist: aus Pforzheim). Merkwürdigerweise nur bei seinen in lateinischer Sprache veröffentlichten Werken, nicht bei der deutschen Ausgabe eines Hauptwerkes, des ›Augenspiegels‹, wo dieser oder ein analoger Zusatz fehlt. – Unter seinen nicht sehr zahlreichen (lateinischen) Gedichten nimmt eines am Schlusse die Wendung zur Lobpreisung der Heimatstadt. Das Gedicht steht in der Neuausgabe des Werkes ›De Laudibus sancte Crucis‹ von Hrabanus Maurus, die 1503 in der Offizin des Pforzheimer Druckers Thomas Anshelm erschienen ist. Über die mannigfachen Beziehungen dieses Buchdruckers zu Reuchlin unterrichtet Hildegard Alberts in F. 2. In deutsche Prosa übersetzt, lauten die vier letzten Verse des an Anshelm gerichteten Poems: »Thomas Anshelm, der du kunstvoll Bücher druckst, Du und zugleich Pforzheim: meine Quelle und mein Ursprung, Stadt: Ehre der Kunstreichen, Mutter von erfinderischen Geistern, O Zierde. O mögest du gedeihen, des Rabanus zweite Heimat.« Pforzheim ist auch die Stätte, an die Reuchlin das erste seiner großen Dreigespräche ›De verbo mirifico‹ (›Vom wundertätigen Wort«, 1494), sein erstes bedeutendes Werk, verlegt hat. Einer der Unterredner, der Weltreisende Sidonius, rühmt die Lage Pforzheims, und behauptet, schon in der — 56 —

Kapitelbezeichnung des 1. Abschnittes, »daß in (solchen) rauhen und gebirgigen Gegenden vorzügliche Begabungen zur Welt kommen können.« Sodann wird der vornehme Ursprung der Stadt hervorgehoben, – das sieht dann in humanistischer Sicht folgendermaßen aus: »Als die Griechen nach zehnjähriger Belagerung die in Kleinasien gelegene Stadt Troja im Jahr 1184 vor Christus erobert und zerstört hatten, da suchten sich manche ihrer bisherigen Bewohner, welche vom Schwert verschont geblieben waren, eine neue Heimat. Der bekannteste unter diesen trojanischen Flüchtlingen ist Äneas, der nach Italien ging und dessen Sohn Askanius daselbst die Stadt Albalonga gründete, welche später die Mutterstadt von Rom wurde. Aber ein anderer edler Trojaner, namens Phorkys, setzte seinen Wanderstab noch weiter und kam endlich in den Schwarzwald. An einem klaren Flusse machte er halt, und als er von einem alten Manne den Namen ›Enz‹ vernahm und dafür Äneas verstand, rief er begeistert aus: Bist du jener Äneas, welchen dem Troer Anchises Venus die schöne gebar an des Simois phrygischem Strome? Und nun beschloß Phorkys, an dieser Stelle eine Stadt zu bauen, die er, als es geschehen, nach seinem Namen Phorka taufte, woraus dann später der Name Pforzheim entstanden ist.« Pflüger (›Geschichte der Stadt Pforzheim‹, der ich das obige Zitat entnehme) fährt fort: »Ob diese Sage von der Gründung der Stadt Pforzheim durch die Trojaner älter als Reuchlin ist und von ihm nur wiedererzählt wurde, oder ob sie in seinem eigenen Kopf gewachsen: das will ich nicht entscheiden. Letzteres möchte indes das Wahrscheinlichere sein, und dürfen wir uns darüber nicht wundern, da es ganz im damaligen Geschmacke lag, den Ur— 57 —

sprung der Städte möglichst weit zurück zu datieren. Ähnliches geschah ja auch bezüglich der Stammbäume der Adelsgeschlechter, die manchmal bis zur Arche Noahs zurückreichten. Es fehlt zu obiger Erzählung, um die Ähnlichkeit Pforzheims mit der Roms in noch helleres Licht zu setzen, nur noch ein Albalonga, und es ist zu verwundern, daß Reuchlin nicht an Langenalb gedacht und dasselbe in Beziehung zur Entstehung Pforzheims gebracht hat, was doch so nahe gelegen wäre.« – Eine witzige Bemerkung! An der jedoch das Witzigste ist, daß Reuchlin an der zitierten Stelle »de verbo mirifico« wenige Zeilen später tatsächlich auf Langenalb zu sprechen kommt und diese Ortschaft mit Albalonga zusammenbringt. Wörtlich heißt es im lateinischen Text: »Id nomen hodie permanet a Phorce intra secundum lapidem«. (»Dieser Name, d. h. Albalonga, ist bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben, zwei Meilen von Pforzheim entfernt«.) Der wackere Chronist Pflüger hat diese Stelle übersehen oder das Originalwerk Reuchlins überhaupt nicht nachgeschlagen. Auf solche Schwächen der menschlichen Natur stößt man bei historischen Studien auf Schritt und Tritt. Und da soll man an historische Wirklichkeit und Wahrheit glauben! – Reuchlins lebhafte Phantasie oder vielmehr seine träumerische Veranlagung, der Art seines großen Landsmannes Mörike (›Orplid‹, ›Märchen vom sichern Mann‹ u. a.) verwandt, die überall das Symbolische und Mythologisierende durch das Netz der sogenannten Realität der Dinge durchblicken sah, zeigt sich also schon in seinem ersten großen Werk, bei Darstellung seiner Heimatgeschichte. – Man mag dabei, dem Stil von Reuchlins Zeit gemäß, an Burgkmairs mit Holzschnitten geschmückte Genealogie des Hauses Habsburg denken, »eine Arbeit, die ebenso phantastisch wie naiv den Stammbaum des Fürsten (d. h. des Kaisers Maximilian I.) auf Hektor den Trojaner zurück— 58 —

führt, wobei auch sonst die romanhaftesten Königsnamen unterlaufen«. (Willy Andreas, l. c.). – Sieht man in der Innsbrucker Hofkirche das prachtvolle Kenotaph, dessen Erzfiguren der vielenttäuschte Kaiser, der ›letzte Ritter‹, sich von den vorzüglichsten Künstlern seiner Zeit gießen ließ (er selbst aber ruht in einem bescheidenen Grab in Wiener Neustadt), läßt man all die Heldenfiguren der Antike und des Mittelalters als angebliche Ahnen des Kaisers ihre Stimmen erheben, Ahnen, unter denen auch König Arthus, Dietrich von Bern, Gottfried von Bouillon nicht fehlen, so begreift man besser als aus Büchern den Geist jener Epoche, in der nur wenige den Drang verspürten, Dichtung und Wahrheit fein säuberlich nebeneinander, nicht ineinander aufzubauen. – Bei Reuchlin ist dieser Hang des Ineinander-Bauens von exakt erfaßten und spielhaft mythologisierend vermuteten Tatbeständen häufig anzutreffen; er mündet in seine kabbalistischen Studien, deren Ernst man bisher (meiner Ansicht nach) nicht genügend gewürdigt hat; er steht, dieser träumerische Hang bei Reuchlin, merkwürdigerweise neben einer völlig auf Realität und genaue Erfassung des Wirklichen eingestellten, sehr sachlichen Seite seines Wesens, auch neben seiner auf großer juristischer Belesenheit basierten, scharfen forensischen Begriffsbildung, die ja zu seinem Brotberuf gehörte (seinem allerdings ungeliebten, ja verhaßten, von ihm selbst mit verachtungsvollen Briefworten und im Lustspiel Progymnasmata geschmähten Beruf). Wie diese einander widerstreitenden Elemente in einem einheitlichen Ich Platz gefunden haben, bleibt das unauflösliche Geheimnis seiner Individualität – wie analog wahrscheinlich jeglicher entwickelten Individualität überhaupt. – Ein Beispiel, das zu der grotesken Darstellung der Pforzheimer Urgeschichte paßt, findet sich in der Vorrede zur Übersetzung des ›Constantinus Magnus‹ (1513). — 59 —

In dieser Vorrede führt Reuchlin das Geschlecht seines Gönners, des Kurfürsten Friedrichs des Weisen (von Sachsen), in homerische Zeiten zurück, will die Sachsen, Meißner, Thüringer mit den antiken Axenern, Mysern und Tyrigeten identifizieren (vgl. Ludwig Geigers Reuchlinbiographie). »Mutianus Rufus, das Haupt des Erfurter Gelehrtenkreises, machte sich über diese Darstellung sehr lustig, er meinte witzig, die Axener seien ein eben solches Rauchvölklein gewesen wie die Capniobaten, die Anhänger Reuchlins.« Zugefügt sei, daß die Bemerkung Mutians gutmütig, nicht giftig gemeint ist. Mutian war ja selbst ein eifriger, wenn auch nicht kritikloser Verehrer Reuchlins. Nebenbei bemerkt: Im Gelehrten-Pseudonym ›Capnion‹, das Reuchlin manchmal, nicht immer benützt, steckt das griechische Wort für ›Rauch‹: kapnós. Capnion ist ein ›kleiner Rauch‹, ein ›Räuchlein‹ oder Reuchlin. Das Wort kapnós kommt in der Odyssee vor, an einer der schönsten Stellen, da wo Odysseus sich sehnt und zufrieden wäre, könnte er »nur den Rauch abspringen sehen von seiner Heimaterde« (kapnon apothroskonta noēsai hes gaiēs – I 58, 59). Das gehört zwar nur in Fernverbindung hierher. Doch die Gelegenheit, eine wundervolle Homerstelle anzuführen, wird man mir in diesem Text, der mythologisierenden Neigungen gilt, wohl nicht unbedingt mißgönnen. 3

In dem ersten Brief an Reuchlin, den Ludwig Geiger in seiner wichtigen Sammlung ›Johann Reuchlins Briefwechsel‹ uns überliefert hat, ist bereits von Reuchlins Sprachkenntnissen die Rede. Ein ›miraculum trilingue‹ (ein dreisprachiges Wunderwesen – nämlich: mit lateinischem, griechischem, hebräischem Wissen ausgerüstet) wird er später mit einem in vielen Varianten auftretenden Bei— 60 —

namen genannt. Doch das Hebräische liegt vorläufig noch außer Sicht. – Der erwähnte Brief ist aus Basel 1477 datiert. Andronicus Contoblacas lobt den zweiundzwanzigjährigen Jüngling Reuchlin wegen seiner Kenntnisse der griechischen Sprache, mahnt zur Fortsetzung der Studien. Ähnlich lautet der zweite Brief der Sammlung; Georgius Hermonymus hat ihn 1478 ex urbe Parisiorum (aus Paris) an den Lernenden gerichtet. – Bald nachher (Heidelberg 1483) bezeichnet Rudolf Agricola unsern Reuchlin als einen »homo tam multiplicibus disciplinarum literarumque ornamentis expolitus« (einen im Schmuck so mannigfaltiger literarischer Wissenszweige feingebildeten Mann) und gratuliert Deutschland, daß es sich dank Reuchlin aus der Barbarei erhebt, durch die es so viele Jahrhunderte lang wie von einem stupiden Schlaf oder vielmehr von einer Art Lethargie erdrückt worden ist. – Reuchlins Bildungsgang hatte in der Pforzheimer Lateinschule begonnen, in derselben, die später für kurze Zeit auch seinen Verwandten Philipp Melanchthon heranbilden half (Melanchthons Großmutter war Reuchlins Schwester Elisabeth Reuther). Als Fünfzehnjähriger bezog Reuchlin die junge Universität Freiburg im Breisgau und studierte zuerst an der ›Artistenfakultät‹, deren Unterstufe etwa unserem Obergymnasium entsprach und die Vorbedingungen (Philosophie, Grammatik, Rhetorik) zu späteren Spezialstudien schaffen sollte. Reuchlin, der seiner guten Singstimme wegen im Chor der Hofkirche mitsang und dabei die Beachtung des badischen Markgrafen auf sich gezogen haben soll, vielleicht auch zur Mitwirkung bei musikalischen Aufführungen am Hof in Anspruch genommen wurde, ging 1473 als Begleiter des Markgrafensohns an die berühmte Pariser Universität. Der erste Schritt in die große Welt. Paris. Die Buchmesse der mittelalterlichen Wissenschaft. Die älteste Universität mit vier Fakultäten, also für — 61 —

lange Jahrhunderte das Vorbild einer kompletten Universität. Das studium Parisiense umfaßte Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin und die Artistenfakultät, letztere mit den ›sieben freien Künsten‹ d. h. mit ihrem Dreiweg (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und dem Vierweg (Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie). – Der Pariser Universität war die Ausbildung einzelner Fakultäten im Italien des 11. Jahrhunderts vorausgegangen; so die Rechtsschulen in Bologna und Padua, die medizinische Schule in Salerno. – Die Universitäten standen unter päpstlicher Schutzherrschaft, hatten ihren eigenen klerikalen Gerichtsstand, es bildete sich so etwas wie ein päpstlicher oder klerikaler Kolonialismus, ein ultramontaner Machtbereich mitten in Europa heraus. Übrigens nicht unwidersprochen. Gerade die Pariser Universität stellte sich im 13. Jahrhundert in den Dienst der französischen Könige, nahm Partei gegen den Papst. – Auch sonst war das Leben an den Universitäten voll von kämpferischer Bewegung. Als erste deutsche Hochschule scheint die in Prag auf, 1348 vom Luxemburger Karl IV. gegründet, also französisch beeinflußt. Die Studenten zankten sich in ihren ›Nationen‹, die einander befehdeten. Zu den politischen Mißhelligkeiten, die öfters zum Auszug eines Teils der Studentenschaft und Neugründung neuer Universitäten führten (Gründung der Leipziger Universität von Prag aus, zur Zeit von Johannes Hus), kamen die Zusammenstöße auf theologischem und philosophischem Gebiet. Die Orden der Dominikaner und Franziskaner lagen in Fehde miteinander. Diskussionen und Disputationen hörten nicht auf. Die heute so oft als ›starr‹ verschriene Scholastik (gerade zu Reuchlins Zeit begann man sie zu beschimpfen) hatte ihre feurigen schöpferischen Epochen, deren Bedeutung heute noch der Wiederentdeckung harrt. Im 14. Jahrhundert trat ein großer denkerischer Revolutionär — 62 —

im Mönchhabit der Franziskaner auf: Wilhelm von Ockham. Er erneuerte den schon halbvergessenen ›Nominalismus‹, stürzte alles um, was man als gesicherte Erkenntnis des Thomas Aquinus und des Duns Scotus, der berühmten ›Realisten‹ angesehen hatte. ›Venerabilis inceptor‹ hieß Ockham bei seinen Schülern, der verehrungswürdige Neubeginner. Er muß von einer geradezu übermenschlichen Energie gewesen sein. Eine Anzahl seiner Sätze wurde für häretisch erklärt, vier Jahre saß er zu Avignon in Untersuchungshaft. Er wandte sich an Kaiser Ludwig den Bayer, wurde exkommuniziert, floh nach München. Berühmt sein Wort an den Kaiser, gegen den Papst: »Tu me defendas gladio, ego te defendam calamo«. (Du wirst mich mit dem Schwert verteidigen, ich dich mit der Feder.) 150 Jahre lang blieb nach seinem Ende die Universität Paris der Hauptsitz des Ockhamismus. Die Naturwissenschaft blühte auf. Nicolaus von Oresme, Bischof von Lisieux, entwickelte lange vor Kopernikus die Lehre von der täglichen Bewegung der Erde und von der Unbewegtheit des Himmels; er hat lange vor Descartes das Koordinatensystem erdacht und ist somit der eigentliche Erfinder der analytischen Geometrie; er hat lange vor Galilei das Fallgesetz formuliert. Welch ein Genie, fast von der gesamten Menschheit in die Wüste der Vergessenheit geschickt! Ganz ebenso, wie der heutige Marxismus und Materialismus, so weit ich es überblicken kann, noch nicht die Wege zum Nominalismus des Franziskaners Ockham gesucht und gefunden hat. Er würde damit auch den Weg zu mancher behutsamen Korrektur an seiner Kernlehre antreten. Der Kampf zwischen Realismus und Nominalismus muß hier deshalb zumindest in knappem Umriß charakterisiert werden, weil er zu Reuchlins Studienzeit noch nachzitterte und, wie bisher nicht genügend beachtet — 63 —

worden ist, auch während des weiteren Lebens des großen Humanisten, vor allem in seinen philosophisch-theologischen (kabbalistischen) Büchern weiterhin Wellen schlägt. Nicht nur die Problematik Ockhams, auch seine kühne unabhängige Gesinnung, taucht bei Reuchlin neu auf. An das oft zitierte Wort Reuchlins über die Wahrheit, die er höher stellt als die Autorität des von ihm verehrten Hieronymus und Nikolaus von Lyra, erinnern folgende Sätze in Ockhams ›Dialogus inter magistrum et discipulum‹, Sätze, in denen er gegen die Verurteilung einiger seiner Thesen durch den Erzbischof Robert Kilwardly (Oxford 1277) protestiert: »Behauptungen vornehmlich physikalischer Art, die sich nicht auf theologische Sätze beziehen, dürfen von niemandem feierlich verdammt oder verboten werden, da es in solchen (wissenschaftlichen) Behauptungen jedermann freistehen muß, frei zu sagen, was er für richtig hält. Da mithin der genannte Erzbischof grammatikalische, logische und rein physikalische Sätze verdammt hat, muß sein Richtspruch als unüberlegt (tollkühn, sententia temeraria) zurückgewiesen werden.« – Ganz ähnlich hat Reuchlin sein philologisches und juridisches Wissensgebiet gegen die Kölner ›Theologisten‹ hartnäckig verteidigt. Die Streitsache: Realismus contra Naturalismus geht auf die Ideenlehre Platons und (abgeschwächt) auf den Begriff der ›Formen‹, der gestaltenden Prinzipien bei Aristoteles zurück. Wobei der Name ›Realismus‹ ungefähr das Gegenteil von dem bedeutet, was man heute unter ihm (z. B. in der Theorie des einigermaßen schablonenhaften ›sozialistischen Realismus‹) versteht. Dem Realisten waren die allgemeinen Wesenheiten, die Ideen als schöpferische Potenzen die wahren wirkenden Kräfte des Weltalls. Man konnte sich ihnen nur in Liebe, in Ekstase nahen, sich mit ihnen (das heißt: mit dem göttlichen Schöpfer) kon— 64 —

frontieren oder gar verbinden. Wie es Leisegang in seinem grundlegenden Buch ›Die Gnosis‹ am speziellen Beispiel der Mystik aufweist: »Nicht wissenschaftlicher Forschungseifer, sondern die Sehnsucht, sich verbunden zu fühlen mit den tiefsten und klarsten Lebensgründen ist es, die zur Ideenschau drängt.« Wozu aber zu bemerken ist, daß bei Platon selbst, dem Urmeister, dem Moses Atticus, dem Moyses Attikizon (wie ihn der Neupythagoräer Numenius und nach ihm Clemens von Alexandria nennt), der wissenschaftliche Erkenntnisdrang gleichfalls in die ungeheure Bewegung der Liebe, als Eros paideutikos, mitaufgenommen ist und als Mathematik sogar an erster Stelle steht. »Keiner, der nicht geometrisch gebildet ist, trete hier ein« hat Platon an das Tor seiner Lehrstätte geschrieben. Gegenüber den Ideen, den allgemeinen Wesenheiten, die nicht etwa kahle abstrakte Begriffe sind, treten die Einzeldinge zurück. Letztere werden (in einer falschen Interpretation der platonischen Lehre, wie ich in meinem Buch ›Diesseits und Jenseits‹ gezeigt habe) zu wesenlosen Schatten. Die Allgemeinheiten (universitates) sind, zeitlich wie auch kausal ›ante rem‹ (vor den Einzeldingen). Diese Ansicht, die überdies in zwei sehr verschiedenen Spielarten auftrat, in der durch Maß und vernünftige Klarheit ausgezeichneten Lehre des Dominikaners Thomas von Aquino und in der emotional bewegten des Franziskaners Duns Scotus, bildete zur Zeit, in der Reuchlin und später Erasmus den Hauptplatz des großen Streites, die Pariser Universität, betraten, eine geschlossene Front: die via antiqua. Ihr entgegengesetzt beanspruchte der Nominalismus, als via moderna, sein Recht. Ihm waren die Einzeldinge, die naturwissenschaftlichen Sichtweisen, wichtiger als die Ideen, die bei den Anhängern Ockhams als abgeleitete Begriffe, als zweitrangig galten; universitates post rem. Die neu aufkommende Humanistenbewegung — 65 —

stand der via moderna näher, jedenfalls distanzierte sie sich energisch von der via antiqua. Für den oberflächlich schönrednerischen Erasmus wurde ›Scotist‹ zum Schimpfwort. Reuchlin blieb bei all seinen humanistischen Grundanschauungen doch im Tiefsten mit mannigfachen Fäden an die ältere Ideenschau, den Idealismus, der sich Realismus nannte, geknüpft. – Eine dritte, vermittelnde Richtung, die vom Realismus wie vom Nominalismus (dem die allgemeinen Wesenheiten bloße ›Namen‹ d. h. Begriffe oder gar nur Worte waren) gleich weit entfernt war, zeigte sich in Ansätzen, konnte sich aber nicht voll entwickeln. Gerade ihr, diesen ›universitates in re‹, habe ich meine Platondeutung in ›Diesseits und Jenseits‹ gewidmet. Nach meiner Meinung ist die platonische Idee durch die Vereinigung der Gegensätze ausgezeichnet, sie verbindet das Umfassende, Ewige mit dem Vorbeifliegenden, der vergänglichen Gegenwart. – Treffsicher hat Goethe diese dritte Kategorie mit dem Briefwort an ein einfaches Mädchen erfaßt: »Das Wirkliche ist das eigentlich Ideelle«. Diesem geheimnisreichen Leitsatz des »erzieherischen Eros« kam Reuchlin in seinen späteren Jahren immer näher. Das Symbol, in dem das Wort oder die Aussage, der Satz gleichsam transparent wird und neben den Einzeldingen, die es darstellt, oder vielmehr in den Lücken zwischen ihnen die ewigen Geheimnisse einer vollkommenen Welt durchschimmern läßt, – das Symbol wird immer mehr zur eigentlichen Philosophie Reuchlins. Nicht etwa die Allegorie, die A sagt und B meint, die den ›Anker‹ nennt und die ›Hoffnung‹ ausdrücken will, – sondern eine völlig andere Darstellungsweise, die A sagt und die das nicht restlos Faßbare mitmeint. Im Sinne Goethes, der konstatiert, daß die Allegorie alles klar ausspricht, was sie meint, während im Symbol das ineffabile (das Unaussagbare) mitenthalten ist. Daher spricht Reuchlin in dem bedeutenden Wid— 66 —

mungsbrief an Papst Leo X. (der Vorrede seines Hauptwerks ›De arte cabalistica‹) von einer ›Philosophie in Symbolen‹ (symbolica philosophia), als welche er die Kabbala ansieht und die nach seiner Meinung auch die Grundlage der pythagoräischen Lehre bilden soll. In Paris wurde sein wichtigster Lehrer Heynlin aus dem Dorfe Stein (daher dessen Humanistenname a Lapide). Der Deutsche Johannes a Lapide war (laut Preisendanz ›Johannes Reuchlin in Leben und Forschung‹ – Reden und Ansprachen im Reuchlinjahr 1955) ein Gelehrter, »der als einer der ersten die veraltende Scholastik und den erstarkenden Humanismus, also die via antiqua und die via moderna friedlich zu vereinen suchte, ohne schließlich so grelle Disharmonien zum Einklang stimmen zu können. Niemals hätte sich, wie er, ein wahrer Humanist ernstlich mit der echt scholastischen Frage abgemüht, ob denn wohl die Toten einst mit Haaren und Nägeln an Fingern und Fußzehen zur Auferstehung kämen.« Mit diesem Lehrer kam Reuchlin an die Universität Basel (1474 bis 1477), wo der oben genannte Andronicus Contoblacas sich um sein Griechisch kümmerte. Als Freund in Basel erwirbt er den um zwei Jahre jüngeren Sebastian Brant aus Straßburg, den satirischen Dichter des ›Narrenschiffs‹, das dem Erasmus als Muster dient, als der sein ›Lob der Narrheit‹ verfaßt. Das Schiff, das nach ›Narragonien‹ abgeht und in dem die Narren singen »Gaudeamus omnes« (»Freuen wir uns allesamt!«), soll der Welt zeigen, wie tief sie in die vielen einzelnen Formen der Narrheit versunken ist. »Von schatzfynden«, »von zu vielen sorgen«, »von luchtlich zyrnen«, »von dantzen«, »von bösen wibern«, »von spylern« und ungezählten andern Verirrungen handeln die Kapitel. Brant hat Ironie genug, sich selbst als ›Büchernarren‹ mit in die Menschen— 67 —

fracht aufzunehmen. Auf dem Titelblatt-Holzschnitt heißt es: »zu schyff, zu schyff, bruder; ess gat, ess gat«. – Für Reuchlin, dessen Sinn für Humor und Witz in seinen jungen Jahren (vor dem großen Hebraismus-Streit) außerordentlich entwickelt war, – siehe seine beiden lateinischen Lustspiele – und der eine originelle bildkräftige Sprache wohl zu schätzen wußte, gab Brant den rechten Kumpan ab. Die Studien der beiden entwickeln sich fast parallel. Reuchlin wird 1475 Baccalaureus, 1477 Magister (als solcher darf er auch schon die akademische Lehrtätigkeit als Latein- und Griechischlehrer in Basel beginnen). Brant macht 1477 das Baccalaureat, 1484 das Lizentiat des kanonischen Rechts, 1489 wird er Doktor beider Rechte; bei all dem einer der fruchtbarsten Schriftsteller des Jahrhunderts. Später Syndikus und Stadtschreiber des Straßburger Rats. Reuchlins Komödie ›Scaenica Progymnasmata‹ leitet er im Stil der Zeit mit überschwenglichen Lobesversen auf den dulciloquus, den süßsprechenden Capnion, ein. – Doch sobald die Sache ernst wird, im Kampf mit den Kölnern, verstummt Brant und schlägt sich grämlich in die Büsche. Basel wurde noch aus einem andern Grund für Reuchlin bedeutsam. Der Buchdrucker Johannes Amorbach (oder Amerbach) bestellte eine riesenhafte Arbeit bei dem armen Studenten; ein lateinisches Wörterbuch, den vocabularius breviloquus. Es war Reuchlins erstes Buch, das allerdings anonym erschien (weshalb es ihm manchmal abgesprochen wird. Aber die Gedenkrede Melanchthons bezeugt ausdrücklich Reuchlins Verfasserschaft). – Merkwürdig, daß gerade dieses Buch ein großer Erfolg wurde. Es wimmelt von etymologisch falschen Ableitungen und stellt überhaupt nur einen Tastversuch seines jungen Autors, einen ersten Vorstoß ins Reich der Wissenschaft dar – so wird beispielsweise das Wort ›uterus‹ als stammverwandt — 68 —

mit ›uti‹ oder mit ›utilitas‹ angesehen. Gerade dieses Buch erreichte eine Verbreitung von 25 Ausgaben. »Es wäre seltsam«, sagt Ludwig Geiger in seiner klassischen Reuchlin-Biographie, »daß Reuchlin bei all den neu erscheinenden Ausgaben keine bessernde Hand angelegt hätte, wenn man sich nicht erinnerte, daß nur die (vier) Ausgaben bis 1482 bei Amorbach aufgelegt, alle späteren Nachdrucke sind. Seit 1504 ist keine neue Ausgabe erschienen; die Zeit war über das Werk hinweggeschritten.« Es handelt sich übrigens nicht um ein bloßes Lexikon, sondern an sehr vielen Stellen eher um eine Art von Realenzyklopädie. Die Worterklärungen wachsen gelegentlich zu richtigen großen Sachartikeln an, dem Titel des Werkes, der »kurze Rede« verheißt, unumwunden widersprechend. In der ›Bibliographie der Schriften Johannes Reuchlins im 15. und 16. Jahrhundert‹ von Josef Benzing findet man die korrigierende Bemerkung, daß es »nur 22 sichere Ausgaben« des vocabularius gibt. – Kritisch gibt Geiger unter den positiven und negativen Eigenschaften dieses Reuchlinschen Erstlings an, zu bewundern sei die große Belesenheit des jungen Mannes, der nicht etwa bloß auf den Wortschatz der lateinischen Bibel abzielt, sondern es »als seine Aufgabe erkennt, den ganzen durch klassische Schriftsteller und die Quellen der römischen Jurisprudenz wesentlich bereicherten lateinischen Sprachschatz in sich aufzunehmen«. Echt reuchlinisch mutet auch schon die folgende Bemerkung an: »Merke, daß überall wo sich in den Büchern des alten Testaments (bei Geiger einer der häufigen Druckfehler: ›ceteris‹ statt ›veteris‹) ein Irrtum findet, auf die hebräischen Bücher zurückzugreifen ist, da das Original des alten Testaments in hebräischer Sprache geschrieben ist.« – Damals, in jener Baseler Zeit hatte Reuchlin das Studium des Hebräischen noch gar nicht begonnen. Und doch stellt er bereits einen jener Grundsätze — 69 —

auf, an denen er später eisern festgehalten hat und die ihm soviel Gegnerschaft eingebracht haben. Sogar um eine eigentlich so selbstverständliche Regel mußte also gekämpft werden. Rückblickend erzählt Reuchlin später (1518 in einer Widmung an Kardinal Hadrian), daß er es in Basel mit einer Sorte von Menschen zu tun gehabt habe, »deren einziges Streben es Jahrhunderte lang gewesen war, recht barbarisch zu reden«. Die Vorkämpfer der alten Lehrmethode waren den jungen modernen Lehrern (ebenso wie in Paris) feindlich gesinnt. Es galt als verboten, die griechische Sprache zu unterrichten, da ja die Griechen (Oströmer) von der römischen Kirche abgefallen waren! So dachte man damals, zu einer Zeit, da die Hauptstadt des oströmischen Reiches, Byzanz–Konstantinopel, schon seit drei Dezennien von den Türken erobert war und die flüchtigen griechischen Gelehrten, aus dem Ostreich in den Westen gekommen, dort ihre höheren Bildungswerte, die der griechischen Kultur, zu verbreiten begannen; die dann (neben den Fundamenten der nie ganz vergessenen lateinischen Erbschaft) zu einer wesentlichen Vertiefung der humanistischen Anschauungen hinführte. Der vocabularius ist in lateinischer Sprache verfaßt. Über Reuchlins seltsame, letzten Endes aber doch dem Verhältnis Dantes zur ›Volkssprache‹ entsprechende fortschrittliche, in die Zukunft weisende Haltung zur Verwendung des Deutschen, wird später, bei Gelegenheit des ›Augenspiegels‹ einiges darzulegen sein. Schon hier aber sei der große Skandal beklagt, daß von sämtlichen Werken Reuchlins, den lateinischen wie den deutschen, bis heute, da ich diese Zeilen schreibe (April 1963), kein einziges ins Hochdeutsche übersetzt vorliegt. Das ist um so weniger begreiflich, als von seinem doch nur flacheren Zeitgenossen Erasmus eine große Anzahl von Werken und Briefen in hochdeutschen Ausgaben, einige sogar mehrfach heraus— 70 —

gebracht worden sind. – Das Mittelmäßige, Glatte und eigentlich Uninteressante, Unoriginelle erwirbt sich eben manchmal, bei geeigneter Propaganda (nicht immer), leichter und rascher Weltruhm als das tief Gedachte und auf persönlichste Art Erlittene! In Basel blieb Reuchlin mehr als drei Jahre, ging dann zum zweitenmal nach Frankreich, wo er in Paris bei Georgios Hermonymos (siehe den oben zitierten Brief, den zweiten der Geigerschen Sammlung) die griechische Sprache weiterstudierte. In Paris wurde er mit dem Kanonischen Recht vertraut; anschließend an den Universitäten in Orléans und in Poitiers mit dem römischen Recht. In Orléans soll er zum Eigengebrauch und für Mitstudierende eine griechische Grammatik ›Mikropaideia‹ (etwa: Kleine Belehrung) herausgegeben haben, die ich allerdings bei Benzing nicht verzeichnet finde und die mir auch an einigen Universitäten Süddeutschlands, in denen ich Reuchlins Bücher in ihrem bibliothekarischen Eremitendasein aufgestöbert habe, nicht zu Gesicht gekommen ist. (Nach Geiger existierte das genannte Werk nur handschriftlich.) – 1481 erhielt Reuchlin in Poitiers das Lizentiatendiplom und »die ausdrückliche, den sonstigen Sitten der Universität entgegenstehende Erlaubnis, den Doktortitel zu erwerben, wo es ihm beliebe«. So war er um diese Zeit durch lauter Juristerei seinen philologischen Bestrebungen entfremdet, die später zugleich mit Theologie und Mystik das Zentrum seiner geistigen Wesenheit erfüllen sollten. Das Brotstudium, die Juristerei, hatte ihn geschnappt. Es dünkte ihm, wie es scheint, nicht seinem Charakter gemäß: sich auf Mäzenatentum, Pfründen und die unsicheren Ergebnisse der Schriftstellerei zu verlassen, wie der um zwölf Jahre jüngere Erasmus (der allerdings viel diplomatischer war und mehr Glück hatte als Reuchlin) und die ganze — 71 —

jüngere Humanistengeneration wie Eoban Hesse, Konrad Celtes, Ulrich von Hutten, Crotus Rubeanus u. a. in einer Art von ungemessenem Wanderleben und leichter Bohème-Freiheit es taten. »Laß den väterlichen Herd«, so dichtet (natürlich lateinisch) der Humanist Celtes, »und schaue fremde Gestirne, wenn du himmlische Pfade wandeln willst. Wo du stirbst, ist einerlei; überall führt der gleiche Weg von der Erde in Jupiters Saal.« Der schwerblütige Reuchlin neigte dagegen sein ganzes Leben lang zu festen Bindungen, zu Bestimmtheit, zu Heimat und einem geordneten Leben, ja zu einer Stetigkeit, die an Unbeholfenheit grenzte und sich nur im Notfalle (dann allerdings höchst energisch) zu Bewegung und Veränderung aufraffte, auch dann immer unter der machtvollen Kontrolle seines Gewissens, und zu einer erhabenen Gott-Trunkenheit hinleitend, die seine besten Zeiten erfüllte. – Er hat, wie viele seiner Briefe beweisen, sehr darunter gelitten, daß er dem geschäftigen Leben, dem juristischen und Beamtenberuf unterjocht blieb. Erst im Alter, zehn Jahre vor seinem Tode und mitten im bittersten Ringen mit den Kölnern und mit Pfefferkorn, das alle seine Kräfte in Anspruch nahm, hat er die Berufslast der Rechtswissenschaft abgeworfen, die er so lange getragen hat. – Gauguin hatte sein Indonesien gefunden. Im Falle Reuchlins hieß es: De arte cabalistica. Indessen war ihm das Rechtsstudium nicht unfruchtbar geblieben. Im ›Augenspiegel‹ zeigt er, wenn es in den Argumentationen hart auf hart geht, wie vortrefflich er den ungeheuren Wissensschatz des weltlichen wie des Kanonischen Rechtes zu handhaben versteht.

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Zunächst ist Tübingen seine Wirkungsstätte. Vielleicht hoffte er, an der erst vor kurzem gegründeten Universität eine Professur zu erlangen. »In Tübingen wird zuerst von Hebräischkundigen berichtet«, heißt es in Ludwig Geigers sorgfältiger Monographie ›Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland am Ende des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts‹, die ich von hier ab (nebst den andern auf Reuchlin bezüglichen Werken Geigers) ständig benütze, ohne sie an jeder einzelnen Stelle anzuführen. »Die beiden Theologen Conrad Summenhart und Paul Scriptoris (werden) als solche bezeichnet, beide in ihrer Art treffliche Männer, von großer Gelehrsamkeit, Feinde der Scholastik, die sie mit unermüdlichem Eifer bekämpfen.« Indes ist nicht nachgewiesen, daß Reuchlin schon in Tübingen hebräische Sprachstudien betrieben hat. Wichtig wurde die kurze Station Tübingen für ihn vor allem dadurch, daß Summenhart und der Historiker Nauklerus ihn dem vielgerühmten, die Gelehrsamkeit hochschätzenden Grafen von Württemberg, Eberhard im Bart, als Begleiter und Redner (Dolmetscher) für dessen Romfahrt empfahlen. Wie für Reuchlins ersten Schritt in die große Welt, für die erste Pariser Reise, sein gutes Singen entscheidend war, so gab diesmal sein gutes Latein, seine Redebegabung wie seine korrekte Aussprache den Ausschlag. Lamey, der 1855, also noch vor Geiger, eine kleine Biographie Reuchlins publizierte, erzählt: Zu Eberhard im Bart waren (knapp vor seiner Romreise) päpstliche Gesandte gekommen. Mit seines Kanzlers Rede, der aus Hechingen stammte, konnten die Italiener nichts anfangen. Sie zeichnete sich durch ihre provinzielle Aussprache aus. So hieß es in ihr: Ceilsissimus et eillustrissimus noster prainceips eintellexit. Statt: »Celsissimus et illustrissimus noster princeps intellexit.« — 73 —

(Unser sehr erhabener und berühmter Herrscher hat eingesehen.) Seitdem sprach man scherzend vom ›Hechinger Latein‹ – und Reuchlin mit seiner jedenfalls tadellosen Sprache wurde als Reisebegleiter berufen. Ausgangspunkt der Reise war Stuttgart, wo Reuchlin nun als Anwalt wie auch als Berater des Grafen Eberhard zu wirken hatte. Stuttgart wurde, mit einigen Unterbrechungen, sein eigentlicher Wohn- und Wirkungsort. Hier fand er auch eine feste Stellung als Beisitzer am Hofgericht, später als einer der drei obersten Richter des ›Schwäbischen Bundes‹ (Triumvir Sueviae). – Doch seine erste Tätigkeit war die Romfahrt im großen Gefolge des Grafen Eberhard. Mitte Februar 1482 führte die Reise über die Alpen, erst nach Florenz, dann nach Rom. In Florenz fand er nun freilich einen ganz andern Geist als in Paris und den andern Bildungszentren vor, die er bisher kennengelernt hatte. Die Universitäten des außeritalienischen Europa waren, trotz heftiger Opposition, die sich zeitweise gleichsam in Erdstößen bemerkbar machte, nicht viel anderes als Filialen der Kirche, beherrscht von Theologen und der ihnen immer noch dienenden Scholastik. Italien aber, der Sitz des Papstes, stellte im Widerspruch zu dieser erlauchten Residentschaft das weltlichste und relativ freisinnigste Land des Erdrunds dar, viel weltlicher als die andern Sammelpunkte hoher Intelligenzen in Frankreich, England und anderwärts. Und Florenz war der weltlichste Herrschaftsbereich unter den vielen Kleinstaaten der Halbinsel. In Italien trugen selbst einige Tyrannenregierungen (andere allerdings kamen ohne Gewaltsamkeit und äußerste Grausamkeit nicht aus) mit Erfolg und nicht ohne eine gewisse innere Berechtigung die Maske bürgerlicher Freiheit. In Italien waren Priester der Kirche (sei es auch in seltsamen Verkappungen) gleichzeitig Priester der plato— 74 —

nischen Philosophie. In Italien vollzog sich allmählich, seit dem Fall Konstantinopels, die Rezeption der griechischbyzantinischen, mit ihr der echten antiken Kultur, während vorher nur lateinische Literatur, nebst Übersetzungen ins Lateinische, die Größe Homers u. a. hatte ahnen lassen. Cosimo von Medici, der der reichste Kaufmann der Stadt, Gelehrter und Politiker in einer Person war, herrschte in Florenz als Diktator, doch ließ er nicht nur die freiheitlichen Formen der Republik, die freien Volkswahlen zu allen Ämtern bestehen, sondern griff auch tunlichst wenig in die Privatsphäre der Bürger ein. Nach schweren Anfangskämpfen blieb er 30 Jahre, bis zu seinem Tode die oberste Autorität. Er umgab sich mit Gelehrten, nicht nur als Mäzen, sondern als ihr mitarbeitender ebenbürtiger Freund. Nach seinem Tode wurde ihm der Titel ›Vater des Vaterlandes‹ verliehen. Und Marsilio Ficino schrieb über ihn: »Ein Mann, vor allen anderen verständig, fromm vor Gott, gerecht und hochherzig gegen die Menschen, gemäßigt in allem, was ihn selbst betraf, in seinen Privatangelegenheiten tätig, aber noch sorgfältiger und vorsichtiger in den öffentlichen … Keiner hat ihn übertroffen an Demut wie an Hochsinn. Zwölf Jahre lang habe ich mit ihm philosophische Unterredungen geführt und erkannt, daß er ebenso scharfsinnig im Disputieren war wie weise und kräftig im Handeln. Ich verdanke Plato viel; Cosimo verdanke ich nicht weniger. Er ließ mich die Ausübung jener Tugenden gewahren, deren Idee Plato mir vorführte.« – Hohe Worte, wenn man bedenkt, daß dieser Ficino der Stifter der ›platonischen Akademie‹ war, die sich am angeblichen Geburtstag Platons entweder in einem Palast der Medici oder in ihren Gärten festlich versammelte und öfters auch sonst in freier Form zusammentrat, um über die Themen Platons Gespräche zu führen. Eine Akademie — 75 —

von wenigen, eine Elite, innerlich und äußerlich im Aufbau sehr verschieden von der Organisationsform, den ängstlichen Statuten und Aufsichtsbeamten einer kirchlichen Universität; ganz so wie die Herrschaft Cosimos sich von jedem totalitären System distanzierte. Dem kränklichen Sohn Piero folgte (1469) der große, dichterisch wie politisch reichbegabte, überaus kunstverständige Enkel Lorenzo il Magnifico. Er war es, der den württembergischen Grafen und seine Begleiter empfing, unter ihnen Reuchlin. Reuchlin selbst stellt in der schon einmal hier zitierten Einleitung und Widmung seiner ›Kabbalistischen Kunst‹ an Papst Leo X. dar, an den entscheidenden Papst seines Lebens, den er als supplex, als Schutzflehender um Hilfe gegen die kölnischen Angreifer bat (und der ihn dann doch verurteilt hat) – stellt dar, wie Lorenzo seinen Gästen die Schätze seines Hauses, die Rüstkammern, die Marställe, die Bibliothek zeigte. Man beglückwünscht den Hausherrn. Plötzlich ändert sich der Ton des Berichts. In weicherer Tonart fährt der Erzähler fort: »Perhumaniter, ut solebat vir suavissimus, respondet majorem thesaurum in liberis esse quam in libris.« (»Äußerst menschlich, wie es die Art dieses süßesten Mannes war, erwiderte er, er habe einen größeren Schatz vorzuweisen: seine Kinder seien ihm wichtiger als seine Bücher.«) Und von diesen Kindern Giuliano, Piero, Giovanni bestieg der dritte 1513 (eben als Leo X.) den päpstlichen Thron. Allerdings machte die Zärtlichkeit, mit der Reuchlin vom Vater des Papstes sprach, auf den Sohn 35 Jahre später wenig Eindruck. Zur Zeit von Reuchlins Florentiner Tagen bestand die platonische Akademie noch. Marsilio Ficino lehrte. Poliziano, der Freigeist, unterrichtete (nicht immer ohne den Einspruch der frommen Mutter) die Kinder Lorenzos. Marsilios Freund Landino schrieb Liebesgedichte und einen — 76 —

Dante-Kommentar, der große Anerkennung fand. Pulci verfaßte sein vielbewundertes parodistisches Heldengedicht ›Der große Morgante‹. Der gewaltige Bußprediger Savonarola hatte in demselben Jahre wie Reuchlin Florenz betreten, blieb und begann gegen Lorenzo und das Haus Medici, ja gegen all die schöne weltliche Sinnlichkeit zu wirken. Es war ein Leben, das sich zu den äußersten Extremen spannte. (Siehe Thomas Manns Drama.) Von den Anregungen, die Reuchlin hier empfing, ist nichts überliefert. Erst über seine zweite italienische Reise fließen die Quellen reichlicher. Leider ist kein Tagebuch der Italienfahrten erhalten, wie wir es von Dürer, von Goethe, von vielen andern besitzen. Auch Briefe Reuchlins aus dieser Zeit fehlen. In Rom hatte Graf Eberhard Geschäfte beim Vatikan zu erledigen, Streitigkeiten über Vergebung geistlicher Lehen zu bereinigen, wobei Reuchlin vermutlich als juridischer Berater mitwirkte. Unter den Gelehrten in Rom lernte er den Griechen Johann Argyropulos kennen, mit dem er in einen echt-humanistischen, uns heute etwas kindisch anmutenden Wettstreit eintrat. Er scheint dabei viel Beifall gefunden zu haben. Rom zeigte ihm damals gleichfalls ein freundliches Gesicht. Papst Sixtus IV. hatte kurze Zeit vorher einen schweren Konflikt mit den Medici gehabt (die Verschwörung der Pazzi, Ermordung des Giuliano beim Hochamt in der Kirche, zwei Geistliche als Täter, päpstliche Intrigen als Hintergrund), doch der diplomatischen Kunst Lorenzos war eine Versöhnung mit dem Papst gelungen. Der allgemein erwartete Krieg brach nicht aus. Giraudoux wurde antizipiert. So wurden die aus Florenz anlangenden Gäste in Rom freundlich aufgenommen. – Sixtus IV., der Stifter der sagenhaft bedeutsamen Sixtinischen Kapelle, hat in der Kunstgeschichte eine führende Bedeutung. Er förderte Künstler vom Rang eines — 77 —

Botticelli, Ghirlandaio, Verrocchio, er berief den unsterblichen Komponisten Josquin de Près nach Rom. Aber er legalisierte auch die Einsetzung des entsetzlichen Torquemada und anderer Dominikaner als Inquisitoren in Spanien; anfänglich hatte er die Einführung der Inquisitionstribunale in Spanien abgelehnt, später bewilligt, und diesem ursprünglich weltlichen Instrument des spanischen Königtums die kirchliche Autorisation verliehen, die es dann jahrhundertelang behielt. Es begann ein massenhaftes Quälen und Abschlachten unschuldiger und wehrloser Menschen, wie es erst wieder in unserer Zeit Geschichte geworden ist, die das Blut vor Entsetzen gerinnen macht. Jetzt freilich ins Vieltausendfache vergrößert und völlig unfaßbar. – Erst 1490 kam Reuchlin wieder nach Italien. Die erste Reise scheint keine geistige Umwälzung in Reuchlin ausgelöst zu haben, obwohl sie vermutlich reich an großen Eindrücken war. Anders die zweite, die das Zusammentreffen mit Pico della Mirandola zeitigte. Hier wurde ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Im Intervall zwischen den beiden Italienreisen erlangte Reuchlin das Doktorat der Rechte und heiratete. – ›LL doctor‹ oder auch ›legum doctor‹ oder auch ›doctor juris‹ nennt er sich jetzt. – Was die Heirat anlangt, so sind wir heute ein wenig besser über Reuchlins Familienverhältnisse unterrichtet als zur Zeit, da Geiger seine Reuchlinbiographie schrieb. Obwohl sich Reuchlin mehrmals ausdrücklich als ›digamus‹ (zweimal verheiratet) bezeichnet, findet Geiger für diesen einfachen Ausdruck recht künstliche Deutungen, die irreführend wirken. Die Wirklichkeit ist viel einfacher als die Hypothesen des gelehrten Biographen. Über die Person der Gattin oder der beiden Gattinnen war dem damaligen Stande der Forschung nichts — 78 —

Ulrich von Hutten: Nach einem Holzschnitt aus der ersten Ausgabe von ›Cum erasmo Roter, Expostulatio‹. Straßburg 1522.

bekannt. Inzwischen sind durch Eugen Schneider u. a., vor allem durch Hansmartin Decker-Hauff (›Bausteine zur Reuchlin-Biographie‹ in F. 2) Dokumente entdeckt und ausgewertet worden, die uns in manchen Punkten Klarheit verschaffen – ohne freilich die Hauptsache, die seelische Beziehung der Eheleute zueinander, zu erhellen. Decker-Hauff macht es wahrscheinlich, daß Reuchlin eine Bürgerstochter aus einer Familie Müller, die der altwürttembergischen Führerschicht, der sogenannten ›Ehrbarkeit‹ angehörte, geheiratet hat. Sie war in der Ortschaft Ditzingen und in Stuttgart reich begütert. Die Braut war mindestens um 5 Jahre älter als Reuchlin. Noch 1529 heißt der große Besitz, den Reuchlin in Ditzingen bei Leonberg hatte, ›der Doktorin Gut‹. Den Beweis hat Victor Ernst erbracht. Von einem Teilstück dieses Besitztums wissen wir, daß es rund 15 Morgen Äcker und Wiesen umfaßte. Es gab aber noch andere Reuchlinsche Parzellen in der Ditzinger Markung. Reuchlin liebte das Landleben und wird nicht müde, in seinen Briefen »von der Bewirtschaftung und dem Ertrag des Gutes, von seinen Annehmlichkeiten und seiner heiteren Schönheit« zu erzählen. – Decker-Hauff stellt fest: »Der Reichtum der Frau ist das einzige, was wir sicher von ihr wissen. Die übrigen Zeugnisse widersprechen einander: Schneider wies auf den hübschen Zug hin, daß Reuchlin ihr mitten aus den Geschäften einer Gesandtschaftsreise heraus ›von Liebe‹ schrieb – demgegenüber steht das Zeugnis, daß sich Reuchlin – mindestens zeitweilig – mit Scheidungsgedanken getragen haben soll.« Eine Stelle aus einem Brief des Kardinals Raimund von Gurk an Reuchlin, die ausdrücklich von Scheidung spricht, wird von Geiger als (möglicherweise) scherzhaft gemeint interpretiert. Ich kann in ihr keinen Hinweis auf einen Scherz finden. Auch scheint die Tatsache, daß die Frau ihm nicht in sein drei Jahre dauerndes Heidelberger — 80 —

Exil gefolgt ist (von diesem Exil später!) nicht gerade für ein verliebtes Einverständnis der beiden zu sprechen. Decker-Hauff kommt zu der auch anderweitig gestützten Schlußfolgerung: »Man geht wohl nicht fehl, wenn man, wie es auch die Zeitgenossen taten, in der Wahl vor allem den Versuch zu materieller Sicherstellung sieht.« Die reiche Stuttgarter Bürgerstochter mochte dem jungen und am Hofe wohlgelittenen, aber nicht sehr reichen Mann wohl nach altwürttembergischem Brauch »angemutet und wohlbezeichnet« worden sein. – Doch Decker-Hauff hält an der Hypothese einer Konvenienzehe selber nicht fest. Er paralysiert sie durch eine andere Hypothese, die eine Jugendbekanntschaft im Kreise zweier seit eh und je befreundeten Familien annimmt und urkundlich zu belegen sucht. Wie dem auch sei: im allgemeinen galt in Humanistenkreisen das Motiv einer Geldheirat durchaus nicht als den guten Sitten widersprechend. Ich übersetze aus einem Brief, den der gelehrte Augsburger Ratsherr und Historiker Conrad Peutinger, einer der Gesandten und zeitweilig einflußreichsten Ratgeber des Kaisers Maximilian, 1499 an Reuchlin gerichtet hat. Da heißt es, nicht ohne daß ein leiser Ton des Sich-Berühmens durchklingt: »Und um mich von der Freiheit eines lasziven Lebens zu erleichtern, sowie um der göttlichen Einrichtung zu gehorchen, habe ich eine Frau genommen, eine Jungfrau, nur um weniges kleiner als ich, noch nicht 18 Jahre alt, züchtig, maßvoll, schön, ehrsam und ein wenig mit lateinischer Literatur durchtränkt, die auch in den Augen ihrer Hausgenossen nie als streitsüchtig oder schimpfworteliebend erfunden worden ist. Von guten Eltern unserer Stadt stammend, erhält sie eine Mitgift von zweitausend Gulden, überdies ist sie, falls sie überlebt, die einzige Erbin. Ich danke daher Gott und werde ihm immer danken, daß er meinen Studien eine Gefährtin und mir auf eine so vertraute Art eine — 81 —

Parteigängerin zugesellt hat.« In diesem Brief sind viele löbliche Gaben der Braut hochgepriesen, doch als letzte Sprosse der Klimax findet die zahlenmäßig genau angegebene Mitgift ihren besonders wichtigen Platz. In vielen schlechten Romanen wird heute eine solche Wertung gern mit den Klischeeausdrücken »echt amerikanisch« oder »echt jüdisch« gekennzeichnet, was natürlich Unsinn ist. – Dem Mystiker Reuchlin möchte man allerdings eine bessere Wertskala zutrauen als die hier vermutete. Sie ist ja aber durchaus nicht etwa erwiesen, sondern als bloße Hypothese anzusehen. Reuchlins zweite Frau: ein ganz anderes Bild. Und ein etwas deutlicheres, wenn auch nicht ganz klares. Sie war, wie Decker-Hauff auf Grund eines Briefes des Humanisten Beatus Rhenanus berichtet, »jung und hübsch«. Auch sie galt als sehr reich. Es geht indirekt aus einer alten Stammtafel hervor, daß diese zweite Frau Anna geheißen hat. Der Vorname der ersten Frau ist bisher unbekannt geblieben. Mit der zweiten Frau hat Reuchlin ein Kind gehabt, das in frühester Jugend starb. Auch dies: Vermutungen. Sicher ist, daß Reuchlin neben der zweiten Frau in der Stuttgarter St. Leonhards-Kirche begraben ist. Wenngleich nicht an dem Ort, den der heute in der Leonhardskirche befindliche Grabstein anzeigt, der sich übrigens ursprünglich in der Hospitalkirche (Dominikanerkloster) befunden hat. Es ist seltsam, wie alles Intime und ganz Persönliche Reuchlins in Dunkel gehüllt bleibt. So besitzen wir ja auch kein einziges echtes Porträt Reuchlins, nur eine winzige Zufallsdarstellung auf einem figurenreichen Flugblatt – und eine Reihe abenteuerlicher Bildnis-Fälschungen; während sich die größten Meister der Zeit (Dürer, Holbein, Quinten Matsys u. a.) darum bemüht haben, die Gesichtszüge des Erasmus deutlich und feierlich für die Nachwelt festzuhalten. (Vgl. Schlußkapitel.) — 82 —

Graf Eberhard entsandte Reuchlin in einigen Fällen als seinen Repräsentanten (mit anderen vornehmen Herren) zu bedeutenden Staatsakten, so 1486 zum Reichstag nach Frankfurt, wo Maximilian von den Kurfürsten zum ›römischen König‹ gewählt wurde. Noch zu Lebzeiten seines Vaters, des Kaisers Friedrich III. Im Anschluß an dieses Ereignis war Reuchlin unter denen, die den neugewählten König und präsumptiven Thronfolger zur Krönung nach Aachen begleiteten. – 1490 folgte Reuchlins zweite Italienreise, die ihn (wahrscheinlich in Begleitung eines natürlichen Sohnes Eberhards, eines begabten jungen Mannes, der in Italien studierte) fast ein volles Jahr in Florenz und Rom festhielt. Hier erneuerte er die in Frankfurt geschlossene Freundschaft mit Hermolaus Barbarus, dem Gelehrten und venezianischen Gesandten, der Maximilian im Namen seiner Vaterstadt festlich begrüßt hatte, ohne zu ahnen, daß später eine der hartnäckigsten, allerdings auch erfolglosesten kriegerischen Unternehmungen des jungen Kaisers gegen eben dieses Venedig gerichtet sein würde. – In Rom traf er den fleißigen Herausgeber von Handschriften antiker Werke, eben jenen Hermolaus, als Gesandten beim Papst. Reuchlin bildete sich bei Hermolaus zum vollkommenen Lateiner – und Hermolaus erteilte ihm gewissermaßen den höchsten Humanistenorden, er gab ihm den neuen, griechisch tönenden Namen. »Da der fremdartige Klang seines Namens die Ohren der Gebildeten (eruditorum aures) verletzte, hieß ihn Hermolaus den Namen Capnio tragen. Willig folgte Capnio der Autorität eines so großen Mannes« – heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. »Tanti viri auctoritatem libenter est secutus Capnio.« So hoch stand damals in den Augen der Welt der berühmte venezianische Gesandte über dem bescheidenen deutschen Hofbeamten und Humanistenjünger, der seinen — 83 —

eigentlichen Weg noch nicht gefunden hatte. Die beiden waren etwa gleichaltrig. Doch gerade während der zweiten italienischen Reise sollte der Schwerpunkt sich verrücken. Zwei große Erlebnisse änderten die Blickrichtung Reuchlins. Er traf mit dem gedanklich revolutionären jungen Grafen Pico von Mirandola zusammen, der sich, sei es auch in unvollkommener, recht phantasiereicher Art, einen gewissen Schatz von Kenntnissen in der hebräischen Sprache und der Kabbala angeeignet hatte (1490). Und zwei Jahre später begann Reuchlin, anläßlich einer Gesandtschaft in Linz, wo damals vorübergehend Kaiser Friedrich III. residierte, sein gründliches Studium des Hebräischen. Bei Friedrichs Leibarzt Jakob ben Jechiel Loans. – Es war eines der tragischesten Jahre der jüdischen Leidensgeschichte oder Diaspora, das Jahr, in dem die Juden Spaniens vertrieben, aus einer hochentwickelten, jahrhundertealten Symbiose massenhaft in Tod und Elend gestoßen wurden. Seltsames Zusammentreffen: In dem gleichen Jahr fuhr Christoph Kolumbus (laut Madariaga vermutlich jüdischer Abstammung) aus, um den spanischen Majestäten den Weg nach Zipangu (Japan) und Indien zu finden; in Wirklichkeit entdeckte er einen neuen Kontinent, der dann in viel späteren Zeiten einer jüdischen Masseneinwanderung eine neue Zufluchtsstätte und verhältnismäßig ruhige Heimat darbieten sollte. Und in dem gleichen Jahr lernte zum erstenmal ein deutscher Gelehrter systematisch und gründlich das Hebräische, – auch er ein Entdecker eines ungeahnten Kontinents, eines geistigen Erbbesitzes von unübersehbaren Ausmaßen.

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Aus der Zeit zwischen den beiden italienischen Reisen gibt es interessante Briefe Reuchlins an Jakob Louber, den Prior der Dominikanerkartause in Basel. Reuchlin übersendet dem »reverendo et egregio patri, domino suo, doctori Jacobo Louber, priori Carthusiae Basiliensis« die von ihm selbst verfaßte, handschriftliche Übersetzung einer Schrift des Bischofs Proclus aus frühchristlicher Zeit. Dieser sowie ein zweiter in vertrautem Tone gehaltener Brief (sei es auch mit den dem Zeitgeist entsprechenden Schnörkeln humanistischer Höflichkeit) beweist deutlich, daß Reuchlin bis zu dem großen, durch den rasenden Konvertiten Pfefferkorn verursachten Zusammenstoß mit den Predigermönchen (Dominikanern) in bestem Einvernehmen mit diesen Ordensbrüdern stand. Die Neigung zu ihnen hatte er wohl von seinem Vater übernommen, der ja in ihren Diensten gelebt hatte. In der Folgezeit, bis zu dem erwähnten Zusammenstoß, hat Reuchlin ihnen als Anwalt ihre Rechtsangelegenheiten geführt, und zwar nie entgeltlich, stets nur um Gotteslohn. – In dem zweiten Brief (gleichfalls 1488) erbittet Reuchlin, Louber möge ihm eine Handschrift aus den Bücherschätzen des Dominikanerklosters leihen, ein Neues Testament im griechischen Original, und zwar auf Lebenszeit, er brauche es. Das für Reuchlin so charakteristische Mißtrauen gegen Übersetzungen (sogar gegen die kirchlich approbierte lateinische Vulgata) findet plastischen Ausdruck in den Briefworten: »Die Ursprache jedes Werkes ist süß; und Wein, der mehrmals aus einem Fasse in ein anderes gegossen wird, verliert an Vortrefflichkeit.« »Wenn du meine Bitte erfüllst«, heißt es weiter mit Humanistenpathos, »so hast du mir ein Königreich oder dem Halbtoten das Leben geschenkt.« Dem mit so viel Leidenschaft vorgebrachten Anliegen konnten die — 85 —

Mönche nicht widerstehen. Obwohl der Band eigentlich nicht verliehen werden durfte, dem testamentarischen Willen des Spenders gemäß (eines dalmatinischen Kardinals, der den einem sehr frühen Jahrhundert entstammenden Kodex aus Ragusa zum Konzil nach Basel mitgebracht hatte). Man beschloß, Reuchlin die Handschrift zu leihen, – die denn auch wirklich erst nach seinem Tod in den Besitz des Klosters zurückgekommen ist. In dem Brief, mit dem das Kloster dem Gelehrten die kostbare, auch bibliophil bemerkenswerte Leihgabe übermittelt, heißt es: der Konvent wolle lieber auf die Handschrift als auf Reuchlins Zuneigung verzichten. Und diese ausgesucht höfliche, menschenfreundliche Zuschrift ist vom Ordensprovinzial der Dominikaner, F. Jacobus Sprenger, unterzeichnet. (Preisendanz in F. 2, ferner in den ›Reden und Ansprachen im Reuchlinjahr 1955‹, – sowie ›Briefwechsel‹.) Man erschrickt. Ist das derselbe Sprenger? Der freilich auch die Gründung der ersten Rosenkranzbruderschaft in Deutschland angeregt hat, dieses lieblichen Dienstes, den Dürers freundlich-festliches Bild im Strahover Stift zu Prag verherrlicht? – Ja, es ist derselbe. Sprenger, der Verfasser des ›Hexenhammers‹, eines der blutigsten entsetzenerregendsten Bücher aller Zeiten. Derselbe Papst Innocenz VIII., der 1486 Picos gutgemeinten, wenn auch leicht chimärischen Weltkongreß der Philosophen in Rom untersagt hatte, autorisierte ein Jahr später dieses fürchterliche Konkokt des Hasses und des Wahnsinns. Wir können die Gegensätzlichkeiten in Reuchlins Seele, die nie völlig ausgeglichen wurden, sowie den Übergang aus einer immer noch stark vom Mittelalter geprägten Umgebung in das geistige Klima einer Menschlichkeit, wie es in Milde rund um den Grafen von Mirandola und Jakob Loans sich ausbreitete, nicht besser andeuten, als indem wir einen Augenblick bei Sprenger und seinem He— 86 —

xenglauben verweilen. Das mag auch als Ergänzung zu den Zeitbildern unseres 1. Kapitels verstanden werden. Ich zitiere wieder das verläßliche Werk von Willy Andreas ›Deutschland vor der Reformation‹: »Zwei Dominikaner waren es, die theoretisch und praktisch gleich unheilvoll und richtunggebend eingriffen, zunächst in Oberdeutschland, dann aber auch über diesen Bereich hinaus. Sie luden damit viel der Schuld, daß diese wahnwitzige Ausschreitung sich weiter einbürgerte, auf ihr Haupt. Es war der hemmungslose und verfolgungswütige Heinrich Krämer, genannt Institoris, der von einer pathologischen Leidenschaft für die Sache ergriffen war, und der Theologieprofessor Jakob Sprenger, der etwas hinter seinem Ordensbruder zurücksteht. Aber er war es, der von Kaiser Maximilian das Patent erwirkte, das die Tätigkeit der zwei Inquisitoren förderte. Diese beiden sind die Verfasser des sogenannten Hexenhammers, des Malleus maleficarum, worin die wichtigsten Lehrmeinungen der Scholastik in Hinblick auf das peinliche Verfahren zusammengestellt waren und der Satz ausgesprochen wurde, daß es Ketzerei sei, zu behaupten, es gäbe keine Hexen. Dies Buch brachte den Hexenwahn, indem es alle auf diesem Gebiet denkbaren, vorgestellten und eingebildeten Verbrechen genau bis ins einzelne festlegte, in ein förmliches literarisches System, und schuf damit auch von dieser Seite her eine Grundlage für die Praxis der Verfolgungen. Die Ansichten über die Arten der Hexerei wurden damit sozusagen planmäßig zusammengefaßt, und so ging denn auch von diesem durch und durch ungesunden Werk eine verheerende Wirkung aus; denn nun hatte der Unsinn Methode gewonnen. Die ohnehin schon im Fortschreiten begriffene Bewegung erfuhr erneut eine Stärkung. Vorausgegangen war die Bulle Innocenz’ VIII., die, beginnend mit den Worten ›Summis desiderantes‹ unter Aufzählung — 87 —

vieler Schändlichkeiten den Glauben an Hexen und ihre fleischlichen Bündnisse mit dem Satan im vollen Umfang bejahte. Eine der verhängnisvollsten Auslassungen des Heiligen Stuhls! – Von den Verfassern des Hexenhammers erbeten und in ihr Buch aufgenommen, um freie Bahn zu gewinnen, gab diese Bulle den um sich greifenden Hexenprozessen durch den Stempel der höchsten kirchlichen Stelle autoritativen Halt; ausdrücklich bestätigte sie die Befugnisse der beiden Dominikaner, aufs schärfste gegen die Hexerei in den südlichen und westlichen Kirchenprovinzen einzuschreiten und den weltlichen Arm hierfür in Anspruch zu nehmen. Der frühere Widerstand gegen die Verfolgungen erlahmte. Denn anfänglich, als die zwei Inquisitoren auftraten, fanden sie in Deutschland noch mancherlei Widerspruch und Gegnerschaft, und zwar nicht nur bei den Laien, sondern auch bei Kirchenfürsten und Geistlichen. Am mutigsten setzte sich Bischof Golfer von Brixen zur Wehr, der den Institoris aus seinem Bistum verwies, als er hier sein trauriges Werk begann, während der alternde, blöd gewordene Erzherzog Sigismund von Tirol lebhaft an die bösen Wesen glaubte. Bereits aber war die Bewegung in vollem Gang, und die Kräfte der Widersacher hatten es schwer, durchzudringen. Während es sich bis tief ins 15. Jahrhundert noch mehr um Einzelverfahren gehandelt hatte, nahmen nunmehr die Hexenverfolgungen den Charakter von ausgesprochenen Epidemien an. Alsbald schoß der Aberglaube nun auch in Gestalt zahlreicher gedruckter Machwerke über die bösen Hexen ins Kraut. Einzelne verständige oder maßvollere Stimmen gingen im Lärm der hoch und minder gelehrten Herren rasch unter. Auch der Humanismus versagte. Unter den Hexengläubigen gebärdete sich Abt Thrithemius mit am verbohrtesten. Den Kaiser glaubte er zur Ausrottung dieser abscheulichen Men— 88 —

schengattung mit Stumpf und Stiel anspornen zu müssen. In seinem ›Antipalus Maleficiorum‹ aber, den er auf Anregung des Markgrafen Joachim von Brandenburg in Eile zusammenschrieb, wetteiferte er mit den Verfassern des von ihm eifrig ausgeschlachteten Hexenhammers an wüstem Aberglauben und ausschweifender Einbildungskraft. Ja, er schien zu hitziger Verfolgung aufzufordern, wenn er behauptete, fast in jedem Dorf sitze ein böses Wesen von dieser oder jener Sorte. Um deren Opfer von ihren angezauberten Leiden zu befreien, verordnete der findige Kopf eigene Hexenbäder, deren Zubereitung er in selbstgefälliger Breite beschrieb, eine mit Kurpfuscherei durchsetzte Häufung von Exorzismen verschiedenster Art: Die ganze Schrift albern und erschreckend zugleich! Wie sehr die Phantasie der damaligen Menschen von der Hexenvorstellung schon erfüllt war, bestätigt die Beschäftigung der Kunst mit dem Gegenstand. Dürers Kupferstich der Hexe, die auf dem Besenstiel durch die Luft saust, gibt den Typus der Striga wieder. Unheimlicher die Hexen des Hans Baldung Grien, Weiber von Geilheit strotzend, in Teufels Unzucht verstrickt, umbraust von den entfesselten Elementen, von den tierischen Kräften der Natur! Bei Bosch dagegen, im Antoniusaltar, ist die Welt selber zur Beute des Satans und seiner Brut geworden, ist nur ein einziger Hexensabbat, quirlend von seelenlosen Fratzen und widernatürlichen Wesen, aus Grauen und Wollust geboren. Die ganze Erde ist bösartig verzaubert! Auch die leblosen Dinge brüten Unheil und sind vom Odem der Verwesung vergiftet: Alle schönen Träume des mittelalterlichen Menschen von einer göttlichen Ordnung der Dinge scheinen verkehrt in ihren Widersinn!« Der ›Hexenhammer‹ erlebte bis 1669 28 Auflagen. Die Hexenverfolgungen griffen auf England, Lothringen und andere Länder über. Die unendlich hoch zu schätzenden — 89 —

Jesuiten Tanner und Friedrich Spee, auch viele andere Geistliche und Juristen widersetzten sich dem Hexenwahn. Doch ein einziger Hexenrichter ließ 800 ›Hexen‹ auf die Scheiterhaufen schleppen. Die Zahl der Opfer geht in viele Hunderttausende. Ja, man schätzt, daß ungefähr eine Million Frauen verbrannt wurden. Die Zahl der Todesopfer der Hexenprozesse lag in manchen Gegenden weit über der, die der Dreißigjährige Krieg gefordert hatte. (Kurt Baschwitz »Hexen und Hexenprozesse«, München 1964.) Heute würde man derartige ›Hexen‹ in eine neuropathische Heilanstalt (hoffentlich nicht in eine mit ›Euthanasie‹) bringen. Hexenprozesse, die als Massenerscheinungen in der Zeit der so viel und zu Unrecht geschmähten ›Aufklärung‹ erloschen, gab es vereinzelt auch noch im 18. und 19. Jahrhundert. »Noch 1836 wurde eine vermeintliche Hexe von den Fischern der Halbinsel Hela der Wasserprobe unterworfen und, da sie nicht untersinken wollte, gewaltsam ertränkt.« (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1908.) Soviel über den guten Frater Jakob Sprenger, den höflichen und freundwilligen Briefschreiber. Einige meinen, daß er gewiß nicht ohne bona fides war. Sie setzen allerdings hinzu, daß er grauenhaft dumm gewesen sein muß. Und seinem innersten Wesen nach: doch nur ein Menschenfeind. Aus einer neuerdings gedruckten Arbeit von Prof. Dr. Martin Sicherl (Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 1963) geht hervor, daß Reuchlin 1488 an Sprenger die lateinische Übersetzung eines Briefes des Irrlehrers Nestorius (die man bisher verloren geglaubt hat) mit einem für Sprenger mehr als schmeichelhaften Begleitschreiben geschickt hat. In diesem Begleitschreiben wird der literarische Vater der Hexenverbrennungen folgendermaßen apostrophiert: »Nun habe — 90 —

ich aber nicht nur von den einheimischen, sondern auch den ausländischen Kündern Deines Ruhmes vernommen, daß die Bekanntschaft mit Dir und Deine Gegenwart allen erwünscht, angenehm und nutzbringend sei wegen Deines gewinnenden Wesens, Deiner einzigartigen Rechtschaffenheit (propter tuos svavissimos mores, singularem probitatem) usf.« – Es fällt schwer, diesen Brief in das Bild einzureihen, das man sich von dem großen edlen Reuchlin gemacht hat. Aber die Weltgeschichte, auch die Geschichte der Weltliteratur ist eben ein Nebelmeer von Rätseln. – Jeder müßte diesen seltsamen Brief lesen, der in dem Buch von Sicherl ›Zwei Reuchlin-Funde aus der Pariser Nationalbibliothek‹ nun allgemein zugänglich ist. Zum Hexenwahn: Es muß hier noch angemerkt werden, daß auch das Judentum nicht ganz frei von Dämonologie ist, daß es seine ›sitra achra‹, seine ›andere Seite‹ hat. Und zwar sowohl im Talmud, das ist in den Jahrhundertdiskussionen der Schriftgelehrten, wie in der Kabbala, das ist im freien ›Empfang‹ der tiefen Einblicke einzelner Lehrer. Doch da wie dort ist dem Wirken des Satans und seiner Gehilfen durch den absoluten uneingeschränkten Monotheismus eine klargezeichnete Grenze gesetzt.

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DRITTES KAPITEL

Das jüdische Problem meldet sich (Pico, Loans, Sforno) 1

Das Zusammentreffen Reuchlins mit Pico fand 1490 statt, jedenfalls in Florenz, wo der Graf bei Lorenzo di Medici ein Asyl gefunden hatte, das ihn sogar gegen den päpstlichen Bann schützte. Der Bann wurde erst durch Alexander VI. Borgia gelöst –, eine der wenigen Taten, für die man dem auch in katholischen Kreisen heftig kritisierten, dem wohl übelstberüchtigten apostolischen Herrscher zu danken hat. Ein Annalist schrieb, ein Mann wie Borgia wäre in der alten Kirche nicht einmal zur niedersten Klerikerstufe zugelassen worden. Ein Erotomane und Autokrat, dem übrigens bedeutende intellektuelle Fähigkeiten ebensowenig abgesprochen werden können wie seinem blutbefleckten Sohn Cesare Borgia, dem Idol Machiavellis. – Unter Alexanders Herrschaft schuf der junge Michelangelo seine Pietà in der Peterskirche; an ihr erwies er sich als einer der größten Bildhauer aller Zeiten. In Hans Kühners ›Lexikon der Päpste‹ heißt es: »Dieses reine Werk in der unmittelbaren Nähe Alexanders bildet wohl den schroffsten Gegensatz zum erniedrigendsten Pontifikat der Kirchengeschichte und kennzeichnet gleichzeitig die unermeßliche Spannweite im Leben der Epoche … Alexander ist immer wieder und von falschen Voraussetzungen her als Argument gegen das Papsttum als Institution angeführt worden. Aber im Papsttum, das einem Borgia standgehalten hat, mußten höhere Kräfte wirksam und — 92 —

mächtig sein, die sogar dieser Papst nicht anzutasten vermochte.« Die Begegnung Reuchlin–Pico ereignete sich übrigens zwei Jahre vor der Wahl Alexanders, unter seinem nicht viel besseren Vorgänger (›Hexenhammer‹!) Innocenz. Das sittliche Klima veränderte sich während dieser beiden Amtsperioden nur wenig, wie man in vielen Zeugnissen der Zeit, unter anderem in der Lucrezia-Historie des gewissenhaften Forschers Gregorovius nachlesen mag. Das Zusammentreffen hat auf Reuchlin grundlegend eingewirkt, wie gleich nachgewiesen werden soll. Seltsam, daß dagegen nur ein einziger Satz überliefert ist, der beweist, daß sich auch Pico des Eindrucks bewußt war, den der deutsche Gelehrte auf ihn gemacht hatte. Laut einem Briefbericht, den Reuchlin im nächsten Jahr erhielt, wußte Pico in freundlicher Weise zu erzählen, daß Reuchlin bei ihm gewesen war und ihn einiges über Orpheus gefragt habe. Eine kurze, aber höchst bedeutsame Nachricht; denn auf Orpheus führten ja die Griechen ihre Mysterien zurück. – Man glaubt einen Nachklang dieses Gespräches zu hören, wenn Reuchlin im ›Augenspiegel‹ bei Verteidigung der Seltsamkeiten des Talmud höchst einsichtsvoll und herzbewegend frei sagt (Seite XIa): »Und in der alten poetry der gantz Homerus ist voll heimlicher künsten die doch mit wilden sinnen unnd worten ussgesprochen sind / desgleichen Hesiodus Orpheus und Theocritus. So nun alle künsten unser vorelttern dise fryhait und urlaub haben … warum sollte es dem Thalmud verbotten sein.« Die beiden großen Männer hatten offenbar über das zentrale Thema gesprochen, das beiden am Herzen lag: Geheimlehren, alte Überlieferungen, Kabbala. – Das Thema war aktuell. Kosmogonien und Theogonien der Orphiker, die schon im 6. Jahrhundert v. Chr. als religiöse Dichtungen — 93 —

vorgetragen wurden, erhielten damals als ›orphische Rhapsodien‹ durch die wiedererstandenen Neuplatoniker erhöhtes Gewicht, eine unverhoffte Auferstehung. – Pico, dieser merkwürdig frühreife, in selbständigen Bahnen denkende, sei es auch in den Fundamenten eklektische Polyhistor, starb schon vier Jahre nach dieser Begegnung, erst 31 Jahre alt, so daß zu einer weiteren Beeinflussung Picos durch Reuchlin keine Zeit gegeben war. Als Reuchlin 1498 zum drittenmal nach Italien kam, lebte der gelehrte Graf nicht mehr. Übrigens war er in seiner letzten Lebenszeit immer stärker in den Bannkreis des strengen, ja lebenaussaugenden Savonarola geraten, hatte alle seine Reichtümer den Armen und seinem Neffen Giovanfrancesco Pico geschenkt. (Der dann die uns erhaltene Biographie J. Picos schrieb.) – In seinem kurzen Leben hatte Pico die mannigfachsten Stimmungen durchlebt, in denen auch ein Liebesabenteuer im Stile der Zeit nicht fehlte, die Entführung einer Ehefrau. Dem Verständnis schwerer zugänglich ist ein gleichfalls im Stil der Zeit gehaltener Brief Picos an seinen Schützer und Gönner Lorenzo Medici, in dem er diesen als Dichter über Dante und Petrarca stellt, diese Behauptung mit höfischen ›Beweisen‹ untermalend. – Eigenartigerweise nimmt gerade das, was einem ›im Stile der Zeit‹ geschehen scheint, also doch wohl den Zeitgenossen vollständig durchsichtig und geradezu selbstverständlich erschienen ist, – nimmt gerade das im Abstand von ein oder zwei Jahrhunderten das Aussehen undurchdringlichen Dunkels, ja der Unerklärlichkeit an. 2

Picos Porträt zeigt ein schönes ernstes Gesicht, die großen Augen blicken traumverloren (Giovanfrancesco allerdings beschreibt seine Augen als »grau und lebhaft«). Reiches — 94 —

blondes Haar von der Art, die man Seidenhaar nennt, fällt bis auf die Schultern herab. »In seiner ganzen Persönlichkeit lag eine Mischung von engelhafter Güte, schamhafter Keuschheit und erquickendem Wohlwollen, welche die Blicke erfreute und die Herzen anzog« – teilt sein Biograph mit. Seine schöne Mutter gehörte zu dem vornehmen Geschlecht der Grafen von Scandiano; sie war die Schwester jenes Dichters und Politikers Matteo Bojardo, der mit seinem leidenschaftlichen Ritter- und Zauber-Epos vom ›Verliebten Roland‹ der unmittelbare Vorläufer Meister Ludovico Ariosts (›Orlando furioso‹) wurde. Der Graf Pico von Mirandola und Concordia (beide in der Po-Ebene), in jeder Hinsicht als Lieblingskind des Schicksals veranlagt, geistig wie körperlich hochbegabt, kam mit 14 Jahren an die Universität von Bologna, studierte da und an andern Bildungsstätten in Italien und Frankreich, wurde dann am Hof von Ferrara, in Padua erzogen. Ihn unterrichtete der schon erwähnte Hermolao Barbaro. Ein aus Konstantinopel eingewanderter Jude, Jochanan Aleman, ferner Elia del Medigo (aus Kreta) unterwiesen ihn im Hebräischen, in den Anfangsgründen der Kabbala. Auch Arabisch und Chaldäisch lernte der junge erstaunliche Picus Mirandulensis nebst andern Sprachen, nebst philosophischen und theologischen Materialien. In den Jahren 1485, 1486, also von seinem 22. Jahr an, finden wir ihn an der Pariser Hochschule. Er hatte die Absicht, einen Philosophenkongreß nach Rom einzuberufen, auf dem er 900 von ihm aufgestellte Thesen zu verteidigen gedachte. Allen Teilnehmern aus der ganzen Welt wollte er die Reisekosten ersetzen. Die päpstliche Kurie trat dem Plan entgegen. Pico unterwarf sich, veröffentlichte aber eine ›Apologie‹. Die Kurie antwortete mit dem Bann. Pico entzog sich den gefährlichen Folgen durch Flucht nach Frankreich. — 95 —

Unter den besagten Thesen gab es sehr menschenfreundliche, zum Beispiel die, daß eine Todsünde, die von zeitlich begrenzter Wirkung sei, nicht (wie es das kirchliche Dogma festsetzte) durch ewige Höllenstrafe gebüßt werden müsse. Ferner einige rationalistische Behauptungen wie die, daß die Worte Jesu beim letzten Abendmahl »Dies ist mein Leib« usf. nicht materiell, sondern symbolisch zu verstehen seien. – Besondere Bedeutung gewann Picos Hinweis (den Reuchlin im ›Augenspiegel‹, XIIb, wörtlich und unter Angabe des Autors zitiert), daß sich der »wolgeborene und hochgelerte herr graff Johansen Picus von Mirandula seeliger gedechtnus zu Rom derselben zeit zu disputiern erboten und offenlich uffgeschlagen hatt under andern fürtregen und conclusiones auch diese / nemlich / Es ist kain Kunst die uns mer gewiss macht von der gothait Cristi dan Magia und Cabala.« – Dieser Satz wurde zu einem Hauptargument für Reuchlin, als er die hebräischen Bücher gegen die, die sie dem Feuer überliefern wollten (voran der »taufft jud Pfefferkorn«), so tapfer und erfolgreich verteidigte. – Es ist ein Satz, der durch kein auch nur einigermaßen gewichtiges Argument zu stützen ist. Dennoch kehrt er bei Reuchlin, nach dem Vorbild Picos, ständig wieder. Man fragt sich manchmal allen Ernstes, ob Reuchlin die bequeme Hilfskonstruktion nicht etwa nur als Strategem gegen seine Gegner benützt hat. Doch seine oft bewiesene Redlichkeit zwingt wohl zu der Annahme, daß er wirklich an dieses Mißverständnis geglaubt hat. Einer der nicht wenigen Irrtümer und Vorurteile, denen er verfallen war. ›Im Stil der Zeit‹ … (siehe oben). In Picos Apologie lesen wir ferner (um nur die auf Reuchlin Einfluß gewinnenden Punkte anzuführen): Die Benennung eines Gegenstandes ist keine zufällige, sondern zwischen Namen und Objekt waltet eine natürliche — 96 —

Beziehung, wie Platon im ›Kratylos‹ nachweist. (Ich füge hier ein Fragezeichen bei, der Dialog ›Kratylos‹ exzediert ja geradezu in Witzhaftigkeit, und die Grenze zwischen Scherz und Ernst ist gerade hier besonders schwer zu ziehen). Weiter bei Pico: Gewissen hebräischen Worten wohnt eine besondere Kraft inne, sie sind unübersetzbar. Dazu vergleiche man die prachtvollen Sätze im ›Augenspiegel‹, VIb: »Die rede der hailigen schrifft ist zu verston nach aines jeden gezungs aigenschafft. Dan ain yegliche sprach hat besinder aigen manier und wyss zu reden. Wan nun die selb inn andere sprachen gekeret unnd getolmetst wirt / bedunckt ainen iegklichen es woll sich nit reimen unnd laut nit.« Diese gewiß richtige Maxime hat indes Reuchlin nicht gehindert, vieles aus dem Lateinischen und Griechischen zu übersetzen, worüber sich bei seinem Zeitgenossen Abt Thrithemius von Sponheim (Catalogus illustrium virorum Germaniae 1495) und jetzt in der zitierten Abhandlung von Sicherl eine ausführliche Liste findet. – Pico fährt fort: Der Gegensatz zwischen christlicher und jüdischer Religion ist nur scheinbar. Die Juden haben nur den Buchstaben, wir den Geist, der das Leben schafft. Die Juden sehen im Messias den Neuerbauer ihres Staates, des Tempels. Die Kabbala lehrt, daß die Verheißung sich auf die himmlische Heimat bezieht. – Alle diese (unrichtigen) Sätze kehren bei Reuchlin wieder, zum Teil in aller Breite ausgeführt. So vor allem in ›De arte cabalistica‹ gegen den Schluß des 1. Teiles, wo Reuchlin ganz hanebüchen verkündet, der Messias werde vom Talmud nur als körperlicher Befreier aufgefaßt und beziehe sich auf den Sieg des Israelheeres (»ad Israelitici exercitus victoriam referre«). Wie falsch diese Gegeneinanderstellung ist, mag man aus der vortrefflichen Anthologie ersehen, in der Moritz Zobel unter dem Titel ›Gottes Gesalbter‹ alle auf den Messias bezüglichen Stellen des — 97 —

klassischen jüdischen Schrifttums (Bibel, Talmud und Midrasch) zusammengestellt hat, ohne kabbalistische Quellen zu benützen. Auch im Talmud wird durchaus nicht nur der politischen, den Staat wiederherstellenden Tätigkeiten des Messias gedacht. Sie werden nicht in den Hintergrund gestellt, aber neben der weltlichen Seite der Erlösung, der Einsammlung der Zerstreuten, der neuen Souveränität, wie wir sie zu unserem höchsten Glück gerade in unseren Tagen zu erleben gewürdigt worden sind, steht der ›himmlische‹ Aspekt (auf den wir allerdings noch warten), die geistige Erhebung und Verklärung des ganzen Volkes, ja der gesamten Menschheit und sogar des Kosmos in der messianischen Endzeit. Leidenschaftliche Bilder bei Jesaja z. B. 30, 26: »Das Licht des Mondes wird dem Licht der Sonne gleichen, und das Licht der Sonne wird siebenfach sein« wechseln mit Schilderungen seelischen Aufstiegs. »Die Sünde schwindet aus Israel«, faßt Zobel zusammen und belegt das mit vielen Prophetenzitaten, so aus Hoschea 3, 8: »Danach kehren die Kinder Israels um, suchen den Herrn, ihren Gott, und David, ihren König, und wenden sich bebend hin zu Gott und seinem Heil am Ende der Tage.« Oder nach Zefanjah: »Der Rest Israels meidet jedes Unrecht und kennt nicht Lug und Trug.« Oder Joel 3. Kap.: »Da alle Glieder des Volkes vom göttlichen Geiste beseelt sind, wird ihnen insgesamt die Gabe der Prophetie zuteil.« »Das Land ist voll von Gotteserkenntnis wie das Meer voll von Wasser« (bei einigen Propheten). Die Großmächte Assyrien und Ägypten, symbolisch für die ganze Menschheit gesagt, verbinden sich mit Israel zur gemeinsamen Verehrung des wahren Gottes. Der Ewige spricht (Jesaja 19, 24 f.): »Gesegnet sei mein Volk Mizrajim (Ägypten) und das Werk meiner Hände Aschur und mein Erbbesitz Jissrael.« – Dies ist das wahre Bild der messianischen Tage, wie es als letztes Ziel von nicht-kabbalistischen wie von kabbalisti— 98 —

schen Schriften ohne Unterschied gezeichnet wird. Gerade das Auseinanderklaffen in eine politische und in eine spirituale Erlösung ist ein dem Judentum fremder Gedanke. Wenn der Erlösung entweder der spirituale oder der staatsbildende Bestandteil fehlte, so wäre sie unvollendet, unmessianisch. Es gibt natürlich unter den fast 200 Weisen des Talmud, die Zobel zu Wort kommen läßt, auch einzelne, die sich zu extremen Formulierungen in der einen oder andern Richtung versteigen. Der Hang zum Extrem gehört nun einmal zum Charakterbild der jüdischen Seele. Doch die Stimmen derer, die sich die irdische Art der Erlösung oder Vervollkommnung (Apokatastasis) ohne ihr spirituales Gegenbild nicht vorstellen mochten, überwiegen. Der Gegensatz von irdischer und himmlischer, volklicher und universal-kosmischer Erlösung ist also von Pico und Reuchlin zu Unrecht ins Judentum projiziert, um für die von ihnen postulierte Höherstufigkeit der Kabbala, resp. des Christentums Raum zu schaffen. In ähnlicher Weise polemisieren heute noch die vereinzelten Juden, die den Zionismus ablehnen, gegen die angebliche Nur-Weltlichkeit der zionistischen Konzeption, gegen eine fingierte Ideologie, die am besten von Schalom Ben-Chorins Buch ›Die Antwort des Jona‹, von den Gedichten Sch. Schaloms und von Bubers ganzem Wirken und Schaffen widerlegt wird. Ich könnte an dieser Stelle noch viele andere Namen in Israel nennen; auch mich. – Die Verwirklichung der messianischen Konzeption ist freilich noch äußerst mangelhaft, ja fast nur punktuell, also sozusagen gar nicht vorhanden, – an der Konzeption selbst aber (und diese ist es, die uns einige an dieser Stelle der Untersuchung bemäkeln) fehlt es weder in unserem alten, noch im neueren Schrifttum. Dies – und nur dies – habe ich an dieser Stelle gegen die Fehlkonstruktion Picos, die Reuchlin nicht ohne Behagen ausgebaut hat, erinnern zu müssen geglaubt. — 99 —

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Man hat in letzter Zeit versucht, den Einfluß, den Pico auf Reuchlin gehabt hat, als geringer, dafür den Einfluß des Nikolaus von Cues (Cusanus), der ja allerdings der philosophisch weitaus wichtigste von den dreien ist, als entscheidender hinzustellen. Zu der Sprachphilosophie Picos, die bei Reuchlin wiederkehrt, d. h. zur Beziehung zwischen Namen und Gegenstand, gibt es allerdings Parallelstellen beim Cusaner z. B. in der Schrift ›Idiota de mente‹ (›Der Laie über den Geist‹) Kap. III: »Gott ist eines jeden Dinges Genauigkeit. Wenn man daher von einem einzigen Gegenstand ein genaues Wissen besäße, hätte man notwendig ein Wissen von allen Dingen. Wüßte man den genauen Namen eines einzigen Dinges, so wüßte man auch aller Dinge Namen; Genauigkeit gibt es nur in Gott. Wer also einmal eine einzige Genauigkeit erreichte, der würde Gott erreichen, der die Wirklichkeit alles Wißbaren ist.« (Vgl. die lichtvoll schöne Einführung zu diesem Buch von Hildegund Menzel-Rogner, Hamburg 1949). Doch die reine Sicht Platons, aus der der Cusaner den Sachverhalt sieht, ist wohl dem Pico wie dem Reuchlin nicht zugänglich. Was als Verbindungsgut zwischen Pico und Nikolaus von Cues übrig bleibt, gehört der allgemeinen Zeitanschauung an. – Soweit ich sehen kann, wird der Cusaner und seine Hauptlehre, die coincidentia oppositorum (das Zusammenfallen der Gegensätze), von Reuchlin nur ein einziges Mal zitiert, und zwar in ›De arte cabalistica‹, XXI a (Hagenau 1517), wo von ihm als »Germanorum philosophissimus archiflamen dialis« die Rede ist. Der Kardinal und Bischof von Brixen als ›Oberpriester Jupiters‹, eine echt humanistische Floskel! (Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich dem überragenden Buch von Gershom Scholem ›Ursprung und Anfänge der Kabbala‹.) — 100 —

Über ein zweites Zitat (ohne Namensnennung) später, im Heidelberger Kapitel. Daß die Form des Dreigesprächs, die Reuchlin in seinen Hauptwerken verwendet, einen Beweis für seine Abhängigkeit von dem Cusaner abgeben soll, der diese Form gleichfalls liebte, scheint mir unrichtig. Ein Dreigespräch ist schon die christliche, von äußerster Urbanität durchwehte Streitschrift des römischen Advokaten Minutius Felix aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Und schon in einigen der platonischen Dialoge findet sich die Konstellation von drei Unterrednern (z. B. im ›Timaios‹, im ›Hippias minor‹). – Auch beim ironischen Abwehren banausischer Feinde folgt Reuchlin fast wörtlich dem Grafen. In der schönsten Abhandlung, die Pico geschrieben hat, im Buch ›Über die Würde des Menschen‹ lesen wir: »Schon beim Hören des Wortes Kabbala schien meine Gegner ein Entsetzen zu überschleichen. Unter der Kabbala stellten sie sich nicht Menschen, sondern Zaubertiere, Kentauren oder irgendwelche Wunderwesen vor. Eine amüsante Episode. Einer der Gegner wurde gefragt, wer denn eigentlich Kabbala sei. Er antwortete: ›Das war ein abtrünniger Wicht und ein dämonischer Gesell, der Verfasser vieler Schriften gegen Christen‹. Kann irgend jemand, der diese Auskunft hört, das Lachen unterdrücken?« – Dazu Reuchlin im ›Augenspiegel‹, XII b: »Cabala / dar wider aber die maister der hailigen schrift vil redten und schriben / wie wol sie grüntlich nit wißten was doch Cabala für ain tiere were.« Der Scherz scheint Reuchlin besonders gut gefallen zu haben, denn in der ›Kabbalistischen Kunst‹ kommt er nochmals, und zwar fast wörtlich, auf das Bonmot Picos zurück: »Falso asseruerunt, Cabalam fuisse hominem diabolicum et haereticum, unde Cabalistas haereticos esse omnes. Abstinete obsecro si potestis a risu.« (»Fälschlich behaupten sie, Kabbala sei ein teuflischer und ketzerischer Mensch — 101 —

gewesen, daher seien alle Kabbalisten Ketzer. Bitte haltet euch, wenn ihr könnt, vom Lachen zurück.«) Von Pico (und Lorenzo Valla) hat Reuchlin auch die Methode übernommen, durch Vergleich mit dem hebräischen Urtext Irrtümer in der Vulgata, in der durch den kirchlichen Brauch autorisierten lateinischen Übersetzung des Hieronymus zu rügen, wozu eine bedeutende Portion wissenschaftlichen Mutes gehörte. Pico fand 600 Fehler in einer Übersetzung der Psalmen, bestätigte aber die Korrektheit der Vulgata, Reuchlin nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Er kritisiert die Übersetzungen des Hieronymus, selbst die des Augustinus, des Nikolaus von Lyra, der doch etwas später sogar für Luther maßgebend war. (»Si Lyra non lyrasset – Luther non saltasset« – »Hätte Lyra nicht die Leier gespielt – hätte Luther nicht getanzt«, spottete ein Zeitgenosse.) Reuchlin aber schrieb eindeutig: »Unser Text liest so, die hebräische Wahrheit aber enthält anderes« – »Ich weiß nicht, durch welchen Traum bewogen, Augustinus übersetzt hat« – oder noch einfacher, über eine andere Autorität: »Nescio quid blacterat« (»Ich weiß nicht, was er zusammenschwatzt.«) – Zusammengefaßt hat Reuchlin sein Programm in den oft zitierten Worten, vielleicht seinen bekanntesten: »Wiewohl ich nämlich den heiligen Hieronymus wie einen Engel verehre und Lyra wie einen Meister achte, bete ich dennoch die Wahrheit als Gott an.« Im Original der »Rudimenta« klingt das besonders eindrucksvoll: »Quamquam enim Hieronymum sanctum veneror ut angelum, et Lyram colo ut magistrum, tamen adoro veritatem ut deum.« Ein würdiges Gegenstück zu dem klassischen: »Amicus Plato, magis amica veritas«. (Plato ist mir ein Freund, — 102 —

Radierung von Jacov van der Heyden nach einem Gemälde von Hans Baldung Grien.

Pico della Mirandola. 1463-1494.

mehr Freund ist mir die Wahrheit.) – Es tut wohl, sich an solche Sätze der Absolutheit in einem Zeitalter zu erinnern, das von vielen Seiten her die Wahrheit annagen möchte, Tendenz und sogenanntes ›Engagement‹ kaltsinnig über die Wahrheit stellt und sich damit ein klares Verdammungsurteil spricht. – Bei Pico finde ich auch die seltsame, später von Reuchlin nachgeahmte Sprachspielerei, das hebräische Wort für Himmel, hashamájim, sei aus esch (Feuer) und majim (Wasser) zusammengesetzt. Bei Pico liest man dieses Kunststück im ›Heptaplus‹, bei Reuchlin in ›De verbo mirifico‹. Im Heptaplus setzt Pico auseinander, daß es drei Welten gebe: die überhimmlische Welt (das Empyreum, die Welt der Engel, mundus intellectualis) – den Himmel – die sublunarische Welt. Für das Empyreum ist der feurige Äther charakteristisch, für unsere sublunarische Welt das unbeständige ruhelose Element des Wassers, der Himmel muß sich eben mit einer Mischung von Feuer und Wasser zufriedengeben. Die Stiftshütte habe alle drei Welten dargestellt. Der Mensch sei die Mitte zwischen allem Geschaffenen. Als Verbindungsglied der kreatürlichen Natur mit der überirdischen Welt, der er innerlich verwandt ist. – Das starke Selbstgefühl des erwachenden Renaissancemenschen spricht aus diesen Zeilen, die ebenso wie die andern hier angeführten Gedankengänge bei Reuchlin wiederkehren. Vernünftigerweise ist Reuchlin dem Pico nicht bei dessen halsbrecherischem Versuch gefolgt, den Plato und Aristoteles in Konkordanz zu bringen. Aber den starken Einfluß des Neupythagoräismus, den Kult der Zahl hat er von ihm, vom Cusaner (Idiota de mente, 6. Kapitel) und von dem Kabbalisten Abulafia übernommen. Er vereint in sich den Abglanz all dieser Erleuchtungen. In einem schönen Essay ›Ecce homo humanus‹ hat Josef — 105 —

Mühlberger die Analyse des großartigen Jünglings Pico auf zwei seiner Briefworte aufgebaut, die sehr cusanisch (de concordantia catholica) und sogar über den Cusaner hinausgreifend klingen: »Wir wollen den gewünschten Frieden genießen, den heiligen Frieden, die untrennbare Verbindung, die einmütige Freundschaft, durch welche alle Seelen in einem Geiste, der über allen Geistern ist, nicht nur übereinstimmen, sondern sogar im Grunde völlig eins werden. – Auch Gott muß Dich als Menschen verachten, wenn Du vorher den Menschen als Menschen verachtet hast.« 4

Aus Italien zurückgekehrt, widmet sich Reuchlin zunächst wieder der Juristerei. Er gehört dem Hofgericht in Stuttgart an. Dann finden wir ihn, mit wichtigen politischen Aufgaben betraut, mitten in der molestia curialis, den Mühen des Hoflebens, wie einer seiner Korrespondenten schreibt, – nämlich als Gesandten seines Herrn, des Grafen Eberhard, bei Kaiser Friedrich III., der damals in Linz Hof hielt. Eine dauernde Residenz hatte Friedrich ja nicht. Er wurde in vielen Kriegen geschlagen, träumte aber unverbrüchlich von der Weltmacht des Hauses Habsburg. Auf seinen Büchern, Gefäßen, Palastportalen ließ er die Formel A. E. I. O. U. anbringen, ein Anagramm, das als Anfangsbuchstabenreihe entweder mit »Alles Erdreich ist Oesterreich untertan« oder »Austriae Est Imperare Orbi Universo« entziffert wurde. Durch Verheiratung seines Sohnes Maximilian mit Maria von Burgund näherte er sich seinem Ziele um ein Beträchtliches. Doch sogar Wien ging ihm für eine Zahl von Jahren verloren, auch Böhmen und Ungarn; für immer die Schweiz. In Armut und bei unstetem Reisen durch das zerrüttete Reich befaßte er — 106 —

sich mit Alchimie und Astrologie, mit den Linien in den Innenflächen der Hände, mit geheimen Künsten wie sein Nachfahr Kaiser Rudolf II. in Prag, der passive Held in Grillparzers erschütterndem Drama vom ›Bruderzwist‹. Zu den Lieblingsneigungen dieses eigenartig besinnlichen und schicksalverfolgten Mannes Friedrich, der über fünfzig Jahre lang ruhmlos die Krone des Römischen Reiches Deutscher Nation trug, gehörte die stille Wissenschaft der Botanik. Den Juden gegenüber benahm er sich wohlwollender als die meisten herrschenden Männer seines Zeitalters, Stadträte miteingeschlossen. Wohlwollender jedenfalls als Graf Eberhard, der von seinen Zeitgenossen als Meister eines weisen Regenten hochgepriesen wurde, jedoch Sorge dafür trug, daß dem Herkommen gemäß in Württemberg kein Jude (außer einzelnen herumziehenden Handelsleuten) geduldet wurde, und der auch noch seinen Erben auftrug, bei dieser strengen Praxis zu beharren. – Wie weit bei dem milderen Verfahren Kaiser Friedrichs III. und seines Sohnes Maximilian die dauernden Geldnöte dieser Souveräne mitgewirkt haben, wage ich nicht zu entscheiden. Doch war es damals eine Tradition, daß die zentrale Gewalt des Reiches (die Habsburger) die Juden eher schützte, als die lokalen Gewalten und Stände es taten; was auch in der besonderen Rechtsauffassung der ›jüdischen Kammerknechtschaft‹ seinen Grund hatte. Darüber später Genaueres. – Hier nur noch die Anmerkung, daß erst viel später die grausame Verfolgerin der Juden, Kaiserin Maria Theresia, die eben beschriebene wahrhaft herrscherlich-milde Tradition gebrochen hat. Die judenfeindliche Gesetzgebung Württembergs hatte unter anderem die Folge, daß Reuchlin zunächst große Schwierigkeiten hatte, im Lande seines ständigen Wirkens Lehrer der hebräischen Sprache oder auch nur hebräische Bücher zu finden. Erst die Reisen nach Italien brachten — 107 —

ihm wesentliche Hilfe. – Reuchlins Bemühungen um Erlernung der hebräischen Sprache reichen weit in seine jungen Jahre zurück. Geiger neigt zur Ansicht, daß Reuchlin durch autodidaktisches Studium und »eisernen Fleiß« die Grundlage zu den ausgebreiteten Kenntnissen des Hebräischen gelegt hat, die schon 1483 Agricola in einem Brief an ihn preist. 1499 heißt es in einem Briefe des Jodocus Gallus aus Ruffach an Reuchlin: »Tu hebraeis interea fruere teque, uti eis gaudes, totum devoveas«. (»Du genieße inzwischen deine hebräischen Studien und ergib dich ihnen ganz, wie es dir Freude macht.«) Zwischen beiden Briefen liegt allerdings das Zusammentreffen mit Pico, von dem Anregungen zu weiterer Arbeit auf diesem Gebiet ausgegangen waren. Überhaupt lagen ja an der päpstlichen Kurie (damals in Avignon) die Dinge anders als in Deutschland; an der Kurie, von wo aus schon Papst Johannes XXII. (1316–1334) den (teilweise allerdings Papier gebliebenen) Befehl zur Errichtung von Lehrstühlen für Hebräisch an den Universitäten von Paris, Oxford, Salamanca und Bologna gegeben hatte und wo Papst Clemens VI. (1342–1352) ausdrücklich gegen Judenverfolgungen in Frankreich und Deutschland aufgetreten war, wo ferner (nun wieder in Italien) Papst Sixtus IV. drei wichtige kabbalistische Bücher, unter ihnen Schaare Ora (Portae Lucis, Die Pforten des Lichts) von Gikatilla, ein von Reuchlin ausgiebig benütztes Werk, durch den Konvertiten Paulus Riccius aus dem Hebräischen ins Lateinische übertragen ließ. Hier herrschte eine freiere Atmosphäre für solche Studien als in deutschen und spanischen Landen, wo die Juden mit tausend wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und fürchten mußten, daß die Erwerbung von Hebräischkenntnissen vor allem als Waffe gegen jüdische Existenz und jüdisches Schrifttum dienen sollte. So ist wohl auch der Brief aufzufassen, den der Rabbi von Re— 108 —

gensburg, Jacob Margolith, an Reuchlin geschrieben hat, als dieser bat, ihm kabbalistische Bücher zu leihen oder käuflich zu beschaffen. Der Inhalt des Briefes von Reuchlin kann nur aus der Antwort des Rabbi erschlossen werden; nur diese Antwort ist erhalten. Der Briefwechsel muß aber recht umfangreich gewesen sein, denn in den ›Rudimenta‹ schreibt Reuchlin, er besitze von diesem Rabbi »die süßesten (suavissimas) Briefe, in eleganter hebräischer Sprache an mich gesandt«. – Besagte Antwort nun enthält unter den Anfangsworten die höfliche Ansprache: »Adoni hameulé bechochmót doktor Jochan – Schtukarton« (»Mein Herr, hocherhoben in den Wissenschaften, Doctor Johannes – Stuttgart«) und warnt vor der Kabbala: es könnte geschehen, daß für den, der sich mit ihr befaßt, »tarbé lo hahefsséd jéter al hatoélet« (»der Schaden größer sei als der Nutzen«). So wie dem, der in die strahlende Sonne schaut, die Augen sich verdunkeln. »Und wisse, mein Herr, daß diese Bücher, die mein Herr verlangt, hier nicht zum Verkauf vorgefunden werden. Jedoch so weit es mir möglich ist, meinem Herrn zu dienen, bin ich als Diener dazu bereit. So spricht der Demütige, der genannt ist Jacob Margolith.« Vorher heißt es noch: »Bediwré hakabalá aschér hi chochmá tmimá neelmá merów anshé dorénu«. (»In Worten der Kabbala, die die unversehrte Weisheit ist und verborgen vor der Mehrheit der Menschen unseres Zeitalters«.) In der lateinischen Übersetzung, die Reuchlin diesem Brief beigibt, heißen die letzten Worte nach »Mehrheit«: »der Männer unserer Nation«, was offenbar ein wenig schief ist. In der Umgangssprache unseres Landes bedeutet ›anshé dorénu‹ einfach ›Zeitgenossen‹ – und das hat es wohl auch früher immer bedeutet. Daß Rabbi Margolith nicht ganz Unrecht mit seiner Vorsicht hatte, auch wenn sie diesmal sich gegen den Unrichtigen kehrte und wehrte: das beweist der tragische — 109 —

Vorfall in seiner Familie. Sein Sohn (nach Selma Stern »Enkel des Talmudgelehrten Jacob Margolis aus Nürnberg, Sohn des Regensburger Rabbiners Samuel« – laut Geiger ›Briefwechsel‹ liegt die Gefahr vor, den Nürnberger mit dem Regensburger zu verwechseln. Ich kenne mich, offen gesagt, in diesen Familienverhältnissen nicht aus) sein Sohn oder Enkel also konvertierte. Hier ist der Ort, zwischen zwei Arten von Apostaten scharf zu unterscheiden: den nicht-aggressiven (wie den oben erwähnten Paulus Riccius), die nichts Besonderes tun, als daß sie einen mehrere tausend Jahre alten Geschichtszusammenhang verraten, und den Hetz-Apostaten, die gewissermaßen nach dem unausgesprochenen Grundsatz handeln: »Bin ich abtrünnig geworden, so sollen auch alle andern Juden von Volk oder Glauben oder von beiden abfallen.« Ganz ähnliche Figuren habe ich unter den Assimilanten aller Abarten kennengelernt, mit denen ich mein Leben lang im Kampfe gelegen habe. Es gibt auch da die harmlosen und jene, denen gleichsam das ungeschriebene Schlagwort vorschwebt: »Habe ich mich assimiliert, – zumindest glaube ich, daß das geschehen ist – so sollt und müßt auch ihr alle euch assimilieren, alle, alle. Jeder an sein Wirtsvolk. Keiner darf zurückbleiben. Früher werde ich mich nicht zufriedengeben.« (Ich werde später auf diese clownesktraurige Menschenart noch zu sprechen kommen.) – Der Enkel also des berühmten Gelehrten nannte sich nach seiner Taufe Antonius Margaritha (was dasselbe bedeutet wie das hebräische Margalith, nämlich Perle), wurde Lektor der hebräischen Sprache und veröffentlichte ein von Verleumdungen strotzendes, dabei boshaft-geschicktes, mit manchen jüdischen Kenntnissen aus seiner frommen Jugend wahrheitsverdrehend auftrumpfendes Angriffsbuch. Trotz offenbarer Fehler machte es Eindruck, namentlich auf Kaiser Karl V., der zunächst die Beschuldi— 110 —

gungen glaubte und in Zorn geriet, da er knapp zuvor in Innsbruck »Josels Verteidigungsrede zugunsten seines Volkes angehört, um nun von einem gelehrten Täufling die Beweise zu erhalten, daß sie (die Juden) in ihrer Synagoge Christus und den Kaiser selbst verfluchten und die Christen dem Judentum zu gewinnen versuchten«. Im Jahre 1530, also acht Jahre nach Reuchlins Tod, schien der Erzfeind Pfefferkorn wiederauferstanden. »Für die Juden war der Lektor der hebräischen Sprache ein gefährlicherer Feind als der ungebildete Metzger Pfefferkorn«, heißt es in dem Buch, das die lebendigste und wissensreichste Schilderung des Judenelends jener Jahre, zur Zeit Reuchlins und bald nachher, bringt, in ›Josel von Rosheim‹ von Selma Stern. Und weiter, ebenda: »Margaritha hatte sich der Mühe unterzogen, die sämtlichen jüdischen Gebete in die deutsche Sprache zu übersetzen, um aus ihnen zu beweisen, daß die Juden an jedem Tag des Jahres, am Morgen, am Nachmittag und am Abend, besonders aber an ihrem Versöhnungstag Gott anflehten, er möge das römische Kaisertum auswurzeln, alle christlichen Obrigkeiten und alle Königreiche vernichten und der ›Christen Blut an die Wand spritzen‹. ›O christlicher Leser, du mußt das merken, daß, wo die Juden um Rache bitten und fluchen über Edomiter, Esau, Seir, meinen sie allemal alle Obrigkeit samt den Untertanen des römischen Reichs … Sie haben Gebete, besonders das Alenugebet, in dem sie wagen, Christus selbst zu verfluchen. Wenn sie beten, sie (die Christen) knien und bücken sich vor einer Torheit und anbeten einen Gott, der nicht helfen kann, so beten sie hier klärlich wider Christus und die Christen. Denn unter Torheit und Eitelkeit verstehen sie Jesus, weil diese Worte dem Zahlenwert seines Namens entsprechen.‹ Am Schluß seiner Abhandlung bittet Margaritha die Regierungen, den Juden, die er des Diebstahls, des Wuchers, der Münz— 111 —

vergehen und anderer Laster bezichtigt, die Geldleihe zu verbieten und ihnen weder Schutz noch Rechtsbeistand zu gewähren.« Die dramatisch erregte Darstellung der vor dem Kaiser abgehaltenen Disputation zwischen Margaritha und dem ›Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation‹ (das war eine Zeitlang der Titel, den Josel von Rosheim führte) sowie des Rosheimschen Sieges gehört zu den aufwühlendsten Partien historischer Prosa, die ich je gelesen habe. Wir sind nicht allzu weit von unserem Thema abgekommen. Denn der Mann, bei dem Reuchlin endlich seine Sehnsucht nach guter systematischer Unterweisung im Hebräischen stillen konnte, der Leibarzt des Kaisers Friedrich III., Jakob ben Jechiel Loans, aus Mantua oder Ferrara, wie Reuchlin selbst berichtet, war vermutlich ein Verwandter jenes Josel (oder besser: Jossel oder Josef) von Rosheim, der in dunkelsten Tagen wiederholt auf mannhafte und kluge Art den Schutz seiner Stammesgenossen durchsetzte. Dieser »erste Sozialkritiker und Sozialreformer der deutschen Juden«, wie S. Stern ihn nennt, stammte aus einer Familie, die, einer alten Tradition zufolge, aus Frankreich in Deutschland eingewandert war – und zwar, wie ich dem oben genannten Buch dieser Autorin entnehme, aus dem Orte Louhans. (Louhans findet sich als Arondissementshauptstadt des französischen Departements Saône-et-Loire an der Lyoner Bahn.) »Er selbst unterzeichnete sich einmal auf einer Versammlung jüdischer Delegierter, in einer hebräischen Unterschrift, als Joseph ben Gerschom aus der Familie Louans«. – »Es lag daher nahe«, fährt Selma Stern fort, »Josele in verwandtschaftliche Beziehung zu Jakob Jechiel Loans zu bringen, nicht nur des gemeinsamen Namens wegen, sondern auch wegen mancher gemeinsamer Charakterzüge und der her— 112 —

vorragenden und privilegierten Stellung, durch die beide ihre Glaubensgenossen weit überragten.« Wiewohl nun zweifellos Reuchlin der Bahnbrecher für das Studium der hebräischen Sprache und der Kabbala in Deutschland wurde, muß doch hervorgehoben werden, daß Reuchlin selbst und Loans bei Reuchlin Vorgänger hatten. Reuchlins Vorgänger in den deutschen Bemühungen um die ›heilige Sprache‹ sind die schon genannten Tübinger Theologen, dann der Humanist Agricola, ferner Conrad Pellikan, der Freund Zwinglis, dem die Priorität gebührt, eine kleine hebräische Grammatik nebst einem Wörterbuch zum eigenen Privatgebrauch (allerdings sehr mangelhaft, wie Geiger ausführt) zusammengestellt zu haben. Dieses Werk Pellikans zirkulierte in vielen Abschriften bei seinen Freunden. Dies alles gehört zum Charakterbild der Renaissance. – Das nach der scholastischen Erstarrung neu erwachte wissenschaftliche Interesse für die Ursprache des ›Alten Testaments‹ gab es da und dort, – unter dem Einfluß der ›modernen‹ humanistischen Tendenzen, die den Ruf ›ad fontes‹ (›zu den Quellen‹), wenn auch zunächst nur theoretisch, erhoben; so etwa besaß der Bischof von Worms, Johann von Dalburg, in seiner reich ausgestatteten Bibliothek, die Reuchlin rühmt, auch viele ›hebraica volumina‹, hebräische Bände. – Reuchlin aber war der erste, der dieses ad fontes, was das Hebräische anlangt, ganz ernst nahm, – indes der gefeierte Erasmus sich auf das Griechische (das Neue Testament) begrenzte. »Die Kabbala und der Talmud, was immer das sein möge, haben mir nie zugelächelt«, erklärte Erasmus dezidiert in einem Brief an Albrecht v. Brandenburg. (»Cabala et Talmud quicquid hoc est meo animo nunquam arrisit.«) Es gibt noch andere Sätze des Erasmus, in denen er sich geradezu rühmt, nicht mehr als die Anfangsgründe des Hebräischen zu verstehen. — 113 —

Reuchlins autodidaktische Bemühungen um Erlernung der hebräischen Sprache sind oben erwähnt. Seit der Zeit, da Geiger seine Reuchlin-Forschungen veröffentlicht hat, ist (wie ich dem gelehrten Essay von Prof. Hans Rupprich in F. 2 entnehme) eine in München befindliche Handschrift zum Vorschein gekommen, die beweist, daß Reuchlin 1486 einen Juden namens Calman zum Lehrer im Hebräischen hatte, der ihm gegen Entlohnung das Wörterbuch des Menachem ben Saruk (aus Tortosa) abschrieb. Die Begegnung mit Jakob Jechiel Loans aber war der Wendepunkt. In dem kaiserlichen Leibarzt lernte er einen angesehenen Mann von umfassender allgemeiner und jüdischer Bildung kennen, wie er ihm bisher unter den verarmten, durch Sondergesetze bedrückten, äußerlich gedemütigten, wenn auch innerlich ungebrochenen Juden der deutschsprachigen Länder nicht begegnet war. Die Ungebrochenheit dieser Volksschicht bestand aber wirklich nur pro foro interno, machte sich vor allem darin geltend, daß die Juden in ihren Gemeinden, unter ihren geistigen Führern eine eigene, sehr deutliche, von keinem äußern Einfluß berührte Wertskala der geistigen Rangordnungen anerkannten und in Anwendung brachten. Diese Ungebrochenheit war nicht jenes von Nietzsche, dem schlechten Psychologen, weidlich überschätzte »spernere se sperni« (»verachten, daß man verachtet wird«), das sich vielmehr ressentimentgeladen und äußerst ungesund auswirkte. – Loans war, wie es den Anschein hat, der erste psychisch intakte, gesunde deutsche Jude, der Reuchlin gegenübertrat. Die beiden fanden leicht eine gemeinsame Sprache: die einer hohen selbstlosen Geistigkeit. – Dabei muß die populäre Vorstellung richtiggestellt werden, als sei Reuchlin ein spezieller Judenfreund gewesen. Das war er durchaus nicht. Er teilte die Vorurteile seiner Zeit (und vieler vorangegangener Jahrhunderte) gegen die Juden, — 114 —

die, außerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaft stehend, zumindest als etwas Fremdes, Schwer-Einordenbares, ja Unheimliches empfunden wurden, das der Umgebung Rätsel aufgibt. Ganz ähnlich, wie die Christen die Anhänger Mohammeds als fremd und fatal ablehnten, fürchteten, bekämpften. Und Reuchlin war und blieb, wie noch darzustellen sein wird, ein frommer Katholik, der seinen Glauben außerordentlich intensiv fühlte und mit nichts, was diesem Glauben entgegenlief (daher später auch mit Luther nicht) irgendwelche Gemeinschaft einzugehen gesonnen war. Wie ja auch sein Vorbild Pico von Mirandola bei all seiner philosophischen Freigeisterei auf die Palme der Rechtgläubigkeit nie verzichten zu wollen erklärte. – Nur daß bei Reuchlin die Front gegen die Juden von Anfang an weniger scharf hervortrat als bei seinen Zeitgenossen, z. B. bei der Rechtsautorität, dem berühmten Professor der Universität Freiburg im Breisgau, Huldrichus Zasius, der die Juden schlicht als »truculentae bestiae« (»grimmige Tiere«) bezeichnete, die von den Fürsten ›eliminiert‹ werden sollten. »Man muß jenen ekelhaften Auswurf in kimmerische Finsternis versinken lassen«. So sprach Zasius. Zu vergleichen das reich dokumentierte Buch von Guido Kisch ›Zasius und Reuchlin‹ (1961). – Diese Differenz ist auf die besondere Milde und Rechtlichkeit des Reuchlinschen Charakters, nicht auf prinzipielle Andersartigkeit der Grundeinstellung zu den Juden zurückzuführen. – Und nun trat ihm die ›große Ausnahme‹ entgegen: ein Jude, mit dem er sich verständigen, mit dem er über gelehrte Angelegenheiten reden, ja von dem er lernen konnte, den er verehren mußte. Viele ansprechende Details über Reuchlin im Verkehr mit Loans finden sich in dem wissensreichen Büchlein ›Johannes Reuchlin in Linz‹ von Konrad Schiffmann (Linz 1929). Man stellt zweierlei fest: Erstens, daß Reuchlin trotz— 115 —

dem seine im Grunde negative, weil mild-missionarische Einstellung den Juden gegenüber nicht geändert hat (wiewohl er nie zu aktivem Missionieren überging) – zweitens: daß Reuchlin diese ›Ausnahme‹ Loans gründlich ausgekostet, ihr eine allerbreiteste Wirkung auf sein Denken und Schaffen eingeräumt hat. Also alles andere war als jene allgemein bekannte Spielart des Antisemiten, der einen ganz vorzüglichen Juden kennt (es können auch zwei sein) und der beteuert: »Ja, wenn alle Juden so wären wie Sie, dann gäbe es keinen Antisemitismus«, der sich aber im übrigen in seiner Judenfeindschaft nicht beirren läßt. – Auf dieses triviale Niveau ist Reuchlin nie hinuntergesunken. Sein Fall ist wesentlich komplizierter und bedarf im Zickzack seiner Manifestationen der zartesten Untersuchung (die wir hier, in diesem Stadium der Begebenheiten noch gar nicht in Angriff nehmen können). Genug, dieses jüdische Volk, das er wohl aus uralten oder in der Ferne, in Spanien und in der Provence geschriebenen Büchern, nie in seiner lebendigen Wirklichkeit richtig gekannt, immer nur um der kümmerlichen Art willen verachtet hatte, in der es seinen Lebensunterhalt suchte und oft mit nicht zulässigen Mitteln zu suchen gezwungen war, da man ihm eine anständige Existenz allerseits verwehrte: dieses jüdische Volk trat ihm in einem Mann entgegen, der am Hofe geehrt, in Wissenschaften unterrichtet und in die Gemeinschaft der Gebildeten willig aufgenommen war. Reuchlin spricht immer mit der größten Hochachtung von ihm: »Praeceptor meus, mea sententia valde doctus homo Jacobus Jehiel Loans hebraeus« (Mein Lehrer, meiner Meinung nach ein höchst gebildeter Mensch, der Hebräer Jakob Jechiel Loans) – oder »humanissimus praeceptor meus doctor excellens« (Mein hochhumaner Lehrer, der hervorragende Doktor). Einen in tadellosem Hebräisch geschriebenen Brief an Loans be— 116 —

ginnt Reuchlin: »Schalóm, schalóm lirchók welekarów miméni hamischtoték wehanichsáf lirót panécha haneimím« usf. (Frieden, Frieden den Fernen und den Nahen – von mir, der sich sehnt und der dein liebenswürdiges Gesicht zu sehen begehrt.) Der Brief ist vom 1. November 1500 datiert und von Reuchlin selbst in den »Clarorum virorum epistolae‹ veröffentlicht. Eine lateinische Übersetzung ist (wohl gleichfalls von Reuchlin) hinzugefügt. In den folgenden Zeilen bezeichnet sich Reuchlin als einen, »der den Glanz deines leuchtenden Antlitzes zu genießen und deine reine Lehre zu hören wünscht.« Er teilt Loans mit, daß er in seinen Forschungen erfolgreich war »und zu einer großen Schlußfolgerung gelangt ist, die, wie er weiß, dem Loans Freude machen wird.« – Ob er damit den fünften Buchstaben im Gottesnamen meint, erscheint mir nicht sicher, da das Buch, in dem er diese ›Entdeckung‹ veröffentlicht, allzu weit (sechs Jahre) vor dem zitierten Brief liegt. – Jedenfalls hat der gestrenge Pfefferkorn es (in seiner ›Defensio‹) nicht unterlassen, diesen Brief Reuchlins als »unerlaubte Begünstigung eines Juden« zu denunzieren. – Die Ausdrücke, die Reuchlin im Brief an Loans verwendet, erinnern an Worte, die die beiden nichtjüdischen Gesprächspartner zu Beginn des 2. Teiles des Buches ›De arte cabalistica‹ zum Lob Simons sprechen, von dem sie Lehre empfangen. Von den neun Hauptwerken Reuchlins: Vocabularius breviloquus (1478), De verbo mirifico (1494), den beiden Komödien (1498, 1504), De rudimentis hebraicis (1506), Augenspiegel (1511), Defensio contra columniatores suos Colonienses (1513), De arte cabalistica (1517), De accentibus et orthographia linguae hebraicae (1518) sind sechs der hebräischen Sprache und Problemen des Judentums gewidmet. Außerdem noch einige kürzere Schriften und Übersetzungen. Es soll nicht behauptet werden, daß sich — 117 —

in allen diesen Werken der Einfluß des J. ben J. Loans zeigt oder daß er gar dominiert; aber daß stärkere oder schwächere Ausstrahlungen seines Wesens an vielen Stellen durchleuchten, kann bewiesen werden. In zwei der aufgezählten Schriften ist jüdische Überlieferung Gegenstand des Gesprächs, das zwischen je drei Männern geführt wird. Im ›Wundertätigen Wort‹ unterhalten sich in Pforzheim der Weltenbummler Sidonius, ein Eklektiker, der anfangs als Anhänger Epikurs auftritt, – der Jude Baruchias – und der Autor selbst unter seinem Humanisten-Namen Capnion über Themen, die mit der jüdischen Geheimlehre (Kabbala) bald in entfernter, bald in näherer Beziehung stehen. Im zweiten Trialog, ›Von der kabbalistischen Kunst‹, der wesentlich kenntnisreicher und reifer ist (zwischen den beiden Werken liegt die Erfahrung nahezu eines Vierteljahrhunderts, das die Kampfjahre Reuchlins in sich einschließt), sind in Frankfurt aus sehr entfernten Gegenden, sozusagen von den Enden der Welt, zwei Denker eingetroffen, der Mohammedaner Marranus aus Konstantinopel, der Stadt, die man das ›neue Rom‹ nennt, und der Jungpythagoräer Philolaus aus dem Volk der Alanen, also der Sarmaten (des heutigen europäischen Rußland) auf dem Wege über Thrazien, wo er sich einer Kaufmannsschar angeschlossen hat. Beide sind, jenseits aller Markt- und Messegeschäfte eigens mit dem Ziel aufgebrochen, dem weltberühmten jüdischen Gelehrten Simon einen Besuch abzustatten, um von ihm Belehrung zu empfangen. Die ihnen denn auch in reichstem Maße zuteil wird. – Sowohl für die Figur des Baruchias wie für die des Simon hat die erlebte Gestalt des Lehrers und Gelehrten Jakob Loans viel Material und einzelne besonders charakteristische Züge beigestellt, wie mir scheint. Für den Baruchias ist dieser personale Beitrag weniger stoffhaltig und mit beträchtlichen Trübungen, ja Zurechtwei— 118 —

sungen versetzt, noch nicht völlig einheitlich durchgearbeitet. Dem Simon steht Reuchlin im Abstand der Jahre, aus verklärter Erinnerung gegenüber; freier, daher wahrhaftiger. Er schafft aus dem vollen, in schmerzlicher Konzentration, mit einem ungeheuren Aufwand von Energie, ohne sich durch Gegenwartsrücksichten beirren zu lassen. Loans lebte ja im Jahre 1506 nicht mehr, in diesem Jahr erwähnt ihn Reuchlin als einen Toten, mit dem Zusatz »Misericordia dei veniat super eum« (Das Erbarmen Gottes komme über ihn), was ungefähr der hebräischen Redewendung »Aláv haschalóm« entspricht, die man nur bei Verstorbenen gebraucht: »Über ihm sei Friede.« Meiner Meinung nach müßte man den speziell literarischen Ruhm Reuchlins, der noch kommen wird (von seinem philologischen, philosophischen, zivilcouragehaften Ruhm etc. abgesehen, den er schon genießt), weniger auf die beiden Lustspiele als auf zweierlei gründen: erstens auf die scharfen Fechterstöße, die er im ›Augenspiegel‹ führt und deren stilistische Präzision und Virtuosität, deren kraftvolle Sprachfrische zusammen mit der Redlichkeit des Herzens ihm die Rolle des Vorläufers von Lessing und dessen polemischen Meisterwerken (z. B. ›Wie die Alten den Tod gebildet‹) anweist – zweitens auf die beiden plastischen Judentypen, die er geschaffen, mit denen er vor dem ›Juden von Malta‹, vor ›Shylock‹ (den beiden ›bösen‹ Juden) ein neues Element in die Weltliteratur eingeführt hat. Durchaus Reuchlins Werk ist die Gestaltung eines bis dahin unbekannten Typs, dem man gegenüber dem allzu weltklugen, allzu durchsichtigen ›Nathan‹ den Vorrang an menschlichem Tiefgang und Bedeutung zuzuerkennen nicht umhin können wird. Die Entdeckung des ›guten‹, universal schöpfungsmächtigen, humanen und dabei so unverbrüchlich in seinem Volkstum wurzelnden Juden: eines Mannes, der Kraft und leises Wesen vereint. Letzten — 119 —

Endes verdanken wir vielleicht diesen Typ, weil er ihn vorgelebt hat, dem bescheidenen höflichen weisen Jakob ben Jechiel Loans. Und wenn Geigers Vermutung richtig ist (die er allerdings nur für die Gestalt des Simon, nicht auch des Baruchias ausgesprochen hat): der gestaltenden Fähigkeit Reuchlins. 5

Nachdem die beiden Gesprächspartner in ›De arte cabalistica‹, der ›Mahometista‹ mit dem an die spanischen Verfolgungsjahre anklingenden Unheilsnamen Marranus und der alanische Pythagoräer, miteinander in einer lärmenden Schenke Bekanntschaft geschlossen haben, erfahren sie, nach Abzug der ›tumultuosen Herde‹ von betrunkenen Gästen ins Gespräch kommend, daß der gleiche Zweck sie nach Frankfurt hergeführt habe. Es wird einiges über den geschickten Wirt gesprochen, der den Geldbeuteln der Reisenden Schlingen legt, über den nicht-sybaritischen Nachtisch, den beide wünschen, und über einen Gedankenaustausch inter honesta pocula, bei ehrsamem Trinken. Beide sind von ihren beschwerlichen Reisen auf schmutzigen rauhen Wegen erschöpft. Der Mohammedaner, der erklärt, auch das Gesetz des Moses wie die Lehre der Christen zu kennen, erzählt stolz von seiner Heimat Byzanz, deren Hochschulen der Humanität mehr als zehntausend Schüler haben. Dann kommen beide auf die Hauptsache, die sie bewegt: den Juden Simon und seine Lehre. »Gehen wir«, sagt der Alane, »denn im Obstgarten seines Hauses, in dem er wohnt, soll er um diese Zeit spazierengehen. Hier sind wir angelangt, am richtigen Ort. Und die Tür steht offen.« Noch ein Weilchen vorher war ein gewisses Zögern zu überwinden, da Marranus einige arabische Philosophen, — 120 —

von Algazel bis Abenrust (gleich Abu Roschd oder Averroës) über die jüdische Lehre emporzuheben sich nicht entbrechen kann. Schon begrüßen sie den ihnen noch fremden Gelehrten: »Salve, magister.« Und er antwortet: »Dominus vobiscum. (Der Herr mit euch). Tu ne Simon ille Judaeus? rogant advenae. (Bist du nicht jener Jude Simon? fragen die Ankömmlinge). Tum is, Utrumque, nam et Judaeus sum et Simon. (Darauf jener: Beides in einem, denn sowohl ein Jude bin ich als Simon.)« Sie stellen sich mit Namen vor. Nicht der Glanz der in ganz Europa berühmten Handelsstadt noch die Waren hier und die Messe hätten sie beide hergezogen, sondern »nur dein Ruhm, des einzigen Mannes, und unsere Begierde, daß du uns über den ganzen Bau der Kabbala ausdrücklich, wie es den Eingeweihten richtig erscheint, über das ganze zu pflegende und zu erstrebende Gebiet, jene deine edlen Gedanken in Kürze und in Bequemlichkeit eröffnen mögest.« Er: »Eure so große Wertschätzung meiner kleinen Person bringt mich zu einem nicht geringen Erröten. – Doch an mir liegt nichts, die Kabbala aber ist rühmenswert. Denn nichts ist geeigneter als sie, einen zur Vergöttlichung, das ist: zum Gipfel der Seligkeit zu führen. Ihr Sinn ist: dem Menschen zur ersten allgeformten und formlosen Form emporsteigen zu helfen.« Damit beginnt er seinen Vortrag (dessen Inhalt ich dem 10. Kapitel dieses Versuches aufspare). Er eröffnet mit einem Zitat aus dem bereits erwähnten Buch ›Portae Lucis‹ des spanischen Kabbalisten Gikatilla. Simon läßt seine Darlegungen, die er bereitwillig darbietet, wenn auch unter steten Mahnungen, das Geheimnis — 121 —

zu wahren, bis zum Abend nicht abbrechen. Die beiden andern Unterredner greifen nur selten und kurz ein. – Doch am Abend (es ist Freitag) beginnt der Sabbath. Und da betont Simon die Notwendigkeit, sich zurückzuziehen, den Sabbath nicht zu entheiligen. Die beiden andern bleiben sich selbst überlassen – und sind darüber einigermaßen ungehalten. Ehe sie nun notgedrungen den zweiten Tag des Trialogs mit Gesprächen über die Lehre des Pythagoras und über die Verwandtschaft dieser Lehre mit der Kabbala ausfüllen, sprechen sie über den abwesenden Simon. Von diesem Intermezzo hat Geiger im ›Studium der hebräischen Sprache‹ nur wenige Zeilen übersetzt, die ungefähr den Schluß dieser Episode bilden. Ich übersetze den ganzen Abschnitt, der mir stimmungsmäßig sehr wichtig scheint. – Die beiden Verlassenen also sprechen »über diesen Hebräer, dessen höchstwertige Lehre sie gemeinsam mit seiner gegenüber Fremden bewiesenen Humanität loben, ebenso und vor allem die Würde seines Betragens. An diesem Manne gefiel alles, mit einziger Ausnahme jenes morgigen Sabbaths, der von Langweile voll sein würde. Durch ihn würden sie vom angenehmsten Gespräch mit einem solchen Meister weggerissen und auf den dritten Tag verwiesen, nicht ohne lästigen Zeitverderb, da sie nicht wüßten, was sie mit diesem zweiten Tag anfangen sollten. So gingen sie also spazieren, machten sich an ein Wiederkauen der saftigen Lehre, die sie gehört hatten, wiederholten abwechselnd die kurzen Epigramme des Gesagten. Vor Lernbegierde brennend erinnerten sie sich, und plötzlich kam es ihnen zu Bewußtsein, wie bewundernswert die Rede des Juden gewesen, wie scharfsinnig sein Disputieren, wie ernst seine Art zu unterrichten. Sie ergötzte, ohne zu sättigen, sie war nicht geschminkt, nicht gefärbt. Und entbehrte sie auch aufs allerhöchste der Blumen, so brachte sie um so treff— 122 —

lichere Früchte hervor. – Und da sie sich nach zurückgelegtem Weg in ihren Schlupfwinkel, ihr Zimmer verkrochen hatten, fing Marranus an, kaum daß sie in diesem Beisammensein zu atmen begonnen hatten: Von all den Weisen, die ich seit meinen jungen Jahren gehört habe, ist keiner, der mir klüger im Aussprechen und erhabener im Denken erschienen wäre als dieser einzige Simon, der meinen Geist durch seine Darstellung erhoben hat, die gleichsam geradflächig, einfach, nicht affektiert, ungesucht klang, und durchaus nicht wie die Reden des Demosthenes nach dem Öl der Studierlampe roch, sondern eher den Eindruck eines Extempore, einer gewöhnlichen Aussprache machte. Ja, er hat mich angefeuert, die Kontemplation der schwierigsten höchsten Gegenstände zu versuchen, so daß ich nichts lieber zu hören vermöchte. Gute Götter, ein jüdischer Mensch, von Juden gezeugt, genährt, erzogen und herangebildet, aus einer Nation, die bei allen Völkern als barbarisch, niedrig, als ein Wegwurf und als weit entfernt vom Glanz aller guten Wissenschaften gilt, – und nun glaube mir, daß ich den ganzen Abend mit meiner Sehnsucht zu kämpfen habe, die Miene des Mannes zu sehen und seine Worte zu hören, – was dieser unglückselige Sabbathabend leider verhindert.« Das Bild Reuchlins während seines Linzer Aufenthalts, der vom September 1492 bis Ende 1493 (wahrscheinlich mit einer Unterbrechung) andauerte, wäre unvollständig, würde nicht auch über die Ehren berichtet, die er am Kaiserhof erlangte. Die mannigfachen Aufträge des Grafen Eberhard führte er zur Zufriedenheit dieses Herrn wie des Kaisers durch. Der Kaiser ernannte ihn zum Pfalzgrafen und erteilte ihm das Recht, Notare zu ernennen, ihnen den Treueid abzunehmen, ferner zehn Doktoren zu kreieren. Er und sein Bruder Dionysius Reuchlin nebst ihren Nach— 123 —

kommen wurden geadelt. Und so wurde ihnen auch ein Wappen verliehen. Von den meisten dieser Privilegien hat Reuchlin, wie es den Anschein hat, nie Gebrauch gemacht. Zumindest gibt es keine Zeugnisse dafür. Der stets von Finanznöten geplagte Kaiser mußte sich auf Verleihung von Titeln und Würden beschränken, mit denen keine Geldauslagen verbunden waren. Das wirkte sich auf die Häufigkeit solcher Ernennungen aus und setzte sie wohl in den Augen der Welt einigermaßen herab. Den Titel Pfalzgraf (comes palatinus) finden wir aber als Umschrift von Reuchlins Wappen, das manche seiner Bücher ziert, z. B. die ›Rudimenta Hebraica‹, die 1506 erschienen. Das Wappen zeigt einen Räucheraltar in Form eines Säulenstumpfs, auf dessen schalenartiger oberster Fläche glühende Kohlen liegen. Die Inschrift: »Ara Capnionis« (Der Altar Capnions). Als Helmzier ist ein vierspeichiges Mühlenrad verwendet, nach der Deutung von Decker-Hauff (F. 2) handelt es sich wohl um einen Hinweis auf die Familie seiner ersten Frau (Müller von Ditzingen, siehe oben). Die zur Ausschmückung des Wappens verwendeten gedrehten Schnüre und Goldschellen erklärt Decker-Hauff l.c. als Anspielung auf die Kleidung, die der Hohepriester laut Exodus 28, 31 ff. beim Dienst vor dem Räucheraltar trug. »Reuchlin hat in sein Wappen etwas von seiner Lieblingsneigung, dem Studium des Hebräischen, des Alten Testaments und der jüdischen Altkultur hineingeheimnist.« Eobanus Hesse dagegen, der Dichter und Humanist aus Mutians Erfurter Kreis (Kampschulte widmet ihm ein blühendes Kapitel in seinem schönen Buch ›Die Universität Erfurt‹, 1858), der frohe Zecher und feurige Kampfgenosse in den Dunkelmänner-Jahren, hatte für die Symbolik des Wappens eine realistische Deutung. Er legte sie in einem Distichon nieder, das ich etwa folgendermaßen übersetzen würde: — 124 —

Schon durch den Rauch verjagt dein Altar die lästigen Mönche. Was wird die Flamme tun, bricht sie plötzlich hervor! Den Abschluß des Unterrichts im Hebräischen erreichte Reuchlin bei Owadja Sforno aus Cesena. Er lernte ihn während seiner dritten Romreise 1498 kennen. – Der Name Owadja oder Obadja (Diener Gottes, arabisch Abdallah) kehrt bei Reuchlin in der lateinischen Form Abdias wieder, und in dieser Gestalt ist ›Abdias‹ der Held einer Dichtung Stifters, einer der schönsten deutschen Erzählungen geworden. Owadja Sforno war Arzt wie Loans, war Kabbalist; die letztere Eigenschaft qualifizierte ihn dazu, von dem großen Historiker Graetz ausgeschimpft und von Geiger zumindest recht kühl behandelt zu werden. Die jüdischen Gelehrten, die im vorigen Jahrhundert in dankenswerter Art die Geschichte ihres Volkes zu erforschen begannen und niederschrieben, waren fast alle eingeschworene Rationalisten, daher Gegner der Kabbala, deren Bedeutung erst in unseren Tagen, vorzüglich durch die Schriften von G. Scholem ans Licht gelangt. Es ist nicht leicht an den Schimpfkanonaden von Graetz vorbeizulesen (dies war, schon als ich meinen »Rëubeni‹ schrieb, meine bittere Aufgabe gewesen) und immer wieder da, wo das Erhabenste, sei es auch manchmal auf recht verworrene Art, sich verkörpert, nichts als »kabbalistischen Schwindel« oder »Abgeschmacktheit« vorgeführt zu bekommen, das liebliche Safed, eine der entzückendsten Stätten Israels, immer wieder als »Kabbalistennest« bezeichnet zu finden usw. – Übrigens spricht auch Reuchlin von seinem zweiten Hebräischlehrer auf den ersten Blick ein wenig zwiespältig, aber wirklich nur auf den ersten Blick. In der Einleitung zu den ›Rudimenta‹ läßt er ihn als jemanden auftreten, »der mich täglich während der ganzen Zeit meiner — 125 —

römischen Gesandtschaft überaus human im Hebräischen unterrichtete, nicht ohne bedeutenden Aufwand an Honorar«. Es verdient aber hier angemerkt zu werden, daß der Ausdruck »non sine insignis mercedis impendio« im Munde Reuchlins nichts Diffamierendes bedeutet. Er verwendet ja einen ähnlichen Ausdruck, um in der gleichen Vorrede die hohen Kosten zu rühmen, mit denen er seinem Bruder Dionysius in Florenz eine wissenschaftliche Ausbildung gewährleistet hat. Melanchthon glaubt freilich, sich aus der Erzählung seines Großoheims erinnern zu können, Sforno habe für jede Stunde einen Golddukaten genommen. Aber mein Freund, der neuhebräische Dichter Sch. Schalom, hat neulich in ländlicher Einsamkeit, in einer halbverschollenen dörflichen Bibliothek ein altes hebräisches Buch entdeckt, das sich als ›Kommentar zur Schrift‹ von Owadja Sforno erwies. Er hatte die Güte, mir einige Seiten aus dem alten Buch abzuschreiben. Ich übersetze aus seinem Zitat: »Infolge der Lebenshast, Verknechtung und Mühsal und da die Unterdrücker Tag für Tag am Werk sind, wandten sich die Söhne unseres Volkes mit Auge und Sinn zum Gelderwerb, was ja menschlich ist und was ihnen einzig Obdach und Zuflucht vor den Sturmfluten der Zeitgenossen gewährt. Sie drehen sich wie die Bienen, bis ihnen jeder Begriff von Raum und Zeit entschwindet, und die Wunder unserer Lehre sehen sie nicht mehr. Sie wurden wie die Träumenden mitten unter den Völkern, die sich an sie herandrängten, und sie fragten sich: ›Was gibt uns unsere heilige Lehre, wenn sie sich nur auf die Materie bezieht und keine Hoffnung auf das ewige Leben enthält, und was für einen Sinn haben die vielen Erzählungen der Schrift, deren Zeitfolge unklar ist, die das Frühere später und das Spätere früher bringen?‹ – Als Antwort kommt von den Zehntausenden der Heiligen und vom Rest der — 126 —

Schriftkenner eine unklare Darstellung der Urlehre und manchmal ein ungenügender Bescheid, der die Zweifel nicht behebt; was uns zur Schande gereicht. – Und wie wollen wir uns rechtfertigen, wenn Gott sich erhebt und um der Ehre seines Namens willen Rechenschaft fordert? Das können wir nur, wenn wir auf die Wunder seiner Lehre hinweisen, die in ihrer Darstellung und Ordnung die Augen jedes Eingeweihten erleuchten und die im Aufbau und in der Vollendung der Bücher die Gerechtigkeit und Größe des Ewigen zeigen. Er gibt nach vollkommener Verzweiflung das Heil, denn er hat für immer seinen Bund geschlossen, der in reinen Aussagen zu verstehen und zu weisen ist – und, der auf den Grundlagen der Kontemplation und der tätigen Durchführung ruht. Wie der Ewige, er sei gesegnet, selbst bezeugt hat, indem er sprach: ›Und die Lehre und die Gesetze, die ich geschrieben habe, sie zu lehren.‹ Und damit hat er seine Absicht für die ganze Schöpfung bekanntgegeben. Das Ziel der Kontemplation liegt ja darin, diese Seite der Größe des heiligen Gottes zu erfassen und zu wissen. Hieraus entsteht für jeden Geistigen die Ehrfurcht vor Gott. Und aus der Erkenntnis der Wege seiner Güte und Gnade, die er vor allem dem Menschengeschlecht bezeugt, entsteht die Liebe zu Gott, sobald man sich klarmacht, daß Gott in den Zeitaltern der Welt stets darum bemüht war, den Menschen zu erheben und das zu verbessern, was der Mensch verdorben hat. So wird jeder Eingeweihte dazu gelangen, den Willen Gottes zu seinem eigenen Willen zu machen. Und auf jenen beiden, der Kontemplation und der tätigen Ausführung, ist der ganze tatsächliche Anteil unseres Tuns an der Weltgeschichte aufgebaut.« Das sind herzlich liebenswerte Sätze. Sie könnten auch von Pico verfaßt sein. Sie lagen im Geist der Kabbala, und überhaupt im Geist jener Zeit, die besser war als die unsere. — 127 —

Vielleicht also war dieser Rabbi Sforno doch nicht so unwürdig, mit dem großen Humanisten Reuchlin, sei es zunächst auch nur auf philologischer Grundlage, aber wahrscheinlich auch darüber hinaus in manchem religiösen Disput Umgang zu pflegen. Vielleicht hat auch er einige Züge zur Figur des großen edlen Juden Simon beigesteuert, die Reuchlins Meisterwerk darstellt und die bis heute eigentlich unbekannt geblieben ist, während Shakespeares ›schlechter‹ Jude, Shylock, erbarmenswert, doch auch ein Gegenstand gerechter Verachtung und des Spottes, fast allein die Bühne und mit ihr die weiteste Öffentlichkeit beherrscht.

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VIERTES KAPITEL

Das vorbereitende Werk: ›Über das wundertätige Wort‹ 1

1490 war Reuchlin mit Pico della Mirandola zusammen-

getroffen. In die Jahre 1492 und 1493 fällt der Umgang mit dem Arzt Jakob ben Jechiel Loans. 1494 erscheint das erste Buch Reuchlins, das sich ernsthaft, wenn auch erst noch tastend, mit jüdischen Fragen befaßt: ›Capnion vel De verbo mirifico‹. (Capnion oder Vom wundertätigen Wort.) Das dichte Aufeinanderfolgen dieser Jahreszahlen ist gewiß kein Zufall. Etwas in Reuchlin drängte zur Reife, etwas mußte ausgesprochen werden, sei es auch nur versuchsweise und unvollkommen. Eine erste Stellungnahme zu dem ganzen Problem des Judentums und der Judenheit, dem sich Reuchlin bisher vorwiegend nur linguistisch genähert hatte, wollte festgelegt sein. Es entstand das Buch vom ›wundertätigen Wort‹, das ich das vorbereitende Werk‹ nenne, im Gegensatz zu dem ›Werk der Vollendung‹: ›Über die kabbalistische Kunst‹, das 23 Jahre später erschien (siehe hier Kap. 10). Nach der Sitte der damaligen Zeit wurde das Werk durch eine commendaticia epistola (einen empfehlenden Brief) eines Humanisten eingeleitet, des Maulbronner Mönches Conrad Leontorius, an den berühmten Jacob Wimpheling, den ›Erzieher Deutschlands‹, der lange Zeit in Speyer gewirkt hatte, jetzt in Heidelberg für die Verbesserung des Unterrichts und Befreiung der Sprache von — 129 —

Barbarismen kämpfte. Er war der hellste Stern am Gelehrtenhofe der ›rheinischen Sodalität‹, die Conrad Celtes gegründet – und deren Reste nebst Zuwachs der großdenkende Bischof von Worms, Johann von Dalburg oder Dalberg, um sich versammelt hatte –, eine deutsche Parallelfigur zu Lorenzo von Medici in Florenz, in entsprechend kleinerem Maßstabe nach Heidelberg verlegt. – Am Musenhof des Bischofs herrschten offenbar die höflichsten Manieren. So entschuldigt sich der bescheidene Leontorius bald nach Erscheinen des aufsehenerregenden Buches in einem schönen Brief bei Reuchlin, »daß einem solch großartigen Werk sein ungelehrter Brief vorangeschickt sei, woran aber nicht er, sondern Wimpheling und Amerbach (der Verleger) die Schuld trügen«. Zwei Jahre nach der Herausgabe des Buches mußte Reuchlin bei Dalburg ein Asyl suchen. Der Regierungswechsel in Württemberg hatte rasche Flucht nötig gemacht. Hierüber wie auch über die fruchtbaren Folgen des intermezzohaften Aufenthalts bei Dalburg im nächsten Kapitel. – Die Beziehung Reuchlin–Dalburg hatte ihre Wurzeln schon in früheren Jahren. Schon aus dem Jahre 1491 liegt ein Brief des Bischofs vor, in dem dieser für Reuchlins Übersetzungen aus dem Griechischen dankt (sie sind nicht erhalten, waren in lateinischer Prosa und deutschen Versen geschrieben), in dem Dalburg ferner das Vorüberziehen der sinistra fata (der unheilvollen Schicksale) erhofft, die Reuchlin befürchtet, und in dem er diesem für alle Fälle eine Zuflucht an seinem Bischofssitz sowie bei seinem Bruder anbietet. »Alles, was uns gehört, betrachte als dein Eigentum.« Reuchlin wußte, daß nach dem Tode des Grafen (späteren Herzogs) Eberhard von dessen Nachfolger für ihn nichts Gutes zu erwarten sei. Deshalb machte er später im gegebenen Zeitpunkt von der ebenso ernstgemeinten wie hochherzigen Einladung Gebrauch. — 130 —

Als Ausdruck des geistigen Bandes, das den humanistischen Staatsmann Reuchlin mit dem humanistischen Bischof zusammenschloß, ist die bedeutende Widmung des Buches ›De verbo mirifico‹ an Johann von Dalburg aufzufassen. Diese Vorrede beginnt (in feierlichstem Humanistenlatein) mit dem Hinweis auf »einzelne Forscher, die sich mit den Geheimwissenschaften (res arcanae) beschäftigen«, die jedoch als nicht wenig von den Fußspuren der alten Fürsten der Philosophie abweichend ertappt werden. Und was ist der Grund ihres Abirrens? »Die Symbole jener heiligen Philosophie und die verehrungswürdigen Zeichen übernatürlicher Kräfte können (heute) nicht verstanden, ja nicht einmal gelesen werden. Daher fliehen die meisten Forscher, von Ekel oder vergeblicher Anstrengung angegriffen, entsetzt diese so löbliche Art der Kontemplation oder geben sie auf, nachdem sie einen Anfang mit ihr gemacht haben.« Geführt von unglaublichem Eifer, sich dankbar zu erweisen, und nicht minder von einzigartiger Liebe zur Säule aller schönen Wissenschaft (»omnis bonae artis columen«), das ist zu seinem Lehrer Johannes Heynlin von Stein (de Lapide), zu seinem Freund Sebastian Brant aus Straßburg sowie zum Künstler des Buchdrucks Joannes Amorbacchius (Amerbach), habe Reuchlin das schwierige Werk begonnen, in die Dunkelheiten der geheimen heiligen Worte einzutreten und gleichsam aus dem Allerheiligsten der Orakel unserem Zeitalter fast alle Namen darzulegen, die bei den Weisen der Urzeit und bei ihren Wundertaten in Gebrauch waren, sei es daß es sich um die Mysterien der Pythagoräer und der ältesten Denker handelt, sei es um die fremdartigen Denkwürdigkeiten der Hebräer und Chaldäer, sei es um die frommen Gebete der Christen. Gewidmet werde das Buch dem Bischof Dalburg, weil das Heilige mit dem Heiligen und besonders das — 131 —

Priesterliche mit den Häuptern der Priesterschaft zusammengehört, »in welcher Würde du (Dalbergius) den andern voranstehst«. Hier wird die große Gelehrsamkeit wie auch die mit lateinischen, griechischen und hebräischen Büchern gefüllte Bibliothek des Bischofs gerühmt, »ein einzigartiger Schatz unseres Deutschland, den ich immer nach Herzenslust zu benützen pflegte«. Es schließt sich eine kurze Inhaltsangabe des Werkes an. »Nimm denn die Disputation dreier Philosophen über das wunderwirkende Wort entgegen, die ich in einem Streitgespräch begriffen darstelle, wie es der Gegensatz der Sekten mit sich bringt.« – Hier darf ein Moment des Verweilens für uns eingeschaltet werden: Die sogar zweimalige Verwendung des Wortes ›Sekte‹ (in diesem Passus) für die christliche, aber in gleicher Weise auch für die jüdische und die heidnisch-philosophische Gemeinschaft, eines Wortes, das nicht bloß an dieser Stelle, sondern auch im Gutachten Reuchlins steht (offenbar ohne jede Wertungsabsicht, denn deutlich gilt ihm das Christentum als weit über alle andern Glaubensarten erhaben) –, die Verwendung dieses Wortes ›Sekte‹ hat später als Vorwand zu besonders böswilligen Angriffen gegen Reuchlin herhalten müssen. So alt und so trivial also ist dieser Schachzug, aus einem bloßen Sprachgebrauch, aus einer ein wenig lässig und jedenfalls nicht mit dem Willen zur Exaktheit gewählten Terminologie eines Autors, ihm einen Strick zu drehen! Dieser Trick ist natürlich noch viel älter, ja urtümlich, – hier liegt nur ein besonders deutliches Beispiel menschlicher Polemisier-Bosheit vor. Zur praefatio zurück: Reuchlin läßt in ihr zum Schluß und als Überleitung zum eigentlichen Text des Buches (ähnlich wie in der Vorrede zur ›Kabbalistischen Kunst‹ an Papst Leo X.) seine drei Hauptfiguren auftreten. Er charakterisiert sie kurz: den Sidonius, von dem man zuerst — 132 —

glaubt, er sei ein Anhänger Epikurs, der sich aber bald als unabhängig erweist – er ist auf einer seiner vielen Forschungsfahrten nach Schwaben gekommen, in Pforzheim begegnet er zwei Philosophen, dem Hebräer Baruchias und dem Christen Capnion, also Reuchlin selbst. »Mit ihnen disputiert er über verschiedene Wissenschaften, sodann über die eigentliche Wissenschaft der göttlichen und menschlichen Dinge, über die Meinung und den Glauben, über die Wunder, über die Kräfte der Worte und Zahlen, über geheime Verfahrensweisen und die Geheimnisse der Zeichen. Dadurch dehnt sich die Untersuchung auf alle Völker aus, die irgendeine beachtenswerte Philosophie oder nicht unhumane Riten entwickelt haben, ferner auf die heiligen Namen und geheiligten Buchstaben; die Symbole werden von den einzelnen gemäß dem Gebrauch ihrer Sekte vorgeführt, bis schließlich Capnion im dritten Buch aus allen Heiligtümern den einen Namen JHSUH (Jesus) hervorhebt, auf den aller Heiligtümer Kraft und Macht zurückgeführt wird und der immer und höher als alles gesegnet ist. Doch hören wir jetzt den Sidonius selbst.« Auf einen Sieg des christlichen Gedankens zielt also das großgeplante Werk ab. 2

Im ersten Teil des Buches wird zunächst Charakter und Denkart des ›Phöniziers‹ Sidonius vorgeführt, der, wie er sagt, das Reisen in ferne Gegenden im Blut hat. Sein Lob der bergig rauhen Gegenden, aus denen oft hervorragende Geistesgrößen hervorgehen (so z. B. aus Schwaben der bahnbrechende Scholastiker Albertus Magnus), bringt ihn dazu, in freilich nur humoristisch zu wertender Art die Urgeschichte Pforzheims zu erzählen. – Aus dieser Dar— 133 —

stellung habe ich in dem Abschnitt über Pforzheim einiges beigebracht. Er war auch in Indien, hat aber gefunden, daß über die Wunderdinge, die man dort antreffe, manches Unrichtige berichtet werde. Auch auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft habe er erkannt, daß das Recht auf nichts anderem als auf Willkür beruhe. »Recht ist das, was die Menschen wollen.« Naturrechtliche, philosophische Grundlagen werden als nichtexistent angesehen. – Man mag finden, daß sich in solch skeptischer Haltung Reuchlins Unlust an seinem juristischen Beruf spiegelt, dem er auch an andern Stellen z. B. in seiner Korrespondenz jede tiefere Bedeutung abspricht. Diese Skepsis gibt dem Baruchias, dem Vertreter des Judentums auf dieser nur vorläufigen Erkenntnisstufe Reuchlins, willkommenen Anlaß, seine Thesen über das primum ens (das erste Wesen, Gott) darzulegen. Baruchias geht davon aus, daß in solch hinfälligen Dingen und Naturverhältnissen keine Sicherheit zu suchen sei. Hesiod und andere Griechen hätten allerdings von göttlicher Seite her Wissen erhalten, Sokrates habe sein ›Daimonion‹ gehabt, der Mensch besitze aber für gewöhnlich kein sicheres Wissen. Nun geht Baruchias von der griechischen Geistesgeschichte zur hebräischen über, die ihm, wie er freimütig sagt, mehr bedeute. Als Weisesten aller Menschen rühmt er den Moses; die von Moses weitergegebene Weisheit göttlichen Ursprungs sei eben die Kabbala. »Cabala id est receptus.« »Kabbala, das ist Empfang.« Hier wird also das Wort Kabbala richtig als ›Empfang‹ übersetzt, während die landläufige Übersetzung meist ›Überlieferung‹ lautet, das aktive Geschehen statt des passiven, statt des Influx. In Wirklichkeit liegt in dem so geheimnisvoll klingenden Wort Kabbala nichts Mysteriöses. In der heutigen hebräischen Sprache wird es auch ganz einfach — 134 —

und alltäglich im Sinn von ›Empfangsbestätigung‹ gebraucht. Fährt man in einem Taxi, so fragt einen bei der Zahlung der manchmal höfliche Chauffeur, ob man eine ›Kabbala‹ wünsche, einen Ausweis, um Rückerstattung durch irgendeinen Auftraggeber zu verlangen. Besonders wenn man zu einer ›kabbalát panim«, einem ›Empfang des Gesichts‹, das heißt zur Begrüßungsfeier für irgendeine mehr oder minder problematische Größe gefahren ist. – Trotz der Richtigkeit der Übersetzung begeht aber Reuchlin einen verhängnisvollen Fehler. Er bringt die Traditionskette der mündlichen Lehre, die, von Moses ausgehend, über die »Männer der großen Versammlung«, ferner über Hillel und Schammai, über die andern Lehrer bis zur Kodifikation dieser mündlichen Lehre in einem zweiten schriftlichen Werk neben dem Tenách, dem von NichtJuden so genannten ›Alten Testament‹, reicht. Diese zweite schriftliche Lehre heißt daher auch Mischna, Deuterosis, Zweite Lehre, und bildet zusammen mit der sehr viel umfangreicheren, weiteren Ergänzung und Kommentierung, der Gemára (eigentlich: Abschluß): den Talmud (wörtlich: Lehre). Innerhalb dieser Entwicklung und neben ihr, die ihrerseits neben der schriftlichen Lehre des Alten Testaments steht, gibt es eine symbolisch-philosophisch-paradoxe Lehre, die Kabbala, die, an zwei bestimmte Bibelstellen anknüpfend, die ersten Kapitel des 1. Buchs Moses und die Gottesvision des Propheten Jecheskiel (Ezechiel), in die Tiefen der Naturphilosophie (die ›Ereignisse des Anfangs‹) und der Wesenheit Gottes (die ›Ereignisse des Wagens‹) einzudringen sucht. Spuren dieser Bemühungen finden sich schon im Talmud, sie breiten sich dann zu einer riesenhaften Literatur aus, die von Philo, vom Neuplatonismus, von der Gnosis usw. Anregungen übernimmt und ihrerseits Anregungen spendet, wie dies, nach jahrhundertelangem Verachtet- und Verschmähtsein — 135 —

dieser Bemühungen (der Kabbala und der Vorstufen der Kabbala), in unseren Tagen Prof. Gershom Scholem in vielen Schriften dargetan hat, die in den beiden Meisterwerken ›Major Trends in Jewish Mysticism‹ (deutsch als »Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen‹ erschienen) und ›Ursprung und Anfänge der Kabbala‹ sowie in vielen andern Schriften Scholems kulminieren. – Den vierten Arm des großen jüdischen Beitrags zur Welterfassung (neben dem Alten Testament, dem Talmud und dessen Zusatzschriften sowie der Kabbala) bildet die jüdische Religionsphilosophie, deren bedeutendste, im Bann des mittelalterlichen Aristotelismus stehende, doch öfters auch den Bann durchbrechende Forschungen auf Maimonides, Albo, Chasdai Crescas u. a. zurückgehen und noch in Baruch Spinozas System fühlbare Wellen schlagen, hier allerdings meist im Sinn der Auflehnung, des Widerspruchs. Doch damit haben wir die Epoche Reuchlins schon weit überschritten. Zu Reuchlin zurückkehrend müssen wir feststellen, daß unser liebenswerter Gelehrter die vier Traditionsketten oder Arme öfters vermengt und damit Verwirrung stiftet, noch öfter grundlegende Unterscheidungen zu bemerken wähnt, wo mehr den Verwandtschaften als den Unterschieden Wichtigkeit zugeschrieben werden muß – so wenn er, wie schon eben bemerkt, im Anschluß an Pico von Mirandola der politischen ›Diesseitigkeit und Weltlichkeit‹ des Talmud die ›Jenseitsrichtung‹ der Kabbala in unberechtigt scharfer Antithese entgegenführen zu müssen glaubt. Baruchias nun mischt die vier Ketten grotesk durcheinander. Die geheime Lehre sei erst dem Erzvater Abraham anvertraut worden, später auf Simon filius Jochai übergegangen (Schimon bar Jochai, einem der hervorragendsten Talmudlehrer zur Römerzeit, dem dann um 1280–1286 pseudoepigraphisch Hauptstücke des Ssefer-ha-Sohar, — 136 —

»Buch des Glanzes«, d. i. der kabbalistischen ›Summa‹, zugeschoben wurden), ferner dem Abraham secundus cognomento Alaphius. Hier zitiert also Reuchlin den Abraham Abulafia, dessen große originelle Bedeutung Scholem erkannt und dem er ein faszinierendes Hauptkapitel seines Standardwerkes ›Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen‹ gewidmet hat. Vor ihm hat nur Adolf Jellinek kurz auf Abulafia hingewiesen (›Philosophie und Kabbala‹, 1854) und eines von Abulafias zahlreichen Manuskripten veröffentlicht (›Sendschreiben an Rabbi Abraham über Philosophie und Kabbala‹), während alle andern Werke Abulafias, von geringen Ausnahmen abgesehen, noch ungedruckt sind. Abulafias Lehren, die der ›prophetischen Kabbala‹, finde ich nun aufs deutlichste in den Hauptpunkten der Doktrin Reuchlins nachgezeichnet. Davon im 10. Kapitel mehr. – Ferner bringt Baruchias den Philosophen Maimonides, den ›Kusari‹ des Jehuda Halevi u. a. in Verbindung mit der Kabbala, was man nur bei äußerster Anspannung (oder wie man heute gern und häßlich sagt: Überforderung) des Begriffs der Kabbala gelten lassen kann, wenn man nämlich alles Antirationale, das sich aber in allen vier Überlieferungszweigen des Judentums kundgibt, bald stärker, bald schwächer, – als kabbalistisch ansprechen würde. – Allerdings glaubte Abulafia im Sinne des Maimonides und gleichsam auf seiner Linie des ›prophetischen Geistes‹ zu schreiben. – In dem uns vorliegenden Buch ›Vom wundertätigen Wort‹ antwortet nun Sidonius dem Baruchias, verteidigt den Epikur, will nur die sinnliche Wahrnehmung als Erkenntnisquelle gelten lassen, wobei er den Lucretius ›De rerum natura‹ zitiert. Baruchias greift den Lukrez an, weist Widersprüche in diesem Autor nach, den er offenbar genau kennt, denn er zitiert lange Stellen auswendig. Als einen großen Dichter — 137 —

will er ihn gelten lassen, doch nicht als Philosophen. – Es scheint, daß Reuchlin hier nicht nach der Natur zeichnet, sondern das schematisierte Bild eines jüdischen Gelehrten jener Zeit vor Augen hat. Der Wahrheitskern liegt darin, daß für den glaubenstreuen Juden die Begriffe ›Jünger Epikurs‹, der alles Transzendente leugnet, und ›heidnische Ketzerei‹ in eins zusammenflossen. Doch so ausgedehnte Kenntnisse epikureischer Literatur (also auch des Lukrez) sind bei einem Juden jener Tage meines Wissens nicht bezeugt; es sei denn daß gerade der Ausnahmemensch Loans Züge zu dieser Porträtskizze geliefert hat. – Capnion weist übrigens den Baruchias, der den Epikur beschimpft, ernsthaft zurecht. »Mitte maledicta, rem ipsam putemus.« (Laß die Verwünschungen, ziehen wir die Sache selbst in Betracht.) – Auch das ein Reflex von Unterredungen, die sich am Kaiserhof von Linz abgespielt hatten? Von da ab beginnt Capnion zum erstenmal eine zusammenhängende Darstellung seiner Meinung. Er stellt sich (in sokratischer Manier) als den beiden »Erforschern der höchsten Dinge« (»altissimarum rerum exploratores«) unterlegen, ja als unwissend dar. Die beiden lehnen das Kompliment ab. Über Baruchias, der ja anders als der einigermaßen synthetisch hergestellte Sidonius eine starke Komponente lebendigen Lebens in sich hat, bemerkt Capnion charakteristischerweise: er (Baruchias) sei ihm wegen der Sitten seines Volkes und Glaubens nicht sehr befreundet, »es sei denn so weit, als uns die Wissenschaften miteinander versöhnen«. So stimmt er ihm im Wesentlichen in seiner Position gegen Epikur zu: In menschlichen Angelegenheiten gebe es kein Wissen, sondern nur ein Meinen. Der Gegenstand der Vernunft und des höheren Sinnes wird definiert. Zwischen Gott und Mensch gebe es eine Verbindung; wobei Epikurs Ansicht über die Ruhe als höchstes Gut und über die Lästigkeit göttlicher Einwir— 138 —

Erasmus von Rotterdam. 1467-1536.

kung zurückgewiesen wird. Gott existiert und regiert das All. Lukrez wird getadelt, weil er den Satz aufgestellt hat, daß Gott die Gebete der Menschen als Belästigung empfinde. Es wird dargelegt, was uns einlädt zu beten, was uns mit Gott verbindet und was die Einzigkeit Gottes bedeute. Sidonius will hierüber mehr hören, ebenso Baruchias, der aber (Porträtskizze?) bitter bemerkt, daß alles, was geschieht, um des Geldgewinns willen vor sich geht. Auch das Heilige werde verschachert, – was Baruchias als ein todeswürdiges Verbrechen erklärt. Capnion weist diesen Radikalismus in die Schranken und argumentiert damit, daß die christlichen Philosophen bei den Juden öfters Stützen für ihre Systeme gesucht hätten. Sidonius pflichtet ihm bei und verbreitet sich über eines der beliebtesten Themen der scholastischen Theologie, das uns in den Bildsäulen der triumphierenden Kirche und der Synagoge mit ihrem zerbrochenen Stab und der Binde vor den Augen (ihrer angeblichen Verblendung wegen) am Dom zu Straßburg und an andern Kathedralen so klar und grausam entgegentritt. In Straßburg hat allerdings ein unerhört gerecht abwägender Künstler beiden Symbolgestalten die gleiche Würde und Anmut verliehen, ja die gedemütigte Synagoge macht auf manchen Beschauer einen stärkeren, verinnerlichteren, lieblicheren Eindruck als die stolze Kirche. Es fließt um dieses plastische Werk ein melodischer Zauber höchster Kunst. Doch in vielen andern Fällen forderte die Art, wie das Plastik gewordene Streitgespräch behandelt und in der Literatur breitgeschlagen wurde, zu Gehässigkeiten heraus. Ja es ist in den Thesen, die Sidonius über die »Verwerfung des jüdischen Volkes und die Erwählung der Christen« vorbringt, mit ein Hauptgrund des zu jener Zeit fast überall wütenden, von der Kirche genährten, hochpopulären Hasses gegen die Juden zu erblicken. Die Folgen dieser Ver— 141 —

werfungstheorie waren über Jahrhunderte hinweg und bis in die Grauenszeit des Hitlerismus hinein unübersehbar, hier liegt eine Hauptschuld der katholischen und ebenso der protestantischen Kirche an den Judenverfolgungen bis heute, eine Quelle von häßlichen Vorurteilen, wie sie in den berserkerhaft antijüdischen Angriffsorgien Luthers in seinen beiden Altersschriften (1543 ›Wider die Juden und ihre Lügen‹ und ›Vom Schem Hamforas und vom Geschlecht Christi‹) auf geradezu unglaublich brutale Weise zutage tritt. Man soll diese Schriften lesen und wird sich dann nicht darüber wundern, welch mörderische Folgen aus solchen Abgründen dämonisch hervorgedunstet sind und ganze Völker vergiftet haben. Erst in den letzten Jahren haben die Kirchen eingelenkt, wahrscheinlich durch eben diese entsetzlichen Folgen aufgeschreckt, durch das von der Hitlerei angerichtete, brüllende Unrecht und das Verwüstungsfeuer, das daraus über den ganzen Erdball hervorgebrochen ist. Man weist jetzt kirchlicherseits (neben andern Argumenten) vorzüglich auf das Gleichnis vom wilden und vom edlen Ölbaum hin, das die Krönung von Pauli Brief ›An die Römer‹ (im Kapitel 12) bildet, eine Stelle, aus der klar hervorgeht, daß die Theorie der Verwerfung Israels ebenso unchristlich wie unmenschlich ist. Entstanden ist eine ganze Reihe von ehrenhaften christlichen Büchern wie z. B. ›Der ungekündigte Bund‹ oder die nach allen Richtungen ausgreifende Sammelschrift ›Judenfeindschaft‹, die Prof. Karl Thieme kurz vor seinem allzu frühen Tode 1963 herausgegeben hat. Nicht mit allem, was diese Bücher anführen, stimme ich überein, – doch klar ist mir, daß sie, wären sie vor 50 Jahren erschienen, viel Unheil abgewendet und eine andere Gesamtatmosphäre für die Beurteilung und Behandlung der Juden geschaffen hätten, – vorausgesetzt daß ihre Ergebnisse allmählich ins Volksbewußtsein eingedrungen — 142 —

wären. Was natürlich von vielen Voraussetzungen abhängt. Nun, an der besprochenen Stelle des ›wundertätigen Wortes‹ liefert die Lehre von der ›Verwerfung Israels‹ einen ihrer vielen Beweise für die Leicht-Entzündlichkeit ihrer pulverartigen Natur. Sie veranlaßt nämlich, – was eigentlich nicht vorauszusehen war, – den von uns verehrten Capnion-Reuchlin zu einem seiner massivsten Ausbrüche, die wir seinem gerechten Sinn kaum zugetraut hätten, zu einer wohl nur durch die Zeitumstände und Zeitstimmung verständlichen Attacke gegen den armen Baruchias, den er mit folgenden Worten anfährt: »Ihr habt die legitimen Heiltümer verändert, daher murmelt ihr vergebens eure Gebete, vergebens ruft ihr Gott an, dem ihr nicht auf die Art, die er selbst wünscht, huldigt, sondern durch eure leeren Erfindungen schmeichelt, wobei ihr uns, die wahren Verehrer Gottes, mit nie erlöschendem Neide hasset, was der Gottheit vor allem unlieb ist, die als friedensliebend den Seelen der Menschen einzuwohnen wünscht.« ›Friedensliebend‹? – Hier stockt man, muß ein wenig verschnaufen. Die Scheiterhaufen der Inquisition sind mit einem Ruck des Gelehrtentalars vom Tisch heruntergewischt. Dies alles, auch die damals nur zwei Jahre zurückliegende, grausame Austreibung der Juden aus Spanien, von der Reuchlin als Staatsmann gewiß Kunde hatte, ist also nur von sanften ›friedensliebenden‹ Seelen gelenkt worden? Und die vielen Verfolgungen, Sondergesetze und Judenmorde in Frankreich, Deutschland? Wie wenig stimmt auch die Dialogäußerung Reuchlins zu der an vielen Stellen seines Gesamtwerks empfohlenen Milde und sogar Brüderlichkeit im Umgang mit Juden, – wobei allerdings fast immer eine fatale Beimischung von Missionierungssucht nicht fehlt. Dieser Zug Reuchlins, der nur einen — 143 —

Teilaspekt seiner reich entwickelten Persönlichkeit darstellt, jedoch nicht übersehen werden kann, ist und bleibt eben in seiner zu großem Teil noch mittelalterlichen Denkart, in seinem Dogmatismus, seinem Glaubensfanatismus verankert. – Man möchte, um sich ein wenig zu stärken, die 12 Verse zitieren, in denen Heine unsterblich, wahr für immer, den geschichtlichen Verlauf der Beziehung zwischen Juden und Nicht-Juden besingt, welch letztere er nach talmudischem Sprachgebrauch ›Edom‹ (Decknamen für Rom) nennt. Dieses konzise Gedicht allein, gäbe es nicht Hunderte von anderen, ebenso stringenten Beispielen, würde genügen, Heines Kunst hoch über die törichten Invektiven seiner Gegner zu erheben. Es lautet, dieses herzlich derbe Gedicht: An Edom Ein Jahrtausend schon und länger Dulden wir uns brüderlich; Du, du duldest, daß ich atme, daß du rasest, dulde ich. Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, Ward dir wunderlich zu Mut, Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut. Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu, Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie du!

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Vielleicht ist der Ausfall gegen Baruchias ein Residuum der Linzer Debatten mit Loans und dessen Glaubensgenossen; von solchen Debatten mit mehreren Juden am Linzer Hofe ist im ›Augenspiegel‹, fol. II, die Rede. »Wie wol ich vor zeiten ann kayser Friderichs des dritten unsers allergnedigsten herren vatters löblicher gedechtnus hofe von den juden daselbst nach vil reden zwischen unns gehaltten hab gehört, das solliche bücher von innen abgethon, vertillckt usf.« Die temperamentvolle Attacke Reuchlins bietet jedoch im ›Augenspiegel‹ dem späten Betrachter auch eine andere, schönere Seite. Man überlege: Wie weit war der Weg, den Reuchlin zurückzulegen hatte, um von der im ganzen populär bestimmten Blickweise auf Juden und auf das Judenproblem, die im ›Wundertätigen Wort‹ vorwaltet, zu der sublimen Auffassung seines reifsten Werkes, der ›Kabbalistischen Kunst‹ (richtiger übersetzt: ›Kabbalistischen Wissenschaft‹) aufzusteigen. Die Figuren der beiden, als Repräsentanten des Judentums auftretenden Wortführer in den beiden Büchern (Baruchias und Simon) und ihre Beziehung zu Capnion und Sidonius resp. den beiden Unterrednern in ›De arte cabalistica‹ sind grundverschieden, obwohl auch manches Gemeinsame sich andeutet, da ja beide Figuren auf das Erlebnis des Lehrers, auf den Hofarzt Loans, zurückgehen. Zwischen den beiden Büchern aber liegen viele Jahre und Leiden, Erfahrungen, geistige Umschichtungen des Autors der beiden verschiedenen Projektionen des gleichen Erlebnisses. – Der Jude Simon wird geehrt, bewundert; der Jude Baruchias wird öfters, wenn auch höflich kritisiert, manchmal rauh zurechtgewiesen. Es wird allerdings gelegentlich, fast ohne Zusammenhang mit dem Gesamtzug der Untersuchung, auch mit hoher Achtung von ihm gesprochen. Im — 145 —

ganzen ist er eine problematische Erscheinung, während Simon als ein ganzer Mann, ein Held ohne Furcht und Tadel, entworfen ist. – Ferner ist im ›Wundertätigen Wort‹ Reuchlin–Capnion der Lehrende, im späteren Buch der Belehrte. Es macht Reuchlin alle Ehre, daß er diesen schwierigen Weg wachsender Reife unbeirrt und aufrecht gegangen ist, obwohl die widerwärtigen Angriffe des »taufften Juden« Pfefferkorn und der Kölner Dominikaner, all die Ärgernisse und Kämpfe seiner heroischen letzten 12 Jahre ihn eher in die entgegengesetzte Richtung hätten drängen, ihn hätten verhärten, eingebildet und stolz machen müssen, wäre er eben nicht eine durchaus edle Natur gewesen, deren Lebenselement (im Gegensatz zu Erasmus) die unbedingte Redlichkeit, nicht kompromißlerische Diplomatie, nicht kluge Wetterwendigkeit war. Reuchlins Größe liegt unter anderem auch darin, daß er den leichter sich anbietenden Weg des Ressentiments und jener Reaktion, die Felix Weltsch die ›hysterische‹ nennt, verschmäht hat. Daß er in späteren Jahren immer angelegentlicher der Führung durch echte Demut sich anvertraut hat. Nach seinem Gefühlsausbruch gegen Baruchias erklärt Capnion, den Sidonius bekehren zu wollen. Doch den Baruchias? Daran verzweifelt er. »Was dich betrifft, so habe ich kaum eine Hoffnung, da du aus jenem Volk harten Nackens stammst, – es sei denn, daß die viele in deinem sehr klaren Geiste gesammelte Wissenschaft, deine zahlreichen Forschungen, die unzählbaren Lehrsysteme, am meisten aber deine ungeheure Liebe zur Erkenntnis etwas ausrichten.« Die beiden Gesprächspartner, Sidonius und Baruchias, vereinen sich, um dringend von Capnion die rechte Unterweisung zu verlangen. Er möge sie zur Gotteserkenntnis — 146 —

führen. Denn nur er wisse das Geheimnis, das wunderwirkende Wort. (Hier ist noch nicht einmal ein Anzeichen der späteren Demut des ›lernenden Reuchlin‹.) Capnion entwickelt darauf die paulinischen Vorstadien seiner Lehre. »Gott ist die Liebe, der Mensch die Hoffnung, das Band zwischen beiden ist der Glauben. Sie haben aber die Möglichkeit, sich durch ein seiner Art nach unaussprechbares Band zu verbinden, so daß ein und dasselbe Wesen sowohl als ein menschlicher Gott wie auch als ein göttlicher Mensch anzusehen ist.« – Ähnliche Gedankengänge finden sich bei Cusanus, den sie (der Philosoph und hervorragender Kirchenfürst war) bei einigen Zeitgenossen des Pantheismus verdächtig gemacht haben. Nicht nur hier ist Reuchlin entscheidend vom Cusaner beeinflußt. Nun stellt Capnion seine Bedingungen. Da er das Wunderkraut zu vergeben hat, müssen die beiden parieren. »Du Baruchias gib die Thalmudim (sic!) auf, du Sidonius den Epikur und Lukrez. Waschet euch, ihr sollt rein sein. Ihr müßt den einen Gott anerkennen, der alles geschaffen hat. Die übrigen Mächte dürft ihr nur als Gottes Diener verehren. An Gott sollt ihr eure Gebete und Bitten richten, an die dienenden Mächte eure Hymnen.« Sidonius stimmt zu, bekräftigt die Angemessenheit der Bedingungen Capnions, zitiert alte Autoritäten dafür. Die ›Thalmudim‹ werden von Sidonius abgelehnt, wobei er seine durch keinerlei Sachkenntnis getrübten Ansichten über den Talmud zum besten gibt, über das großartige, zuweilen bizarre, doch immer aus rätselhaften Tiefen emporstarrende Riesen-Protokollbuch der durch viele Jahrhunderte sich hinziehenden Gelehrtengespräche, das uralte Überlieferungen, geschichtliche Episoden, witzige Reden und sublime Schriftauslegungen, Zivilrecht und Strafrecht, Segenssprüche, Gebräuche, extreme Ironien, — 147 —

Folklore und noch tausendfach anderes umfaßt. Der Talmud ist ja eine unerschöpfliche Quelle von Erkenntnissen, Nachrichten, Zitaten, geistvollen Paradoxen, die an ZenPhilosophie gemahnen, von oft überraschend gegenwartsnahen und religiös geläuterten, kristallreinen Destillaten (so in dem Abschnitt ›Sprüche der Väter‹) nebst anderem, was archaisch und geheimnisdunkel anmutet. Dabei in einem Stil von lakonischer Knappheit verfaßt, dessen Hinweise nur von dem verstanden werden können, der sein Leben lang in diesen Studien atmet. ›Das Meer des Talmud‹, das nur des Steuers Mächtige befahren können. In den labyrinthischen Gängen verliert ein Unkundiger leicht den Faden, der aber nie fehlt, so wie auch in manchen der kleinen Abhandlungen des Plutarch (z. B. in den Tischreden – oder im ›Gastmahl der sieben Weisen‹ oder in der Abhandlung ›Warum die Pythia nicht mehr in Versen antwortet‹) der Nichtkenner zunächst eine potpourriartige oder gar ganz zusammenhanglose Anhäufung von Daten vor sich zu haben glaubt, deren Ordnung er erst allmählich begreift. Ich finde es erstaunlich, daß noch niemand die Verwandtschaft dieser plutarchischen mit den talmudischen Bemühungen angemerkt hat. Sie gehören ja auch ungefähr derselben Zeitepoche an. – Nun, Sidonius läßt sich keinesfalls auf solch tiefergehende Betrachtungen ein, er spielt vielmehr den Freisinnigen, den Liberalen, will auf niemandes Worte schwören, beruft sich aber gleich darauf auf brahmanische Weisheit, die er in Indien gelernt haben will. Ferner auf die Griechen. – »Ich glaube, daß du, Capnion, nichts Unerfüllbares verlangt hast«, resümiert der als Träger aller möglichen Doktrinen mosaikartig zusammengesetzte, eine unlebendige Phantasmagorie bietende Weltfahrer. »Es sei denn, daß es den Baruchias hart anmutet.« Sidonius selbst behauptet, sich einst mit der Lehre der ›Thalmudim‹ beschäftigt zu haben, doch — 148 —

habe er die Nachrichten über »die hochmütigen Parteiungen, die vielen Verschwörungen des Wahnsinns nicht als lesenswert gelten lassen können, besonders da nicht, wo es um das Wesen der Gottheit ging, da diese ›Thalmudim‹ die heiligen Vorschriften verdreherisch eher als Haß gegen die fremden Völker, als Schlachtgewühl, als Räuberei und nicht als Heil für den ganzen Erdkreis darlegen. Ich hoffe, daß Baruchias von diesen Lehren leicht abgehen wird, wenn er sich vor Augen hält, daß die ›Thalmudim‹ Menschen unsresgleichen waren, die ihre Erfindungen und Denkübungen den Schriftzeichen anvertraut haben, um prahlerischen Ruhm zu erwerben, – so wie es von einigen christlichen Scholastikern verfaßte Kommentare gibt, die jedermann ohne Schaden kritisieren kann; wie denn auch ich an Lucretius und Epikur zum Abtrünnigen werde.« Aus dem unsinnigen Wort ›Thalmudim‹, das eine nicht existente Pluralform darstellt, geht klar hervor, daß Reuchlin damals noch keine richtige Vorstellung vom Talmud hatte. Man könnte etwa annehmen, mit dem Plural seien die beiden Versionen des Talmud gemeint, die jerusalemische und die babylonische (von denen die zweite die viel ausführlichere ist). Doch (erstens) stimmen die beiden Versionen, die, wie oben dargelegt, aus Mischna und Gemara bestehen, im Mischnateil miteinander überein. Außerdem (zweitens) gebraucht Reuchlin das Wort im Sinne von ›Weiser, Rabbi, Talmudlehrer‹, was in der Ursprache nie vorkommt. Zur Bezeichnung des Talmudlehrers gibt es andere Worte. Reuchlin aber läßt den Baruchias unbedenklieh sagen, er verzichte »auf die hochgelehrten Männer, die bei uns in so hohem Ansehen stehen und die, ihrer Lehre wegen, ›Thalmudim‹ genannt werden«. Geiger bemerkt treffend zu dieser Stelle: »Bekanntlich entbrannte der Streit zwischen Reuchlin und den Kölnern zunächst infolge der nicht übereinstimmenden Beantwortung der — 149 —

Frage, ob der Talmud erhalten werden solle, oder nicht. Es ist wohl selten ein Streit geführt worden, wie dieser, wo beide Parteien, die im Kampfe lagen, das Objekt des Streites so wenig kannten. Reuchlin macht aus seiner Unkenntnis kein Hehl. Er sagt (Gutachten 1510, fol. IIIb), er hätte den Talmud wohl zwiefach bezahlen mögen, hätte es aber bis jetzt nicht zuwege bringen können; und fol. III ›dann ich hab mangel halb der bücher den Thalmud nicht gelernt‹; auch in der Defensio contra calum. Col. spricht er, mit Rücksichtnahme auf die damalige Zeit: »da ich damals den Talmud noch nicht gelesen hatte.« Erst 1512 verschaffte er sich den Traktat Sanhedrin, einen großen, aber im Verhältnis zu dem riesigen Gesamtwerk des Talmud bei weitem nicht ausreichenden Teil. – Im Trialog selbst fällt kein Wort Capnions (Reuchlins), aus dem man schließen könnte, daß er den Unfug des Sidonius ablehnte oder doch beargwöhnte. Die jüdischen Verehrer Reuchlins aus der Emanzipationsperiode (Graetz, Geiger u. a.) haben meiner Meinung nach auf diese grundsätzlich ablehnende Haltung Reuchlins nicht genügend hingewiesen, die erst in seinen Spätjahren einem besseren Verständnis der jüdischen Lehre Platz macht. Und gar so unsinnig war der Irrtum des unseligen Pfefferkorn nicht, der anfangs in Reuchlin seinen Bundesgenossen gegen den Talmud sehen mochte und daher gerade ihn, nachdem die verhängnisvolle Urkunde Maximilians (allerdings nur gegen jene jüdischen Bücher, die »gegen den christlichen Glauben gerichtet« seien) am 19. August 1509 erlassen war, durch einen persönlichen Besuch in Stuttgart als Helfer für den Versuch gewinnen wollte, das ganze jüdische Schrifttum außer der Bibel zu vernichten. Wobei Pfefferkorn allerdings eine scharfe Zurückweisung erfuhr. Doch war sein Versuch durchaus nicht so dumm und abwegig, wie manche glauben, die sich darüber wundern, wie Pfefferkorn — 150 —

auf den eigenartigen Einfall kommen konnte, gerade den Verehrer der hebräischen Sprache Reuchlin in eine Rolle und Aufgabe hineinzubugsieren, die dem also Gedrängten so viel Ärgernis und Herzleid, in der Folge allerdings auch so viel Ruhm und Gelegenheit, seinen Hochsinn zu beweisen, einbringen sollte. Die solcher Verwunderung Ausdruck geben, beweisen damit nur, daß sie die vorbereitenden Schriften wie das ›wundertätige Wort‹ und das ›Missive‹ nicht gründlich genug gelesen haben. Denn die prinzipiell negative Einstellung Reuchlins gegen den Talmud (in seinen mittleren Jahren) geht aus dem, was er als Ansicht des Sidonius anführt und nicht mißbilligt, und ebenso aus dem, was er als eigene Ansicht vorbringt, klar hervor. Es ist trotz allem die Nuance, die den gewaltigen, ja den entscheidenden Unterschied macht. Der heisere Tonfall des blindwütigen Abtrünnigen und Konvertiten Pfefferkorn ist mit den ruhigen, später so gründlich rektifizierten Darlegungen des großen Gelehrten keinen Augenblick lang zu verwechseln. Man könnte zur Entschuldigung Reuchlins allenfalls noch einwenden, daß er von der Kabbala gegen den Talmud beeinflußt war. Doch so scharf stehen die beiden Welten innerhalb des Judentums einander nicht gegenüber. Trotz vieler gereizter Töne, die gelegentlich hörbar werden, hängen die zwei Welten unlösbar miteinander zusammen. Die großen Kabbalisten wie Ramban (Nachmanides), Abulafia, Mosche de Leon, Cordovero u. a. waren stets auch unübertrefflich gründliche Kenner des Talmud, die aus ihm schöpften, ihn hochhielten. Auch ein Religionsphilosoph wie Rambam (Maimonides) war Talmudist von äußerster Vollendung. Sowohl im Talmud wie in der Kabbala gibt es neben rationalen Partien weithin irrationale Ahnungsbereiche, die auch in der jüdischen Philosophie nicht fehlen. Es wirkten allerdings Talmudisten, die — 151 —

in heftiger Opposition zum kabbalistischen Schrifttum standen. Umgekehrt gab es im kabbalistischen Lager nie eine radikale Verwerfung des Talmud, auch im Chassidismus nicht (worauf Scholem in seiner Kritik gegen Buber [›Judaica‹] aufmerksam gemacht hat). Die Wertungsgewichte, deren die einzelnen Geistesströmungen sich bedienten, mochten von verschiedener Gradierung und Zusammensetzung sein. Doch eine so feindselige und mißverständliche Charakteristik des Talmud, wie sie Sidonius sich gestattet und Reuchlin sie akzeptiert oder doch nicht zurechtweist, ist und bleibt der jüdischen Lehre fremd. Oder erscheint nur als seltene Ausnahme, wie dies Scholem aus dem Sohar und speziell aus dessen Teil ›Raja Mehemna‹ (›Der treue Hirt‹) in Gestalt eines merkwürdigen Wortspiels gegen die Vertreter des reinen Wortsinns der talmudischen Lehre zitiert (6. Kapitel, 2. Abschnitt, besonders Anmerkung 19). Verschärfend wirkt hier, daß Reuchlin (als Autor des Trialogs) den Baruchias dem Ansturm der Gesprächspartner nachgeben läßt. Baruchias erklärt, auf die ominösen ›Thalmudim‹ verzichten zu wollen. »Ich hoffe, daß ich damit eine Gott wohlgefällige Tat setze, da ich das, was meinem Geiste am liebsten war, um seinetwillen zurückstoße.« Er tut es, obwohl gerade in diesem (talmudischen) Studium »immer das Vergnügen lag, das ihm angenehmer war als sein ganzes übriges Leben«. – Rührende Worte, die, gleichsam unwillkürlich hervorgestoßen (vielleicht nach dem Leben beobachtet?), unser Herz treffen. Doch dieser großartige Eindruck wird sofort wieder zerstört (oder bleibt ein Moment-Eindruck), indem Baruchias darlegt, er wolle nun das Wort hören, das Capnion versprochen hat, »durch das wir Sterbliche, obwohl der Natur verhaftet, über die Natur zur Herrschaft gelangen und — 152 —

Monstra, Vorzeichen, Mirakel hervorbringen können, die Insignien der Gottheit sind.« – Baruchias gesteht, er habe von vielen solchen Worten gehört, sie auch gelernt, doch nie seien ihm Wunder geglückt. Der arme Zauberlehrling steht in seiner Blöße da (wieder ein Ausfall gegen den Juden Baruchias), wir sind deutlich aus dem Gebiet der gottgeweihten Weisheit in den zwielichtigen Dunst der ›praktischen Magie‹ abgeglitten. Und Sidonius hat die Genugtuung, den Baruchias zurechtweisen zu dürfen und ihn, unter Anführung des schon lange fälligen bekanntesten Lukrezverses: »Hic latet anguis in herba« (Hier ist die Schlange im Gras verborgen), sowie das ganze Trugwesen der Beschwörungskünste zu schelten, – der Mantik, Alchimie und Astrologie, die dem zwar träumerischen, aber doch in erster Reihe frommen, gottergebenen Forschergeist Reuchlins immer als Teufelswerk suspekt waren, – wie wir aus andern Stellen seines Werkes, aus seiner Verwerfung der ›fictio magica‹ wissen. Doch diese ganze Episode der okkulten Künste geht rasch vorbei: Sie erbringt nochmals den Beweis, daß dem Herzen und Sinn Reuchlins damals die synthetisch erfundene Figur des seltsamen Phöniziers weit näher stand als das irritierende Erlebnis des realen Juden Loans (Baruchias), dessen vermutlich rauhbeinige, unbequem harte Persönlichkeit, voll von Widersprüchen mit sich selbst, zur Auseinandersetzung, nicht zur Liebe herausforderte. Liebe und Respekt scheinen erst in später Erinnerung an die bedeutsamen Diskussionen hinzugetreten zu sein, als Reuchlin 1517 sein Hauptwerk schuf. Der inhaltliche Unterschied der beiden Trialoge vom ›Wort‹ und von der ›Kabbalistischen Wissenschaft‹, der ein Unterschied in der Entwicklung des Autors, in seinen fundamentalen Erkenntnissen ist, wird um so augenfälliger, — 153 —

wenn man die äußere Ähnlichkeit der beiden in Bau und Form absteckt. Geiger sieht fast nur die Ähnlichkeit, den ›engen Zusammenhang‹, – mir hat sich stärker die innere Verschiedenheit der beiden Werke aufgedrängt. Doch die äußere Ähnlichkeit (als Folie der Gegensätzlichkeit) kann auch ich selbstverständlich nicht übersehen. Beidemal sind es drei Personen, die die Unterredung führen, beidemal durchläuft der geistige Kampf drei Stadien, drei Teile. Es hat hier wohl die Vorliebe für die heilige Dreizahl eine ähnliche geheimnisvolle Autorität wie einst bei Dante. Erst an späterer Stelle tritt konkurrierend die pythagoreische Vier, die Tetraktys, als Symbol auf. – Den beiden Trialogen gemeinsam ist ferner der Schauplatz: eine lebhafte deutsche Stadt – da Pforzheim, dort Frankfurt. Sogar noch das äußerliche Moment des ›Fortsetzung folgt‹ im Augenblick der höchsten Spannung wiederholt sich – da ist die Nacht eingebrochen und gebietet den Ermüdeten Stillstand der Auseinandersetzungen, – dort macht der Ruhetag, der abendliche Sabbatbeginn, von dem frommen Simon streng eingehalten, eine sogar eintägige Pause des Agons notwendig. 4

Am nächsten Tag (in der ›Kabbalistischen Wissenschaft‹ erst am übernächsten) beginnt die weitere Untersuchung. Sidonius spricht für die Astronomie als ernste Wissenschaft, grenzt sie von der Astrologie ab. Capnion verwirft alles Mirakelhafte, nur Gott sei die Quelle aller Wunder. Sidonius glaubt daran, daß nicht nur Gott Wunder bewirkt. Er verweist auf die Wunderwesen bei Homer, auf die Zaubereien der Circe u. ä. Die Diskussion droht einen Augenblick lang in eine ziemlich strohdürre Digression über Gegenstände antiquarischer Art und zudem in eine — 154 —

recht unhistorische Weltschau zu versickern. Da ergreift Baruchias die Partei Capnions und will seine persönlichen Kenntnisse, die Gottesnamen betreffend, enthüllen. Zuvor schiebt er den Riegel des Gemachs zu, in dem die Unterredung stattfindet, damit keiner der Diener des Gasthofs die Gottesnamen hören und bespötteln kann. Baruchias gibt an, er habe nicht viele dieser Namen gelernt (in der ›Kabbalistischen Wissenschaft‹ sind es endlose Serien), entwikkelt dann aber seine Ansichten über die Teilhabe (consortium) Gottes am menschlichen Geist – sowie über die Tatsache, daß Gott sich am Menschen erfreut und daß nichts geschieht als das, was Gott, der auch ›Logos‹ genannt wird, beschlossen hat. Merkwürdig, daß im weiteren Baruchias keine kabbalistischen, überhaupt keine jüdischen Quellen, sondern den Hermes Trismegistos zitiert, um ein Weltsystem darzulegen, in dem die sensitive Kraft das vegetative Vermögen lenkt. Es ist eine Art realistischer Naturphilosophie, die von der natürlichen Wärmesteigerung bei der Verdauung von Nahrungsmitteln ausgeht. Die Wärme der Liebe zu Gott wird hiezu in seltsame Analogie gebracht. »Gott ist Geist (spiritus), das Wort ist die Atmung (spiratio), der Mensch das atmende Wesen (spirans).« Die Bezeichnung ›logos‹ bedeutet Gott, doch auch Wort, auch Vernunft. An diese Feststellung schließt sich der Ausfall gegen jene Theologen, die weder die hebräische noch die griechische Sprache beherrschen, – wiederholt in Reuchlins ›Gutachten‹ (deutsch) mit den Worten: »Dann ich wil das mit urlaub unnd züchten geredt haben, das man inn unsserm christlichen glauben gar vil doctores findt, die do mangel halb der zwaier Sprachen die hailgen geschrifft nit recht auslegen, unnd werden gar dick zu spott darob.« – Es folgt, immer von Baruchias gesprochen, das berühmt gewordene Lob der hebräischen Sprache: »Als barbarisch oder aus Barbarischem nahe abgeleitet wird das — 155 —

Hebräische erklärt. Sprachblumenreden und die Anmut eleganter Wendungen werden hier freilich nur von Neugierigen, nicht von Aufrichtigen gesucht. Doch einfach und rein ist die Sprache der Hebräer, unverderbt, heilig, knapp und beständig; es ist die Sprache, in der Gott mit dem Menschen und der Mensch mit den Engeln gesprochen hat, von Mund zu Mund und ohne Dolmetscher, von Angesicht zu Angesicht und nicht durch Vermittlung des kastalischen Quells oder der Höhle des Trophonius oder des Baums von Dodona oder des Dreifußes von Delphi. Wenn ihr glaubt, daß ich dies eher zum Lobe meiner Volksgenossen gesagt habe, als daß es meine wahre Meinung ausdrückt, dann vergleicht doch, bitte, das Hebräische mit anderen Sprachen; ihr werdet keine reinere, keine schamhaftere finden«. – Baruchias kommt auf Moses als den »ältesten aller Schriftsteller« und die 70 Übersetzer der heiligen Schrift (der Septuaginta) zu sprechen, von da auf den einzigen wahren Gott und auf die von Menschenhand hergestellten Götzen. – Er zitiert als Stütze seiner Ausführungen eine Fülle griechischer, römischer, ägyptischer Autoren, jedoch seltsamerweise keine jüdische Quelle. Jüdische Quellen werden in diesem Werk erst später von Capnion beigebracht. – In ›De arte cabalistica‹ überwiegen sie. Sidonius stimmt in einigen Punkten dem Baruchias zu, doch hebt er hervor, daß auch bei andern Völkern, nicht nur bei den Hebräern ›heilige Namen‹ im Schwange sind. Als Beispiele führt er die griechischen Magier, Orpheus, die Ägypter an. Baruchias beharrt auf seiner Auffassung. Die hebräischen Buchstaben sind vom Finger Gottes geschrieben. Hebräische Worte stehen auch im Neuen Testament, ein Beispiel: »Kumi tabitha« (die bessere Lesart scheint »Kumi, talitha« zu sein: »Steh auf, Jungfrau«). Sidonius und Cap— 156 —

nion geben ihrer Bewunderung für die literarische Bildung des Baruchias Ausdruck, und Capnion erklärt, daß gewisse Worte nicht adäquat übersetzt werden können; ein Gedanke, dem Reuchlin auch sonst öfters leidenschaftlichen Ausdruck gibt, beispielsweise in einem viel späteren Brief an den Abt Leonardus Widemann von Ottobeuren vom 5. August 1513, der ihn um Zusendung einer griechischen Ausgabe des ›Liedes der Lieder‹ ersucht hatte. Da antwortet Reuchlin: »So groß ist meine Liebe zu den Eigenheiten und Eigenschaften der einzelnen Sprachen, daß ich mich nie sonderlich darum bemüht habe, ein Buch in einer andern Sprache zu haben als in der ursprünglichen, in der es verfaßt ist. Immer habe ich Angst vor Übersetzungen, die mich einst oft zu Irrtümern geführt haben. Daher lese ich das Neue Testament griechisch, das Alte hebräisch, bei dessen Auslegung ich mehr meinem eigenen Urteil als dem eines andern Autors vertraue. Und ähnlich halte ich’s für gewöhnlich mit allen andern Büchern. Wiewohl ich gern auch auf andere Stimmen höre und die Ansichten und Eindrücke vieler gern in mich aufnehme, sowie ich manche Speisen gern als Nachtisch esse, aber nicht wie Brot.« – Im ›Wundertätigen Wort‹ (II. Teil, Kap. 12) heißt es geradezu, daß es Worte gebe, die »accepta divinitus, non parta humanitus« seien. »Es gibt Worte, die göttlicherseits eingesetzt, nicht von Menschen erfunden sind.« Die Nähe des platonischen Dialogs Kratylos macht sich bemerkbar (er wird später auch zitiert), dieses schillernden Gebildes, von dem, trotz Schleiermachers weisheitsvoller Einführung, schwer zu sagen ist, wo der Ernst aufhört und der übermütige, fast aristophanisch karikierende Scherz beginnt. – Es ist allerdings bemerkenswert, daß Reuchlin trotz seiner Abneigung gegen Übersetzungen eine Fülle von Werken selber übersetzt hat, vor allem aus dem Griechischen ins Lateinische, das ja damals die weitverbreitete — 157 —

Gelehrtensprache war, während das Griechische noch etwas Esoterisches an sich hatte. Zu den vielen Übersetzungen, die bei Geiger, bei Rupprich (F. 2) u. a. zitiert werden, kam in jüngster Zeit Reuchlins lateinische Übersetzung eines Briefes von Nestorius. (Dr. Martin Sicherl »Zwei Reuchlinfunde aus der Pariser Nationalbibliothek«, Wiesbaden 1963.) Die Diskussion nähert sich ihrem Höhepunkt. Wie viele Namen Gottes gibt es? Hieronymus erwähne 19, Dionysius Areopagita 45, andere Autoren 72. – Die der Magie nahestehende Anschauung ist, daß ein Wesentliches erkannt wird und eine gewisse Nähe zu einem Sein, wenn nicht gar eine Macht über dieses Sein erlangt wird, wenn man den Namen dieses Seins weiß. Bei Cusanus finden sich ähnliche Auffassungen. So im Dialog ›Idiota de mente‹ (›Der Laie [spricht] über den Geist‹), wie schon im 3. Kapitel dargelegt. – Es ist ein archaisches Gebiet, auf dem wir uns hier, ungewohnt genug und daher einigermaßen tolpatschig, bewegen. Das alte Grimmsche Märchen vom Rumpelstilzchen ist eine Variation des gleichen Grundgedankens. »O wie gut, daß niemand weiß, / Daß ich Rumpelstilzchen heiß«, singt das unheimliche Männchen, von dem so viel dämonische Kraft ausgeht. Weiß man seinen Namen, so geht seine Kraft verloren. Bei den Eskimos herrscht die Überzeugung, daß durch Übertragung des Namens eines verstorbenen Ahnherrn auf ein Kind die Identität des Verstorbenen mitübertragen werde, so daß der Ahnherr eigentlich gar nicht als tot angesehen wird. Darüber las ich in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ vom 16. August 1963 in einem Artikel von E. W., ›Die Erschließung des kanadischen Nordens‹, folgende eindrucksvolle Zeilen: »Über die Geschichte der kanadischen Eskimos vor der Ankunft des weißen Mannes in ihren Gebieten ist so gut wie nichts bekannt, da sie keinerlei — 158 —

schriftliche und kaum eine mündliche Überlieferung von ihrer eigenen Vergangenheit besitzen. Vergangenheit als solche ist nämlich ein unbekannter Begriff für den Eskimo, dessen Sprache nur eine Gegenwart kennt und der in einer Welt der Gleichzeitigkeit lebt. Wenn ein Eskimo stirbt oder, wie es zuweilen immer noch geschieht, wegen Altersschwäche von seinen Stammesgenossen getötet oder ausgesetzt wird, dann geht sein Name und damit seine Identität auf das nächstgeborene Mitglied des Stammes über, und der Verstorbene gehört damit nicht der Vergangenheit an, sondern lebt als neugeborenes Kind weiter.« Auch hier wird Name und Wesen in archaischem Urgefühl gleichgesetzt. In diesem Urgefühl haben wir eine der Quellen zu suchen, aus denen für Reuchlin, seine Vorläufer wie seine Zeitgenossen, die Wichtigkeit hervorging, die sie dem Namen Gottes beimaßen. Und zwar dem Namen gerade in der hebräischen Sprache, deren Ursprünglichkeit und Alter von ihnen (irrigerweise) geradezu ins Unendliche hinaufgehoben wurde. Seltsam mutet hier eine Digression Reuchlins über die Wichtigkeit des Namens d. h. der wörtlichen Wiedergabe an. Die Erbsünde der Chava (Eva) soll darin bestehen, daß sie die gebietenden Worte Gottes nicht wörtlich (im Gespräch mit der Schlange) wiedergegeben hat. Ganz abgesehen davon, daß es nach jüdischer Lehre eine Erbsünde (sequentibus sceleribus initium, einen »Anfang zu den in der Folgezeit sich ereignenden Verbrechen«) gar nicht gibt – »Die Seele, die du mir gegeben hast, ist rein«, heißt es in unserem täglichen Morgengebet mit deutlicher Abgrenzung gegen das christliche Dogma –, erweckt diese höchst formaljuristische Auslegung Befremden. Eva soll nämlich dadurch gesündigt haben, daß sie anstelle der Worte Gottes: »Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen – von dem darfst du nicht essen« im Gespräch mit — 159 —

der Schlange die Worte im Plural gebraucht: »– – dürft ihr nicht essen« und übrigens aus Eigenem den Zusatz hinzufügt: »und dürft sie nicht anrühren«. Nach diesem einigermaßen grotesken Vorspiel wird zuerst der angebliche Gottesname ›Ehje‹ (ich werde sein) einer Untersuchung unterzogen. Tatsächlich lautet dieser Name (Moses II, 3, Vers 14): »Ehje ascher ehje«, also »Ich werde sein, der ich sein werde«. – (Das h in ehje muß deutlich als Aspirat ausgesprochen werden.) – Der Name ›Ehje‹ ist im Text nur als Abkürzung des wirklichen Gottesnamens gemeint. Die Bedeutung des vollständigen, in der zitierten Stelle angeführten Namens oder vielmehr Satzes kann etwa folgendermaßen explizit gefaßt werden: »Ich werde in höchster unbegrenzter Freiheit immer als derjenige, der ich zu sein beliebe, erscheinen.« – Ein Freibrief der Selbstoffenbarung, die keiner Art von Zwang oder Notwendigkeit unterworfen ist, – eine Absage an das Kausalsystem, eine diruptio structurae causarum. Also das, was in meinem Hauptwerk ›Diesseits und Jenseits‹ als DSC bezeichnet wird. – Capnion führt aus, Plato habe diesen Namen »auf seiner so ausgedehnten Wanderfahrt« bei den Assyrern (!) gelernt und mit ›seiend‹ übersetzt. – Sidonius erzählt bei dieser Gelegenheit die Geschichte von Simonides, den der Tyrann Hieron nach dem Wesen Gottes gefragt habe. Simonides habe sich erst einen Tag Bedenkzeit ausgebeten. Als dieser Tag abgelaufen war, weitere zwei Tage. Dann weitere vier Tage. Warum dieses Zögern? habe schließlich der Tyrann eingeworfen. Die Antwort des Simonides: »Weil mir die Sache um so dunkler scheint, je mehr ich über sie nachdenke.« Den zweiten Gottesnamen (immer nach der Darstellung, die Capnion gibt) ›hu‹ – was im Hebräischen ›Er‹ oder ›Er ist‹ heißt – habe Platon mit dem griechischen Wort ›tautón‹ (›dasselbe‹; vgl. Kafka ›Das Unzerstörbare‹) — 160 —

wiedergegeben, also ›Das Unveränderliche‹. Die dritte Bezeichnung sei ›esch‹ ›Feuer‹ und kehre in den Hymnen des Orpheus als ›Äther‹ wieder. – Die bisher genannten drei Namen bilden nach Capnion eine Dreieinheit (una trinitas et trina unitas). Es werden andere Gottesnamen angeführt, wie Binah (Vernunft, Einsicht), Nezach (Ewigkeit), Tiferet (Schönheit), Malchut (Königtum) usf., die in der Kabbala als Namen der Sfirót, der Urzahlen (numerationes), erscheinen und, nach der Interpretation G. Scholems, in seinen hier immer wieder herangezogenen Hauptwerken ›Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen‹ und ›Ursprung und Anfänge der Kabbala‹ (die ich von nun an gelegentlich als M und U zitiere), beispielsweise in M 245 in meisterhafter Weise folgendermaßen charakterisiert werden: »Diese symbolischen Bereiche in Gott sind eben doch mehr als die Attribute der Theologen oder die Mittelstufen und Hypostasen, die Plotin in seiner Theorie der Emanation zwischen das absolut Seiende und die phänomenale Welt eingeschoben hat. Die Sefiroth der jüdischen Theosophen haben ein eigenes Leben in sich; sie verbinden sich, strahlen ineinander, steigen auf und nieder. Die ›Stufe‹, die ihnen zukommt, ist nicht ein für allemal statisch bestimmt. Obwohl jede ihren idealen Platz in der Hierarchie hat, kann auch die letzte unter Umständen als die erste erscheinen. Es ist in der Tat so etwas wie ein realer Lebensprozeß in Gott, den der Theosoph mit den Augen des Herzens – wenn man so sagen darf – in seinem Auf- und Abfluten wahrnimmt. Es war die Aufgabe der Theoretiker der kabbalistischen Theosophie, die Realität dieses Lebensprozesses mit der monotheistischen Erkenntnis, die den Kabbalisten ebenso teuer war als jedem Juden, zu vereinigen. Aber es kann kein Zweifel sein, daß hier auch in großartigen Versuchen, wie denen des Moses Cordovero in Safed, immer ein Rest bleibt, der in keiner rationalen — 161 —

Rechnung aufgeht, daß hier Mystiker etwas an Gott gesehen haben, das tiefer liegt als aller Begriff und in Begriffen daher nur in paradoxen Konzeptionen darstellbar wird.« Sidonius erklärt sodann die Namen der griechischen Götter. Athena wird mit jener Sfirá identifiziert, die hebräisch chochmá (Weisheit) heißt. Auf die bedeutsame Rolle, die diese Sfirá als Sophia (griechisch: Weisheit) in der Gnosis spielt, wird von Capnion nicht eingegangen, nicht einmal hingewiesen. (Sfirá hat trotz des ähnlichen Klanges nichts mit dem griechischen Sphaira, Kugel, Sphäre zu tun. Über den häufigen Gleichklang hebräischer und griechischer Worte bei Bedeutungsverschiedenheit und Stammesfremdheit habe ich eine Untersuchung geschrieben, doch noch nicht veröffentlicht.) Der wichtigste Gottesname sei das Tetragrammaton, das Buchstaben-Geviert, J H W H, das man nicht aussprechen dürfe. (Zusatz des Autors dieses Buches: Ja, mehr als das: man kann es gar nicht aussprechen. Auch wenn man wollte, kann man es nicht. Denn die richtige Vokalisation ist eben nicht überliefert worden, sie ist verlorengegangen. Man bewundere die Weisheit unserer Vorfahren! Sie haben es verstanden, ihrem Verbot eine stärkere Wirkungskraft zu verleihen als etwa die ägyptischen Zauberer mit ihrem angeblichen Gift- oder Krankheitszauber in den Königsgräbern, die nicht geöffnet werden sollten – und dennoch geöffnet und beraubt worden sind. – Alle Arten, in denen man den vier geweihten Buchstaben Vokale unterlegt, sind bloße Hypothesen. ›Jehovah‹ ist sicher falsch, denn es verwendet die Vokale von ›adonaj‹ [›unser Herr‹, stammverwandt mit Adonis – ›adón‹ ist das hebräische Wort für ›Herr‹] und sollte nur zur Verdeckung des wahren, nicht aussprechbaren Namens dienen. Auch ›Jahwe‹ oder ›Jahu‹ sind bloße Vermutungen, die letztere immerhin auf Zu— 162 —

sammensetzungen in Eigennamen gestützt wie etwa Jirmijahu [lateinisch verballhornt in ›Jeremias‹] oder Chiskijahu [Hiskia], doch sind die entscheidenden Silben gleichfalls gekürzt, wohl absichtsvoll undeutlich gemacht. – Nur der Hohepriester im alten Staat Israel durfte den Namen aussprechen, dessen leeres Knochengerüst als J H W H auf uns gekommen ist, – und auch der Hohepriester durfte den Namen nur einmal im Jahr aufklingen lassen, im Allerheiligsten des Tempels stehend, am furchtbaren Tag des Gerichts, dem Versöhnungstag. – Das Geheimnisvolle, das in dieser Unaussprechbarkeit der vier Konsonanten liegt, hat gewiß dazu beigetragen, die Scheu vor dem allerheiligsten Namen nicht nur bei den Juden, sondern auch bei den christlichen Gelehrten zu festigen, die sich mit hebräischen Texten befaßt haben. Die Behauptung, daß gerade die Unaussprechbarkeit des Gottesnamens nicht bloß zahllose Überlegungen in vielen Jahrhunderten, sondern geradezu die Erhaltung dieser hebräischen Texte durch alle Stürme und Angriffe hindurch mitveranlaßt und somit in aller nüchternen Wirklichkeit eine magische Funktion erfüllt habe, scheint mir nicht allzu gewagt.) Welches die Entzifferung ist, die Reuchlin vorschlägt und die er zeitlebens für eine religionsgeschichtliche Großtat gehalten hat, – das trägt er erst im 3. Buche des ›Wundertätigen Wortes‹ vor. Meines Erachtens ist dieser Entzifferungsversuch recht enttäuschend und überdies willkürlich-spielerisch. Im 2. Buch gibt Reuchlin zunächst die Deutung der vier Konsonanten. Sie sollen einen Zusammenhang mit den geometrischen Elementen (Punkt, Linie, Fläche, Körper) haben. Der erste Buchstabe, das Jod, im Hebräischen ein geschwänzter Punkt, bedeute natürlich einen Punkt; außerdem wird nach der ›Gematria‹ genannten Methode, die — 163 —

jedem Buchstaben einen Zahlenwert zuordnet (analog auch im Griechischen, wie Leisegang in seiner ›Gnosis‹ darlegt), durch den zehnten Buchstaben, eben das Jod (Jota), die Zehnzahl der Sfirót, also der ganze Kosmos repräsentiert. Das H, im Hebräischen der 5. Buchstabe, stehe statt der Fünf, das ist: die Zweizahl plus die Dreizahl, Polarität plus vereinigende Trinität. Der dritte Buchstabe W ist 6, also Zweizahl mal Dreizahl. Der Schlußbuchstabe H soll einen Hinweis auf die Menschenseele beinhalten, 5 als Mitte der Zehnzahl, der Mensch zwischen dem Irdischen und dem Himmel, an Pico erinnernd. Es folgen Exkurse über die Geschichte der Erzväter, über die Jakobsleiter, über den schem ham’forásch d. h. den explizit dargelegten, entfalteten Gottesnamen. Reuchlin schreibt irrig hamaphoras. In der modernen wie auch in der alten hebräischen Sprache ist ›mefaresch‹ ein sehr gebräuchliches Wort für ›erklären, erläutern, explizieren‹. – Reuchlin führt die Offenbarung (revelata expositio) des vollständigen Gottesnamens auf das Buch tehillim (Psalmen) zurück und bringt 72 hebräische Engelnamen, die ihm offenbar besonders viel sagen, so daß er sie in der ›Kabbalistischen Wissenschaft‹ wiederholt. Sidonius vergleicht das Tetragrammaton mit der heiligen Tetraktys, der Vierzahl der Pythagoräer. Baruchias führt weitere Analogien zwischen dem Hebräischen und Griechischen an, darunter weithergeholte und wenig überzeugende wie den griechischen Erdumfasser Okeanos und den biblischen Chaibar-Fluß. Die Bildfreudigkeit des kaum überwundenen Mittelalters bricht hier auf, feiert neue Triumphe, überschlägt sich, alles wird zum Symbol, zur Personifikation, zur Metapher. Endlich meldet sich der nie ganz verdrängte rationale Teil des Verfassers (Reuchlin). »Doch schon ist die Sonne untergegangen – äußert Baruchias – und ihr seid gewiß — 164 —

vom Zuhören müde. Die übrigen Teile der Belehrung überlasse ich dem Capnion für morgen. Jetzt wollen wir hier eintreten und an die Mahlzeit denken. Darauf Sidonius: So sei es. Und Capnion: Es sei, denn prächtig steht das Mahl bereit.« 5

Am nächsten Morgen muß Capnion der ›ungeheuren Sehnsucht‹ der beiden nachgeben. Er beginnt mit Meditationen über den Satz der Evangelien: »Niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn zu enthüllen beliebt hat.« Dreierlei sei zu bewundern: zunächst daß eine Jungfrau empfangen konnte – sodann daß eine Jungfrau gebar – und drittens, daß der auf solche Art Geborene zugleich Gott und Mensch war. »Dies steht in allem Einzelnen gegenüber den bösartig leugnenden und unwilligen Hebräern fest. Zeugenschaft hiefür legt die allgemeine Kirche unserer Ahnen ab.« – Zu den Einzelheiten der Geburt wird mit kaum mehr überbietbarer Deutlichkeit ausgeführt, daß die Jungfrau keinen Embryo, sondern einen vollendeten Mann in der Gebärmutter getragen habe. Ich führe all das nur an, um zu zeigen, bis zu welchem Grade Reuchlin orthodox-katholisch war, vielleicht sogar hypertroph dogmatisch (außerhalb der kirchlich akzeptierten Dogmatik) fühlte und zuweilen in pedantisch scholastischen Kategorien dachte, obwohl er zugleich auch an der Schwelle einer neueren Denkweise stand, die uns verständlicher ist. Es fällt mir nicht ein, gegen das Mysterium zu polemisieren (was ein Denkwiderspruch wäre, eine Grenzüberschreitung in Gebiete des Glaubens, die der Ratio entzogen sind). Ich will nur Reuchlins (mit Unrecht angezweifelte) Orthodoxie hervorheben, die unter anderem — 165 —

auch seine prinzipielle Abneigung gegen die seinen Glauben nicht teilenden Juden veranlaßt hat – auch gegen den Islam (siehe seine Komödie Sergius), wie später auch gegen Luther. Es ist absurd, Reuchlin als Vorläufer der Reformation einzuordnen. Er war (in vielen Punkten) ein freier Denker, der die redliche Absicht hatte, in dem, was er als weltlich, als bloße Linguistik ansah, sich nur auf sein unbefangenes Urteil zu stützen; – aber gerade ein freier Denker war ja Luther keinesfalls, mag ihn auch Heine in einer seiner vielen groben Fehldiagnosen als Bahnbrecher der deutschen Philosophenschule, als eine Art Kant vor Kant rühmen. Gleich im nächsten Absatz zeigt Reuchlin die Grenzen seiner linguistisch bestimmten Inspiration. Mit dem methodischen Grundsatz könnte man zwar übereinstimmen: Über die Gottheit (de divinis) wissen wir nichts, außer durch den prophetischen Geist, das ist: durch eine uns von oben zukommende Offenbarung. – Aber schon vorher hat eine falsch übersetzte Jesajastelle (VII, 14) die Grundlage gebildet. »Eine junge Frau wird einen Sohn gebären« heißt es. Reuchlin übersetzt das hebräische Wort für junge Frau ›alma‹ in der üblichen Weise irrtümlich mit ›Jungfrau‹, – ein Fehler, der heute bereits in manchen Ausgaben (z. B. in der Textbibel von Kautzsch und in der offiziellen englischen Bibelübersetzung) korrigiert ist. – Im weiteren muß der 118. Psalm, Vers 22 zur schiefen Interpretation herhalten. Vom Stein ist dort die Rede, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist. Reuchlin deutet das hebräische Wort éwen (Stein) als Zusammensetzung von aw (Vater) und ben (Sohn). Auf diesem Pfad wird ihm wohl niemand Nachfolge leisten. Ferner findet er im Wort ›bará‹ (er schuf) – das zweite, nicht, wie Reuchlin angibt, das erste Wort der Genesis – in den drei Konsonanten (beth, resch, alef) den ›Vater‹ (alef – — 166 —

aw), den ›Sohn‹ (ben) und zwischen ihnen den ›heiligen Geist‹ (ruach) angedeutet. Man muß wohl diese Auslegung gezwungen finden, denn zum Zwecke einer solchen Sinngebung müßte ja das Wort ›bará‹ nicht in der Weise, die dem Hebräischen entspricht, sondern in der umgekehrten Richtung gelesen werden. – Im Anschluß wird aus dem Heptaplus des Pico von Mirandola (ohne Angabe des Autors) die bereits oben dargelegte, seltsame Etymologie des Wortes ›schamájim‹ (Himmel) angeführt, das aus ›esch‹ (Feuer) und ›majim‹ (Wasser) als den beiden Urelementen zusammengesetzt sein soll. – Dies alles verdient wohl mehr der Kuriosität wegen als aus ernstzunehmenden linguistischen Gründen angeführt zu werden. Es ist eine Philologie auf dem freischwebenden Trapez. Auch der Exkurs über das griechische Wort ›aithér‹ und seine angeblichen Bestandteile ›aitho‹ (ich brenne) und ›aër‹ (Luft) gehört mehr in das Gebiet der humoristischen KratylosSpielereien als in das erkenntnissuchender Forschung. Die beiden phantastischen Ableitungen der Worte ›schamajim‹ und ›aither‹ sollen einander (so will es Reuchlin) irgendwie gegenseitig stützen; der exakte Grund, warum das so sein soll, ist unerfindlich. Wesentlich dagegen ist in dem nachfolgenden Absatz über die Trinität das feierliche Proömium, das mit den Worten anhebt: »Decrevit reipublicae Christianae senatus populusque fidelis ita sentiendum …« (Es hat der Senat und das treue Volk der Christlichen Republik den Beschluß gefaßt, es sei Folgendes zu glauben …) Der Anklang an das antike Rom ist deutlich und gewollt. Das renaissancehafte Zusammendenken von altrömischem Imperium und christlichem Glauben gewinnt posaunenden Ausdruck. Endlich gibt im 12. Kapitel des dritten Buches Capnion das ›wundertätige Wort‹ bekannt. Er beruft sich auf die — 167 —

Verkündigung des Engels an Maria, laut dem Evangelium Lukas. »Und du wirst einen Sohn gebären und seinen Namen JHSUH nennen.« Es wird also der unaussprechbare Gottesname des Vierbuchstab-Wortes JHWH durch Einschiebung eines fünften Buchstabens, des S oder Sch (die beiden Buchstaben unterscheiden sich im Hebräischen nur durch den Punkt auf der linken resp. rechten Seite) aussprechbar gemacht. Dabei macht Reuchlin rechtens von der Eigenschaft des hebräischen W Gebrauch, das wie das lateinische V auch U gelesen werden kann; setzt sich aber über die Tatsache hinweg, daß der hebräische Name für das lateinische Wort Jesus, der Jeschua oder Jehoschua oder auch Jeschu lautet, in den beiden ersten Fällen mit stummem Ajin und keinesfalls mit stummem H am Ende geschrieben wird. Auch das U wird anders geschrieben, als Reuchlins Phantasie es voraussetzt. – Ohne diese Schwierigkeiten, vielmehr Unmöglichkeiten der Deutung zu beachten, stimmt Capnion, nachdem er seine Entdeckung bekanntgegeben hat, ekstatische Jubelworte an. Er intoniert gleichsam einen Hymnus. Mit vernunftbegrenzten Gegenreden ist solch glühender Emotion nicht beizukommen. »Es gibt keine Kraft im Himmel und auf Erden, die dem Namen Jhsuh Widerstand zu leisten wagte.« Reuchlin, der Dichter, meldet sich hier, nicht der Dichter höflicher Gelegenheitsverse oder volkhafter Schulkomödien, sondern der unmittelbar in tiefster Seele berührte und aufgerührte Lyriker, dem unsterblichen Sänger der »flaumenleichten Zeit der dunkeln Frühe«, dem andern träumerischen Schwaben aus späterem Jahrhundert, dem lieblich-großen Mörike innerlichst verwandt, – freilich dem Zeitalter gemäß mit robusterer Glaubenskraft ausgerüstet als der zarte Nachfahr. Reuchlin, der Dichter, bricht in die ungestümen Worte an seine Gesprächspartner aus: »Was bleibt ihr wie angedonnert in starrem Bann? Was blickt — 168 —

ihr mich mit unbeweglichen Augen an?« Wie das Wort Fleisch geworden sei, so seien (durch das eingeschobene Sch, dem Zeichen des Feuers, esch) die toten Buchstaben in klingende Laute übergegangen. Im Feuer, wie Gott im Feuer auf dem Sinai erschienen ist. »O angenehm zu hören, diese Sache.« Seine Begeisterung flutet über alle Grenzen und Bedenken hinweg. »Ich will noch einige weitere Freude hinzufügen« – und er verbreitet sich über die Mathematik des Alphabets, die schon erwähnte ›Gematria‹. Er hebt mit Stolz hervor, daß auf andere Erlöser ähnliche Namensbeziehungen nicht passen; er erzählt von den Wundern, die der Name Jesus geschichtlich bewirkt hat, wobei er in nicht zu überbietender Naivität die Wundertaten Josuas, des Nachfolgers Mosis, und nach gutem altem Kirchenbrauch die der Makkabäer miteinbezieht. Er berichtet entzückt von den Reisen des Paulus und den Wundern, die dieser mit Hilfe des Namens Jesus verrichtet habe. Desgleichen über die Wundertaten des Evangelisten Johannes. Er führt zusammenfassend die drei Gottesnamen an, von denen jeder für einen bestimmten Weltäon Geltung habe, – für den Äon der Natur: der Name Schaddai (der Mächtige), für den Äon des Gesetzes: der Name Adonaj (unser Herr) und jetzt für den Äon der Gnade der von ihm, Reuchlin, aus dem Tetragrammaton abgeleitete Name JHSUH. – Die merkwürdige Entdeckung wurde rasch populär, sie hat Reuchlins europäischen Ruhm auf eine neue höhere Stufe gehoben. Reuchlins Buchdrucker und Verleger Anshelm beeilte sich, die fünf Buchstaben des Heils in sein Verlagssignet zu setzen. Es ist klar, daß alle diese Geschehnisse und Gemütsbewegungen, in der Sprache unseres nüchternen technischen Zeitalters nacherzählt, einen grellen, falschklingenden Ton mitenthalten, den man sich wegdenken muß, um dem, was damals tatsächlich in äußeren Gestalten wie — 169 —

auch in den Herzen und Regungen vor sich gegangen ist, einigermaßen gerecht zu werden. Daß man bei Vorzeigung der alten Tatsachen immer wieder auf die Worte ›seltsam‹, ›merkwürdig‹, ›kurios‹ gestoßen wird, ist ein Zeichen, daß dabei etwas nicht ganz stimmt (denn den Menschen damals war ja das Dargestellte gar nicht seltsam oder kurios), daß es unserem Verständnis entrückt ist, daß man nur mit schlechtem Gewissen sich familiär dazu zu stellen unternimmt. Ebenso sicher aber ist es, daß Zeitperioden kommen werden, in denen man den Denkmethoden wie den Gefühlsweisen der Reuchlinschen Zeit wieder näherkommen wird, sei es zum Heile, sei es zum Unheile der Menschheit, – hoffentlich aber in geläuterter, entbarbarisierter oder, wie Novalis sagt, entwilderter Strömung der Weltgeschichte. – Die Schlußbetrachtung des Werkes bezieht sich auf die These: »quod Christus non sit sine cruce« (daß Christus nie ohne das Kreuz zu denken sei). »Dies ist das zweite Holz des Paradieses (sc. der Baum des Lebens, I. Moses 2, 9), das Holz, das süß als Speise zu genießen, das schön anzuschauen und im Gefühl genußreich ist.« Es scheint mir, daß dieser Gefühlsrausch Reuchlins pietistische Neigungen einer späteren Geschichtsepoche antizipiert. Er ist eine nahezu perverse Verklärung des fürchterlichen Marterinstruments, die dem praktisch-kühlen Pronuntiamentum Ciceros, das Kreuz sei nützlich, um rebellische Sklavenaufstände zu dämpfen, strikt zuwiderläuft – doch die von der andern Seite her, polar entgegengesetzt, ins Spirituale weisend, ebenso schauerlich die Grenzen des Menschlichen sprengt wie Ciceros Satz. – Reuchlin schließt: »Mit dem Kreuz also und nicht ohne das Kreuz ist unser Vorgehen leicht. Die abseits von diesen Richtlinien tätig sind, verlieren Mühe und Aufwand, arbeiten vergebens, sind der Gefahr ganz nahe und werden die Verdammnis ihrer — 170 —

Nichtigkeit zu erleiden haben.« Den beiden Gesprächspartnern wird nun auch, um ganz deutlich zu werden, mit der Erzählung gleichsam gedroht, die von zwei jüdischen Exorzisten handelt, – die hätten mit dem Namen Jesus und unter Berufung auf Paulus einen von bösen Dämonen Befallenen besprechen und heilen wollen. Doch da habe eine Geisterstimme verkündet: »Jesus kenne ich und von Paulus weiß ich, wer aber seid ihr?« Da hätten die zwei nackt und verwundet davonlaufen müssen. (Man findet die Urgestalt dieses Berichts in ›Der Apostel Taten‹, Kapitel 19, wo allerdings keine Geisterstimme, sondern konkreter der »böse Geist«, der vertrieben werden soll, redet und sich der beiden »herumziehenden Beschwörer« bemächtigt, die übrigens ›Söhne eines jüdischen Oberpriesters Skeuas‹ sind. Fatalerweise beendet eine ›Bücherverbrennung‹ das erbauliche Stück. Der Wert der verbrannten Bücher wird mit einem leisen Unterton von Schadenfreude genau angegeben – 50 000 Drachmen.) Doch diese peinlich-kleinliche Erzählung hindert unsern Capnion nicht, seine beiden Gesprächspartner im weiteren höflichst als »doctissimi viri« (hochgelehrte Männer) anzureden, obwohl nicht etwa gesagt ist, daß sie sich nun unter das Zeichen des Kreuzes begeben hätten. – So stehen in jener Zeit Toleranz und Intoleranz, zumindest bei auserwählten Geistern wie Reuchlin, unvermittelt und keines Ausgleichs bedürftig nebeneinander. Widersprüche stören eben nicht immer und nicht jeden. Capnion ist vielmehr geneigt, ihnen nun das Geheimste anzuvertrauen, das man nur in aurem susurrare, ins Ohr flüstern kann. »Ich bitte dich, Sidonius, näherzutreten, damit ich dir meinen Anhauch vermitteln kann. Willst du? – Und jener: Ich will. – Darauf Capnion: Sile, cela, occulta, tege, tace, mussa. (Schweige, verheimliche, verbirg, decke zu, sei still, murmle.) Und du, Baruchias. Auch du leihe — 171 —

mir, nichtsdestoweniger dein Ohr. Hast du mein Wort richtig aufgenommen? – Und jener: Ich habe es und schön genug. – Und auch dich, sagte Capnion, mahne ich, es dem Pöbel nicht preiszugeben. Denn um was immer ihr auf solche Art beten möget, es werde euch gewährt. Nun also gehe ich. Seid in guter Gesundheit stark und verehret das wundertätige Wort auf recht himmlische Weise.« So schließt das Werk, das als ein zwischen Theologie, Philosophie und freier Dichtung sich bewegendes Gebilde von nicht nachahmbarer Eigenart und subtilem Wert hochzuhalten ist. Um diesen Abschnitt nicht mit allzu hohen Tönen zu beschließen, will ich einen ergötzlichen Druckfehler mitteilen, den ich in der von mir benützten alten Ausgabe vorgefunden habe. Es ist nicht der älteste Druck, sondern (nach Benzings Register) der vierte, übrigens ein miserabel kleingedrucktes Exemplar, 1552 bei Joan Tornaesius in Lyon erschienen. Der erste Druck ist 1494 bei Johann Amerbach in Basel herausgekommen, stand mir aber bei meiner Arbeit nicht zur Verfügung. – Der Druckfehler: Im zweiten Buch, in dem Baruchias zum erstenmal den vierbuchstabigen Gottesnamen preisgibt, druckt ihn der übereifrige Verleger schon als fünfbuchstabigen (JHSUH), so daß schon hier die ›Entdeckung‹ des dritten Buchstabens vorweggenommen ist. Es ist wie bei einem schlechten Witzeerzähler, der mit der Pointe nicht zurückhalten kann, der sie zu bald bringt und damit alles verdirbt. Sollte am Ende Freud mit seiner Theorie des Versprechens, Verschreibens usw. recht haben? Ich bin kein unbedingter Anhänger Freuds, halte vieles, was er vorträgt, für falsch, – aber dieses Beispiel des wackeren Tornaesius aus dem 16. Jahrhundert gibt zu denken. — 172 —

FÜNFTES KAPITEL

Humoristisches Zwischenspiel: Die beiden Komödien 1

Erst 11 Jahre später, im Jahre 1505 kam Reuchlin auf das jüdische Problem zurück. Zunächst suchte er 1496 die Hilfe Dalbergs – oder Dalburgs – beide Varianten des Namens kommen vor. Der Name der Familie Dalberg ist aus Schillers Lebensgeschichte nicht wegzudenken, für immer verknüpft mit der Uraufführung der ›Räuber‹ in Mannheim und (leider) der nachher einsetzenden Intrigen, wie Schillers Freund Andreas Streicher sie schildert. – Ungleich seinem Nachfahren, dem listenreichen Theaterintendanten, war Johann von Dalberg, der Bischof von Worms, ein echter Freund geistiger Bemühungen. Über seine enge Beziehung zu Reuchlin mag man den Anfang des vorigen Kapitels nachlesen. Hier bleibt das Motiv von Reuchlins Flucht zu Dalberg, an den Heidelberger Hof, etwas genauer nachzutragen. Im Februar 1496 starb Herzog Eberhard. Einem Vertrag gemäß fiel die Herrschaft, da der Herzog keine legitimen Erben hinterließ, an dessen Vetter, Eberhard den Jüngern, dessen Lebenswandel weder Gesetz noch Zügel kannte. Nun hatte Reuchlin dabei mitgewirkt, daß Herzog Eberhard den Günstling seines Nachfolgers, einen Augustinermönch namens Conrad Holzinger, in Mainz verhaftet und als Gefangenen nach Tübingen gebracht hatte. Über die näheren Umstände ist wenig und überdies Widerspruchs— 173 —

volles überliefert. Jedenfalls kam mit dem jüngeren Eberhard nun Holzinger wieder zur Macht. Und Reuchlin hatte seine Rache zu fürchten. Er floh in Eile. Seine Frau ließ er in Stuttgart zurück. Vielleicht meinte er (so erklärt der milde Ludwig Geiger diesen Schritt), »die Prüfungszeit werde rasch vorübergehen, vielleicht wollte er sich nur schnell in Sicherheit bringen«. Über diesen jüngeren Eberhard schreibt ein Zeitgenosse (Nauklerus), Professor in Tübingen, deutlich genug an Reuchlin: »Es ist nicht leicht, an der Seite dieser Viper seinen gesunden Schlaf zu behalten.« – Reuchlin folgte einer Einladung des Bischofs (1491), wie wir im vorigen Kapitel dargelegt haben. Und er blieb mehr als zwei Jahre lang. Einem Brief Johannes Wackers (Vigilius) ist zu entnehmen, daß Reuchlin im November 1499 bereits nach Stuttgart heimgekehrt war. Der Brief ist voll von ehrlichster Sehnsucht nach Reuchlin. Er meldet viel Scherzhaftes, unter Tränen Lächelndes, z. B., daß Dalberg ein Faß guten Weines an Reuchlins Frau zu schicken beschlossen habe, »ut consensum praestet« (damit sie einwillige, ihn »zumindest für diesen Winter« als Lehrer an Heidelberg zurückzuerstatten). Schon im April 1498 hatte sich Württemberg von der Mißherrschaft des jüngeren Eberhard befreit. Es folgte der unmündige Herzog Ulrich, der später im Leben Ulrichs von Hutten eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat und von ihm als Mörder und Tyrann stürmisch angegriffen wurde. Reuchlin scheint übrigens lange Zeit hindurch recht gut mit ihm ausgekommen zu sein. Später allerdings trübte sich diese Beziehung bis zur Feindseligkeit. – Zunächst regierte übrigens nicht Ulrich, sondern ein ständiger Rat, von Kaiser Maximilian bestätigt. Reuchlin befand sich damals auf seiner dritten Italienreise (vgl. die oben ausgeführte Episode mit Owadja Sforno), – nach Beendigung einer Mission im Auftrag des Kurfürsten Philipp von der Pfalz erging nun — 174 —

an ihn die Einladung, als hoher Staatsbeamter (Sueviae judex ordinarius, auch Sueviae triumvir) seine unterbrochene Laufbahn in Stuttgart fortzusetzen. Reuchlin nahm an. Die Heidelberger Jahre waren wohl die wolkenlosesten im Leben Reuchlins, – die Ruhe vor dem großen Sturm, vor dem Streit mit den Kölnern. In Heidelberg hatte sich rings um den heitern und hochgebildeten Bischof Dalberg der Humanismus aufs schönste durchgesetzt. Hier bewährte sich, nicht zum erstenmal, das alte deutsche Sprichwort: »Unter dem Krummstab ist gut wohnen.« – Der Kreis um den Bischof (Wimpheling und die andern, s. Kapitel IV), nicht die Universität, zeigte sich dem neuen Wesen aufgeschlossen. An der Universität galt es immer noch als ketzerisch und unerlaubt, die hebräische Sprache zu unterrichten. Ja sogar dem Griechischen stand man, der Kirchenspaltung wegen, mit Mißtrauen und Mißwollen gegenüber. In dieser Hinsicht konnte auch der berühmte Reuchlin keinen Umschwung durchsetzen. Im übrigen war er hochgeehrt. Er stützte sich auf den Bischof, der zugleich Kanzler des Kurfürsten Philipp von der Pfalz war, auf die Männer der ›Rheinischen Sodalität‹, wie auf den Kurfürsten Philipp selbst (›Philipp den Aufrichtigen‹). Philipp verlieh ihm im Dezember 1497 ein Doppelamt: er machte ihn, allerdings nur für ein Jahr, zum fürstlichen Rat und zum ›obersten Zuchtmeister der fürstlichen Söhne‹. Die Besoldung: 100 Gulden, zwei Pferde und ein Hofkleid. Als Rat wurde dann Reuchlin nach Rom geschickt, um den Pfalzgrafen vom päpstlichen Bann zu befreien und für den Sohn des Pfalzgrafen einen Ehedispens zu beschaffen. In beiden Angelegenheiten, deren Details nicht in den Umkreis dieses Buches gehören, hatte Reuchlin Erfolg. Der Papst, mit dessen Beamtenschaft er zu verhandeln hatte, — 175 —

war Alexander VI. (Borgia). Reuchlin hielt eine rhetorisch äußerst geschickte Rede an den Papst, in der er die Sache des Pfalzgrafen gegen Übergriffe des Abtes von Weißenberg verteidigte. Die Rede ist gegenüber der Kirchengewalt respektvoll, ja liebevoll gehalten, sie zeigt, zum Unterschied von den römischen Eindrücken Huttens und später Luthers, nicht die geringste Spur eines antipäpstlichen, antikurialen oder antirömischen Affekts, sie gehört zu den vielen Dokumenten, die Reuchlins streng katholische Glaubenstreue bezeugen. Nur indirekt, der ungewollten Wirkung nach, nicht intentionsmäßig kann man ihn den Vorläufern der Reformation zuzählen (wie dies so viele ehrliche Katholiken, auch Erasmus, waren). – Die Rede ›Ad Alexandrum Sextum pontificem maximum pro Philippo Bavariae duce Palatino Rheni, Sacri Romani Imperii electore‹ erschien 1498 im berühmten Humanistenverlag von Aldus Manutius zu Rom. In Heidelberg stand Reuchlin die reichhaltige Bibliothek des Bischofs zur Verfügung, er hatte Freunde und Gleichgesinnte um sich, lebte unbedroht, philosophisch glücklich. Rückblickend schreibt er in einem besonders beschwingten Brief an den schon genannten Vigilius, er würde gern an jener »Hausgenossenschaft (contubernium) wieder teilnehmen, wo durch kluge und scharfe Geister nicht nur die Schätze der alten Meinungen ausgegraben, sondern auch die Errungenschaften der Gegenwart erforscht werden, so daß alle göttlichen und menschlichen Dinge bei immer vollen Bechern bis in die späte Nacht hinein nach dem Vorbild des Aristoteles unparteiisch disputiert werden – … Erinnerst du dich, wie ich einmal behauptete, daß zwei Prinzipien, die einander bekämpfen, einander widersprechen, in einem sehr fernen Augenblick beide wahr sein könnten, und wie damals jener Theologe Andreas in ein wildes Lachen ausbrach: Wo — 176 —

Titelseite von Reuchlins ›Augenspiegel‹. Tübingen 1511.

liegt dieser Augenblick Capnions?« (Man kann diese wichtige Briefstelle auch als Beweis für den Einfluß des Cusaners und seiner ›coincidentia oppositorum‹ auf Reuchlin anführen.) Trauernd schrieb Dracontius, ein Schüler des Dichters Celtes, über diese Symposien, bei denen Reuchlins Anwesenheit vermißt wird: »Man leert bacchantische Becher. Doch stellt sich beim Mahle Vater Apollo nicht ein, der einst die hohen Geister jener Männer bewegte.« Auch Reuchlin selbst wird besungen, so von dem kaiserlichgekrönten Dichter Celtes, der in einer neunstrophigen sapphischen Ode frei nach Horaz ziemlich unverfroren, aber im Grunde völlig naiv, im humanistischen Zeitstil, den Anspruch erhebt, dem Reuchlin zu ewigem Ruhme verholfen zu haben (durch seine heute verschollenen lateinischen Verse): »Dich verehrt der Herr, den des Rheines Städte Rühmen, dich erwärmt der Genossen Liebe Und durch meine Lieder für alle Zeiten Dauert dein Name.« Treuherziger, echter wirken die (gleichfalls lateinischen) Zeilen, die der Heidelberger Professor der Rechtswissenschaft Adam Wernher beim Abschied an Reuchlin richtet: »Kaum eine einzige Mahlzeit hat freundlich uns beide verbunden Und schon sind wir getrennt. Reuchlin, lebe, sei stark.« Am schönsten aber kommt das genialische Treiben des Heidelberger Kreises in realistisch handfesten Briefworten unseres Vigilius an Reuchlin zur Erscheinung. »Und glaubst du etwa, daß ich nicht auf deine schleunige Rückkehr brenne? Du mußt das rechtens glauben, denn ich habe keinen, der mir lieber wäre als du und der nach unserer Sitte bis in die tiefe Nacht hinein meine neuen guten — 178 —

süßen Weine in großen Mengen kosten, prüfen, hinunterschlucken würde. Ich hoffe ja im nächsten Jahr wieder Fässer eines nicht schlechteren, nicht weniger süßen, neuen Weines zu besitzen. Und dann werde ich keinen haben, der, wenn man des Morgens aufstehen und die Kleider anziehen muß, seine und meine Kleider durcheinander anlegt. Was sonst noch? Mein einziger Trost wird mir fehlen.« Und dann lädt er ihn ein, wenigstens den ganzen kommenden Winter mit ihm zu verbringen: »Auf meine Kosten.« Wenn das aber unmöglich sei, so solle er ihm wenigstens sein häusliches eremitisches Leben beschreiben. »Ich bin nämlich überzeugt, daß du dich in der Einsamkeit deines Hauses nur mit deinen Büchern verkriechst und dich, wie du es vorgehabt hast, von den Geschäften des Hofes fernhältst.« Worte, in denen man eine sanfte Ironie nicht verkennen wird. Denn gerade nach seiner Rückkehr hatte Reuchlin in Stuttgart sehr viel mit Hofgeschäften zu tun. 2

In der frohen Heidelberger Luft entstanden die beiden Komödien Reuchlins. Reuchlin war nicht der erste, der auf dem Wege der freien Nachahmung des Terenz und Plautus deutsche Theaterstücke in lateinischer Sprache zu schaffen versuchte. Außer den durch Celtes im Regensburger Benediktinerstift Sankt Emmeran aufgefundenen und 1501 herausgegebenen (also von Reuchlin bei Abfassung seiner Komödien nicht gekannten) sechs Märtyrer- und Heiligendramen der Nonne Hroswita (Roswitha) von Gandersheim (um 930 geboren) hatte es gerade in Süddeutschland einige Vorgänger Reuchlins gegeben, unter ihnen den Gelehrten Wimpheling. Doch würde dies der Bedeutung der Komö— 179 —

die ›Sergius‹ keinen Abtrag tun, wenn sie nur einigermaßen besser durchgearbeitet wäre. Die zweite, die Bauernkomödie, steht in jeder Hinsicht weit höher. Auch technisch. Und vor allem im Hinblick auf das Haupterfordernis einer Komödie: Lustigkeit. Beide Stücke haben bei den Zeitgenossen und noch in den folgenden Generationen viel Beifall gefunden. Es sind noch zu Lebzeiten Reuchlins erstaunlich viele Ausgaben erschienen. Aufgeführt und von Späteren nachgeahmt wurden allerdings nur die ›Scaenica Progymnasmata‹. ›Sergius oder Das Haupt des Hauptes‹ ist der Titel des ersten Versuchs: ›Sergius vel Capitis caput‹. Auf die satirische Tendenz deutet schon der Titel. Ein Schwindler hat sich zum ›Haupt‹ des Fürsten emporintrigiert und beherrscht nun sowohl den Landesfürsten wie das Land. Zweierlei wird in dem gleichen Symbol angegriffen: die Günstlingswirtschaft und der Reliquien-Mißbrauch. Doch um zu dieser entscheidenden Auseinandersetzung zu gelangen, die erst im Schlußakt klar wird und zweifellos den besten Teil der übermütig sein-sollenden, jedoch meist nur pedantisch wirkenden Dramen-Klitterung bildet, müssen wir uns zwei Akte lang über allerlei trübe Vorstufen hinweg durchwinden, die zum großen Teil vom Thema weitab führen. So kurz das Werkchen ist, so wirr, ja unlogisch ist es. Die kaum 500 Verse der drei Akte fahren in alle möglichen Richtungen auseinander. Übrigens entschuldigt sich im Prolog der Autor, daß er infolge Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit eine Arbeit von nur drei Akten vorlegt. Sollte er fühlen, daß seine ›Primitien‹ gefallen haben, so verspricht er in Zukunft »vollständige Komödien« (integras, d. h. Fünfakter, nach dem Vorbild der Antike). So ist denn auch das zweite Stück, zwar der Verszahl nach auch — 180 —

nicht länger, aber in fünf Akte eingeteilt und entwickelt sich, was bedeutsamer ist, in witzig konsequenter Handlung, freilich auf der Basis einer älteren französischen (oder italienischen) Possen-Vorlage. Darüber später mehr. Im Vergleich mit diesem zweiten, abgeleiteten, aber doch mit vielen selbständigen Details ausgeschmückten Lustspiel wird die dilettantisch unbehilfliche Art des ›Sergius‹ erst recht spürbar. Ein Chaos. Unschön, willkürlich zerworfen. Es muß gesagt werden, daß der tendenziös brave ›Sergius‹ weniger aufgebaut als zusammengeleimt ist. Doch interessiert er um seiner Sprache willen: humanistisches Buchlatein, das noch um einige Grade gekünstelter und gezierter ist als das sonst in den Gelehrtenbriefen jener Zeit verwendete. In den Hauptwerken selbst schreibt Reuchlin natürlicher, einfacher, sachlicher, – oder auch, an den lyrischen Stellen: dichterischer. In diesem ersten Lustspiel starrt er von stachligen Wendungen, frei nach den römischen Komödiendichtern, mit erfinderischen Wortspielen, die das eigentümlich Lebhafte und doch Tote aller Wortspiele an sich haben, mit massiven Wortverdrehungen, mit Assonanzen im Übermaß. Als Gustav René Hocke sein prachtvoll entdeckerisches Buch ›Manierismus in der Literatur‹ schrieb, hätte er ohne weiteres auch Reuchlins Sergius in sein sprachliches Kuriositäten-Kabinett aufnehmen und damit seinen Lesern eine zusätzliche Freude bereiten können. Wir beginnen. Nach dem Prolog tritt Heluo oder Helvo auf. Wie schon sein Name sagt: ein Mordsschlemmer, ein Schwelger und Prasser. Er beglückwünscht sich zu der hervorragenden Rolle, die er als Parasit spielt. Wo etwas zu trinken ist, trinkt er. Wo es etwas zu essen gibt, verschlingt er Riesenportionen. – Im übrigen ist er, der am Anfang den Eindruck einer Hauptperson macht, eine für — 181 —

das Stück völlig überflüssige Figur. Denn seine drei Freunde, die ihn als Anführer, »tribunus noster« bezeichnen, sind ununterscheidbar, ohne persönlich charakteristische Merkmale, alle drei genau solche Schurken wie er. Sie treten auf, sowie er mit seiner langen monologischen Darstellung des in seiner Familie erblichen, ruhmreichen Sybaritenlebens auf fremde Kosten fertig ist. Und einer von ihnen könnte um so eher von Anfang an seine Rolle übernehmen, als Heluo unversehens und unmotiviert nach dem zweiten Akt aus dem Stück still verschwindet und nie wieder auftritt. Die drei Freunde heißen Salax, Aristophorus, Lixa. Sie sind gewalttätige Vaganten, man könnte sagen: Bohemiens oder Halbstarke der damaligen Sorte. Sie haben etwas von Villon an sich (ohne seine Genialität). Sie kommen mit einem, der, wie aus ihren und seinen Bemerkungen hervorgeht, ein alter Kamerad ist. Sein Name Buttubatta soll exotisch wirken und vielleicht zur Aufheiterung dienen. Das erstere tut er so-so, das zweite kaum, nur daß sich vielleicht (heute, – auch damals?) Assoziationen an die Negerwelt einstellen. Was ja aber an sich auch nichts Komisches ist. – Buttubatta also trägt etwas mit sich, was bei allen solche Neugierde erweckt, als »käme er aus Indien und brächte den Vogel Phönix mit«. Dieses etwas aber stinkt ganz gewaltig, schaut auch sonst gar nicht appetitlich aus. Buttubatta ruft die vier Nichtsnutze zusammen, die er als »Hauptleute der Diebe und Spielleute« anredet. Mit der dem Stück nun einmal innewohnenden eigensinnigen Unlogik will er ihnen aber doch nicht zeigen, was er mitbringt. Es kommt zu einer kaum motivierten, aber ausgiebigen, auch wortreichen Prügelei. Buttu schreit »Gewalt, Gewalt«. Er wird gebunden. Dann sagt er nichts anderes als dreimal »ble«, den Hauptwitz des zweiten Lustspiels vorausnehmend (an dem Reuchlin vielleicht — 182 —

gleichzeitig arbeitete, – oder dessen Musterbild, den ›Meister Pathelin‹, er gerade im Gedächtnis erwog). Mit Gewalt läßt sich also aus Buttu nichts herauskriegen. Auch mit wüstem Geschimpfe nicht, von dem nun ganze Mistkörbe auf der Szene ausgeleert werden. Buttu verlangt, daß man ihn schön bitten soll, dann wird er sein geheimnisvolles Objekt enthüllen. Das also war des Pudels Kern? Der Nichtsnutz will von den vier andern Bettelgenossen oder Straßensängern gebeten, er will als »Gott der Histrionen« anerkannt sein. (Wem bei einer solchen Motivation wohl wird, der glaube an sie!) Aristophorus: Dir oder deinem Scherz-Objekt sollen wir opfern? Buttubatta: Beiden. Denn was ich trage, ist heilig. Er zieht aus einem Gefäß einen abgeschnittenen Kopf. Heluo nennt diesen unverblümt einen »kotigen, mit Dreck beschmierten Kadaver, ein grauenerregendes Haupt«. Worauf Buttu bemerkt, die Kumpane würden die besonderen Eigenschaften des besagten Kopfes noch hochschätzen lernen. Lixa (in plötzlichem Stimmungsumschlag): »Der Mann da macht aus Exkrementen Gold. Von diesem Schwindel werden wir leben.« – Und nun entwirft der mit der Sache unvertraute Lixa, nicht (wie man annehmen sollte) Buttu, den Plan, mit Hilfe »dieses trockenen Knochens« die schwerarbeitenden Bauern dahin zu bringen, daß jeder, von religiösen Gefühlen geführt, seinen Obolus spende. Lixa zeigt sich auf einmal in Buttus Intentionen eingeweiht. Warum? Noch wenige Minuten vorher hatte er keine Ahnung. Oder sieht er die Zukunft voraus? Oder liegt bloß eine Entgleisung des Verfassers vor? Kurz, alle alten Weiber – so sagt er –, alle werden etwas beitragen, alle werden den, wie du sagst, heiligen Schädel küssen. – Es folgt in den nächsten Versen eine staunenswerte, zumindest in der Grundstimmung genaue Antizipation der — 183 —

Thesen, die Luther einundzwanzig Jahre später an die Kirchentüre in Wittenberg angeschlagen hat. Als die Komödie Sergius geschrieben wurde, war Luther 14 Jahre alt und ging zu Magdeburg in die Schule. Die Stimmung der Antipathie gegen die populär weitgehend mißverstandenen, mit Geld zu erkaufenden Gnadenmittel der Kirche war eben schon lange vor der Reformation allgemein verbreitet, war volkstümlich. Die Reformkonzilien von Konstanz und Basel wirkten nach. – Ich übersetze in den Hauptzügen die wichtigsten Verse Reuchlins, zu denen auch die schon erwähnten von den alten Weibern (und die vorhergehenden) gehören. »Du wirst auch, mein Buttubatta, für die Zeit, da uns die Seuche des Hungerns verfolgt, eine Gottheit erfinden, die ein wenig von den Sünden verzeiht, wenn man das Mittel der Versöhnung (die Reliquie) andächtig betrachtet, eine Gottheit, die gegenüber dem Anklagezustand des Menschen Nachsicht übt und vor der Verstoßung in die Hölle Plutos rettet. O Dieb des menschlichen Verstandes!« Darauf Buttu: »Was schreist du? Was bellst du? Ist mir denn verboten, was so häufig, ja allgemein geübt wird, was abgenützt und bei der Obrigkeit bestens im Schwange ist?« Nun macht Salax darauf aufmerksam, daß der Kopf sich in einem verrotteten Zustand befindet. »Er müffelt modrig, riecht scheußlich.« Ein andrer der Spießgesellen kommt auf den naheliegenden Einfall, das Juwel mit warmem Wasser zu waschen. Da ist Buttu beleidigt: Am Ende soll ich den Schädel noch mit einer exotischen Salbe behandeln? – Ihr Diebe, deren Eltern Bauern sind, – schimpft er im zeitgemäßen Ton der Epoche vor den großen Bauernaufständen, – was für Wohlgerüche wollt ihr, daß ich sie euch biete? Zimt oder den Saft der Balsamstaude? Schließlich entschließt er sich zu der Operation, nimmt zwei der Vaganten mit. Lixa und Heluo wollen auf dem — 184 —

Schauplatz warten und inzwischen (überraschenderweise) ›philosophieren‹. Wohl nur, um dem Buttu bei seinem Abgang die Gelegenheit zu bieten, einen ›Witz‹ zu machen. »Philosophieren? Gut. Aber paßt nur auf, ne quid nimis (daß es nicht zuviel wird).« Hier endet das, was sich ›erster Akt‹ nennt. Seine Zerfahrenheit und Zusammenhanglosigkeit wird durch den zweiten Akt noch überboten. Natürlich kann man in jede Ungeschicklichkeit auch eine Absicht hineingeheimnissen. Sollte hier Reuchlin eine Vorahnung der ›romantischen Ironie‹ betätigt haben, die den Rahmen des klassisch abgerundeten Werkes mit Bedacht sprengt, um Herrn Tieck oder Christian Dietrich Grabbe als Autor auf die Bühne treten und allerlei Jocus erdulden zu lassen? (Achtung, Philologen! Hier wäre der Keim zu einer Dissertation gegeben.) – Reuchlin bringt allerdings das Gegenbild seines Ich, einen ›phariseus‹ ins Gefecht, der irrsinnigerweise und richtig romantisch plötzlich da ist und sich, unhistorisch genug, darüber aufregt, daß alles, was soeben von den Zungendreschern gesprochen worden, metrisch gebunden war und daß hier offenbar Dichter, die übel berüchtigten ›poetae‹, ihr VersUnwesen treiben. Er wird natürlich bald nachher von Lixa auf Moses verwiesen, »deinen Seher« (tuus vates), der selbst dem Spiel der Verse nicht abgeneigt war. Es ist schlechthin unerfindlich und noch um eine Stufe weniger motiviert als das meiste in diesem bizarren Intermezzo, daß sich gerade Lixa, der knapp zuvor unserem Buttu so abgefeimte Ratschläge erteilt hat (die dieser allerdings nicht nötig hatte) – daß sich gerade Lixa zum Verteidiger des Humanismus und der »göttlichen Gaben der Dichter« aufwirft. Der Lausbub, jetzt überraschenderweise mit »Gottes Stimme« im schönsten Einklang, zitiert den heiligen Paulus, der seinerseits bekanntlich Dichter wie Menander — 185 —

zitiert hat, er hat auch für die Propheten etwas übrig und prägt sittlich wie ästhetisch einwandfreie Sentenzen wie: »Poesie ist der Anfang aller Dinge und war früher da als Himmel und Erde, vor allem andern.« Man hätte solche schwerwiegende Einsichten dem frivolen Lixa am allerwenigsten zugetraut. Jetzt hat er sich als Sprachrohr Reuchlins, als dessen Vertreter im szenischen Arrangement aufgetan. Vorher war er ein Auswurf komischer Verworfenheit. Er wird uns im sogenannten ›dritten Akt‹ noch einige weitere Metamorphosen seines offenbar höchst unstabilen Ich vorreiten. Vorläufig erleidet er noch einen kleinen Rückfall, die hohe Kultur verläßt ihn; er beschimpft hemmungslos den Pharisäer als »Wildesel«, als »völlig ungelehrtes Ungeheuer«. Die Schriften von Baeck und Herford, die die wahre Wesenheit der Pharisäer, der ersten Volkspartei, festgestellt haben, kann er ja infolge der Zeitdifferenz nicht studiert haben. Trotzdem müßte er nicht so unmanierlich nochmals »belua« (Untier) brüllen. Der Pharisäer aber nimmt es ihm nicht weiter übel, in seines Nichts durchbohrendem Gefühle geht er reuevoll ab und äußert nur noch, der Deutlichkeit wegen: »Ich gehe nach Hause, unter der Last der miesesten Anschuldigungen.« Er wird von dem edlen Heluo von der Szene wegeskortiert, und es wird ihm bedeutet, daß er, wenn er muckst, Fäuste zu spüren kriegen wird. Das Gute dabei ist, daß wir nun auch den Heluo endgültig los sind. Damit endet diese Episode, die wir dramaturgisch nicht vermißt hätten, wenn sie ungeschrieben geblieben wäre. Man wird sie immerhin als Temperamentausbruch, als Protest gegen das unduldsame, die Heidelberger Universität damals beherrschende Mönchswesen, als Vorahnung und Vorspiel von Reuchlins Kampf mit den Kölner Dominikanern und speziell der Dunkelmännerbriefe in Ehren — 186 —

halten. Der Meinung von Hugo Holstein, dessen vortreffliche Textausgabe der beiden Komödien (1888) nebst ihren reichen historischen Beigaben ich benütze, kann ich mich trotzdem nicht unbedingt anschließen. Et schlägt vor, die Komödie Sergius »als eins der bedeutendsten literarischen Erzeugnisse zu betrachten, welche die der Reformation vorangehende Zeit hervorbrachte«. – Nur nicht übertreiben, bitte! Der dritte Akt läßt uns sodann in buntem Gemisch sowohl die schlechtesten, in sich widerspruchsvollsten wie die besten, männlichsten Stellen des Ganzen zu unserem Ärger und zu unserer Freude wechselnd angedeihen. Zuerst wieder eine kleine Probe der obligaten terenzischen Schimpferei. Buttu und die zwei andern Schmarotzer kommen mit dem gebadeten Schädel. »Glänzt er jetzt nicht schön und fein?« Aristophorus: Wo hast du diesen Totenkopf gefunden? Buttu: Im Beinhaus, unter faulenden Knochen. Wo die Reichen wie die Armen liegen. – Obwohl also die Herkunft des suspekten Gegenstandes der Devotion unmißverständlich feststeht, verlangt Buttu, ohne auf Logik irgendwelchen Wert zu legen, der Schädel solle geehrt und geküßt werden. Einer der Vaganten meint freilich, diese Binse habe ihren Knoten – alles sei noch reichlich unklar. Ein anderer: Der Schädel könnte ja auch von einem Vampyr stammen, der nachts umgeht, die Schlafenden schreckt, ihnen die Gesichter zerkratzt. Buttu peroriert dagegen: »Dieser Schädel ist der würdigste aller Menschenschädel. Man richtet Bitten an ihn, er gibt Ratschläge. Und was er rät, das führt der Herrscher aus. Alle Macht liegt in seiner Hand.« Wogegen Salax mit nicht unplattem Witz einwendet, daß der Schädel naturgemäß keine Hände habe. Es wird — 187 —

nun allmählich klar, daß das Requisit symbolischer Art ist und für einen Höfling steht, der sich dem Fürsten unentbehrlich gemacht hat. Man nimmt an, daß die Satire gegen den erwähnten Mönch Conrad Holzinger gerichtet war, der sich ins Vertrauen des Herzogs Eberhard des Jüngeren geschlichen hatte, der also jetzt, wie es in einem späteren Vers heißt, ›capitis caput‹ (das Haupt des Hauptes) ist. Detaillierte Gründe für diese Deutung finde ich nirgends angegeben. Und Melanchthon nennt in seiner Gedenkrede auf Reuchlin einen andern Hofmann in Heidelberg, einen Franziskaner, der die bissigen Stellen auf sich beziehen könnte, – weshalb auch der Bischof Dalberg, Reuchlins Schutzherr, eine Aufführung nicht zugelassen habe. – Man hat die Wahl. Wahrscheinlich war das Übel der Günstlingsherrschaft an dem und jenem Hof (und auch noch an einigen andern) verbreitet. Doch zunächst schwelgt Buttu hemmungslos in der Ausmalung der hohen Kräfte der Schädelreliquie. Sie regiert alles durch einen Wink, ein Nicken, befiehlt und schreibt vor, den Wollenden wie den Nicht-Wollenden, dem Hof wie den Bürgern, den Fremden, den Nächsten und den Fernsten, wendet alle Angelegenheiten gegen Gott, gegen das Recht, und wenn sie will, dreht sie alles für Gott und für das Recht zurecht. Wie, dieser leere, dieser häßliche, dieser morsche und nichtige Schädel brächte das alles zustande? – schreit Aristophorus auf. Und jetzt wird Reuchlins Stimme sonor, die Verse fließen ohne Stockung und Künstelei, denn jetzt spricht Reuchlins redliches Herz, keine intellektuelle Ziererei. Seine Anklage gegen die verbrecherische Mißwirtschaft der Höfe erhebt sich zur Größe einer andern Stimme, die Jahrhunderte später aus demselben Stuttgart hervorgehen wird, – zum makellos menschlichen Affekt Schillers, der — 188 —

mit seinem Ferdinand im gewaltigsten Aktschluß der deutschen, wo nicht der Weltliteratur aufbegehrt: »Du Allmächtiger bist Zeuge! Kein menschliches Mittel ließ ich unversucht – ich muß zu einem teuflischen schreiten – Ihr führt sie zum Pranger fort, unterdessen erzähl ich der Residenz eine Geschichte, wie man Präsident wird.« An diesen Höhepunkt fühle ich mich erinnert, wenn ich bei Reuchlin lese (und in Prosa frei übersetze): »Dieser Intrigant besetzt Ämter und setzt ab, Dem altehrwürdigen Senat, den Konsuln nimmt er die Autorität, Durch Schwindelwahlen setzt er einen neuen Senat ein, neue Konsuln Alle Angelegenheiten des Prinzips verhandelt er Ohne Prinzip, gibt Rat ohne Räte, Rat, der nur aus seinem eigenen Köpfchen kommt, Das, wie ihr seht, groß und berühmt aufragt. Er hat nämlich den Fürsten in seinem Speisesaal eingesperrt, So daß niemand zu ihm Zutritt hat. Nur er. Deputationen, die zum Fürsten vorgelassen werden wollen, Schröpft er um ihr Geld, dann kanzelt er sie ab. Edikte und Interdikte, Rechtssprüche, Orakel, Gesetze für das Profane wie das Heilige diktiert er. Es gehorcht himmlische wie irdische Macht Diesem elenden Kopf, da er Armut und Reichtum verteilt, Erhebt und erniedrigt. Was er will, tut er. Was er will, befiehlt er. Was er will, verbietet er, des Hauptes Haupt. Er verurteilt und begnadigt, plagt die Guten, Zeichnet die Bösen aus. So daß alle an den Pranger müssen. Tretet vor, kupplerische Männer, Dieses Haupt war nie von anständigen Ehepaaren entzückt. Tretet näher, zuchtlose Frauen, — 189 —

Diese Glatze hat eine Vorliebe für Huren. Heran, wer Jungfernschaften verkauft. Wenn man hier von Jungfern spricht, denkt man nur an Entjungferung.« Es ist begreiflich, daß der Bischof solch revolutionäres Ungestüm in seinem Palast nicht gerade enthusiastisch begrüßte. Man war immerhin noch 300 Jahre von der französischen Revolution entfernt. Er machte seinen Schützling höflich auf die Gefahren aufmerksam, die einer theatralischen Darbietung dieser Art folgen könnten. Die Darbietung unterblieb. – Reuchlins Bitterkeit mußte sich in einer politisch harmloseren Szenenfolge entladen, in den ›Progymnasmata‹; doch die dunkle Grundfarbe war auch aus dem leichteren Humor nicht herauszuwaschen. Die Moral auch des zweiten Stückes: Ein Betrüger betrügt den andern; der größte Schuft bleibt Sieger – ist nicht gerade tröstlich zu nennen Mit diesen wilden Schmerzensschreien seiner Klimax hört der Sergius auf, ein Lustspiel zu sein. Leider hält er sich nicht auf solcher Höhe, – ohne dadurch zu einem Lustspiel zu werden. Die Beiläufigkeit der Verknüpfungen, der Reuchlin in diesem Werkchen auf so absonderliche Weise frönt, bringt es mit sich, daß Buttu jetzt erst gefragt wird, zu welchem Menschenleib während seines Erdenwallens der ›wundertätige‹ Schädel eigentlich gehört hat. Buttu gibt ein düsteres Bild; es war kein Heiliger, kein Ehrenmann, der diesen Schädel auf den Schultern trug. Ein gewisser Sergius, nicht der berühmte Grammatiker. Nein, einer, der weder Latein noch Griechisch verstand und die Literatur verachtete. Also, vom Humanistenstandpunkt aus: ein Gezeichneter. Aber außerdem ein Schwätzer, Vielredner, Nichtswisser. Ein Wahnsinniger, den seine Mitmönche der Ordensregel — 190 —

gemäß straften: Worauf er aus dem Kloster entwich, zu einem andern Räuber floh, der nur viel mächtiger war als er. Mahometus dem Kyrenaiker (wohl nicht geographisch gemeint, sondern als Anspielung auf die kyrenaische Schule Aristipps, die Hedoniker, die in der Lust den höchsten Lebenswert sahen). Dann wurde er zu einem eifrigen Verfolger seiner Brüder, der Mönche. Wurde er gefangen, in Ketten gelegt, so befreite ihn Mahomet immer wieder. Er blühte auf in Damaskus, bei den Syrern, den Arabern. Wütete gegen die Christen, wie es die Art der Apostaten ist. Setzte im Namen Mahomets die Presbyter aus ihren Pfründen heraus. Zu aller Kneipenhelden und Leckermäuler Protektor warf er sich auf. Die drei Vaganten küssen den Kopf, bezeugen ihm ihre Verehrung, rufen dem verblichenen Piraten, dem Verräter und Rohling, ein begeistertes Salve zu; unter ihnen auch der ›noble‹ Lixa, der kurz zuvor den göttlichen Vorrang der Dichtkunst so beredt gegen den ›Phärisäer‹ verteidigt hat. Wer diese Logik verstehen könnte! – Buttu berichtet weiter: Dieser Sergius gibt nicht, sondern nimmt nur. Woher die Gabe kommt, das interessiert ihn nicht. Nur ob sie kommt und ob sie fett ist. Dieser Freund der Mohammedaner hat auch den Alkoran geschrieben (!) und die Gesetze gemacht, denen die Sarazenen und die wilden Türken gehorchen. Damit will er alle zum Abfall verleiten und so sein eigenes Verbrechen decken. – Dazu möchte ich (M. B.) zweierlei anmerken: Erstens: die Türkengefahr war damals, und noch über nahezu zwei Jahrhunderte hin, bis zur Abwehr der Belagerung Wiens 1683, das aktuellste europäische Thema. Die Türken hatten ein ungeheures asiatisches und ein balkanisches Reich mit der Hauptstadt Konstantinopel erobert und fest in Händen, ihre Flotten beherrschten weite Teile des Mittelländischen Meeres, ihre Heere standen schon in Ungarn, äußerste Drohung — 191 —

für die uneinigen Westmächte. Kaiser Maximilian plante eine Zeitlang alljährlich einen Feldzug gegen die Türken, gab aber das eifrig und feierlich postulierte, jedoch spärlich und widerwillig einfließende Geld jedesmal anderweitig aus. Die Türken rückten weiter vor, nahmen der Republik Venedig eine Insel nach der andern weg. Unter dem sengenden Anhauch solcher Drohung verliert selbst Reuchlin die Gefaßtheit, gerät ins Fabulieren, kennt wohl nicht die wesentlich ruhigere Einstellung des Cusaners, die Schrift von der ›Durchsiebung des Korans‹ (Cribratio Alkoran), oder weiß sie nicht zu würdigen. In späteren Jahren hat sich dann Reuchlins Haltung (in ›de arte cabalistica‹) gegen die Anhänger des Islam (ganz so wie gegen die Juden) ins Objektivere gemildert. – Zweitens: auf geradezu unheimliche Art ist in den letztzitierten Versen die Psychopathologie Pfefferkorns per analogiam vorausgeahnt. Weil er von der jahrtausendealten Gemeinschaft abgesprungen ist, sollen alle mit abfallen. Dann hat er ja nur getan, was alle tun, ist ›gedeckt‹. Neuer Bruch der Charakterzeichnung: Aristophorus erklärt, daß es ihn reut, das Reliquienhaupt geküßt zu haben. Kein Wunder, da er bei der Fabrikation des Wundergebeins aus ekelhaftem Material mittätig war. Doch gerade auf diesen Umstand wird seltsamerweise nicht zurückgegriffen. Salax und Lixa rücken in ähnlichen ›Palidonien‹ von dem falschen Mysterium ab, an das sie eigentlich keinen Augenblick geglaubt haben können, da doch der Rat, den scheußlichen Kadaverteil zu parfümieren, von niemandem als von ihnen ausgegangen ist. – Doch vergebens müht man sich, Ordnung in die Gedankenreihen zu bringen, die geradezu schizophren anmuten. Genug, das Haupt wird nun von den drei Spießgesellen mit größtem rhetorischem Aufwand verflucht. Das Widersinnigste: Buttu stimmt in den Chor der Fluchenden mit ein. Was hat er also eigent— 192 —

lich gewollt? Ein mattes moralisierendes Sprüchlein ist das Ergebnis, gegen alle, die ihre Hoffnung auf solch einen »leeren Kopf« setzen. »Ich habe meines Amts gewaltet, beste Genossen. Leichte Spiele habe ich klug mit meiner Neckerei Euch sichtbar vor Augen gebracht. Das wird man wohl noch dürfen.« Ein Chorgesang, der im zweiten Lustspiel (zum Teil) wiederkehrt: Dank an die Musen, die Poeten und den ›heiligen Phöbus‹. Im Epilog nochmals dünner Moralaufguß, Warnung vor dem leeren Kopf und Warnung vor Meineid als der ärgsten Sünde, von der im Stück eigentlich gar nicht die Rede war, wenn man hier nicht gerade an eine Anspielung auf den Bruch der Klostergelübde durch Meister Sergius denkt, was aber in der Szenenfolge gar nicht besonders, höchstens implizit erwähnt worden ist. – Eine schlampige Arbeit. Kein gutes Stück. Man scheut sich fast, es überhaupt ein Theaterstück zu nennen. Man möchte es aber trotzdem in einer (hoffentlich baldigen) deutschen Gesamtausgabe der Werke Reuchlins nicht missen. Nie wieder hat er etwas geschrieben, das mit solcher Klarheit die vielen Widersprüche und Unbesonnenheiten im leidenschaftlich drängenden Gemüt des ehrenwerten Kämpfers spiegelt. Das Stück machte, wie schon gesagt, auf die Zeitgenossen großen Eindruck. In Benzings ›Bibliographie der Schriften Johannes Reuchlins im 15. und 16. Jahrhundert‹ (1955) sind 16 Ausgaben beschrieben, 3 davon mit dem Kommentar Georg Simlers, der Reuchlin als seinen geliebten Lehrer (dulcissimus praeceptor) bezeichnet und der selbst in Pforzheim, später an der Universität Tübingen Melanchthons Lehrer war, »der ihm zeit seines Lebens die — 193 —

treueste Anhänglichkeit gewidmet« (Holstein). Dazu kommen noch 6 Ausgaben, in denen Sergius zusammen mit den ›Progymnasmata‹ publiziert wurde (gleichfalls bei Benzing). Benzings Inhaltsangabe, nach der diese ›satirische Komödie‹, abgesehen von dem Angriff auf Holzinger, »Ignoranz und Dummheit der Mönche geißelte«, trifft wohl herzhaft daneben, wie obige Analyse nachweist. Holstein führt 10 Ausgaben des Sergius und 5 der beiden Komödien an. Laut Holstein bringt eine der Ausgaben ein Bild, das einen Henker darstellt, »der einen jungen Höfling im Beisein zweier Mönche im Kerker zum Geständnis seiner Verbrechen zu bringen sucht«. – 1504 hielt Hieronymus Emser in Erfurt »unter großem Zudrang der Studierenden Vorlesungen über den Sergius und rühmte sich später, auch Luther unter seinen Zuhörern gehabt zu haben« (Holstein). – Die große Wirkung beruhte auf den Zeitumständen, nicht auf den dichterischen Werten des Sergius, und beweist nur, daß wie die vergangene Zeit überhaupt (alle vergangenen Zeiten) so auch speziell die Literaturgeschichte einen Teil ihrer Geheimnisse für sich behält. 3

Die zweite Komödie, im Februar 1497 im Heidelberger Palast des ›Vangionum episcopus‹ (des Bischofs von Worms) und Kanzlers Johannes Dalberg uraufgeführt, hat den Titel ›Scenica Progymnasmata‹, also ›Vorübungen für die Bühne‹, was auch die gleich im Titel beigefügte lateinische Übersetzung besagt: ›Ludicra Praeexercitamenta‹. – In der Buchausgabe 1497 sind die Mitwirkenden genannt, unter ihnen Wimphelingus junior, das ist der Neffe Wimphelings, Jakob Spiegel von Schlettstadt, der dann 1512 eine kommentierte Ausgabe des Stücks ediert hat. Auch der — 194 —

Name des Mannes, der die Musik zu den Chören geschrieben hat, ist in dem gleichen Nachwort überliefert: Daniel Megel. Regisseur (nach dem damaligen Sprachgebrauch: Recenser) war Johannes Richartshuser. Das Nachwort dankt dem Bischof in überschwenglichen und offenbar ehrlichen Worten dafür, daß er die humanistischen Studien, somit auch dieses Stück, in sein Heidelberger Lyceum, in seine Stoa (›Akademie‹ trauen wir uns nicht zu sagen, da über Plato heute noch so mancher öffentlich die Nase rümpft) geradezu auf seinen Schultern persönlich hineingetragen hat und gegen die ungelehrten und ungebildeten und neidischen Anhänger der alten Schule (veteratores) täglich verteidigt. – Es ist diesem Nachwort anzumerken, mit welcher Erbitterung damals im Kampf um die Aufhellung und den kulturellen Fortschritt die kleinste Position erobert und gehalten werden mußte. Muster für die Komödie Reuchlins war die beliebte französische Posse »Maître Pathelin«. Als Verfasser dieser Posse galt früher (heute mit guten Gründen bestritten) Pierre Blanchet aus Poitiers. Da Reuchlin als junger Mensch in Poitiers studiert hat, könnte er das sehr beliebte Stück an der Stelle seines Ursprungs gehört haben. Doch ist, wie mir Werner Dürrson aus Poitiers dankenswerterweise nach Durchforschung vieler Schriften und Archive mitteilt, an Ort und Stelle eine solche Aufführung nicht nachweisbar. Jedenfalls finden wir das originell Besondere, den ›Falken‹ des französischen Stückes, durch den es sich von allen ähnlichen Produkten unterscheidet, bei Reuchlin wieder. Nämlich die Szenen, in denen der listenreiche Advokat Pathelin seinem Klienten, einem Schäfer, den Trick beibringt, vor Gericht auf alle Fragen wie ein Schaf nur »Bee« (bei Reuchlin »Blee« – über die mutmaßlichen Gründe später) zu antworten. Wie dann der Advokat vom Klienten, der freigesprochen wird, das — 195 —

Honorar verlangt, blökt der Klient immer wieder sein »Bee« hervor – und bleibt dabei: Der betrügerische Advokat ist zum Schluß der Betrogene. – Das alles, den Hauptwitz, hat Reuchlin übernommen. Die übrigen Situationen, auch die Personen hat er freilich an vielen Stellen völlig geändert. Aber das verschlägt nichts gegen die behauptete Abhängigkeit im Grundwitz, die ja mit eigenwüchsiger Ausgestaltung durchaus verträglich ist. – Ein uninteressanter Gelehrtenstreit hat sich nun auf Grund einer Abhandlung von J. Parmentier (Poitiers 1884) darüber entwickelt, ob Reuchlins Quelle nicht vielmehr eine italienische Commedia dell’arte ist, die von Goldoni erwähnt wird. Aber diese Komödie hat sich gar nicht erhalten. Und überdies soll auch der ›Maître Pathelin‹ auf ihr beruhen, so daß Reuchlin doch auch aus beiden Quellen geschöpft haben könnte. Oder aus der italienischen auf dem Umwege über die französische. Man kann allerdings in den drei Grundtypen des ›Pathelin‹ die Typen der altitalienischen, ja der altrömischen Komödie wiederfinden, den betrogenen Kaufmann, den Rechtsverdreher, den spitzbübischen Bedienten, die ihr Leben bis heute, bis in den springlebendigen ›Barbier von Sevilla‹ bewahrt haben. – Ich finde diesen Streit wenig wichtig. Dagegen ist mir aufgefallen, daß ein Name des Reuchlinschen Stückes (mit geringfügigen Änderungen) in Shakespeares ›Der Widerspenstigen Zähmung‹ wieder auftaucht: der des Rechtsgelehrten Petrucius. Shakespeares Gewaltmensch heißt Petruccio. Auch der Diener Dromo (Dromio) kommt bei Shakespeare vor, in der ›Komödie der Irrungen‹, offenbar frischweg aus der Antike. Den Namen Petruccio soll Shakespeare einer englischen Übersetzung der ›Suppositi‹ des Ariost entnommen haben (Georg Herwegh). Doch all das beweist natürlich gegen die Einwirkung der französischen Farce auf Reuchlins ›Progymnasmata‹ nicht das ge— 196 —

ringste. – Übrigens hat auch Melanchthon die Progymnasmata seines Großonkels Reuchlin als ›fabula Gallica‹ bezeichnet. Auf liebenswürdige Weise sind die ›Scenica Progymnasmata‹ (nach der Hauptperson auch ›Henno‹ genannt) mit ihrem ungezwungenen Humor ein gültiges Dokument für die echte Dichterbegabung Reuchlins, die dann später in solch heiterer Art nie wieder zum Ausdruck gelangt ist. Dazu war der Kampf, in den er verwickelt wurde, zu erbarmungslos, zu schnöde. Seine Dichterseele suchte daher andere Wege; die hymnischen Stellen, die phantastischen Mythologeme und daneben die realistische Anschaulichkeit der Figuren in ›De arte cabalistica‹ legen Zeugnis dafür ab, daß er vom Stamme Mörikes ist. Hier, im ›Henno‹, wird Tragisches umgangen oder weggespottet. In diesem Scherzspiel kommt Reuchlin der größten Fabulierbegabung, dem träumerischen Genius Schwabens, von einer andern Seite her nahe. Von goldener Leichtigkeit her. Stellt sich schlicht und prätentionslos, sympathisch vergnügt, volkstümlich resolut, wieder neben Mörike. Die Sprache ist einfach. Hat man sich in das Latein jener Zeit einigermaßen eingelebt, so erscheint es hier freundlich, graziös, vieler Farben fähig. – Die Motivation ist auch hier stellenweise glücklich, die Szene lebhaft, doch der Zusammenhang oft (wie im Sergius fast immer) nur improvisiert. Man hat manchmal das Gefühl, nicht mit Menschen, sondern mit Puppen zu tun zu haben, die flüchtig holzgeschnitzt ihren Reigen oder, besser gesagt: ihren bäurischen Schuhplattler vorführen. Als Puppenspiel aufgeführt, müßte das Stück (mit geringfügigen dramaturgischen Eingriffen) auch heute noch seine Wirkung tun. – Zur Feier von Reuchlins 500. Geburtstag wurde es von — 197 —

Schülern des nach ihm genannten Gymnasiums und des Kepler-Gymnasiums 1955 in Pforzheim lateinisch gespielt. Von wem das schöne Gedicht in modernen lateinischen Hexametern stammt, das im Programm abgedruckt ist, konnte ich leider nicht feststellen. Ich bringe hier die Übersetzung: »Pforzheim hat dich geboren. Es fordert die ganze Menschheit Dich als ihre Zierde. Doch hast du als deine Mutter Selber die Stadt gerühmt, die heut zu deinem Geburtstag Waffen besingt und den Mann. Denn Kriege hast du gewaltig Aufgerührt und das Licht gegen Dunkelmänner verteidigt. Ewig werden die Mauern des Lichts mit List von den Dunklen Frech berannt. Drum sieh unsern Zug, o Capnion, führ’ ihn, Daß uns die Finsternis nicht im Triumph den Erdkreis verwüste.« Im Oktober 1964 wurde in Pforzheim der Versuch gemacht, die beiden Stücke deutsch zu spielen. Es wurde zu viel ›umgearbeitet‹. Zu viel Regie, ein matter Erfolg (wie ich zwei Kritiken mit dem nötigen Vorbehalt dessen entnehme, der nicht dabei war). 4

Das Stück beginnt mit einer angelegentlichen Klage der Bäuerin Elsa, die Hennos Frau ist: »Der armen Weiblein Los fürwahr ist jammernswert, Zumalen wenn sie auch noch Ehgesponsen sind.« Elsa mag noch so viel spinnen, noch so viel sparen, – der Mann verspielt und vertrinkt alles. Kaum eine dünne Bettdecke ist ihr geblieben. Und ein paar ärmliche Klei— 198 —

dungsstücke. Sie übertreibt offenbar, die Elsula, aber es greift ans Herz. Der Mann tritt auf, Henno villanus, der Bauer. Er teilt (monologisierend) dem Publikum mit, daß er im Schafstall das Kästchen aufgespürt hat, in dem acht Goldstücke versteckt waren. Wie nur die kleine Frau das Geld zusammengekratzt haben mag. Er wundert sich. Nun gut, jetzt hat er’s ihr gestohlen. In einem ganzen Jahr bringt er mit seiner Arbeit nicht so viel zustande. Freilich braucht er ziemlich viel für’s Trinken, Spielen, manchmal auch für eine Buhlschaft, für ein Bad. Mag sie sparen, die Frau: es ist ein altes Sprichwort »Wer spart, braucht einen, der’s verschwendet«. (Was Hans Sachs in seiner Verdeutschung des Reuchlinschen Stückes entzückend übersetzt: »Ein Sparer muß ein Zehrer han«.) »Guten Abend, Weib«, grüßt der Mann. Das Weib keift. Es ist spät geworden. Sie hat tagsüber so viel zu tun, daß sie abends kaum mehr japsen kann. Henno: Und mit all unserer gemeinsamen Arbeit jahraus, jahrein habe ich es nicht mal zu einer anständigen warmen Jacke gebracht. Halbnackt, in geflickten Kleidern gehe ich herum. Dabei muß ich täglich in die Stadt, habe mit noblen Männern zu tun, die wissen, was Luxus ist. Denen bringe ich Käse, Nüsse, Milch, Kohl, Äpfel, Birnen, Obst aller Art. Es ist ein vornehmer Verkehr, bei dem kann ich mich nicht lumpen lassen. Daher habe ich beschlossen … Kurz, er will bei einem gewissen Danista in der Stadt Stoff für einen Anzug kaufen – nur einen ganz billigen Wollstoff, fügt er heuchlerisch dazu. Und da er kein Geld hat, will er als Gegenleistung seine Tochter Abra bei diesem Danista als Magd verdingen. Danista soll den Stoff auf Kredit geben. – Die Frau macht keinen Einwand. Sie kennt den Danista als harten Kaufmann, weiß auch, daß er ein Auge auf Abra geworfen hat – als Magd, natürlich nur als Magd. Im übri— 199 —

gen hat unsere Elsa noch zu tun, muß Rinder in den Stall bringen. Exit Elsa. Nun beginnt erst die eigentliche Intrige. Henno schickt seinen Ackerknecht Dromo, dem er besonders zugetan zu sein vorgibt, mit einer Geheimmission in die Stadt. Er zieht den Dromo rasch ins Vertrauen, gesteht, daß er die goldenen Spargulden seiner Frau entdeckt und entwendet hat. Dromo soll in die Stadt und bei dem Tuchhändler Danista für das gestohlene Geld einen schönen Stoff für einen schönen Anzug kaufen. Die Vornehmheit des zu erwerbenden Kleids wird hervorgehoben – von armseliger Wolle ist nicht mehr die Rede. »Ich kann doch nicht immer so abgehadert bei meiner Freundschaft und beim Schmaus erscheinen«. Dromo ist einverstanden. »Das Geld keinem andern« mahnt der Bauer. – Und Dromo, allein, ergänzt: »Keinem andern als mir.« Wir scheiden von ihm mit der beruhigenden Gewißheit, daß er das Geld unterschlagen, aber außerdem dem Danista den Stoff herauslocken und an einen dritten verkaufen wird. Er ist der Hanswurst, der Kasperle, der immer stärker und klüger und geschickter ist als alle andern Figuren des Stücks. Er ist der ewige Sieger des Volksmärchens. (Reuchlin hat hier in der Eile vergessen, Dromos Gspusi mit der Abra, das allerdings erst in einem späteren Akt herauskommt, zur Motivation mitzuverwenden. Das ließe sich leicht durch ein paar Zeilen nachholen. »Danista will meine Abra als Magd? Ich versteh schon. Dem werd’ ich schön heimleuchten. Er wird Kopf und Kragen verlieren, der Bazi, der damische.«) In der nächsten Szene entdeckt Elsula, daß ihr Versteck leer ist. Ergötzliche Verzweiflung. Für dritte, für ein Publikum ist so etwas immer ergötzlich. Siehe den schon von Plautus skizzierten ›Geizigen‹ (›Aulularia‹). Und der hat’s vom — 200 —

Menander und hat es an Molière weitergegeben. Reuchlins Elsa ist eine Zwischenstation. Die Klagerufe der Bestohlenen sind aber nicht weniger tragisch und schneidend als das von den Typen der klassischen Hauptkette wie etwa Elektra gen Himmel geschleuderte Wehgeschrei, der nicht hört. – Elsa wendet sich an ihre Nachbarin Greta. Rührenderweise beginnt sie ihre Erzählung mit einer Lüge: »Ganz wenig Geld hatte ich zusammengetragen« (Auri aliquantulum congesseram). Dann berichtet sie und klagt zum Steinerweichen. Doch Greta weiß Rat, ein ›Mathematicus‹ wohnt in der Nähe, ein Astrolog, ein Kenner des Astrolabrum. Sie sagt – ›labrum‹ (Lippe) statt – ›labium‹ – und man kann sich denken, wie der akademische Kreis, vor dem die Posse gespielt wurde, bei dieser Entgleisung gelacht haben mag. Jakob Spiegels gelehrter Kommentar hebt dieses Gaudium ausdrücklich hervor. Greta: Der Zauberer nimmt einen Batzen. Elsa: Dieser Batzen ist besser angelegt als mancher Gulden. Gehen wir zum Zaubermann! Schluß des ersten Aktes. Chor, der den Segen der Armut preist. Nicht sehr überzeugend, da wir eben das brüllende Unglück der guten beraubten Frau miterlebt haben, – aber erhabene Weisheit affektierend, im Sinne der Stoa. Horazische Zeilen, mit einiger Freiheit, drei Reimpaare eingewebt. – Von den Chören abgesehen, ist das Stück sehr regelmäßig in den jambischen Trimetern der Antike geschrieben, die kunstvoll und leicht dahinhüpfen. Dramatische Feuerbälle steigen. Oft wechselt in einem einzigen Vers dreimal, viermal, sogar fünfmal der Sprecher, da jeder atemlos nur ein oder zwei Worte hervorstößt. – Die Periode der gekünstelten Wortspiele ist aber fast ganz überwunden. Szenenwechsel. Zweiter Akt. Beim Astrologen Alcabicius, über den sich Reuchlin weidlich lustig macht. – Dieser — 201 —

Alcabicius führt sich in einem prahlerischen Monolog ein, in dem er den Astronomen Ptolemäus und dessen Werk Alarbamakalet zitiert. Der Erklärer Spiegel führt das Wort auf das arabische Al-arba-makalet zurück, was ›die vier Traktate‹ bedeuten soll. Es handelt sich vielleicht um des Ptolemäus Quadrapartita, – der Kommentar des Proclus zu diesem Buch wird von Reuchlin in seinem Briefwechsel mit dem immer hilfreichen päpstlichen Geheimschreiber Jakob Aurelius Questenberg in Rom erwähnt (10. 11. 1514). – Seltsam winkt der Name des Astrologen Alcabicius nach Safed hinüber, wo es zu jener Zeit einen Kabbalisten Alkabez gab, der das noch heute auf dem ganzen Erdrund gesungene Sabbatlied ›Lechá dodi likrát kallá‹ (Gehe, mein Freund, der Braut entgegen) so schön gedichtet hat. Doch vielleicht ist der Gleichklang der Namen nur ein Zufall? Wie dem auch sei – besagter Alcabicius benimmt sich höchst ungezogen. Denn sowie sich Elsa als arme beklagenswerte Frau vorstellt (»Schweig doch!« flüstert die klügere Greta dazwischen), deklariert er: »Dieses mein Haus liebt nicht die Armen, sondern die Reichen. Mit Armen will ich nichts zu tun haben. Fahrt ab!« – Rasch korrigiert Greta den Fehler. Nun will der Astrolog die Stunde des Diebstahls genau wissen. Imponiert den beiden Bäuerinnen mit Aufzählung sämtlicher Tierkreiszeichen. Macht sich an seine kalkulatorische Arbeit. Eine ergötzliche Szene: er beschreibt in vagen Umrissen den Täter; es gehört nicht viel Wahrsagekunst zu seiner Leistung: auf einen Bauern zu tippen. Elsa: Wirklich? Das erinnert an meinen Mann. Greta: Schweig doch, bitte. Alcabicius: Er trinkt gern. Elsa: Das ist mein Mann. Greta: Schweig doch, bitte. Alcabicius: Er hat’s mit den Bädern. — 202 —

Elsa: Mein Mann. Greta: Schweig doch, bitte. Alcabicius: Auf die Weiber ist er wie wild. Elsa: Das stimmt nicht, denn wenn ich mich hinlege, verlangt er es kaum dreimal von mir (vix ter petit). Auf Wimphelings Veranlassung wurde das »ter petit« züchtiglich in »vix basiat« – küßt er mich kaum – abgeändert. Eine immerhin noch ziemlich sichtbare Plastizität der Darstellung, wenn man bedenkt, daß hohe Kleriker und unter ihnen ein berühmter Bischof bei der Premiere anwesend waren. Andere Zeiten, andere Sitten! Und wir sind ja am lebensfrohen Heidelberger Hof. Dabei hebt Reuchlin den pädagogischen Zweck seiner Arbeit hervor. Junge Menschen, so gibt er handschriftlich bekannt, sollen das Stück als Vorübung benützen, wenn sie die komische Aussprache und ihre Gesten lernen wollen. Und Wimpheling empfiehlt neben einigen Komödien des Plautus, »die etwas weniger von Liebe singen« (quae minus de amore canunt), die soeben unter der Presse befindlichen ›Progymnasmata‹ Capnions als geeignete Schullektüre. – Wir hätten schön und unaufhaltsam losgeprustet, wenn man uns im Gymnasium eine solche Stelle zum Übersetzen präsentiert hätte. – Doch damals haben die Progymnasmata sogar in den Schulanstalten der ›Brüder vom gemeinsamen Leben‹ Eingang gefunden, wie Holstein darlegt. In Deventer, dem Mittelpunkt dieser frommen Männer, denen ein Thomas a Kempis, ein Erasmus entsprang, erschien 1513 eine Ausgabe der Reuchlinschen Saftigkeit. Es war (trotz allem) ein übermütiges Zeitalter. – Doch zurück zu unserer armen Elsa! Sie wird noch mit der lüsternen Frage des Astrologen beehrt, ob sie je mit ihrem Mann ein »enges Zusammensein« gehabt habe. Reizend ihre schamhafte Antwort, mit der sie sich dem ›Mann der Wissenschaft‹ hochüberlegen zeigt: »Der Herr — 203 —

bringt zu viel alte Dinge in Erinnerung. Ich weiß nicht, was er meint. In den zarten Jahren pflegten wir zwei recht ausführlich miteinander zu spaßen.« Greta: Schweig doch, bitte. Und nun der Astrolog, da erotisch nichts weiter zu holen ist, mit monumentaler Berufsmiene: Einer aus dem Dorf, wo du wohnst, ist der Dieb. Die Gesetze der Astronomie verbieten, mehr zu sagen. Der versprochene Batzen ist jetzt zu bezahlen. Elsa: Einen Augenblick, Magister. Mein Ahnungsvermögen ist schwach. Wer ist also der Dieb? Der Astrolog: Lebt wohl. (Exit) Elsa: Sicher hat er meinen Mann gemeint. Greta: Es gibt viele Männer dieses Schlags. Ich habe keinen besonderen Helden erkannt. Während die beiden noch ein Weilchen so weiterreden, erscheinen auf der andern Seite der Bühne Henno und Dromo in heftigem Streit. Dromo: Danista hält Geld und Tuch zurück. Das Tuch sollst du übermorgen bei ihm holen. Henno: Dann hättest du ihm das Geld nicht lassen sollen. Aber still, da kommt meine Frau. Jetzt kein Wort von dem Geld! Nun, was hat Danista gesagt? Dromo: Sich und all das Seine stellt er dir zur Verfügung. Und er möchte das Mädel als Dienstmagd haben. Henno: Kann geschehen. Elsa (zu ihrem Mann): Hast du gehört? Dromo verlangt nichts für sich. Henno: Was soll’s? Elsa: Dromo und unsere Tochter lieben einander. Henno: Nichts anderes hat Danista geantwortet? Dromo: O ja, Gottes Segen hat er dir und der Herrin gewünscht. — 204 —

Und am nächsten Markttag will er mit dir reden. Choraules, Chorus. – Chorflötisten und Chorgesang. Der Chor feiert in gereimten Versen Apollo, die Dichter und Propheten. Wahrscheinlich hat eine schöne Musik, deren altertümliche Neumen beigedruckt sind, darüber hinweggetäuscht, daß der Zusammenhang des Chortextes mit dem Wirken des Batzen-Propheten nicht eben der geglückteste ist. Der dritte Akt zeigt Henno beim Aufbruch in die Stadt. Mit seinen Waren. Mit Frau und Knecht Dromo. – Danista spricht ihn auf dem Markt an. »Nun, bringst du das Geld, Henno?« – »Warum hast du mir nicht mit meinem Dromo das Tuch geschickt? Warum hältst du die acht Gulden zurück, die ich dir ausbezahlt habe?« Es läßt sich nicht vermeiden, daß Dromos Schwindel jetzt auffliegt. Es geschieht auf die blitzartigste, die zugespitzteste Art. Die Parodie forensischer Floskeln muß Reuchlin ein Hauptvergnügen gemacht haben: Henno: Ich schwöre, die Gulden gegeben zu haben. Und habe nichts dafür gekriegt. – Danista: Ich schwöre, das Tuch gegeben zu haben. Und habe nichts dafür gekriegt. – Henno: Dromo her! Dir hat dieser das Tuch übergeben? – Dromo: Nein. – Henno: Da sieht man! – Danista: Hast du mir das Geld übergeben? – Dromo: Nein. – Danista: Da sieht man! – Henno: Hast du mir das Tuch überbracht? – Dromo: Nein. – Henno: Da sieht man! – Danista: Ich habe dem Dromo fünfzehn Ellen guten Tuchs gegeben. Auf Kredit. – Henno: Was für Kredit? Ich habe ihm acht Gulden in die Hände gezählt. – Dromo: Meister, diese Tatsache stelle ich in Abrede. – Henno: Und ich stelle jede Elle in Abrede. – Danista: Nicht dir habe ich sie gegeben, sondern deinem Knecht. – Dromo: Danista, diese Tatsache stelle ich in Abrede. Schließlich wirft Danista dem ›ehrlichen Dromo‹ an den — 205 —

Kopf: Deine drei Buchstaben kenne ich. (Er meint f-u-r, fur = Dieb.) Da ist er aber an den Rechten gekommen. »Das ist eine Ehrenbeleidigung«, schreit Dromo, »wir gehen vor den Richter«. Danista sucht zu begütigen: »Auch sus und bos sind dreibuchstabig. Schwein und Rindvieh.« Dromo, mit frecher Stirn: »Ich habe nichts getan, was sich nicht ziemt.« In lakonischer Kürze bildet die Ladung vor den Richter den Aktschluß. – Der Chor wiederholt Teile des Endgesangs aus dem Sergius. Lob der Dichtkunst: eine Notlösung. Vielleicht ein sogenannter ›Einfall‹ der Regie? Ähnliches soll auch heute noch auf unseren Bühnen vorkommen. Im vierten Akt erst wird der engere Anschluß an den ›Maître Pathelin‹ deutlich. Dromo und Petrucius (so heißt hier Pathelin) im Gespräch. Dromo wendet sich an den »Rechtsgelehrten, den Vater der Armen«. Er wird ganz ähnlich abgefertigt wie Elsa vom Astrologen. Man spürt, wie gering Reuchlin über seinen juristischen Brotberuf gedacht hat, wie er mit ganzer Seele Humanist und nichts als Humanist, Liebhaber der freien Künste war. Petrucius meint: »Nicht so sehr des Armen Vater, als des Reichen. Denn die Kinder, die Frau, das Haus brauchen viel Geld. Das muß ich irgendwie als meinen Lohn zusammenscharren. Vom Armen kann ich nicht reich werden. Also schieb ab, Armer!« Dromo erwähnt, daß der Advokat bei dem Geschäft etwas verdienen könnte. Sofort findet Petrucius, daß die Sache Dromos eine gute Sache sei. Dieser hat rasch den ganzen Handel erzählt. Und nun gibt Petrucius, nach kurzem Feilschen um die Höhe des Honorars, den Rat, der als ›Falke‹ dieser Komödie in die Literaturgeschichte eingegangen ist. »Was immer ich dich vor Gericht fragen werde, du antworte nichts als Ble und immer wieder Ble. Du hast überhaupt nichts als Ble zu sagen. Versprichst du mir zwei Gulden? – Ja, — 206 —

wenn ich siege. – Du wirst siegen. Gehen wir. Der Richter sitzt schon auf seinem Sessel.« Warum eigentlich »Ble«? Im ›Pathelin‹ ist der Mann, der sich vor Gericht zu verantworten hat, ein Schäfer. Er bekommt von seinem Anwalt die Weisung, immer nur »Bäh« zu antworten, die Stimme seiner Schafe soll seine Blödigkeit kennzeichnen und wirkt, wie alle naheliegende Komik, unmittelbar und naturgemäß. »Revenons à nos moutons«, sagt der Richter im ›Pathelin‹, und dieser Satz aus dem Schäfer-Milieu ist so populär geworden, daß er auch in einem deutschen Lustspiel (ich glaube, von Kotzebue) wiederkehrt: »Um wieder auf den besagten Hammel zu kommen«. – Bei Reuchlin ist Dromo ein Ackerknecht, kein Schäfer. Also ändert Reuchlin die ständige Antwort. Etwas von Bäh bleibt aber nolens volens doch zurück, das zwischengeschobene l soll die Herkunft verwischen. Daß der Ausruf Ble keinen Sinn gibt, während »Bäh« sinnvoll ist, stört den Autor nicht. – Es scheint mir, daß gerade die Unsinnigkeit dieses schlecht erfundenen Ble die Abhängigkeit vom Pathelin deutlich genug beweist. Die Gerichtsszene (mit Minos als Richter, billiger gibt es der Humanist nicht). Hier steigt der Jocus zu seinem Höhepunkt auf. Zeugen hat Herr Danista keinen. Und Dromo, der arme Taubstumme, hat auf sämtliche Fragen nur sein Ble bereit. Parodistisch werden alle möglichen Rechtsformeln von Minos herbeigeschleppt. Ble, und immer wieder nichts als ble. Es bleibt nichts übrig, als den Halunken freizusprechen. – Hier hat endlich der Chor ein passendes Thema gefunden. Er warnt vor der Justiz, also vor Reuchlins täglicher Betätigung. Ein Stück Autobiographie! Den Prozeßhanseln wird gesagt, daß vor den Richterstühlen nichts als Verleumdungen, Lügen, Betrügereien, räuberische Schwindelaffären im Schwange sind. Wer Tag und Nacht »dem grünenden Lorbeer und den Klängen — 207 —

des himmlischen Apollo sich widmen will«, hat sich von solchen Nichtigkeiten fernzuhalten. »Dann kannst du mit Phöbus ein ewiges Leben haben.« – Ein erhabener Gesang. Den vierten Akt bezeichnet der Kommentar Spiegels mit Recht als »conversio rerum ad jucundos exitus«, als happy end. Diese ›Wendung zum glücklichen Ausgang‹ wird im letzten Akt breit und behaglich ausgespielt. Wie im ›Pathelin‹ appliziert Dromo den vom Advokaten ihm eingepaukten Kniff flugs auf den Advokaten selber. Der verlangt das versprochene Honorar. Ble – ist Dromos immer wiederholte Antwort auf alle Vorstellungen des geprellten Schlaumeiers. Exeunt Schlaumeier und Dromo. Elsa wartet auf Henno, der aus der Stadt noch nicht zurück ist. Da sieht sie von weitem ihn kommen, über die Felder schreitet er, stapft er, wirft die Arme nach rechts und links. Ein Breughelscher Koloß. – Elsa zeigt sich von ihrer besten Seite. Sie gesteht der Freundin, daß sie seit langem von der geheimen Liebe ihrer Tochter Abra zu Dromo wußte. Daß sie es vor dem Mann geheimgehalten hat. Daß sie eine Ehe der beiden wünscht. Daß jetzt durch den Streit zwischen Dromo und ihrem Mann alles verdorben scheint. Wie gern würde sie auf ihre Geldstücke verzichten, – wenn nur Dromo, der Bräutigam, heil aus der Affäre davonkommt. Und siehe da, Henno zeigt sich einem solchen Ehebündnis nicht abgeneigt, da Dromo den Gerichtshof freigesprochen verlassen hat. Henno will alles vergeben, wenn Dromo jetzt die volle Wahrheit sagt. Warum nicht? Dromo trumpft auf. Er hat wie Till Eulenspiegel seine Gaunerstücke nur verübt, um die Gaunereien der andern zu bestrafen. Er zieht einen quasi-moralischen Hintergrund seiner Taten auf. Den Henno hat er bestohlen, denn Henno hat Elsa bestohlen. Danista hat er betrogen, denn er ist ein Wucherer. (Zwei deutsche Bearbeiter umschreiben das mit den Worten: »weil er mit dem Juden— 208 —

Spießlein gerannt ist«. Der eine dieser Bearbeiter ist Hans Sachs. Es findet immer den Beifall der Menge, wenn ein Tröpflein Judenhaß nicht fehlt.) Den Rechtsverdreher hat Dromo hereingelegt, weil er ihm das Hereinlegungsverfahren beigebracht hat. Er schlägt vor, daß ihm die acht Goldstücke als Mitgift gegeben werden. Alle stimmen freudig zu, auch die wackere Nachbarin Greta. Elsa will ihren Verlust verschmerzen; wiewohl sie erklärt, nie etwas Schlimmeres erlitten zu haben. Das Geld bleibt ja immerhin in der Familie. Die weitere Summe, die Dromo durch Verkauf des unterschlagenen Tuches erschwindelt hat, wird nicht mehr erwähnt. Und Greta läßt sich lobend vernehmen: »Henno, du darfst nicht Nein sagen. Schau dir den Dromo an, er ist stark, arbeitsam, er weiß, was er will. Er ist noch nicht ganz ein Mann und nicht mehr ganz Jüngling. Ist schön, schaut nach was aus. Henno (kurz und bündig): Tochter, gefällt er dir? Abra: Ja.« – Dies ist die kürzeste Rolle, die je für eine ehrgeizige Schauspielerin geschrieben worden ist. ›Placet‹ sagt sie, sonst nichts im ganzen Stück. Es wird nicht leicht sein, für diese Rolle eine gute Besetzung zu finden. Aber ein intelligenter Regisseur wird der Maid schon einzureden wissen, daß ihre und nur ihre Rolle die wichtigste und dankbarste im ganzen Stück ist. Sie ist die einzige junge Dame auf der Bühne, ohne sie wäre die ganze Schlußlösung nicht möglich usf. Henno spricht den väterlichen Segen. Die jungen Eheleute sollen einander lieben. Was Henno und seine Frau durch lebenslange Arbeit verdient haben, gehört dem jungen Paar. Greta: »Euch wünsch ich alles Gute und allen Zuschauern dieser Komödie gleichfalls. Jetzt könnt ihr schon applaudieren.« Das lustige frische freche Stück hatte stürmischen Erfolg. Benzing beschreibt (bis 1538) 28 Ausgaben, dazu zwei kommentierte und die mit Sergius gemeinsamen. Holstein — 209 —

nennt acht Nachdichtungen, darunter die beste von Hans Sachs, dann ein sehr kurioses ›Luzerner Neujahrsspiel‹, betitelt ›Der treue Knecht‹, das der gelehrte Forscher (Holstein) mit guten Gründen dem Jahre 1560 zuweist. – In neuerer Zeit ist diese gelungene Hanswurstiade durch einen Schriftsteller wiederentdeckt worden, dem man eine solche Rettung am wenigsten zugetraut hätte. Denn hat nicht Gottsched den Hanswurst (vorübergehend) von der deutschen Bühne verbannt, wie Lessing mit unbarmherzigem Spott darlegt? »Er verstand ein wenig Französisch und fing an zu übersetzen; er ermunterte alles, was reimen und Oui, Monsieur sagen konnte, gleichfalls zu übersetzen … Er ließ den Harlekin feierlich vom Theater vertreiben, welches selbst die größte Harlekinade war, die jemals gespielt worden.« Und dennoch bringt gerade Gottsched den Text in seinem mit dem abenteuerlichen Titel gezierten Kompendium: ›Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst‹ (Leipzig 1757). Vielleicht nur weil es sich um einen Hanswurst handelt, der in elegantesten lateinischen Versen spricht? Holstein schreibt: »Sein (Gottscheds) Bemühen, diese erste Probe des fast regelmäßigen deutschen Witzes vom drohenden Untergang zu retten, ist gewiß sehr dankenswert; denn er hatte mehr als 20 Jahre vergeblich danach gestrebt, dieses komischen Altertums teilhaftig oder nur ansichtig zu werden, und die größten Büchersäle, in denen er dasselbe suchte, hatten das Werkchen nicht aufzuweisen. Endlich fand ich die Komödie, so schreibt er, gleichsam von ungefähr in einer (Leipziger) Bücherversteigerung unter anderen alten Skarteken, die ohne meine Neugierde im Durchblättern einem Würzkrämer in die Hände geraten wären. Die Nachwelt soll also durch diesen meinen geringen Dienst ein Meisterstück Reuchlins zu sehen bekommen, das sonst vielleicht auf ewig verlorengegangen wäre.« — 210 —

Schöne Zeilen! Braver Gottsched! Mag er auch sonst oft unausstehlich gewesen sein, mit seinem Narren, den er an der ›Regelmäßigkeit‹ gefressen hatte, mit seiner stupiden Verständnislosigkeit gegen Shakespeare: er hat doch auch einiges geleistet. – Polemiken muß man von Zeit zu Zeit nachprüfen; es gehört zu ihrem Schicksal, daß bei solchen Nachprüfungen hie und da ein Unrecht zutage kommt. Und je heftiger, witziger, geistreicher die Polemik, um so genauer muß nachgeprüft werden. – Nie hat mich ein Stil so fasziniert wie der des angriffslustigen Lessing. ›Wie die Alten den Tod gebildet‹ – das war die Lieblingslektüre meiner jungen Jahre. Und der hier von Lessing mißhandelte Geheimrat Klotz – war er nicht, wie ich Jahrzehnte später herausfand, der Freund des großen Genies Gottfried August Bürger? »Tu mihi Socrates, tu mihi Plato«, schrieb Bürger an Klotz. Vielleicht hat also auch der große Lessing da und dort geirrt. Und Klotzius war, um in Lessings Tonfall und Wortstellung zu reden, so verachtenswürdig nicht. Ich weiß es nicht. Es wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Doch wenn Lessing gelegentlich irrt: wie erst die pygmäenhaften ›Satiriker‹ unserer Zeit! Viele von ihnen sind gute Geschäftsleute. Sie haben herausgebracht, daß man, wenn man auf die Zeitgenossen schimpft, bei eben diesen Zeitgenossen viel Geld und Ehre verdienen kann. Ich denke an das witzige Magazin der Schadenfreude, die ›Fackel‹. Neben den vielen Satiren, die heute mit redlichen oder weniger redlichen Hintergedanken geschrieben werden, gibt es also eine, die noch ungeschrieben ist und die mit dem allerreinsten Herzen zu schreiben wäre: die Satire gegen die Satiriker.

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SECHSTES KAPITEL

Rechtslage und Zustand des jüdischen Volkes in Deutschland zur Zeit Reuchlins. – Missive und Rudimenta 1

Reuchlins Ruhm stand in voller Blüte. Das hohe Richteramt, das er in Stuttgart ausübte, war ihm vom Schwäbischen Bund übertragen worden. Jede der drei Klassen des Bundes (Fürsten, Ritter, Städte) hatte einen Bundesrichter zu wählen. Reuchlin vertrat die erste Klasse. Er führte den Titel Triumvir Sueviae. 1502 bis 1512 war er Bundesrichter. Als das Bundesrichteramt von Tübingen in das von Stuttgart viel weiter entfernte Augsburg verlegt wurde, gab er die Tätigkeit als Richter auf. Er war ja jetzt mit der Abwehrarbeit gegen Pfefferkorn und die Kölner Dominikaner überbürdet. – Vorher hatte er auch den Dominikanern als Anwalt gedient und zwar stets um Gotteslohn. »Ich habe von ihnen nie etwas erhalten, außer zwölf ›Agnus dei‹«, schreibt er 1518 an Pucci. Seine Mühewaltung für die Dominikaner ist dokumentarisch bezeugt. Es gibt Briefe, vom Ordensprovinzial Petrus Siber, vom Theologieprofessor Wigandus, beide 1504, in denen ihm »ganz großer Dank für seine umsichtige Arbeit in unserer Sache« (»ingentes gratias pro diligentia ac labore in causa nostra«) gezollt wird. Zugleich werden von den genannten Ordensmännern weitere juristische Dienste Reuchlins in Anspruch genommen. »Wir haben keine praktische Erfahrung in derlei Angelegenheiten«, schreibt ihm vertrauensvoll und schutzbedürftig der Provinzial. – Reuchlin hat — 212 —

sich in späteren Jahren bitter beklagt, daß man ihm all seine Bemühungen um den Orden mit Haß und Undank gelohnt habe. Er hat jetzt auch eine Privatpraxis als Anwalt. Sie freut ihn nicht. Sein Herz gehört weiterhin den freien Künsten, den Feinheiten des Stils, ferner theologischen Problemen, speziell jenen, die sich auf das jüdische Volk beziehen, und der Philologie. Diesen drei Hauptinteressen dienen drei Werke. Zwei davon gehören zu den kleineren Arbeiten, nämlich: die Schrift von der Kunst zu predigen: ›Liber congestorum de arte preaedicandi‹, 1504 – zum Dank für die freundliche Aufnahme verfaßt, die er auf der Flucht vor der in Stuttgart wütenden Pest 1502 im Kloster Denkendorf gefunden hat, – dann eine andere Gelegenheitsschrift 1505, die aber einschneidende Folgen nach sich zieht und später gegen ihn ausgenützt wird: das ›Deutsche Missive, warum die Juden so lang im Elend sind‹; darüber später mehr. Das dritte Werk, ist umfassend, die erste hebräische Grammatik in lateinischer Sprache, nebst Wörterbuch, drei Teile 1511: ›De rudimentis hebraicis‹ (Über die Anfangsgründe der hebräischen Sprache). Ein Werk auf neuen Wegen, auf das Reuchlin so stolz ist, daß er ihm den horazischen Vers an der Spitze mitgibt: »Ich habe ein Denkmal errichtet, dauernder als Erz.« Er ist jetzt häufig krank. Es ist eine Schleimkrankheit (pituita), die ihn befallen hat; wohl eine Art Grippe. Er verläßt die Stadt, stellt sich auf das Landleben um. Dem Frater Nicolaus Ellenbog in Ottobeuren, der ihn um die Bedeutung einiger hebräischer Ausdrücke befragt hat, antwortet er (Mai 1509), ehe er in dem gleichen Brief die gewünschten Auskünfte gibt, daß er auf ärztliches Anraten »veränderte Luft« aufgesucht habe, wobei ihm sein Grundstück nahe der Stadt gute Hilfe leiste. Doch fehlt ihm seine Bibliothek, die er in der Stadt (Stuttgart) gelas— 213 —

sen hat. Diese »hassenswerte Ehescheidung zwischen mir und meinen Büchern« macht ihm viel Ärger. Ebenso »die große Undankbarkeit der Literaturbeflissenen, die mein Verleger beklagt, der behauptet, so wenig Käufer für meine Werke zu finden, daß er vorziehen würde, die Schrift X oder Y gedruckt zu haben.« Hier nennt Reuchlin zwei Büchertitel, die dem heutigen Leser, selbst dem gebildeten, nichts sagen. Und er setzt fort: »Daher habe ich es, die Wahrheit zu gestehen, nicht so eilig, Besseres zu schreiben.« Doch will er die Hoffnung nicht aufgeben und bald an ein größeres Werk gehen, »wenn die Götter es wollen und der Götter Bester und Größter, unser König Jesus«, – wie er in seltsam spielerischer Verschränkung klassischheidnischer und christlicher Terminologie auf uns schon bekannte humanistische Art hinzufügt. Wiewohl seine Berühmtheit ständig wächst, hat man bei Lektüre seiner Werke aus der Zeitspanne von etwa 1500 bis 1509 den Eindruck, daß er müde ist. Er zählt etwa 50 Jahre, ist also nach damaligen Begriffen (wie auch ein Gedicht des noch nicht fünfzigjährigen Erasmus beim Alpenübergang ›Über die Nachteile des Greisenalters‹ beweist) ein alter Mann. Er möchte sich ganz zurückziehen. Erasmus übermittelt ihm tönende Lobesworte aus einem Brief des Bischofs von Rochester, Johannes Fischer, der ihn neben Pico von Mirandola stellt. Ellenbog nennt ihn in Fortsetzung ihrer recht lebhaften Korrespondenz immer wieder: »literatorum monarcha« (Monarch unter den Gelehrten). Das ist er. Aber er wünscht Ruhe, Erholung, Kontemplation, vertiefte abseitige Arbeit. – Das Fatum will es anders. Gerade erst jetzt, da er sein Leben in abendlich beruhigte Bahn lenken will, steht ihm die lärmendste, aufregendste, häßlichst klappernde, mit einem heutigen Ausdruck sei sie verdammt: sensationellste Zeit seines Lebens bevor. — 214 —

Er wird von Pfefferkorn gewaltsam in den stürmischen Disput um Vernichtung oder Erhaltung der alten hebräischen Bücher hineingezogen. Und muß in all die Sturzbäche von Gefahren, Angriffen, Lügen, Schmähungen, Verleumdungen steigen, die nun infolge dieser Kampagne über sein nach Stille und Frieden sich sehnendes Herz sich ergießen. – »Wenn Gott meinen Studien Stille gewährt« (si Deus tranquillitatem studio nostro concesserit), schreibt er etwas später, schon im Kampfgetöse, an den gleichfalls die Stille über alles hochschätzenden Kanonikus Mutianus Rufus in Gotha. Gott aber hat ihm diese Stille nicht gewährt. Was er von da an noch geleistet hat, also unendlich vieles und Großes, war dem scheußlichsten Schlachtenlärm abgerungen. – Um diese entscheidende Wendung in seinem Leben, die sich 1510 begab, voll zu begreifen, muß man sich die damalige Lage der Juden, deren er sich annahm, möglichst klar vor Augen führen. 2

Das Schicksal der Juden in Deutschland (und ebenso in fast allen europäischen Ländern) stand damals auf des Messers Schneide. – Das stand es ja eigentlich fast immer, in den vielen Jahrhunderten unserer Diaspora. Doch in wechselnden Gefährlichkeitsgraden. Der Gefährlichkeitsgrad der Reuchlinschen Epoche war nicht zu überbieten. Die Gefahr bedrohte damals nicht allein die physische Existenz der Judenheit; sie bedrohte das geistige Sein des Judentums in seinen Grundlagen, in seiner allerrealsten Überlieferung, seiner Literatur. Warum hat sich denn, nach seiner eigenen Feststellung Reuchlin entschlossen, sein großes Werk über die Anfangsgründe der hebräischen Sprache zu schreiben? In dem Widmungsbrief der ›Rudimenta‹ an seinen Bruder — 215 —

Dionysus gibt er über seine Motive Aufschluß: »Ich bin eingedenk der beklagenswerten Unglückstatsachen, die die Juden in unserer Zeit betroffen haben. Sie wurden nicht nur aus Spanien vertrieben, sie werden auch aus den Grenzen unseres Deutschland ausgewiesen, werden gezwungen, andere Wohnstätten zu suchen und zu den Söhnen Agars (den Moslim) zu fliehen; woraus sich als zukünftig ergibt, daß die Kenntnis der hebräischen Sprache bei uns, zum großen Nachteil der heiligen Schriften, aufhören und verdunsten könnte. Daher habe ich beschlossen, in diesem Buch die Grundsteine für die Verbreitung hebräischer Sprachkenntnisse unter den Christen zu legen, den Anordnungen des Papstes Clemens V. gemäß. Da dies vor mir keiner unter den Lateinern getan hat, hoffe ich, dadurch ungewöhnlichen Dank und bei den Nachkommen ein vor Neid gesichertes Lob zu ernten.« Die schwarzen Ahnungen Reuchlins, die sich auf das Verschwinden der Juden und ihrer Sprache beziehen, haben sich zum Glück nicht bestätigt. Wäre Reuchlin jetzt anwesend, hier, wo ich dieses Buch über ihn schreibe, ich würde ihn freundschaftlich bei der Hand nehmen und in eines unserer vielen, fast stets ausverkauften Theater führen, in die ›Habimah‹ zum Beispiel, wo Goethes ›Faust‹ oder Shakespeares ›Sommernachtstraum‹ oder das Stück eines modernen amerikanischen, deutschen, russischen oder französischen Dichters in hebräischer Übersetzung erklingt – oder auch ein original in hebräischer Sprache gedichtetes Werk eines Zeitgenossen – und wo diese Kunstgebilde von Tausenden und Abertausenden gehört und freudig aufgenommen werden. Oder noch besser: zu unserer kleinen schönen Anathi würde ich ihn bringen, der bath chamésch, der Fünfjährigen, eigentlich: ›der Tochter von fünf (Jahren)‹, wie sie stolz von sich verkündet, – und würde ihn bitten, dieses reizend naive, hebräische — 216 —

Geplauder von ihren Kinderlippen zu vernehmen, das himmelweit entfernt ist von allen Untergangsängsten. Genug! Ich würde ihn und mich mit dem lebendigen Hinweis darauf trösten, daß seine Vorsicht und Sorge denn doch ein wenig übers Ziel geschossen ist. Die Sorge eines guten, wiewohl noch von manchem Vorurteil betäubten Herzens, die Sorge vor allem des gelehrten, seine Wissenschaft liebenden Mannes. Ja, aber wie nah war – trotz allem – die Gefahr unseres Untergangs! Damals, zu Reuchlins Zeit, und eigentlich während der ganzen Geschichtsperiode unseres Souveränitätsverlustes, also knapp über zweitausend Jahre lang – denn diese Periode begann mit dem Einmarsch römischer Truppen unter Pompejus in Jerusalem (63 vor der christlichen Zeitrechnung) und endete erst 1948 mit der Begründung des neuen jüdischen Staates. Rückblickend auf diese Epoche des permanenten Schrekkens, in dem das Schlachtmesser unserem schutzlosen Nacken stets nahe war, begreift man etwa die Worte Goethes, in denen halb ironischer Stolz und vollgültige Verzweiflung eine geheimnistiefe Mischung eingehen: »Wohl kamst du durch; so ging es allenfalls. Machs Einer nach und breche nicht den Hals.« Oder man findet in Heines bedeutsamer Persiflage nicht nur sein persönliches Schicksal gezeichnet, sondern auch zweitausend Jahre der Knechtschaft seines Stammes: »Anfangs wollt ich fast verzagen, Und ich glaubt, ich trüg es nie; Und ich hab es doch getragen, – Aber fragt mich nur nicht: wie?« Dieses »Aber fragt mich nur nicht: wie« steht als Motto über unserem ganzen Exil. Das Exil, die Diaspora, hat (ich — 217 —

weiß es) Großartiges hervorgebracht, Wunder disziplinierter Sehnsucht, den Talmud, Maimonides, den Sohar, Spinoza und vieles andere Unersetzliche, – aber unter Verzerrungen des Leidens und notwendigen Widerstandskrämpfen, die aller Beschreibung spotten. Ich weiß auch, daß es allgemein menschliches Schicksal ist, alle Leistung oder doch, vorsichtiger ausgedrückt, viele unter den großen Leistungen dem Leid und der angstvollen Schwermut abzuringen. In der Geschichte des jüdischen Volkes erscheint aber dieser Grundsatz fast allzu sehr auf die Spitze getrieben. So sehr, daß es nur als ein Wunder begriffen werden kann, wenn wir uns auf diesem grausamen Planeten immer noch als Volk existierend vorfinden. Es gilt, den Grundstock dieser schlimmen Begleitumstände unserer Exil-Existenz wenigstens umrißweise ins Gedächtnis zu rufen. Die Römer hatten der staatlichen Autonomie der Juden ein Ende bereitet. Doch Kaiser Caracalla gab allen seinen Untertanen (außer den Sklaven) das volle römische Bürgerrecht. Ein großartiger Zug des verbrecherischen Herrschers, ein Zug, den allerdings manche Historiker nur als gewaltige Verbreiterung der Steuerbasis aufgefaßt wissen wollen. Wie dem auch sei, eine Zeitlang waren die von dem großen Dichter Horaz gelegentlich verspotteten, von dem konservativen Pedanten Tacitus beschimpften Juden gleichberechtigte Mitbürger des Imperiums geworden. Vorher hatten sie nur unter Julius Cäsar den süßen Geschmack der Gerechtigkeit vorübergehend zu kosten bekommen. Unter Kaiser Theodosius II. jedoch und Kaiser Justinian, dem für die Folgezeit maßgebenden Gesetzgeber, wurden ihre Rechte empfindlich eingeschränkt. Das zur Staatsreligion gewordene Christentum hatte schon seit dem Konzil von Nicäa (325) auf wachsende Recht— 218 —

losigkeit der über das Reich verstreuten jüdischen Gemeinden mit Erfolg hingearbeitet. »So verbot der christliche Staat, neue Synagogen zu errichten, ferner durften Juden nicht Vorgesetzte von Christen sein. Die Zugehörigkeit zur staatsbürgerlichen Gemeinschaft wurde immer mehr erst durch den Zugang zu und die Teilhabe an den Sakramenten ermöglicht. Wer also an diesen nicht teilhaben konnte, gehörte insoweit nicht als Vollbürger zum christlichen Staat.« (Ernst Ludwig Ehrlich: ›Judenfeindschaft in Deutschland‹, aus dem von dem katholischen Theologieprofessor Karl Thieme herausgegebenen Sammelband ›Judenfeindschaft‹, 1963.) Guido Kisch, dessen sorgfältig und gründlich abgefaßte Werke ich im folgenden viel benütze, vor allem seine ›Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters‹ (1954) sowie ›Zasius und Reuchlin‹ (1961), führt den wesentlichen Dammbruch, der die Gleichberechtigung der Juden vor weltlichen Gerichtshöfen vernichtete, auf den Ausschluß der Juden vom Recht, Waffen zu tragen, zurück. In Landfriedensgesetzen sowie im Sachsenspiegel, in dem der Edelmann Eike von Repkow das in seiner Zeit geltende Gewohnheitsrecht zusammengefaßt hat (Ende des ersten Drittels des 13. Jahrhunderts), erscheinen die Juden »als eine von mehreren Gruppen von Personen, deren erhöhte Schutzbedürftigkeit rechtlich anerkannt und durch ihre Aufnahme in den Sonderfrieden des Königs garantiert wird. Der Sachsenspiegel stellt unter Sonderfrieden die Pfaffen und Geistlichen, Mädchen, Frauen und Juden. Der Schwabenspiegel fügt noch zwei andere Gruppen hinzu, nämlich Waisen und Kaufleute«. Warum sind die Juden eines besonderen Schutzes durch den König bedürftig? – Die Entwicklung geht von den blutigen Judenverfolgungen während des ersten und zweiten — 219 —

Kreuzzuges aus. Weil sich während dieser traurigen Ereignisse zeigte, daß der gewöhnliche Rechtsschutz für die Juden nicht ausreichte, werden sie (wie die Kleriker, die Kirchen, Kaufleute und Frauen) unter einen Sonderfrieden gestellt. Die Juden in den rheinischen Städten wie Speyer, Worms, Trier usw. konnten gegen die sich heranwälzenden Scharen der Kreuzfahrer nicht aufkommen. Anfangs wehrten sie sich tapfer. »In dem anonymen Bericht der Darmstädter Handschrift über die Judenmetzeleien und die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Mainz im Jahre 1096 lesen wir (zitiert bei Guido Kisch): Als die Heiligen, Gottesfürchtigen jene große Menge sahen, legten sie in festem Vertrauen auf den Schöpfer Panzer an und umgürteten sich mit Kriegswaffen von Groß bis Klein und Rabbi Kalonymos bar Meschullam stellte sich an die Spitze.« – Doch die Juden unterlagen in dieser Schlacht, wie in vielen andern jener Tage, obwohl in manchen Orten der Bischof selber mit Bewaffneten auf ihrer Seite gegen die fanatisierten Massen kämpfte. Nichts half gegen die durch die Kreuzzugs-Agitation in ihren dunklen Leidenschaften aufgepeitschte Menge. – »Nach der Auffassung des Sachsenspiegels ist der Sonderfriede unter allen Umständen ein unantastbarer Friede und auf seiner Verletzung steht grundsätzlich die Todesstrafe, eine drakonische Auffassung, welche die ganze Schwere der Zeit aufs beste widerspiegelt« (Kisch). Im Mainzer Reichslandfrieden 1103 werden die Juden »zum erstenmal unter die besonders befriedeten Personen gezählt«. – »Jede Gewalttat gegen eine so besonders befriedete Person bedeutet einen besonders schweren Friedensbruch. Er stellt ein qualifiziertes Delikt dar und wird höher bestraft als ein Verbrechen gegen eine nichtbefriedete oder nur den allgemeinen Frieden genießende Person.« Diese zweifellos zunächst als Begünstigung intendierte Vor— 220 —

Seite aus Pfefferkorns ›Ain mitleydliche claeg …‹. Köln 1521.

schrift hat ironischerweise katastrophale Folgen. »Der Reflex des Friedensschutzes war das Waffenverbot. Der Jude war durch seine Einbeziehung in den Mainzer Reichslandfrieden wie alle andern Gruppen geschützter Personen (also z. B. Kleriker, Frauen, Kaufleute) jedem Angriff entzogen.« Er durfte nicht angegriffen werden, daher bedurfte er (nach Palmströms exzellenter Logik, daß »nicht sein kann, was nicht sein darf«) keiner Waffen. »Das Recht schützte ihn vielmehr mit seinem Frieden, dessen Bruch mit erhöhten Strafen bedroht war.« – Man sollte glauben, daß richtige Logik die Juden damals mit doppelten und dreifachen Mengen von Waffen hätte ausstatten sollen. Aber vielleicht war die Übermacht so gewaltig, war die umgebende Bevölkerung so feindselig (plötzlich; derartige Affekte brechen manchmal ohne Vorspiele aus – und vermutlich war die Erhitzung durch die Kreuzzugslegende ein genügend starkes auslösendes Moment), daß eine rationale Beherrschung der Lage undurchführbar erschien. Also flüchtete man in den gesteigerten Rechtsschutz, – der sich ja dann in ruhigeren Zeiten als ausreichend wirksam erwies … bis zum nächsten unvorhergesehenen Ausbruch. Was aber jedenfalls blieb und sich allmählich, im Laufe von etwa zwei Jahrhunderten (für diese Allmählichkeit bringt Kisch eine reiche Dokumentation) immer schärfer akzentuierte – das war das Waffenverbot. Man wollte also die Juden durch den besonderen ›Frieden‹ schützen. Das (ungewollte) Resultat aber war, daß man sie waffenlos den Feinden auslieferte. – Es gibt in der neuen Geschichte ein (allerdings nur entferntes) Analogon. Die Bundesgenossen der Tschechoslowakei, Frankreich und England, faßten ihre Bündnispflicht dahin auf, daß sie die tschechoslowakischen Festungen wehrlos und kampflos den Armeen Hitlers in die Hände spielten (München, 1938). Das Epitheton ›ungewollt‹ kann diesem Verrat freilich nicht beigelegt werden. — 222 —

Am Anfang war der besondere Schutz der Juden, gegen die plötzlich eine Welt von Haß auftrat, eine Verordnung »im Interesse des öffentlichen Friedens und der Aufrechterhaltung der Wirtschaftsordnung, in der sie eine wichtige Funktion hatten. Aber es kann kein Zweifel darüber sein, daß neben das Motiv des Judenschutzes das Motiv der Ehrenminderung im Gebiet des Waffenrechtentzuges gleichwertig hinzutritt. … Das Waffenrecht, das seinen Träger rechtlich auf gleicher Stufe mit der gesamten freien Bevölkerung erscheinen ließ, war nicht mehr vereinbar mit der sozial geminderten Ehre des Juden … Minderung oder Entzug des Waffenrechts bedeutet eine Ehrenminderung schwerster Art. Der Jude gleitet in eine ständig minderwertige Stellung«. – Eike von Repkow war ein Mann, dem noch die Freiheit aller in dem von ihm beschriebenen Rechtsstaat Wohnenden zu den höchsten und unantastbaren Gütern gehörte. Dieser größte deutsche Jurist des Mittelalters war überzeugt, daß jede Art von Unfreiheit widerrechtlich sei. Auch die Juden betrachtete er als Freie. Vom Sachsenspiegel sagt Guido Kisch, daß seine »gerechte und unparteiische Behandlung des Judenrechts noch keine rechtliche Zurücksetzung der Juden kennt«. Doch in einer um 1325 geschriebenen Glosse zum Sachsenspiegel heißt es schon: »Merke hier einen großen Unterschied: Waffen verbietet man den Priestern und den Schülern zu Ehren. Und den Juden verbietet man sie zu Schanden.« Seltsam ist, daß dem Autor der oben angeführten Darstellung eines langsam sich vollziehenden, tragischen Geschehens nicht der Gedanke kommt, daß dieses von ihm so genau und richtig geschilderte Hinabgleiten des Juden auf den Skalen der Ehre und der sozialen Stellung letzten Endes auf den Verlust der jüdischen Eigenstaatlichkeit, der normalen Organisation eines zusammenhängenden Gemeinwesens zurückgeht. Er glaubt daher auch am Ende — 223 —

seiner Ausführungen, bei deren Studium man oft vor Tränen über so tiefe Erniedrigung des jüdischen Volkes und damit des ganzen Menschengeschlechts nicht weiterlesen kann, die Bemerkung anfügen zu können: »Erst der Sieg der Freiheitsideale im 19. Jahrhundert hat aus dem jüdischen Kammerknecht des Mittelalters den freien Staatsbürger der Neuzeit gemacht.« Hat denn nicht gerade unsere Generation erlebt, wie rasch mit einigen Federstrichen dieser ›freie Staatsbürger‹ wieder in den Kammerknecht des Mittelalters zurückverwandelt werden konnte? Ja sogar in einen noch viel elenderen Zustand, denn der Kammerknecht genoß doch noch eine Art von schwachem Schutz, – der von Hitler und seinen Spießgesellen in seiner Menschenwürde geschändete Jude aber war völlig schutzlos; verbrecherische Taten gegen ihn wurden staatlicherseits sogar ermuntert und großzügig organisiert! Ich weiß sehr wohl, daß auch die Eigenstaatlichkeit keine absolute Garantie gegen Rechtsminderung oder volle Entrechtung bietet. Namentlich da nicht, wo es sich um einen kleinen Staat handelt. So wurde einst Karthago von Rom ›ausradiert‹. Und auch heute ist, trotz Völkerbund und UNO, der Zustand nur um weniges besser. Aber dieses ›Wenige‹ ist eben trotzdem entscheidend! – Oder kann es doch werden. Kann genau jene Schwelle darstellen, über die der Aggressor frech hinwegzuschreiten sich zweimal und dreimal überlegt. Es kommt eben, bei der großen Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur, darauf an, daß Hemmungen eingeschaltet werden, daß Pausen im Geschehen eintreten, Lücken der Bosheit, in denen das Gute und die Vernunft wie in ein Zahnrad eingreifen können. Der zur Gegenwehr entschlossene eigene Staat kann daher vermöge dieser Lücken des Bösen seinen Bürgern einen ganz andern Schutz gewähren als den von Deklarationen. Freilich sind auch die Deklarationen wichtig, und beides — 224 —

gemeinsam (Deklarationen der Weltöffentlichkeit plus Bereitschaft des betroffenen Staates zur effektiven Abwehr des Angreifers, eventuell in Gemeinschaft mit wirksamen Bündnissen) kann vielleicht den Angreifer von seiner Freveltat zurückschrecken. Einen absolut wirksamen Schutz gibt es nicht. Der Schutzlose aber reizt geradezu dazu auf, überfallen zu werden. Auch wenn ihm der ›Königsschutz‹ zugesagt – und dafür die Waffe genommen wird. Man kann sagen, daß Waffenlosigkeit und territoriales Zerstreutsein unter verschiedenartige Staatlichkeiten und Rechts- oder Unrechtssysteme den vernichtenden Blitz anziehen. Wir haben es persönlich aufs intensivste erlebt. Der Verlust der Eigenstaatlichkeit ist nur die konzentrierteste Form des Waffenverbots, der sinnenfälligste, gleichsam schon symbolische Ausdruck. Dieser Staatsverlust steht in der zweiten (strengen) Periode des Mittelalters und zur Zeit Reuchlins wie ein Gespenst hinter den Kulissen, während auf der Bühne krasseste Rechtlosigkeit auf die Juden einhaut. Es war nicht immer so. Gerade der vortreffliche Fachmann Guido Kisch sammelt die Belege. Seit dem Jahre 321 (Dekret des Kaisers Konstantin) sind Juden auf deutschem Boden nachweisbar, sind vollberechtigte römische Bürger in Köln. Auf mehr als zehn enggedruckten Seiten reiht Kisch Tatsachen an Tatsachen, die alle mit dem ganzen Apparat ihrer Anmerkungen dafür zeugen, daß die Juden Deutschlands das Waffenrecht, ja die Waffenpflicht besaßen. Christliche und jüdische Quellen werden angeführt, alle bezeugen das gleiche. Die oben zitierte Darmstädter Handschrift ist nur eines der vielen Beispiele. In der Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels (ungefähr Mitte des 14. Jahrhunderts) sieht man deutlich »die Gestalt eines bewaffneten (eine Hellebarde tragenden) Juden mit seinem Judenhut in der Schar der Bewaffneten, die vor — 225 —

einer Burg erscheint. Die von der Folgepflicht Ausgenommenen dagegen, das Weib, der Hirte, der Kirchner (Küster) und der Pfaffe, ziehen hintereinander am Beschauer vorüber, indem sie der Szene, an der sie nicht teilnehmen können, den Rücken kehren«. – Das Hinabgleiten der Juden auf der sozialen Wertskala, ausgedrückt (unter anderem) durch das Waffenverbot, fand eben in Phasen und nach Landschaften verschieden statt. Davon gibt die Dresdener Handschrift eindeutige Kunde. Sie stammt bereits aus einer Spätzeit. Der Anfang dieses Elends führt in die Zeit des ersten Kreuzzugs zurück, – man vergleiche dazu das hier im ersten Kapitel im Anschluß an Friedrich Heers wesentliche Unterscheidung zwischen dem ›offenen‹ und ›geschlossenen‹ Mittelalter Angeführte. 3

Dieses Hinabgleiten wurde durch zwei Ereignisse gewaltig befördert: 1. durch den fanatischen Haß der Kirche gegen die Juden, von dem es einige rühmliche Ausnahmen und sogar ganze Ausnahmeperioden gab, dessen Grundrichtung sich aber doch unaufhaltsam durchsetzte, – 2. im Zusammenhang mit dieser übermächtigen Gegnerschaft die systematische Ausschließung der Juden aus den damals wichtigsten anständigen Berufen, aus Landwirtschaft und Handwerk, – verbunden mit erhöhter Steuerlast, durch welche beiden, allmählich sich einarbeitenden Tendenzen die Juden zu hohem Zinsnehmen gezwungen, von den Behörden hierzu autorisiert und dadurch erst recht dem Haß ihrer Umgebung ausgeliefert wurden. Worauf wieder strengere Gesetze, Einsperrung ins Ghetto, auffallende besondere Tracht, spitzer Judenhut. Und so fort, ins Unendliche. Wir haben hier nicht einen, sondern gleich mehrere Zirkel des Unglücks vor uns, die auf die raffinierteste Art — 226 —

ineinandergreifen und alle Lebensgesundheit zu zermalmen fähig scheinen. So daß das oben erwähnte ›Hinabgleiten‹ immer schneller vor sich ging und schließlich in einen Höllenschlund von Verachtetsein, Leiden physischer und geistiger Art, von trostlosester Isoliertheit führte. Dieses Elend konnte nur durch ein Wunder besiegt werden, das heißt: durch die geistige Kraft des Volkes, das seine biblisch-ethische Weltschau im ganzen nicht aufgab (was in solcher Lage wohl jedes andere unglückliche Volk getan hätte), das also seine eigene Wertskala den Wertskalen der Umgebung beinahe instinktiv, naturgegeben entgegensetzte, und in seinen Gemeinden, unter seinen spirituellen Führern, den Rabbinern, seinen eigenen Rangordnungen, in die es die Dinge des Weltgeschehens und der privaten Sphäre einordnete, treu, somit geistig unabhängig blieb – durch ein Wunder also, in dem unmittelbaren göttlichen Beistand zu erblicken niemandem verwehrt werden kann. – Daß dieses Festhalten an der eigenen Bewertungsweise nicht ohne große Substanzverluste (infolge der ungeheuren Anstrengung), nicht ohne geistige Krämpfe und Degeneration da und dort, nicht ohne gelegentliche wahnhafte Erkrankungen durchgeführt werden konnte, die sich bis zum bekannten ›jüdischen Selbsthaß‹ (Rathenau, Karl Kraus u. a.) steigerten, den Theodor Lessing unüberbietbar richtig analysiert hat – das liefert reiches Material zur ›Kehrseite der Medaille‹, zu jenem Heineschen »Aber fraget nur nicht: wie«, das zwei Jahrtausende unserer Diaspora-Geschichte, manchmal zurücktretend, manchmal auffallender im Vordergrund, stets aber als potentielle Düsternis begleitet hat. Die Feindschaft der Kirche gegen die Juden ist oft dargestellt worden. Daher begnüge ich mich mit der Anführung einiger Hauptpunkte. In den ersten christlichen Jahrhun— 227 —

derten bestand noch eine scharfe Rivalität zwischen dem Christentum und dem gleichfalls missionierenden Judentum. Als das Christentum alleinige Staatsreligion des römischen Imperiums wurde, also einen ungeheuren Sieg errungen hatte, wäre es wohl denkbar gewesen, daß es die ältere Schwester (oder die Mutter) etwas großmütiger behandelt hätte. Das war aber keineswegs der Fall. Guido Kisch l.c. führt aus: »Es ist längst bekannt, daß der Begriff der sogenannten Knechtschaft der Juden, servitus Judaorum, bereits von den Theologen des späten Altertums formuliert worden war. Nach der christlichen Lehre waren die Juden zu ewiger Knechtschaft verdammt als einer gerechten Strafe für ihre Verwerfung und Kreuzigung des Erlösers. Aber Gottes Befehl gemäß sollten sie nicht getötet werden, sondern – gleich Kain – aufbewahrt werden für ein Leben, das schlimmer ist als der Tod. Ein Überrest von ihnen soll über die Welt verstreut werden und durch ihre Schriften sowohl als durch ihre physische Existenz ewiges Zeugnis (testimonium veritatis) für die Christenheit ablegen, daß die Prophezeiungen über Christus keineswegs erdichtet und trügerisch gewesen sind. Schließlich mag die Bekehrung der Juden ein Vorspiel zum Jüngsten Gericht sein. Aber bis zum letzten Tage sollen sie in politischer Knechtschaft verbleiben und in einem Zustand der Untertänigkeit und offenbaren Erniedrigung. So lautete die Lehre der Kirchenväter, welche den Juden Duldung zuteil werden ließen, da diese eine besondere Funktion in der historischen Mission der Kirche zu erfüllen hatten. Schon Augustin (354–430) hatte die Juden als Sklaven der Christen im christlichen Staate betrachtet: ›Der Ältere soll dem Jüngeren dienen‹, »maior serviet minori (nämlich Esau dem Jakob; Genesis 25, 23); das heißt das erstgeborene Volk der Juden dem später geborenen Volk der Christen. So ist der Jude der Sklave des Christen‹. — 228 —

Es ist wohl kein bloßer Zufall, daß diese Sätze nur wenig später niedergeschrieben wurden, kurz nachdem die Juden im Römerreich durch Kaiser Honorius von jeglichem Kriegsdienst ausgeschlossen worden waren – vielleicht eine interessante Parallele zu der historischen Entwicklung, die achthundert Jahre später folgte. Die kirchliche Lehre von der servitus Judeorum blieb unverändert und herrschend während der folgenden Jahrhunderte. Sie gewann aktuelle Bedeutung im Zeitalter des ersten und zweiten Kreuzzuges. Jene Auffassung begegnet bei Rodulphus Glaber (Mitte des 11. Jahrhunderts) ebenso wie bei Rupertus Tuitiensis (gest. 1135 in Deutz bei Köln); man kann sie bei Petrus Venerabilis von Cluny (1094–1156) und bei Bernhard von Clairvaux (1091–1153) finden bis herab zu Thomas v. Aquin (1225–1274). Es besteht kein großer Unterschied in der Gedankenführung, Diskussion und Formulierung. Alle Autoren erklären die Juden als Sklaven der christlichen Fürsten: ›Iudaei christianis principibus subiecti sunt‹. Diese Knechtschaft ist von den frühen Kirchenvätern und mittelalterlichen Theologen ursprünglich in einem rein spirituellen Sinne aufgefaßt worden. Aber von der Mitte des 13. Jahrhunderts an – wahrscheinlich unter dem starken Einfluß der steigenden Macht des römischen Rechts, dem das Lehnsrecht zur Seite stand – wurde der Begriff der spirituellen Oberherrschaft ersetzt durch das juristische Schema des privaten Eigentums.« Im Sachsenspiegel ist das mittelalterliche Institut der ›Kammerknechtschaft der Juden‹ noch nicht erwähnt. »Es ist nicht schwer zu erraten«, sagt Guido Kisch, »welche Stellung der Verfasser des Sachsenspiegels zu dieser Rechtseinrichtung eingenommen hätte, wenn sie zu seiner Zeit praktisch in Erscheinung getreten wäre … Nach seiner Ansicht widersprach jede Art der Unfreiheit dem Gedanken der Göttlichkeit des Rechts und war daher grundsätz— 229 —

lich widerrechtlich.« Kisch führt einen Satz Eikes von Repkow an: »Nach rechter Wahrheit hat Unfreiheit ihren Beginn in Zwang und Gefängnis und in unrechter Gewalt, die man von alters her in unrechte Gewohnheit gezogen hat und jetzt für Recht ausgeben will.« Herrliche Worte! – Aber es ist doch zumindest zweideutig, oder gibt doch leicht Anlaß zu Mißverständnissen, daß auch Eike von Repkow davon ausgeht, daß die Juden eigentlich Knechte des römischen Kaisers, allerdings begnadigte Knechte sind. »Nach der Eroberung und Zerstörung von Jerusalem sind die überlebenden Juden Knechte des Kaisers Vespasian geworden und in den Zustand der Rechtlosigkeit herabgesunken. Nichtsdestoweniger zeigte ihnen Vespasian seine Huld und gewährte ihnen Rechtsschutz. Dies geschah zur Belohnung für die ärztliche Kunst des Flavius Josephus, der den kaiserlichen Prinzen Titus von der Gicht geheilt und die Dankbarkeit, die ihm Vespasian schuldete, zugunsten seiner Glaubensbrüder ausgenützt haben soll. Deshalb – das ergibt notwendig die Schlußfolgerung – ließen die deutschen Könige, die sich als Nachfolger der römischen Kaiser betrachteten, weiter ihre Gnade und ihren Schutz über den Juden walten. In dieser ebenso geistvollen wie kühnen Geschichtskonstruktion, die auf den Sieg der Römer über die Juden zurückgreift, erblickte der Verfasser des Sachsenspiegels die Ursache für die besondere Rechtsstellung der Juden« (G. Kisch). Die Legende selbst hat nur geringes historisches Fundament. Sie beruht auf apokryphen Erzählungen, in denen die Tatsachen einigermaßen verwechselt und durcheinandergebracht werden. Etwa so wie heute in journalistischen Rapporten. Aber das ist unwichtig. Auch Geschichtslügen oder Irrtümer können, allerdings nur für eine begrenzte Zeit, machtvoll Wirksamkeit entfalten. – Die Juden waren also durch den Fall Jerusalems in die Knechtschaft der rö— 230 —

mischen Kaiser geraten. Es erhebt sich die Frage (sie wird freilich in der Wirklichkeit der Ereignisse gar nicht gestellt), warum nicht auch die vielen anderen Völker, die den Römern im Krieg unterlagen, als Knechte betrachtet wurden. Beispielsweise: die Griechen, die Gallier, die Spanier, die Germanen. Die Römer waren in dieser Hinsicht sogar recht großzügig. Sie verliehen den Besiegten das volle Bürgerrecht, Religionsfreiheit, einige Spanier stiegen zur Kaiserwürde auf. Ja, auch den Juden war am Anfang der Entwicklung, die ins Unheil führte, Freiheit gegönnt, sie durften in der Karolingerzeit Grundbesitz erwerben, wie alle andern Bürger; an ihren Eigentums- und Erwerbsrechten wurde nicht gerüttelt, persönliche Freiheit und ihr Waffenrecht waren unbestritten. Bald aber hieß es: daß Knechte nicht für sich, nur für ihre Herren erwerben und verdienen konnten. – Es scheint also, daß die oben angeführten Gründe, die theologischen Überlegungen (von Augustin und andern her) bei der Sondersklaverei, die man den Juden zudachte, mitwirkend waren. Die Übergänge und Zwischenstufen des Jammers bis zu dem Zeitpunkt, »in welchem sich die theologischen Anschauungen und juristischen Lehren bereits unzertrennlich durchdringen«, gibt Guido Kisch genau an. Er resümiert: »Daß diese gedankliche Synthese einer der größten und für das politische Schicksal der Juden verhängnisvollsten Erfolge der christlichen Theologie des Mittelalters gewesen ist, liegt auf der Hand.« Ich verweile bei diesem Punkt nicht, zu dem sich noch sehr viel Anklagendes sagen ließe, – ich verweile nicht, da allem Anschein nach die oben charakterisierte Theologie vielleicht gerade in unseren Tagen, seit Papst Johannes XXIII. gesegneten Andenkens, ihr Unrecht einzusehen begonnen hat. Vielleicht aufgeschreckt durch die Blutbäder und die ins Leere verhallten Hilferufe von Millionen Opfern, an de— 231 —

nen sie nicht hauptschuldig ist (das ist und bleibt der deutsche Nationalsozialismus), wohl aber mitschuldig, da sie die Theorie der Verknechtung und Entrechtung der Juden entwickelt und den angeblichen Grund zu dieser Entrechtung, die (nicht existente) Schuld des jüdischen Volkes am Tode des großen Juden Jesus, bis heute nie entschieden genug widerrufen hat. Wird diese Revision erfolgen, so wird zum erstenmal in der Weltgeschichte der Weg zu einem ehrlichen Frieden zwischen den beiden Schwestern freigelegt sein. Doch bleiben wir bei der historischen Betrachtung des Gewesenen. Paradoxerweise hat nicht so sehr die geistliche als die weltliche Gewalt die meist gar nicht bitteren, sondern im Gegenteil üppigen Früchte der theologischen Schuld- und Knechtschaftskonstruktion gepflückt. Sie wurden in klingendes Gold umgesetzt. Der geniale Hohenstaufe Kaiser Friedrich II., der entschiedene Gegner der päpstlichen Aspirationen, allem Neuen aufgeschlossen, der von Stefan George besungene Meister der ›Feste von Agrigent und Selinunt‹: »Zum Karlen- und Ottonen-plan im Blick Des Morgenlandes ungeheuren Traum, Weisheit der Kabbala und Römerwürde.« … gerade er war es, der 1237 in einem Privilegium für die Stadt Wien die Juden »von öffentlichen Ämtern ausschloß, damit sie nicht die Amtsgewalt zur Bedrückung der Christen mißbrauchen; denn die kaiserliche Machtfülle hat von alters her zur Bestrafung des jüdischen Verbrechens den Juden immerwährende Knechtschaft auferlegt«. — 232 —

Hier kommt offiziell die politische Institution (nicht der theologische Wunschtraum) der jüdischen Kammerknechtschaft zur klaren Erscheinung, wenn auch noch mit theologischer Untermalung. Die Judenpolitik Friedrichs II. ist konsequent. Schon im Jahre zuvor (1236) hat er bei Ausdehnung des alten Wormser Judenprivilegs auf alle Juden den Ausdruck gebraucht: »omnibus judeis ad cameram nostram immediate spectantibus« (allen Juden, die unserer Kammer, d.h. unserer Finanzverwaltung unmittelbar zugehören). Von den Juden wird (in diesem Schriftstück) zum erstenmal als servi nostri (unsere Sklaven) gesprochen, und diese Bezeichnung bleibt von da an für die Folgezeit das ganze Mittelalter hindurch im Gebrauch … Auf dem Gebiet des Reichsrechts wurden Begriff und Wesen der Kammerknechtschaft mit ihren rechtlichen Folgen in dem Mandat König Rudolfs I. von Habsburg betreffend Einziehung der Güter flüchtiger Juden im Jahre 1286 genau umschrieben. Hier kommt die weltliche Auffassung von der Kammerknechtschaft in ihrer vollendeten Gestalt bestimmt und klar zum Ausdruck. Der Beifügung einer historisch-theologischen Begründung wie einst in den Tagen Friedrichs II. bedurfte es jetzt nicht mehr … Im Anfang des Jahres 1342 bestimmte Kaiser Ludwig der Bayer, daß ihm jeder Jude und jede Jüdin, die Witwe ist, und die, welche zwölf Jahre alt sind und zwanzig Gulden Wert haben, jeglicher und jegliche, alle Jahre einen Gulden geben sollen zu Zins von ihrem Leibe … (Es ist die Einführung der ersten Kopfsteuer, des sogenannten ›güldenen Pfennigs‹.) In einem Ersuchen um Rechtsbelehrung, das dem Oberhof zu Magdeburg gegen Ende des 14. oder zu Anfang des 15. Jahrhunderts unterbreitet wurde, fand die zeitgenössische Auffassung von der rechtlichen und tatsächlichen Lage der Juden wie folgt Ausdruck: »Unter den Fürsten haben die Juden keinerlei Recht außer dem, das — 233 —

ihnen die Fürsten geben und setzen.« – Daß die Kammerknechtschaft nunmehr persönliche Unfreiheit bedeutete, kann keinem Zweifel unterliegen. Das Schicksal der Juden hatte sich vollzogen. Ihr Rechtszustand hatte sich von der Freiheit der Karolingerzeit langsam und folgerichtig in ausgesprochene Knechtschaft gewandelt. Daß sich die Bezeichnung ›guldin pfenning‹ im Laufe der folgenden Jahrhunderte in Leibzins oder Judenschutzgeld änderte, bedeutete im wesentlichen keinen Unterschied in der rechtlichen Auffassung. So ging es unaufhaltsam immer tiefer in die Unfreiheit hinein, in einen Rechtszustand, der prinzipiell ein anderer als der der Nichtjuden war. Das Recht des Kaisers auf Leib und Leben der Juden war unbeschränkt. Der Ertrag dieses Rechts konnte an Günstlinge verschenkt oder als Lehen gegeben oder von besonders geldbedürftigen Herrschern auch verpfändet werden. Er wurde auch in zunehmendem Maße zum Streitobjekt zwischen dem Herrscher und den Reichsständen z. B. den Städten. Manche Städte zahlten an den Kaiser eine Abgabe, um die Juden ausweisen oder auch töten zu dürfen, um sich also der unbequemen Gläubiger ein- für allemal zu entledigen. Unglaublich, aber wahr. »Verschiedene Städte schlossen mit Karl IV. Verträge, in denen er ihnen Straflosigkeit für die Ermordung ihrer Juden gegen Bezahlung zusicherte. So brachten die Nürnberger nach Vertragsabschluß mit Karl IV. 570 Juden um.« (Ernst Ludwig Ehrlich, l.c.) Es handelt sich um den Luxemburger, der die Kultur in Böhmen beträchtlich förderte, große Bauten (die Karlsbrücke) unternahm, die Universität in Prag gründete. Das Leben von Juden hatte für ihn keinen Wert. Die Begründung all des Jammers wurde von der Politik in den theologischen Strömungen der Zeit gefunden. Man wird ferner nicht übersehen dürfen, heißt es in den hier immer wieder benützten Forschungen von — 234 —

Guido Kisch, »daß in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine bedeutend gesteigerte Aktivität der Kirche in ihrer Stellungnahme gegen Juden und Judentum wesentlich zur Erweiterung der Kluft zwischen Christen und Juden beigetragen hat. Der Name jedes der damals regierenden Päpste – Innozenz III. (1198–1216), Honorius III. (1216– 1227), Gregor IX. (1227–1241) – verrät ein ganzes antijüdisches Programm. Zwei Höhepunkte bilden das vierte Lateran-Konzil (1215) mit seiner Segregationspolitik, die in den Kleidervorschriften und dem Ämterverbot für Juden gipfelte, und die Anklageartikel Papst Gregors IX. gegen den Talmud (1239), welche zur bekannten Talmuddisputation und großen Talmudverbrennung in Paris (1240–1242) führten. Die päpstlichen Schreiben gingen in aller Herren Länder, und die Konzilsbeschlüsse hatten Geltung für die gesamte Christenheit. Kein Zweifel kann darüber bestehen, daß die kirchliche Propaganda die Judenfrage zu einem Problem von internationaler Bedeutung erhoben hatte. Sie verfehlte auch in Deutschland ihre Wirkung nicht.« Einen grotesken Höhepunkt erreichte die Belastung der Juden gerade zur Zeit Reuchlins, unter Kaiser Maximilian. Liest man Leopold Rankes ›Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‹, 1. Band, so hat man manchmal beinahe den Eindruck, daß die Juden die einzigen waren, die mit Sorgfalt jene Steuern zahlten, die für die Erhaltung des Reiches besonders wichtig waren. So etwa wird im Jahre 1496 auf dem Reichstag in Lindau neben andern löblichen und notwendigen Dingen auch über eine zentrale Rechtsbehörde, das später wegen seines schleppenden Prozeßgangs so berüchtigte Reichskammergericht beraten. Dazu sagt nun Ranke: »Für die Besoldung der Beisitzer (des Gerichts) ward dadurch gesorgt, daß man den gemeinen Pfennig in Regensburg, Nürnberg, Worms und Frankfurt von den Juden einzuziehen und dazu zu verwenden — 235 —

beschloß.« Es zeigte sich dann, daß die Reichsstände sich gegen den ›gemeinen Pfennig‹ ganz energisch sträubten, der auch einen Romzug Maximilians, einen Zug gegen die Türken finanzieren sollte (die alle nicht zustande kamen). Der gemeine Pfennig kam von Städten und adeligen Herrn nur lückenhaft oder auch gar nicht ein; immer wieder wurden Exemptionen geltend gemacht. So erzählt Ranke (Seite 131) gleich über den Reichstag zu Freiburg 1497, daß wohl der Erzbischof von Mainz für die Aufbringung des gemeinen Pfennigs eintrat. Er setzte durch, daß die Versammlung dem König unverzüglich die Zahlung einer einst zugesagten Summe versprach. Jeder mußte erklären, wie weit er mit dem gemeinen Pfennig gekommen sei. »Es eröffnet uns einen Blick in die Lage der deutschen Fürsten, wenn wir uns ihre Erklärungen vergegenwärtigen. Churfürst Berthold von Mainz hat den gemeinen Pfennig eingebracht und erlegt; doch haben sich in seinem Gebiete einige Widerspenstige gezeigt; diesen hat er die Ahndung des Reiches angekündigt, gegen welche er sie nicht in Schutz nehmen werde. – Cölln und Trier haben nur einen Teil ihres Pfennigs eingenommen; sie sind auf nicht wenig Widerspenstige gestoßen, die sich mit den Zögerungen der Niederländer entschuldigt haben. – Die Churfürsten von Brandenburg und von Sachsen haben den größten Teil der Auflage eingezogen und sind bereit sie zu erledigen; doch gibt es in Sachsen einige Herren, von denen der Churfürst sagt, er sei ihrer nicht mächtig, er verpflichte sich für sie nicht. – Dagegen hat der Gesandte der Pfalz gar nicht einmal den Auftrag, sich entscheidend zu erklären; auch Georg von Landshut gab nur eine ausweichende Antwort. Geneigter ließ sich Albert von Baiern vernehmen, doch beklagte er sich über die große Anzahl von Widerspenstigen, auf die er stoße.« Und so geht es weiter. Die bayerischen Landstände »hatten so viel mit ihren Landes— 236 —

bedürfnissen zu tun; es fiel ihnen sonderbar auf, daß auch das Reich Ansprüche an sie machen wollte«. – Nur die reichsunmittelbaren Städte (bis auf drei) erlegten die Reichssteuer prompt. In ihren Leistungen dürfte der jüdische Anteil beträchtliche Summen ausgemacht haben. Die Juden zahlten pünktlich. Bei ihnen, den rechtlosen ›Kammerknechten‹, ging es um den Hals. Daher hatte der milde Vater Maximilians, der hier im 3. Kapitel charakterisierte Kaiser Friedrich III., den Juden ein Zinsprivileg erteilt und dies mit folgenden Worten begründet: »Wo der Christ 10 Schock nimmt, soll der Jude 20 im Jahre nehmen dürfen, weil, wenn er so wenig nähme wie der Christ, er nicht leben könnte, da er zuerst Uns gegenüber seinen Pflichten nachkommen muß, zweitens dem Herrn, dessen Schutz er sich empfohlen hat, zahlen muß, drittens selbst die Interessen zu berichtigen hat, viertens selten ein Amt, dessen Dienst er nötig hat, ihn umsonst entläßt, und er endlich selbst etwas haben muß, um davon mit Weib und Kindern leben zu können.« – Ein richtiges Musterbeispiel für ein privilegium odiosum. Es säte Haß zwischen Juden und Nicht-Juden, obwohl es anfänglich human gemeint war. Und es gab immer wieder, hundertfach derartige Privilegien, die den Juden gestatteten, wie ein Schwamm Geld aus der Bevölkerung zu saugen, damit dann andere, machtvollere Kräfte diese Schwämme tüchtig auspressen konnten. Hier gelangen wir zu den fürchterlichsten Folgeerscheinungen der Entstaatlichung und Entrechtung der Juden, zu dem, was jahrhundertelang das Menschenbild des Juden befleckt hat. Man hatte ihnen nach und nach jede Erwerbsmöglichkeit außer dem Zinsennehmen geraubt. Es ist kein Zufall, daß man damals jeden, auch einen niedrigen Zins ›Wucher‹ nannte. ›Wuchern‹ durfte nur der Jude. Den Christen war das Zinsennehmen (dem jüdischen Bibelwort getreu) — 237 —

verboten. Das Verbot wurde übertreten, umgangen. Sogar Klöster ›wucherten‹. Einerlei, das Verbot als solches bestand. Für alle, mit Ausnahme der Juden. Bis zu den Kreuzzügen waren diese im Warengroßhandel von volkswirtschaftlichem Nutzen gewesen. Man verdrängte sie. Mit dem Aufkommen der Städte und der Kaufmannsgilden (der Hansa, später der Familien von der Art der Fugger und Welser) büßten sie die Reste des Warenhandels ein. Vom Erwerb des Grundeigentums wurden sie ausgeschlossen. In die Zünfte, die auf christlich-religiöser Basis aufgebaut waren, hatten sie keinen Zutritt. Daher war ehrliches Handwerk ihnen verboten. Es blieb ihnen nur der Geldund Juwelenhandel, das Pfandleihgewerbe (mit all seinen üblen Auswüchsen), der Trödelhandel. Heines Gedicht von der ›Prinzessin Sabbat‹ kennzeichnet genau den Zustand der Juden, der die Wochentage über, um seine Familie zu ernähren, als »Hund mit hündischen Gedanken« von Dorf zu Dorf »kötert«, um am siebenten Tag für die Dauer dieses Tages erlöst ein Mensch, ein Prinz zu werden. Der Umgebung lag es nahe, den Trödler zu verachten; wenn auch Goethe freundlich vom wohlassortierten ›Judenkrämchen‹ sprach, auf das er für seine Freundin Christiane ein Auge hatte. – Noch im Generalprivilegium Friedrichs II. (von Preußen) heißt es 1750: »Daß kein Jude ein bürgerliches Handwerk treiben noch außer dem Petschierstechen, Gold- und Silbersticken, weiße Waren ausnähen, Krätzwaschen und anderem dergleichen Gewerbe, wovon sich keine Professionsverwandte und privilegierte Zünfte finden, sich anmaßen soll«. – Kann man sich wundern, daß einer so deklassierten Menschenart nichts übrigblieb als »mit dem Judenspieß zu rennen« und jenen sie umlodernden Haß ins Mythische anwachsen zu lassen, der überdies durch die märchenhaften Beschuldigungen, die Juden hätten die Pest eingeschleppt, Brunnen vergiftet, — 238 —

Hostien durchstochen und zum Bluten gebracht, zu Ostern Ritualmorde verübt usw. immer neu angeblasen wurde. (Vgl. das diesen Mythos klar herausarbeitende, höchst aufregende Buch ›Shylock‹ von Hermann Sinsheimer.) 4

Jossel von Rosheim, der ›Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation‹, ein jüngerer Zeitgenosse Reuchlins, hat in seiner ›ehrbaren Ordnung und Satzung‹ den großzügigen Versuch gemacht, die Widersinnigkeiten der jüdischen Wirtschaft, das übermäßige Zinsnehmen u. a. abzuschaffen. In dem hier schon gerühmten, aufschlußreichen Buch von Selma Stern, vor allem im vierten Kapitel, das den Jossel oder Jöslin als ›Sozialkritiker und Sozialreformer‹ ins rechte Licht stellt, führt die gelehrte Autorin den Beweis, daß die Juden gewillt waren, die Übelstände ihrer Wirtschaft, soweit es an ihnen lag, radikal abzustellen. Der Plan scheiterte, wie mir scheint, letzten Endes daran, daß den Juden die Eigenstaatlichkeit fehlte. Jossel baute nämlich seine ganze Politik auf den Beistand des Kaisers Karl V. auf, der auch tatsächlich entscheidende Zugeständnisse machte. Aber Jossel hatte leider auf das falsche Pferd gesetzt. Gerade zu jener Zeit ging das Recht, die Juden zu schützen (und als Knechte auszubeuten), vom Kaiser allmählich auf die Territorialfürsten über. So hat letzten Endes Jossel gar nichts erreicht. Er ist ein deutliches Beispiel für die Fragwürdigkeit, in den meisten Fällen sogar völlige Vergeblichkeit aller noch so klugen und ethisch noch so gewissenhaften Diasporapolitik. Diese kann nur, wenn sie sich von allen nichtjüdischen Parteiungen, nach Möglichkeit und soweit die Ethik es erlaubt, fernhält, vielleicht und vorübergehend einige bescheidene Erfolge erzielen. Im übrigen muß sie elastisch — 239 —

sein, an verschiedenen Fronten sich verschieden einstellen. Es war ein Fehler Jossels, daß er alle Hoffnungen auf die zentralistische Politik (den Kaiser) legte und sich für dessen Partei, als bringe sie den Messias, rückhaltlos einsetzte. So viel darf nie riskiert werden. – Ich spreche in diesem Punkte aus Erfahrung, da ich jüdische Diasporapolitik, sei es auch nur an einem kleinen Sektor, eine Zeitlang mitgeleitet habe. – Die Wichtigkeit der Diasporapositionen ist durch die hier angedeuteten, oft fast unmenschlichen Schwierigkeiten einer sie konservierenden Politik natürlich in keiner Weise in Frage gestellt. Der junge Luther, der als ein von Grund aus anderer Mensch erscheint als der alte (ein Problem für Psychologen, wo nicht für Psychiater) schreibt: »Unsere Narren, die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche haben bisher also mit den Juden verfahren, daß, wer ein guter Christ wär gewesen, hätte wohl mögen ein Jude werden. Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel und Knebel den Christglauben regieren und lehren sehen, so wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ. Denn sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen.« Fast unbegreiflich ist die Verwandlung dieses Menschen, unter dessen ersten Schriften sich die ausgesprochen judenfreundliche über die jüdische Abstammung Christi befand und der in andern Schriften seine echte Gewissensnot, sein angstvolles Ringen um Gott, abgesehen davon eine Sprachmeisterschaft ohnegleichen zeigt: fast unbegreiflich die Verwandlung in einen Antisemiten, dessen Roheit (in seinen beiden Altersschriften ›Wider die Juden und ihre Lügen‹ und ›Vom Schem Hamphoras‹) zu dem Schändlichsten gehört, was die Geschichte der Menschheit aufzuweisen hat. – Den Übergang mag man vielleicht in Luthers abergläubischer Angst vor der — 240 —

angeblichen Magie der Juden finden, die er mit seiner Frau teilte. Dies soll nicht etwa eine volle Erklärung solch unglaublichen Übergangs zum rohen Fanatismus sein, wohl aber ein Beitrag, den man meines Erachtens bisher nicht genügend beachtet hat. So heißt es in einem (späteren) Briefe an seine Frau: »Liebe Käthe! Ich bin so schwach gewest auf dem Wege hart fur Eisleben, das war meine Schuld. Aber wenn Du wärest da gewesen, so hättest Du gesagt, es wäre der Juden oder ihres Gottes Schuld gewest. Denn wir mußten durch ein Dorf hart fur Eisleben, da viel Juden inne wohnten; vielleicht haben sie mich so hart angeblasen. So sind hie in der Stadt Eisleben itzt diese Stunde über fünfzig Juden wohnhaftig. Und wahr ist’s, da ich bei dem Dorf war, ging mir ein solch kalter Wind hinten in Wagen ein auf meinen Kopf durch’s Barett, als wollt mir’s das Hirn zu Eis machen. Solch’s mag nun zum Schwindel etwas haben geholfen. Aber itzt bin ich, gottlob, wohl geschickt, ausgenommen, daß die schonen Frauen mich so hart anfechten, daß ich weder Sorge noch Furcht habe fur alle Unkeuschheit. – Wenn die Hauptsachen geschlichtet wären, so muß ich mich dranlegen, die Juden zu vertreiben. Graf Albrecht ist ihnen feind und hat sie schon preisgegeben, aber niemand tut ihn noch nichts. Will’s Gott, ich will auf der Kanzel Graf Albrecht helfen und sie auch preisgeben.« (preisgeben = für vogelfrei erklären.) Einen andern Grund für die Heftigkeit und Hemmungslosigkeit, mit der sich Luther in geradezu monströser Weise gegen die Juden gewandt hat, könnte man (von äußeren Umständen, z. B. den ›Sabbathern‹ in Mähren, abgesehen) in seiner unnatürlichen Demut sehen, mit der er, der falschen Theorie von der Unfreiheit des Willens (de servo arbitrio) folgend, seine bärenstarken Triebe vergewaltigte und seine eigene Kraft, das Gerechte zu tun, vor sich selbst und vor andern geflissentlich immer wieder heruntersetzte, — 241 —

um alles der göttlichen Gnade anheimgeben zu können, – auch das, was der Mensch von sich aus tun kann und soll. Es ist nicht zu verwundern, daß sein Selbständigkeitsdrang an anderer Stelle heiß hervorbrach. Er ließ ihm freien Lauf, da wo es seiner Meinung nach unschädlich, ja sogar löblich war, – das heißt: gegen die Juden. – Diesen Versuch einer Entschuldigung oder Erklärung glaube ich dem Respekt vor dem gewaltigen Manne schuldig zu sein, den ich (trotz allem) in Luther sehe. In dem genannten Buch ›Wider die Juden und ihre Lügen‹ meint er nun, daß es außer dem Teufel keinen bittereren, giftigeren, heftigeren Feind gibt als die Juden, diese »blutdürstigen Hunde und Mörder der Christenheit«. Wiewohl das Erscheinen der beklagenswert tiefstehenden Schrift mehr als 20 Jahre nach Reuchlins Tod fällt, führe ich hier ihre Hauptpunkte an, weil sie allzu wenig bekannt sind (würde sonst Luther von Grätz, Heine und andern jüdischen Wortführern so überschwenglich gepriesen werden?) und weil sie für den ganzen Geist jenes Zeitalters als Zielpunkt und extreme Gipfelung einer Tendenz einiges besagen. – Luther also, der große Religionsreformator, dieser (laut Heine) freie Geist und sogar Vorläufer Kants (!), findet, daß die Christen eine Schuld zu büßen haben, da sie Christi Blut an den Juden noch nicht gerächt hätten, vielmehr die Juden in ihren Landen beschützten. Die Christen müßten »mit Gebet und Gottesfurcht eine scharfe Barmherzigkeit üben, ob sie doch etliche (Juden) aus den Flammen und Glut erretten könnten.« Zum Zweck der Ausübung dieser »scharfen Barmherzigkeit« gibt Luther folgenden »treuen Rat«: »1. Man soll ihre Synagogen mit Feuer anstecken, Schwefel und Pech dazu werfen und, was nicht brennen will, mit Erde überschütten, damit kein Stein mehr zu sehen sei ewiglich. — 242 —

2. Man soll ihre Häuser zerstören, sie in einem Stall wie Zigeuner zusammentreiben, damit sie einsähen, sie seien nicht die Herren im Lande, sondern Gefangene im Exil. 3. Man soll ihnen ihre Gebetbücher, den Talmud und die Bibel wegnehmen, damit sie nicht mehr Gott und Christus zu verfluchen die Macht hätten. 4. Man soll ihren Rabbinern bei Todesstrafe verbieten, Unterricht zu erteilen, Gott öffentlich zu loben und zu ihm zu beten, damit sie keine Gotteslästerei mehr treiben können. 5. Man soll ihnen das Geleit und das Recht, die Straßen des Reichs zu befahren, aufkündigen. 6. Man soll ihnen den Wucher untersagen, ihnen ihr Geld und ihre Kleinodien, ihr Gold und Silber abnehmen, da alles, was sie besitzen, durch Wucher geraubt und gestohlen ist. Sie rühmen sich zwar, daß Moses ihnen das Zinsnehmen gestattet habe. Aber dieses Gebot gilt nur für die Juden, die in Canaan lebten, die Mosesjuden, nicht für die anderen, des Kaisers Juden, die zerstreut unter den Völkern wohnen. Für diese ist das Gesetz des Moses aufgehoben, sie haben dem kaiserlichen Recht zu gehorchen. 7. Man soll den jungen starken Juden und Jüdinnen Flegel, Axt, Spaten, Rocken und Spindel geben, damit sie im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienten, obwohl es für das Wohl der Untertanen das Beste sei, sie, wie in Spanien, Frankreich, Böhmen und den Reichsstädten, aus dem Lande zu jagen.« Wie man sieht, haben hier die Nazis ihr Programm so ziemlich vorgezeichnet gefunden. Sie haben Luthers Aufträge bestens, zum Teil ganz wörtlich ausgeführt, wenn auch mit abgeänderter Begründung (was den Opfern ziemlich einerlei sein konnte). Es ist denn auch zur Nazi— 243 —

zeit dieses bis dahin wenig beachtete Buch Luthers in Volksausgaben, auch mit gelehrt-professoralen Kommentaren wiederholt erschienen. Zu der immerhin humaneren Zeit (schwer geht mir das Wort von der Feder), in der Luther gelebt hat, wurden seine Empfehlungen nicht allgemein ernst genommen. Nur einige Landesherren wurden zu Ausweisungen der Juden ermuntert. Von diesen Ausweisungen abgesehen wäre übrigens gegen einen der sieben Punkte, gegen den letzten, nichts einzuwenden, – wenn der Rat mit Wohlwollen und unter sorgsamer ehrlicher Beachtung der realen Verhältnisse gegeben erschiene. Die Juden haben ihn, sobald die Umwelt es wirklich gestattete, in der Diaspora und jetzt im eigenen Staate befolgt, haben überall zu den schweren Arbeiten des Landbaus, des Handwerks, der Industrie, aller Berufe begierig gegriffen. In A. D. Gordon ist ihnen dann ein Prophet erstanden, der den Segen der Arbeit verkündete und auch selbst, wie Tolstoi, nach seinen Maximen lebte. – In den Zeiten Luthers dachte niemand daran, den Juden das primitivste aller Rechte, das Recht auf Arbeit zu geben. – (Die judenfeindlichen Bücher Luthers finden im heutigen Protestantismus öfters scharfe Ablehnung. So nennt der evangelische Theologe Hans Joachim Kraus in dem Sammelwerk ›Juden, Christen, Deutsche‹ 1961 das Buch Luthers ›Von den Juden und ihren Lügen‹ eine »schreckliche Schrift« und schreibt nach Zitierung ihres Inhalts: »Wir haben zu diesen Sätzen Luthers keine apologetischen Erklärungen oder Verständnisversuche hinzuzufügen. Wir dürfen sie auch nicht [wie es heute gern geschieht] schamhaft verschweigen. Diese Sätze sind geschrieben worden und überschatten in ihrer Schwärze und Schwere den gesamten Protestantismus.«) So viel über den Hintergrund, vor dem sich Reuchlins erstaunliches Eintreten für die Juden abspielte, obwohl er, — 244 —

wie immer wieder hervorgehoben werden muß, durchaus kein Freund der Juden, ja ein offener Gegner ihres Glaubens war. Doch ein redlich nach Gerechtigkeit strebender Mann, das war er, – mithin das Seltenste, was auf Erden zu finden ist. 5

Zunächst hatte er einen Anlaß, sich über die Juden zu äußern, als ein Edelmann sich an ihn mit der Frage wandte, wie er sich im Gespräch mit ›seinen‹ Juden verhalten solle. Ob dieser Edelmann wirklich existiert hat, von dem in Reuchlins Sendschreiben als von dem »edlen festen günstigen lieben Junker« die Rede ist, oder ob es sich um eine bloß fingierte Person handelt, tut nichts zur Sache. Handelt es sich um eine bloße Fiktion, so müßte man ein besonderes Herzensbedürfnis Reuchlins annehmen, sich über diesen Gegenstand auszusprechen. Hiefür fehlt freilich jedes Indiz. Der Name des Edelmannes und der spezielle Distrikt, auf den sich Reuchlins Sendschreiben bezieht, sind nicht genannt. Doch dazu gibt es eine einfache Erklärung: Im allgemeinen wünschte man es damals nicht, seinen Namen irgendwie mit einer Judensache verknüpft zu sehen; es sei denn in angreiferischer Weise. Schon Reuchlins objektive ruhige Annäherung an das Thema war da und dort mißliebig. Vielleicht hatte es sich der Edelmann verbeten, daß sein Name mitpubliziert werde. – So scheint es mir, daß es sich doch um ein durch eine konkrete Gelegenheit veranlaßtes Zufallswerkchen handelt. Denn es ist auch durchaus nicht gründlich und an Umfang gering (nur siebeneinhalb Druckseiten umfassend). Auch die Worte »fürs erste« (im Urtext »für des erst«) im Nachwort, das ich unten anführe, deuten auf eine flüchtige Skizze, eine rasche Anregung hin. – Der Titel lautet: »Doc— 245 —

tor johanns Reuchlins tütsch missive, warumb die Juden so lang im ellend sind‹. Die Schrift, die man als ›Deutsches Sendschreiben‹ bezeichnen kann (wobei das Wort ›ellend‹ etwa mit ›Ausland‹ oder ›Exil‹ zu übersetzen wäre), weist Pforzheim 1505 als Druckort, Thomas Anshelm als Drukker aus. Geiger und besonders Guido Kisch (›Zasius und Reuchlin‹) haben das Werkchen eingehend behandelt. Laut Reuchlins Darstellung hat sich der Edelmann an ihn gewendet, weil er mit den auf seinem Gebiet ansässigen (oder auch nur vorübergehend zugelassenen) Juden »zu müßigen Zeiten« über Glaubensfragen so sprechen wolle, daß »daraus kein Ärgernis, sondern merkliche Besserung entstehe«. »Honeste ac sine scandalo, recreationis causa« (Ehrenvoll und ohne Ärgernis, zur Erholung) – so übersetzt er das selbst in einer andern, viel späteren Schrift, in der er auf das Missive referierend zurückkommt: ›Defensio contra calumniatores suos Colonienses‹ (›Verteidigung gegen seine Verleumder in Köln‹, 1513). Eine solche ›merkliche Besserung‹ kann sich Reuchlin nur als Taufe vorstellen. Das Schriftchen dient denn auch dem Zweck, die Juden zu bekehren. Dies geschieht auf durchaus konventionelle Weise. Reuchlin rät dem Junker, seine Juden zu fragen, warum sie ihrer Meinung nach so lange im Exil seien (»in tam longa se captivitate detineri«, laut der ›Defensio‹; »in der Gefencknus des düfels«, »in der Gefangenschaft des Teufels«, laut dem ›Missive‹). Dann möge der Junker ihnen erklären, daß sie wegen der Sünde, die sie am Messias, Sohn Gottes, begangen, diese schwere Strafe erleiden –; die Länge des Exils gibt er für die Zeit bis zu seinen Tagen mit 1300 Jahren an, an anderer Stelle des gleichen Opusculum mit 1400 Jahren. Die erste der zwei rund angesetzten, ungefähren Ziffern könnte man etwa mit dem Hinweis auf das Jahr 135 n. Chr. G. rechtfertigen, in dem die letzte jüdische Festung (Massada) — 246 —

von den Römern erobert wurde. Die zweite Ziffer mit der Tempelzerstörung durch Titus (70 n. Chr. G.). Doch beide Ziffern sind ungenau, einigermaßen lässig eingesetzt. Ebenso lässig ist anderes in dem Schriftchen dargelegt. So etwa soll der Junker, wie Reuchlin ihm vorschlägt, den Juden vorhalten, daß sie nicht nur damals, zu Jesu Zeiten gesündigt hätten, sondern daß sie sich an die Sünde festklammern, ja sie gar nicht für eine Sünde halten. Denn würden sie einsehen, so würden sie sich ihrer entledigen, »darmit sie wieder heym kommen möchten«. In dieser Hinsicht sind sie aber blind, und solche Blindheit ist eine besondere Strafe von Gott. – Ein Argument, das ernst zu nehmen nicht ohne Schwierigkeit abgehen dürfte. Es erinnert zu sehr an das klassische Sophisma vom Kretenser: »Ein Kretenser sagte einst: Alle Kretenser sind Lügner. Also ist auch dieser Satz eine Lüge. Also sprechen alle Kretenser die Wahrheit. Also ist auch der Satz: Alle Kretenser sind Lügner – eine Wahrheit. Und so fort, in infinitum.« – Reuchlin bringt dazu auch sein Argument aus dem ›Wundertätigen Wort‹ vor, in welchem er den Namen Jesus aus dem Tetragrammaton ableiten will, – ein künstliches Argument, das wohl niemanden überzeugen kann. – Das Schlimmste aber ist, daß Reuchlin den Juden vorwirft, daß sie in ihren täglichen Gebeten Gotteslästerung treiben. »Das zweite ist, daß alle Juden in der Gegenwart, so lange sie Juden sind, an solcher Gotteslästerung teilnehmen und eine besondere Freude daran haben, wenn sie etwas zu Schanden und Laster (des Christentums) erdenken und erdichten können.« Er behauptet also genau das Gegenteil von dem, was er fünf Jahre später in seinem offiziellen Gutachten oder ›Ratschlag‹ zum Talmudstreit dargelegt und im ›Augenspiegel‹ stolz veröffentlicht hat. Wir werden an der gegebenen Stelle, bei Darstellung des ›Augenspiegels‹, auf die unrichtigen Behauptungen Reuchlins — 247 —

und auf ihre Richtigstellung durch ihn selbst, eben durch den ›Augenspiegel‹, zurückgreifen. Wenn ich oben sagte: »Das Schlimmste«, so ist in erster Reihe »das Schlimmste für Reuchlin selber« gemeint. Denn bis fast an sein Lebensende haben ihm seine erbitterten Gegner vorgeworfen, daß er im ›Missive‹ strenger mit den Juden ins Gericht gegangen sei als im späteren ›Augenspiegel‹. – Warum aber sollte es einem redlichen Manne nicht erlaubt sein, seine Irrtümer einzusehen und zu korrigieren? Reuchlin hat eben in der Zwischenzeit vom ›Missive‹ 1505 bis zum Gutachten 1510 in jüdischen Angelegenheiten sehr viel hinzugelernt, hat Quellenstudium getrieben und im Nachdenken dieser Quellen eine vorher ungeahnte Reife erlangt; in diese Zeit fällt ja unter anderem seine Beschäftigung mit den ›Rudimenta‹, die gerade während dieser Übergangszeit, nämlich 1506 erschienen sind, – vielleicht auch die lateinische Übersetzung des langen Gedichtes ›Die silberne Schüssel‹ von Rabbi Joseph ben Chanan Ezobi aus Perpignan (eines an Ezobis Sohn gerichteten Hochzeitsgedichtes), die Anfang 1512 unter folgendem Titel bei Thomas Anshelm in Tübingen herauskam: ›Rabi Joseph Hyssopaeus Parpinianensis judaeorum poeta dulcissimus ex hebraica lingua in latinam traductus a Joanne Reuchlin‹ (›Rabbi Joseph Ezobi, der überaus süße Dichter der Juden‹ usw.) – Hier sind wir also glücklicherweise schon recht weit von ›Gotteslästerung‹ entfernt. Den ganzen Tatbestand dieser vielverlästerten ›Widersprüche‹ hat mit unbestechlicher Geradheit Ludwig Geiger in seiner Reuchlinbiographie in folgenden Worten zusammengefaßt: »Sein (d. h. Pfefferkorns) dialektischer Kampf gegen Reuchlin wurde ihm durch den Umstand erleichtert, daß dieser die Ansichten, die er in seinem Ratschlag aussprach, nicht immer vertreten, ja daß er sich in seinem vor fünf Jahren erschienenen Missive zu ähn— 248 —

lichen, freilich minder schroff ausgesprochenen Anschauungen bekannt hatte, wie sie Pfefferkorn jetzt predigte. Pfefferkorn frohlockte, wenn ihm ein Gegenüberstellen krasser Widersprüche, die leicht aufzufinden waren, gelang. Er übersah, und mußte bei seiner Geistesrichtung übersehen, daß es niemals ein Fehler sein könnte, Irrtümer abzulegen, daß das Bekenntnis, zu richtigeren Ansichten gelangt zu sein, einen ehrlichen Mann nur adle.« Übrigens kommt Reuchlin auch da, wo er irrt und in seiner Argumentation mit Luthers Angriff auf die Juden einzelnes gemein hat, doch zu ganz anderen Schlußresultaten als Luther. Und das ist wohl das Wichtigste zur Erkenntnis seines milden und vornehmen Wesens. Nachdem er nämlich die ›Sünde‹ der Juden genugsam durchgehechelt hat, gelangt er durchaus nicht dazu, die Vertreibung der Juden aus dem Lande, ihre Beraubung, das Niederbrennen ihrer Gotteshäuser usw. zu verlangen wie Luther. Sondern er schließt: »Ich bitt Gott, er wolle sie erleuchten und bekehren zu dem rechten Glauben, daß sie aus der Gefangenschaft des Teufels erlöst werden, wie die Gemeinschaft der christlichen Kirchen am Karfreitag andächtig für sie bittet. Und wenn sie Jesus als den rechten Messias erkennen, so würde all ihre Sache gut, hier in dieser Welt und dort in der ewigen. Amen. – Edler fester günstiger lieber Junker! Das habe ich euch für’s erste mitteilen wollen, damit ihr es mit ihnen besprechen könnt, und erbiete mich zugleich, wenn einer von ihnen über den Messias und unsern rechten Glauben unterwiesen werden wollte, mich seiner gern anzunehmen und zu helfen, so daß er sich um seine geistige Nahrung keine Sorgen machen müßte und reuiglich Gott dienen und aller Sorgen frei sein könnte. Gegeben in den Weihnachtsfeiertagen zu einem guten seligen Jahr, Zum Jahre 1505.« Die Schlußsätze sind vielleicht allzu mild. Sie erinnern — 249 —

sehr an die noch heute bestehende Praxis der Judenmissionen da, wo sie sich armen verelendeten Judenmassen gegenübersehen. Guido Kisch hat darauf hingewiesen, daß Reuchlin in der ›Defensio‹ fast wörtlich das Rezept des Papstes Gregor IX. wiederholt, man müsse die Juden »durch Schmeichelreden (blandimentis), nicht durch Rauheiten zum wahren Glauben führen«. – Selbstverständlich ist dies nicht so zu verstehen, daß Reuchlins Einstellung den Juden gegenüber, die um so viel freundlicher war als die seiner Zeitgenossen, nicht außer mit seinem gewiß ehrlich gemeinten Bekehrungswunsch auch mit seiner humanen und im besten Sinn anständigen Denkart zusammenhing. Reuchlin war eben mit einem wichtigen Teil seines Wesens ein mittelalterlicher Mensch, dogmatisch fest verwurzelt; ein anderer Teil seines Ich suchte ahnungsvoll neue Wege der Menschengemeinschaft. Mochten die beiden Naturen in ihm noch so unentwirrbar ineinander verschränkt sein – eines steht fest: Grausamkeit hatte keinen Eintritt in dieses Herz. Die ›Rudimenta hebraica‹ (1506) sind in Pforzheim bei Anshelm gedruckt und bringen zum erstenmal in Deutschland die gewöhnlichen hebräischen Druckbuchstaben zur Anwendung. Vorher, im ›Missive‹, hatte Reuchlin die sogenannte Raschischrift in seinen hebräischen Zitaten benützt. Im Werk ›Vom wundertätigen Wort‹ verwendet er für die hebräischen Worte lateinische Typen. – Das Erscheinen eines Buches mit so reichhaltigen hebräischen Bestandteilen, die nicht nur als Zitate, sondern als Hauptgegenstand fungierten, bedeutete für die Zeitgenossen etwas Neues, Überraschendes, – die mehrmals (einmal sogar in Versform) eingeschärfte Vorschrift, das Buch von rechts nach links aufzublättern und so zu lesen, beweist den absichtsvoll unterstrichenen, gleichsam exotischen Charak— 250 —

ter; denn an sich hätte es genügt, das Buch so anzulegen, daß es wie alle sonstigen von links nach rechts zu blättern war und nur die hebräischen Einschiebsel von rechts nach links gelesen wurden. Aber Reuchlin wollte es anders. »Nicht ist dieses Buch wie alle übrigen zu lesen«, dichtet er und läßt noch weitere fünf Verszeilen über das gleiche Thema folgen. Die lateinischen Erklärungen mußten natürlich ohnehin in entgegengesetzter Richtung zur Kenntnis genommen werden. Das umfangreiche Werk umschließt drei Teile: 620 Seiten. Der erste und zweite Teil: ein hebräisches Wörterbuch mit lateinischen Erklärungen. Eine ganz elementare Grammatik geht voran, durch die »weiter nichts erzielt werden soll, als den Lernenden zu befähigen, hebräisch zu lesen, sich über die Bestandteile, die Zusammensetzung der einzelnen Worte Rechenschaft geben zu können« (Geiger). In der Vorrede des dritten Teiles, die, wie die Vorrede des Ganzen, an den Bruder Dionysos gerichtet ist, wird der Inhalt der beiden ersten Teile mit den Worten charakterisiert, daß sie »de literis, syllabis et dictionibus Hebraicis maxime primitivis« (von den Buchstaben, Silben und einfachsten Ausdrücken des Hebräischen) handeln. Die eigentliche ausführliche Grammatik folgt dann als 3. Teil. – Das Ganze faßt Reuchlin als bloße Vorschule auf und verspricht, in der Folge höhere Wissenschaft zu geben, »die zur Geheimwissenschaft des Pythagoras und zur kabbalistischen Kunst hinleiten soll, die von niemandem vollständig verstanden werden kann, er sei denn hebräisch vorgebildet«. Kein Zweifel, er hatte bereits den Plan zu seiner ›Kabbalistischen Kunst‹ im Kopf, die er dann aber, in den grauenhaften Kölner Streit verwickelt, erst elf Jahre später (und schon nahe dem Ausgang seines schwer bedrängten Lebens) fertigstellen konnte. Die ›Rudimenta‹ schreibt er noch in gleichsam windstiller Zeit; doch es tut — 251 —

ihm leid, daß er, ehe er sich an das eigentliche Ziel (die kabbalistische Erkenntnis) heranpirschen kann, vergleichsweise in den Niederungen und einsam, im »Fasse des Diogenes«, wie er seine Situation benennt, verweilen muß, bei einer Arbeit, die manchem Gebildeten als »trivial, inurban, jeglichen Blumenschmucks entbehrend« erscheinen wird. Doch er tröstet sich mit einem (angeblichen?) Satz des Aristoteles, der dem Lehrer den Gebrauch der gewöhnlichsten Worte empfiehlt, um sich den Schülern nur ja recht verständlich zu machen. Übrigens wisse er, daß er schon alt (51 Jahre!) und daß er beinahe ein Barbar geworden sei, da er nicht mit Menschen von eleganter Sprechweise verkehre, sondern tagtäglich mit Bauern zu tun habe – hier einer seiner beliebten Ausfälle gegen den juristischen Beruf –, denen er »über Abzugskanäle, Sümpfe, Holz, Wege und andere gewöhnliche Streitigkeiten des Kriminal- wie des Zivilrechts Rat zu erteilen habe«, »nicht lateinisch, sondern in schwäbischer Redeweise«. Merkwürdig, daß der Mann, der dann im ›Augenspiegel‹ die deutsche Sprache lange vor Luther in ganz ähnlicher Weise wie Luther gewaltig donnern und blitzen zu lassen verstand, sich für den Gebrauch einzelner deutscher Worte in den grammatischen Erklärungen entschuldigen und sich auf das Vorkommen »barbarischer Worte« bei Aristophanes, bei Cato, ja auf die karthagischen Brocken im ›Poenulus‹ des Plautus berufen zu müssen glaubt. Er scheint dabei gar nicht zu merken, daß jene Klassiker Worte aus ihnen fremden Sprachen einschoben, er aber deutsche heimische Worte einfließen läßt. So sehr war ihm das Deutsche (theoretisch, nicht praktisch) zur Fremdsprache geworden, daß er hier den Unterschied der beiden Verfahrensweisen unbeachtet läßt. Doch all die Arbeit nimmt er wacker auf sich. Er weiß, daß vor ihm kein anderer dies unternommen hat (quod — 252 —

alius ante me fecit nemo), nämlich eine solche Einführung ins Hebräische für Nicht-Juden zu schreiben. Seiner Pionierstellung ist er sich voll bewußt. Und bemerkt mit Stolz in einem späteren (ausnahmsweise deutschen) Brief an den Buchhändler Johann Amerbach in Basel: »Denn soll ich leben, so muß die hebräische Sprache herfür, mit Gottes Hilf. Stirb ich dann, so han ich doch einen Anfang gemacht, der nit leichtlich wird zergen. Ich will umb gemeins nutz willen gern und williglich schaden lyden, lieber meister Hanns, Herr und gut fründt.« – Das Buch geht nämlich schlecht, erweist sich sozusagen als worst-seller. Siehe auch den am Anfang dieses Kapitels zitierten Brief an den Frater Ellenbog 1509. Von 1000 Exemplaren, die er auf eigene Kosten hat drucken lassen, sind einige Jahre später noch 750 bei Anshelm auf Lager, und die will er jetzt bei Amerbach (auch Amorbach genannt) unterbringen. Es gelingt zu sehr niedrigem Preis und nicht ohne viel Ärger. Über all das erhebt ihn das Bewußtsein, daß es »notwendig war, die alte Würde der heiligen Schriften in neuer, den Lateinkundigen bisher unbekannter Gestalt zurückkehren zu lassen, damit wir das, was durch allzu große Vertrautheit der täglichen Lektüre gleichsam ausgezischt wird, in der erneuerten und ursprünglichen Sprache, wie der Mund Gottes sie geredet hat (quale os dei locutum est), nicht ohne eine gewisse Bewunderung der noch nie zuvor gewagten und eben erst jetzt erfolgten Bestrebungen vernehmen«. Noch deutlicher erklärt er sich über dasselbe Thema in einem Brief an den Frater Ellenbog (19. 3. 1510) in einer besonders schönen Darstellung, die meines Wissens noch nie übersetzt worden ist: »So möge mich Gott lieben, wie mich, nachdem ich verschiedene Studien versucht habe, nichts unter allen Sprachen, die ich gelernt habe, mehr mit Gott verbindet, als die hebräische Lektüre der heiligen Schrift. Denn immer wenn ich hebräisch lese, — 253 —

ist es mir, als sähe ich den redenden Gott vor mir, – wenn ich bedenke, daß dies die Sprache ist, in der Gott und die Engel ihre Gnaden den Menschen auf übernatürliche Art erteilt haben. Und dann werde ich von einer Art Schauder und einem Schrecken geschüttelt, nicht ohne daß eine unaussprechliche Freude solchem Staunen oder vielmehr solchem Erstarren folgt, eine Freude, die ich in Wahrheit Weisheit nennen möchte, jenem göttlichen hebräischen Satz zufolge: ›Der Anfang der Weisheit ist die Furcht vor Gott‹.« (Eine frühe Beschreibung des ›Numinosen‹, der Entdeckung Ottos.) Gegen seine christlichen Vorgänger, Übersetzer wie den Schöpfer der kirchlich anerkannten Vulgata, den heiligen Hieronymus, ferner Nikolaus von Lyra u. a. ist er bei aller Verehrung durchaus kritisch (den schönen Satz, in dem er die Wahrheit über sie alle stellt und »wie Gott anbetet«, habe ich schon angeführt). Die ›hebräische Wahrheit‹ ist es, die er sucht. Er geht bewußt (im Gegensatz zu Erasmus, Eck u. a.) in der Übersetzung der Bibelstellen auf den hebräischen Urtext zurück. Dies ist sein unbestreitbares Verdienst, im philologischen wie im theologischen Sinn. Im ›Augenspiegel‹ äußert er sich dann vollends respektlos, indem er den klassischen Erklärer der Bibel und des Talmud, Raschi (Rabbi Schlomo Jizchaki) weit über Lyra erhebt und die freimütige Formel wagt: »Und wann die wörter und reden Rabi Salomonis (i. e. Raschi), der über die Bibel geschrieben hat, us unserm Nikolao de Lyra, der auch über die Bibel geschrieben hat, cantzelirt und ausgethan weren, so wölt ich das übrig, so derselb Nikolaus de Lyra uss seinem aygen haupt über die bibel gemacht hatte, gar inn wenig bletter comprehendiern und begreiffen.« – Wie sehr sticht Reuchlins Ansicht von dem (späteren) brutalen Urteil Luthers ab, der gegen sein eigenes besseres Wissen alle jüdischen Kommentatoren der Bibel zum Verstummen bringen will. – — 254 —

Reuchlin dagegen macht für sein Wörterbuch wie für seine Grammatik von den hebräischen Quellen, die er im Original studiert hat, reichlich Gebrauch. Insbesondere stützt er sich auf den großen Grammatiker des 12. Jahrhunderts Dawid Kimchi, dessen Buch ›Michlol‹ (Vollkommenheit – eine Grammatik und ein Wurzelwörterbuch) im jüdischen Kulturbereich autoritäre Geltung erlangt hatte. Er zitiert auch die Bibelkommentare Kimchis, ferner den Vater Kimchis und den älteren Grammatiker R. Jona sowie eine große Zahl anderer hebräischer Autoren. Er verwendet die Massora (Randglossen zum Bibeltext), die er aus Handschriften mühsam zusammensuchen muß, – denn erst nach seinem Tode begann man sie wissenschaftlich zu bearbeiten und zu drucken. Er kennt den ›Führer der Verirrten‹ des Maimonides, das Buch Kusari von Jehuda Halevi, den ›Nußgarten‹ des Josef Gikatilla, – also Bücher von sehr verschiedener Geisteshaltung. Natürlich benützt er Raschis Erklärungen. »Ihm verdankt Reuchlin viel, an unzähligen Stellen führt er ihn an, gern nimmt er seine Erklärungen auf.« – Allen Beziehungen Reuchlins zu seinen literarischen jüdischen Quellen ist L. Geiger eifrig nachgegangen. Auf die hebräischen Gelehrten vergangener Jahrhunderte beruft sich Reuchlin also in Hülle und Fülle, unter den Zeitgenossen nennt er Jakob Jechiel Loans und Owadja Sforno als seine Lehrer, sowie »einzelne, von denen ich einzelnes herausgefischt habe«, – betont aber, den Vorurteilen seiner Zeit gemäß, daß er »die hebräische heilige Sprache nicht in Jerusalem und nicht in den öffentlichen Synagogen der Juden« erlernt habe. – Noch später, in der Fehde mit Pfefferkorn, der ihm vorwarf, er (Reuchlin) habe sich gern vor Fürsten und Herren seiner HebräischKenntnisse gerühmt, bemerkt er nüchtern, ein solches Prahlen »hätt mir vil meh zu verclainerung gediennt, — 255 —

dann zu ainem lob«. – So lagen die Dinge, widerspruchsvoll, nicht leicht zu durchdringen. Wiewohl wegen seiner bahnbrechenden Gelehrtenarbeit auf dem Gebiet der hebräischen Sprachwissenschaft von allen Humanisten (auch von sich selbst) hochbewundert, oft als ›Monarch‹, als ›Zierde Deutschlands‹ gepriesen, – hegte er doch ein Winkelchen in seinem Herzen, in dem er sich dieser Lieblingsbeschäftigung ein wenig schämte … oder doch, vielleicht unbewußt-vorsichtig, vorbeugenderweise, so tat, als schäme er sich.

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SIEBENTES KAPITEL

Der Streit mit den Kölnern beginnt 1

Der Mann, der im Hochsommer oder Herbst des Jahres 1509 in Reuchlins Leben eintrat und der es von da ab fast bis zum Tode des großen Gelehrten mit viel Kummer und Plage verdunkeln half, war ein jüdischer Konvertit, Josef Pfefferkorn, wahrscheinlich aus Prag stammend, der sich nach seiner Taufe Johannes Pfefferkorn nannte und unter diesem neuen Namen vom Jahre 1507 an fanatisch-judenfeindliche Schriften zu publizieren begann. Später versuchte er, Reuchlin als Experten der hebräischen Sprache in seinen Kampf gegen die hebräischen Bücher einzubeziehen. Und da Reuchlin heftigen Widerstand leistete, statt sich von dem »taufft Jud«, wie er ihn verachtungsvoll nannte, mißbrauchen zu lassen, verschärfte sich der Gegensatz immer mehr und schlug heftige Wellen, ja brachte geistige und auch materiell-grobschlächtige Stürme hervor, von denen die Urheber der ganzen Angelegenheit anfangs sich gewiß nichts hatten träumen lassen. Wer war dieser Josef oder Johannes Pfefferkorn? Obwohl zu seinen Lebzeiten so viel von ihm und über ihn geschrieben worden ist, wissen wir sehr wenig über sein Leben. Fast nichts. Von den Daten abgesehen, die er selbst über sich tradiert, und von denen, die seine Gegner ihm höhnisch an den Kopf warfen. Auf beide Arten von Angaben ist kein Verlaß. Er soll Metzger, also wohl ritueller Metzger, Schochet, gewesen sein. Ein wichtiges Dokument hat der unermüdliche L. Geiger gefunden und kurz in seiner — 257 —

Reuchlinbiographie, ausführlicher an ziemlich versteckter Stelle (in der ›Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben‹, Band VII, 1869) veröffentlicht. Diesem Dokument zufolge stellte am 10. September 1506 der Rat der Stadt Nürnberg dem Pfefferkorn ein Zeugnis aus, daß er ihm angezeigt habe, er sei mit seiner Frau zum christlichen Glauben übergetreten; und daß er sich »vormals ehrlichen ziemlichen (geziemenden) Wesens gehalten hat«. Im Jahre 1499 wurden alle Juden aus Nürnberg ausgewiesen und zogen in eine Stadt, die im Grausen unserer jüngsten Diasporageschichte einen so unheilvollen Namen erlangt hat: nach Dachau. Es ist wohl anzunehmen, daß die erwähnte Ausweisung und Pfefferkorns Konversion irgendwie in Zusammenhang stehen. Wiewohl nach Angaben Pfefferkorns seine Taufe, die er Erlösung »von jüdischer Plentheit« (Blindheit) tituliert, erst in das Jahr 1505 fällt und in Köln stattgefunden haben soll. Seine Frau (das erfahren wir bei dieser Gelegenheit) hieß Anna; der Sohn, den er so katholisch wie möglich Laurentius benennt, war magister in artibus. Pfefferkorn lebt von da ab, mit kurzen Unterbrechungen, in Köln. »Pfefferkorn wont an den Rhein, Zu Cöllen meyster im Spital Zu Recht will er steen überal« singt der nicht unbegabte, heißblütige Mann in seiner letzten und allerschmählichsten Brandschrift gegen Reuchlin, in der heuchlerischerweise so betitelten ›mitleydlichen claeg‹ (Mitleidige Klage), mit der er 1521, also im Jahre vor Reuchlins Tod, seine unrühmliche literarische Laufbahn abschließt. Er war zuletzt Hospitalmeister und Salzmesser in Köln. Über sein Todesdatum ist nichts bekannt. – — 258 —

Überdenkt man den eisernen Ring von Beschwernissen und Plagen, der in jenen Zeiten um die Judenheit lag und den sie, wie im vorigen Kapitel dargestellt, aus eigenen Kräften nicht aufzusprengen imstande war –, fühlt man diese Enge, diese schwarze Angstwelt bis ins letzte durch und (vor allem) nimmt man die Tröstungen des Glaubens und der Gemeinschaft nicht mit in sein Bewußtsein auf, die sich trotz allem dem verfolgten Juden gnädig erschlossen; so mag man es verständlich finden, daß sich da und dort eine arme Seele dem Druck zu entziehen suchte, indem sie auf die andere, dem Anschein nach freiere Seite übertrat. »Verständlich« – ja! Aber es gibt unter den vielen unrichtigen Sentenzen keine unrichtigere als die allbeliebte: »Alles verstehen heißt alles verzeihen.« Alles verstehen bedeutet nichts weiter als alles verstehen, nichts mehr. Von da bis zum ›Verzeihen‹ ist ein Abgrund. Schon der Hinweis auf die vielen Hunderttausende, die in der gleichen Not waren wie Pfefferkorn und die dennoch die Treue hielten, die nicht denselben verwerflichen Schritt wie er getan haben, die den Verführungen wie den Bedrängungen von seiten der Umwelt her einen demütig tapferen, ernsten, unzerbrechlichen Widerstand entgegengesetzt haben, genügt hier als Verdeutlichung. Doch Toleranz, eines der obersten Prinzipien der Menschlichkeit und der Gedankenfreiheit, gebietet, die Gesinnungswandlung, die sich in einem Menschen vollzieht, als unverletzbar anzusehen und nicht anzutasten, – wenn es sich um eine echte Gesinnungsänderung und Seelen-Revolution handelt. – Was aber keinesfalls entschuldigt werden kann, ist die Tatsache, daß der Konvertit, statt sich mit seiner neuen Seele zufriedenzugeben und still seines Weges zu ziehen, zu einem aggressiven Seelenfänger, einem Missionär seines nagelneu erworbenen Glaubens wird. Vielleicht um den soeben gewonnenen Freunden seine besondere — 259 —

Zuverlässigkeit und seinen Eifer zu beweisen? Ich habe diesen Typ in säkularisierter Variante öfters erlebt. So steht mir jener tschechisch-jüdische Assimilant klar vor Augen, der lärmend Protest erhob, als mein unvergessener edler Freund Dr. Ludvík Singer, der Vorsitzende des Jüdischen Nationalrats für die Tschechoslowakei, und ich als sein Stellvertreter im Prager Unterrichtsministerium vorsprachen, um Genehmigung für das von uns gegründete hebräische Gymnasium in Munkacz (Russokarpathien) zu erlangen. Singer verglich in seiner Einleitungsrede das Schicksal des lange unterdrückten und kürzlich befreiten tschechischen Volkes mit dem Schicksal der gerade jetzt einer Volks-Renaissance zustrebenden Juden, ein Vergleich, der in unseren Kreisen gern umlief und durchaus wahrheitsentsprechend war, der auch von allen hochherzigen Tschechen gebilligt wurde. Jener zum Tschechentum Konvertierte aber lief rot an und plusterte sich auf: »Ich protestiere dagegen, daß man unser tschechisches Schicksal mit dem der Juden in Parallele zu setzen wagt.« Er protestierte. Die Ministerialbeamten lächelten ein wissendes Lächeln. Ihnen war das tschechische Sprichwort geläufig: »Ein Janitschar (d. h. ein zum Türkentum Übergetretener) ist ärger als ein Türke.« – Welche Motive aber Pfefferkorn bei seinen wütenden Angriffen auf jüdisches Wesen, jüdisches Leben geleitet haben mögen: das ist durch solch ein Analogon noch keineswegs klargestellt. Ich neige dazu, ihn für einen literaturbesoffenen Schreiber anzusehen, einen Ehrgeizling, der durch seine antijüdischen Bücher, die er Jahr um Jahr publizierte, Aufsehen erregen wollte und in steigendem Maße auch wirklich erregte, – besonders als er später auf namenlos freche Weise gegen Reuchlin losging und es erreichte, daß sein Name zusammen mit dem der höchsten nichtjüdischen Autorität Deutschlands auf dem Gebiete — 260 —

der hebräischen Literatur, nämlich mit Reuchlin zusammen, in der ganzen Welt jahrelang in einem Atem genannt wurde. Das mußte ihm schmeicheln. Dieser plötzliche Anflug von Berühmtheit dünkte ihn wohl der höllischen Mühe wert, die er aufwandte. – Daß er dagegen bestechlich und habgierig gewesen wäre, daß es ihm um das Geld der Juden zu tun gewesen sei, das er im Austausch für die von ihm konfiszierten Talmudexemplare zu scheffeln hoffte, – oder daß er sich von den Dominikanern in Köln hätte vorschieben lassen: das sind unbewiesene Behauptungen. Auch von ernsten Forschern wie H. Graetz (Geschichte der Juden, 9. Band) werden sie wiederholt, doch beweislos, im Tone schmähender Vermutung, also ohne Kraft. – Oder soll man etwa die in den plumpen Satiren der Dunkelmännerbriefe gegen ihn gerichteten Anklagen ernst nehmen, die ja deutlich genug als Scherze und nicht als Quellenmaterial von einigen Humanisten in die lachlustige Welt bugsiert worden sind? Merkwürdig genug, daß auch der würdige Reuchlin, freilich zu äußerstem Zorn gereizt, später, in seiner ›Defensio contra calumniatores‹ nicht verschmäht hat, die angeblich schöne Frau (bellula uxor) Pfefferkorns in die unfeine Affäre zu ziehen. Das aber, was alle Humanisten (Reuchlin, Hutten, Erasmus, Pirckheimer und viele andere) im Ernst und nicht bloß des Witzes halber bekräftigen und worauf sie immer wieder zurückkommen, ist die Feststellung, daß glücklicherweise Pfefferkorn kein Deutscher war. Hutten führt diesen Chor der Haßgesänge an: »Deutschland hat ein solches Untier nicht schaffen können.« So hat der Übertritt des Mannes ihm nicht sehr viel genützt, es sei denn in seinem engsten Kreis, bei den Dominikanern in Köln. Auch Reuchlin selbst erklärt die giftige Natur seines Gegners durch dessen Abstammung von jüdischen Eltern. Immer — 261 —

wieder stößt man auf solche Sätze, die zeigen, wie weit entfernt Reuchlin davon war, alle Vorurteile seines Zeitalters abgelegt zu haben. In der Wut läßt er sich gehen. – Um so großartiger, daß er in den Hauptfragen, wie noch auszuführen sein wird, klaren Kopf und sein menschenfreundliches Herz bewahrt hat. – Ähnliche Züge der auf den Juden lastenden, die Konvertiten miteinschließenden Verachtung finden sich übrigens zahlreich genug in unserer Geschichte. Als bei der berühmten Disputation von Tortosa der Konvertit Geronimo von Santa Fé den Jesaja zitierte: »Wenn ihr widerstrebt, so rafft euch das Schwert hinweg«, beklagt sich der Führer der jüdischen Delegation, Don Vidal Benvenisti, in seiner lateinischen Gegenrede beim Papst Benedikt XIII., daß man nicht disputieren könne, wenn gedroht würde. Der Papst erkannte den Tadel als richtig an, meinte aber, »das sei eine Unart, ›die an Geronimo‹ noch von seiner Abstammung her haften geblieben sei« (Graetz). Der Papst gab also vorübergehend, nicht etwa im Endergebnis, den getauften Juden (wohl aus taktischen Gründen) dem ungetauften preis. Stammt Pfefferkorn wirklich aus Mähren? Er selbst gibt im ›Handspiegel‹ an: »Alles, was ich davon (vom Talmud) schreibe, habe ich von ihrem (der Juden) höchsten, großgeachteten Fürsten des Talmud, und ist mein angeborner Vetter; sein Name Rabbi Meïr Pfefferkorn. Die Juden haben auch keinen solchen Hochgelehrten mehr; bei demselben Rabbi bin ich von Jugend aufgewachsen, von ihm (habe ich) gehört, gelernt, gesehen und gelesen.« Dieser Meïr Pfefferkorn war, wie Graetz auf Grund eines Dokuments als höchstwahrscheinlich nachweist, Rabbinatsbeisitzer in Prag. Er wurde wegen eines allzu leichtfertigen Urteils in einem Ehescheidungsprozeß von den übrigen — 262 —

Rabbinern Deutschlands in den Bann getan. Als talmudische Autorität galt er (laut Graetz) nichts. »Sein Name kommt in der zeitgenössischen und späteren rabbinischen Literatur nicht vor.« Hier scheint also Pfefferkorn reichlich übertrieben zu haben, wie er überhaupt gern blufft und beispielsweise behauptet, die Evangelien ins Hebräische übersetzt zu haben (wovon sich aber keine Spur findet). – Der Familienname Pfefferkorn kommt in Nürnberg und auf den Grabsteinen des alten Prager Judenfriedhofs vor, dessen Inschriften S. Lieben gesammelt und herausgegeben hat. Daß die Dunkelmännerbriefe Pfefferkorns Aufenthalt in Mähren erwähnen, brauchte Graetz nicht zu dem ein wenig komischen Satz zu veranlassen: »Mähren und Böhmen bildeten damals fast nur ein Land.« Mähren ist ja in diesen Briefen nur als vorübergehender Aufenthalt unseres Renegaten genannt, und diese Aussage ist mit der Tatsache seiner Prager Abstammung und seines späteren Aufenthaltes in Nürnberg und Köln sehr gut vereinbar. Doch eine gewisse Unklarheit und schattenhafte Unsicherheit seines Schicksals gehört offenbar zu seinem Bild. Hiezu paßt auch das von den Humanisten verbreitete Gerücht, das sich jedoch bald als gänzlich unbegründet erwies: er sei in Halle als Schwindler entlarvt und gehängt oder verbrannt worden. Worauf Pfefferkorn damit replizierte, daß er sein nächstes Buch mit dem Zusatz zeichnete: »J. Pfefferkorn den man nyt verbrannt hat.« – Und wie über sein Leben, so ist auch über seine äußere Erscheinung, seine visuelle Gestalt nichts Rechtes in Erfahrung zu bringen. Er selbst läßt sich in einem seiner Pamphlete, dem ›Streydt puechlyn‹ (Streitbüchlein) als glattrasierten jugendlichen Magister porträtieren. Eine Art Jung-Siegfried im Gelehrtentalar. So tritt er mit wehender Fahne in Reuchlins Lehrstube ein. Der ›Sonnenmoritz‹, wie er bei — 263 —

Schnitzler (›Der Weg ins Freie‹) leibt und lebt. Seine Fahne fliegt dem Lehrenden herausfordernd ins Gesicht. Und Pfefferkorn setzt seinen Fuß triumphierend brutal auf Reuchlins Knie. Die linke Hand des Eindringlings macht dabei eine heftig disputierende Gebärde. Unter seinem Tritt bricht der bequeme Lehnstuhl zusammen, auf dem Reuchlin sitzt und doziert. Reuchlins Gesicht ist kraftvoll breit, gutmütig streitbar, die Stirn gefurcht, seine Hand ruht auf der Bibel, doch seine Zunge ist gespalten. Billigste Allegorie. Die drei Schüler haben statt der Augen schwarze Kreise, sind also blind. Oder sollen als ›Dunkelmänner‹ gekennzeichnet sein, – was man wohl nicht unbillig eine Retourkutsche nennen kann. Und wie sieht der gleiche Pfefferkorn auf dem Holzschnitt aus, der dem ›Triumphus Doc. Reuchlini‹ beigegeben ist? Da werden die Kölner Dominikaner gefesselt vorgeführt, die ganze große Gruppe ist durch eine einzige Kette zusammengehalten, die ein bärtiger Henker hält. Pfefferkorn aber ist im Vordergrund von einem andern Henker hingerichtet, der das Schwert noch in der Hand hat. Auch der Jude ist gefesselt; doch sein abgeschlagener Kopf blickt gleichsam dem Betrachter des Bildes entgegen, nach vorn, eine richtige Teufelsmaske. Der Körper liegt auf dem Rücken, das Gesicht ist von einer Fülle von Haarlocken umgeben, von Haupthaar, Schläfenlocken, Backenbart, Schnurrbart, und von einem schmalen Spitzbart, der an den eines Ziegenbocks gemahnt. Wo blieb der bartlose unschuldige Magister? Liegt in diesem imaginären Schandporträt eine Art Protest gegen den gleichfalls tendenziösen Jung-Siegfried mit dem guten Gewissen? Auf diesem ›Triumph‹ sieht man einen alten Mann, er schaut wie der einzige Schuldige oder doch Hauptschuldige aus. Blut strömt aus seinen Wunden und Hunde lecken sein Blut wie das des im Krieg gefallenen Königs Achaw am Teich zu — 264 —

Schomron. – Hinten und rechts auf dem Bild vollzieht sich zu schmetternder Musik und unter Hoch-Hoch der aus dem Stadttor links strömenden Bürgerschaft Reuchlins Einzug auf lorbeer- und efeugeschmücktem Siegeswagen. Reuchlin ist leider so schlecht gezeichnet, daß viel mehr als sein Doppelkinn, sein Lorbeerkranz und der in seiner vorgestreckten Hand hingehaltene Foliant nicht deutlich wird. Das ist bei der Misere der wenigen Reuchlinporträts (eigentlich gibt es nur ein einziges siehe Kapitel XI) sehr beklagenswert. 1507 begann Pfefferkorn, ohne daß ein Anlaß ersichtlich wäre (als etwa der Trieb, von sich reden zu machen), mit der Reihe seiner Angriffsbücher gegen das Judentum. Es erschien der ›Judenspiegel‹, in zwei deutschen und einer lateinischen Ausgabe (›Speculum adhortationis Judaicae ad Christum‹). Pfefferkorn stellt sich als einen »olim Judaeum, modo Christianum« vor (einst Jude, jetzt Christ) – »im dritten Jahre meiner Geburt« (d. h. Taufe). Pfefferkorn verlangt: 1. man solle den Juden den Wucher verbieten, 2. sie zwingen, christliche Predigten zu besuchen, 3. ihnen ihre Bücher (mit Ausnahme der Bibel) nehmen, da sie durch besagte Bücher in ihrem Unglauben bestärkt werden, und 4. (dies erst in späteren Schriften des Renegaten) sie vertreiben, wenn sie in ihrer Verstocktheit ihre Religion nicht aufgeben wollen. – Von diesen, in Pfefferkorns Kapuzinaden immer wiederkehrenden Postulaten hat nur der erste Punkt Berechtigung; – besser gesagt: er hätte sie, wenn er ernsthaft gemeint wäre und den Juden die Möglichkeit gezeigt und eröffnet hätte, ihr Brot durch einen ehrenhaften Beruf zu erwerben. Doch gerade dies war ihnen ja, wie im vorigen Kapitel ausführlich dargelegt, durch die Gesetze der Umwelt (Verbot der Landwirtschaft, Zunftzwang, daher Verbot des Handwerks usf.) auf die — 265 —

grausamste Art untersagt. Sie wurden daher gewaltsam in die Rolle der Kreditgeber gedrängt, die den Christen durch das kanonische Recht untersagt, jedoch inoffiziell geduldet war, wie dies Etienne Belmont in einem zusammenfassenden Essay (Tribüne, 1. Heft 1962) genauest darlegt. Hier heißt es u. a. von der Zeit des ausgehenden Mittelalters: »Nun wäre es aber falsch anzunehmen, das städtische Bürgertum dieser Zeit, das schon ein blühendes Geschäftsleben kennt und zum Teil Besitzer sehr großer Vermögen ist, hätte das kanonische Verbot der Zinsnahme für sich als verbindlich angesehen. In den Städten entstehen neben dem Warenkredit die verschiedensten Formen des Kreditgeschäftes; die Bürger finden für das Zinsnehmen immer andere Namen und Möglichkeiten. Aber selbst die Kirche, in dieser Zeit Besitzerin eines der größten Vermögen und führend unter den Kreditgebern, kommt mit ihren eigenen Thesen in Konflikt; sie berechnet Zinsen von den Darlehen, die sie vergibt.« – Es sei noch daran erinnert, daß in der Judenschaft Jossel von Rosheim (wie oben ausgeführt) mit einem wohldurchdachten Plan hervortrat, erlaubte mäßige Zinsen von unerlaubt überhöhten zu unterscheiden. Doch die weltlichen Gewalten waren ja nicht im mindesten daran interessiert, das auf den Juden lastende Odium zu beseitigen, von dem die herrschende Klasse unter den Nichtjuden gewaltig profitierte. – Die übrigen Punkte in Pfefferkorns Anklagegeheul achselzuckend als unverhohlene Bosheiten zu ignorieren wird mir niemand verwehren können. – Einige besondere Kunststückchen des Renegaten wie seine Verleumdung des Grußes ›Seid willkommen‹, seine (teilweise) Verdrehung des Gebets gegen die Denunzianten usw. werden später, zum Teil ihrer Komik wegen, in dem Abschnitt über Reuchlins ›Augenspiegel‹ in näheren Betracht genommen. — 266 —

1508 erschien seine ›Judenbeichte‹, in der er sich über einige archaische Gebräuche der Juden auf dümmste Art echauffiert. 1509 schlug er mit dem ›Osternbuch‹ in die gleiche Kerbe. – In demselben Jahr deutet sich zum erstenmal seine Verbindung mit den Kölner Dominikanern an. Es macht das unverhüllt ›Judenfeind‹ genannte Aufhetz-Buch des Abtrünnigen seine Aufwartung (Hostis Judaeorum), – das wie alle vorgenannten Pasquille in lateinischer wie in deutscher Gestalt erschien, – aber was für ein Deutsch! – statt ›Tod‹ heißt es einmal in einem der späteren Machwerke Pfefferkorns ›toid‹, was wohl in keinem deutschen Dialekt möglich ist. Doch Pfefferkorn mit seinem unleidlichen Kauderwelsch bringt es auch fertig, zu einer Zeit, in der Luther schon sehr berühmt war (1521), den allbekannten Namen einmal ›Martinus Louther‹ und einmal gar ›Lauter‹ zu schreiben. Souveräne Schlamperei! – Da Pfefferkorn das Lateinische nicht beherrschte, ist wohl die Vermutung nicht unberechtigt, daß die Dominikaner auch vorher schon ihre Hand mit im Spiele hatten. Nur taten sie es verdeckt. Jetzt aber traten sie offen hervor. Der lateinischen Ausgabe geht ein Gedicht ihres Ordensbruders Ortwin Gratius voraus, über die ›Hartnäckigkeit der Juden‹ (de pertinacia Judaeorum). Damit übernahmen sie gleichsam das Protektorat über Pfefferkorns Angriffe. – Ortwin, an der berühmten Schule von Deventer erzogen, an der auch der junge Erasmus sowie Mutian ihre erste Bildung erhielten, – Ortwin de Graes (dies sein eigentlicher Name), später das Hauptangriffsziel der Dunkelmännerbriefe, hat sich seine besondere Unbeliebtheit bei den Humanisten dadurch zugezogen, daß er in der äußeren Form der ›modernen‹ Richtung zuneigte, sich gern als ›Poet‹ gerierte, wohl auch in seiner etwas freieren Lebensweise, wenn man den Dunkelmännerbriefen glauben — 267 —

kann, – daß er aber jedenfalls seiner Gesinnung nach durchaus fanatischer Scholastiker blieb. Einen ›scholastischen Pseudohumanisten‹ nennt ihn Kampschulte (›Die Universität Erfurt‹). 2

Was die Dominikaner oder Fratres Praedicatores (Brüder des Predigerordens) veranlaßt hat, an dem Feldzug Pfefferkorns gegen die so wertvollen hebräischen Bücher, Zeugnisse einer ruhmreichen Literatur, teilzunehmen, ist heute wohl nicht mehr herauszufinden. Der Orden hatte eine große Vergangenheit, hatte überragende Genies wie Albertus Magnus, Thomas von Aquino, Tauler, Eckhart, Suso u. a. hervorgebracht, von denen gerade die bedeutendsten nicht verschmäht hatten, auch aus jüdischer Philosophie (Maimonides) und Überlieferung zu lernen, also jene hebräischen Quellen zu nutzen, die ihre späteren Ordensnachfahren zerstören wollten, – und von denen in vielen Fragen ein mäßigender Einfluß ausging, so vor allem von dem großartigen Leitsatz des Thomas von Aquino: »Das göttliche Recht, welches aus der Gnade entspringt, hebt das menschliche Recht nicht auf, das der natürlichen Vernunft entstammt« (vgl. Guido Kisch ›Zasius und Reuchlin«), ein Satz, der mit einem der Grundprinzipien des Thomas organisch zusammenhängt: »Gratia naturam non tollit, sed perficit.« Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vervollkommnet sie –, dieses Grundprinzip ist mir immer als einer der leuchtendsten Sterne am Himmel der Erkenntnis erschienen und von mir oft zitiert, dankbar beherzigt worden. – Die Dominikaner waren später allerdings an der Entwicklung der verruchten Inquisition in schärfstem Maße beteiligt, und das ist es vielleicht, was sie auf Jahrhunderte hin demoralisiert und — 268 —

in jene Verfallsperiode hineingeführt hat, deren ›Tief‹ in der Zeit Reuchlins und Pfefferkorns sich noch bemerkbar macht. – Mit zunehmender Depravation stieg ihre Macht. Und so kann man wohl sagen: Habent sua fata et ordines. Auch die Mönchsorden haben ihre Schicksale. Sogar der entsetzliche Borgiapapst Alexander VI. fürchtete die domini canes, die Jagdhunde Gottes, und äußerte über den Predigerorden, daß er »mit geringerer Gefahr einen der größten Könige beleidigen wolle als einen aus der Herde jener Lügner, welche unter dem Vorwande, das Christentum zu üben und zu verbreiten, die größte Tyrannei auf dem Erdkreis üben«. (Lameys Reuchlin-Biographie) – Heute scheint der Orden die lange Erstarrung überwunden zu haben (Neo-Thomismus). Auf dem Prager Philosophenkongreß, dem letzten geistigen Ereignis von Gewicht, an dem ich vor meiner Auswanderung noch teilnehmen konnte, mußte ich den Scharfsinn und die hohe Bildung bewundern, mit denen die Brüder in ihren weißen Kutten an den Diskussionen eifrig teilgenommen haben. Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Dominikaner aktiv und unverhüllt die Bestrebungen Pfefferkorns zu begünstigen anfingen, als Jakob Hochstraten zum Prior des Kölner Konvents und zum Ketzermeister oder Ketzerrichter (Inquisitor haereticae pravitatis, d. i. Inquisitor der ketzerischen Verderbtheit) aufstieg. – Dieser begabte Ehrgeizling, der aus dem brabantischen Ort Hoogstraeten stammte und dessen Name in einigen divergenten Schreibweisen überliefert ist, war der eigentliche Leiter des Kampfs gegen die hebräischen Schriften; und somit in der Folge gegen Reuchlin. Pfefferkorn scheint wohl mit seinen ersten Pamphleten die Anregung gegeben zu haben, später aber war seine Aufgabe im wesentlichen nur, das Material (ob echt oder unecht, wahr oder unwahr) herbeizuschaffen, – und allerdings mit seinem privaten Haß gegen seine — 269 —

ehemaligen Glaubensbrüder recht kräftig nachzuheizen. Führer und Mittelpunktsfigur der ganzen Kampagne aber blieb Hochstraten. Ich füge hier einige historische Daten zum Lebenslauf Hochstratens ein, die in den sonst so ausführlichen Darstellungen des ganzen Streites durch Graetz und L. Geiger fehlen mußten. Diese Daten entnehme ich einem von katholischer Seite edierten Werk, den ›Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes‹, als deren Herausgeber Ludwig Pastor zeichnet, der berühmte Verfasser der ›Geschichte der Päpste‹, des katholischen Gegenstücks zu Rankes Werk. Da diese ›Ergänzungen‹ erst 1898 zu erscheinen begannen, konnten selbstverständlich die Reuchlin-Arbeiten von Graetz (1866) und Geiger (1871) keinen Bezug auf die neueren Forschungen nehmen. Ich glaube, als Geschichtsschreiber meiner Pflicht zur Objektivität zu genügen, indem ich die Biographie des Hauptgegners meines Reuchlin einer Quelle entnehme, die dem Ketzerrichter Hochstraten bestimmt kein Unrecht zufügen, die ihn vielmehr so weit als möglich rechtfertigen will. Der Teil der ›Ergänzungen‹, der sich mit Hochstraten, daher u. a. auch mit den gewöhnlich ›Talmudstreit‹ genannten Geschehnissen befaßt, nennt sich ›Die deutschen Dominikaner im Kampf gegen Luther (1518–1563)‹; der Verfasser dieses Teils heißt Nikolaus Paulus. Hochstraten studierte Philosophie an der Universität Löwen (die ihn später im Streit gegen Reuchlin durch ein sehr entschieden reuchlin-feindliches Gutachten unterstützte) und kam 1496 nach Köln. Hier erregte er gleich mit seiner ersten, sehr scharfen Streitschrift 1507 Aufsehen. Sie nimmt für die Mendikanten (Bettelorden) das Recht, Beichte zu hören, in Anspruch. Die lokalen Pfarrer werden angegriffen. Ich übersetze aus dem lateinischen — 270 —

Text: »Fügen wir hinzu, o Schmerz, daß die meisten Pfarrer als die ersten und letzten in den Wirtshäusern sitzen. Oft sprechen sie während ihrer Trunkenheiten und bei Gelagen höchst unvorsichtig von den Geheimnissen ihrer Beichtkinder.« Im gleichen Jahr 1507 richtete er seinen Angriff gegen Thesen des Predigers Petrus Tomasi von Ravenna, der in vielbeachteten Reden u. a. den Satz aufgestellt hatte: die Obrigkeit, die die Leichname der zum Tode verurteilten Missetäter am Galgen hängen lasse, handle wider göttliches und natürliches Recht, ja begehe Todsünde. Die theologische Fakultät Köln protestierte gegen diese Behauptung des humanistisch denkenden und fühlenden Italieners. Hochstraten griff ihn an, nicht ohne ihn zugleich um Verzeihung dafür zu bitten, daß er ihm Schwierigkeiten mache. Aber er setze nun einmal die Wahrheit über alles. (Der gute Mann!) Tomasi replizierte. Hochstraten schlug zurück, wobei er sich auch gegen eine Behauptung des Tomasi wandte, die dahinging: die italienischen Studenten könnten ohne Dirnen nicht leben. Tomasi erklärte diesen Satz für einen Scherz. Wegen der Schmähungen, die in Hochstratens Schrift enthalten waren, appellierte er an den Papst. Doch starb er, ehe die Sache in Rom zum Austrag kam. Zunächst erklärte Hochstraten, er wolle nicht gegen einen Toten polemisieren. Veröffentlichte dann aber doch eine Streitschrift gegen Tomasi, die mit den Unterschriften von dreißig Gelehrten geziert war. – Während dieses Kampfes avancierte Hochstraten zum Prior des Kölner Dominikanerordens und Inquisitor der drei Kirchenprovinzen Köln, Mainz, Trier. Sodann wandte sich Hochstraten dem Problem der Hexen zu, natürlich durchaus nicht im Sinne einer freieren — 271 —

oder wissenschaftlich fundierteren Auffassung. – Es galt allgemein als erlaubt, gegen Hexen die Hilfe von anderen Hexen und Zauberern in Anspruch zu nehmen. Gegen diese ›Häresie‹ schrieb 1510 Hochstraten ein Buch: ›Quam graviter peccent quaerentes auxilium a maleficis.‹ (Wie schwer diejenigen sündigen, die Hexen um Hilfe angehen.) Er bedroht die also Sündigenden mit dem Feuertod. Mit der unmenschlichen Strafe war es ihm durchaus ernst. Ende 1512 übergab er den niederländischen Arzt Hermann von Rysswick als rückfälligen Ketzer dem weltlichen Arm und ließ ihn im Feuer sterben. Die Frage, ob die Kölner Universität ein örtlich wie zeitlich unbegrenztes Zensurrecht habe, wurde bei diesem Prozeß aktuell. Man berief sich auf eine Bulle des Papstes Sixtus IV. aus dem Jahre 1479, deren weitgehende Bedeutung aber von manchen Autoren angefochten wurde. 1513 erfolgte Reuchlins ›Verteidigung gegen die Kölnischen Verleumder‹, – »eine der heftigsten Schmähschriften jener Zeit«, wie Nikolaus Paulus sie nennt. Hochstraten schrieb gegen Reuchlins kabbalistische Deduktionen. Die Kabbala (so führte Hochstraten aus) sei nichts, was die christlichen Glaubenssätze unterstütze. (Hier hatte er ausnahmsweise einmal recht – Anmerkung des Verfassers des vorliegenden Buches.) In dem Widmungsschreiben seiner ›Destructio Cabale‹, das an den Papst gerichtet ist, sagt Hochstraten, daß infolge Reuchlins Wirksamkeit jetzt einer der ›Poeten‹ (gemeint ist: Luther) die Behauptung aufstelle, der römische Primat sei gegen die Lehre der heiligen Schrift. – Wer nicht Scholastiker war, galt für diese Terminologie herabsetzenderweise als ›Poet‹. Nach Nikolaus Paulus haben die Dominikaner kein falsches Spiel gespielt, als sie nach Sickingens gewaltsamer Einmischung Hochstraten absetzten und in allen Punkten, — 272 —

auch in dem der Prozeßkostenbezahlung, vor Reuchlin zurückwichen. – Doch richtig ist, daß Hochstraten, gleich nachdem am 23. Juni 1520 die für Reuchlin günstige Entscheidung von Speyer durch den Entscheidungsspruch Roms aufgehoben worden, in alle seine Ämter wieder eintrat. Im Jahr zuvor hatte Hochstraten in der Vorrede seiner ›Destructio‹ Papst Leo X. mit den Worten apostrophiert: »Erhebe dich endlich mit dem Mut eines Löwen (leonino animo) und verwirre die Verwirrer des christlichen Glaubens.« – Gerechterweise muß zugestanden werden, daß es auch auf Seite Reuchlins und seiner Freunde an ähnlichen Wortspielen und captationes benevolentiae an die Adresse des Papstes durchaus nicht mangelte. Nach der zumindest formalen und äußerlichen Niederringung und nach dem Tode Reuchlins widmete sich Hochstraten der Polemik gegen Luther, die er mit einer Schrift ›Gespräche Hochstratens mit dem heiligen Augustinus‹ »contra enormes atque perversos Martini Lutheri errores« (Gegen die ungeheuerlichen und verkehrten Irrtümer des Martin Luther) 1521–1522 eröffnete. Ein weiteres polemisches Buch galt dem Reformator Johann Lunicerus, gegen den der Pfarrer Dr. Balthasar Sattler in Eßlingen die Verehrung der Heiligen in Schutz genommen hatte. Es hieß ›Dialog über die Verehrung und Anrufung der Heiligen, gegen den lutheranischen Unglauben‹ (1524). 1525 folgt eine kurze Abhandlung über das Fegefeuer. – Im gleichen Jahr ein Dialog ›gegen den pestbringenden Traktat Luthers über die christliche Freiheit‹. 1526 eine Schrift über die ›guten Werke‹. Im zweiten Teil bekämpft er die »irrigen Sätze zweier Fraterherren aus Amersfort, die er kurz vorher als hartnäckige Ketzer dem weltlichen Arm überliefert hatte«. So Nikolaus Paulus. — 273 —

Somit beträgt die Zahl der Todesopfer seiner literarischen Tätigkeit zumindest drei. Wahrscheinlich aber mehr. Er starb am 27. Januar 1527. – Erasmus schrieb über ihn: »Zu Köln starb J. Hochstraten, der Hauptakteur dieser Tragödie (des Reuchlinstreites), der jedoch sterbend in einigen Worten verraten haben soll, daß sein Gewissen nicht ganz rein sei.« – Man darf die Wahrheit dieser Anekdote bezweifeln, da Ähnliches in jener Umbruchszeit von allzu vielen Männern, die in der ersten Reihe kämpften, berichtet wird. So beispielsweise auch von dem Ablaßprediger Tetzel (»Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeu’r springt«), dessen skrupellose rohe Art des Gnaden-Verkaufs den Anstoß zu Luthers erstem Auftreten gegeben hatte. Luther schrieb an den todkranken Mann, seinen lebenslangen Feind, die schönen Worte: »Er solle sich unbekümmert lassen, denn die Sache sei von seinetwegen nicht angefangen, sondern das Kind habe viel einen andern Vater.« Charakteristischer für Hochstraten als die eben erzählte Anekdote ist ein Holzschnitt, der sich als eine Kontrafaktur des ›Triumphus Reuchlini‹ präsentiert. Hier wird nicht Reuchlin, sondern die ›Wittenbergische Nachtigall‹ gefeiert. Protagonisten sind Jesus, Luther, Karlstadt, Hutten. Die Anordnung dieses ›Triumphus veritatis‹ ist etwas ärmlicher, doch die Hauptgruppen (ohne Pfefferkorn) sind die gleichen. Auch hier erscheinen die Dominikaner, zu denen sich einige tierköpfige Gestalten (seltsamerweise neben dem ›Kater‹ Thomas Murner, der Minorit war), alle in einer Eisenkette zusammengehalten (wie im andern ›Triumph‹), als Verhöhnte und Verdammte gesellen. Der Figur, die Hochstraten darstellt, ist ein großer Blasebalg um den Hals gehängt. Nicht unpassend für einen Mann, dessen drittes Wort »Ins Feuer, ins Feuer« gewesen sein soll; wie öfters berichtet wird. — 274 —

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Den entscheidenden Schritt von der Theorie zur Praxis tat Pfefferkorn, als er sich im Jahre 1509 an Kaiser Maximilian I. wandte, um die Konfiskation der hebräischen Bücher in den jüdischen Gemeinden durchzusetzen. Zum Kaiser erlangte er Zutritt durch Kunigunde, des Kaisers Schwester, die nach dem Tode ihres Mannes Albrecht von Bayern als Nonne in den Tertiarierorden der Franziskaner eingetreten war und ein christlich-frommes Leben führte. Zu dieser Frau hatten ihm Empfehlungsbriefe der Dominikaner den Weg gebahnt. – Graetz ist es, der als erster, auf Grund seines genauen Studiums der Berichte Pfefferkorns in dessen Büchern, auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht hat. Maximilian führte damals einen seiner vielen unglücklichen Kriege, den gegen Venedig. Im Lager zu ›Badua‹ (Padua) unterzeichnete er am 19. August 1509 ein Mandat, das an alle Juden des Reiches gerichtet war. Sie sollten auf Grund dieses Befehls alle ihre Bücher, die gegen den christlichen Glauben seien oder auch ihrem eigenen Glauben zuwiderliefen, »unserm Diener und des Reichs getreuen Johansen Pfefferkorn als einem Wohlgegründeten und Erfahrenen eures Glaubens« vorzeigen. Dieser erhielt das Recht und die Macht, alle derartigen Bücher »doch an jedem Ort mit Wissen, Rat und in Gegenwart des Pfarrers sowie zweier Abgeordneten des Rats oder der Obrigkeit von euch zu nehmen und zu unterdrücken«. »Bei Vermeidung unserer schweren Strafe und Ungnade an eurem Leib und Gütern«, fügt das Mandat hinzu. – Mit Recht bemerkt Geiger, daß dieses Mandat dem Pfefferkorn die weitgehendsten Vollmachten gab, daß die Gegenwart der genannten Amtspersonen nur formale Bedeutung hatte und daß es Pfefferkorn freistand, jedes beliebige Buch nach eigenem Ermessen für antichristlich zu erklären. — 275 —

Dem Kaiser kam es offenbar nur darauf an, zunächst einmal seiner im Gewissen bedrängten und ihn bedrängenden Schwester zuwillen zu sein. Im übrigen ging ihm die ganze Angelegenheit, die er wohl auch nicht eigentlich verstand, keineswegs nahe. Er hatte andere Sorgen: die Kriege in West und Süd, die zerrütteten Finanzen des Reiches, eine neue Verfassung, die Justizreform, die Türkengefahr. Alles nahm er feurig in Angriff, nichts gelang ihm, und doch hinterließ er ein rühmliches Andenken, einen populären Namen (›der letzte Ritter‹), eine von Legenden umkränzte Lebensgeschichte (›Kaiser Max auf der Martinswand‹) und einen ans Mythologische grenzenden Ruf, den er selbst durch die von ihm teils angeregten, teils selbstverfaßten Chroniken ›Teuerdank‹ und ›Weisskunig‹ (allegorische Selbstbiographien) hochgezüchtet hat. Die Humanisten jubeln ihm als ihrem Kaiser zu, glaubten ein augusteisches Zeitalter zu erleben. Dürer porträtiert ihn, Ulrich von Hutten, Heinrich Bebel und andere werden von ihm nach italienischem Renaissancebrauch mit dem Dichterlorbeer gekrönt. Die Beliebtheit dieses phantasievoll schwärmenden Monarchen, der noch einmal die König-Artus-Romantik zu erneuern bestrebt war, rührt, wie Ranke l. c. feststellt, nicht »von dem Erfolge seiner Unternehmungen, sondern von seinen persönlichen Eigenschaften her«. »Alle guten Gaben der Natur«, so fährt Ranke fort, »waren ihm in hohem Grade zu Theil geworden: Gesundheit bis in die spätern Jahre: – wenn sie etwa erschüttert war, reichte eine starke Leibesübung, anhaltendes Wassertrinken hin, sie wieder herzustellen; – zwar nicht Schönheit, aber gute Gestalt, Kraft und Geschicklichkeit des Leibes, so daß er seine Umgebung in jeder ritterlichen Übung in der Regel übertraf, bei jeder Anstrengung ermüdete; ein Gedächtnis, dem alles gegenwärtig blieb, was er jemals erlebt oder gehört oder in der Schule gelernt hatte; — 276 —

natürlich richtige scharfe Auffassung: er täuschte sich nicht in seinen Leuten, er bediente sich ihrer zu den Dienstleistungen die für sie selbst eben die angemessensten waren; eine Erfindungsgabe ohne Gleichen: alles was er berührte ward neu unter seinen Händen; auch in den Geschäften ein das Notwendige mit sicherm Gefühle treffender Geist: Wäre die Ausführung nur nicht so oft an andre Bedingungen seiner Lage geknüpft gewesen! eine Persönlichkeit überhaupt, welche Bewunderung und Hingebung erweckte, welche dem Volke zu reden gab. … Der venezianische Gesandte weiß nicht auszudrücken, welch ein Zutrauen er bei den deutschen Soldaten aller Art eben deshalb genoß, weil er sie in Gefahren niemals verließ. Als einen großen Feldherrn können wir ihn nicht betrachten: allein für die Organisation einer Truppe, die Ausbildung der verschiedenen Waffengattungen, die Bildung eines Heeres überhaupt, wohnte ihm eine treffliche Gabe bei. Die Miliz der Landsknechte, von welcher der Ruf der deutschen Fußvölker wieder erneuert worden, verdankt ihm ihre Begründung, ihre erste Einrichtung. Das Geschützwesen hat er auf einen ganz andern Fuß gebracht: eben hier bewährte sich sein erfinderischer Geist am glänzendsten; da übertraf er die Meister selbst; seine Biographen schreiben ihm eine ganze Anzahl von glücklichen Verbesserungen zu; auch die Spanier, die unter ihm dienten, sagen sie, habe er zum Gebrauch des Handgeschützes angeleitet. Die Widersetzlichkeit, die sich in diesen Söldnerhaufen bei der Unregelmäßigkeit seiner Finanzerträge oftmals erhob, wußte er, wo er persönlich zugegen war, noch in der Regel zu beseitigen: man erinnert sich, daß er in hohen Nöten den Unmut der Leute durch die Possen eines Narren, den er rufen ließ, beschwichtigte. Überhaupt hatte er ein unvergleichliches Talent, die Menschen zu behandeln. Die Fürsten, welche seine Politik verletzte, wußte er doch in — 277 —

persönlichem Umgang zu befriedigen: ›nie‹, sagte Churfürst Friedrich von Sachsen, ›sey ihm ein höflicherer Mann vorgekommen‹. Die wilden Ritter, gegen die er Reich und Bund aufbietet, erfahren doch wieder solche Äußerungen von ihm, daß es ihnen, wie Götz von Berlichingen sagt, eine Freude im Herzen ist, und sie nie etwas gegen Kaiserliche Majestät oder das Haus Österreich gethan hätten. An den Festlichkeiten der Bürger in den Städten, ihren Tänzen, ihren Schießübungen nimmt er Antheil; nicht selten thut er selber den besten Schuß mit der Armbrust; er setzt ihnen Preise aus, Damast für die Büchsenschützen, einige Ellen rothen Sammt für die Armbrustschützen; gern ist er unter ihnen; damit unterbricht er die schwierigen und ermüdenden Geschäfte des Reichstages. In dem Lager von Padua ritt er geradezu auf eine Marketenderin los und ließ sich zu essen geben: Johann von Landau, der ihn begleitete, wollte die Speise erst kredenzen; der Kaiser fragte nur von wo die Frau sey; man sagte ihm: von Augsburg; ›ah‹, rief er aus, ›dann ist die Speise schon kredenzt, denn die von Augsburg sind fromme Leute‹. In seinen Erblanden saß er noch oft in Person zu Gericht: nahm er einen Verschämten wahr, der dahinten stand, so rief er ihn selber herbei. Von dem Glanz der höchsten Würde war er selber am wenigsten bestochen. ›Lieber Gesell‹, sagte er zu einem bewundernden Poeten, ›du kennst wohl mich und andre Fürsten nicht recht.‹ Alles, was wir von ihm lesen, zeigt eine frische Unmittelbarkeit der geistigen Auffassung, Offenheit und Ingenuität des Gemüthes. Er war ein tapferer Soldat, ein gutmüthiger Mensch; man liebte und fürchtete ihn.« Und bei all dem zeigte sich doch auch seine Unentschlossenheit, die oft in eine allzu jähe, unüberlegte, kurzatmige Entschlossenheit umschlug. Daher sein dauerndes Schwanken, seine einander widersprechenden Maßnah— 278 —

men. Bald begünstigt er den speichelleckenden Apostaten Pfefferkorn, bald dessen Gegenspieler, den kernehrlichen Humanisten Reuchlin. Nächste Wendung: Reuchlins Schrift gegen Pfefferkorn läßt er verbieten; das aber hindert ihn nicht, in einem späteren, entscheidenden Stadium den Versuch zu machen, den Papst mit den bewegtesten Worten zugunsten Reuchlins umzustimmen. Er lobt ihn in dem Brief an den Papst als einen »vir integer bonus« (einen sittenreinen und guten Mann), dessen Schriften zu »allgemeinem Nutzen der christlichen Gemeinschaft« veröffentlicht worden sind. – Reuchlin hat also recht, wenn er von Maximilian schreibt: »qui rectus est, non rexit«. (Er regierte nicht, er wurde regiert.) Alles in allem war dieser Kaiser ein schwieriger, nie vorauszuberechnender Charakter. Wer zuletzt mit ihm geredet hatte, der hatte bei ihm recht. Und gerade er war ausersehen, in diesem Streit (der ihn, wie gesagt, nicht wesentlich interessierte) den Richter zu spielen, ebenso wie später jener Papst aus dem Hause Medici, dem religiöse Streitfragen ziemlich gleichgültig waren. Auf seiner Heimreise machte Pfefferkorn in Stuttgart halt und besuchte Reuchlin, den er wohl nie zuvor gesehen hatte. Er kannte wahrscheinlich einige seiner Bücher und durfte ihn, wie oben dargelegt, bei der ihm (Pfefferkorn) eigenen fanatischen und oberflächlichen Betrachtungsweise für einen Gleichgesinnten halten – besonders auf Grund des ›Missive‹, doch auch manchen Äußerungen in ›De verbo mirifico‹ zufolge; vielleicht hatte man ihm gerade die talmudfeindlichen Stellen aus diesem Buch gezeigt. – Vermutlich wollte er sich Reuchlins Autorität in hebraicis als Bundesgenossen sichern. Reuchlin war ja auch bis dahin die ganze Zeit über Rechtsanwalt des Dominikanerordens gewesen. Über die Motive Pfefferkorns — 279 —

bei seinem denkwürdigen Besuch Reuchlins sind wir nicht unterrichtet. Das Vorstehende ist, was die Motivation angeht, durchaus Hypothese. Wir haben nur Darstellungen des äußeren Hergangs. Und zwar von beiden Seiten. Pfefferkorn erzählt in der ›Defensio contra famosas etc.‹, er sei bei dem Doktor Reuchlin eingekehrt, um »von ihm zu hören und seinen Rat zu empfangen, was er zu der ganzen Sache zu sagen habe … Als ich zu ihm kam, hat er mich sehr höflich (humanissime) aufgenommen und sich über mein Kommen gefreut. Und was mehr ist: er hat mich darüber belehrt, was ich beim Kaiser (noch) zu machen hätte, wie ich durch seine (Reuchlins) eigene Handschrift beweisen kann.« – Ganz anders äußert sich Reuchlin im ›Augenspiegel‹ (ich übersetze aus dem krausen Deutsch des Originals, ohne der heutigen Sprache mehr als nötig nachzugeben – denn der ›Augenspiegel‹ ist im Gegensatz zu den meisten Werken Reuchlins im Hauptteil deutsch abgefaßt –; das Original liegt mir in einer schönen Faksimileausgabe des Johann Froben Verlags, München, vor, ohne Angabe des Druckjahres, doch gewiß nach 1955 und vor 1962 erschienen): »Als vor etlichen Zeiten der getaufte Jude einen schweren Handel und Streit mit den Juden gehabt hat, wie männiglich zu Worms bekannt ist, hat er großen Fleiß darauf verwendet, wie er die Sache auf die richtige Bahn bringen könnte, daß man allen Juden im ganzen römischen Reich alle ihre hebräischen Bücher, klein und groß und von welcher Gestalt sie wären, nehmen könnte, allein den bloßen Text der Bibel ausgenommen, wie das aus etlichen seiner gedruckten Büchlein zu entnehmen ist, auf die ich mich berufe. Darauf hat er bei Kaiserlicher Majestät durch viel Beredsamkeit und mit trefflicher großer Fördernis (Protektion) zunächst ein Gebot und Mandat erlangt, lautend allein auf Schmachbücher, so die Juden zu — 280 —

Schanden und Schmähung der christlichen Kirche hätten erscheinen lassen. Die sollten an jedem Ort, wo sie wären, von den Pfarrern und etlichen vom Rat oder Gericht besichtigt – und wenn sie als derart strafbar befunden, alsdann genommen und abgetan werden. Wie dasselbe Gebot und Mandat wörtlich gelautet hat, ist noch vielen Leuten in unbezweifeltem frischem Gedächtnis. Dasselbige Mandat hat mir Pfefferkorn, der getaufte Jude, im vergangenen Jahr in mein Haus gebracht, mit Bitten und Begehren, dieweil ich der hebräischen Sprache unterrichtet wäre, daß ich dann mit ihm hinab an den Rhein reiten sollte, ihm das wider die Juden vollstrecken zu helfen. Das hab ich ihm, eigener Geschäfte wegen, abgeschlagen. Und habe beigefügt, man werde auf das Mandat nichts geben. Denn wiewohl die Meinung betreffend die Schmachbücher im Grunde gut und löblich sei, so habe das Mandat doch der rechten Form wegen etliche Gebrechen und Mängel, die ich ihm auch mit dem Finger gezeigt hab. Als er aber von mir scheiden wollte, begehrte er von mir, ich solle die erwähnten Gebrechen und Mängel des Mandats aufschreiben, von denen ich ihm angegeben hatte, daß man ihretwegen nichts auf das Mandat halten (geben) werde. Da schrieb ich ihm die betreffenden Punkte auf ein Zettelchen, das ich von einem Papier abriß, damit er nicht dächte, ich wolle ihn aufsässig als einen Unverständigen dazu überreden, von dem gemeldeten Kaiserlichen Mandat abzustehen, und damit er mir hinterwärts nicht möchte nachreden, ich hätte anders mit ihm geredet, als es der Wahrheit entspricht. Also habe ich lange Zeit davon nichts mehr gehört.« Bei Vergleich der beiden Berichte sieht man, deutlicher als sonst: wie man dieselbe Angelegenheit in ganz verschiedener Art darstellen kann, ohne geradezu zu lügen. Die Halbwahrheit wird (wie bei der berühmten Emser — 281 —

Depesche, die Bismarck, ohne direkte Lüge, aus einer ›Chamade‹ in eine ›Fanfare‹ umgeformt hat) durch Weglassungen erzielt. Für solche Halbwahrheit scheint mir Pfefferkorns Version ein recht lehrreiches Beispiel zu bieten. Daß der ehrliche Reuchlin die weitaus glaubwürdigere Darlegung des Geschehenen bietet, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Von Stuttgart begab sich Pfefferkorn, durch Reuchlins Einwände unabgeschreckt, nach Frankfurt und begann da mit kaiserlicher Vollmacht lustig zu konfiszieren. Die Judenschaft Frankfurts erhob Einspruch, es nützte ihr aber nichts. Von Frankfurt wandte sich der Unhold nach Worms und Mainz; und auch da, wie in andern kleineren Orten der Nachbarschaft, scheint es ihm gelungen zu sein, unter Hinweis auf das Mandat hebräische Bücher aller Art den Juden wegzunehmen. Als er von dieser Rundreise nach Frankfurt zurückkehrte, fand er jedoch ein Schreiben des Mainzer Erzbischofs Uriel von Gemmingen vor, das eine Fortführung der Aktion untersagte. Vermutlich wünschte Uriel nicht, daß »in seinem Sprengel mit Umgehung seiner Autorität ein wichtiger Schritt vorgenommen würde« (Geiger). Bei weiterem Verlauf der Angelegenheit erwies sich der Mainzer Erzbischof durchaus nicht als judenfreundlich, so soll er bei Lektüre von Reuchlins Augenspiegel sich dahin geäußert haben, Reuchlin habe hinter seinen Ohren einen Juden (als Einflüsterer) sitzen gehabt. Aber die Einmischung eines Ungelehrten und NichtTheologen wie Pfefferkorn mochte dem Erzbischof doch peinlich sein. Infolgedessen wurde die Sache wieder beim Kaiser anhängig gemacht. Der unermüdliche Pfefferkorn reiste nochmals zum Kaiser, der in einem zweiten Mandat, ausgestellt am 10. November 1509 in Rofereit (Rovereto, — 282 —

Südtirol, heute zu Italien gehörig), immerhin auf die Rechte und Privilegien der Juden in betreff ihrer Bücher Bezug nimmt und die ganze Affäre in die Hände des Erzbischofs legt. Er möge Gelehrte der Universitäten in Mainz, Köln, Erfurt und Heidelberg, ferner den Ketzermeister Jakob Hochstraten aus Köln, den Priester Viktor von Karben (der, nebenbei bemerkt, auch ein Täufling jüdischer Abstammung war) und Reuchlin zu sich berufen, dessen Namen hier zum erstenmal in einem offiziellen, auf den Talmudstreit bezüglichen Dekret erwähnt wird. Dieses Gelehrtenkonzil hat aber niemals stattgefunden. Um die Angelegenheit wieder in Fluß zu bringen, veröffentlichte Pfefferkorn, wie von einer fixen Idee besessen, eine neue Streitschrift mit dem schmeichlerischen Titel: ›Zu Lob und Ehre dem Allerdurchlauchtigsten Großmächtigsten Fürsten und Herren Maximilian‹. Neben der Autorenbezeichnung sind die Worte »vormals ein Jud und nun ein Christ« nicht vergessen. Die Schlußbemerkung lautet (wie fast alles, was ich zitiere, in heutiges Deutsch übertragen): »Darum ist dieser Handel göttlich und nicht aus Neid oder Haß vorgefaßt; wenn aber jemand dies anders vermerkt oder vernommen hat, so mag er davon Zeugnis geben.« Er wünscht also Streit, wünscht Aufsehen zu machen. Wie fern aber sein neues Buch jeglichem Haß ist, beweist Pfefferkorn unter anderem dadurch, daß er dem Kaiser zu beweisen sucht, er habe (trotz aller Schutzbriefe) Macht und Fug über die Juden, und es sei kein Unglimpf, die Juden »aus dem Reich zu jagen, wie es gleicherweise in Frankreich geschehen ist«. – Die lateinische Übersetzung des Buches wurde von Andreas Frisius besorgt und erschien im März 1510. Statt aber vorwärtszugehen, machte das Pfefferkornsche Anliegen einen heftigen Sprung zurück. Es kam am 6. Juli 1510 eine neue Meinungsäußerung des kaiserlichen — 283 —

Dilettanten heraus, in Gestalt eines Briefes, der im ›Augenspiegel‹ an erster Stelle mitgeteilt ist. In diesem Brief an den Mainzer Erzbischof, Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches, heißt es u. a.: »Wir zweifeln nicht, deiner Liebden sei noch in frischem Gedächtnis der Handlung, so wir betreffs der Judenbücher vor einiger Zeit vorgenommen haben, indem wir dich mitsamt etlichen Universitäten und andern Gelehrten und Sachverständigen zu Kommissären ernannt haben. Nun haben wir vor einiger Zeit den Juden ihre Bücher zurückzugeben angeordnet, dergestalt daß sie registriert und unverrückt bis auf unseren weiteren Befehl (bei ihnen) belassen werden.« Dieses Mandat über die Rückstellung der konfiszierten Bücher an die Juden, das hier offiziell erwähnt, sonst aber nicht erhalten ist, zählt Graetz als drittes Mandat. Somit wäre das Schriftstück vom 6. Juli (gegeben in Füssen – Bayern), aus dem soeben einige Sätze zitiert worden sind, als das vierte kaiserliche Mandat in dieser Sache aufzufassen. Pfefferkorn selbst berichtet, daß er dieses vierte Mandat ingenti labore (mit ungeheurer Mühe) und bei einer weiteren Reise zum Kaiser erlangt habe. Graetz nimmt als möglich an, daß der Kaiser damals vielleicht in München seine Schwester, die Äbtissin Kunigunde, besucht habe. Wenn dies zutrifft, so wäre es vielleicht damals zu der Szene gekommen, die Reuchlin in seinem hebräisch geschriebenen Brief an den jüdischen Leibarzt des Papstes, Bonet de Lates, erzählt. »Beacma halcha lifne hakesar achiha wenafla arza uwachta lefanaw.« (Sie selbst trat vor den Kaiser, ihren Bruder, fiel zur Erde und weinte vor ihm.) Es folgt eine Rede, die Kunigunde vor dem Kaiser gegen die gotteslästerlichen Schriften der Juden gehalten haben soll, ganz im Stile jener Reden, die Livius zu erdichten pflegte. Daß in diesem vierten Mandat Pfefferkorn als »Sollicitator der Sachen« bezeichnet wird, ist kein Erfolg Pfefferkorns, da — 284 —

gleichzeitig sein Amt als das einer bloßen Übermittlung des schriftlichen erzbischöflichen Gutachtens (mitsamt den übrigen Gutachten) umschrieben wird. Bemerkenswert ist auch, daß die Gutachten jetzt schriftlich eingeholt und nicht als Referate bei einem einzuberufenden Gelehrtenkongreß erstattet werden sollten; eine weitere technische Neuerung dieses Dekrets gegenüber dem zweiten, doch ohne inhaltliches Gewicht. Daß aber die konfiszierten, beim Frankfurter Stadtrat lagernden hebräischen Bücher den Juden zum Gebrauch zurückzustellen seien (Pfefferkorn gibt die Zahl dieser von ihm geschnappten Bücher mit 1500 an), – daß die Frage jetzt erst richtig von Sachverständigen geprüft werden sollte, ob ihre Unterdrückung »göttlich und löblich, unserem heiligen Glauben nützlich sei und ihm zu Mehrung und zugut kommen möge« (wie das vierte Mandat besagt), das war offenbar die Verweisung auf einen langen Weg, der anstelle der Pfefferkornschen Husarenstücke und Privataktionen statthaben sollte. Pfefferkorn hat denn auch in seiner ›Defensio‹ keine andere Erklärung für diesen Defaitismus an oberster Stelle sowie für die ihm schmerzliche Rückstellung der Bücher an ihre Eigentümer, – keine andere als den Hinweis auf den Satan, der den Juden offensichtlich geholfen habe. Allerdings hätten dabei auch einige »unwürdige Christen, von den Juden mit Geldern bestochen«, mitgewirkt. – Dies nun mag sich verhalten haben, wie es wolle (nähere Angaben fehlen): für die Juden war die ganze Geschichte jedenfalls im wesentlichen erledigt. Sie hatten ihre Bücher wieder – und das war für sie die Hauptsache. Der prinzipielle Streit aber, der unter den Nichtjuden über den Wert und Unwert der talmudischen, kabbalistischen und andern Schriften eigentlich jetzt erst begann, berührte sie nicht. Für sie war der Wert ihrer heiligen Abhandlungen kein Streitgegenstand im Sinne der Nichtjuden, — 285 —

obwohl interne Kämpfe für und gegen den Vorrang oder die Orthodoxie dieser oder jener Schriftengattung nicht fehlten und oft sogar mit der größten Erbitterung im Ghetto durchgefochten wurden. Die Juden warteten in Geduld und Gottvertrauen auf das schließliche Ergebnis der Dispute unter fremden Köpfen, ohne sich in besonderer Weise um sie zu kümmern oder gar sich einzumischen. – Die an die Satanslegende anschließende Nachricht Pfefferkorns, daß die Juden sich über den vorläufig günstigen Ausgang ihrer Sache so sehr gefreut hätten, daß sie triumphale Briefe immer wieder (continuo) an ihre Gemeinden nicht nur im Römischen Reich, sondern auch in andern Ländern abgeschickt hätten, ist offenbar eine Erfindung des Apostaten. Nicht ungeschickt erfunden, um die Hetze wieder ein wenig zu schüren. Es müßten aber doch wohl, wenn die Nachricht auf Wahrheit beruhte, einige dieser Briefe ans Licht des Tages gekommen sein oder in der weitläufigen rabbinischen Responsenliteratur Wellen geschlagen haben. Das ist aber nicht der Fall. – Als das Merkwürdige erscheint vielmehr das tiefe Schweigen der zeitgenössischen Judenschaft über die ganze Angelegenheit, auch in der Folge über das Erscheinen von Reuchlins ›Augenspiegel‹ 1511, der doch für die jüdische Sache und insbesondere für die Rechtsstellung der Juden im Reiche (concives imperii Romani, Mitbürger des Römischen Reiches – nannte er die Juden) freundlichere Töne fand als irgendein Deutscher weit und breit in jener Epoche. Die Juden antworteten mit Indifferenz, nicht (wie Pfefferkorn zweckmäßig fingiert) mit Lobgesängen. Der gewissenhafte L. Geiger findet eine einzige jüdische Stimme, die ohne Namensnennung vielleicht auf Reuchlin hinweist. Und diese Stimme erhebt sich in einem Buch, das fast ein Jahrhundert später in Krakau erschienen ist. – So ganz sangund klanglos, wie Geiger die Wirkung des großen Disputs — 286 —

um die Geistesgüter des jüdischen Volkes schildert, ist indes der Ablauf im Ghetto doch nicht gewesen. In ihrem schon zitierten, höchst preisenswerten Buche ›Jossel von Rosheim‹ (1959) hat Selma Stern zumindest eines Zeitgenossen Erwähnung getan, eben ihres Helden, den die Ereignisse tief bewegt haben: »Jossel hat in seinen Memoiren und in seinem ›Sefer Mikneh‹ von dem ›guten und weisen Mann‹ Reuchlin, dem Retter seines Volkes, mit dankbarer Bewunderung gesprochen.« Der Erzbischof Uriel erfüllte den kaiserlichen Auftrag. Das Mandat hatte mit den Worten geschlossen: »Und daß du dich daran durch keinerlei anderen Befehl irren und verhindern lassest, sondern diesem hier nachkommst, daran tut deine Liebden unsere ernstliche Meinung.« Nun erhielt Reuchlin (nebst den anderen Kommissarien, Universitäten usw.) den Auftrag, sich zu der von Pfefferkorn ausgegangenen Anregung zu äußern. Der Auftrag des Mainzer Erzbischofs an Reuchlin trägt das Datum: Gegeben zu Aschaffenburg Montags nach Laurentii im Jahre 1510 (12. August). Am 6. Oktober 1510 hatte Reuchlin seinen ›Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll‹, beendet. Das Datum findet sich am Ende des Drucks vermerkt, der aber zunächst nicht erschien, sondern erst zur Frankfurter Ostermesse 1511 als Hauptteil von Reuchlins Streitschrift ›Augenspiegel‹ herauskam. – Ich werde diese wichtige Publikation später im Zusammenhang behandeln. – Die Antwort Reuchlins war ein klares, wohlmotiviertes ›Nein‹. Reuchlin erkannte nur ganz geringfügige Ausnahmen an, in denen er das hebräische Schrifttum als vernichtenswert charakterisierte (die sogenannten ›Schmachbücher‹). In seinem hier schon mehrfach herangezogenen Meisterwerk ›Deutsche Geschichte — 287 —

im Zeitalter der Reformation‹ nennt Ranke Reuchlins Gutachten »ein schönes Denkmal reiner Gesinnung und überlegener Einsicht«. Einige Seiten zuvor hat er es als »ein schönes Denkmal deutscher Prosa« bezeichnet. Alle übrigen Gutachten sprachen sich aufs entschiedenste gegen die hebräischen Bücher aus. Am weitesten ging das Votum der Universität Mainz, das den Juden nicht einmal den Originaltext des Alten Testaments belassen wollte, da auch dieser angeblich von den Rabbinern verfälscht sei. Eine Sentenz, mit der die Mainzer Herren ihrer Gelehrtheit nicht gerade ein gutes Zeugnis ausstellten. Denn an der getreuen Überlieferung der alten Texte durch die Masoreten gibt es ja keinen Zweifel. Die neuen Funde in Qumran haben das wieder einmal bewiesen. – Das Kölner Gutachten bekämpfte nur den Talmud. Er sollte verbrannt werden, wie das bereits im 13. Jahrhundert die Päpste Gregor IX. (der seinen Freund Franziskus heilig sprach) und Innocenz IV. befohlen und in Frankreich durchgesetzt hatten. Den Anstoß zu den Talmudverbrennungen, die unter der Regierung Ludwig des Heiligen geschahen, hatte auch damals ein getaufter Jude (Donin) gegeben. – Hochstraten und Viktor von Karben waren selbstverständlich radikal gegen die jüdischen Bücher. Der Ketzermeister und Inquisitor Hochstraten verlangte sogar eine ›solemnis inquisitio‹ (feierliche Inquisition) gegen die Juden, was mit Graetz als richtiges Inquisitionsverfahren verstanden werden muß und nicht, wie es Geiger verwässern möchte, als bloße Befragung der Juden, als »eine im Ganzen nicht inhumane Maßregel«, wie dieser eminente Gelehrte es unbegreiflicherweise nennt. Diese masochistische Einstellung unseren fürchterlichsten Feinden gegenüber war eben leider in der Zeit Geigers, im Gefolge von Emanzipation und Assimilation, allgemeine Mode geworden. – Die Universitäten Heidelberg und Erfurt drückten sich vor— 288 —

sichtiger aus. Heidelberg plädierte für eine mündliche Beratung aller Experten, zu der die eingeladenen Universitäten je zwei Abgesandte delegieren sollten. Also für Verzögerung und reiflichere Erwägung des schließlichen Gutachtens. – Was Erfurt anlangt, so ist das vorzügliche Buch von F. W. Kampschulte, eine von reichem Quellenstudium getragene Spezialuntersuchung über ›Die Universität Erfurt in ihrem Verhältnis zu dem Humanismus und der Reformation‹ (zwei Teile – Trier 1858 und 1860), das maßgebende Werk. Es gibt aufregende Einblicke in den Streit der alten und neuen Richtung an dieser Hochschule, der zunächst die Abfassung des Gutachtens verzögerte (der Erzbischof konnte es erst im April 1511 an den Kaiser absenden), dann eine zumindest unkluge Fassung dieses Gutachtens zur Folge hatte (es wurde allerdings nur die Vernichtung jener Bücher gefordert, die »Irrtümer und Blasphemien des christlichen Namens« enthielten, aber diese Bücher wurden nicht mit ihren Titeln genannt). In der Folge reizte gerade dieses ungünstige Gutachten den Lehrer der Erfurter Poeten, den Freund aller wirklichen Begabungen in jenem Landschaftskreis und den eigentlich bewegenden Geist der Universität Erfurt, wiewohl er als bescheidener Kanonikus in dem nahen Gotha seinen Wohnsitz hatte – ich meine den großen Religionsphilosophen Mutianus Rufus, Conrad Muth aus Homburg, eine der ergreifendsten Gestalten der wahren, innerlichen deutschen Geistesgeschichte – zu um so heftigeren Angriffen gegen die Kölner, ihn und seine Jünger, die Humanistenschar, die classis latina, das lateinische Heer. Diesem Mann, der an der Tür seiner Studierstube die Inschriften angebracht hatte: »Beata tranquillitas« (Glückselige Ruhe) und die weitere, wohl von Platons Phaidros (Schlußsatz) beeinflußte: »Bonis cuncta pateant« (Den Guten stehe alles offen) – und der doch immer wieder in nervenzerrei— 289 —

ßende äußere wie innere Kämpfe verwickelt wurde, hat Kampschulte in dem oben erwähnten Buch eine Darstellung gewidmet, deren feine Nuanciertheit und Gerechtigkeit, verbunden mit ehrlich detaillierter Durcharbeitung, diese Seiten weit über das meiste erhebt, was heute geschrieben oder gerühmt wird. Denn im kunstvoll und genau ausgeführten Detail liegt einer der höchsten Werte der Prosa, sei sie nun Dichtung oder Geschichtsschreibung. – Welchen Wert es für Reuchlin hatte, daß Mutian und seine Getreuen (später) sich zu ihm bekannten, sieht man u. a. aus einem von Kampschulte zitierten Brief unseres Hebraisten: »Unter den gegenwärtigen Umständen wird mir nichts von größerem Nutzen sein als deine Freundschaft, namentlich wenn euer ganzer Gelehrtenbund mit gleichem Eifer auf meine Seite tritt, wie dies die Briefe des Petrejus und Urbanus neben dem deinigen in Aussicht stellen. Durch den Beistand so vieler ermutigt, hoffe ich alles Widrige glücklich zu überwinden.« – Der Kreis um Mutian in seiner Geschlossenheit, in seiner bedingungslosen Liebe und Unterwerfung unter den Lehrer, dem trotz seiner Milde auch die diktatorische Geste nicht ganz fehlte, wirkt wie eine Antizipation des Kreises um Stefan George. Allerdings erklingt hier in weichem Moll, was im George-Kreis oft allzu grell in Dur zum Tönen kam. Es ist auch nicht zu übersehen, daß bei all seiner Großzügigkeit und Reinheit der Gestalt des Mutian (ähnlich wie der des Erasmus) ein Hang zur diplomatischen Vorsicht, Leisetreterei, Wirksamkeit im geheimen anhaftet, der in jener Zeit nur Reuchlin, zu dessen Unheil, und dem Raufbold Hutten fast ganz abzugehen scheint.

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Reuchlin nach Holbein d. J. Holzschnitt. Aus H. Pantaleons ›Teutscher Nation Heldenbuch‹. Basel 1570. Angebliches Reuchlinbildnis.

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Vorläufig allerdings schloß sich das Erfurter Votum dem negativ gestimmten Chorus an, wenn auch in gemäßigtem Ton. Mutian hatte noch nicht eingegriffen. »Die Unfälle, welche damals die Universität infolge der städtischen Wirren erlitt, die Sorge für die eigene Erhaltung machten einstweilen die Beschäftigung mit dem Kampfe in der Ferne unmöglich.« (Kampschulte) – Daß die Erfurter Sentenz die persönliche Ehre Reuchlins hervorhob, daß Erfurt später sogar Reue zeigte und sein Votum widerrufen wollte (Kampschulte, Seite 172), änderte nichts an der Situation. Der Erzbischof von Mainz schickte die eingelangten Gutachten noch im Oktober 1510 an den Kaiser. (Nur das Erfurter Gutachten erlitt die schon erwähnte Halbjahrsverspätung.) Der Erzbischof begleitete seine Sendung mit einem Konkokt eigener Erzeugung, das sich dem schärfsten Placet, dem der Mainzer Universität, inhaltlich anschloß. Seine Kaiserliche vielbeschäftigte Majestät hatte natürlich weder Zeit noch Lust, das hochangeschwollene Aktenbündel durchzustudieren. Neuerlich wurde auf gut österreichisch eine Kommission eingesetzt. – Zur Zeit, in der ich Staatsbeamter war, nannte man das einen Schieber. – Die Kommission bestand aus zwei Theologen, Baldus und Angelus, sowie dem Karthäuserprior Gregor Reisch. Die Kommission stimmte mit dem gestrengen Erzbischof überein, nahm allerdings die biblischen Bücher (das Alte Testament) aus der Reihe der zu prüfenden dankenswerterweise heraus, verschärfte aber die Situation dadurch, daß der Karthäuser angeblich Reuchlin verdächtigt haben soll, von den Juden bestochen zu sein. Diese Angabe stammt allerdings von Pfefferkorn (›Defensio‹) und hat ihre Glaubwürdigkeit dadurch verloren, daß er in einer — 292 —

andern Schrift (›Mitleidige Klage‹) den gleichen spöttischen Ausspruch dem Kaiser in den Mund legt: »Du, Reuchlin, hast das Missive mit schwarzer Tinte, den Ratschlag aber mit roter (soll bedeuten: goldener) Farbe oder Tinte geschrieben.« Daß sich Reuchlin im ›Augenspiegel‹ feierlich gegen diese Beschuldigung verwahrt und dabei die Worte gebraucht: »Wer das behauptet, der lügt, und hätte er gleich eine so fromme Gestalt, als wäre er ein Kapuziner«, – ist meines Erachtens kein Beweis; denn der ›Kapuziner‹ kann metaphorisch, nicht wörtlich gemeint sein. Jedenfalls war die weitere Folge: daß nun gar nichts geschah. Der Kaiser blieb weiter unschlüssig und schrieb an Erzbischof Uriel, er wolle demnächst das Gutachten über die Gutachten einem Reichstag (»deiner Liebden und den andern Ständen des Reiches«) vorlegen. Doch zu diesem Reichstag ist es nie gekommen. So wäre die ganze Sache ad acta gelegt worden, wie so viele im Keim zugrunde gegangenen Aktionen teils löblicher teils unlöblicher Art im Heiligen Römischen Reich jener Tage: wäre nicht etwas ganz Unerwartetes und Unerhörtes geschehen, das den Streitfall erst eigentlich in die große Öffentlichkeit brachte; – das, statt den Entscheid in Gelehrtenstuben zu suchen, großen Lärm schlug und ganz Deutschland auf Jahre hinaus in eine reuchlinische (humanistische) Partei und ein scholastisches Gegenlager spaltete. Was ereignete sich? Pfefferkorn besaß die unglaubliche Frechheit, die Argumente, die Reuchlin in seinem versiegelten Gutachten zugunsten der hebräischen Bücher vorgebracht hatte, in extenso zu veröffentlichen, indem er gegen sie polemisierte. Dazu hatte er kein Recht. Das Dokument war ihm vom Erzbischof zur Überbringung an den Kaiser anvertraut — 293 —

worden. Es ist fraglich, ob es in Pfefferkorns Amtsbefugnis lag, diesen ›Ratschlag‹ zu lesen. Es ist nicht fraglich, daß er ihn oder seine Gedankengänge nicht hätte öffentlich bekanntgeben dürfen. Reuchlin erklärt (in einer späteren Schrift), nach kaiserlichem Gesetz sei eine derartige Verletzung von Staatsgeheimnissen mit dem Tode zu bestrafen. – Darin ist vielleicht der Grund zu suchen, daß die Kölner Dominikaner sich dieses eine Mal deutlich von Pfefferkorns tollkühnem Streich distanzierten, während sie in all seinen andern Büchern, vom ›Judenfeind‹ 1509 angefangen, und auch in seinen späteren offen gemeinsame Sache mit ihm machten. Die Dominikaner bestanden im weiteren Fortgang des Streites darauf, daß sie von dieser Schrift nichts gewußt hätten (»nobis ignorantibus«), daß gerade damals Pfefferkorn fast ein Jahr lang nicht in Köln gewesen, daß sein Buch auch gar nicht in Köln, sondern in Mainz erschienen sei. Pfefferkorn sucht im ›Handspiegel‹ (so heißt sein unglückseliges Opus) seine Indiskretion damit zu rechtfertigen, daß er angibt, er sei in die erzbischöfliche Kanzlei gegangen und habe dort Reuchlins ›Ratschlag‹ auf einem Pult liegend gefunden; die Gehilfen der Schreiber hätten das Schriftstück öfters gelesen, um sich darüber lustig zu machen. (»Hei! wie sich die Buben freuen!« – die Szene aus dem 1. Akt der ›Meistersinger‹ kommt einem ins Gedächtnis.) Er will damit unter der Hand glaubhaft machen, daß der Inhalt des ›Ratschlags‹ bereits bekannt, ja populär und öffentlich ausgelacht war, so daß er (Pfefferkorn) gar nichts zu verraten hatte … Wer diese Ausrede glaubt, der melde sich! – Im übrigen sei nicht geleugnet, daß Herr Pepericornus (in seinem hebräischen Promemoria nennt ihn Reuchlin ›Pilpél hameschumád‹, den getauften Pfeffer), daß auch er von dem kräftigen Deutsch profitiert, das man damals an Stelle unserer heutigen ausgelaugten Sprache — 294 —

schrieb. Es klingt ganz lutherisch, wenn er sagt: »Wer das Büchlein lesen will, der tu nit wie der Hahn, so er über glühende Kohlen läuft. Viel gelesen und wenig verstanden, ist besser unterlassen.« Oder wenn er lügnerischerweise behauptet, Reuchlin lese hebräische Wörter nur, wenn man sie ihm ins Lateinische oder Deutsche übersetze, und auch dann so holperig, »wie wenn man einen Esel treppauf treibe«. Das Bild ist packend, wenn auch der Inhalt eine glatte Erfindung. Ich spreche hier nur von der stilistischen Kraft. Ein drittes Beispiel: Wenn Pfefferkorn schimpfend loslegt: »Man soll sich um die Juden oder um ihre Gönner, derselbigen Ohrenbläser, Stubenstänker, Plippenplapper, Beutelfeger, Hinterschützer, Seitenstecher nit kehren noch ihren Worten kein Statt vergönnen.« Zweifellos hat der Mann eine gewisse Art von giftiger Begabung gehabt. Und Temperament. Aber die Schlampigkeit seines Charakters drückt sich auch in seiner verschlampten Sprache aus. So schreibt er beispielsweise: ›Reuchling‹ statt ›Reuchlin‹. Eigennamen sind bei ihm Glückssache. Inhaltlich ist der ›Handspiegel‹ wertlos. Pfefferkorn hatte natürlich sofort erkannt, daß Reuchlins ›Ratschlag‹ den Plänen, die er seit Jahr und Tag spann, äußerst gefahrdrohend war und sie zu vereiteln drohte. Er sucht daher nachzuweisen, daß »einige Christen, besunders Johannes Reuchling von Stuckarten«, von den Schriften der Juden nichts verstünden. Er geht so weit zu behaupten, daß die hebräische Grammatik, die Reuchlin habe erscheinen lassen (die ›Rudimenta‹, der Grundstein seiner Berühmtheit!), gar nicht von ihm verfaßt sei. Es ist eine Unverschämtheit sondergleichen, daß er die durch jahrzehntelange Arbeiten gestützte, von allen Humanisten Deutschlands und von vielen in Italien und Frankreich hochgeehrte Gelehrtenstellung Reuchlins, des miraculum trilingue, des dreispra— 295 —

chigen Wunders anzutasten wagt. Ebenso unfundiert bekämpft er die juristischen Thesen Reuchlins, z. B. seine Behauptung, daß die Juden keine Ketzer, ferner daß sie »Mitbürger des römischen Reiches« seien. Er bezweifelt sogar Reuchlins Ehrlichkeit. Daß Reuchlin bei den Juden in hohem Ansehen stehe, beweise nichts. (N.B. Wir sahen, daß von einem solchen ›hohen Ansehen‹ tatsächlich keine Rede war.) Denn, so argumentierte Pfefferkorn in echt antisemitischer Tonart: »Wer sie berühmt, den berühmen sie wieder. Und wer ihnen dient, dem dienen sie wieder, besunderlichen so etwas wider die christliche Kirche zu Nachteil reichen mag. Dafür verstehn sich die Juden auf besunderliche Praktiken mit subtiligen Hinterschlägen, Worten, Weisen, Wandel und Gebärd, womit sie die Christen zu sich locken.« – Auch die niederträchtige Anklage gegen die Juden in Brandenburg wird von dem Apostaten ausgenützt, um gegen die Juden Stimmung zu machen. Auf die Anzeige eines Diebes hin verdächtigte man sie des Kindesmordes und der Hostienschändung. Achtunddreißig Juden wurden dieser Lüge wegen in Berlin gefoltert und verbrannt. Es geschah dies 1510 unter dem Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg. Singend schritten die Tapferen zum Feuertod. Nur zwei, die in der Todesangst die Taufe nahmen, wurden begnadigt – das heißt: enthauptet. – Dies ist die erste geschichtliche Nachricht von den Juden in Berlin (kein gutes Omen). »Contumeliam factam esse in Perlino (!)« zeterte in einem etwas späteren Libell Pfefferkorn: »Eine Schmach ist in Perlin geschehen«; – er meint die angebliche Hostienschändung, nicht die Verbrennung der achtunddreißig unschuldigen Märtyrer.

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ACHTES KAPITEL

Der Augenspiegel 1

Der ›Handspiegel‹ Pfefferkorns erschien zur Frankfurter April-Messe 1511. – Reuchlin beschwerte sich beim Kaiser Maximilian über die tückischen persönlichen Angriffe, die der Apostat gegen ihn vorgebracht hatte. Er traf den Kaiser in Reutlingen. Dort hatte sich auch Pfefferkorn eingestellt, um das verspätete Gutachten der Erfurter Universität nebst einem Begleitbrief des Mainzer Erzbischofs dem Kaiser zu übergeben. Es ist nicht überliefert, daß es bei diesem Anlaß zu einer Aussprache zwischen Reuchlin und Pfefferkorn gekommen wäre. Wohl aber überschütteten zwei Begleiter des Kaisers (Probst Zobel und Konrad Peutinger, der berühmte Augsburger Humanist) den Pfefferkorn mit Vorwürfen. – Der Kaiser verdammte »et vultu et verbis« (durch Miene und durch Worte) die Untat Pfefferkorns und wünschte, den ›Handspiegel‹ vorgelegt zu bekommen – so berichtet Reuchlin selber über diese Unterredung, wobei er vielleicht die österreichische Liebenswürdigkeit des Kaisers etwas zu ernst nimmt. Jedenfalls aber hatte der Kaiser (wie gewöhnlich) keine Zeit, die ihm dargereichte Schmähschrift zu lesen. Das Ergebnis war, daß Reuchlin durch die kaiserliche Behörde, den Hofrat, den Bescheid erhielt, der Kaiser habe die ›gütliche Verhörung‹ (Einvernahme) in dieser Sache dem Bischof von Augsburg übertragen. Dann geschah wieder einige Monate lang gar nichts. Reuchlin mahnte den Bischof. Dieser erklärte, vom Kaiser keinerlei Auftrag erhalten zu haben. — 297 —

Da entschloß sich Reuchlin zu dem folgenschweren Schritt, seine Verteidigung gegen den ›Handspiegel‹ selbst zu übernehmen. »Damit ich in dieser Frankfurter Herbstmesse von fremden Leuten, die mich nit kennen, nit also für einen leichtfertigen Mann gehalten werde, wie mich der tauft Jud in der vorigen (Frühlings-)Messe öffentlich verunglimpft hat: so will ich mich mit ganzer Wahrheit gegen jedermann verantworten und als ein Verwundeter mich selbst arzneien und heilen« – diese Worte stehen in der Einleitung des Verteidigungsbuches, dem Reuchlin den nachmals berühmt gewordenen Namen ›Augenspiegel‹ gegeben hat. ›Augenspiegel‹ bedeutete in jenen Zeiten: Brille. Und so sehen wir denn in primitiver, doch eindrucksvoller Zeichnung auf dem Titelblatt von Reuchlins Buch (ohne Druckvermerk bei Thomas Anshelm in Tübingen, August oder September 1511 erschienen) eine dickgerandete Brille mit Augengläsern, die die heute nicht mehr übliche Gestalt von genauen Kreisen haben. Diese Brille ist geradezu zum Symbol unseres Humanisten und, wie zuletzt im Abschnitt über seine Porträts noch ausgeführt werden soll, zum Verhängnis für die Überlieferung seines Aussehens geworden. Der Titel des Buches lautet, in Orthographie und Grammatik dem heutigen Sprachgebrauch ein wenig angenähert: ›Doctor Johannsen Reuchlins, der kaiserlichen Majestät als Erzherzog zu Österreich, auch der Kurfürsten und Fürsten allgemeinen Bundesrichters in Schwaben, wahrhaftige Entschuldigung (Verteidigung) wider eines getauften Juden, genannt Pfefferkorn, neulich im Druck erschienenes, unwahrhaftiges Schmachbüchlein. – Augenspiegel.‹ Einige Zeilen vor dem oben angeführten Zitat (»Damit ich in dieser Frankfurter Herbstmesse usf.«) schreibt Reuchlin in genauerer Darstellung der Umstände, die ihn — 298 —

zu rascher Antwort auf den ›Handspiegel‹ gezwungen haben: »Solches Lasterbüchlein hat Pfefferkorn drucken lassen und bei der vorigen Frankfurter Messe (im Frühjahr) selbst herumgetragen, verkauft und durch sein Weib im offenen Kramladen jedermann feilgeboten, auch teilweise verschickt und verschenkt, all das mir zu Schmach, Schanden, Verachtung und Unehre. So mir nun solche Schmach in unseres allergnädigsten Herrn, des römischen Kaisers, Rat und Dienst widerfahren und begegnet ist, wegen dessen ich viel besseren Dankes und Lohnes gewärtig gewesen, hab ich das gemeldete Schmachbüchlein Ihrer Majestät in der Stadt Reutlingen gezeigt und vorgehalten und auf deren Begehren überantwortet.« Folgt die bereits oben gegebene Schilderung des beim Augsburger Bischof stekkengebliebenen Verfahrens. Dem ›Augenspiegel‹ schickt Reuchlin ein detailliertes Inhaltsverzeichnis voraus. Nach dieser seiner eigenen Aufstellung enthält sein Buch (bei Weglassung der überflüssigen Wiederholungen, mit denen der Verfasser seinem Text eine besondere Eindringlichkeit zu geben vermeinte): »Item eine Erzählung des ganzen Hergangs, auch gebührlicherweise Vorwort, Protestationen und Forderung. Item einen Ratschlag ob den Juden ihre Bücher zu verbrennen sind. Item auf die jetzt getane Frage findet man in dem Ratschlag, von allen und jeglichen Judenbüchern und Schriften nichts ausgenommen, diese nachfolgende Antwort … Bei welchem Juden wissentlich gefunden wird ein solch Buch das mit ausdrücklichen Worten zu Schmach, Schande und Unehre unserem Herrn und Gott Jesus, seiner werten Mutter, den Heiligen oder der christlichen Ordnung gemacht wäre, das möchte man nehmen und verbrennen … — 299 —

Item in Sonderheit von dem Talmud, daß er aus vielen und mancherlei gesonderten Büchern zusammengesetzt und eins von dem andern unterschiedlich wohl zu teilen ist. Item das Verdikt der Verbrennung gilt in dem Maß, wie man unten im lateinischen Teil die Argumente angeführt findet. Sonst aber in welchen Büchern nur andere Dinge stünden, nütze oder unnütze, Gutes oder Böses, Leichtfertigkeit oder Torheit, die durch christliche Ordnung nit sonders verurteilt oder verboten wären, das möge mit andern Irrtümern hingehn und bleiben. – Item, desgleichen soll es gehalten werden mit allen ihren Büchern. Item darauf folgen die Einreden, die man nach akademischer Art lateinisch, nach Gewohnheit der Gelehrten, dawider üben und brauchen könnte, mit kurzen Antworten. Item zuletzt eine wahrhaftige Verteidigung wider den getauften Juden und seine obgenannte unwahrhaftige Schrift.« 2

Nach diesem Proömium setzt das Buch in gewaltigem Pathos ein. »All und jeglich, in welchen Ehren, Würden, Standes und Wesens die seien, die die Wahrheit lieb haben«, werden aufgerufen zum Kampf gegen die Lügen, »die nach göttlicher Satzung billigerweise zu hassen sind.« Er sei von Pfefferkorn »ohn all Verursachen und unverschuldet« hinterrücks überfallen worden, durch ein »offen gedrucktes Schmachbüchlein und Lasterschrift«. Er bittet alle, dies »herzlich zu bedenken, auch als sträflich und unleidbar zu erachten, wie einen allgemeinen giftigen Landschaden, der einen jeden biderben und frommen Menschen betreffen kann«. Wo solches ungestraft hinginge, da könne es geschehen, daß man jedermann hoch und niederen — 300 —

Standes mit der Unwahrheit der gleichen Gestalt hinterrücks möchte schänden und lästern. So daß keiner vor solchen leichtfertigen und hinterrücklingen Kläffern seiner Ehre und seines Glimpfs frei noch sicher wäre. – Reuchlin gibt noch das Sprichwort: »Ist es heut an mir, so ist es morgen an dir.« Dann beginnt er die Erzählung, wie es ihm wahrlich unversehentlicherweise begegnet sei, daß man ihm so viel Unglimpf mit der Unwahrheit zugemessen, als er seine untertänige gründliche Handlung »allein zu Gehorsam Kaiserlicher Majestät und zu Ehren meines gnädigsten Herrn von Mainz auf ihr ernstlich Gebot und Befehl ohn alle Widerrede« durchgeführt habe. Er bittet alle anständigen Menschen nochmals, das, was er vorbringe, »mit Geduld und müßiglich« zu vernehmen. Sodann: »Dem ist also.« Damit beginnt er die Darstellung des ihm zugefügten Unrechts, dessen einzelne Stadien (die kaiserlichen Mandate usw.) uns schon bekannt sind. Nach Entwicklung des ganzen Geschehnisses verlangt er gegen Pfefferkorn, da er »keinen Fürsten oder Herrn mit der Sache beladen will«, ein Schrannengericht (wobei Schranne soviel wie Gerichtsschranke bedeutet, also ein öffentliches Gericht, mit Schöffen und Richtern), nach kaiserlichem Recht »nicht allein zu bürgerlicher, sondern auch peinlicher Rach« – d. h. nicht bloß zivilrechtlicher, sondern auch strafrechtlicher Natur. Da Pfefferkorn in einer andern Schrift die Untertanen im Reich zum Aufruhr gegen die Obrigkeit aufgestachelt habe (falls letztere nicht gegen den Talmud einschritten), soll sich Pfefferkorn vor den Halsgerichten verantworten oder vor den »edlen, strengen und festen, fürsichtigen, ehrsamen und weisen, den frommen, echt-rechten Freischöffen der heiligen heimlichen westfälischen Gerichte als Liebhabern der Gerechtigkeit und geordneten Vollstreckern bei notorisch öffentlichen ehrlosen Übeltaten« (mit andern Worten: vor — 301 —

der Feme). – Ob Reuchlin mit diesem Zaunpfahlwink nicht zu weit geht, selbst wenn man die damalige Zeit einer weitgehenden Rechtlosigkeit, die Zeit des Faustrechts in Betracht zieht: das möchte ich nicht entscheiden. Doch daß die »gerechte Entrüstung eines Ehrenmannes, dem ein Bube ein Bein gestellt hat« (wie Graetz sagt), aus der scharfen Tonart des ›Augenspiegels‹ spricht, ist nicht zu bezweifeln. Denn auch Pfefferkorns Angriff war ja nicht etwa bloß theoretisch gemeint, sondern es zeigte sich bald, daß das Ketzergericht, der Scheiterhaufen (für den Talmud und vielleicht auch für den Verteidiger des Talmud, jedenfalls für die Verteidigungsschrift) drohend hinter Pfefferkorns Buch stand. Besonders empört zeigte sich Reuchlin darüber, daß sein ›Ratschlag‹, der nur für den Kaiser und seine Räte bestimmt war, durch Pfefferkorns ›Handspiegel‹ vor die Massen gezerrt wurde, die doch die Einzelheiten des Streites gar nicht fassen konnten und durch die propagandistisch-grellen Behauptungen des Handspiegels eingefangen und verhetzt werden sollten. Wenn Pfefferkorn wirklich etwas gegen Reuchlins ›Ratschlag‹ vorbringen wollte, so hätte er dies in Briefen an den Kaiser und den Erzbischof von Mainz tun sollen (dies führt Reuchlin am Schluß des Vorwortes aus), also ohne öffentlich Skandal zu schlagen – denn es handelte sich ja um einen geheimen versiegelten Auftrag des Kaisers an Reuchlin. Dem Vorwort folgt als Hauptteil des Werkes: der ›Ratschlag‹, den Reuchlin, öffentlich angegriffen, nun der Öffentlichkeit bekanntgibt. »In Gottes Namen Amen« – so geht der fromme Gelehrte an die Arbeit. Er teilt die ganze hebräische Literatur in 7 Gruppen: 1. Die heilige Schrift, essrim wearba, das sind die 24 Bücher des Tenách (Bibel), 2. Talmud »das ist eine gesammelte Lehre und Auslegung aller Gebote« — 302 —

(N.B.: Die Definition Reuchlins ist viel zu eng, da der Talmud außerdem auch Folklore, Wissenschaft, Sagenhaftes, Humoristika, Anekdoten, Biographisches über die großen Lehrer usw. überliefert), 3. Die Bücher der Kabbala, 4. Glossen und Kommentare über die Bücher der Bibel, 5. Sermone, Disputationen, Predigten, 6. Philosophische und sonstige gelehrte Bücher, 7. »Poeterei, Fabel, Gedicht, Merlin, Spötterei und Exempelbüchlein« – »dieselben werden von dem mehreren Teil der Juden selber für gelogen und gedichtet erachtet.« Zu dieser letzteren Kategorie zählt er auch die Bücher gegen Jesus, Maria, die Apostel und die Heiligen. »Deren hab ich nicht mehr als zwei gelesen, das eine wird genannt Nizachon, das andere Toldot Jeschu ha-nozri (Geschichte des Jesus von Nazareth), das auch von den Juden für apokryph gehalten wird, wie Paulus Burgensis (ein jüdischer Apostat aus Burgos in Spanien 1352–1435, der es zu hohen Kirchenämtern gebracht hat) in seinem ›Scrutinium scripturarum‹ schreibt. Ich habe vor Zeiten an Kaiser Friedrichs des Dritten Hofe, des Vaters unseres allergnädigsten Herren, von den Juden daselbst nach vielen Reden gehört, die zwischen uns gehalten worden: daß solche Bücher von ihnen abgetan, vertilgt und allen den ihren verboten seien, dergleichen zu schreiben oder zu reden.« – Nur Bücher von dieser Art will Reuchlin zerrissen oder verbrannt oder unterdrückt, ihre Besitzer bestraft sehen. Er führt die Rechtsquellen an, auf die sich ein derartiges Verfahren stützen kann. Dabei soll kein Unterschied gemacht werden, ob das schmähende Buch von der eben beschriebenen antichristlichen Art ist oder von Christen gegen Christen geschrieben, »nachdem beide Sekten (siehe oben Kap. IV, 1) unmittelbar Glieder des Heiligen Römischen Reichs und Bürger des Kaisertums sind, wir Christen durch unserer Kurfürsten Wahl und Kur, die Juden durch ihre Willenserklärung und ihr offenes Bekennt— 303 —

nis, als sie gesprochen haben: Wir haben keinen andern König als den (römischen) Kaiser. Johannesevangelium, 19.« – Man kann sich vorstellen, wie derartige Deduktionen Reuchlins, eine Art von Gleichberechtigungs-Postulat, dem Pfefferkorn und seinen dominikanischen Hintermännern wider den Strich gingen. Von den übrigen sechs Kategorien der hebräischen Bücher werden zunächst die 24 Bücher der Bibel (das sogenannte Alte Testament) durch das Zeugnis des Hieronymus und anderer kirchlichen Autoritäten als heilig, auch den Christen heilig »durch das Zeugnis der Wahrheit, gegründet in Ewigkeit« aus der Diskussion ausgeschieden. Sodann betrachtet Reuchlin den Talmud, dessen komplizierte Struktur er hervorhebt, – wobei ihm aber mancherlei Fehler unterlaufen. Doch mit richtiger Intuition erkennt er, daß einzelnes im Talmud steht, um den Juden zu helfen, »daß sie möchten den Heiden und bekehrten Juden desto bass in den Disputationen und Zankreden entgegentreten«. Und mit anerkennenswerter Objektivität gibt er zu, daß sie durch Sammeln der Ansichten ihrer »berühmtesten und gelehrtesten Meister, mit solch gross Mühe und Arbeit, so sie und ihre Eltern mit Dichten und Schreiben darin gehabt hätten«, ein Werk zustande gebracht, »ob dem Gott selbst sollte ein gross gefallen nehmen. Und das ist wohl und natürlich zu glauben«. – Glorios in seiner Toleranz, in seinem Freisinn steht Reuchlin mit solchen Sätzen und mit der Herzenswärme, die sich in ihnen (und vielen ähnlichen) ausspricht, über den Autoritäten jener Zeit, über Erasmus, Mutian, Pirckheimer, um nur die besten zu nennen, – ja auch über seiner eigenen Position im ›Wundertätigen Wort‹ und im ›Missive‹. Mit entwaffnender Ehrlichkeit gibt er auch zu, daß er »aus unleidlichem Mangel desselben Talmuds kein rechtes Verständnis dieses Werkes habe, das er bisher gern hätte zweifach — 304 —

bezahlen wollen, damit er es lesen könne. Aber ich hab es nie können zuwege bringen«. Was er über den Talmud wisse, sei nur aus Büchern geschöpft, die gegen ihn geschrieben seien. (Also nicht unbedingt glaubwürdig.) Er konzediert ferner, daß vielleicht im Talmud manches gegen Jesus stehen könnte, da die Juden ja auch im historischen Verlauf der Ereignisse gegen Jesus, seine Messianität usw. polemisiert hätten. Aber er verschanzt sich hinter die Feststellung: »Das kann ich aber nit eigentlich anzeigen, denn ich hab mangelhalb der Bücher den Talmud nit gelernt. Und so weiß ich auch keinen Christenmenschen in allen deutschen Landen, der im Talmud gelernt hab. So ist auch bei meinen Lebtagen kein Jud in deutschen Landen getauft worden, der den Talmud verstanden hat oder auch nur hätte lesen können.« (Ein scharfer Ausfall gegen Pfefferkorn, ohne ihn zu nennen.) Die Argumente häufen sich fast unentwirrbar. Das echte Streben nach Gerechtigkeit läßt ja über ein solches vielbändiges Riesen-Schriftwerk kein einfaches Urteil zu. Reuchlin findet es möglich, daß der Talmud »viel Narrenwerks disputative in parabolis oder in Gleichnis und Exempels Weise« enthalte. Er betont die Schwierigkeit der »gemischten« Sprache, gegenüber der lauteren Sprache der Bibel (wobei er nicht weiß, daß ein großer Teil des Talmud, die Mischna, im reinsten Bibelhebräisch geschrieben und daß Aramäisch keine Mischsprache ist, sondern vom Hebräischen nur etwa so weit entfernt wie das Slowakische vom Tschechischen, daß es übrigens auch in einigen Teilen der Bibel vorkommt). Sein Urteil aber, das er noch mit vielen andern, teilweise sophistischen Gründen untermauert, lautet schließlich: Der Talmud ist nicht zu verbrennen und nicht abzutun. Einer der Hauptgründe, die bei der Gegenpartei besondere Erbitterung erregen mußten, die aber unwiderleglich sind: »Man kann mit Recht — 305 —

reden, die Juden nit seien haeretici, denn sie sind nit ab dem Christenglauben gefallen, die nie darin gewesen sind. Darum sie auch nit mögen und sollen Ketzer noch ihr Wandel Ketzerei genannt werden.« Beispiele der sophistischen Argumente andererseits, in die sich Reuchlin verrennt: Es muß Aberglauben und Irrtum geben, damit der wahre Glauben kämpfend hervortreten kann. Je ungeschickter der Talmud, desto besser können die Christen ihren Geist üben, um ihn zu widerlegen. Ein schönes, aber doch nur sophistisches Gleichnis Reuchlins lautet, nachdem er es den Brenzern gegeben hat, die die Sprache des Talmud nicht verstehen: »Aber die andern, hochgelehrter als wir und der Sprachen gar viel verständiger, wiewohl sie hart wider den Talmud schreiben, wünschen doch nit, daß er verbrannt und verduckt werde. Ihnen geschieht wie einem adeligen Jäger, dessengleichen ich wohl unter den großen Fürsten gesehen habe: so er einen stolzen Hirsch mit viel Enden über ein weites Feld jagen tut und weiß doch wohl, daß er ihm nit kann entgehn, so will er (um Lusts willen) nicht, daß er erstochen oder erschossen werde. Er sieht ihn lieber gejagt als gefangen. Also tun die gelehrten und weisen Leute, die Lust daran finden, den Talmud und seine Anhänger zu widerlegen. Was Lobs wollten sie erlangen, wie wollten sie erscheinen, daß sie bewährte Doctores und Meister der Christenheit wären, wann er verbrannt und nicht mehr wäre.« – Und dergleichen mehr! Einmal greift Reuchlin sogar zu einem richtigen ›corriger la fortune‹. Er berichtet, daß in einem kürzlich gedruckten Buch ein Gebet der Juden »angezeigt« worden sei, das in ihren Gebetbüchern stehe, mit den Worten we – la – meschumadim (bei Reuchlin mit hebräischen Lettern gedruckt) beginne und »wider uns Christen« gerichtet sei. — 306 —

Das Gebet enthalte einen Fluch »gegen die heiligen Apostel und ihre Nachfolger, die die Taufe empfangen haben, gegen die allgemeine christliche Kirche und das römische Reich«. Die Beschuldigung sei »gar hoch und schwer, dadurch man die Juden bei den Ungelernten und der (hebräischen) Sprache Unwissenden leichtlich in einen solchen Haß möchte bringen, daß sie um Leib und Leben kämen«. In meinem Gebetbuch (Text hebräisch und deutsch), das meiner lieben Mutter gehört hat und 1829 von M. J. Landau in Prag veröffentlicht worden ist, der in Einleitung und Fußnoten zeitgemäß öfters Gedanken Kants und Leibnizens anführt, finde ich dieses Gebet in folgendem Wortlaut: – Welamalschinim al-tehi tikwa usf. Es ist ein Teil des täglichen Achtzehngebetes; und der ganze Abschnitt lautet in wörtlicher Übersetzung, in der ich nicht den Spuren des universalistisch-tendenziösen Landau folge: »Und den Verleumdern sei keine Hoffnung. Und alle Übeltäter mögen im Augenblick untergehen. Und sie mögen alle rasch ausgerottet werden. Und die Boshaften reiße rasch aus, zerschmettre sie, wirf sie nieder und beuge sie bald, in unsern Tagen. Gelobt sei Gott, der die Feinde zerschmettert und die Boshaften beugt. – Auf die Guten und Frommen und auf die Ältesten deines Volkes, des Hauses Israel, und auf den Überrest seiner Gelehrten und auf die redlichen Proselyten und auf uns möge dein Erbarmen überfließen, Ewiger, unser Gott.« Über die Geschichte dieser zwölften Abteilung des Achtzehngebets äußert sich übereinstimmend eine Fußnote bei Landau und (ausführlicher) das Standardwerk von Ismar Elbogen: ›Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung.‹ – Das Achtzehngebet (es handelt sich um 18 Bitten) stammt in seinen Grundlagen aus vormakkabäischer Zeit und hat in der Zeit des Rabbi Gamliel II. seinen Abschluß gefunden. Es spiegelt in sei— 307 —

nem altertümlichen Bestand die Anschauungsweisen, sogar widersprechende Anschauungsweisen verschiedener Zeiten wider – und wurde überdies auch nach seinem ersten Abschluß, durch den es erst ein aus 18 Bitten bestehendes Gebet wurde, wiederholt sehr stark verändert, durch Zusätze und Weglassungen modifiziert. Die Geschichte dieses Gebetes ist (wie auch die anderer Gebete) äußerst komplex. – Rabbi Gamliel hatte die Absicht, die Gemeinde des jungen Christentums, die damals noch mit der jüdischen Gemeinde gemeinsam betete (es gibt keine christliche Liturgie aus dem 1. Jahrhundert), vom Gottesdienst auszuschließen, sie zu einem getrennten Gottesdienst zu zwingen. Die Judenchristen hatten keine Veranlassung, die Synagoge zu meiden. Doch allmählich suchte sich die Synagoge gegen die heterodoxen Erscheinungen zu schützen. Daher führte Gamliel II. die Benediktion gegen die ›Minim‹ ein. ›Min‹ heißt eigentlich Art, Abart. Unter ›Minim‹ verstand man damals, da die pharisäische Richtung gesiegt hatte: die Sadduzäer, die Samaritaner, die Christen, die Gnostiker, kurz alle jene, die in häretischer Weise von der alten Lehre abwichen. Ein Judenchrist konnte nun dieses neu eingeführte Gebet nicht sprechen, sonst hätte er sich selbst verwünscht und die Gemeinde dazu veranlaßt, Amen dazu zu sprechen. Daher blieben von da ab die Judenchristen dem Gebet der Gemeinde fern. Die völlige Scheidung zwischen Juden und Judenchristen wird auf die kurze Regierungszeit des Kaisers Nerva (96 bis 98) angesetzt. Zu der 12. Bitte bemerkt Elbogen, dem ich im vorigen gefolgt bin, daß dieses Stück später »die meisten Änderungen erfahren hat. – Ob es je gelingen wird, den ursprünglichen Wortlaut wiederzufinden, ist mehr als fraglich«. Das erste Wort dieser Bitte war nicht, wie oben aus einem vergleichsweise modernen Gebetbuch zitiert wurde: — 308 —

»Und den Verleumdern«, – sondern »Welameschumadim« »Und den Apostaten«. Dieses Wort hat sich nur noch in einem einzigen heute gebräuchlichen gedruckten Gebetbuch erhalten, dem von Yemen; jedoch auch in Handschriften. Man ersetzte im Laufe der Zeiten »welameschumadim‹ durch das Wort ›welamalschinim‹ (›Und den Verleumdern, Denunzianten‹). Wann trat diese Ersetzung ein? Das ist nicht festzustellen. Leider gab es lange Zeitperioden der jüdischen Geschichte, in denen die Apostaten gleichzeitig diejenigen waren, die den Judenfeinden die giftigsten Waffen lieferten. Reuchlin nun übersetzt die angefochtene Stelle so, als ob es sich um eine Aktivform handelte. Es steht aber das Passivum da. ›Meschumád‹ ist ›der Vernichtete‹ (und nicht der Vernichter oder Vertilger, wie Reuchlin abschwächend übersetzt: »Wer uns vertilgen wollte, dem soll nicht werden einige Hoffnung seines Vorhabens.« An einer späteren Stelle des Augenspiegels, bei der Polemik gegen die erste »Unwahrheit des getauften Juden«, zitiert Reuchlin allerdings die richtige Übersetzung »Destructis non sit spes«). Er übersieht aber, vielleicht absichtlich, daß der hebräische Ausdruck ›der Vernichtete‹ allgemein für ›der Getaufte, der Apostat‹ gebraucht wurde. Auch heute noch heißt in der jiddischen Volkssprache ein Abtrünniger ›a Meschúmmed«. Daß Reuchlin diese symbolische Bedeutung des Wortes unbekannt gewesen wäre, ist nicht sehr wahrscheinlich; denn in seinem (oben zitierten) hebräischen Brief an Bonet de Lates und in seinem ebenfalls hebräisch verfaßten, inhaltsähnlichen Promemoria verwendet er selber das Wort ›meschumád‹ in bezug auf Pfefferkorn, und zwar im soeben angegebenen Sinn ›getauft‹. »Der getaufte Pfeffer«, so nennt er ihn. Die Wendung kommt in diesen Schriftstücken sogar einigemal vor. Allerdings stammen sie erst aus dem Jahre 1513, während der ›Augen— 309 —

spiegel‹ 1511 erschienen ist. Es könnte mithin Reuchlin sein besseres Wissen erst später erworben haben. So etwa müßte man, wenn man Advokat wäre, seine bona fides verteidigen. – Übrigens bringt er noch andere Argumente, die beweisen sollen, daß das umstrittene Wort nicht gegen die Christen gemeint sein kann. Denn die Juden sprechen dieses Gebet auch dort, wo sie unter Türken, Mohammedanern, Heiden, Tataren leben. (Schwach!) Ferner kann es (ebenso wie das Wort ›minim‹) nichts Feindliches bedeuten, »denn ich habe hier oben wahrhaftiglich angezeigt, daß wir und sie eines einigen römischen Reichs Mitbürger sind und in einem Bürgerrecht und Burgfrieden sitzen, – wie könnten wir denn Feinde sein. Darüber haben wir in unserem Recht eine gute Glosse«. Es folgt ein kirchenrechtliches Zitat als Beweis. Nichtsdestoweniger ist dies eine jener Stellen im ›Augenspiegel‹, die die besondere Empörung der Ewig-Mittelalterlichen ausgelöst haben. – Reuchlin fährt fort: »Und wollte man sagen, die Juden hätten es so im Sinn und meinten uns in ihrer Anführung: das kann niemand wissen denn der Schöpfer aller Herzen, was einer im Sinn hat, – darum ist niemand dessen zu schelten noch zu strafen.« All dies zeugt von einem hochgemuten Herzen und von einer mittelalterfernen nüchternen Vernunft, die bei diesem Mann so oft in seltsamer Symbiose mit Träumereien und unbewiesenen Behauptungen vorkommt. Zur Sache selbst aber, hinsichtlich der Bedeutung des ominösen Wortes, bringt es nichts Wesentliches bei. Und wird durch die historische Darstellung jüdischer Wissenschaft (Ismar Elbogen) entkräftet. – Man könnte nun wünschen, daß die Flüche in dem umstrittenen Gebet, selbst wenn man sie historisch verständlich findet, doch etwas weniger massiv und weniger voll von Haß wären. Ich sehe in dieser Bitterkeit der Flüche allerdings nur eine Bestätigung meiner im 6. Kapitel entwickelten These. — 310 —

»Und ich hab es doch getragen – aber fraget nur nicht, wie« (laut Heine): die (zumindest teilweise) höchst verderbliche Wirkung der Diaspora auf den jüdischen Geist, der leider da und dort in Haß umschlug. Es ist nun einmal so: Der getretene Wurm krümmt sich. Und das schaut nicht schön aus … Eine Parallel-Erscheinung, die gleichfalls unerhörte Leiden umfaßt, sei hier kurz betrachtet: In den zeitgenössischen moslemischen Darstellungen der Kreuzzüge (siehe das Buch von Régine Pernoud ›Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten‹) werden die Franken nie erwähnt, ohne daß dem Wort ein derber Fluch folgte. Meines Wissens hat aber den Arabern noch nie jemand einen Vorwurf daraus gemacht. Es ist wohl nicht schön, wenn der Verfolgte, der Gepeinigte gegen den Feind aufschreit, es ist aber in der menschlichen Natur begründet und kann wohl bekämpft, aber nicht weggezaubert werden. – Der syrische Emir Usamâ (›Autobiographie‹) berichtet über die Kämpfe nach dem 1. Kreuzzug: »Die Franken (möge Gott sie verfluchen!) zogen wieder in Kafartäb ein, bauten die Stadt wieder und setzten sich dort fest« . . »Der Sohn Bohemunds, dieser Satan, ließ unsere Männer eine schreckliche Prüfung erleiden« … Das sind nur zwei Beispiele von hunderten. Was aber einem souveränen oder halbsouveränen Volk wohl oder übel ansteht, das soll eines, das seine Souveränität verloren hat, nicht verlauten lassen. So will es die Welt. Eine zweite Abwehrgeste Reuchlins gegen Pfefferkorns tolle Angriffe schlägt schon mehr ins humoristische Fach. – Allen Haßtrieben ist es ja gemeinsam, daß sie sich überschlagen, daß sie aus den Ufern treten und ins Gebiet des Lächerlichen überfluten, ohne indes das UnheimlichEntsetzliche zu verlieren, das sie brandmarkt. So ist es auch mit dem Haß gegen die Juden, der die Köpfe bene— 311 —

belt. Der Sprung ins Lächerliche kann hier an einem besonders farbigen Beispiel klargelegt werden. – Pfefferkorn hatte im ›Handspiegel‹ behauptet, daß die Juden, wenn sie einen Christen bei sich zu Hause oder auf der Gasse mit den Worten »Seid wilkum« anscheinend freundlich begrüßen, eigentlich sagen: »Sched wilkum«, das bedeute aber »Teufel willkommen«. In der Zurückweisung dieses Unsinns ist nun Reuchlin wesentlich glücklicher als in der eigentlich unmöglichen Verklärung des Ausdrucks »meschumadim«. Er doziert: »Das kann nach rechter Grammatica der hebräischen Sprache nicht sein, denn Sched, so es ›Teufel‹ heißt, hat einen Punkt auf der rechten Seite des Buchstaben S (Zusatz: wenn der Buchstabe als s ausgesprochen wird, trägt er einen Punkt linksseits). Das kann ein jeglicher Bauer merken, wenn sie sprechen: ›Sched wilkum‹, daß es nicht sei ›Seid wilkum‹, denn ›Sched‹ ist dem ›Seid‹ ganz nit gleich. Darum ist es Entengeschnatter (Reuchlin schreibt: entten teding, was an Goethes ›Narrenteidung‹ im ›Faust‹ erinnert. Bei Geiger macht ein schlimmer Druckfehler die ganze Stelle unverständlich: ›beding‹ statt ›teding‹). Und nebst anderem Kindswerk bleibt es in meinem Ratschlag unbeachtet.« Die offensichtliche Dummheit der Pfefferkornschen Verleumdung hat indes mehr als vierzig Jahre später Martin Luther nicht gehindert, in seiner an Gehässigkeit unüberbietbaren Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« auch das »Teufel willkommen« als Anklagepunkt gegen das »verworfene Volk der Juden« zu benützen. Man staunt darüber kaum, da er in dem gleichen Pamphlet auch einen anderen Haßausbruch den Pfefferkornschen Anregungen entnimmt, die Aufhetzung der Masse (hier der Ritter), wenn die Behörden nicht genügend Bereitschaft entwikkeln: Es heißt bei Luther: »Ich lasse mir sagen, es solle ein reicher Jude jetzt mit zwölf Pferden reisen und wuchert — 312 —

Fürsten, Herrn, Land und Leute aus, daß große Herren scheel dazu sehen. Werdet ihr Fürsten und Herren solchem Wucherer nicht die Straße ordentlicherweise verlegen, so möchte sich etwa eine Reiterei wider sie sammeln, weil sie aus diesem Büchlein lernen werden, was die Juden sind und wie man mit ihnen umgehen und ihr Wesen nicht schützen solle.« Mit einer schier unübersehbaren Fülle von gelehrten Zitaten aus der antiken Literatur, aus den Evangelien, den Kirchenvätern, den Rechtsquellen usw. verficht Reuchlin seine Sätze, die sich vor den Talmud stellen; nicht um ihn in allen seinen Teilen zu verteidigen, wohl aber um ihn als bedeutsames Dokument vor Vernichtung zu schützen. Manches Seltsame, auf den ersten Blick Unverständliche enthalte der Talmud; aber oft müsse das, was die große Menge mißverstehen mag, in symbolische Reden verhüllt bleiben. Alchimistische Bücher werden als Beispiele für diese Unverständlichkeit herangezogen, für »die Heimlichkeit der Lehre«. »Und es darf nicht jedermann mit ungewaschenen Füßen darüber laufen und sagen, er verstünde es auch.« Die ganze Sache regt Reuchlin so sehr auf, daß er geradezu eine dramatische Szene erdichtet, um seine Meinung möglichst plastisch darzulegen. Er schreibt: »Wenn nun jetzt ein Unverständiger käme und spräche: Allergroßmächtigster Kaiser, allergnädigster Herr, Eure Majestät soll die Bücher der Alchemie unterdrücken und verbrennen, weil in denselben Büchern lästerliche, schändliche und auch närrische, törichte Dinge geschrieben stehen wider unsern christlichen Glauben, da darin wird den Künstlern der Alchemie geboten, daß der Mann soll unter der Frau liegen, so lang bis daß er durch Erhitzung kräftig wird, auf die Frau zu steigen, dieweil solches durch die — 313 —

kaiserlichen Gesetze schwer und hart verboten ist, bei Verlierung des Lebens (folgt eine Reihe von Zitaten), – wie das alles in der ›Kunst des Arcturus‹ geschrieben steht. So tut Eure Majestät ein gutes Werk, solche Bücher zu verbrennen. (Es werden weitere Beispiele angeführt: der Jünger der Alchemie könne aus dem Mond die Sonne machen – und Ähnliches, was ebenso wie das vorige Zitat spezielle chemische Vorgänge – in der damaligen Symbolsprache – bezeichnet.) Was sollte die kaiserliche Majestät einem solchen Büffel oder Esel anderes zu Antwort geben, denn daß sie sagte: Du bist ein schlechter Mensch, viel mehr zu verlachen denn zu willfahren. Ich merk und sehe, daß du nichts in derselben Kunst gelernt hast. Geh hin, ich will sie nit verbrennen. – Dieweil nun ein so kleinsinniger Kopf nit mag ergreifen und fassen die Heimlichkeit mancher Kunst und ist ihrer nicht würdig und versteht die Dinge anders, als sie an sich selbst sind, wolltet ihr raten, daß man solche Bücher verbrennen sollte, darum daß sie ein ungelernter Mann nicht recht verstehen kann? Ich glaub wohl, nein.« Man merkt, wie genau diese Sätze auf die Sinnesart des Kaisers Maximilian abgestimmt sind, dessen Erziehung, wie der ›Weißkunig‹ beschreibt, auch Unterricht in der Alchemie, sogar in der Magie in sich schloß. Die dritte Literaturgattung, die auf die kabbalistische Wissenschaft bezüglichen Bücher, verteidigt Reuchlin mit besonderer Selbstsicherheit unter Hinblick auf seinen Vorgänger Pico von Mirandola und auf das 1493 erlassene apostolische Breve des Papstes Alexander, daß diese Bücher, »nicht allein des heiligen Moses geistige Erleuchtung, sondern auch unseres christlichen Glaubens Grund und Wahrheit anzeigen«. – Ein falsches Argument, das aber immer wiederkehrt (wie schon oben dargelegt) und — 314 —

einige historische Wirksamkeit entwickelt haben mag, ohne auch nur einen Funken Wahrheit zu enthalten. Vierte Abteilung: Die jüdischen Kommentatoren der Bibel seien zum richtigen Verständnis ebenso unentbehrlich wie die griechischen Glossatoren (z. B. Eustathios) zum Verständnis Homers. – Was breit und mit dem schon zitierten Ausfall gegen Nikolaus de Lyra ausgeführt wird, der dem Kommentar Raschi’s so sehr nachstehe. »Man soll die Wahrheit der Kunst viel mehr aus dem Brunnen (d. h. den hebräischen Grammatikern und Erklärern) denn aus den Abflüssen suchen. Möcht einer sagen: ich will mich mit den Kommentaren der Unsrigen wohl behelfen, was bedarf ich der Juden? – demselben mag geantwortet werden: Wer sich behelfen muß, der hat nicht viel mehr als einer, der sich im Winter nur mit Hosen deckt.« Was dann in recht respektloser Weise durch eine Polemik des Sankt Hieronymus gegen Sankt Hilarius erhärtet wird, welch letzterer die hebräische Sprache nicht verstanden habe »und nur die griechische Sprach hat ihn angeweht und angeblasen«. Fünftens: die jüdischen Predigtbücher, Breviere, Gesangbücher usw. Die seien durch Verordnungen der »löblichen Kaiser und Päpste« geschützt, welche »die Synagogen, Zeremonien der Juden, Ritus, Gewohnheiten, Sitten und Andachten« unter ihren Schutz genommen hätten. Letztens: Jüdische Bücher der Philosophie und der freien Künste. Sie sind ebenso zu behandeln, als seien sie griechisch oder lateinisch oder deutsch geschrieben. Wo sie also etwa »verbotene Künste unterwiesen, als Zauberei, Unholdenwerk oder Hexenwerk, insofern sie den Menschen zu Schaden dienten«, möge man sie als »Feinde der Natur« vernichten. Im übrigen lasse man sie bestehen. Er faßt zusammen: Die Juden haben ihre Bücher »ihnen selbst zugut und zur Beschirmung ihres Glaubens, für den — 315 —

Fall daß sie von jemandem angefochten würden, er sei Heide, Tartar, Mohammedaner oder Christ, und niemandem zu Leide, Schand oder Schaden«. Sie sitzen unter uns »in kleiner Zahl, und mehr bereit zu dienen, denn den Leuten Schaden zu tun«. Also sei auch nicht anzunehmen, daß ihre Schriften wider uns seien; sie mögen als Abwehr (Widerwehre) angesehen werden. – Es folgen juristische Subtilitäten, die auch das christliche Karfreitags-Gebet über die »perfidos Judaeos« heranziehen. Der letztgenannte Ausdruck ist erst in unseren Tagen abgeschafft worden. Reuchlin erhebt sich zu damals recht unzeitgemäßen Höhepunkten der Duldsamkeit. »Man findet wohl etliche Juden, die da meinen, eine jegliche Nation möge in ihrem Glauben behalten werden … Darum, wenn sie schreiben, daß Jesus kein Gott sei und alles, was daraus folgt, so ist das eben ihr Glaube und sie wollen damit niemanden geschmäht haben.« Die Kirche habe das vierzehn Jahrhunderte lang »gelitten und geduldet«. – Die Folgerung, sie könne oder solle es daher auch weiterhin gestatten, wird nicht gezogen. Sie steht aber deutlich zwischen den Zeilen. Es folgt ein Lob der guten Überlieferung, mit der bei den Juden das Alte Testament in hebräischer Sprache genauest von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben worden ist. Von Fälschungen könne also gar keine Rede sein. – Ein weiteres Lehrstück über Glauben und Wahrheit verdiente wohl vollständige Übersetzung (vielleicht erlebe ich sie noch), führt aber hier einigermaßen vom Hauptgegenstand ab. Sodann dreht Reuchlin den Spieß um. Wenn wir den Juden ihre Bücher nehmen und sie verbrennen, so wird der christliche Glaube und Gottesdienst nicht gemehrt. Ärger als das: es wird ihm Schaden gebracht. Hierfür bringt Reuchlin in rechter Advokatenweise neun Argumentationen. Ein besonders gut geschriebener Teil, der — 316 —

aber doch eigentlich nichts Neues und vor allem nichts Unwiderstreitbares anführt. Gründe und Beweise ziehen wie ein Faschingszug vorbei, der manches Komische an sich hat, so etwa der siebente Beweis, den ich kurz resümiere: Wenn wir die jüdischen Bücher nicht hätten, um mit ihnen zu polemisieren, um »uns die Hörner abzustoßen«, so würde es noch viel mehr innerchristliche Polemik geben, wie wir Christen schon heute um die Empfängnis Mariae (der schimpfliche Berner Handel ist gemeint, wovon hier im 11. Kapitel mehr), um die Frage, ob Paulus verheiratet, ob Augustinus ein Mönch gewesen sei, Zank haben. Bestand hat eigentlich nur das achte Argument: Nimmt man den Juden in deutschen Landen ihre Bücher, so haben sie doch in »Konstantinopel, im Orient, auch in Italien und andern Königreichen ihre Hochschulen, wo sie frei lernen und lesen, was sie wollen«. Das Schlußvotum lautet: Nicht verbrennen! (Mit Ausnahme der aggressiven Bücher.) Wohl aber möge der Kaiser verfügen, jede deutsche Hochschule möge zwei Meister halten, die die hebräische Sprache unterrichten könnten. »Dazu sollen uns die Juden, so in unseren Landen sitzen und wohnen, mit Leihung der Bücher gutwillig und nachbarlich behilflich sein, unter angemessener Kaution und ohne ihren Schaden, solange bis wir durch den Druck oder Abschriften eigene Bücher herstellen könnten. So habe ich keinen Zweifel, in kurzen Jahren werden unsere Studenten in solcher hebräischer Sprache so gelehrt sein, daß wir mit vernünftigen und freundlichen Worten die Juden könnten sanftmütiglich zu uns bringen.« – Hier spricht neben dem Missionsfreudigen (der milderen Abart) deutlich der Bücherfreund und Humanist Reuchlin, er verlangt eine Ausweitung statt einer Unterdrückung der hebräischen Studien. Zuletzt spricht er, wie in seinem Missive, für eine sanfte, vorsichtige, nicht gewalttätige — 317 —

Propaganda, um die Juden vielleicht doch für den christlichen Glauben zu gewinnen. »Denn welchen Gott will, des erbarmt er sich; und wen er will, den macht er hart.« »Datum zu Stuttgarten, an dem sechsten Tag Oktobris. Anno 1510.« So weit der berühmte ›Ratschlag‹, der als amtliches Dokument, als ›verschlossene Schrift‹ nur für den Kaiser, den Erzbischof von Mainz und für die vertrautesten Ratgeber und Beamten der beiden bestimmt war. Zu den Beamten gehörte freilich in diesem besonderen Fall auch Pfefferkorn, als Sollizitator der ganzen Angelegenheit. Keinesfalls hatte er damit aber das Recht der Veröffentlichung oder auch nur der öffentlichen Diskussion des Ratschlags erworben. Gegen diese Tatsache hatte er sich im ›Handspiegel‹ vergangen. Da die vom Kaiser versprochene amtliche Untersuchung gegen Pfefferkorns Amtsmißbrauch ausblieb, nahm Reuchlin im ›Augenspiegel‹ (1511) die Sache selbst in die Hand, – was man wohl nur im Zusammenhang mit der ungeordneten Rechtspflege jener Zeit richtig beurteilen kann, in der überall das alte Faustrecht (Sickingen, Götz usw.) wieder hervorlugte. In den beiden Abschnitten nun, die dem ›Ratschlag‹ folgen, steigert sich Reuchlin in den leidenschaftlichen Ton des beleidigten Ehrenmannes, der nichts getan hat, als seine Untertanenpflicht laut Auftrag zu erfüllen; in den gleichen Ton, in dem die einleitenden Teile verfaßt sind, die dem ›Ratschlag‹ vorangehen. Der erste dieser beiden Abschnitte ist lateinisch geschrieben, in Form einer scholastischen Disputation, »so man wohl möchte in der Schule unter den Gelehrten abhalten«, mit 52 Argumenten und ihren Widerlegungen. Im zweiten Abschnitt bedient sich Reuchlin wiederum der deutschen Sprache und wendet sich speziell gegen Pfeffer— 318 —

korn, dem er 34 Unwahrheiten nachweisen und überhaupt das Handwerk legen will, denn »er hat aus mir als ein Buchkrämer viel Gelds gewonnen, so er mich in gedruckten Büchern hinterrücks verkauft; er hat jetzt mehr Gulden aus mir gelöst als Judas Pfennige aus unserem Herrgott«. Seiner Büchlein gegen die Juden als eines Ungelehrten sei man müde geworden. Aus denen kann er kein Geld mehr lösen. »So wolle er sich nun fürderhin mit den Christen zanken und wüsten, auf daß er eine neue Materie habe, Geld zu gewinnen.« Vieles wiederholt sich. So lesen wir nochmals die Argumente 10 bis 16, die das Gebet we-la-meschumadim betreffen, als Widerlegung der »ersten Unwahrheit des getauften Juden«. Es ist selbstverständlich, daß Reuchlin jetzt, da er angegriffen worden ist, vorsichtiger formuliert als im ›Ratschlag‹ und sich aller nur denkbaren advokatorischen Künste bedient, um seine Worte, die er im Ratschlag frei herausgeschrien hat, so wie sie ihm in den Sinn kamen, nun als möglichst nur grammatisch bedingt, als harmlos hinzustellen. Das ist kein Rückzug. Es ist eine Veränderung der Sprachform, die im ›Ratschlag‹ für einen kleinen Kreis hochverständiger und gebildeter Männer bestimmt war, jetzt aber für eine aufgeregte und aufgehetzte Menge in einem von Schlagworten beherrschten Prozeßverfahren sich durchsetzen soll, gleichsam in einem ›Schauprozeß‹, wie ihn später die totalitären Länder erfunden haben. Daher sagt Reuchlin gleich zu Beginn seiner fingierten lateinischen Gelehrten-Disputation mit Recht: er habe im ›Ratschlag‹ (zuweilen) Argumente pro und contra vorgebracht, nicht um eine wirksame Schlußfolgerung zu erzielen, sondern um nach Art der Experten eine Sache zweifelhaft zu machen und einen Weg vorzubereiten, in dem das zu Sagende deutlicher erscheint, wie dies die Gelehrten auch auf andern Sachgebieten tun. — 319 —

Dennoch soll nicht verhehlt werden, daß in diesen beiden Abschnitten manches schwächer herauskommt als im Sturm und Drang des ›Ratschlags‹. Die Hauptpositionen gegen den Gegner gibt aber Reuchlin nicht auf. Beispiel: Besonderes Ärgernis mußte seine These wecken, daß die Juden Mitbürger (concives) des Römischen (Deutschen) Reiches seien. Auf diesen Vorwurf erwidert er im dritten Absatz der lateinischen Schuldisputation: Eigentlich müßten die Juden als Sklaven betrachtet werden, da sie im Krieg besiegt worden sind (vgl. die im 6. Kapitel analysierte Kammerknecht-Theorie), doch »wir gestatten ihnen, daß sie vom römischen Recht in Freiheit Gebrauch machen. Sie sind also mit uns Bürger, der römischen Herrschaft Untertanen«. Und dabei bleibt er, wiewohl er seine Terminologie, Juden wie Christen eine Sekte zu nennen, nur der Kürze halber angewendet haben will. Man sieht: in den Worten und Benennungen gibt er nach, im Kern der Sache aber nicht. Im deutschgeschriebenen Schlußteil, in dem er Pfefferkorns Lügen aufzählt, äußert er in der gleichen Angelegenheit seine unerschütterliche Überzeugung. – Er hat im ›Ratschlag‹ behauptet, daß Christen und Juden »in einem Bürgerrecht und Burgfrieden sitzen«, daher könnten wir »gegen einander nicht ›hostes‹ oder Feinde seien«. Pfefferkorn hat diesen Satz verketzert. Reuchlin geht von seiner Stellung nicht ab. Er gibt zu, daß die Juden Feinde des christlichen Glaubens sein könnten, – aber niemals Feinde des Heiligen Römischen Reiches. So rettet er durch eine der in der Scholastik so beliebten ›Distinktionen‹ das Wesentliche seiner Aussage, (»qui bene distinguit, bene docet«, hieß es. – Wer gut unterscheidet, lehrt gut); seiner Aussage, die damals ganz unerhört, ja revolutionär klang, wie man aus der starren Opposition des Professors Zasius sehen kann, die Guido Kisch darlegt. – Im übrigen bleibt — 320 —

Reuchlin dabei, daß davon, ob die Menschen Feindschaft oder Freundschaft gegeneinander empfinden, nur Gott allein ein sicheres Wissen hat. Mit einer recht boshaften Wendung gegen den Ankläger Pfefferkorn, – an solchen Wendungen ist der Schlußteil des ›Augenspiegels‹ überreich – gibt er zu bedenken: »Was aber einzelne Menschen gegen einander sonderlich an Neid und Haß im Herzen tragen, davon habe ich nichts geschrieben. Ich weiß auch nichts davon. Sondern Pfefferkorn weiß am besten, wie ihm ums Herz ist gegen die Juden und was für Händel, die er mit ihnen gehabt hat, die Ursache davon sind.« Im folgenden nimmt der Streit persönliche Nichtigkeiten mit in seinen Lauf. Pfefferkorn habe nur die fünf Bücher Mosis gelernt, nebst jenen Schriftstellen, die im Gottesdienst verwendet werden. »Denn man hat ihn dick in der Schule deshalb geschlagen.« Bücher der subtileren hebräischen Literatur »könne er weder lesen noch verstehen, weder behend noch unbehend. Und das ist die Wahrheit«. So behauptet Reuchlin, – der bei dem nächsten Paragraphen ganz aus dem Häuschen gerät, da er nun der überkecken Behauptung gegenübersteht, er habe seine hebräische Grammatik, das Werk, auf das er so stolz ist, nicht selbst geschrieben, nur unter seinem Namen drukken lassen. »Es ist vor mir keiner kommen«, ruft Reuchlin aus, »der sich unterstanden habe, die ganze hebräische Sprache in ein Buch zu regulieren, daß sie möchte von den Lateinern gefaßt und empfangen werden. Und sollte der Neid sein (Pfefferkorns) Herz zerbrechen, dennoch bin ich der erste.« Dann tritt Reuchlin der (achten) Unwahrheit des Renegaten entgegen. Der hatte behauptet, das göttliche Recht verbiete den Christen, mit den Juden irgendeine Gemeinschaft zu haben. Es fällt Reuchlin nicht schwer, Gegenbeispiele aus Handel und Wandel vorzurücken. Eine ganze — 321 —

Reihe. Die mit dem ebenso selbstverständlichen wie erhabenen Gebot endet: »Und zuletzt, ein Christenmensch soll den Juden lieb haben als seinen Nächsten. Das alles ist in den Rechten begründet.« Pfefferkorn hat auch Anspielungen darauf gemacht, daß Reuchlin den Juden ›gedient‹ habe (zwischen den Zeilen: für Geld). Darauf Reuchlin in der Zurückweisung der 22. Unwahrheit: »Darauf sage ich bei dem höchsten Glauben, daß ich all mein Lebtag, von Kindeszeiten bis zu dieser Stunde, von den Juden oder um ihretwillen weder Heller noch Pfennig, weder Gold noch Silber, weder Kreuzer noch Münze nie empfangen, genommen noch verhofft habe.« Es tut einem geradezu weh, daß sich ein hochanständiger, sauberer Mensch wie Reuchlin es war, auf solche Art zur Wehr setzen muß. Er schleudert denn auch dem Pfefferkorn seine Empörung ins Gesicht. Wer ihn solcher Dinge beschuldige: »derselbige lügt als ein leichtfertiger ehrloser Bösewicht«. – Voll von Abscheu bescheinigt er dem Abtrünnigen (nicht ohne einen Anflug von schwankender Darstellungsart, die auch als Restbestand von Judenhaß gelesen werden kann) eine teuflische Natur. »Die 29. Unwahrheit: Sagt Pfefferkorn: der Jud sei genaturt wie der Teufel. Darauf antwort ich also: Wir lernen anderes in der wahren Philosophie. Sollt aber das wahr sein, so müßt mich nit verwundern, daß Pfefferkorn so viel Unwahrheit darf sagen, dieweil er von teuflischer Natur empfangen und geboren wäre und teuflische Milch gesogen hätte.« Dies alles aber ist (im Gegensatz zum späteren Luther, der die Juden allen Ernstes für Teufel hält) durchaus im irrealen Konjunktiv gesprochen. »Wir lernen es anders in der wahren Philosophie«, steht als Einleitung vor dem zweideutigen Scherz. Reuchlins ganzer Zorn zielt ausschließlich auf den Denunzianten. Er konstatiert, daß er vor dem Besuch dieses Mannes in seiner (Reuchlins) — 322 —

Bücherei ihn nie gekannt habe. »Aber jetzt kenn ich ihn wohl.« Die Schmachschrift Pfefferkorns bezeichnet er schlicht als ›Büberei‹. »Und wann diese Büberei im Reich sollte überhandnehmen und von männiglich gebilligt werden, so wäre fürderhin kein Biedermann, wessen Stands er sei, vor keinem Bösewicht seiner Ehre sicher.«

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NEUNTES KAPITEL

Weiterer Kampf. Bis zum päpstlichen Endurteil 1520 1

Reuchlin glaubte, mit seinem stark gewürzten, dabei aber im großen ganzen, von ein paar zweitrangigen Einzelheiten abgesehen, wahrheitkündenden Buch den gefährlichen Gegner niedergeschlagen oder doch endgültig abgeschüttelt zu haben. Er hatte ihn unterschätzt. Pfefferkorn verschaffte sich beim Frankfurter Stadtpfarrer Peter Meyer die Erlaubnis, vor der Kirche gegen Reuchlins Buch zu predigen. In der Kirche selbst durfte er es als verheirateter Laie nach kirchenrechtlicher Satzung nicht tun. Pfefferkorn sprach vor einer großen Volksmenge. Die ganze Sache, die Schrift gegen den berühmten Gelehrten und dessen Gegenschrift, hatte Aufsehen erregt. – Folgenreicher war, daß der Stadtpfarrer ein Exemplar des ›Augenspiegels‹ an die Kölner theologische Fakultät sandte (und zunächst einmal im eigenen, vielleicht angemaßten Wirkungskreis den Verkauf von Reuchlins Buch in seinem Sprengel verbot). Pfefferkorn hatte in Peter Meyer einen gefährlichen Bundesgenossen gefunden. In Köln nun zeigten sich pünktlich Sturmzeichen. Die Dominikaner übergaben den ›Augenspiegel‹ einem der Ihrigen, dem Arnold von Tungern, der prüfen sollte, ob das umstrittene Buch nicht etwa ketzerische Ansichten enthalte. Von einem andern Dominikaner ›Udalricus, confessor in Stainheim‹ erhielt Reuchlin Bericht über die — 324 —

Vorgänge in Köln. Daß der Brief mit seinen Warnungen und Andeutungen nicht freundschaftlich, wie er sich gibt, sondern heuchlerisch war und Reuchlin absichtsvoll in panischen Schrecken setzen sollte, wie Graetz und Geiger in seltener Einmütigkeit annehmen, leuchtet mir nicht ein. Nichts deutet darauf hin. Die Tatsache, daß Reuchlin den Brief in die zweite von ihm zu eigenem Preis veranstaltete Briefsammlung ›Illustrium virorum epistolae‹ (1519) aufgenommen hat, beweist wohl eher das Gegenteil. Man darf auch nicht übersehen, daß der Brief dieses Udalricus keine bloßen Schreckschüsse, sondern Wirklichkeit, wahre Angaben enthielt. Auf ein anderes Blatt gehört der Umstand, daß Reuchlin durch diese Nachricht tatsächlich in argen Schrecken versetzt wurde. Was meldet dieser Udalricus oder Ulrich? Daß man in Mainz im Kreis von Kölner Theologen »satis contemptabiliter« (ziemlich abschätzig) von Reuchlins Schriften (sic!) gegen Pfefferkorn spreche; daß Ulrich ferner in Köln bei einem Schmaus zu Ehren eines (soeben kreierten) Baccalaureus erzählen gehört habe, Tungern prüfe besagte Schriften und man spreche davon, sie zu verbrennen, Reuchlin vor einem Ketzergericht zu inquirieren, – und anderes. Der Brief schließt mit einer Verbeugung vor Reuchlin, als »einem Vater und getreuesten Sachwalter« dieses dominikanischen Konvents. Reuchlin wird also als Advokat des Ordens bezeichnet, als der er sich ja in vielen Fällen (siehe oben) bewährt hatte. – Die in dem Brief angeführten Drohungen aber sind teils damals, teils in späteren Zeitabschnitten tatsächlich in Wirklichkeit umgesetzt worden. Man kann also nicht sagen, daß Reuchlins Erschrecken grundlos, seine Furcht nichts als Feigheit war. Er fühlte sich krank, fühlte sich, wiewohl erst 50 Jahre alt, sehr alt. Er hätte den Rest seines Lebens gern in wissenschaftlicher — 325 —

Forschung und gelehrter Muße verbracht; jetzt sah er sich erbittertem Streit ausgesetzt. Alles, was er ersehnt, ist Frieden, friedliches Studium. Mit Erschütterung liest man, wie er (zwei Jahre später) in einem Brief, in dem er den Kurfürsten Friedrich von Sachsen um Schutz bittet, sein Schicksal mit dem des Ovid vergleicht, der in die Verbannung, ins Elend von Tomi gehen mußte, gerade als er sich auf ein sorgenloses Alter einrichten wollte (»et in studiis molliter esse meis« – »behaglich in meinen Arbeiten sitzen«, dieser Vers Ovids ist unübersetzbar in seiner Melodie). Auch um Reuchlin war es ähnlich bestellt. Er wollte die gelehrte Ruhe. Auf ihn wartete sich steigernde Unruhe. Um solchem Herz- und Zeitverderb zuvorzukommen, schrieb er einen in der Tat äußerst submissen und schwer entschuldbaren Brief an Tungern. Nicht so sehr, daß er ihm, seiner Tugend und Weisheit sowie der Kölner Fakultät vom Beginn des Briefes bis zum Schluß die überschwenglichsten Lobsprüche singt (von denen ja viele auf Rechnung des besonders höflichen Stils jener Zeit zu setzen sind): nicht das ist das Befremden. Sondern daß er im Sachlichen nachgibt, seine Pflöcke sehr weit zurücksteckt: das regt den Leser auf. So sagt er (beispielsweise), daß er über die Verbrennung hebräischer Bücher kein weltliches und kein kanonisches Gesetz gefunden habe und daher »diese so sehr den Zweifeln unterworfene Sache« nach Art der Rhetoren »auf Überredung hin« behandelt habe. Er gibt zu, daß er sich in den Argumenten vielleicht da und dort von Emotionen habe hinreißen lassen, daß er vom Thema abgeschweift sei. Außerdem sei er kein Fachmann. Er habe theologische Sätze angeführt, obwohl er kein Theologe sei, ähnlich wie ein Landpfarrer in seinen Predigten auf Medizinisches zu sprechen komme. »Dennoch habe ich das reine Bewußtsein, daß mein Wille nicht von Christus abgewichen ist, der das Haupt der Kirche — 326 —

ist. Was also die heilige Kirche glaubt, die die Säule und Stütze der Wahrheit ist, und in welcher Weise immer sie es glaubt: dasselbe und in gleicher Weise glaube ich.« Er erklärt sich bereit, falls er etwas anders behauptet habe, als es die Vernunft der Kirche duldet – was er allerdings getan zu haben sich nicht erinnern kann –, daß er solches korrigieren und ausmerzen wolle. Er bittet um briefliche Bekanntgabe der etwa anstößigen Stellen. Er fleht um Geduld des Herrn von Tungern, er wird ihm dafür dankbar sein. »Befiehl, und auf deine Mahnung hin stoße ich das Schwert in die Scheide. Der Hahn möge krähen und ich will weinen. Donnere zuerst, ehe du blitzest.« Also ein völliger Widerruf, bei dem nur noch die konkrete Angabe des zu Widerrufenden fehlt. Tungern hat diesen Brief nie einer direkten Beantwortung gewürdigt. Nur in Form eines Fakultätsschreibens kam es, im Januar 1512, also geraume Zeit später, zu einer offiziellen Reaktion. »Ein unentschuldbarer Brief« sagte ich oben? – Nur wer von der Weltmacht der Bettelorden jener Zeit kein klares Wissen hat, wer die Dominikaner und ihre Inquisitionsgerichte, ihre Scheiterhaufen nicht kennt, wird nicht einiges zur stillen Verteidigung Reuchlins zu bemerken haben. Diese Weltmacht, die später im Kampf gegen Luther nochmals eingriff, war allerdings damals schon einigermaßen im Abstieg begriffen. Es blieb aber genug, um einen frommen, im Grunde ein wenig wehleidigen und recht unpolemischen Mann (er polemisierte nur, wenn er gereizt wurde) aus dem mühsam erarbeiteten Gleichgewicht zu werfen.

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2

Reuchlin war bei all dem Diplomat genug, sich nicht auf seinen Brief an Tungern zu verlassen. Er schrieb (vermutlich gleichzeitig) an den ihm von früher her, vielleicht aus der glücklichen Heidelberger Zeit bekannten Theologieprofessor Konrad Collin, gleichfalls Dominikaner in Köln, den er für befreundet halten durfte. Dieser Brief an Collin klingt recht anders als der formelle an Tungern. Nach dem üblichen Proömium von Lobeserhebungen und Freundschaftsbeteuerungen stellt Reuchlin zunächst seinen ganzen Fall dar, vom kaiserlichen Auftrag an, der betreffs der Judenbücher an ihn ergangen sei. Dann geht er zum Angriff auf Pfefferkorn über, den Verleumder, dem es ja nur darauf ankomme, von den Juden durch Androhung des Bücherbrandes Geld zu erpressen. (Eine kaum beweisbare Anschuldigung.) Er zieht den Prior Hochstraten herein, der dem Pfefferkorn bei seiner Anklageschrift geholfen haben soll, wie man sagt. »Das wäre dann mein Advokatenhonorar für all die Dienste, die ich dem Predigerorden geleistet habe!« Bei diesem Punkt verweilt er ausführlich, mit Bitterkeit. An so viel Undankbarkeit und Inhumanität des Ordens kann und will er nicht glauben. Zum Schluß bittet er Collin, er möge dem Doktor Hochstraten nahelegen, zum Schutz seiner (Reuchlins) Ehre, nicht zu ihrer Untergrabung tätig zu sein. Am 2. Januar 1512 antwortet gleichzeitig die Fakultät offiziell und Collin privat. Es ist reizvoll, das zweifellos wohlüberlegte Zusammenspiel dieser ›Parallelaktion‹, um mit Musil zu reden, diesmal und im weiteren Briefwechsel zu verfolgen. Collin überfließt von Freundschaft. Angeblich. Er kann sich in seinen Bitten um das volle Vertrauen Reuchlins, in Unterstreichung seiner Treue, seiner Dienstbeflissenheit, — 328 —

die er dem Freunde widme, gar nicht genugtun. Seinen Bemühungen sei es zu danken, daß die Kölner Theologen nicht sofort scharf gegen Reuchlin vorgegangen seien. Viele, sowohl Geistliche wie Weltliche, hätten das erwartet, seien schon ungeduldig, daß die Universität so lange zögere. Aber er, Collin, habe Reuchlins hervorragende gute Eigenschaften so wirksam gerühmt, daß die Fakultät beschlossen habe, ehe sie das Buch verurteile, dem Verfasser zunächst die anstößigen Stellen anzugeben, die er berichtigen möge. »Die Fakultät ist geneigt, Eure Ehre zu wahren, nicht sie zu zerstören.« Collin mahnt zur Demut, will ihm goldene Brücken bauen, indem er als selbstverständlich hinstellt, daß ein Jurist die theologische Subtilität nicht erreichen könne. Manches klinge dem Theologen weniger gut, was dem Juristen vielleicht ganz harmlos scheine. Wenn aber Reuchlin dem Urteilsspruch der Fakultät Genüge tue und absolviert werde, würde es keinen Menschen geben, der ihn verurteile. Imperial dagegen und recht von oben herab lassen sich »der Dekan und die übrigen Professoren der theologischen Fakultät« vernehmen. Schon daß ihm im Vorspruche nicht bloß »Wohlergehen«, sondern ausdrücklich »ein gesunder Geist der Auffassung« gewünscht wird, gibt den frechen Ton an. Reuchlin wird beschuldigt, die »perfiden« Juden (die treulosen oder ungläubigen, je nachdem man es übersetzt, – doch »treulos, unredlich« kommt dem lateinischen Wort näher) allzu sehr begünstigt zu haben – und zwar als einziger unter den Gelehrten. Die Juden verspotten nun (angeblich) die Christen, durch Reuchlins Buch ermutigt. Reuchlin habe Stellen aus der Heiligen Schrift, aus den Kirchenvätern verdreht, Gründe angeführt, die hinfälliger seien als Spinnweben. Kurz, sein Buch sei ein Skandalon, ein Ärgernis für fromme Ohren. In seiner lateinischen Apologie, der im ›Augenspiegel‹ mitenthaltenen Disputa— 329 —

tion, habe er sich nicht genügend gereinigt. Auf Fürsprache der confratres Arnold von Tungern und Konrad Collin wolle man ihm aber entgegenkommen. Ein Verzeichnis der beanstandeten Stellen wird mitgeschickt. Er solle die Argumente seiner Disputation breiter ausführen oder nach dem Beispiel des demütigen und weisen Augustinus widerrufen. – Dieses Schreiben charakterisiert Geiger rechtens als »Manifest einer selbstbewußten Macht, die von dem übermütigen Gefühl beseelt ist, anderer Irrtümer aufzudecken und zu strafen, selbst aber nie zu irren«. Reuchlin antwortet schon am 27. Januar der Fakultät wie auch in einem parallelen, sehr ausführlichen Brief dem Professor Collin. In höchsten Tönen feiert er das ihm von der Fakultät entgegengebrachte Wohlwollen. Er ist bereit, die scholastische Disputation, die dem »Augenspiegel« als Rechtfertigung beigegeben war und zu deren Übersetzung ins Deutsche er damals keine Zeit hatte, jetzt in deutscher Sprache zu publizieren. Was allerdings als ein ziemlich zweideutiges Anerbieten erscheinen kann, aber offensichtlich, in dem Zusammenhang, in dem es steht, durchaus ehrlich gemeint war. Ferner bittet er – da er als Laie und Zweimal-Verheirateter sich nicht anmaßen könne, die theologischen Feinheiten richtig auszulegen, – ihm die Erklärungen zu schicken, die man von ihm verlange. Der bloße Hinweis auf die anstößigen Stellen, den er erhalten habe, könne »bei der Geringfügigkeit seiner geistigen Fähigkeiten« nicht ausreichen. – Also: völlige Unterwerfung. Oder zumindest die Tonart solcher Unterwerfung. Daß es unter der glatten Oberfläche in ihm rumorte, zeigt deutlich der gleichzeitige Brief an Collin. Zunächst bittet er ihn freilich, das unter den lateinisch Schreibenden übliche vertrauliche ›Du‹ (nicht den förmlichen Plural der deutschen Sprache) zu verwenden. Dann ungeheurer Dank, quellende Belobung des Freundschaftsdienstes, den — 330 —

der Professor ihm geleistet hat. Er beharrt aber darauf, daß unter den hebräischen Büchern unterschieden werden solle und daß durchaus nicht alle zu verbrennen seien. Die Beschnittenen selbst hasse er, wie der heilige Hieronymus sie gehaßt habe. Aber es sei nicht seine Schuld, daß sein versiegelter ›Ratschlag‹ in die Öffentlichkeit gedrungen sei. Angriff auf den ›Verräter‹ Pfefferkorn. – Gegen den Schluß hin geht er auf die propositiones (Aufstellungen) ein, die ihm jetzt die sehr vorzüglichen und sehr ehrwürdigen Väter der Fakultät geschickt hätten. Nun folgt der Hauptpunkt, in so viele Schmeicheleien eingewickelt und jetzt erst nackt ausgewickelt: Die Väter sagen, daß er sich nicht genug gereinigt und die Aufrichtigkeit seines Glaubens nicht genug bewiesen habe. »Aber ich weiß nicht – so möge Gott mich lieben, – was sie denn als genug erachten würden. Es kann ja eine und dieselbe Sache dem einen genug sein, dem andern durchaus nicht. Das Gefühl, daß einem Genüge getan worden, ist nur subjektiv, vom Empfangenden her zu definieren, – nicht von dem aus, was man empfangen hat.« – Zuletzt: er wolle gute Freundschaft mit der Fakultät auf dem Wege der Wahrheit halten, jedoch ohne Unehre für ihn und ohne irgendeinen Vorwurf von Infamie oder Leichtfertigkeit. Selbst in diesem Briefe, dessen Schluß schon einigermaßen drohend klingt, ist durchaus die äußere Form der Freundschaft mit einer höchsten Höflichkeit gewahrt, die uns seltsam anmutet. Sogar die Höflichkeit Goethescher Briefe aus der späten Geheimratszeit verblaßt gegenüber den Reuchlinschen Schnörkeln, Schwaden und liebenswürdigen Verbeugungen. Man hat vielleicht noch nicht ausreichend gewürdigt, daß im Humanistenlatein bereits der breit ausladende, gestenreiche Barockstil zu einer Zeit seine Herrschaft antrat, in der die bildende Kunst noch vom reinen, naturhaften und einfachen Renaissancege— 331 —

schmack eines Raffael geleitet war. Die bildende Kunst hielt also (so scheint es mir) um 1511 noch bei Giorgione, während der Briefstil schon bei Bernini angelangt war. Die barocke Konvention der Briefe jener Zeit hat etwas Bezauberndes. Der knappe Auszug, den ich hier gebe, vermittelt nur einen unvollkommenen Begriff der Briefe. Sie sind voll von blühendem Licht und Schatten, viel Lüge darin – und doch nicht lauter Lüge, sondern eine bestimmte Haltung der gesellschaftlichen Formen, die einem oft Respekt abnötigt. Der Anteil der Lüge ist heute leicht durchschaubar. War er es auch damals? Galt die Lüge als Wahrheit? Wurde sie geglaubt? Ist es ernstzunehmen, daß Reuchlin von denselben Dominikanern, die er bald nachher aus aller Kraft beschimpfen, die er selten anders benennen wird denn als Verleumder, Lügner, ja manchmal als ›Böcke und Schweine‹, daß er zunächst noch von ihnen als von einer »Versammlung der berühmtesten und gelehrtesten Männer« spricht? – Es ist vielleicht verdächtig, daß man die alten abgelebten Konventionen (wie etwa die des barocken Briefstils) so leicht zu durchschauen glaubt. Und die eigenen Konventionen, in denen man ein Leben lang sich bewegt? Am Ende treibt man Geschichtsforschung nicht nur deshalb, aber auch deshalb, um hellhörig zu werden für allen zeitlichen Trug der Mode, um auch die Konventionen der eigenen Zeitepoche zu erkennen, sich von ihnen nicht irreführen zu lassen oder doch zumindest Mißtrauen gegen sie zu erlernen und, indem man sich nach Möglichkeit von ihnen zu befreien sucht, Herz und Sinn der einen großen Wahrheit zu öffnen, die hinter allem Irdischen steht. Sie e contrario zu erfassen, das wäre dann die geheime Absicht aller Studien im vergänglichen Element der Historie.

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3

In ihrer Antwort (Ende Februar) ändern die Kölner ihre Taktik – oder treten vielmehr unverhüllt mit ihrem eigentlichen Anspruch hervor. Nicht die Zurückziehung einzelner Stellen, sondern des ganzen Buches: das ist ihr Verlangen. Er solle dafür sorgen, daß zur nächsten Frankfurter Messe das Buch (der ›Augenspiegel‹) aus dem Handel gezogen sei. Keine neue Auflage solle erscheinen, kein Exemplar mehr verkauft, der Inhalt widerrufen werden, der Autor möge öffentlich erklären, daß er ein Gegner des Talmud sei. Tue er das nicht, so werde man ihn vor ein Ketzergericht vorladen müssen. Nicht in ungerechter Absicht werde das geschehen, sondern in vollkommener Liebe zu ihm. Der lange Briefwechsel führe zu nichts, die Sache dulde keinen Aufschub mehr. Würde sie nicht in diesem gottgefälligen Sinne geregelt werden, so würde es – so droht man ihm zynisch – nach seinem Tode Leute genug geben, die ihn, wenn er nicht mehr reden, nicht mehr antworten könne, angriffen, die den »toten Löwen am Bart zupfen« möchten. Zuletzt wird ihm, wenn er der Fakultät gehorcht, der ewige Lohn dessen versprochen, der sich selbst überwindet. Collin sekundiert mit einem Parallelbrief, der zwar das von Reuchlin angebotene ›Du‹ annimmt, im übrigen aber doch, durch alle Verbindlichkeitsfloskeln hindurch, in recht unsanften Tönen spielt. Man habe bereits, nach langen Beratungen, die Absicht gehabt, an alle Erzbischöfe zu schreiben, sie mögen das Buch verbrennen lassen. Dieses Buch habe »die Welt unsühnbar skandalisiert«. Der Inquisitor (also Hochstraten) habe ihn schon vorladen wollen. Collin habe als äußerste Konzession erreicht, daß ihm (Reuchlin) nochmals Gelegenheit gegeben werde, seinen Gehorsam zu beweisen. Er solle nächtelang nicht an Schlaf, — 333 —

sondern daran denken, die Kölner durch einen kleinen Traktat zufriedenzustellen, der rechtzeitig, zur Messe, alles zu widerrufen habe, was die Frommen kränkt. Wenn nicht, so werde das bisher ruhmreiche Leben Reuchlins in Unehre ausmünden. – Und wieder Beteuerungen der Freundschaft und der Sorge um den in höchster Gefahr schwebenden Freund. Jetzt ist Reuchlins Antwort eine immer noch höfliche, aber klare Absage. Der Wendepunkt ist erreicht. Er habe gehofft, den sehr exzellenten Doktoren der Kölner Universität genugzutun, so wie er den gelehrtesten Männern genuggetan habe. Was verlange die Universität eigentlich noch von ihm? »Selbst wenn ich den doppelten Geist Daniels in mir hätte, könnte ich nicht jedermanns Träume und Wünsche deuten.« Er wolle die scholastische Disputation in die lingua vernacula, also ins Deutsche übersetzen und erweitern, zur Frankfurter Messe werde dann allen Böswilligen die Möglichkeit zu verleumden genommen sein, so daß sie weder den toten Löwen am Barte zupfen noch den lebenden erdolchen könnten. Was das Buch anlangt: eine neue Auflage erscheine nicht, die vorhandenen Exemplare aber seien des Druckers Eigentum, nicht das seine. Sogar die Exemplare, die er seinen Freunden geschenkt habe, habe er kaufen müssen. Er könne daher in diesem Punkt den Wünschen der Fakultät leider nicht entsprechen. Punktum. Er hoffe auf den Friedenskuß. Und gleichzeitig an Collin: Das mit den schlaflosen Nächten akzeptiert er, der ›tractatulus‹ in deutscher Sprache werde zur Messe fertig sein, trotz andrängenden weltlichen Staatsgeschäften. Im übrigen habe Collin nicht nur ihm, sondern auch der Fakultät gute Dienste geleistet, indem er sie vor übereilten Schritten zurückhielt. »Glaube mir, ich entbehre nicht der Hilfe der Mächtigen. Ein Geheimnis. Ich enthülle es dir. Die Erfahrensten stehen auf — 334 —

Titelholzschnitt der sogenannten ›Ketzerpredigt‹. Straßburg 1521. Mit der wahrscheinlich einzigen authentischen Darstellung Reuchlins.

meiner Seite. Leicht ist es, einen Streit zu beginnen, schwer, ihn zu beenden. Das sollen auch die deinen bedenken, nicht nur ich. Ich würde ja vorziehen, mit deinem Kollegium der gebildetsten Männer in guter Freundschaft und angenehmem Gespräch zusammenzuleben. Aber hat man nicht diesen getauften Juden gefördert und gesetzwidrig als Prediger gegen mich losgelassen, ihn, der noch dazu im Verdacht steht, zu seinem alten Glauben zurückkehren zu wollen, nachdem er die Seinen um großes Geld geprellt hat? Wie, mich willst du einiger kleinen Wörtchen wegen zur Rechenschaft ziehen, aber diese schauerliche Tatsache ignorierst du? Es wird sich noch ein Demosthenes finden, der darlegt, welche Partei für Christus, welche für Geld gefochten hat. (Mit einem Wortspiel: Huius negotii principium … quibus fuerit Christus, quibus fuerit fiscus.) Viele Dichter und Historiker werden herbeiströmen, die mich seit langem, wie billig, als ihren Lehrer verehren, und werden eure Ungerechtigkeit wie mein schuldloses Leiden dem dauernden Gedächtnis überliefern, zu ewiger Schmach eurer Hochschule.« Das war (mit unbewiesenen Behauptungen gegen Pfefferkorn vermischt) eine offene und sogar einigermaßen überhitzte Kriegserklärung. Durchaus kein Friedenskuß. Es wurden keine Briefe mehr gewechselt. Die nächsten Schritte: Reuchlins Streitschrift ›Ain clare verstendnus in tütsch‹, die nichts Neues bringt, nur Wiederholungen des schon Gesagten. Ebenso von der andern Seite: Eine Invektive des Arnold von Tungern, ›Articuli sive propositiones‹, die schon bekannten Anklagen, daß Reuchlin die Juden begünstige usw. Verschärft durch ein Gedicht des Ortuin Gratius, der im klassischen Versmaß der Elegie um Reuchlins Untergang betet. Und um den Untergang seines Buches in den Wellen des Styx. — 336 —

Pfefferkorn aber brachte einen ›Brandspiegel‹ auf den Markt, der an schamloser Angriffswut gegen die Juden und ihren angeblichen Beschützer Reuchlin alles Bisherige überbietet. Man solle ihnen ihre Kinder wegnehmen und mit Gewalt taufen usf. Das hatte allerdings schon der ›Rechtslehrer‹ Zasius in Freiburg verlangt. Siehe oben. Wie auch sonst Pfefferkorns Buch sachlich nichts bisher Unbekanntes anzuführen weiß und nur durch den Geifer bemerkenswert ist, den der sich völlig im Recht fühlende Apostat verspritzt. Und durch die endlosen Wiederholungen der immer gleichen sinnlosen und grundlosen Anwürfe, daß Reuchlin gar nicht Hebräisch könne, daß er von den Juden bestochen sei usw. Dies gilt freilich fast von der ganzen polemischen Literatur, die jetzt auf beiden Seiten in erschreckender Fülle hervorbricht. Es ist ermüdend. Ich werde mich bemühen, jeweils nur das vorzuführen, was an zusätzlichen Gedanken und Wendungen zum Vorschein kam. 4

Zunächst bewirkten die Kölner, daß Kaiser Maximilian eine Konfiskationsordre gegen den ›Augenspiegel‹ erließ, die aber, wie es scheint, nur da und dort ausgeführt wurde. Allgemeine Wirkung hatte sie nicht. Sie widersprach der Gunst, die der Kaiser, wenn man ihn nur richtig erinnerte, immer für Reuchlin bereit hatte. Doch solche Widersprüche waren eben in der kaiserlichen Politik nichts Ungewöhnliches. Reuchlin wehrte sich durch eine Defensio: ›Verteidigung gegen seine Kölner Verleumder‹. Lateinisch in Tübingen erschienen, 1513. Er stellte sich auf den strikt juridischen Standpunkt: der Ketzermeister habe nur das Recht, über offenbar häretische Schriften zu urteilen, nicht über — 337 —

solche, die »fromme Ohren beleidigen«. Die Kölner seien keine wahren Theologen, in dem Sinne, daß durch sie der Frieden Christi erhalten und gefördert werde. Sie seien eher ›Theologisten‹ zu nennen. Hier hat Reuchlin ein neues Wort erfunden und in den Streit geschleudert, das bewußt an ›Sophisten‹ anklingt. Es wurde bald von seinen Freunden übernommen, wurde populär. – Er sei kein Begünstiger der Juden. Er wolle nur Gerechtigkeit. Auch die Kirche, auch die römischen Kaiser, die Päpste hätten ja den Juden gewisse Rechte gewährt. »Ich begünstige die Juden so, daß sie kein Unrecht tun, aber auch kein Unrecht leiden. Ungerechtigkeit ist Roheit, die alle Menschlichkeit verleugnet und den, der ihr nachgibt, zum wilden Tiere macht.« – Es muß leider gesagt werden, daß sich Reuchlin nicht immer in den schönen Schranken solcher Menschenwürde hält. In dieser Defensio gibt es Partien, in denen er, erbittert und zum Zorn aufgestachelt, sein Temperament durchgehen läßt, zum Berserker wird, die Gegner aller möglichen Untaten verdächtigt, ohne Beweise zu erbringen. Hier stehen die schon oben beklagten Anspielungen auf die hübsche Frau Pfefferkorns und auf des Gratius angebliches Heidentum, das sich in der Humanisten-Floskel »alma Jovis parens« (für Maria, – die »erhabene Mutter Jupiters«, d. h. Gottes) ausdrücken soll. Dagegen tut Geiger seinem sonst mit feinem Verständnis geschilderten Helden Unrecht, wenn er offenbar ironische Sätze, Sarkasmen, Verzweiflungsschreie (wie: »der Kaiser möge erlauben, ja befehlen, daß man die Juden nur schlagen, wie Schafe scheren, ihnen das Geld wegnehmen solle, – dann werde ich Frieden haben«) als Feigheit und Schande anprangert. Aus Neigung zu übergroßer Objektivität wird Geiger (wie mancher jüdische Autor) manchmal ungerecht gegen das, was ihm nahesteht. Es gibt auch einen Masochismus der Objektivität. Überhitztes Wohlwollen — 338 —

für den Gegner, wie allzu scharfe Kritik gegen das, was man im Grunde liebt, kann zu Fehlern verleiten und geradezu ungerecht werden. – Reuchlin fand hochmögende Freunde am Hof, die seine Sache unterstützten: den gelehrten Cuspinianus (Spießhaymer) in Wien, den kaiserlichen Sekretär Sperancius usf. Er hat wieder eine Audienz beim Kaiser (in Geislingen, Juni 1513), überreicht ihm die Defensio. Ergebnis: Beiden Parteien wird »ewiges Stillschweigen« auferlegt. Diese ›Ewigkeit‹ dauerte freilich kaum einen Monat. Zunächst große Freude Reuchlins, in Briefen an seine Freunde (wie an Urban, Mutian, an den Abt von Ottobeuren) ausgedrückt. Doch das Mandat Maximilians galt nur für Reuchlin einerseits, für Tungern und Pfefferkorn andrerseits. Die andern Mannen der streitbaren Kölner Gilde waren nicht genannt. Sie benützten diesen Formfehler, der ihnen volle Freiheit gab, ihre Aktion weiterzuführen. Und bewirkten ein neues Mandat des vergeßlichen Kaisers, der schon am 9. Juli 1513 die Konfiskation der Defensio Reuchlins anordnete. Damit nicht zufrieden, wandten sich die Kölner an vier Universitäten: Köln, Mainz, Erfurt, Löwen; ersuchten um Gutachten über den ›Augenspiegel‹. Drei Universitäten sind die gleichen, die der Kaiser ursprünglich, wenige Jahre vorher, zu Gutachten über die Bücher der Juden veranlaßt hatte. Nur Heidelberg, das sich abwartend und relativ günstig geäußert hatte, war weggefallen und durch Löwen ersetzt worden, dessen theologische Fakultät durch ihr öfteres Einschreiten gegen ketzerische oder der Ketzerei verdächtige Bücher bekannt war. Es lautete auch diesmal ihre Antwort so, wie die Kölner es gewünscht hatten. Man erklärte in Löwen, daß Reuchlins ›Augenspiegel‹ Irrtümer enthalte, die Rechtgläubigkeit des Verfassers sei zweifelhaft, er begünstige die Juden — 339 —

zu sehr, das Buch sei zu beschlagnahmen und zu verbrennen. Ähnlich sprachen sich die theologischen Fakultäten Köln (selbstverständlich!) und Mainz aus. Nur Erfurt tanzte aus der Reihe, unter dem Einfluß Mutians, der von seiner Einsamkeitsklause in Gotha aus den Rektor und die vier Dekane warnte. Trotzdem wurde auch im Erfurter Gutachten der ›Augenspiegel‹ verworfen, jedoch nicht ohne daß gleichzeitig dem Charakter und Wissen Reuchlins sowie seinem unbefleckten Lebenswandel ein lobendes Zeugnis erster Klasse ausgestellt worden wäre. Auch an die Universität in Paris wandten sich die Kölner. Hier hatten sie im Beichtvater des Königs, dem Dominikaner Guillaume Petit, eine starke Stütze. Vergebens wehrte sich Reuchlin gegen diese Übermacht. Er gab den Parisern eine ausführliche Darstellung der ganzen Sache, erinnerte sie, daß er selbst ein dankbarer Schüler dieser Universität sei, der ersten und berühmtesten der Christenheit. Für Reuchlin schrieb sein Herzog (Ulrich von Württemberg) an die Pariser Gelehrten; gegen Reuchlin trafen zwei Briefe des französischen Königs (Ludwig XII.) ein, der an die Talmudverbrennungen in Frankreich zur Zeit seines Vorfahren Ludwigs des Heiligen (1242) erinnerte und strenges Einschreiten gegen jede Ketzerei verlangte. Die Angelegenheit zog unaufhaltsam immer weitere Kreise. – Das Urteil der Pariser fiel völlig negativ gegen Reuchlin aus. Es ist nicht erstaunlich, daß der von allen Seiten Angegriffene sich mehr und mehr in die Rolle des unschuldig Gehetzten hineinfühlte. Zwar sprachen immer wieder gewichtige Stimmen für ihn, so auch einzelne an der Pariser Universität, vor allem aber unter den Humanisten Deutschlands, die ihn liebten. Und bedeutende deutsche Fürsten wie Friedrich der Weise (von Sachsen) stimmten ein, der ihm durch Mutian die Worte übermitteln ließ, er — 340 —

halte Reuchlin »für ainen fürtreffenlichen Mann, und wir wollen ihn nit lassen hinziehen« – doch die Entscheidungen der maßgebenden Instanzen fielen trotzdem allzu oft gegen ihn aus. Unschuldig verfolgt! – schon im September 1511, also bei Beginn der eigentlichen Hetze, hatte er in einem der zahlreichen Briefe an seinen begeisterten Verehrer, den Mönch Nicolaus Ellenbog, sich mit den Propheten, ja mit Jesus Christus verglichen, die allesamt Verfolgung gelitten hätten. »Dank sage ich unserem Gott, daß ich würdig befunden bin, für seinen Namen, das ist: für die Wahrheit, Schimpf zu tragen. Es verfolgen mich die Bösen, sie haben auch meinen Herrn verfolgt, den sie haßten. Glaube mir, es ist eine große Freude für mich, daß mich die Menschen verleumden, daß die Lügner Böses gegen mich reden, denn ebenso haben sie ja auch die Propheten verfolgt.« Und er sendet ihm zugleich den Augenspiegel. Nebst dem Dank für seine Freundschaft und Humanität. Die Verleumdungen schüttelt er mit leichter Hand ab. »Denn wie, nach Aristoteles, die Ehre beim Ehrenden ist, so ist die Infamie bei dem, der Infamierendes verbreitet.« Einige wohlgesinnte Geister, darunter die dem Streit entrückten Spitzen Erasmus und Mutian, ferner der gelehrte Nürnberger Patrizier Pirckheimer gaben ihm wohl in der Sache recht, waren aber unzufrieden damit, daß er sich zu ungebärdig geäußert, die Grenzen der guten Manieren überschritten habe. Reuchlin antwortete Pirckheimer mit Worten, die jeder beherzigenswert finden wird, der sich auch nur ein einziges Mal in ähnlicher Lage des zu Unrecht verschimpfierten Angegriffenen befunden hat: »Das Verbrechen der Ketzerei ist zu schändlich, als daß selbst ein sanftes Gemüt solche Beschuldigung ertragen könnte. Es ist leichter, in Angelegenheiten fremder Menschen als in seinem eigenen Schmerze gelassen zu bleiben.« – In dem gleichen Brief die stolzen schönen Worte: — 341 —

»Sterben müssen wir alle einmal, Infamie ertragen aber nie.« Während er so das Pathos seiner exzeptionellen Lage gehörig auskostet, gibt er sich in andern Briefen aus der gleichen Zeit betont idyllisch, – das sind nicht etwa falsche sentimentale Töne, sondern eine durchaus legitime Unterstreichung des Gegensatzes. Er ist auf sich allein angewiesen, sieht sich weder von Fürsten noch von Staaten finanziell unterstützt. Er hat kein Amt mehr. So schildert er sich in einem Brief an Mutian, in dem er fortfährt: »Tenuis ego vitae homo et nunc sola agricultura victum quaeritans.« (Ich bin ein Mann von geringer Lebenshaltung und suche jetzt nur in der Landwirtschaft meinen Unterhalt.) Fast wörtlich an den ihn gleichfalls fördernden Spalatinus, den Geheimschreiber Friedrichs von Sachsen: »Ego autem rus colo et sola vivo agricolatione.« Man mag dies um einige Nuancen untertrieben finden. Doch die Klage des hochberühmten Gelehrten, dem die herandrängende Arbeit der Verteidigung Zeit und viel Geld wegnimmt, seine plötzliche Belastung mit unvorhergesehenen Sorgen wird jedenfalls unser Mitgefühl bereitfinden. Die Kosten wachsen allmählich so an, daß sie in einem bestimmten mittleren Stadium des ganzen Verfahrens so viel ausmachen, wie Reuchlins gesamte Jahreseinnahme aus seinem Landgut. Man will ihn einfach totprozessieren. – Es kam bald noch schlimmer. Durch das Votum aus Paris rückengestärkt, lädt ihn der Ketzermeister Hochstraten vor sein Gericht in Mainz. Es tritt am 15. September 1513 zusammen. Als Richter fungieren vier Kommissarien des Erzbischofs von Mainz, ein Bevollmächtigter des Kölner Erzbischofs; Hochstraten als Ankläger wie auch als Mitrichter. Reuchlin erscheint nicht, schickt aber einen Prokurator (neue Kosten!), der seine Verteidigung fachmän— 342 —

nisch darauf aufbaut, daß Hochstraten eine Doppelrolle (Ankläger und zugleich Richter) zu spielen sich anschicke. Die Anklagepunkte sind die schon bis zum Überdruß durchgehechelten, die Kompetenz allerdings zweifelhaft. Ein technisch korrekter Gegenzug Hochstratens: er will nur noch Ankläger sein, legt sein Richteramt zurück. Reuchlin hat ein Schiedsgericht vorgeschlagen, Hochstraten lehnt es ab. Darauf Appellation Reuchlins (d. h. seines Prokurators) an den Papst. Die Entscheidung wird um 14 Tage aufgeschoben. Zu der neuen Verhandlung kommt Reuchlin in Begleitung von zwei Amtspersonen, die ihm im Auftrage des Herzogs Ulrich von Württemberg zur Unterstützung mitgegeben sind. Die Kölner bieten den ganzen düsteren Pomp eines Ketzergerichtes auf. Das Buch soll in Mainz öffentlich verbrannt werden. Jedem, der dem Aktus zuschaut, wird in echt Tetzelscher Manier ein 300tägiger Ablaß »aus dem Gnadenschatz der Kirche« versprochen. Man fühlt durch Reuchlins Bericht den vorreformatorischen Protest gegen überlebte Formen der Religionsübung durchzittern, – den Protest, den damals die bedeutendsten Humanisten, auch Erasmus, auch Mutian ausstrahlten. Reuchlin schreibt diese Worte in einem ausführlichen Brief an den Mithumanisten Wimpheling, der wohl zu Reuchlin hält, von dem dieser aber eine erhöhte Aktivität, insbesondere eine Einwirkung auf Sebastian Brant und andere Gelehrte erwartet. Auch Erasmus hält sich zurück. Er nennt zwar unsern Reuchlin (in einem Brief an Wimpheling) »die einzige Zierde, das Licht und den Schmuck ganz Germaniens«, verbrennt sich aber zunächst die Finger nicht in diesem Streit, der bald Hunderte von Seelen jüngerer Generation, weniger diplomatisch geartete, in seinen Sog zieht. – Reuchlin also schildert die Veranstaltung zu Mainz ironisch, in bewußter Anlehnung an Gesänge — 343 —

vom Jüngsten Gericht, als dies irae. Mehr als tausend Menschen sind zusammengelaufen, die ›Säulen der Kirche‹ haben sich als Tribunal konstituiert, unter ihren Füßen zittert die Erde, die Kölner haben Doktores aus Löwen, aus Erfurt mitgebracht. Mit ›Pfauenschritten‹ stolzieren die Feinde auf dem Markt einher. Vor lauter Spott verdreht Reuchlin die Worte, aus dem Richter (›judex‹) wird ›Judas‹, aus dem Inquisitor ein ›inquinator‹, also ein ›Beschmutzer‹. – Die Sache nimmt eine groteske Wendung. Ein Bote des Mainzer Erzbischofs erscheint gerade in dem Augenblick, in dem das Urteil verkündet werden soll. (›Des Königs reitende Boten‹ aus der Dreigroschenoper). Reuchlin stellt die Sache so dar, als habe er davon gewußt, daß Dekan und Kapitel der Mainzer Kirche, wohlmeinend, von der Ungerechtigkeit des Verfahrens durchdrungen, sich an ihren Erzbischof nach Aschaffenburg gewandt hätten, wo er sich aufhielt. Und als habe er auch gewußt, daß der Bote schon unterwegs sei, der die Niederschlagung des ganzen Verfahrens durch den einsichtsvollen Erzbischof verkünden sollte. Und so geschah es auch; noch dazu las der Bote das Mandat vor allem Volke in deutscher Sprache, mit deutlicher Stimme. Die Komödie war zu Ende. Hochstraten brach in Wutschreie aus. Das Volk lachte. Reuchlin zitiert den 54. Psalm: Gott hat mich aus den Händen meiner Bedränger gerettet. Er hat einen Engel geschickt. – Die erregte Menge verläuft sich, und Reuchlin reist heim. Nun kam Reuchlins Appellation an den Papst. Leo X. hatte erst vor kurzem sein hohes Amt angetreten. Es ist bekannt, daß dieser Mediceerpapst für Bauten, Theateraufführungen und die schönen Bilder Raffaels ein echtes Interesse hatte; ein äußerst geringes dagegen für kirchliche Angelegenheiten, die zu seinem nicht geringen Leidwesen gerade in seiner Regierungszeit spruchreif wurden — 344 —

und seine Entscheidung verlangten. Die Reuchlinsche Angelegenheit mutet allerdings nur wie ein leichtes Vorspiel an; bald sollte Luthers Auftreten die ganze katholische Welt in Erschütterung bringen. Wir stehen im Jahre 1513 – und schon 1517 machten Luthers Thesen vom Portal der Wittenberger Schloßkirche her die Runde durch Deutschland. – Mit Reuchlins Beschwerde befaßte sich der Papst nicht lange. Er delegierte die Sache den Bischöfen von Speyer und Worms. Der Wormser beschäftigte sich überhaupt nicht mit ihr. Der von Speyer, ein junger Mann, ernannte seinerseits zwei Delegierte. Aus einem umständlichen, formaler Gründe wegen mehrmals vertagten Verfahren, als dessen Basis immer die päpstliche Vollmacht galt, geht schließlich Ende März 1514 Reuchlin als Sieger hervor. Es ist der einzige klare, öffentliche, autoritativ gestützte und verkündete, sozusagen amtliche Sieg, den Reuchlin in seinem Kampf gegen die Kölner, in seiner neun Jahre dauernden Prozeß- und Leidenszeit (die dann doch mit seiner Verurteilung endete) wenigstens interimistisch errungen hat. Das Bischofsgericht in Speyer verkündet, nach genauer Prüfung, nach Zuziehung eigener und fremder Theologen, den großen Freispruch, der (nicht etwa ironischerweise) den Titel ›Definitives Urteil von Speyer‹ führt und kaum 2 Monate lang unangefochten in Kraft bleibt. In dieser ›Sententia definitiva Spirensis‹ heißt es: der »ausgezeichnete Herr Johannes Reuchlin, Doktor der Rechte usw.« und sein Buch ›Augenspiegel‹ ist durch den Bruder Jakob (sc. Hochstraten) »indebite, temerarie et injuste« (unverdient, unbesonnen und ungerecht), »sowie unter Verschweigung der Wahrheit wegen ketzerischer Verderbtheit und anderer Verbrechen gerügt und diffamiert worden. Es ist dem Bruder Jakob und seinen Anhängern nicht erlaubt gewesen, diese Anschuldigung zu erheben — 345 —

und zu veröffentlichen und all diesen Gegnern sei nun ewiges Stillschweigen aufzuerlegen und sei hiemit auferlegt.« Im weiteren Text dieses gloriosen Urteils wird angeführt, daß das genannte Buch nebst der angefügten Deklaration keine Ketzerei und keinen von der Kirche verdammten Irrtum enthalte, daß es die »ungetreuen Juden« (perfidis Judaeis, dieses Epitheton ornans wurde den Juden gleichsam mechanisch angeschmissen) nicht mehr, als schicklich sei und als die Gesetze es erlauben, begünstige, daß es nichts Beleidigendes oder Unehrerbietiges gegen die Kirche oder ihre Lehrer enthalte, daß es von allen gelesen und öffentlich verbreitet werden könne. Hochstraten verurteilt man zur Zahlung aller Kosten. Sie werden bald darauf mit 111 rheinischen Gulden festgesetzt. Zahlt Hochstraten sie nicht, so ist er exkommuniziert. Noch ehe dieses Urteil erfolgte, hatten die Kölner, sozusagen ›im eignen Wirkungskreis‹ den ›Augenspiegel‹ zum Verbranntwerden verurteilt und wirklich verbrannt. Sie stützten sich dabei auf das Gutachten der Universitäten (Paris usw.). – Seit einer langen Reihe von Jahren war diese Schmach der Verbrennung keinem deutschen Buch widerfahren. Obwohl es den Kölnern nicht gelang, das Feuerurteil auch außerhalb ihrer Erzdiözese vollstrecken zu lassen, – die Grenzen der Kompetenz des Kölner Ketzermeisters waren ja umstritten; auch die ›definitive Sentenz von Speyer‹ spricht vorsichtig genug davon, daß der Kölner »in gewissen Provinzen Germaniens« (in welchen?) Inquisitor sei – obwohl also der Brand nicht um sich griff wie in Goebbels-Deutschland: war sich Reuchlin der Gefahr voll bewußt, die für ihn durch seine hartnäckigen Verfolger herangezaubert wurde. Die Kölner gaben auch sonst nicht klein bei. Sie blieben auch auf dem Hauptgebiet tätig, appellierten nun ihrerseits an den Papst. Reuchlin mobilisierte seine Anhänger, vor allem den — 346 —

A. Dürer, ›Das Meerwunder‹. Kupferstich um 1500.

Porträt-Büste Johannes Reuchlins von Emil Salm, Pforzheim.

päpstlichen Rat Jacobus Aurelius Questenberg (dessen Integrität und Uneigennützigkeit Melanchthon in seiner Vorrede zur Übersetzung eines astronomischen Werkes von Proclus rühmt), ferner den Erasmus und den als Juristen erprobten Caspar Wirt, der schon früher einmal als Reuchlins Sachwalter gewirkt hatte und den er jetzt wieder als Prokurator für den nun beginnenden Prozeß in Rom bestellt. Er teilt ihm eine ganze Liste römischer Persönlichkeiten mit, die er zu aktivem Eingreifen bestimmen solle: außer dem schon genannten Questenberg den Kardinal Adrian von Corneto, ferner Mattäus Lang, Kardinal von Gurk – den Augustinergeneral Aegidius von Viterbo, der wie Reuchlin sich für die hebräische Kabbala begeistert – und andere. Das günstige Urteil von Speyer hatte also Reuchlin keine Ruhepause verschafft. Der Kampf ging weiter. Mit vervielfachter Energie und Leidenschaft. Denn jetzt erst war er vor das höchste Forum der Christenheit gelangt. In dieser Situation schreibt Reuchlin auch den schon zitierten hebräischen Brief an den Leibarzt des Papstes (S. 276). Caspar Wirt reicht Reuchlins Akten formell bei der Kurie ein und bittet um Einsetzung eines päpstlichen Gerichts. Papst Leo bestellt als Richter: Grimani, Kardinal von St. Marcus, etwas später auch noch Petrus Anconitanus, Kardinal von St. Eusebius. Die streitenden Parteien werden vorgeladen. Hochstraten erscheint persönlich in Rom, reich mit Geld und Empfehlungsbriefen ausgestattet. Er bleibt nun einige Jahre lang in Rom, konzentriert sich ganz darauf, sein Opfer Reuchlin zur Strecke zu bringen. – Reuchlin ist gestattet worden, sich durch seinen Anwalt vertreten zu lassen. Seines Alters wegen. Für ihn ist der — 349 —

Prozeß, so wichtig er ihn nimmt, nicht der Hauptinhalt seines Lebens. In all den Briefen, in denen er seine Gönner um Schutz bittet, kommt er letzten Endes auf seine wissenschaftliche Tätigkeit zu sprechen – man möge ihm Ruhe verschaffen, Frieden, damit er zum Heile der Kirche seine Forschungen fortsetzen könne. Damals rüstet er sich zu den Vorstudien für sein Hauptwerk, das Buch über die kabbalistische Wissenschaft (›De arte cabalistica‹), das die Krönung seines Lebens werden soll. Er will, er muß ungestört sein. Doch dieser Wunsch bleibt, wie unsere meisten wirklich wichtigen Lebenswünsche, unerfüllt. (Das Buch erscheint dann drei Jahre nach dem Beginn des römischen Prozesses, während das schicksalsvolle Verfahren noch schwebt.) Das Ergebnis der ersten Tagsatzung: ein strenges Verbot der beiden Richter an die Kölner, so lange der Streit schwebe, nichts gegen die Würde des Gerichts, nichts gegen Reuchlin zu veröffentlichen. Auch Reuchlin hatte sich viele Empfehlungen verschafft; ja es schien manchmal, als käme es in diesem Prozeß mehr auf Empfehlungen an als auf Rechtsgründe. Für Reuchlin schrieb Erasmus mit vollem Einsatz seiner Rhetorik, ja mit Anflügen echter Freundschaftlichkeit an den Papst, wie an den Kardinal Grimani. Derselbe Erasmus an Kardinal Raphael (zitiert in der wertvollen Briefsammlung ›Zur Biographie und Correspondenz Johannes Reuchlins‹ von Adalbert Horawitz, Wien 1877, einer wichtigen Ergänzung zu Geigers ›Briefwechsel‹): Der werde sich ein großes Verdienst erwerben, »quisquis Joannem Reuchlinum Musis ac literis restituerit« (wer Reuchlin den Musen und der Literatur unversehrt zurückgeben würde). Genau das war es, worum es sich im höchsten Sinne handelte. Wie so oft trifft des Erasmus elegante Einfachheit den Nagel auf den Kopf. – Herzog Friedrich von Sachsen, — 350 —

Ulrich von Württemberg, der Markgraf von Baden, Herzog Ludwig von Bayern, der Meister des Deutschen Ordens, fünfzehn Äbte und dreiundfünfzig schwäbische Städte bemühen sich in ihren Eingaben, den Papst um ein gerechtes Urteil und um Milde für Reuchlin zu bitten. Offenbar hielt man eine solche Art, das Gericht zu beeinflussen, für erlaubt und nicht für unschicklich. Sogar Kaiser Maximilian nimmt jetzt plötzlich in einem sehr präzisen Schreiben an den Papst für Reuchlin und gegen die Kölner Stellung, die den Prozeß nur in die Länge ziehen wollen, um den rechtgläubigen unschuldigen Gelehrten zu Tode zu hetzen. – Clownesk wirkt dieser Brief, wenn man bedenkt, daß der Kaiser gegen den ›Augenspiegel‹ und die ›Defensio‹ eben desselben Gelehrten konfiszierend eingeschritten ist. Gegen Reuchlin spricht sich des Kaisers Enkel, der künftige Kaiser Karl aus. Ferner schreibt Franz I. von Frankreich nach Rom, der dann bald nachher mit dem Papst in Bologna zur Regelung politischer Fragen zusammentrifft. Und noch andere gewichtige Gegenstimmen machen sich bei der Kurie geltend. Es gibt ein gewaltiges Hin und Her der aufgeregten Meinungen. Während in Deutschland die Führergruppe der Universität Erfurt, um Mutian und seine ›Beata Tranquillitas‹ in Gotha, zum Kampf erwacht, der sich allerdings zunächst nur in Briefen kundgibt, in Briefen der Jünger Mutians, wie Urban, Petrejus u. a., der ›Capniobaten‹, im Gegensatz zu den ›Capniomastiges‹ (Capnionsgeißeln) so genannt, in Briefen voll von Sympathie und Zuspruch für den im Kreuzfeuer stehenden Reuchlin, wie schon oben (VII. Kap. 3. Abschnitt) dargestellt. Wie sehr auch in einer schlichten Seele die Wellen dieses Kampfes nachbeben, kann man aus den Briefen des Michael Hummelberger, zuerst im Kloster Salmansweiler, dann in Rom, miterleben, die Horawitz — 351 —

(siehe oben) publiziert hat. Die interessantesten Fakten über die in die Reuchlinsache hineinspielenden Intrigen am römischen Hof bringt hier der 17. und 18. Brief. Auch das päpstliche Schweigegebot wurde nicht beachtet, wie vorher das kaiserliche nicht. Eine trübe Literatur bahnte sich über alle Dämme weg ihren Weg in die Öffentlichkeit. Zwischen den beiden Schreibeverboten war erschienen: eine Kampfschrift Ortwins (›Praenotamenta‹, 1514) und die wahrscheinlich von Reuchlin selbst veranstaltete Sammlung an ihn gerichteter Briefe in lateinischer, griechischer und hebräischer Sprache (›Clarorum Virorum Epistolae‹, 1514, der später eine zweite Sammlung unter dem Titel ›Illustrium Virorum Epistolae‹ folgte, 1519). – Anfang 1515, also gerade um die Zeit des päpstlichen Verbotes, sandte Mutian seinem Freunde Hartmann einen anonymen satirischen Dialog, in dem (laut Kampschulte) »die Lehrweise der Pariser Theologen verspottet wird«. Im Begleitbrief wird diese Arbeit »ein komisches witziges Werk, aber wahr und notwendig« genannt. Sie richtet sich, in Form einer fingierten Gerichtsverhandlung geschrieben, gegen das Votum, mit dem die Pariser Fakultät über Reuchlin abgeurteilt hat. Nun sitzt diese Fakultät auf der Anklagebank und verteidigt sich mit den läppischsten Argumenten. Diese satirische Schrift aus dem Kreise um Mutian war nur ein schwaches Vorspiel. Schon 1513 gedenkt er in höchst merkwürdiger Weise »in einem Briefe an Urban, seinen vertrautesten Anhänger, eines großen Unternehmens, das er für Reuchlin beabsichtige« (Kampschulte). In dem Brief an Urban heißt es: »An Capnio schreibe ich also gegenwärtig nichts, weil das noch nicht vorbereitet vorliegt, was ich versuche und was er wünscht.« Eine geheim— 352 —

nisvolle Andeutung. Mutian liebte das Geheimnis und pflegte seine Anhänger daran zu erinnern, daß Pythagoras die Schüler zuerst das Schweigen gelehrt habe. Die Andeutung ist vielleicht der erste Hinweis auf eine zweite Satire, allerdings von viel gewaltigerem und folgenreicherem Ausmaße, deren erster Teil Ende 1515, mit Angabe des falschen Druckorts Venetia und mit der ebenso falschen Spezifikation »in impressoria Aldi Minutii« (in der Druckerei des Aldus Minutius), aus dem gleichen Kreise Mutians hervorging – und das ungeheuerste Aufsehen erregte. Es handelt sich um die berühmten Dunkelmännerbriefe, ›Epistolae obscurorum virorum‹. Ergänzungen folgten bald, ein zweiter, wesentlich schwächerer Teil kam 1517 heraus. Wie die Satire gegen die Pariser verwendet der Anonymus der Dunkelmänner den Trick, nicht direkt zu polemisieren, sondern den Angegriffenen so reden zu lassen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Indem er sich gehen läßt, enthüllt sich dieser Angeklagte, macht sich lächerlich, stellt sich in seiner ganzen Jämmerlichkeit zur Schau. Für diese Art der Satire hat Strauß den Namen ›mimische Satire‹ vorgeschlagen, Friedrich Vischer den der ›indirekten Satire‹. Die direkte Satire schlägt leicht ins Pathetische um; die indirekte (mimische) ist dem Dichterischen, Gestaltenden nahe. – Etwa ein Jahrhundert später wird dann Shakespeare im Falstaff das nie mehr übertreffbare Muster aller mimischen Satire schaffen. – In der Antike war Platon der Meister dieser Form. Es gab in deutschen Universitätskreisen ein Sprichwort: »Erfordia Praga«. Das heißt: die Hochschule Erfurt ist als Verwandte der Prager Universität zu verdächtigen, aus der einst die revolutionäre Bewegung der Hussiten hervorgebrochen war. Das Sprichwort schien sich zu bewahrheiten. Mutian, der alle an ihn gerichteten Briefe irgendwie — 353 —

kompromittierender Art zu verbrennen pflegte, hatte alles auf geheime, noch heute nicht völlig aufgeklärte Art eingeleitet (darüber im folgenden mehr). Die Erschütterung, die von den Dunkelmännerbriefen ausging, brachte den Sieg der humanistischen Richtung über die alte Scholastik, der längst vorbereitet war, unerwarteterweise, gerade durch den Überraschungseffekt zu populärer Wirkung. Sie machte diesen Sieg volkstümlich. Die Humanisten waren eine aristokratische Sippschaft, eine ›Gelehrtenrepublik‹. Mit den Dunkelmännerbriefen wandten sie sich an plebejische Instinkte. Ein Übergang zu dem breitströmenden Erregtsein der später einsetzenden Reformation war geschaffen. Die Scholastik, hier ungerecht genug mit dem Treiben ungebildeter und kulturloser Mönche identifiziert, wurde einfach weggelacht. »Das Weltgericht – fragt euch nach den Gründen nicht.« Damit setzte sich zunächst ein für Reuchlin günstiger Umschwung durch. Viele Gebildete standen schon ohnehin auf seiner Seite; Angehörige aller Stände in Deutschland; durch das Einwirken des Erasmus auch hohe kirchliche Würdenträger in England wie Morus, Bischof von Rochester, Johann Fisher, der Theologe Coletus und andere; einzelne auch in Italien und Frankreich. Jetzt aber herrschte bald nur eine Stimme unter den Kulturinteressierten, auch unter den Fernerstehenden in deutschen Landen: für Reuchlin. Nur wenige, unter ihnen natürlich Erasmus, sahen die Gefahr: die Wegschwemmung des Subtilen durch den überhandnehmenden Radikalismus, der tolerantchristlichen Strebungen durch derbe Intoleranz. Im ganzen überwog, ob rechtens oder nicht, zustimmendes Triumphgefühl. Während es gleichzeitig mit Reuchlins Prozeß in Rom keine entschieden günstige Wendung nehmen wollte. In Rom war inzwischen eine Kommission von 22 Sachverständigen gebildet worden. Es gab vier geheime Sit— 354 —

zungen. Der Erzbischof von Nazareth, Georgius Benignus, gab als erster die Erklärung ab, daß der ›Augenspiegel‹ nichts Anstößiges enthalte. Er war ein begeisterter Anhänger der Sache Reuchlins, der später (im nächsten Jahre, 1517, also nach dem Aufschub der Prozeßentscheidung) ein Buch zur ›Verteidigung des ganz ausgezeichneten Mannes Joannes Reuchlin‹ herausgab. Sogar in Köln, in der Höhle des Feindes! »Bis zu den Sternen würde ich ihn tragen, wenn ich es vermöchte« schrieb er über Reuchlin. Er wurde deshalb von Hochstraten gröblich angegriffen. – Dem Erzbischof von Nazareth folgten alle Mitglieder der Kommission, bis auf einen. Nach einer andern Version: bis auf sieben. Jedenfalls hatte die Reuchlinsche Sache die überwältigende Majorität für sich. Der Papst aber ist an keine Abstimmung gebunden. Und der eine, der gegen Reuchlin war, der magister sacri palatii Sylvester Prierias, später auch einer der Hauptkämpfer gegen Luther, hatte eben doch den stärksten Einfluß. (Das Amt des Palastmeisters war eine Domäne des Predigerordens.) – Die letzte Sitzung fand am 2. Juli 1516 statt. Darauf beschloß der Papst, die Angelegenheit, die so viel Staub aufwirbelte, auf die lange Bank zu schieben. Vielleicht waren die ersten Exemplare der Dunkelmännerbriefe auch schon bis nach Rom gekommen und wirkten ungünstig, im Gegensinne des Reuchlinschen Anliegens. Das ›mandatum de supersedendo‹ (Mandat, die Sache liegen zu lassen), das der Papst erließ, sollte jedenfalls die erregten Gemüter ein wenig zur Besinnung bringen. Das Ergebnis war, daß die Sentenz von Speyer in Kraft blieb, die Reuchlin zunächst schützte. Von manchen wurde das als Erfolg Reuchlins gewertet, von andern (nach der so günstigen Abstimmung) als Rückschlag. Was sind nun diese ›Briefe von Dunkelmännern‹? Wer ist der Verfasser? Wie wurden sie geplant, wie ausgeführt? — 355 —

Im öffentlichen Bewußtsein sind sie fast als einziges Kettenglied aus dem kaum entwirrbaren Netz der religionsgeschichtlichen, ideologischen und politischen Streitigkeiten lebendig geblieben, deren undeutlichen Begriff man noch heute mit dem Schlagwort ›Reuchlins Kampf‹ verbindet. Sie sind ein Fanal geworden. Sie wurden nachgeahmt, so noch vor kurzem von Ludwig Thoma. David Friedrich Strauß in seinem Meisterwerk ›Ulrich von Hutten‹, Geiger, Graetz, Böcking, Kampschulte haben ihnen vortreffliche Darstellungen gewidmet. Meine einigermaßen abweichende Meinung über den literarischen Wert und Humorglanz der ›Briefe‹ habe ich im 1. Kapitel dieses Buches zu begründen gesucht. Die gediegenste Analyse historischer und stilkritischer Art findet sich in dem Buch von Walther Brecht ›Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum‹, Straßburg 1903. Der herrschenden Ansicht gibt Brecht Ausdruck in folgenden Sätzen: »Die Heimat der Epistolae obscurorum virorum ist der Erfurter Kreis; der Vater der Idee ist Crotus, von ihm rührt der Grundstock des Werkes, vermutlich besonders im ersten Teile her; indirekt beteiligt durch einzelne Winke und dergleichen ist wahrscheinlich Mutian; der zweite Hauptverfasser ist Hutten, vermutlich besonders für den zweiten Teil; das übrige ist dunkel.« Die ›Dunkelheit‹ betrifft die Frage der Mitarbeiter. Man hat außer den oben Genannten noch eine ganze Reihe von Vertrauten und Adepten Mutians die Autorschaft an Teilen der Dunkelmännerbriefe vindizieren wollen; man hat mit viel philologischem Scharfsinn Stilspuren des Dichters Eoban Hesse, der Humanisten Petrejus Eberbach (Aperbacchius), Busch und anderer in den Dunkelmännerbriefen gesucht. Jedoch ohne vollgültige Ergebnisse. Nur für Crotus und Hutten gibt es wirkliche Beweise oder doch Hinweise auf ihre wesentliche Beteiligung als Verfasser. — 356 —

»Barbare ridentur barbari« schreibt Hutten 1516 aus Bologna an einen Freund in England, als er vom ersten Band der ›Briefe‹ Nachricht erhält (am zweiten hat er dann voll Begeisterung, wenn auch nicht immer geschickt mitgearbeitet). – Der Satz stammt von Hutten, nicht von Erasmus, wie Strauß anführt. »Auf barbarische Art werden die Barbaren ausgelacht.« – Und damit hat Hutten, noch ehe er sie gelesen (nur eine undeutliche Kunde hatte ihn schon erreicht), diese Briefe besser charakterisiert als hundert andere, die es nach ihm versucht haben. Man würde allerdings dieser ›barbarischen Art‹ da und dort etwas mehr zugreifende Plastik und individuelle Charakteristik wünschen. Daß das möglich ist, wird durch jene mimischen oder indirekten Satiren erwiesen, die aus der Antike auf uns gekommen sind. Die unvergleichlich schärfer umrissene und einfallsreichere Art, in der die Figuren im ›Gastmahl des Trimalchio‹ oder in Theokrits ›Weibern am Adonisfest‹ sich darstellen, geht den ›Dunkelmännerbriefen‹ merklich ab. Doch lassen wir das Kritisieren, ich habe im 1. Kapitel an den ›Briefen‹ gerade genug kritisiert, vielleicht zuviel. Wichtiger ist, das Entscheidende festzustellen, auf dem auch der Welterfolg des Buches beruht, dessen Titel richtig wohl mit ›Briefe von Dunkelmännern‹ zu übersetzen ist, wie es Dr. Wilhelm Binder 1904 getan hat. Die jedenfalls absichtsvoll-travestierende Kontrastwirkung zu dem Titel der von Reuchlin veranstalteten Sammlung ›Clarorum virorum epistolae‹ ist deutlich: ›Briefe berühmter (oder leuchtender) Männer‹. Im Lateinischen sind die Worte ›clarus‹ und ›obscurus‹ (leuchtend und dunkel) noch anschaulichere Gegensätze als das deutsche ›berühmt‹ und ›unberühmt‹, welch letzteres natürlich bei den ›dunklen Männern‹ (abgesehen von allerlei verbotenem, unlauterem Zeug) mitschwingt. — 357 —

Durch seinen langjährigen Aufenthalt im Kloster Fulda hatte Crotus Gelegenheit, das ihn abstoßende Milieu ungebildeter und fanatischer Mönche genau kennenzulernen. Crotus Rubeanus (oder, wie andere schreiben: Rubianus) ist in dem thüringischen Flecken Dornheim geboren, vermutlich 1480. Er hieß eigentlich Johann Jäger, stammte aus armer Familie. In seiner Jugend soll er Ziegen gehütet haben. Er studierte an der Erfurter Universität, schloß sich dort an Mutianus Rufus an. Mutian bildete den zunächst scholastisch geschulten Crotus zum Humanisten, sah in dem immer heiteren unverbitterten jungen Mann bald seinen Lieblingsschüler und gab ihm, wie in seinem Kreis üblich, einen lateinischen Namen. Crotus ist ein mythologischer Jägersmann, Rubeanus hängt irgendwie mit den ›Dornen‹ von Jägers Heimatort zusammen. – Crotus wird als ein Mann von großer Begabung, von steter Liebenswürdigkeit und viel Witz geschildert. Bei seinen weiteren Studien in Köln wurde er Huttens Freund. Sie lachten gemeinsam, fanden gemeinsam viel des abscheulich Lächerlichen in der Welt. Hutten bekämpfte dieses Abscheuliche voll Zorn, auch Crotus kämpfte, doch mit einer Art von dichterischer Verliebtheit in die Objekte seines Spottes, – gerade das befähigte ihn zur ›indirekten‹ Satire. Nach Erfurt zurückgekehrt, geriet er bald (1509, 1510) in die Unruhen, den Kampf zwischen Rat und Bürgerschaft. Von dort flüchtete er um seiner Ruhe willen in das Kloster der Benediktiner zu Fulda, wo er das Amt eines Lehrers an der Klosterschule und als Instruktor der Mönche antrat. Anscheinend hat Crotus bis Mitte 1516 im Kloster gewirkt, dort trotz allem unter den Brüdern einige Gesinnungsverwandte (cooperatores, im Brief an Mutian aus Fulda, Juni 1515) entdeckt, mit Entsetzen aber das ganze Gebaren im Kloster als naufragium (Schiffbruch) empfunden und sich gegen die rohen Mönche abgekapselt, — 358 —

indem er, einer der glühendsten Anhänger Reuchlins, als große Rache an dieser Sippschaft eben die Dunkelmännerbriefe entworfen und niedergeschrieben hat. Wir besitzen eine gute Schilderung seines damaligen Geisteszustandes, die ein treuloser Freund gegeben hat, jener Justus Menius, von dem im folgenden zu reden sein wird. Menius berichtet, wie sie beide in Fulda (er selbst als Schüler des Crotus) jenes Buch, das im Entstehen war, vorausgenossen hätten, bei jedem Beisammensitzen, jedem Spaziergang; wie Crotus »ridendo et ludendo« (durch Lachen und Spielen) gegen die unleidlichen Zustände ankämpfen wollte, wie er in der Kirche und in der Schule komische Episoden, manche wohl auch nur ins Lächerliche karikiert, auf einem Wachstäfelchen notiert habe … Crotus ist dann jahrelang in Italien gewesen, kehrt nach Erfurt zurück, wird Rektor. Als Rektor begrüßt er Luther auf dessen trotzigem Zug zum Reichstag in Worms (1521) vor den Toren Erfurts, holt ihn im feierlichen Zuge an der Spitze von vierzig Reitern, gefolgt von zahlreichen Bürgern, als Gast der jubelnden beglückten Stadt ein. Bald nachher ist Crotus (wie so viele andere Humanisten, z. B. Erasmus, Mutian, Pirckheimer) von den Stürmen, den Zerstörungen enttäuscht, die die Reformationsbewegung mit sich bringt. Er flüchtet zur alten katholischen Kirche zurück, die er (wie auch die andern eben Genannten) formell nie verlassen hat, schreibt eine Apologie für den Erzbischof Albrecht von Mainz, stellt die Mängel der Kirche nicht in Abrede, will bessern, aber die bewährte Form, die alle zusammenhält, nicht ganz zerbrechen. Die neue Kirche, die erst so kurze Zeit existiere, sei ja bereits in Sekten zerrissen. – Luther nannte ihn von da ab in gewohnter Geschmacklosigkeit nur noch »Dr. Kröte, des Kardinal zu Mainz Tellerlecker«. 1531 schrieb der Reformator an den ihm nunmehr ganz ergebenen Superintendanten in Eisenach, Justus Menius: »Siehe da den — 359 —

Epikureer Crotus, der uns giftig angreift und dem hallischen Bischof schmeichelt. Wir schicken dir das Buch, und du mach dich fertig, ihn uns wohlgekämmt zurückzugeben.« Darauf publizierte befehlsgemäß Menius anonym die ›Responsio ad Apologiam Joh. Croti Rubeani‹. Auf Grund der Forschungen Böckings ist heute Menius unwidersprochen als der besagte Anonymus festgestellt; und Brecht faßt zusammen: »Die Responsio ist unser einziges völlig sicheres Zeugnis für Crotus’ Verfasserschaft (sc. der Dunkelmännerbriefe); dies Zeugnis rührt von einem ehemaligen Mitgliede des Mutianischen Bundes, einem Eingeweihten her. Wenn nun die Responsio ausdrücklich Crotus als Verfasser hinstellt, daneben nur noch Hutten gelten läßt: so sehe ich nicht ein, warum man ohne zwingenden Grund nach allen möglichen anderen Mitverfassern spüren soll.« – Dies der heutige Stand der Wissenschaft, der wahrscheinlich keine wesentliche Änderung mehr erfahren dürfte. Natürlich ist zu beachten, daß Menius, um Crotus bei seinem neuen Patron (dem Erzbischof = Kardinal) möglichst anzuschwärzen, die antikirchliche oder doch antiklerikale ›Jugendsünde‹ seines einstigen Freundes und Lehrers mit Vergnügen übertreibt, ins grellste Licht erhebt. Aber viel Richtiges kommt dennoch durch die haßerfüllte Attacke dieses Menius an den Tag –, was um so denkwürdiger und seltsamer ist, als die Enthüllung dem einst aufsehenerregenden Rätsel, an dem sich viele zur Zeit des Erscheinens der ›Briefe‹ vergebens den Kopf zerbrochen haben, im Abstand von 16 vollen Jahren folgt. Die Geheimbündelei des Mutianischen Kreises ist an dieser einen Stelle (und in einer für die Teilhabenden dieses Kreises durchaus nicht unrühmlichen Art) zerbrochen. Dabei gehörte Crotus gerade zu jenen, die mit ihrem Vorbild Mutian die Zurückhaltung, die Abneigung gegen jedes öffent— 360 —

liche Hervortreten teilten. »So groß auch sein Eifer für Reuchlin war, nie war er dahin zu bringen, frei und offen für diesen in die Schranken zu treten. Er hat es geliebt, seine Pfeile aus dem Verborgenen gegen den Feind abzuschleudern. Mit diesem Hang verband er das Geschick, Mit- und Nachwelt in Unkenntnis über seine geheimen Bestrebungen zu erhalten, in bewunderungswürdigem Grade.« (Kampschulte) Aber da kam eben doch zu guter Letzt der Freund-Feind Menius angerückt. Und Crotus wurde sozusagen wider seinen Willen als Verfasser der ›Briefe‹ unsterblich. Und es half ihm nichts, daß er sogar eine Geheimschrift erfunden hatte. – Seltsam sind die Wege der Musen. Hutten hat nur am 2. Band der ›Briefe‹ und am Anhang des 1. Bandes mitgearbeitet. Der feinere Witz der ›Briefe‹ ging unter dem Zugriff dieses wütenden Recken verloren. Und Mutian! Über ihn sagt Kampschulte: »Mutian ist nie unter den Verfassern der Briefe genannt worden. In der Tat spricht nichts dafür, daß er bei Abfassung derselben wirklich schöpferisch beteiligt gewesen sei. Er zog es immer vor, sich an der ›Torheit‹ anderer zu ergötzen; die Scheu vor dem schriftstellerischen Auftreten hat ihn nie verlassen. Wie überhaupt, so war auch in diesem Falle seine Bedeutung eine anregende. Er hat die Atmosphäre geschaffen, in der ein Erzeugnis wie jene Satiren aufkommen und gedeihen konnte, er hat den Verfassern den Geist eingehaucht, der sie zu dem Werke befähigte.« – Mit andern Worten: ihm ist die Hauptaufgabe zugefallen. Schon der erste Brief der berühmten Sammlung bringt eines der Grundmotive, den Spott auf den scholastischen Leerlauf nichtiger Haarspaltereien. Ein Baccalaureus Thomas Langschneyderius rapportiert dem hochansehnlichen, mit allen möglichen Titeln verzierten Theologen Ortvinus — 361 —

Gratius, dem Mann aus der berühmten Schule von Deventer, über einen üppigen Aristotelischen (d. h. gelehrten) Schmaus zu Leipzig und legt ihm im Anschluß ergebenst eine Frage vor. Wie die Briefe der ›clarorum‹ an Reuchlin, so sind ja die der ›obscurorum‹ zum weitaus überwiegenden Teil an Gratius gerichtet, der damit gleichsam zum Haupt der Humanistengegner (obwohl er selbst gern den ›Poeten‹ simuliert) feierlich erhöht wird. – Langschneyderius nun schildert, nach Anführung aller möglichen, meist unpassenden Bibelzitate, das Gelage mit den vielen Gängen, mit Wein, Eimbecker, Torgauer und Naumburger Bier. Die neu ernannten Magister haben das Fest den andern Graduierten der Universität gegeben und haben sich, wie allgemein zugegeben wird, dabei »cum magno honore« aus der Affäre gezogen. Nach Tisch werden »große Fragen« besprochen, es wird beispielsweise darüber diskutiert, ob man einen Doktorkandidaten als »noster magistrandus« oder als »magister nostrandus« zu bezeichnen habe, also ob er ein »zu magisternder Unsriger« oder ein »zu unsrigernder Magister« sei. Darauf werden die feinsten Argumente gebracht, die gelehrtesten Wörterbücher (darunter auch Reuchlins ›Breviloquium‹ ohne Anführung des Autors!) zitiert. Ein Magister Delitzsch streitet homerisch mit dem Magister Warmsemmel. Die Frage bleibt leider ungeklärt. Und nun soll Ortvinus entscheiden. Zum Schluß wird er quasi à propos angefragt, wie der Krieg zwischen euch Kölnern und dem Dr. Reuchlin steht. »Denn ich habe erfahren, daß dieser ribaldus (Lotterbube) seine Worte noch immer nicht widerrufen hat.« – So wird fast in jedem der Briefe die aktuelle Hauptsache, um deretwillen sie geschrieben sind, ganz nebenbei, unter der Hand, gewöhnlich am Schluß erwähnt und das Feuer brennend erhalten. Im zweiten Brief, den ein gewisser Magister Johannes Pellifex an O. Gratius richtet, geht es wieder um eine — 362 —

höchst wichtige und subtile ›Doktorfrage‹. Pellifex hat auf der Frankfurter Messe irrtümlich vor zwei Juden sein Barett abgenommen, weil er sie in ihren schwarzen Talaren für Magister gehalten hat. Der Baccalaureus, mit dem er spazieren geht, macht ihn darauf aufmerksam und findet, daß dieser Gruß eine Todsünde darstellt. Sie fällt nämlich seiner Ansicht nach »unter den Begriff der Götzendienerei«. Ist es eine Todsünde oder eine läßliche Sünde, ein einfacher Fall oder ein bischöflicher oder päpstlicher Reservatfall? »Unwissenheit kann Eure Sünde nicht entschuldigen«, wird eine Autorität auf Grund eines analogen Falles zitiert; »denn Ihr hättet achtgeben sollen. Die Juden haben immer einen gelben Ring vorn am Mantel.« Den Bürgern von Frankfurt wird vorgeworfen, daß sie die Juden, »die doch nur Hunde und Feinde Christi sind«, in einer Tracht herumgehen lassen, in der sie mit Doktoren der heiligen Gottesgelahrtheit verwechselt werden können. – Ortvin soll auch diese Probleme lösen. Der eigentliche Spaß liegt übrigens in dem ungelenken Mönchslatein, in dem auf Schritt und Tritt der deutsche Sprachgebrauch, die deutsche Wortstellung durchblinken. Et mittite mihi unam novitatem – bedeutet: »Und sendet mir auch eine Neuigkeit.« Im vierten Brief meldet sich das schwerere Geschütz der Satire: die Zote, an Boccaccios ebenso liederliche, aber graziösere Mönchsgeschichten gemahnend. Aus Wittenberg schreibt einer, der sich Cantrifusoris (Kannegießer) nennt, gleichfalls an Ortvin Gratius: Wir haben ja solche Streiche oft gemeinsam ausgeführt, also werdet ihr mir das Folgende nicht übelnehmen: Es kam ein Dominikaner zu uns, predigte uns am Morgen Moral, putzte uns alle gewaltig herunter und nachts zechte er noch gewaltiger mit uns. So ging es ein Halbjahr lang. Da erfuhren wir, daß er immer zu einer Weibsperson gehe und mit ihr schlafe. So rotteten — 363 —

wir uns etliche zusammen, drangen mit Gewalt in das betreffende Haus ein, – jener Mönch hatte keine Zeit, seine Kleider zu nehmen und sprang nackt zum Fenster hinaus, die Kameraden warteten draußen und warfen ihn in Dreck und Wasser. Ich lachte, daß ich mich bepißte, und rief ihm nach: Herr Prediger, nehmt doch eure Pontifikalien mit. – Dann schliefen wir der Reihe nach mit seinem Weibsbild. Nachher hat der Mönch nicht mehr gegen uns gepredigt. – Nicht weitersagen, bitte, ich weiß ja, daß die Brüder Dominikaner Eure Bundesgenossen gegen den Doktor Reuchlin sind. Ich hätte gewünscht, daß der Mönch zu einem andern Orden gehörte. Denn die Dominikaner verteidigen ja die Kirche und den katholischen Glauben gegen die weltlichen Poeten. Na, seid nicht böse und teilt mir auch etwas Risibles mit, etwas zum Lachen. Für außerordentlich witzig kann ich diese simple Defenestrations-Szene freilich nicht halten. Da ist es schon amüsanter, wenn man nach dürren Debatten über die Akzentzeichen im Griechischen und die Lektüre des Sallust (kitzlige Fragen, die die Magister Caprimulgius und Hafenmusius an den vielbeanspruchten oder, wie man heute neudeutsch sagt, ›überforderten‹ Gratius stellen) auf den lyrisch verliebten Conradus aus Zwickau stößt, der aus dem ›Prediger‹ (Kohelet) und aus Ezechiel zweideutige Stellen heranzieht, um sein menschlich Irren zu entschuldigen. »Warum soll ich mir nicht einmal zuzeiten die Nieren reinigen? Ich bin kein Engel, sondern ein Mensch, und jeder Mensch muß irren. Dann beichten wir. Und Gott verzeiht.« Ein Magister, der immer griesgrämig und krank ist, rät ihm, die Weiber zu lassen. »Auch Ihr, Herr Gratius, habt ja eine Geliebte und ich höre, daß Ihr sie schlagt. Ich müßte weinen, wenn ich das sähe. Als Ihr uns Vorlesungen über den Ovid hieltet, habt Ihr da nicht gesagt, man dürfe nie ein Weib schlagen? Und jenem — 364 —

griesgrämigen Magister, der mir einreden wollte, alle Weiber seien Teufel, antwortete ich: Verzeihung, Herr Magister, aber Eure Mutter war doch auch ein Weib. Und ich ging davon. – Anbei schicke ich euch die Werke eines modernen Poeten, der zugleich Theolog ist. Keiner von diesen weltlichen Poeten, wie Reuchlin, Busch und andere.« – Wie man merkt, hat der Leichtfuß aus Zwickau einiges Sympathische an sich. Er ist auch die am feinsten ausgeführte Figur des Büchleins, das im übrigen mit ermüdenden Wiederholungen und allzu dick auftragender Ironie den wahrscheinlichen, aber leider noch immer nicht erfolgten Endsieg der Kölner und Pfefferkorns sowie der alten Autoritäten über Reuchlin und seine ›Poetenschar‹ verkündet. Der Liebhaber aus Zwickau wird zur Lieblingsgestalt des Crotus, er läßt ihn dreimal schreiben, während alle andern Korrespondenten nach einem, höchstens zwei Briefen verschwinden. Im 13. Brief wird unser Magister Conradus, der Zwickauer, schon etwas deutlicher. Ortvin soll ihm geschrieben haben (so gibt er es antwortend wieder), daß er »jene Leichtfertigkeiten« abgetan habe und nur ein- oder zweimal im Monat ein Weib lieben, »das heißt: besteigen« wolle. Conradus glaubt es nicht, obwohl ja auch dies bereits ein Verstoß gegen die theologische Moral wäre. Er hat von jemandem, der in Köln und immer mit Ortvin beisammen war, gehört und es sogar beschworen gekriegt, daß Ortvin die Frau des Johannes Pfefferkorn ›unterlegt‹ (supponitis) –, eine Behauptung, die in den ›Briefen‹ von vielen immer wieder aufgestellt wird. »Ich glaube es auch«, sagt Magister Conradus, »denn Ihr seid ja höchst liebenswürdig und wißt gute Worte zu geben. Und überdies kennt Ihr vollkommen die Kunst zu lieben aus dem Ovidius.« – Es macht auf uns Nachgeborene fast den Eindruck, als habe sich Ortvinus Gratius bei der Interpretation von Ovids ›ars amatoria‹ etwas zu weit ins echte — 365 —

humanistische Gebiet vorgewagt und sei auf diese Art, zu allerlei Gerüchten Anlaß gebend, ein Opfer seiner Grenzüberschreitung geworden; vielleicht war diese Grenzüberschreitung doch ehrlicher gemeint, als man im allgemeinen annimmt, war ihm selbst ein schweres konfliktreiches Problem, der Übergangszeit gemäß, in der er lebte. – Conradus-Crotus beschuldigt ihn jedenfalls, auf seine besondere Art, indem er ihn anscheinend entschuldigt. Er entschuldigt ihn mit Simson, der mit einer Hure geschlafen und doch den heiligen Geist empfangen habe, mit den dreihundert oder mehr Kebsweibern des Königs Salomo, mit dem Hohen Lied: »Wie schön sind deine Brüste, meine Schwester, meine Braut«. Lauter Sophismen, aber nicht ganz einfach zu widerlegen. Ebensowenig wie das ebenfalls angeführte Vagantenlied, von einem damals berühmten Dichter Samuel stammend (hier sind wir nicht weit vom Zauberkreis der ›Carmina burana‹, obwohl zeitlich entfernt): »Disce, bone clerice, virgines amare, Quia sciunt dulcia oscula praestare, Iuventutem floridam tuam conservare.« (Lerne, guter Kleriker, schöne Jungfraun küssen, Da sie süßen Kuß auf Kuß dir zu reichen wissen. Wirst drum deine Jugendkraft nie bei ihnen missen.) Mitten in der entschuldigenden Anschuldigung oder anschuldigenden Entschuldigung klingt hier treuherzig ein zauberhafter Frühlingston der Volkstümlichkeit auf, gleichsam gegen den Willen des Autors Crotus. An diesem Ton hätten Herder und Goethe ihre große Freude gehabt. Und man gedenkt gern eines andern Mannes aus dem gleichen Zwickau, der dem gleichen Ton die höchste Kraft romantischen Ausdrucks gegeben hat: Robert Schumann. – Der Brief endet überdies in einer echten rauschenden — 366 —

Renaissancelandschaft: Turnier, Festschmaus, der Fürst zu Pferd, eine prächtige Schabracke, ein Frauenbild in herrlichem Schmuck, der Psalmist in seinem Gottesjubel und allgemeiner Tanz. – Tizian könnte das gemalt haben. Nochmals macht Magister Conrad im 21. Brief seine Aufwartung, und nachdem er Ortvins Nachricht wiederholt hat, daß er (Ortvin, der Vorkämpfer der heiligen Keuschheit) bei seiner Lieben Glück habe, daß sie ihm Sacktücher, Gürtel und dergleichen Sachen schenke und kein Geld annehme wie feile Frauenzimmer und daß er sie besuche, wenn ihr Mann nicht zu Hause ist und sie einmal bei dieser Gelegenheit dreimal hintereinander ›supponiert‹ hat, einmal stehend hinter der Eingangstüre unter Zitierung eines angeblich entsprechenden Psalmverses (24, 7), und daß sie mit ihm zufrieden ist, – kommt er auf sein eigenes Liebesglück mit einer Schönen, namens Dorothea, zu sprechen. Er habe sie nicht ohne Anwendung der Ovidschen Liebeskunst und der diesbezüglichen Vorlesungen des Gratius erobert. Er habe sie aber noch nicht ganz gewonnen, man spiele ihm auch manchen Streich, kurz, er bittet den Lehrer um weiteren Liebesrat. Er wird von einem weniger schüchternen, weniger poetischen Doppelgänger abgelöst, von Mammotrectus Buntemantellus, der gleichfalls erotisch schmachtet, aber wesentlich materieller entzückt ist. Seine Leidenschaft begann bei einem Abendball im Hause des Schultheißen, da hat er dreimal mit einer Margarethe, der Tochter des Glöckners, getanzt. »Der Pfeifer (fistulator) blies das Lied vom Schäfer von Neustadt, und sogleich umarmten alle Tänzer ihre Mädchen, wie es üblich ist. Auch ich drückte die meine sehr innig an meine Brust, mit ihren Brüsten, und faßte sie tapfer an den Händen. Da lachte sie und machte mir Komplimente: Ihr dürft kein Priester werden, sondern müßt ein Weib freien usf.« Nun geht sie ihm — 367 —

nicht aus dem Kopf. Er legt sich zu Bett, die Mutter weint, hält ihn für pestkrank, läßt seinen Urin vom Doktor beschauen. Er bekommt ein Abführmittel, hat während der Nacht »fünf starke Öffnungen«, denkt aber doch nur »immer daran, wie er jene beim Tanz mit ihren Brüsten (cum suis mamillis, – die sogar in seinem Namen spuken) an sein Herz gedrückt und wie sie ihn zärtlich angeblickt hat«. Er kann nicht essen, nicht schlafen. Er liest des Ovid ›Remedia amoris‹ (Heilmittel der Liebe), über die er Vorlesungen bei dem ehrwürdigen Herrn Gratius in Köln gehört und mit vielen Anmerkungen und Sittensprüchen am Rande versehen hat. Es hilft nichts. Da erinnert er sich an ein Büchlein, das er in des Gratius Händen gesehen hat. Es trägt die Aufschrift: Probatum est. (›Es ist erprobt‹) Und Gratius hat ihm gesagt: »Aus diesem Buch kann ich bewirken, daß jede Frau mich liebt.« Er bittet um ein Rezept aus diesem Buch. Da aber eckt er bei Gratius bös an. Er ist der einzige, den Gratius einer Antwort würdigt. Aber was für einer Antwort! Derselbe Held, dessen Liebesabenteuer wir in einem anderen Brief ausführlich genug vorgesetzt bekommen haben, droht jetzt mit Hölle und Teufel, verordnet ein Vaterunser, geweihtes Salz, Weihrauch, den ein hierzu bestellter Priester des heiligen Ruprecht geweiht hat. Da er selbst an die Wirksamkeit dieser Mittel nicht ganz fest zu glauben scheint, geht er daran, Margarethe tüchtig schlecht zu machen, wobei er allerdings unversehens eine intime Bekanntschaft mit ihr verrät: »Sie ist nicht so schön, wie Ihr glaubt, Sie hat eine Warze auf der Stirn, große rauhe Schenkel, plumpe schwarze Hände und ihr Mund riecht übel, ihrer schlechten Zähne wegen. Allerdings hat sie einen festen Hintern, nach dem allbekannten Sprichwort

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Ars Margarethe Est mirabile rete. (Der A… von Margarethe – ihr trefflich Fanggeräte.) Ihr aber seid verblendet durch jene satanische Liebe, so seht Ihr ihre Fehler nicht. Sie ißt und trinkt viel, und neulich hat sie zweimal gefurzt, als sie mit mir bei Tische saß; und dann hat sie gesagt: Die Bank hat geknarrt. Ich hatte in Köln eine schönere, als Eure Margarethe ist, und habe sie dennoch verlassen. Sie hat einen Mann genommen und dann ließ sie mich durch eine alte Vettel zu sich holen; aber ich bin nur ein einziges Mal hingegangen, und da war ich betrunken. Ich ermahne Euch: fastet zweimal in der Woche und darauf beichtet einem unserer Magister aus dem Predigerorden, der kann Euch da richtige Belehrung erteilen usf. Als ich Euch den Ovid vortrug, habe ich doch gesagt: Wer Zaubermittel benützt, um Frauengunst zu finden, ist schon de facto exkommuniziert, die Inquisitoren der ketzerischen Verworfenheit können ihn vorladen und zum Feuertod verurteilen.« – Es folgt eine Geschichte von einem Liebesapfel, einem pomus nigromantinus; der hat allerdings gewirkt und bei der betreffenden Jungfer vier Kinder zur Folge gehabt; aber uneheliche. – Der Schluß des Briefes bringt noch eine Pointe: »Aus Köln, aus dem Hause des Herrn Johannes Pfefferkorn.« In den Briefen des Zwickauers und des Mammotrectus herrscht Venus ausschließlich. Die gelehrten Dispute, die Ärgernisse mit Reuchlin sind wie fortgeblasen. Der klassische Ovid aber scheint unter den Dunkelmännern auch sonst förmliche Verwüstungen anzurichten. Immerhin werden wir durch einen Brief des Frater Dollenkopfius darüber beruhigt, daß die Werke Ovids mit den Schriften der Bibel in Einklang zu bringen sind. Er zitiert einen — 369 —

›Magister Angelikus aus unserem Orden‹, produziert auch selbst halsbrecherische Etymologien sowie die bizarrsten (N.B. heute allerdings neuerlich auftauchende) Zusammenhänge. Semele, welche den Bacchus säugt, sei eigentlich die allerseligste Jungfrau. Und ähnliche Mythologeme. Zwischendurch heißt es: »Ich habe Vorsorge getroffen, daß mir einer in Tübingen sichere Nachricht gibt von allem, was Dr. Reuchlin treibt. Ich werde Euch Winke erteilen können.« Dagegen stößt Lyra Buntschuchmacherius (35. Brief) einen Alarmruf aus, nachdem er zunächst über blutige Scharmützel zwischen Schweizern und deutschen Landsknechten berichtet hat: »Schlimmer ist eine andere Neuigkeit; Gott gebe, daß sie nicht wahr ist. Man schreibt aus Rom, der Augenspiegel von Johannes Reuchlin sei auf Befehl des Papstes, unseres Herrn, aus der Muttersprache ins Lateinische übersetzt worden und laute an mehr als 200 Stellen im Lateinischen anders, als ihn unsere Magister und Herr Johannes Pfefferkorn in Köln übersetzt haben; auch sagt man für gewiß, daß er zu Rom öffentlich gelesen und mit dem Talmud der Juden gedruckt werde. Daraus zieht man nun den Schluß, unsere Magister seien Fälscher und ehrlose Leute, weil sie schlecht übersetzt hätten; auch seien sie Esel, die weder lateinisch noch deutsch verständen; und wie sie jenes Buch bei dem heiligen Andreas zu Köln verbrannt haben, so müßten sie auch ihre Sentenz und das Gutachten von Paris verbrennen, oder selbst Ketzer sein. Ich könnte Blut weinen, so sehr schmerzt mich das; wer wollte noch ferner Theologie studieren und unseren Magistern die schuldige Ehrerbietung erweisen, wenn er solches hört? Jedermann wird glauben, Dr. Reuchlin sei tiefer gelehrt als unsere Magister, was doch unmöglich ist.« Es gehe das Gerücht, die Predigerbrüder würden vom Papst verurteilt werden, hinten auf ihrem schwarzen Mantel das Bild einer weißen Brille zu — 370 —

tragen, zu ewigem Spott dafür, daß sie Reuchlins Augenspiegel mit Unrecht angegriffen hätten. Man sieht, die ›Briefe‹ waren sehr geschickt daraufhin angelegt, durch eine Kombination falscher und richtiger Nachrichten (wie auch die heutigen Zeitungen und offiziösen Agenturen sie lieben) Verwirrung ins Lager der Gegner zu tragen. – Die Sorge, ob einem getauften Juden die Vorhaut wieder wachse, so daß er beim Jüngsten Gericht (verhüte es Gott!) nicht am Ende doch für einen Juden gehalten werden könne, bedrückt Herrn Lupoldus Federfusius, »demnächst Licenziat«; er hat Gründe pro und contra bereit, möchte sich aber den »untertänigsten und ehrerbietigsten« Vorschlag gestatten, der Adressat (natürlich Ortvin Gratius) möge darüber bei der Frau des Johannes Pfefferkorn Erkundigungen einziehen. Er sei ja ihr Beichtvater. »Jedoch, ich will Euch nicht belehren, Ihr wißt besser als ich, wie Ihr Euch mit den Weibern zu verhalten habt.« So gibt es Stiche, wenn man es am wenigsten erwartet. Bei den abstrusesten Anlässen, die offenkundig nur um des Stichs willen erfunden sind und behaglich ausgebreitet werden. Der zweite Band fällt ab (wie bereits dargelegt). Erwähnenswert ist wohl nur das aus der Monotonie hervorleuchtende Carmen Rithmicale (mit dieser Orthographie des Titels), in dem der Magister Philippus Schlauraff pedantisch Buch darüber führt, an welchen Universitäten und unter Begleitmusik welcher Schimpfworte er Prügel bezogen hat, als er eine Rundreise durch ganz Deutschland absolvierte. Er wollte nämlich überall Stimmung für Köln und gegen Reuchlin machen. Dabei hat er das Pech, überall auf entschlossene Reuchlinisten zu stoßen. Sie nehmen demgemäß seine zweckdienliche Behandlung vor. Die Zeiten sind derb, nicht wehleidig. In fast 200 Zeilen (hie und da ein possierlich wirkender deutscher Halbvers — 371 —

eingestreut, an die sogenannte ›makkaronische Poesie‹ erinnernd) ist mit mäßigem Humor die Moritat erzählt, deren historischer Wert als Aufmarsch der Parteigänger Reuchlins bezweifelt werden kann. So hat Guido Kisch in seinem ›Zasius und Reuchlin‹ nachgewiesen, daß der hier als Reuchlinist angeführte Zasius, Professor in Freiburg, durchaus reuchlin-fern und sogar eher gegnerisch dachte. Das Gedicht, wenn man es so nennen kann, sollte eben nur der Propaganda dienen, zur Einschüchterung der Gegner war auch ein Nicht-Reuchlinist gut genug. »Die Masse muß es bringen.« – Auf beiden Seiten war man in der Wahl der Mittel nicht gerade wählerisch. Von Reuchlin selbst ist, soweit ich das Schlachtfeld übersehen kann, keine Äußerung über die ›obscurorum‹ auf uns gekommen, – wie die impertinente Briefsatire abgekürzt hieß. Er hüllte sich in ein zu seiner senatorischen Gravität passendes Stillschweigen. Kein Für, kein Wider kam aus seinen Lippen, seinem Federkiel. Das Pasticcio tat seine Arbeit für ihn, die um so wirksamer war, als es zunächst Leser gab, z. B. unter den Mönchen in England, die durch die gut nachgeahmte Lokalfarbe getäuscht, die Briefschreiber für echte Mönche und Gottesgelehrte, für wirkliche Anhänger der Kölner ›Ketzerriecher‹ hielten. Dann taten sich solchen naiven Lesern, unter dem schallenden Gelächter der gebildeteren Stände, die entsetzten Augen auf. Der Erfolg war beispiellos. Es regnete Nachahmungen und Entgegnungen. Es gab ein Obscurorum-Fieber, dessen Allgemeinheit das Werther-Fieber einer viel späteren Epoche antizipierte – zumindest in der Leidenschaftlichkeit der Bewegung, der Begeisterung und des heftigen Widerspruchs. Unsanft war ein schmerzender Nerv des Zeitalters angerührt, sogar recht schonungslos, ärgerniserregend angerührt. Diese Schmerzen machten den entfernteren Zuschauern viel Spaß, wie dies nun ein— 372 —

mal in der bösen schadenfrohen Natur des Menschen (oder vieler Menschen) liegt. Die Betroffenen wehrten sich, so gut sie konnten. Erasmus hat den ersten Brief mit solchem Vergnügen und so oft vorgelesen, daß er ihn beinahe auswendig wußte. Er mochte ihn an sein ›Lob der Narrheit‹ erinnern, ohne ihn als Komparativ zu verletzen. Das ›Enkomion Moriae‹ war ja ein ausgefeiltes Meisterwerk, vor Jahren entstanden; der Brief eine brodelnde Skizze, Sturm und Drang heute. Das fröhliche Lachen unter der kunstreich bemalten Maske war beiden Satiren gemeinsam. Und der feine Erasmus lachte gern über jeden Schabernack, trotz seiner Nierenkrankheit. Als dann später die Sache brenzlig wurde, die Angriffe sich häuften, wollte er natürlich mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben. Sie schien ihm kompromittierend für die ihm so viel wesentlicheren, gemäßigten Bestrebungen der Humanisten. Er schrieb sogar einen Brief gegen die ›Briefe‹ (an Cäsarius) – und Ortvin Gratius verfehlte nicht, diese Kundgebung des angesehenen Mannes als Empfehlung in seiner Gegenschrift zu bringen. Luther, dessen Humor, wenn man überhaupt von einem solchen reden kann, in ganz anderen, in ungemütlichen, grobianischen Bahnen schritt, nannte den Verfasser der ›Briefe‹ schlicht einen Hanswurst. Über den Verfasser wurde viel hin- und hergeraten. Manche dachten auf der richtigen Spur an den Mutianischen Kreis. Zunächst kam sechzehn Jahre lang nichts Gewisses heraus. (Siehe oben.) Nur Hutten bekannte sich selbstgefällig zur Mitverfasserschaft, indem er den ›Verdacht‹ nur schwach ablehnte (der hebräische Ausdruck, den Hutten nicht etwa gebrauchte, der aber so treffend ist, daß ich ihn hier gern anführe, lautet: Er wehrte mit einem Strohhalm ab). Von Nachahmern wimmelte es. So sehr, daß »unserm Hutten« (so schreibt D. F. Strauß) »zuletzt der Zusendungen — 373 —

ad modum obscurorum virorum (nach Art der o. v.) zu viel wurde. Von dem ersten Teile der Epistolae erschienen, bis der zweite hinzukam, drei, dann von diesem bis zum Jahre 1518 zwei Ausgaben.« – Dann lange nichts. Denn vom Jahr 1517 an (Wittenberger Thesen angeschlagen) beherrscht Luther die Szene. Brecht faßt zusammen: »Der unglaubliche Erfolg der Epistolae o. v. rief natürlich eine Anzahl ähnlicher Satiren auf beiden Seiten hervor; aber auch die früher angeschlagene ernstere Tonart des Reuchlinschen Streites verstummte nicht. Deutsche Humanisten frohlockten im Triumphus Capnionis, der Erzbischof von Nazareth, Georgius Benignus in Rom, schrieb seine Defensio Johannis Reuchlin, ein Anonymus nahm in der Gemma praenosticationum den Adressaten der Epistolae, Ortvinus Gratius, zum zweiten Male hart mit, Pirckheimer gab die Übersetzung von Lucians Piscator mit polemischen Anhängen heraus, der die Acta Judiciorum Reuchlin folgten. Die schwergetroffenen Kölner ließen die Apologia Hochstrati contra Benignum, die Epistola apologetica Ortvini Gratii und die erschreckend langweiligen Lamentaciones obscurorum virorum in die Welt gehen. Dagegen trat der Graf Hermann von Nuenar, Domherr in Köln, mit den Epistolae trium illustrium virorum ad Hermannum comitem de Nuenar auf den Plan, auf die Hochstraten mit der Apologia secunda antwortete. So ging der Kampf, von dessen literarischen Erzeugnissen wir vermutlich nur einen Teil besitzen, noch eine Weile fort bis zum Hochstratus ovans.« Die Angegriffenen erwirkten im Mai 1517 ein päpstliches Breve, welches allen Christgläubigen bei Strafe der Exkommunikation gebot, binnen drei Tagen die in ihrem Besitz befindlichen Exemplare der ›Briefe‹ zu verbrennen. Nach den Gepflogenheiten des Inquisitionsverfahrens und — 374 —

aller ähnlichen totalitären Systeme war Denuntiation zur Pflicht gemacht. Jedermann hatte den Autor und den Drucker, sofern er ihre Namen wußte, sowie solche Besitzer anzuzeigen, die die ›Briefe‹ nicht verbrannt hatten. Über den Erfolg dieser damals nicht mehr zeitgemäßen Verfügung ist nichts bekannt geworden. – In den ›Lamentationes obscurorum virorum, non prohibitae per sedem apostolicam, Ortwino Gratio auctore‹ ist dieses päpstliche Breve zusammen mit dem oben erwähnten brieflichen Verdammungsurteil des Erasmus abgedruckt, das auf dessen vielgerühmten ›Freisinn‹ ein einigermaßen ironisches Licht wirft. Über den Triumphus Capnionis haben wir gesprochen, als es galt, ein Porträt Pfefferkorns zu zeichnen (Kap. VII, 1). – Auch das dem Triumph beigegebene Gedicht, nebst prosaischem Vor- und Nachwort, 1517 oder 1518 erschienen, war ein Werk Huttens, der hier das Pseudonym Eleutherius Byzenus verwendete. »Jauchze, wofern du dich selber erkennst, o jauchze, mein Deutschland!« ist der oft wiederkehrende Refrain, ganz im Sinne von Huttens sich überschlagendem Patriotentum. – Aus der gleichen Zeit stammt ein Brief Huttens an Reuchlin. Hutten schrieb schonenderweise nur selten an den Stuttgarter, der unter eben jenes Herzogs Ulrich Herrschaft lebte, den Hutten (wegen der Ermordung eines Verwandten, Hans von Hutten) in seinem Totengespräch ›Phalarismus‹ so grimmig angegriffen hatte. ›In tyrannos‹ – das blitzende Wort stammt nicht aus Schillers ›Räubern‹, denen es vorangesetzt ist, sondern ist von Huttens letzter Zeit geformt, nach dem Untergang Sickingens. – Als Reuchlin im Kampf mit den Kölnern den Mut zu verlieren scheint und traurig von seinem Tod, vom Abfall der Freunde spricht, schreibt ihm Hutten, ganz im Geiste jenes Triumphus: »Bei deinem Leben, und wenn uns beiden etwas noch teurer ist, beschwöre ich — 375 —

dich, gib keinen trüben Ahnungen Raum. Was will das sagen: wenn ich bald sterben sollte? Laß dir deine eigene Tugend darauf antworten. Wer so gelebt hat, stirbt nicht … Bald wirst du das klägliche Trauerspiel der Widersacher von einem lachenden Hause ausgezischt sehen … Wenn du richtig von mir dächtest, könntest du nicht schreiben: Verlasse die Sache der Wahrheit nicht! Ich sie oder dich, ihren Führer verlassen? Kleingläubiger Capnio, der du Hutten nicht kennst. Nein, wenn du die Wahrheit verließest, würde ich (soviel in meinen Kräften stünde) den Krieg weiterführen, und glaube nicht, daß ich für mein Unternehmen untüchtige Gehilfen habe. Von solchen Genossen umgeben schreite ich einher, von denen jeder Einzelne, du darfst es glauben, jenem Gesindel gewachsen ist. Capnions Preis wird von Mund zu Mund fliegen.« (Nach Strauß.) Was dieses ›Gesindel‹ anlangt: Pfefferkorn lieferte noch ein Buch ›Beschyrmung‹, das auch in lateinischer Bearbeitung erschien: ›Defensio Joannis Pepericorni contra famosas et criminales obscurorum virorum epistolas‹. Geiger findet, daß »die Übersetzung ins Lateinische und die großen Zusätze der Übersetzung von irgendeinem der Kölner herrühren«, denn Pfefferkorn verstand ja kein Latein. Eines von Pfefferkorns Hauptargumenten: Er habe sein ganzes Leben der Bekehrung der Juden gewidmet und bereits 14 Seelen dem Christentum gewonnen. In dieser Tätigkeit möchte er fortfahren, wenn ihm der Papst und die Kardinäle Ruhe vor seinen Feinden verschafften. Mit seinem ›Streidtpüchlin‹ setzte er die Reihe seiner Philippiken fort. Der neue Mainzer Erzbischof Albrecht von Hohenzollern, der unter dem Einfluß seines Mentors, des hochgebildeten Eitelwolf vom Stein, der humanistischen Richtung zuneigte, der ein großer Bauherr nahezu im römischen Stil des Papstes Leo X. war (eine ausgezeichnete Darlegung der Baulust Albrechts und seiner ›nicht uned— 376 —

len Genußsucht‹ hat Ricarda Huch in ihren ›Neuen Städtebildern‹ Band 2, Leipzig 1929 gegeben), der später allerdings im Ablaßstreit eine wenig beneidenswerte Rolle spielte, nahm die Übergabe des Pfefferkornschen Machwerks nicht an, ließ den Verfasser gar nicht vor; nach einer andern Version soll er das Buch in das brennende Kaminfeuer geschleudert haben. Pfefferkorns Glanzzeit war sichtlich vorüber. Reuchlin würdigte das Buch keiner Entgegnung; eine löbliche Zurückhaltung, die für den Frevler, den ›getauften Pfeffer‹, wohl die empfindlichste Strafe gewesen sein mag. Im März 1517 erschien Reuchlins Hauptwerk ›De arte cabalistica‹. Es ist das Vollgültigste, was er hervorgebracht hat. Die Höhe seiner Bemühungen, auf ihm eigentümlichen Wegen dem Geheimnis jüdischer Weisheit und Phantasie nahezukommen. In diesem Buch und in den 1518 erschienenen, grammatisch-musikalischen Forschungen ›De accentibus et orthographia linguae hebraicae‹ sehen wir den von Schmähschriften wie von schlechten und gutgemeinten Warnungen umheulten Reuchlin festen Schritts, unbeirrt seine Lebensarbeit zu Ende führen. Die Ernte wird eingesammelt, mag rundum, was immer, vorgehen. ›Ritter, Tod und Teufel‹ des werten Zeitgenossen Dürer ist Lebensgestalt geworden. Im ersten der beiden Bücher, dem ich das nachfolgende (10.) Kapitel widme, trägt er alles zusammen, was seine religionsphilosophischen Studien auf den Gipfel der ihm erreichbaren Vollendung erhebt und sein vorbereitendes Buch ›De verbo mirifico‹ ergänzt und abschließt. Es ist heute die Zeit gekommen, dieses Werk der Reife zu erschließen. Eine frühere Generation von Historikern hat die Kabbala mißverstanden und geringgeschätzt. Über diese Stagnation sind wir mit Hilfe der Forschungsarbeit von Gershom — 377 —

Scholem glücklich hinweggekommen. Es gilt, die Konsequenzen zu ziehen, das wertvolle Buch zu übersetzen, das fast ein halbes Jahrtausend in den Bibliotheken geschlummert hat. Analog ergänzt und schließt Reuchlin in ›De accentibus‹ ab, was sich aus seinen grammatischen Arbeiten ›De rudimentis‹ ergeben hat. – Nicht ohne tiefe Gründe hat Goethe sich mit Reuchlin verglichen. Dieselbe Unzerbrechlichkeit der Arbeitslust. Goethe, an den leuchtenden Bilderreihen von ›Dichtung und Wahrheit‹ schaffend, im bösen Jahre und bei körperlicher Nähe der napoleonischen Entscheidungsschlachten – Reuchlin inmitten der Wirrnisse literarischer Angriffe, unter den Drohungen des Ketzerfeuers. Es ist derselbe starkmachende Anblick eines geistigen Standhaltens und Trotzens gegen das ganze giftschäumende Chaos einer aus der Ordnung gebrachten, niederträchtigen Umwelt. »Allen Gewalten – zum Trotz sich erhalten.« Eine wichtige Hilfe für den großen Mann leistete die von ihm oder von seiner Umgebung, jedenfalls aber mit seinem Einverständnis veranstaltete zweite Sammlung der Briefe berühmter Männer an ihn: ›Illustrium virorum epistolae‹ (1519, nach Abschluß der beiden, eben besprochenen Hauptwerke erschienen). Sie enthält, wie die Sammlung des Jahres 1514 ›Clarorum virorum epistolae‹: lateinische, griechische und hebräische Briefe von großem quellengeschichtlichem Wert. – In die zweite Sammlung ist die erste mitaufgenommen, erscheint also nochmals abgedruckt. – Es kamen auch andere gewichtige Schriften heraus, die Reuchlin in Schutz nahmen. England, Frankreich und Italien traten in bedeutenden Stimmen für den Deutschen ein, in dessen verehrter Person nicht bloß die Internationale des Humanismus, sondern auch alle mit einigem freieren Sinn arbeitenden Gelehrten streng katholi— 378 —

scher Observanz sich angegriffen und verletzt fühlten. So schreibt ihm schon 1515 der Minorit Petrus Galatinus aus Rom, daß er an einem Buch über die ›Geheimnisse der katholischen Wahrheit‹ arbeite, das die (allerdings unrichtige) These Reuchlins verficht, der Talmud enthalte unter anderem auch Beweise für die Richtigkeit der christlichen Glaubensauffassung. Diesem Werk, das erst 1518 erschien, wandten (laut dem zitierten Brief) der Kardinal Lorenz Pucci, ferner der schon erwähnte päpstliche Sekretär Aurelius Questemberg (oder Questenberg – sein Name kehrt in Schillers ›Wallenstein‹ wieder – vielleicht ein Verwandter –) und eine Reihe von andern Autoritäten in Rom (Potken, Rosinus), ferner in seiner reuchlinfreundlichen Phase auch Kaiser Maximilian I. ihr lebendigstes Interesse zu. Schlägt man das Buch auf, so gewahrt man nicht ohne Erstaunen, daß nach dem Vorbild von Reuchlins Trialogen Reuchlin selbst, Galatin und – Hochstraten zu einem wissenschaftlichen Gespräch zusammentreten, das sich über viele Folioseiten (12 Bücher) hinzieht und das nichts erhärtet, als daß auch die Diskussion einer grundfalschen, völlig unhaltbaren These manches Denkwürdige, Wissenswerte und vor allem in der entschlossenen Haltung für Reuchlin Sympathische an den Tag bringen kann. Die beiden Apologien, die Hochstraten 1518 und 1519 gegen Reuchlin und die Reuchlinisten geschleudert hat, bringen nichts Neues und sind nur dadurch interessant, daß der Ketzermeister selbst, der sich bisher mit einem gewissen ernsten Anstand der Autorität im Hintergrund gehalten und nur seine Satelliten (Ortvin Gratius, Arnold von Tungern, den kläglichen Pfefferkorn) vorgeschickt hatte, sich jetzt persönlich in die Kampfreihe stellt. Er scheint eben gemerkt zu haben, daß die Feinde die Schlacht bis zu den Linien seiner Reserven vorgetragen haben, daß die Gefahr des Durchbruchs droht. Res ad triarios venit. — 379 —

Der Ton Hochstratens ist selbstgerecht, dabei unverschämt rüde. Von Reuchlin spricht er als einem ›archirabbinus‹, die Verteidigung des Talmud wird ihm immer wieder als Hauptsünde vorgeworfen, so daß die Behauptung des sonst so vortrefflichen Geiger völlig absurd ist: der Talmud und die Liebe zu den hebräischen Studien seien in der letzten Epoche des Streits aus dem Brennpunkt gerückt, hätten keinen mehr interessiert, und es habe sich vielmehr nur noch um die Frage der freien wissenschaftlichen Forschung oder der Unfreiheit des Geistes gehandelt. Es gehörte leider zur masochistisch-unheilvollen Tendenz der Emanzipationszeit, in der Geiger schrieb: das Jüdische immer wieder womöglich ins Dunkel zu ziehen und zu verdecken, auch da, wo das ganz undurchführbar ist, da es den eigentlichen Gegenstand bildet. Wie lächerlich und wirkungslos auch immer im gegebenen Fall eine solche leisetreterische Bemühung anmuten mag, der Versuch wird gleichsam unter Hypnose zwangsläufig, auf jeden Fall unternommen (sogar mit gesperrtem Druck). Bestimmend ist das unheimliche Arbeiten eines kaum halbbewußten Mechanismus im Herzen dieses bedauernswerten Geschlechts, der ›Erstlinge der Entjudung‹, wie S. Schazár (Rubashow) sie genannt hat. – In Wirklichkeit waren natürlich beide Zeitprobleme, der Kampf um den Talmud und der Kampf um die Gedankenfreiheit, unlösbar miteinander verflochten, und man darf keinem von beiden den Vortritt oder gar die Ausschließlichkeit zuschanzen. – Zwischen den beiden Apologien Hochstratens stieß der Graf von Nuenaar kräftig in die Reuchlinsche Trompete. Er ließ die ›Epistolae trium illustrium virorum‹ drucken, worin die Antworten Reuchlins, Hermanns von Busch und Ulrichs von Hutten auf die erste Apologie Hochstratens sowie eigene Äußerungen zu der Streitfrage und anderes, darunter auch wichtige Aktenstücke vorgelegt werden. – — 380 —

Bemerkenswert ist noch, daß Erasmus, der wiederholt in Briefen die Partei Reuchlins genommen, dessen Heftigkeit allerdings immer kritisiert hatte, jetzt in einem halsbrecherischen Versuch der Neutralität, der von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte, einen Paradebrief an Hochstraten ausgehen ließ, in dem er ihn mit schönen Worten zu beruhigen suchte. Die Maximen, die Erasmus zur Verteidigung Reuchlins vorbringt, wird jeder Billigdenkende gern unterschreiben: »Trenne die Person von der Sache, der Mensch kann irren, dann ist sein Irrtum zu verdammen, aber seine Ehre ist zu bewahren, sein wissenschaftliches Streben ist hoch zu halten usw.« – Weniger schön ist es freilich, wenn Erasmus an den Ketzermeister folgendermaßen appelliert: »Und was war denn an Reuchlins Buch so Gefährliches? War es solchen Geschreies wert, den Haß gegen die Juden zu vermehren? Sei zufrieden, wir alle hassen dieses Volk.« – Ganz anders klingt es aus den Schriften Reuchlins, in denen es u. a. (in der ›Defensio‹) schlicht heißt: »Die Kirche gestattet uns, mit ihnen zu disputieren, mit ihnen öffentlich uns zu unterreden, und zwar: besonnen, da in Liebe mit ihnen zu verhandeln ist und nicht in Wut … Ebenso ist ihnen nichts zu verweigern, was das Recht der menschlichen Gemeinschaft erlaubt. Schließlich ist summa summarum im Recht geboten, daß die Juden als unsere Nächsten von uns geliebt werden sollen.« Wie so viele Proklamationen des Erasmus war auch die eben angeführte an Hochstraten in erster Reihe dazu bestimmt, ihm ein imaginäres Schiedsrichteramt zu wahren, das niemand außer ihm selber allzu ernstnahm. Es war ein Symbol seiner fiktiven Aktivität. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! Er hätte ebensogut schweigen können. Das wäre ehrlicher gewesen, hätte auch besser zu dem schönen Bild der parteilosen Mäßigung gepaßt, wie — 381 —

es Stefan Zweig entworfen hat. Erasmus aber wollte parteilos sein und trotzdem aktiv mitmachen! Also versuchte er auf beiden Seiten mitzumachen. Und eben das geht nicht. Ist mehr Knieweichheit als echte Neutralität, die zu ihrer Verteidigung auch einer guten Portion von Streitbarkeit und Leidensfähigkeit bedarf. – Weder Reuchlin noch Hochstraten fühlten sich durch des Erasmus Eingreifen gefördert oder erfreut. Hutten aber ging später in seiner ›Expostulatio‹ (1523), dem Fehdebrief, wütend gegen Erasmus los, wobei er die Anbiederung an Hochstraten neben andern größern Sünden nicht vergißt. Eine Unzahl anonymer Schriften trieb sich weiters auf dem staubigen Kampfplatz herum. 1521 machte Pfefferkorns letzte Schrift ›Ein mitleydliche claeg über alle claeg‹ und der anonyme satirische Trialog ›Hochstratus ovans‹ (Der frohlockende Hochstraten) den Beschluß. Im Trialog treten außer dem Ketzermeister, der sich seiner Siege freut, auf: ein Theologe Latomus aus Löwen und Eduard Lee, der in einen Hund verwandelte Gegner des Erasmus. – Den Preis der größten Roheit trägt aber Pfefferkorns Schmähschrift davon, einer ihrer Holzschnitte zeigt den Leichnam Reuchlins gevierteilt. Der wackere Pfeffer steht predigend, als ehrsamer Magister angetan, neben den vier Fleischstücken, die an aufrechten Pfählen herabhängen. Es ist das Scheußlichste, was sich erdenken läßt. So erinnert unwillkürlich der ehemalige Metzger Pfefferkorn am Ende seiner peinlichen Laufbahn an seinen Anfang. – Manche Stellen dieser Ekelschrift sind von besonders unerträglicher Frechheit und Selbstüberhebung. So zum Beispiel wenn es heißt: »Anklage und Schrei gegen den widerspenstigen Reuchlin, der da umgeben ist von dem Bollwerk des Teufels, ein Münzmeister der Bosheit, ein Schulmeister der Lügen, ein Lästerer der heiligen Kirche, ein Fälscher der Schrift, ein Totschläger der Seele, ein — 382 —

Betrüger und Verführer des christlichen Volks, ein Verräter an der römischen kaiserlichen Majestät und an meiner Ehre.« Die Nebeneinanderstellung dieser letzteren beiden Begriffe kennzeichnet zur Genüge den bis zum Größenwahn übergeschnappten Renegaten. – Inzwischen war in Rom die Entscheidung des Papstes gefallen – und zwar unerwarteterweise (denn alles schien nicht ungünstig für Reuchlin zu stehen): gegen Reuchlin. Das eben angeführte Lästerbuch zeigt auf dem Titelholzschnitt den breit hingelagerten Reuchlin mit gerungenen Händen. Ohne jede Porträtähnlichkeit, so weit wir das bei dem unbefriedigenden Stand von Reuchlins Ikonographie beurteilen können. Nur die Mächtigkeit und Fülle der Gestalt erinnert an die Vorstellung, die wir uns von unserem geliebten Doktor machen. Sein faltig ausgebreitetes Kleid deutet, äußerst ungeschickt gezeichnet, einen Sack an, wie die Unterschrift bekanntgibt: »O Leid und Leid über alle Leid, Die Sache hab ich ganz verlorn. Den Sack hab ich zu einem Kleid, Das beweist Johannes Pfefferkorn.« Herr Pfeffer steht mit schmuckem Barett und würdigem Talar daneben und expliziert. Überschrift: »Da liegt der Hase.« Reuchlin war in den Augen der Kölner erledigt. Auch im ›Frohlockenden Hochstraten‹ blinkt bereits diese Triumphstimmung der Kölner durch die Ironie hindurch. Sie hatten offenbar schon gute Berichte aus Rom. Vorher aber hatte es noch eine denkwürdige Episode gegeben, die uns daran erinnert, daß sich dieses ganze Geschehen im Zeitalter Götzens von Berlichingen, des Faustrechts, der unaufhörlichen Fehden abspielt. — 383 —

Der Ritter Franz von Sickingen war in der glücklichen Heidelberger Zeit Reuchlins Schüler gewesen, gedachte noch später gern des Hinweises auf die Tugend, den er bei dem berühmten Gelehrten empfangen hatte. Seltsam mischte sich sein Tugendideal, das ihn manchmal uneigennützig um der Bedrückten willen eingreifen hieß, mit seiner Rauflust, seinem Unabhängigkeitsdrang als freier reichsunmittelbarer Ritter, doch auch mit seinem Hang zum Leben als Anführer großer Truppenmassen, als Condottiere nach italienischem Muster, der sich der oder jener Großmacht in Sold gab und dabei recht gut verdiente. Karl von Spanien und Franz von Frankreich bewarben sich gleichzeitig um ihn und seine Heereskunst. Hutten wurde sein Freund, interessierte ihn aufs neue für den vielschimpfierten Reuchlin, später für Luther. Die wohlbefestigten Schlösser, auf denen Sickingen hauste (die Ebernburg bei Kreuznach, die Burg Landstuhl), nannte Hutten: ›Herbergen der Gerechtigkeit‹. Martin Bucer, später Reformator in Straßburg, fand da Zuflucht, ebenso Hauslamp (Oekolampadius), der als der schweizerische Melanchthon berühmt wurde. Als Gast auf diesen Burgen begann Hutten, deutsch zu schreiben. Er sagt es in den ergreifend einfachen Versen: »Latein ich vor geschrieben hab, Das war ein jeden nit bekannt; Jetzt schrei ich an das Vaterland Teutsch Nation in ihrer Sprach, Zu bringen diesen Dingen Rach.« Doch all dies und das tragische Ende mag man bei Conrad Ferdinand Meyer und bei D. F. Strauß nachzulesen ja nicht unterlassen. Je mehr man überdies nachliest, desto undeutlicher wird das schöne Bild der Freundschaft zwischen Sickingen und Hutten. (Auf die durchgehende ›Un— 384 —

Grabplatte Reuchlins in der Leonhardskirche, Stuttgart.

Angebliches Bildnis Reuchlins um 1700 aus dem Nachlaß J. H. Mays in der Universitätsbibliothek Gießen. Nach Ferd. Bols: ›Schlafende Alte‹, Rembrandt zugeschrieben, um 1635.

deutlichkeit‹ alles Menschlichen, Geschichtlichen hat mit besonderer Intensität Franz Kafka hingewiesen.) So wird in einer neuen, sehr schönen Ausgabe von Straußens ›Ulrich von Hutten‹ (Otto Clemen, im Insel-Verlag 1914) in einer Anmerkung (344) eine Schrift von Szamatolski ausführlich zitiert, laut der neulich Briefe Sickingens entdeckt worden sind, aus denen hervorgeht, daß Sickingen »zu derselben Zeit, da ihn Hutten … als seinen treuesten Freund und Beschützer pries, Hutten abzuschieben suchte, weil der ungestüme Stürmer und Dränger seine besonneneren, aber auch selbstsüchtigeren Pläne zu stören drohte«. – Doch wie dem auch sei (Vorsicht und Skepsis drängen sich jedem auf, der die Weltgeschichte zu ergründen sucht): an unserer Stelle haben wir nur des kurzen Zusammenwirkens der beiden mit Reuchlin zu gedenken, das sich überraschend genug ausnimmt. Auf Huttens Anregung erließ Sickingen am 26. Juli 1519 einen Fehdebrief »an Provinzial, Prioren und Konvente des Predigerordens deutscher Nation, sonderlich an den Bruder Jakob Hochstraten, von wegen des hochgelehrten und weit berühmten Herrn Johann Reuchlin, beider Rechte Doktors. Allgemein sei es bekannt, wie sie diesen betagten, erfahrenen, frommen und kunstreichen Mann, wider päpstliches Verbot und kaiserliche Willensmeinung, durch unbegründete Appellation gegen das Speyersche Urteil aufzuhalten und zu beschädigen gesucht haben, auch noch immer durch die unziemlichen Schmachschriften anzutasten fortfahren. Da nun aber er, Franz, als Liebhaber von Recht und Billigkeit, in Betracht ferner, daß Reuchlin seinen Eltern oftmals gefällige Dienste erzeigt, auch, so viel an ihm gewesen, sich beflissen habe, ihn, Franzen, in seiner Jugend zu sittlicher Tugend zu unterweisen, ob solchem ihrem Fürnehmen nicht unbillig Mißfallen trage: so stehe an Bruder Hochstraten und dessen Ordensobere sein Begehren, — 387 —

gemeldeten Doktor Reuchlin fortan ruhig zu lassen, auf Grund des Speyerschen Urteils ihm Genugtuung zu geben und insbesondere die ihnen auferlegten Prozeßkosten im Betrage von 111 fl. an ihn zu entrichten, und zwar binnen Monatsfrist nach Überantwortung dieses Briefes; sonst werde er, Sickingen, samt andern seiner Herren, Freunden und Gönnern, wider sie, die ganze Ordensprovinz und deren Anhänger, so handeln, daß Dr. Reuchlin als ein Alter, Frommer, unter den Hochgelehrten nicht der Niederst, des Ehre, Kunst und Lob in weiten Landen erschollen und ausgebreitet, solcher gewaltiger Durchächtung endlich vertragen, in diesem seinem ehrlich hergebrachten Alter bei Ruhe bleibe, dasselbe auch, soviel Gott gefalle, friedlich beschließen möge, und dadurch vermerkt werde, daß vielen hohen Adligen und andern trefflichen weltlichen Ständen, geschweige der Hochgelehrten und Geistlichen, ihrer (der Dominikaner) bisher gegen Dr. Reuchlin geübte Handlung von Herzen und Gemüt leid gewesen und noch sei.« (Text nach Geiger.) Nach nochmaliger, vermutlich noch energischerer Mahnung bekamen es die Dominikaner mit der Angst. Sie willigten in alle Bedingungen Sickingens ein. Lange Verhandlungen folgten, dann kam es zu einem förmlichen Schiedsgericht in Frankfurt (Mai 1520); Reuchlin wurde durch Sickingen, der Orden durch den Provinzial Eberhard von Cleve vertreten. Man kam überein, daß die Ordensleute einen Brief an den Papst richten sollten, in dem um Unterdrückung des Streites und ewiges Stillschweigen für beide Parteien ersucht wurde. – Die inzwischen von der Kurie verfügte Ungültigkeitserklärung des für Reuchlin günstigen Speyerer Urteils sollte rückgängig gemacht werden. Wichtigstes Ergebnis: Der Konvent setzte Hochstraten von seinen Ämtern ab. Trotz dieser Vereinbarung wurde am 23. Juni 1520 — 388 —

durch einen päpstlichen Beschluß die Speyerer Entscheidung definitiv für ungültig erklärt. Der ›Augenspiegel‹ war jetzt wieder als ein »ärgerliches, für fromme Christen anstößiges, den Juden unerlaubt günstiges Buch« untersagt. Reuchlin wurde einseitig ewiges Stillschweigen auferlegt, er hatte die gesamten Prozeßkosten zu tragen. Und erstaunlich genug: wir sehen bald nachher Hochstraten wieder in allen seinen Ämtern. Ob dies von allem Anfang in den Plänen der Dominikaner gelegen war, ob ihr Friedensschluß (Schiedsgericht) ehrlich gemeint oder, wie Geiger annimmt, ›falsches Spiel‹ war, da ihre Machinationen schon im Februar 1520 in Rom nachweisbar sind, knapp nach Beginn der Friedensunterhandlungen zwischen ihnen und Reuchlin: wer wollte sich getrauen, dies zu entscheiden. Es gibt (zumindest vorläufig) keine Akten darüber. – Im Januar 1521 berichtet Reuchlin an den Kurfürsten Friedrich von Sachsen, daß Hochstraten in Rom eine Nichtigkeitserklärung des Speyerer Urteils durchgesetzt habe, daß aber die Anklage wegen Ketzerei gegen ihn (Reuchlin) fallengelassen und daher auch eine beabsichtigte Verbrennung des Augenspiegels bei hoher Strafe verboten worden sei. Nun gehöre die Sache (nach Reuchlins Ansicht) vor den weltlichen Richter, vor den Kaiser. – Von einer Verhandlung dieser Art, auch vom Erfolg einer Appellation Reuchlins ist aber keine Kunde zu uns gedrungen. Die Verurteilung machte übrigens keinen Eindruck auf die Zeitgenossen. Seltsam, den Prozeß hatten sie mit solcher Leidenschaft verfolgt, das Ende interessierte kaum jemanden. Vielfach erhielt sich die Meinung, Reuchlin habe gesiegt. Graetz in seinem so gründlichen und ausführlichen Geschichtswerk, der von allen Stadien des Prozeß Verlaufs genau Notiz nimmt, weiß über den Ausgang — 389 —

einen einzigen kurzen Satz zu berichten. Die frühen Biographen Reuchlins (z. B. Lamey) sagen nichts über das Urteil. – Es ereignete sich eben, was so oft das Weltgeschehen kennzeichnet. Probleme werden gestellt, aber nicht gelöst. Sie werden vielmehr ungelöst zur Seite geschoben, von andern Problemen einfach überritten, die im Augenblick dringlicher erscheinen. Doch auch die neuen Probleme werden dann meist nicht gelöst, sondern wiederum durch andere, aktueller scheinende weggeschoben. Dies ist allerdings etwas zu pessimistisch gesehen. Es muß durch die Erfahrung ergänzt werden, daß manchmal auch ein Sinn des Weltgeschehens sich zu verkörpern scheint, z. B. in der hellenischen Kunst – oder in der Geschichte einer spiritualen und zugleich realistischen Bewegung, wie es das Judentum ist – oder in der Entwicklung mancher Phasen des Christentums – oder im Sturz Attilas, Napoleons, Hitlers. Diesen selten genug aufleuchtenden Trost versagt uns das Studium der Weltgeschichte nicht, – was ich gegen Theodor Lessings allzu pauschale Theorie von der ›Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen‹ hervorheben muß. Man kann sich eben auch darauf nicht verlassen, daß die Weltgeschichte schlechthin sinnlos ist. Das wäre leichtfertig. Die Geschichte zeigt manchmal auch sinnvolle, quasi-logische Strecken. Dadurch wird die Sache natürlich nur noch viel komplizierter, als Theodor Lessing sie sah. Es gibt Ausnahmen von der Sinnlosigkeit des Geschehens. Und es ist Aufgabe der Menschheit, diese sinnhaften episodischen Ausnahmen auf der Linie der geschichtlichen Greuel immer dichter, ja zuletzt ganz kohärent zusammenzurücken, so daß die Greuel ganz entfallen. Wozu menschliche Vernunft und Tatkraft wie auch göttliche Gnade (beides, beides) als Mitwirkende erforderlich sind. Was geschah im konkreten Fall, den wir darstellen: 1520 — 390 —

ist das Jahr, in dem Luther (am 10. Dezember) die päpstliche Bannbulle verbrannte. Das war das Ereignis, das jetzt die öffentliche Meinung in Anspruch nahm und spaltete. Wer dachte noch an Reuchlin und die für ihn einst so glückhafte Sentenz von Speyer! Dagegen setzte die Weltgeschichte mit der ihr eigenen Kalligraphie einen höchst ironischen Schnörkel an die ganze vielschichtige Begebenheit: Der babylonische Talmud wurde nämlich damals zum erstenmal gedruckt, und zwar auf Anregung ebendesselben Papstes Leo X., der den ›Augenspiegel‹ wegen allzu günstiger Beurteilung des Talmud verdammt hatte. Damit erst wurde der Talmud, der bis dahin als Ganzes nur in Handschriften existiert hatte, endgültig gerettet, den vielen Verfolgungen durch Kleriker und getaufte Juden für immer entzogen. Die hartnäckigste dieser Verfolgungen (durch die Kölner) endete also mit dem buchtechnischen Schutz gegen alle künftig möglichen Vernichtungsversuche. Der nichtjüdische Drucker, der das große Werk der Drucklegung des babylonischen Talmud (12 Foliobände, 1520–1523) durchführte, hieß Daniel Bomberg, stammte aus Antwerpen und hatte in Venedig seine berühmte Offizin. Er brachte etwas später auch den jerusalemischen Talmud. – Vor Bomberg hatte Soncino nur einzelne Traktate gedruckt. Wer hat die Wendung in Rom zuungunsten Reuchlins bewirkt? Reuchlin hatte alles getan, um die Verurteilung zu verhindern, hatte ja sein Buch über die Kabbala dem Papst gewidmet, hatte ihn herzbewegend angefleht, ihm Ruhe zu schaffen. Aber die Richter, die für Reuchlin eingetreten waren, befanden sich zur Zeit der Schlußverhandlungen nicht mehr in Rom, weder Grimani noch Ägidius von Viterbo noch der Kardinal Hadrian. Während sein Namensverwandter, der Erzieher Karls V., Kardinal — 391 —

Adrian von Utrecht (später, schon nach Beendigung des Prozesses, zur Papstwürde berufen) Hochstraten unterstützte. Neue Richter wurden beigezogen, unter ihnen Kardinal Dominicus de Jacobatiis (der Venezianer Giocobazzi), an den Reuchlin (November 1518) gleichfalls einen jammernden Brief richtet. Ebenso schrieb der Schutzflehende an Anconitanus, dem er klagt, daß er beinahe sein ganzes Vermögen durch den langwierigen Prozeß aufgebraucht habe. Nun sei er gezwungen, 28 Joch Ackerland zu verkaufen, die für ihn und die Seinen zum Lebensunterhalt notwendig seien. Er fürchtet den vollständigen Zusammenbruch. – Vergebens alle diese Briefe, auch an den Kardinal Pucci, wie an den treuen Questenberg. – Bedeutungslos auch die Versicherung des Bibliothekars der Vaticana, Philippus Beroaldus des Jüngeren, der sich in einem Brief an Reuchlin (1517) als dessen Freund, ja fast als dessen Sachwalter in der bekannten ›holperigen‹ Sache (in causa illa tua confragosa) vorstellt und dem wir die Nachricht verdanken: »Libros tuos pythagoricos (d. h. die ›kabbalistische Kunst‹) pontifex legit avide, ut res bonas solet (Deine pythagoräischen Bücher liest der Papst begierig, wie er es mit allen guten Dingen tut)«. Bedeutungslos – denn die päpstliche Diplomatie war längst dabei, andere Wege einzuschlagen, auf denen es keine Rücksichtnahme auf den treuherzigen Reuchlin gab. Das große Ereignis, das Auftreten Luthers, wirkte eben entscheidend ungünstig. Die Verwechslung der humanistischen Opposition gegen die Kirche mit der viel gröberen, machtpolitisch, finanziell, nationalistisch (= antirömisch) unterbauten und freilich auch aus Emotionen der Gewissenstiefe, der ehrlichen Anfechtung schöpfenden Opposition der Evangelischen machte in Rom der Reuchlinschen Sache den Garaus. Man warf sich in den Kreisen der Kurie allzugroße Milde gegenüber Reuchlin vor und leitete das Aufkom— 392 —

men der neuen, viel gefährlicheren Gegenströmung von jener unzeitgemäßen Milde ab. Also Strenge, sei es auch am unrechten Ort! Ein Motiv, das in Angelpunkten des Weltgeschehens oft genug unheilvoll auftritt. Man übersah dabei, daß die Humanisten und die Reformationsanhänger schon begannen, ihre Antagonismen beiderseitig zu spüren, einander zu befeinden. Reuchlin stand, wie noch auszuführen sein wird, der Bewegung Luthers durchaus ablehnend gegenüber; ebenso verhielt sich (wenn auch etwas weniger ausgeprägt, doch mit wachsendem Widerstand gegen den Reformator) Erasmus. Die ›beiden Augen Deutschlands‹, Erasmus und Reuchlin, legten Wert darauf, mit dem stürmisch rollenden Zornesblick Luthers nicht verwechselt zu werden; ebenso andere führende Humanisten wie Mutian, Crotus, Pirckheimer usf. Sie wurden trotzdem in die von Rom ausgehende Verwerfung des religiösen Aufstands miteingeschlossen. Hohnlachend durfte der widerliche Pfefferkorn den Abgesang krächzen: »Du meinst, man habe jetzund mit Martinus Lauter (sic!) so viel zu schaffen und zu schicken, daß man deiner soll vergessen. Reuchlin, ich sag dir und glaub mir das: Deiner wird nit vergessen.« Das Urteil von Rom hatte dieses Nicht-Vergessen feierlich bestätigt.

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ZEHNTES KAPITEL

Das vollendete Werk: ›De arte cabalistica‹ Gilt es doch, eine innere Realität zu verteidigen, die unter der Perspektive der Vernunft und des Wissens als absurd und paradox erscheinen mußte. Gershom Scholem ›Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen‹ (S. 366) Mystik von Einzelnen, die in ihrer Vision oder Kontemplation das Sehnen ihrer eigenen Seele, und vielleicht auch etwas von der Sehnsucht des Zeitalters mehr oder weniger vollkommen ausdrücken … Gershom Scholem ›Ursprung und Anfänge der Kabbala‹ (S. 39) Bezetí likratchá, likratí mezatícha: »Als ich Dir entgegen aufbrach, mir entgegengehend fand ich Dich.« (Jehuda Halewi, in obigem Buch angeführt) 1

Gerade in den Jahren, in denen die wütendsten Angriffsrufe, daß er die Juden begünstige, einander überstürzten –, in der Zeit, da sich sein langwieriger Prozeß vor dem höchsten Forum der christlichen Welt, dem päpstlichen Thron, der Entscheidung näherte, – wagte es Reuchlin, seine ›Kunst der Kabbala‹, ein Werk der Ruhe, der beatitudo, der Einsicht und Einsamkeit zu schreiben und zu vollenden. Ein Werk, in dem er mehr und Wesentlicheres zugunsten der verfolgten Juden und ihrer mißachteten und — 394 —

mißverstandenen Geisteshelden zu sagen wagte als in all seinen früheren Schriften zusammengenommen. Seine Entschlossenheit, gerade diesen vielangefochtenen Weg zu wählen, hatte sich gesteigert. Es macht den Eindruck, als habe der Mann, der sonst den Einflüsterungen der Angst nicht immer unzugänglich gewesen war, bei seinem letzten Ausritt die Gefahr geradezu verachtet, der er sich aussetzte, oder als habe er sie gar nicht sehen wollen. Das geht noch weit über Goethes kampflustige Verse: »Denn gegen die obscuren Kutten, Die mir zu schaden sich verquälen, Auch mir kann es an Ulrich Hutten, An Franz von Sickingen nicht fehlen.« Denn Hutten und Sickingen konnten Reuchlin bei seinem letzten Fechtgang wenig helfen, wiewohl ihr Wille der beste war, sie waren mit ihren eigenen, vom Glück ungesegneten Aktionen beschäftigt. Allein stand der Gelehrte in seinen seltsamsten Traumregionen, eine Vorstufe des Ritters Don Quixote, doch mit verletzlicheren subtileren Sinnen, im Getümmel gegen seine übermächtigen Widersacher. Den Schauplatz des merkwürdigen Buches über die Kabbala, das dann über Jahrhunderte hin kein verständnisvolles Echo, keine Nachfolge erlangen sollte, findet man oben (Kap. III, 4) nachgezeichnet. Dieser Schauplatz wie die agierenden Gestalten des Trialogs, die Begleitumstände ihres Zusammentreffens und ihre ersten, einander abtastenden, die eigentliche Sache nur erst von Ferne sichtenden Gesprächsanläufe sind deutlich von der Art Platons beeinflußt, wie sie sich in seinen Meisterwerken Phaidros, Protagoras, im Symposion und im Phaidon am schönsten zeigt; sind dabei in den Einzelheiten durchaus selbständig, weil diese Einzelheiten offenbar erlebt und — 395 —

mit realistisch-dramatischer Erzählkraft festgehalten erscheinen. Schon dieser einleitende Teil bezeichnet den hohen literarischen Rang des Werkes. – Der genaue Titel der von mir benützten, der Universitätsbibliothek Jerusalem gehörenden Ausgabe lautet: Johannis Reuchlin Phorcensis, LL. Doc. De arte cabalistica libri tres, jam denuo adcurate revisi. Der Druckvermerk am Schluß: Haganoae, apud Johannem Secerium, anno MDXXX. Also: In Hagenau, bei Johann Secerius, 1530, – mithin nach Reuchlins Tod »neuerdings genau revidiert«. Die Erstausgabe (bei Anshelm, Hagenau 1517) hob schon im Titel die Widmung an den Papst Leo X. hervor. In den Präliminargesprächen, die oben loc. cit. teilweise wiedergegeben sind, wird Sinn und Wesen der Kabbala umrissen: ad primam uniformem et informem formam ascendere – »zur ersten allgeformten und formlosen Form emporzusteigen«, was manchen wohl an Goethes ›Reich der Mütter‹, zu dem man allerdings ›hinabsteigt‹ (doch ›hinab‹ und ›hinauf‹ ist in diesen Sphären nichts Unterschiedliches) erinnern mag, – andere an einen paradox verstandenen Aristoteles, jedoch Leser und Kenner des wichtigen Werkes von Gershom Scholem ›Major Trends of Jewish Mysticism‹ – deutsch: ›Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen‹ – an das 2. Kapitel dieses Werkes. Das Buch ist von hier ab als Grundlage und eine der Hauptquellen meiner Darlegungen anzusehen. Wo in dem vorliegenden 10. Kapitel Zitate, durch Anführungszeichen kenntlich, von hier ab ohne Autornamen erscheinen, sind sie stets diesem Standardwerk entnommen. – Das eben genannte Kapitel Scholems behandelt die ›Merkaba-Mystik und jüdische Gnosis‹, die vom ersten vorchristlichen bis ins zehnte nachchristliche Jahrhundert dauernde Periode — 396 —

der jüdischen Mystik. Es gibt also ein volles Jahrtausend dieser Mystik »vor ihrer Kristallisation in der mittelalterlichen Kabbala«. – »Wir wissen, daß noch während des Bestandes des zweiten Tempels eine esoterische Disziplin auch in pharisäischen Kreisen gepflegt wurde. Hier wurde besonders das erste Kapitel der Genesis, die Schöpfungsgeschichte, Maasse Bereschith (›Die Ereignisse im Anfang‹, Kosmogonie – M.B.), und das erste Kapitel aus Ezechiel, die Vision des göttlichen Thronwagens, zum Gegenstand von Erörterungen gemacht, die öffentlich mitzuteilen jedenfalls als äußerst unratsam empfunden wurde.« Die älteste jüdische Mystik ist »Thronmystik«, bezieht sich also auch Ezechiel, Kap. 1. Es handelt sich um die »Schau von Gottes Erscheinung auf dem Thron, die der Prophet erlebt, und um die Erkenntnis der Mysterien dieser himmlischen Thronwelt selber. Die Thronwelt bedeutet für den jüdischen Mystiker, was für die hellenistischen und frühchristlichen Mystiker dieser Epoche, die die Religionsgeschichte als Gnostiker und Hermetiker kennt, das ›Pleroma‹ (die ›Fülle‹), die Lichtwelt der Gottheit mit ihren Potenzen, Äonen und Herrschaften ist. Der jüdische Mystiker schöpft, wenn auch von verwandten Antrieben geleitet, seine Sprache aus der ihm gemäßen religiösen Begriffswelt. Der präexistente Thron Gottes, der alle Schöpfungsformen beispielhaft in sich enthält, ist Ziel und Gegenstand der mystischen Entrückung und der mystischen Schau.« – ›Merkawá‹ oder ›Merkaba‹ bedeutet den Thronwagen. Die zum Teil noch heute ungedruckten Schriften dieser Epoche »heißen in den meisten Fällen ›Hechalóth-Bücher‹, das heißt Schilderungen der Hechaloth, der himmlischen Hallen oder Paläste, die der Schauende betritt und in deren letztem, siebentem, sich der Thron der göttlichen Herrlichkeit erhebt«. Die ersten Beschreibungen schildern ausdrücklich einen ›Aufstieg zum Thronwagen‹, in den späteren Schriften ist — 397 —

von einem ›Hinabsteigen zum Thron‹ die Rede – doch, wie schon oben bemerkt: ›hinab‹ und ›hinauf‹ bedeuten hier das gleiche, nämlich ›nicht in der Alltagsebene‹. Treffend bemerkt Scholem: »Solange man Natur und Menschheit als Seine Schöpfung begreift – und dies ist die unabdingbare Voraussetzung allen hochentwickelten religiösen Lebens –, so lange wird die Frage nach dem verborgenen Leben des Transzendenten in solcher Schöpfung eines der wichtigsten Probleme menschlichen Denkens bleiben.« Das Problem, das Objekt, Kosmogonie und Gottesschau, letztere in den ›Aufstiegs-Visionen‹, erstere in der späteren Kabbala überwiegend, bleibt also in allen Jahrtausenden dasselbe; die technischen Mittel wechseln, erweitern sich, doch so, daß auch die früher angewandten Mittel immer wieder neu hereingezogen werden müssen, sei es auch in neuer Deutung, neuer Verdeutlichung. Heute nähern wir uns der Frage, was eigentlich ›Leben‹ sei, wie entstanden und wie es funktioniere, nicht eben primär durch Darstellung des Thronwagens oder des Lebens der ›Äonen‹ oder der ›Sfirót‹, – sondern zunächst auf dem Weg der Naturwissenschaft, der Nuklearforschung, der Analyse der Chromosomen-Struktur, der Astronomie und Astrophysik, aber auch diese Wissenschaften, richtig gehandhabt, mit all ihren Wundern von Maser und Laser, wie sie Thomas von Randow in seiner Arbeit ›Eine neue Art von Licht‹ (In: ›Naturwissenschaft und Medizin‹, Jahrgang I/4, Mannheim 1964) zukunftahnend vorführt, lenken ja gleichfalls den Blick ins Geheimnisvolle, »Ins Unbetretene, Nicht zu Betretende; ein Weg ins Unerbetene, Nicht zu Erbittende«. Und schließlich wird man, wenn Teilergebnisse erreicht sind (auf Endergebnisse kann ja nie gehofft werden – — 398 —

ignorabimus), zu ihrer Kontrolle, richtigen Auswertung und Synthese doch wieder zu jener ›symbolica philosophia‹ seine Zuflucht nehmen müssen, als welche Reuchlin sowohl die Kabbala wie die pythagoräische Lehre, die beide eng verflochten seien, darstellt. (Vorsichtig fügt er hinzu, daß er nichts hievon behaupten, sondern alles nur so darstellen wolle, utut opinanter infideles, »wie es die Ungläubigen, d. h. Nichtchristen meinen«. – Doch im Eifer des Gefechtes läßt er späterhin immer wieder diesen furchtsamen Vorbehalt glücklich außer acht.) Bei dem ›Aufstieg‹ der Seele durch die Himmelsregionen (Reuchlins ›ascendere‹ – in der oben angeführten Definition) setzen sich in der nichtjüdischen Gnosis die Planetengötter (Archonten) der Seele feindlich entgegen, die nach Befreiung verlangt. In der judaisierten, »ins Monotheistische abgebogenen … Form der Gnosis übernehmen diese Funktion die Scharen der ›Torwächter‹, die rechts und links an den Pfosten der himmlischen Hallen postiert sind und die beim Aufstieg zu passieren sind«. Die Seele braucht einen Paß, ein magisches Siegel, einen geheimen Namen, um die Archonten oder Torwächter in die Flucht zu treiben. – (Kafkas tiefironische Legende ›Vor dem Gesetz‹ ist nicht etwa, wie der erste Blick vermuten läßt, eine Reminiszenz oder Nacherzählung dieser uralten Lehre, sondern eigene Schöpfung unmittelbar aus seiner archaischen Seele hervor, ein weiterer Hinweis auf seine innerste Verwurzlung im Judentum, dessen Urkräfte und schöpferische Gestalten in seinem Unbewußten zu neuer Aktivität drängten. Meiner Erinnerung nach hat sich Kafka wohl intensiv mit Bibel und Talmud, doch nie mit Kabbala, außer mit ihrer populären Spätform, dem Chassidismus, befaßt. Hier kann ich sogar einen exakten Beweis führen: Als ich ihm die ersten Kapitel meines ›Rëubeni‹ vorlas, der auf kabbalistischen Grundanschauungen ruht, traf ihn das — 399 —

als etwas völlig Neues. Wiederholt hob er hervor, wie viel er von diesem Werk erwarte, wie sehr es ihn überrasche. Als er starb, hatte ich gerade nur das 4. Kapitel vollendet. Dies waren die letzten Abschnitte, die ich dem geliebten Freunde vorlesen konnte.) – Zusammenfassend kann man also sagen, daß Reuchlin an der besprochenen einleitenden Stelle nicht die Kabbala, sondern eine ihrer Vorstufen, die Merkawá-Mystik, definiert. Doch im weiteren Verlauf seines Buches bezieht er die späteren Stufen, die schon echte Kabbala sind, durchaus mit ein. Unter den Autoritäten, die Reuchlin zitiert, befindet sich beispielsweise Azriel aus Gerona. Das angeführte Buch ›De decem numerationibus‹ Azriels von Gerona handelt gerade von jenem Kernstück, das den Pythagoräern und der Kabbala annäherungsweise gemeinsam ist: von den ›Zählungen‹ oder ›Urzahlen‹ (1 bis 10), hebräisch ›sfirót‹ genannt, was auch zunächst nichts anderes als ›Zählungen‹ bedeutet und mit dem ähnlich klingenden griechischen Wort ›Sphairai‹, ›Sphären‹ (wie bereits dargelegt) nichts gemein hat. – Ein anderes Beispiel: Reuchlin gibt dem Gikatilla, dem Autor des Buches ›Portae lucis‹ (Schaare Ora) den ehrenden Beinamen des »hervorragendsten kabbalistischen Schriftstellers«. Josef Gikatilla aber war ein Schüler Abulafias und stand später dem Verfasser des ›Sohar‹ (Mosché de León) nahe, er ist also das Bindeglied zwischen der ›prophetischen (oder ekstatischen)‹ Lehre Abulafias und der ›theosophischen‹ Variante der Kabbala, – daher in der Tat einer der wichtigsten Autoren jener Epoche (Scholem, loco cit., Seite 213/214). – Charakteristisch, daß gleich das erste Zitat, das Reuchlin anführt, dem genannten Buch Gikatillas gilt, allerdings mit flüchtigerweise nicht ganz richtig angeführtem Titel. – Hier schließt Reuchlin die Darstellung der einzelnen Kategorien der geschaffenen Wesen von den leblosen Stei— 400 —

nen aufwärts bis zum Menschen an, zum omnium animantium dominator, dem »Beherrscher aller Lebewesen«, dem es gegeben ist, »aus dem in seine Natur eingepflanzten Sehnen hervor mit allen Kräften, über die er verfügt, nach dem Höchsten und Besten zu langen«. Den Menschen hat Gott aus Lehm und Lebensatem geschaffen, »damit er, in Lehm gekleidet, klug für die körperlichen Dinge sorge, und, mit dem Lebenshauch ausgestattet, die göttlichen Dinge weise liebe«. – Man kann hier einen der wohl frühesten Vorstöße finden, das, was ich ›Zweigeleisigkeit‹ nenne, in Worte zu zwingen. Reuchlin oder vielmehr der Sprecher dieses ersten Trialogteils, der Kabbalist Simon Judaeus, führt dies näher aus: »Im ›Baum der zehn Zählungen‹ (man stellte die zehn Sfirót oft in Gestalt eines Baumes dar) nimmt die Sfirá der ›Schönheit‹, die dem Mikrokosmos des Menschen entspricht, die Mitte ein. Dazu also ist der Mensch geboren, und auf das hin hat ihn die Natur geschaffen und geformt, daß er mit den Füßen auf der Erde unter den Tieren wandle, mit erhobenem Haupt aber als einziges unter den Geschöpfen mit den Engeln im Himmel Zwiesprache halte.« – Doktrinen, die deutlich auf die schon erörterten Thesen Picos von Mirandola zurückweisen. Es folgt eine eindringende Analyse des menschlichen Geistes, wobei dem intellectus activus (sséchel hapoél, nus poietikós) eine wesentliche Rolle zugeschrieben, also dem Aristoteles und dem Einfluß Abulafias gefolgt wird. Sodann lesen wir eine überraschend moderne Charakteristik der Naturwissenschaft. Die ahnungsvolle Nähe zu naturphilosophischen, oder gar pantheistischen Aussagen, in die einzelne Strömungen der Kabbala geraten, offenbart sich in Sätzen wie den folgenden, die Simon kühn ausspricht: »Hier ist die Arbeit von Mathematikern und Physikern nötig, die Unendliches umfaßt und in den Schriften — 401 —

der Araber, Griechen und Lateiner allenthalben enthalten ist, sei es vom Weltall kündend, von der Zahl, der Schwere und dem Maß, sei es von jeglicher Bewegung und jener Ruhe (Trägheit), die den Dingen essentiell innewohnt und die man ›Natur‹ nennt.« – Es klingt wie ein Stammeln, ein Träumen von künftiger Entwicklung, die im nächsten Jahrhundert mit Galilei zur Tat ansetzte. 2

In Fortführung des einleitenden Gespräches wird die Kabbala zuerst ungenügend als »Empfangnahme durch das Gehör« (ab auditu acceptio) definiert, wobei die schon einmal angemerkte Reuchlinsche Verwechslung der Geheimwissenschaft mit der ›mündlichen Lehre‹ mitspielt (in Wirklichkeit wurde die Kabbala ebenso häufig oder häufiger und folgenreicher durch Handschriften und Bücher als durch Belehrung von Mund zu Mund fortgepflanzt). Dann aber stoßen wir auf eine vollgewichtige Definition: »Es ist nämlich die Kabbala die in Symbolen ausgedrückte Empfangnahme einer göttlichen Offenbarung, die zum Ziel der heilbringenden Kontemplation Gottes und der für sich bestehenden Formen überliefert worden ist. Die durch himmlische Inspiration zu solchem Empfang Erwählten werden mit dem richtigen Namen ›Cabalici‹ genannt; ihre Schüler bezeichnen wir mit dem Terminus ›Cabalaei‹, und jene, die sie irgendwie nachzuahmen versuchen, sind als ›Cabalistae‹ anzusprechen.« – Bei dieser ziemlich willkürlichen, nicht in den Quellen wurzelnden Nomenklatur muß man wohl an Reuchlins Unterscheidung der echten ›Theologen‹ von den Kölner streitsüchtigen und der Wahrheit wenig zugetanen ›Theologisten‹ denken; wobei ›Theologist‹ absichtsvoll an das Hauptthema des platonischen Dialogs ›Sophistes‹ anklingt, in dem (wie auch an— 402 —

derswo bei Platon) den Sophisten viel Böses, Minderwertiges, Lächerliches aufgeladen wird. In hebräischen Texten bietet der gebräuchliche Ausdruck ›mekubál‹ (Kabbalist) keine Handhabe zu solcher Unterscheidung, die übrigens auch Reuchlin nicht konsequent anwendet. Durchaus quellengemäß dagegen sieht Reuchlin die Tatsache, daß die Kabbala und die ihr vorangehende Periode der ›Thronmystik‹ zwei Hauptanliegen kennt: die ›Ereignisse im Anfang‹ (als Wissenschaft, die sich mit der Natur beschäftigt), – und die ›Ereignisse des Wagens‹, das ist: das Wissen um das Wesen der Gottheit. Auf die beiden Bibelstellen (siehe oben: 1. Kapitel der Genesis und 1. Kapitel des Propheten Jecheskel = Ezechiel) wird deutlich angespielt. Gegen die Verächter der Kabbala wendet sich Simon mit wörtlicher Anführung des Witzes von Pico, daß manche Ignoranten ›Kabbala‹ für den Namen eines teuflischen und ketzerischen Menschen halten. »Ich bitte, erwehrt euch des Lachens, wenn ihr könnt«, heißt es im Trialog genau wie bei Pico und im ›Augenspiegel‹. Simon zitiert an dieser Stelle den Grafen nicht, doch rühmt er ihn bald darauf als Bahnbrecher, will ihn auch »bei den Galliern und Allobrogern« persönlich kennengelernt haben, wie er »aus seinem Vaterland vertrieben und von neidischen Menschen in fluchwürdiger Verfolgung heftig aufs schärfste bekämpft wurde, seiner hervorragenden philosophischen Bemühungen und seines edlen Ingeniums wegen«. – Die beabsichtigte Parallele zum Leben Reuchlins ist klar, überall bricht das Autobiographische durch. In weiterer Darstellung der kabbalistischen Lehre führt Simon wieder eine Stelle aus dem Buch ›Portae lucis‹ von Gikatilla an (und zwar in hebräischer wie in lateinischer Sprache), wonach der erste Mensch (Adam primus) durch seine Sünde die »Abstiege (sc. des göttlichen Lichts zur — 403 —

irdischen Welt) zerstört und die Kanäle zerbrochen habe«. »Wenischtabru hacinorót« (Und zerschmettert wurden die Röhren). Was darauf hinweist, daß die spätere kabbalistische Lehre vom »Zerbrechen der Gefäße«, durch welche die heilwirkende Ordnung der zehn Sfirót zumindest vorübergehend schwere Störungen erlitt und seither nach dem ›tikún‹, der entscheidenden ›Verbesserung‹ lechzt, die nur der Fromme durchzuführen berufen ist, – daß diese Lehre in einer Primitivform schon vor dem Auftreten Lurjas (Arisal), des Größten aus dem Wunderreiche dieser Inspirationen, vorhanden oder doch vorbereitend angelegt war. Scholem zählt die Lehre von der schwirát hakelím (dem ›Zerbrechen der Gefäße‹) zu den Hauptpunkten der lurjanischen Mystik. – Lurja (1534–1572) wurde erst zwölf Jahre nach Reuchlins Tod geboren; er hat die hier angedeutete Lehre, allerdings mit ganz neuen und wesentlich reicheren Motivationen vorgetragen. »Welches sind die Bücher, in denen die Kabbala dargelegt ist?« fragen die Gesprächsteilnehmer, der Neupythagoräer Philolaus junior und der Bekenner des Islam, Marranus, die zunächst nur wenig zu Wort gekommen sind. Simon beklagt die Kriege, Überschwemmungen, Verwüstungen, Verfolgungen, durch die in früheren Tagen vieles verlorengegangen ist. Doch auch in unserer Zeit gibt es manche (der aktuelle Hinweis auf Hochstraten und die Seinen meldet sich), die in schändlichem Haß und verabscheuenswerter Mißgunst zu Bücherverbrennungen aufreizen. – Es folgt der Hinweis auf hervorragende Quellenwerke, die den Zeitstürmen zum Trotz sich erhalten haben: die rätselvolle Schrift ›Bahir‹ (Lucidarius), die erst Scholem herausgegeben und eingehend kommentiert hat, ein auch heute noch (im Gegensatz zu seinem Titel, der ›hell, leuchtend‹ bedeutet) schwer verständliches Werk; dann Abraham Alaphia, was wohl Abraham Abulafia lauten soll; auf die Weisen — 404 —

der kleinen spanischen Stadt Gerona, in der ebenso wie vorher in der Provence (wahrscheinlich unter dem Einfluß der christlich-heterodoxen Katharer oder Albigenser) einer der ersten Sammelpunkte der frühen Kabbala sich bildete, wie es dann 300 Jahre später die palästinensische Bergstadt Safed (Sfat) für die Höchstentwicklung der mittelalterlichen, schon in die Zeit Reuchlins und über sie hinausgreifenden Kabbala war. – Weiters führt Simon in dieser Reihe den Ramban oder Rabbi Mosché ben Nachman (Nachmanides) an; und erstaunlicherweise auch den Rambam (Maimonides), wobei er ihm, wie mir scheint, mehr Gerechtigkeit widerfahren läßt als jene, die ihn als ›Aufklärer‹ zurückwiesen. Denn Mosché ben Maimon (Rambam) bringt neben den präzisesten, an Aristoteles geschulten Formulierungen, die später von der nichtjüdischen Hochscholastik fortgebildet worden sind, gleicherweise auch die geheimnisvollsten mystischen Elemente, das ›Prophetische‹. Er war ein wahrhaft ›zweigeleisiger‹ Denker und Seher. Reuchlin-Simon gibt in seinem, mit Angaben nicht kargenden Quellenverzeichnis endlich den ›Alkozer‹ (den Kusari, die Bekehrungsdiskussion des Jehuda Halewi) sowie den unvermeidlichen Magister Joseph, ut ferunt Castiliensis (d. i. Gikatilla) an; von diesem zwei Bücher: außer den schon genannten ›Pforten des Lichts‹ das Hauptwerk ›Der Nußgarten‹ (Hortus nucis, gináth egós), in Anlehnung an die Stelle im Hohenlied, 6. Kapitel, Vers 11, so betitelt. Die Metapher des ›Nußgartens‹ für religiöse Wissenschaft fand ich in einem heute noch lebendigen, noch gesungenen jemenitischen Volkslied wieder, das die jemenitische Sängerin Bracha Zefira mir überliefert hat. Als Sinn dieser reichen kabbalistischen Literatur wird (allzu schematisch und inhaltsarm) die Unterscheidung mehrerer ungleichartiger und ungleichwertiger Welten — 405 —

angegeben, des mundus intellectualis (der überzeitlichen oder, metaphorisch ausgedrückt, ›kommenden Welt‹), und der Sinnenwelt, mundus iste praesens, olám hasé, mundus sensibilis. Die intellektuelle Welt wird auch als Welt der Formen, d. h. der Ideen Platons, in aristotelischer Terminologie als mundus formalis bezeichnet. Jahrhunderte später unterscheidet Kant in gleichem Sinn die Welt der Phänomena und die der Noumena. – Über der materiellen Sinnenwelt und der formalen Ideenwelt erhebt sich die dritte, die eigentliche Welt der Gottheit, mundus informis. Die Grenzen der zweiten Welt können (so lehrt Simon) auch von den Kabbalisten nicht überschritten werden, »es sei denn durch eine Art von unbegreiflichem Einblick, gleichsam auf dem Wege einer momentanen Entrückung, wodurch es uns Kabbalisten, wie wir glauben, nicht unmöglich ist, im Geiste zum dritten Himmel mitgerissen zu werden, wo der Messias alles Niedrigere beherrscht«. Im weiteren werden dann gar vier verschiedene Welten geschildert, wobei Simon (Reuchlin) sich von der DreiWelten-Lehre Picos immer weiter entfernt. »Wie in der menschlichen Welt, die Mikrokosmos genannt wird (ein deutlicher Anklang an Pico und jenen kabbalistischen Spekulationen folgend, die den Urmenschen Adam Kadmon, als Abbildung des Makrokosmos, des Universums zeichnen), die menschliche Seele, der Geist (mens) herrscht, so gebietet der himmlischen Welt ein Engelwesen namens Metatron; die Welt der Engel wird von der Seele des Messias regiert und die höchste, mit nichts vergleichbare Welt von Adonai. – Das Licht oder der Kern des Geistes ist der intellectus agens, das Licht Metatrons ist Schaddai (der Mächtige, ein Attribut Gottes), das Licht der ›Seele des Messias‹ ist Elchai, der lebendige Gott, und das Licht Adonajs ist das Unendliche (oder Ejn-Sof d. h. das, in dem es kein Ende gibt).« Dabei werden die vier Welten nicht etwa — 406 —

als einander beigeordnet vorgestellt, sondern die intelligible Welt faßt die sichtbare Welt der Sinne in sich. Und analog sind die höheren Welten angeordnet. Das Höhere umfaßt und erfaßt das Niedere, wird aber vom Niederen nicht umfaßt und nicht erfaßt. »Wenn also der kabbalistisch Beflissene erlaubterweise seinen Weg zu Gott und den seligen Geistern antritt, so gelangt er doch nicht zu Gott selbst, der in sich ruht und absolut ist, sondern zu jener Erscheinungsform Gottes, die werktätig und Ursache der Dinge ist und sich um ihre Geschöpfe kümmert.« – Man fühlt hier die Beeinflussung durch neuplatonische Ideengänge, die aber in der Kabbala durchaus keinen Fremdkörper bilden. Scholem hat auf die Berührung der jüdischen mystischen Tradition mit den Lehren des Scotus Eriugena ausführlich hingewiesen (›Ursprung und Anfänge der Kabbala‹). Eriugena aber ist weitgehend von Pseudo-Dionysius Areopagita abhängig; dieser von Plotin. Schon bei Plotin wird der Eine oder Gute (das Hen), bei Plato noch die höchste der Ideen, über das Ideenreich hinausgehoben und ist nicht erkennbar. Das Hen ist weder Vernunft noch Gegenstand der Erkenntnis (nicht nus und nicht noetón), sondern frei von diesem Gegensatz und über beide Glieder erhaben. Diese Vorstellung wird bis ins äußerste Paradox vorgetrieben. Gottes Wesen ist, wie Dionysius Areopagita es formuliert, unerkennbar, sogar ihm selbst. »Gott weiß also sich selbst nicht, weiß nicht, was er ist – er ist sich selbst unbegreiflich wie jedem Intellekt.« – Der Nus emaniert eine zweittiefere Stufe; hier erst beginnt die Zweiteilung des Erkennenden und Erkannten, während in Gott noch die Einheit herrscht. Die höchste Stufe bleibt als Dunkelheit bestehen oder, wie sie später immer wieder bezeichnet wurde, als das Nichts. (Böhme, Angelus Silesius; schon vorher, im 13. Jahrhundert, der große Dominikaner Johann Eckhart.) Das Nichts – im Sinne — 407 —

des Nichterkennbaren. Hier hat man sich, wie mir scheint, allzu weit von Plato, dem Urquell der Wahrheit, entfernt. So hat das mystische Nichts, das man weder als Sein noch als Nichtsein auffassen darf, zu vielen Irrwegen und Unklarheiten des Philosophierens Anlaß gegeben. – Der erste überdies, der sich in dieser Kette, sei es auch nur um einen Schritt, von Plato entfernt hat und dessen Wirken meiner Meinung nach die folgenschwerste, vielleicht (trotz des ausgezeichneten Werkes ›Philo, Foundation of Relig. Philos.‹ von H. A. Wolfson, 1948) noch nicht ganz gewürdigten Entwicklungsanregungen gegeben hat, ist Philo von Alexandria. Seine Theorie, daß Gott nicht in Berührung mit der Materie stehe, die ihn beflecken würde, wird von ihm freilich noch mit striktem Maßhalten vorgetragen. Sie geht wohl auf jüdisch-strengmonotheistische Motive zurück. Philo sagt: Nur mit seiner Wirkung, nicht mit seinem Wesen ist Gott in der Welt gegenwärtig. Gott und Welt bleiben getrennt. – Philo unterscheidet Gott, den die Materie nicht verunreinigen darf, von Gottes weltbildender Kraft, die er den ›Logos‹ nennt, den Ort der platonischen Ideen. Der Logos ist nicht ungeworden wie Gott, er ist die in der sinnlich wahrnehmbaren Welt verbreitete, sich offenbarende göttliche Vernunft (Sophia, Weisheit), der erstgeborene Sohn Gottes und für uns, die Unvollkommenen, ein Gott. Wichtigste Ansatzpunkte der christlichen Glaubenstheorie sind also von Philo Judaeus gestiftet (der 25 v. Chr. geboren wurde). Von hier ist freilich ein weiter Weg (aber doch ein Weg) bis zur Statuierung eines Gegensatzes zwischen dem wahren Gott und dem Schöpfergott (Demiurg), wie er als offenbarer Zwiespalt in gewissen Sekten der christlichen und der heidnischen Gnosis sich herausgebildet hat. Die jüdische Mystik hat sich diesem Extrem, das zu Weltfeindschaft (Markion) und erbitterter, manchmal auch mit selt— 408 —

sam kalter Lust vermischter Askese (Basilides) führte, im Zeichen eines richtig verstandenen Monotheismus fast völlig versagt. Es blieb Markion vorbehalten, aus dem Gärungsstoff des angeblich ›jüdischen‹ Demiurgen, der dem wahren Gott entgegengesetzt sei, eine neue (falsche) Auffassung der Heiligen Schrift und das hervorzuarbeiten, was Scholem treffend als ›metaphysischen Antisemitismus‹ definiert. Harnack hat diesem Unfug allzu viel Verständnis entgegengebracht. Es ist bemerkenswert, daß die Vier-Welten-Theorie Reuchlins, von der die vorliegende Betrachtung ausgegangen ist, den ›werktätigen Gott‹ (opifex) durchaus nicht in Gegensatz zum Unendlichen und Unsagbaren, dem Ejn-Sof bringt, wenn sie auch auf die Unterschiedlichkeit beider Erscheinungsformen im neuplatonischen Sinn viel Gewicht legt. Bei dem Eklektiker Numenius aus Apamea (in Syrien), demselben, von dem das berühmte Wort stammt, Platon sei ein griechisch redender Moses (Moyses Attikizon), gibt es den höheren (verborgenen) Gott und den ihm untergeordneten Weltschöpfer (Logos); aber auch der zweite Gott ist durch Teilnahme am ersten gut. Als dritter Gott wird der Kosmos bezeichnet, auch dies nach dem Vorbild Philos, der den Logos als älteren, die Welt als jüngeren Sohn Gottes kennt, der also der eigentliche Schöpfer der christlichen ›Trinität‹ ist. Die allmähliche Verschlechterung des ›zweiten Gottes‹, des Demiurgen, ist ein Werk der heidnischen und christlichen (pessimistischen) Gnostiker, das gerade in dieser Hinsicht auf die optimistische jüdische Gnosis ohne Einfluß geblieben ist. – – Über die höchste Stufe der göttlichen Wesenheit, den deus absconditus oder verborgenen Gott, findet sich anschließend (unter ausdrücklichem Hinweis auf Rabbi Azriels Abhandlung über ›Glauben und Sühne‹) folgende Äußerung Simons (Reuchlins) in unserem Trialog: »Er wird En-soph, — 409 —

das heißt infinitudo (Unendlichkeit) genannt, die die höchste Stufe, an sich dem Verständnis entzogen und unaussagbar ist, die im entferntesten Verborgensein ihrer Göttlichkeit und im unzugänglichen Abgrund des strömenden Lichts sich zurückzieht und verdeckt, so daß man nichts erkennt, was aus ihr hervorgehn möge, – gleichsam die absoluteste Göttlichkeit, ruhend, sich selbst gleich, in sich selbst sich abschließend und verbleibend, nackt, ohne Kleid und ohne irgendeinen Umhang von Nebenumständen, sich nicht ausströmend und sich nicht verbreiternd durch die Güte ihres Glanzes, die ununterscheidbar Sein und Nicht-Sein und alles, was unserer Vernunft als einander gegensätzlich und widerstreitend erscheinen mag, als abgesonderte und freie Einheit auf die einfachste Art umfassend.« Hier folgt der schon erwähnte Hinweis Reuchlins (Simons) auf des Cusanus coincidentia oppositorum. Es ist nicht erstaunlich, daß Reuchlins Bibliothek (wie Preisendanz in der ›Festgabe‹ berichtet) auffallend viele Werke von Neuplatonikern enthielt; so zwei Exemplare des Areopagiten, ferner Ammonius, Maximus Tyrius, Alkinoos und Apollonius von Tyana. 3

Diesem Aufstieg gegenüber, der unzugängliche Regionen des Geistes kühn anvisiert, hat es vielleicht nicht allzu viel zu sagen, daß Reuchlin in der Person des Simon seinen alten, in diesen Kapiteln schon öfters dargestellten Irrtum wiederaufwärmt, demzufolge sich angeblich nur die Kabbala mit der intellektualen Welt befaßt, der Talmud dagegen innerhalb der Grenzen der sensiblen (sinnlich wahrnehmbaren, materiellen) Welt bleibt. Der Talmud leite nur zur ›knechtischen Liebe‹, die Kabbala dagegen zur ›kindlichen Liebe‹. Der Talmud beschränke sich auf die Explika— 410 —

tion des Gesetzes, der 613 Vorschriften, – wobei das reiche poetische, historische, das hinreißend schöne agadische und das nicht selten aufleuchtende mythische Element im Talmud von Reuchlin gar nicht beachtet, gar nicht gewußt wird. So bleibt noch einer der eifrigsten nicht-jüdischen Verteidiger des Judentums (in seiner Epoche gab es keinen wissenderen) weit hinter der Dignität seines Themas zurück. »Nur die Kabbalisten hätten (laut Simon-Reuchlin) eine Neigung zur Kontemplation, befaßten sich mit dem, was sich auf die Ruhe des Gemüts, die Stille, auf die Liebe zu Gott bezöge, wobei sie jener Darstellung des Gesetzes folgen, die durch Symbole den Aufschwung des Geistes zur oberen Welt, zum Göttlichen aufs äußerste antreibt.« – Das einleitende ›nur‹ in diesem Satz ist grundlos, völlig unrichtig. Man braucht ja nur wenige Blicke in den Talmud zu tun, um die vollständige Brüchigkeit all dieser Behauptungen einzusehen. In einem Hauptstück, in den ›Sprüchen der Väter‹, heißt es gleich in den Anfangsversen, Antigones von Socho habe gelehrt: »Seid nicht wie die Knechte, die ihrem Meister um des Lohnes willen dienen, sondern seid wie Knechte, die dem Meister dienen ohne die Bedingung, Lohn zu empfangen.« Besonders eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht die Legende vom Ketzer Elischa ben Abuja, dem Lehrer des berühmten Rabbi Meïr, eines der größten Talmudweisen. Ben Abuja hatte unter dem Ansturm der Verfolgungen durch die Römer, von Verzweiflung ergriffen, den väterlichen Glauben und das Studium der Lehre verlassen. Als er gestorben war, stieg aus seinem Grabe Rauch auf und eine Gottesstimme erklang: »Allen Menschen wird verziehen werden, nur dem Elischa ben Abuja nicht.« Die Freunde des Genannten waren entsetzt, konnten sich in ihrer Niedergeschlagenheit nicht fassen. Denn dieser — 411 —

Elischa war, trotz allem, ein bedeutender Gelehrter, einer der scharfsinnigsten Kenner des Gesetzes gewesen. Endlich nahm einer der Freunde das Wort: »Wie glücklich ist Elischa zu preisen. Er hat jetzt Gelegenheit, Gott völlig uneigennützig, ohne jeden Hinblick auf eine Belohnung zu dienen.« – Doch wozu Tausende von Beispielen häufen! Reuchlin zeigt mit seinen, den Talmud verunglimpfenden Distinktionen immer nur wieder, daß er zwar über die Kabbala recht gut unterrichtet war, aber fast gar keine Kenntnis des Talmud besaß, – welches Manko er übrigens nie abgeleugnet, vielmehr im ›Augenspiegel‹ und anderwärts bereitwillig zugesteht. Und dieser Mann war es, der auf die hartnäckigste Art den Kampf gegen die Verbrennung des Talmud und der andern hebräischen (darunter auch der kabbalistischen) Schriften geführt hat. Fast hat man den Eindruck, als sei Reuchlin in diesen Kampf eingetreten, nicht um den Talmud als solchen zu schützen, sondern um ein Bollwerk im Vorfeld zu halten und damit den Sturm gegen die geliebte Kabbala im ersten Aufkommen ungünstiger Windströmungen zu brechen. Denn die Kabbala liebte er wirklich, fühlte sich ihren träumerischen Bildern und Symbolen im tiefsten seelenverwandt, – nicht etwa weil die Kabbala eine jüdische Lehre, sondern obwohl sie es war. Von seinem kabbalistisch geschulten, interpretativen Wissen Zeugnis gebend findet Reuchlin (immer in der Person Simons) schon im ersten Satz des 1. Buches Mosis (»Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«) im hebräischen Wörtchen et, das grammatisch nichts als die Akkusativform anzeigt, das Gewicht eines Hinweises auf die beiden Welten, die unsichtbare und die sichtbare. Denn es wird mit Alef, dem ersten Buchstaben, und mit Taw, dem letzten Buchstaben, geschrieben. (Man mag darin einen — 412 —

Zusammenhang mit der neutestamentlich-griechischen Formel des ›Alpha und Omega‹ finden, die ja beide im griechischen Alphabet der erste und der letzte Buchstabe sind.) – Gleicherweise sei schon im ersten Buchstaben der Bibel, im B, mit dem das erste Wort der Erzählung ›Bereschit‹ (›Im Anfang‹) beginne, die Zweiheit der beiden Welten angedeutet, denn B ist ja der zweite Buchstabe. Hiezu vergleiche man die von Scholem l. c. 242 angeführte Sohar-Stelle: »Auch der Vorgang der Schöpfung hat an zwei Orten stattgefunden, einem oben und einem unten, und darum beginnt die Thora mit dem Buchstaben Beth, dessen Zahlenwert zwei ist. Der untere Vorgang entspricht dem oberen; der eine brachte die obere Welt hervor, der andere die untere Welt.« Die obere Welt, das ist: die Welt der Sfirót, die untere Welt ist die sichtbare, in der wir leben. – Die abstruse Ableitung des hebräischen Wortes für ›Himmel‹ aus den beiden Gegensätzen ›Feuer‹ und ›Wasser‹ wird aus dem Werk Picos (siehe oben) übernommen. Wir dürfen uns überhaupt nicht wundern, in den weiteren Darstellungen, die Simon bringt, neben vielem Erhabenen und Weisen auch den Bizarrerien einer erregten visionären Phantasie zu begegnen, die sich an das Paradoxe und Ungewohnte halten muß, weil das, was sie als Erlebnis mitzuteilen hat und um dessen adäquaten Ausdruck sie ringt, eben nicht in der üblichen Ebene des Dahinlebens abbildbar, ja im strengsten Sinne überhaupt nicht aussagbar, ein richtiges ineffabile ist. Daher wird zu Symbolen gegriffen, die eine Beziehung nur eben noch knapp andeuten, wie ein in stürmisch dunkler Nacht flüchtig aufblitzendes Licht eine menschliche Behausung andeuten mag, ohne doch eine scharfe klare Behauptung: »Hier sind Menschen, auch hier sind Götter«, voll rechtfertigen zu können. Aber wie ein später geistiger Nachfahr des träumenden schwäbischen Dichters Reuchlin, wie Mörike eine — 413 —

Hymne ›an die Hoffnung‹ anstimmt, so besingt auch unser Trialog die Hoffnung: »Durch sie erheben wir uns mit den Tieren und Rädern des Ezechiel von der Erde. Mit ihnen, wenn sie gehen, wollen wir gehen, mit ihnen, wenn sie stehen, wollen wir stehen.« Doch ehe es zu diesem Loblied auf die Hoffnung kommt, ist die Hölle zu durchwandern. An Simons Hand. Und mit den erschreckten Augen Gikatillas, der sogar zwei Höllen erblickt (duplex gehena); den beiden Paradiesen analog, von denen eines zur zeitlichen körperlichen Welt, eines zur ewigen Welt der Seele gehört. So steht es auch um die Höllen oder die septem habitacula inferorum (die sieben Wohnstätten der Unterwelt), von denen Gehena (= Gehinóm, das Tal Hinom bei Jerusalem, an dem die grauenhaften Schwaden einstiger Kinderopfer haften), ferner ›die Pforten des Todes‹, ›der Brunnen des Untergangs‹, ›der Schlamm der Exkremente‹, ›das Verderben‹ und die ›Fallgrube‹ im Vorbeigehen und durchaus nicht mit der gestaltenden Kraft Dantescher Szenerien, auch nicht mit der irrsinnigen Inbrunst Swedenborgs erwähnt werden. Den Schluß des ersten Buches (von den dreien, aus denen dieses Werk wie das vom ›wundertuenden Wort‹ besteht) bildet eine Lobpreisung der Kabbala und eine Warnung Simons vor ihrem Mißbrauch, vor der Magie, wie solche Vorsichtsmaßregel im Zeitalter Fausts ja von höchster Aktualität war. »Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen, – die Zaubersprüche ganz und gar verlernen«, heißt es nicht grundlos in der grandiosesten Nachbildung jener Zeitperiode. Aus der Lobpreisung Simons führe ich einige Sätze an: »Die Last zeitlicher Bedrängnisse hat also der glückliche Kabbalist abgeworfen und den Sophismen weibischer Dis— 414 —

putationen seine Verachtung bezeigt. So durchbricht er kraft der Kabbala, das heißt auf dem Pfad seines Glaubens und seines Empfangs (höherer Tradition), die Finsternisse und springt in den Glanz hervor, in dem er das Licht erreicht. Und so wandert er von Licht zu Licht … Wenn er also auch noch in der Haut der Sterblichkeit zu Gaste ist, wird er doch ein Gefährte der Engel, wodurch zwischen diesen und ihm innige Freundschaft entsteht.« Unmittelbar schließt sich eine abenteuerliche Bordellgeschichte aus der Römerzeit an. »Rabbi Meïr hat durch den Namen Gottes, der wirkt, auch wenn ihn ein Heide ausspricht, die Schwester seiner Frau aus der Verworfenheit eines Schandhauses gerettet. Sie war mit Gewalt zum Dirnenberuf gebracht worden, doch als das Wort ausgesprochen war, hatte keiner, auch der Stärkste nicht, die Kraft, ihr beizukommen und mit ihr den Beischlaf zu vollziehen.« Da wären wir nun doch bei magischen Bannsprüchen angelangt. Woran sich die Warnungen schließen; denn »der Stab der Kabbalisten verschlingt immer (wie einst der Stab Aharons, 2. Buch Mosis, Kap. 7) die Stäbe der Zauberkünstler«. Der Unterschied von Kabbala und Magie wird umrissen. »Denn die kabbalistische Kunst strebt immer zum Heil der Menschen hin, dagegen wendet sich das Gift magischer Nichtigkeiten immer dem Verderben zu. Dieses indem es die Namen der Finsternisse und der Kakodämonen, jene indem sie die Namen des Lichtes und der seligen Engel beschwört.« Damit ist der Freitagabend, also nach jüdischem Brauch der Sabbat angebrochen. Und Simon verabschiedet sich aufs freundlichste von den beiden, die nach weiterer Belehrung dürsten: »Kommt furchtlos wieder und in der Zwischenzeit erfreut euch guter Gesundheit.«

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Es ist bereits im 3. Kapitel dieses Buches dargestellt worden, wie schwer die beiden, Marranus und Philolaus, diese ihnen lästige Unterbrechung tragen. Wie gerade die Pause ihnen das Bewußtsein des Werts ›ihres‹ Simon (so wird er späterhin genannt) erst richtig deutlich macht, – ein sublimes Kunstmittel des Dichters Reuchlin. Wie sie schließlich den Blick auf das ganze, damals überall blutig leidende Volk Israel leitet und einem gerechteren Urteil über diese vielverkannte Menschengruppe den Weg bahnt, das im damaligen Europa fast gänzlich unerhört war und kaum in einem andern Kopf als dem Reuchlins aufdämmern konnte. Die beiden benützen die unerwünschte Freizeit, um sich über die pythagoräische Lehre auszusprechen. Nun übernimmt Philolaus die Rolle des Belehrenden. Er beginnt mit der Selbstverständlichkeit, daß man die bei Pythagoras erscheinenden Zahlen nicht mit den Zahlen der Rechentafeln, mit den Rechnungen der Kaufleute verwechseln dürfe. Von den Urzahlen des Pythagoras habe auch Hesiod in seiner Theogonie, ferner Orpheus Kunde gegeben. Die Zahl zwei sei die erste Zahl; die Eins sei das Prinzip des Zählens, das Wesen aller Dinge, die Gottheit. (Aus andern Darstellungen des Pythagoräismus ist bekannt, daß die 1 oder Monas als Symbol der Gottheit, die 2 oder Dyas als Symbol der Gegensätzlichkeit, der Materie, des Bösen galt.) Die Dreiheit entstehe aus einer Verbindung des ersten schaffenden Elements mit dem zweiten geschaffenen. In der Vierheit (Tetraktys) liege etwas Heiliges, dem hebräischen Tetragrammaton, dem vierbuchstabigen Gottesnamen Analoges. So sei vielleicht auch der Äskulap, der heilende Gott der Pythagoräer, dem Messias analog, – eine Möglichkeit, über die diskutiert wird. – Die — 416 —

Eins sei Zeus, die Zwei Hera, seine Gemahlin und Schwester. Jenseits der Zehn gebe es nichts, die Reihe der Urzahlen sei zu Ende. Die Zehnzahl gelte allen Völkern, Griechen wie Barbaren als das Zeichen höchster Vollkommenheit, allen mit Ausnahme der Thraker. Ein Zusatz, dessen anthropologische Erklärung wohl noch heute aussteht. Viele Neider hätten in ihren Büchern Lügen über Pythagoras verbreitet. Philolaus glaubt, daß die dem Pythagoras zugeschriebene Lehre von der Metempsychosis, der Seelenwanderung, speziell von der Verwandlung in Tiergestalt, gar nicht ins System passe, sich durchaus nicht mit seinem Grundsatz vertrage, der (hier liegt wohl eine Beeinflussung des Sprechers durch den weit späteren Platonismus vor) die Formen, die einzelnen Genera als unveränderlich statuiere. – Die Seele des Bösen erleide Höllenstrafen, gehe also nicht in Tierleiber über; wofür als Beleg die seltsame Geschichte von einem Spukhaus erzählt wird, das (laut Bericht von Plinius dem Jüngern) ein Philosoph namens Athenodorus aus Tarsus gekauft habe. Hier habe es immerfort gepoltert, und inmitten des unnatürlichen Lärmens habe man die Gestalt eines schaudererregenden Greises gesehen. Im Verfolg dieses ›Beweises‹ wird berichtet: Pythagoras habe gewußt, welche Seele eines Mannes, der vor ihm gelebt habe, in ihm ihre vorübergehende Wohnstätte gefunden habe: die Seele des Euphorbus, des tapferen lanzenkundigen Priestersohnes, eines Troers, der den Patroklos verwundet und dann von Menelaos getötet wird. Pythagoras selbst habe gesagt (autós épha, die Formel, mit der die Autorität des Pythagoras im Kreise seiner Schüler als alle Gegeneinwände niederwerfend geehrt wurde): daß er, obwohl Gesetzgeber des Friedens und Lehrer der stillen Beschaulichkeit, dennoch in sich etwas wie eine Sehnsucht nach dem trojanischen Krieg verspüre. – Eine Bemerkung, — 417 —

zu der sich einem eine ganze Welt von Einfällen und Erwägungen aufdrängen mag. Nicht gerade an dieser Stelle, aber sonst sehr häufig, stellt Philolaus seinen bewunderten Pythagoras als einen Mann dar, der teils von Unwissenden mißverstanden, teils von Übelwollenden absichtlich mißdeutet wurde. Es drängt sich auch hier der Eindruck auf, daß dem Verfasser des Trialogs nicht ganz unlieb war, wenn man durch den transparent werdenden Mythos des Pythagoras die Gestalt des verfolgten Capnion durchschimmern sah. – Die Lehre von der Seelenwanderung wird sehr ausführlich behandelt. Marranus schlägt als Parallele zu dieser (spiritualisierten) Doktrin das Beispiel des Moses vor, der seine Weisheit auf siebzig Männer und in der Kette der Generationen immer weiter übertragen habe. – Vieles wird so dargestellt, wie wahrscheinlicherweise Simon, wäre er anwesend, es vorgetragen hätte. Doch auch der Koran wird zitiert. Dazwischen immer wieder Ausfälle auf die calumniatores, die Verleumder. »Nicht Menschen, sondern Ungeheuer« sind sie. »Ich betrachte sie nicht nur als überheblich, auch als Menschen von der unreinsten Art.« Ganze Seiten lang spricht in durchsichtiger Verkleidung der beleidigte, verbitterte Reuchlin. »Einfach und jenseits aller metaphorischen Sprechweise hinnehmen« – das eben ist falsch! So dürfe man sich diesen Lehren nicht nahen. »Alles ist voll von Rätselsprüchen der uralten Philosophen und Dichter.« Reuchlin ist Mystiker und Philolog gleichzeitig, eine eigenartige Mischung, nur dadurch einigermaßen erklärbar, daß ihm das Wort selber zum eigentlichen Mysterium wird. Oft wie in Platons ›Kratylos‹, wo allerdings zum Schluß die ewig gleichbleibende Erkenntnis einen höheren Rang einnimmt als — 418 —

das heraklitisch fließende Wort. Siehe die geistreiche Abhandlung Schleiermachers über diesen Dialog, die, ohne Anspruch darauf, alle Widersprüchlichkeiten des vielumstrittenen, scherzhaft schillernden, doch grundernsten Werkes zu lösen, ausführt, daß zuletzt nicht die Sprache als Quelle der Erkenntnis betrachtet werden kann, sondern daß die Sprache ein Produkt der Erkenntnis und durch die Erkenntnis bedingt ist. Für die Verteidigung des Rätselstils findet Reuchlin unermüdlich neue Argumente. So das psychologisch einsichtsvolle, eigentlich erotische Diktum, das einen seiner Zeit weit vorauseilenden Reuchlin erblicken läßt: »Frigide petitur, quod facile obtinetur.« (Kühl wird das verlangt, was leicht erreicht wird.) – Oder eine andere Begründung, die Kierkegaards Lob der Ironie vorausnimmt: »Es geschieht manchmal, daß man durch keine Eigentümlichkeit von Worten ausdrücken kann, was wir in langen Umschweifen und durch verschiedentlich zusammengesetzte Rede erklären müßten: würde es nicht als bequemer befunden, ein knappes Rätselwort zu benützen.« So entstand einst durch die Symbole der Pythagoräer »eine unauflösliche Kette der Liebe und der Freundschaft«. – Daß die wundervollen Ausführungen des Philolaus über Pythagoras noch nie ins Deutsche übersetzt worden sind, halte ich für einen besonderen Skandal, innerhalb des allgemeinen Ärgernisses, daß bislang eine deutsche Gesamtausgabe der Reuchlinschen Hauptwerke fehlt. Marranus pflichtet bei: Auch der Himmel Mohammeds, in dem die Gläubigen süßes Wasser, Äpfel und andere Früchte sowie die sittsamsten und reinlichsten Frauen erhalten, welche weder von Menschen noch von Teufeln entjungfert seien, dürfe nicht wörtlich verstanden werden. »Merkst du nicht, Philolaus«, so fragt der wackere Anhänger des Islam in diesem Trialog, der ganz auf die Konkor— 419 —

danz, das Gemeinsame der Weltreligionen ausgerichtet ist, »daß der größere Teil dieser Verheißungen symbolisch ist.« – Mohammed spreche auch von zwei Paradiesen, was an Simons Lehre erinnern soll, die ein himmlisches und ein irdisches Paradies für die unsichtbare, beziehungsweise sichtbare Welt statuiert. Diese befremdliche Lehre und die entsprechende von der doppelten Hölle wird übrigens von Scholem auch im kabbalistischen Hauptwerk des Hochmittelalters, im Sohar, nachgewiesen. Marranus bittet den Philolaus nun auch von der sichtbaren Welt zu sprechen, nachdem er von der unsichtbaren »viel mit wenigen Worten erschlossen habe«. Darauf der Neupythagoräer: Die Elemente der sichtbaren Welt seien Punkt, Linie, Fläche, Raum, was den Zahlen 1–4 entspreche. – Hieran schließt sich eine Art elementarer Physik, die viel Phantastisches vorträgt, sich auf orphische Hymnen beruft, den Sokrates, Platon, Apulejus anführt. Auch den Erasmus von Rotterdam, der als »der redemächtigste Fürst und die süße Sirene unseres Zeitalters« eingeführt wird. Eine Reihe von Weisheitssprüchen der pythagoräischen Schule folgt, unter ihnen auch der Satz, mit dem Platons ›Phaidros‹ schließt: »Den Freunden ist alles gemeinsam«. – Manches wird symbolisch interpretiert, beispielsweise das bekannte Verbot der Pythagoräer, Bohnen zu essen. Dieser Satz bedeute eigentlich einen Befehl, keine Ehrenämter anzustreben. Denn früher habe man die Magistrate durch Bohnen gewählt. – (Man mag die Konstruktion dieses Zusammenhangs nicht eben sehr schlüssig finden.) Ein großes Gleichnis (nach Art der Mythen Platons) schließt das zweite Buch. Man sieht auf einem weiten Feld in der Ferne etwas, was einem Baumstamm oder einer Grenzmarke ähnelt. Bei Annäherung merkt man, daß es — 420 —

ein Mensch ist, mit dem man die üblichen Grußworte wechselt. Durch Meditation macht man sich nachher klar, was das eigentlich ist: ein Mensch, und wodurch er sich von allem unterscheidet, was uns auf Erden begegnet. Durch seine Seele, die nach Vollkommenheit verlangt. – So wird der Betrachter, wie an jener goldenen Kette, die Homer in der Ilias (VIII) beschreibt, bis zum allmächtigen Herrscher der Welt emporgehoben. »Mit göttlicher Hilfe schwinge dich ins Hohe, durch dein Tun wie durch Kontemplation. – Es muß nämlich jeder, der aus diesem unseren Leben ins andere wandert, jedwede Kleidung ablegen und nackt aufbrechen, nicht nur von jeder Materie und von den körperlichen Anhängseln entblößt, sondern fliehend und frei auch von der ganzen Last der Verwirrungen, Erregungen und Leidenschaften, – wie es (ihr wißt es wohl) Lukian von Samosata im Dialog zwischen Charon und Merkur, von allen seinen Werken dem philosophischesten, gelehrt hat. Hast du den Charon nicht gelesen, so lies ihn und eifre ihm nach!« Dreierlei ist an Pythagoras zu empfehlen, dreierlei führe zur höchsten Seligkeit: »Die Arbeit der Tugend, die sich in Aktion äußert. Die Meditation, die durch viel Studium der Wissenschaften genährt wird. Und die Liebe, die uns als unabdingbares Band mit Gott verbindet.« Alle drei Wege zusammen müssen beschritten werden. Einer allein ist nichts. Eines ohne das andere genügt nicht. Oder wie Porphyrius es ausgedrückt hat, diesen Kern aus der Weisheit des Pythagoras herausschälend: »Honeste vivendo, pure contemplando et divine amando.« (Dem Sittengesetz gemäß leben, in Reinheit betrachten und göttlich lieben.) Dies sei das Ziel, das der Kabbalist wie auch Pythagoras setze: »animos hominum in Deos referre, hoc est ad perfectam beatitudinem promovere.« (Die Seelen der Menschen zu den Göttern zurückführen, das heißt: sie zur vollkomme— 421 —

nen Glückseligkeit voranbringen.) Seltsam genug ist vom pythagoräischen Lehrsatz in diesem dem Meister aller Geometrie gewidmeten Lehrgang nur sehr unvollkommen die Rede. Reuchlins Begabung hatte offenbar nur wenig mit dem mathematischen Genie seines Vorbilds Cusanus gemein. 5

Zu Beginn des dritten Buches der ›Kabbalistischen Kunst‹ schaltet sich überraschenderweise eine Nebenfigur, der Schankwirt, ein, um den beiden, Marranus und Philolaus, über die Schikanen zu berichten, denen Reuchlin ausgesetzt sei; der von seinen Feinden angestrebten Bücherverbrennung wegen werde er schon fünf Jahre lang unschuldig verfolgt, was er aber tapfer und ungebrochenen Geistes trage. Nun hätten die Prälaten der römischen Kurie den ›Astarotus‹ (dieser Ehrenname wird dem Oberhaupt der Gegner, also dem Inquisitor Hochstraten verliehen) und seinen Ansturm zurückgewiesen, den Capnion als für einen Freispruch reif befunden, – eine vaticinatio ante eventum, die sich, wie wir bereits wissen, nicht erfüllt hat. – Die beiden begeben sich zum Hause des Simon. Sie rekapitulieren: Die Kabbala ist, um pythagoräisch zu sprechen, nichts anderes als eine ›Theologie in Symbolen‹, in der nicht bloß Buchstaben und Worte als Zeichen für Realitäten stehen, sondern auch Realitäten als Zeichen für andere Realitäten (rerum signa). Simon fügt hinzu, daß den ›lateinisch Gebildeten‹ der Hauptteil der Kabbala unbekannt sei, – außer dem wenigen, was Pico und Paulus Riccius enthüllt hätten (»Ricius quondam noster« – das heißt: einst ein Jude. Der Leibarzt des Kaisers Maximilian war, im Gegensatz zu Loans, dem Leibarzt des kaiserlichen Vaters und Vorgängers, zum — 422 —

Christentum übergetreten.) Und auch dieses wenige werde bis heute mißverstanden. – Simon fürchtet die calumniatores, die Verleumder, wobei er es sich nicht verkneifen kann, durch eine wenig geschmackvolle Wortverdrehung, »wenn dies grammatisch erlaubt ist«, auf die calumnienses (statt Colonienses), die Kölner Gegentruppe, anzuspielen. – Doch nachdem er solcherart dem Erdenrest seiner Seele, die Reuchlins Seele ist, ein Zugeständnis gemacht hat, erhebt er sich zu reineren Aspekten: »So wie wir die Sonne nicht sehen können, wenn sie nicht uns sieht: so können wir die höhere Welt nicht erblicken, wenn nicht auch sie uns im Blick hat. Ist doch unser Auge heller als selbst die Sonne.« (»Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken …«) – Er expliziert weiterhin: Von den fünfzig Pforten der Erkenntnis sind die meisten den Menschen geöffnet. Gott hat alle diese Pforten dem Moses überliefert, nur eine einzige nicht. – Die erkennbaren Dinge teilen sich in fünf Klassen: Elemente, von Elementen Belebtes (elemantata), Seelen, himmlische Körper (Planeten) und außerhimmlisch Unkörperliches. – Der Weg zur Wahrheit führt auf 32 Pfaden der Weisheit, netiwót ha-chochmá, semitae sapientiae. Es sind die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und die 10 Sfirót, die die göttliche Weisheit von der Spitze her bis zur Tiefe unserer Welt hinableiten. Der erste Pfad heißt sséchel muflá oder intelligentia miraculosa, der zweite intelligentia occulta usf. Man zählt 72 Engel, die Zahl 72 ergibt sich aus den 50 Pforten der Erkenntnis und den 22 Buchstaben. Die Namen der Engel werden auf eine seltsame Art aus einer Stelle des 2. Buches Moses (14. Kapitel, Verse 19, 20, 21) gebildet, indem der erste Buchstabe der ersten Zeile mit dem letzten der 2. Zeile und mit dem ersten der 3. Zeile usf. zusammengesetzt und dann der Namen Gottes in der Form Jah oder El hinzugefügt wird. Es sind überdies be— 423 —

sonders bedeutsame Verse; die Spaltung des Meeres für den Durchzug der Juden, die Wolken- und Feuersäule, also Engel oder Boten Gottes sind Gegenstand der drei Verse, die tief ins Wunderbare führen. Es bleibt trotzdem ein höchst kurioses Spiel. Doch eigentlich unerklärlich erscheint es, daß die drei einander folgenden Verse (ich habe nachgezählt) genau die gleiche Anzahl hebräischer Buchstaben, nämlich 72, enthalten. Zufall oder Wunder? – Dieser Reigentanz der Zahlen kann trotz allem wohl nur dann einen Sinn entfalten, wenn man die von Scholem l. c. dargelegte Zahlenmystik Abulafias zum Verständnis heranzieht. Beachtet man diesen Schlüssel nicht, von dem später mehr zu sagen sein wird, so gerät man allzu leicht in die Versuchung, mit den rationalistischen Darstellern der jüdischen Geschichte wie Graetz, Geiger Vater und Sohn usw. in Reuchlin einen Autor zu sehen, der sich leider Gottes im Alter in die Labyrinthe jüdischer ›Zahlenspielerei‹ und kabbalistischer ›Flausen‹ verfangen habe, also nach schönen und geistreich-freisinnigen Anfängen im trüben Unsinn ertrunken sei. Nachzuweisen, daß dies nicht so ist und daß die von Geschlecht zu Geschlecht fortgeschleppte und immer wieder gegen Reuchlin geschleuderte Kritiker-Verleumdung auf mangelnder Kenntnis der Tatsachen beruht, daß (zusammengefaßt) in dem scheinbaren Unsinn und Hexeneinmaleins der kabbalistischen Kunst sehr viel Sinn zu entdecken ist, wenn man eine gewisse Anstrengung nicht scheut: gerade darin habe ich eine der Hauptaufgaben dieses Buches erblickt. – In all dem Operieren mit Zahlen spürt man freilich mehr als einmal die gefährliche Nähe der Magie; doch ein Abgleiten in Magie wird immer wieder vermieden. Wiewohl Sätze wie: »Wenn wir auf diese Art mit den höchsten göttlichen Dingen vertraut werden, wird uns nichts, was gesagt und was getan werden kann, schwierig sein«, schon — 424 —

sehr hart an magische Praktiken anstoßen. – Sehr oft zitiert Reuchlin an dieser Stelle das Buch Jezirá (›Schöpfung‹), einen »Versuch mystischer Kosmogonie und Kosmologie« (Scholem l. c., 81 ff.). »Es gehört irgendwo zwischen das 3. und 6. Jahrhundert … Sein Umfang ist sehr gering – selbst in der längsten Rezension kaum 1600 Worte. Wir haben hier den ersten Versuch spekulativen Denkens in hebräischer Sprache vor uns, der erhalten geblieben ist.« Schon das oben erwähnte Zitat, die Zahl 32 betreffend, hat Reuchlin diesem Buch entnommen, nämlich die Erklärung dieser Zahl aus der Summe der 10 Sfirót, Urzahlen, plus den 22 Buchstaben. »Das Buch Jezirá betrachtet die Buchstaben und deren Kombinationen als kosmische Kräfte« (l. c. 401). Die Sfirót »bedeuten nicht gerade zehn Stufen; so einfach ist die Sache nicht. Sondern ihr Ende ist in ihrem Anfang und ihr Anfang in ihrem Ende, so wie die Flamme zur Kohle gehört – schließe deinen Mund, daß er nicht spreche, und dein Herz, daß es nicht urteile«. Nachdem der Autor die Funktion der Sfirót in der Kosmogonie auseinandergesetzt, das heißt aber eher: in rätselhaften Sprüchen angedeutet hat, erklärt er die geheime Funktion aller einzelnen Buchstaben: »(Gott) ersann sie, bildete sie, stellte sie zusammen, wog sie, vertauschte sie und brachte durch sie die ganze Schöpfung hervor sowie alles, was erschaffen werden soll.« Weiter führt Scholem aus: Der Autor des Buches Jezirá »geht dann dazu über, den geheimen Sinn jedes Buchstabens zu besprechen oder, besser gesagt, in den drei Bereichen der Schöpfung, die er kennt, zu enthüllen: beim Menschen, bei der Welt der Sterne und Planeten und beim rhythmischen Ablauf der Zeit im Jahr. Ideen späthellenistischer, vielleicht sogar schon spätneuplatonischer Zahlenmystik scheinen sich hier mit originell jüdischem Denken über die Geheimnisse der Buchstaben und der Sprache zu — 425 —

verbinden. Auch die Brücke zur Merkaba-Mystik fehlt nicht. Der Autor hat in der Merkaba eine kosmologische Idee gesucht und anscheinend auch gefunden. Denn es scheint, daß für ihn die von Ezechiel beschriebenen ›Chajoth‹ in der Merkaba, das heißt die ›lebenden Wesen‹, die die Merkaba tragen, mit den Sephiroth als ›lebendigen Zahlenwesen‹ zusammenhängen. Es sind in der Tat besondere ›Wesen‹, von denen gesagt wird: »Ihre Erscheinung ist wie ein Blitzlicht, und ihr Ziel ist ohne Ende; Sein Wort lebt in ihnen, wenn sie (von ihm) kommen und wenn sie zurückkehren; auf Seinen Befehl hin eilen sie wie Wirbelwind und werfen sich vor Seinen Thron anbetend nieder.« Die Ableitung mancher Worte ist bis heute nicht ausreichend erklärt, so der Ausdruck ›sfirót blimá«, den Reuchlin mit ›numerationes (Zählungen) belima‹ wiedergibt. Die Hypothese ›bli ma = ohne etwas = abstrakt‹ wirkt künstlich. Die Sfirót erscheinen hier als ein »ganz neues Element, von dem die Weltauffassung der klassischen Merkaba-Wanderer noch nichts weiß«. Um so bedeutsamer werden sie in der späteren mystischen Literatur, in der eigentlichen Kabbala. (Hiervon im folgenden mehr.) Die Sfirót haben höchste Lebendigkeit in sich, sic »verneigen sich ganz wie die Engelscharen der Merkaba-Mystik vor Gottes Thron«. So kommt auch Reuchlin-Simon von den Sfirót übergangslos auf die Engel zu sprechen. Man soll sich häufig der Namen der Engel erinnern, »deren eifriges Gedenken uns zur Liebe Gottes führt, wie wechselseitig diese Liebe zum Gedenken. Denn wen wir leidenschaftlich lieben, an den denken wir häufig, wie es im Sprichwort heißt: Die Liebenden erinnern sich an alles«. (Ich habe diesem ›unendlichen Interesse‹ in meinem Buche ›Diesseits und Jenseits‹ eine Darstellung gewidmet.) – Die Engelnamen führen zur ekstatischen Anbetung. – Die Zahl der Engel (72) wird auf komplizierte Art aus den Tetragrammaton abge— 426 —

leitet. – Man ruft Gott und die Engel an, nicht wie man Sterbliche zu etwas zu bewegen sucht (so machten es die Baalspriester, wofür sie der Spott des Propheten Elias traf – Buch der Könige XVIII), sondern »damit wir unsere Kräfte zur Glut jener Engel steigern«. Hiefür findet Reuchlin einen sehr schönen Vergleich mit der Musik im Gotteshaus (cymbalis et organo). Die Musik erklinge, »nicht weil wir Gott gleichsam wie eine Frau erweichen wollen, auch nicht um die Engel mit unseren schmeichlerischen Wohlklängen zu fangen. Sondern wir sollen, wenn wir Gott und das Göttliche preisen, unserer eigenen Lebensform Geringfügigkeit erkennen, sollen unsere Unterwerfung und unseren Gehorsam aufs demütigste ausdrücken und allen menschlichen Genuß auf die Dinge des Himmels übertragen«. – Aus dem Munde des Juden Simon spricht der Dichter Reuchlin. Mit diesem Poem wird der Sinn aller Riten und Opfer, das prächtige Ornat des Hohenpriesters (und ähnliches) gerechtfertigt. »Wir mögen eine heftige und brennende Liebe zur Göttlichkeit fassen; diese Liebe bewirkt, daß wir für alle Gnaden aufnahmefähig werden.« In diesem Zusammenhang zitiert Simon den ›Kabbalisten‹, der den liber perplexorum (den ›Lehrer der Unschlüssigen‹, moré newuchím) verfaßt hat, den Moses Ägyptius, – also den angeblichen ›Rationalisten‹ Maimonides, worüber, wie schon oben erwähnt, mancher Systematiker der jüdischen Lehre baß erstaunt sein dürfte. Dabei ist diese günstige Einreihung den Werken des Abulafia (vgl. nächster Abschnitt) entnommen, während der Verfasser des Sohar andere Wege einschlug. Glücklicherweise kennt der lebendige Glaube der Gottesliebe nicht jene Grenzlinien und Einteilungen, mit denen die Systeme prunken. Die ganze, hier nur knapp exzerpierte Stelle des Trialogs ist stürmisch. Aufregend wie in Mahlers achter Symphonie die Klänge: »Infirma nostri corporis.« Hier heißt es — 427 —

ähnlich: »Von der schweren Masse des Körpers erdrückt bedürfen wir ja der Hilfen, die den schlaftrunkenen Geist zum Erwachen bringen. Wie das edle Pferd, das, durch den langen Weg ermüdet, vom Schall der Trompete in seiner Kraft aufgerichtet wird, nicht auf dem Platz stehen kann, die Ohren zuckend bewegt.« Um uns hilfreich zu unterstützen, haben die Engel Bezeichnungen, Worte erfunden, »unbekannte, staunenswerte, die kein Ding nach üblichem Sprachgebrauch bezeichnen, sondern zur Verehrung und zur Liebe jener (Engel) hinleiten; denn nicht gemäß der Übereinkunft und dem Gutdünken der Menschen bezeichnen diese Namen, sondern gemäß dem Gutdünken Gottes. – Dies hat euch (NichtJuden) der Graf von Mirandola aus unserem (dem jüdischen) Bereich überliefert.« Jeder Mensch sehe die Engel in anderer Gestalt, – wird sodann gelehrt. Der eine in Wind und Welle, der andere in Edelsteinen, einer in der Energie der Propheten, der andere in der Gestalt der Buchstaben oder im Klang der menschlichen Stimme. – Eine pantheistische, vielmehr (wenn man das sagen darf) panangelische Weltschau eröffnet sich. Simon nennt die Engelnamen, die nach der oben dargelegten Methode aus den drei Pentateuchversen zusammengestellt sind. Es sind zehn Zeilen Engelnamen, die, wie er bei einer späteren Gelegenheit über eine andere Reihe solch himmlischer Namen sagt, barbarice und hispide (borstig, struppig) klingen. »Doch wer würde im Heiligsten das Angenehme und Schmeichlerische erwarten!« Die Reihe beginnt mit Wehujah, Jeliel, Sitael und endet mit Jabamiah, Haiajiel, Mumja. – Die Engel wohnen in der intelligibeln Welt, kümmern sich aber um unsere Sinnenwelt. »Es gibt hier unten keine Blume und keine Pflanze, die nicht einen Gestirns-Engel am Firmament hat, der sie schlägt und zu ihr spricht: Wachse!« — 428 —

Nun setzt Simon die Lehre von den zehn Sfirót auseinander, deren hebräische Namen mit der lateinischen Übersetzung angeführt werden. Sie ist zum Teil unzulänglich. So wenn nécach (Ewigkeit) mit triumphus, hod (Majestät) mit confessio laudis (Lobspruch) wiedergegeben wird. – Als Quelle dient das schon zitierte Buch des Josef Gikatilla ›Portae lucis‹, in der lateinischen Übertragung des ebenfalls schon genannten Paulus Riccius »quondam ex nostris unus, nunc Christianus« (einst einer der unseren, jetzt Christ). – Gikatilla war ein Schüler und eifriger Jünger der von Abraham Abulafia propagierten ›prophetischen‹ Mystik (Scholem, l. c., Seite 213), später geriet er unter den Einfluß des Mosché de León, den Scholem, wie mir scheint, mit zwingenden Gründen als den genialen pseudo-epigraphischen Verfasser des zentralen kabbalistischen Werkes ›Sohar‹ erwiesen hat. Dieses Werk, das ›Buch des Glanzes‹ hat dann über Jahrhunderte hin unter den Juden, wiewohl nicht unbestritten, den Rang eines kanonischen Textes errungen und behauptet, es steht (oder stand doch lange Zeit hindurch) neben der Bibel und dem Talmud. Es führte das Volk durch alle Drangsale hindurch, tröstete in den ärgsten Zeiten der Bedrängnisse. Noch heute ist es für umfängliche Schichten der wesentlichste Tröster und Helfer, das Sinnbild der messianischen Hoffnung; und viele, die kritischer gesinnt sind, sehen in ihm doch eine unersetzliche Schatzkammer der Überlieferung und der denkerisch-emotionalen Schöpferkraft des Judentums. Keinem andern kabbalistischen Werk war solch eine tiefgreifende Wirkung beschieden, die sich allerdings nicht sofort, sondern im Laufe vieler Jahrzehnte einstellte. Der wirkliche Verfasser blieb im Dunkel. Als Autoren oder doch als Tradenten galten, wie im Buch selbst angegeben, die großen Weisen der ersten Römerzeit in Palästina. Die Geschichte des ›Sohar‹, der am Ende des 13. Jahrhunderts bekannt wurde und die — 429 —

Bemühungen der provençalisch-spanischen Richtung in der Kabbala abschließt, ist voll von Spannungen und kaum zu überblickenden Zickzackwegen; manches (durchaus nicht alles) erinnert an die Fälschung der Werke Ossians durch Macpherson oder der ›Königinhofer Handschrift‹ durch Hanka. Auch in der großen Wirkung auf Zeitgenossen und Spätere, auch im dichterischen Wert gibt es Parallelen. Das berühmteste Beispiel, eigene Werke als Arbeiten einer Jahrhunderte zuvor verstorbenen Autorität auszugeben, sind die Bücher eines byzantinischen Anonymen, die den falschen Verfassernamen des frühchristlichen Dionysius Areopagita tragen und größten Einfluß auf die Entwicklung der Philosophie und Theologie erlangt haben. Von den kirchenrechtlichen Fälschungen (Konstantinische Schenkung, Pseudo-Isidora usw.) gar nicht zu reden. Jedenfalls war in der Zeit der Abfassung des ›Sohar‹ (und vorher) die literarische Sitte, eigene Arbeiten unter fremdem Namen ausgehen zu lassen, nichts Ungewöhnliches und galt nicht unbedingt als diffamierend wie in späteren Epochen. Der Verfasser verzichtete ja auf den persönlichen Ruhm und begnügte sich selbstlos mit der nachhaltigen Wirkung, an der er äußerlich keinen Anteil hatte. Man hat allerdings (seit Graetz) dem Sohar-Verfasser auch eigensüchtige Absichten, sogar recht niedriger Art, zugeschrieben. Welcher Große wird nicht angegriffen! Scholem weist diese Vorwürfe zurück und charakterisiert Mosché de León als einen Mann, der sich von der rationalen Gefährdung des Judentums abwandte, und zwar aus glühender Liebe zum Fortbestand einer den ganzen Menschen erfassenden Lehre. So fühlt er sich »mehr und mehr von der jüdischen Mystik, die ihm das echte Herz des Judentums zu bilden scheint, angezogen und versenkt sich ganz in das Geheimnis der Gottheit, wie es die Theosophie der Kabbalisten seiner Zeit verstand. Er mo— 430 —

Titelseite der Erstausgabe des Hutten’schen Triumphgesanges zu Ehren Reuchlins. Hagenau 1519.

delt diese Ideen um, entwickelt sie weiter, wählt aus, fügt hinzu und verbindet sie mit seiner Neigung zu mystischer Ethik, die im Sohar ebenso wie in allen seinen hebräischen Büchern hervortritt. Aber der Theosoph und Moralist hat in dem Maße, in dem der Genius in ihm erwacht, auch jenes Element von Abenteurertum, das in seinem Wesen gesteckt haben muß, entwickelt. Denn daß es ein abenteuerliches Unternehmen war, auf das er sich mit der Abfassung und Propagierung des Midrasch ha-ne’elam und des Sohar eingelassen hat, ist, auch wenn wir ihm Stunden der Inspiration glauben – und ich tue das –, klar. Aber es gab hier für ihn, und ich möchte fast sagen mit Recht, keine Widersprüche. Pseudepigraphie ist noch längst nicht Falsifikation. Die Note des moralisch Verwerflichen, die der Fälschung anhaftet, fehlt in ihr, und das hat sie seit jeher zu einer legitimen Kategorie des religiösen und auch moralisch höchststehenden Schrifttums gemacht. Der Religionshistoriker hat keinen Grund, sich über Pseudepigraphie moralisch zu entrüsten; die Suche nach der Wahrheit hat sich oft genug in abenteuerlichen Formen geäußert, die ganz zu ihr gehören, und Pseudepigraphie war eine davon. Je weiter ein Forscher auf dieser Suche nach Wahrheit vordringt, um so klarer mag ihm bewußt werden, daß schon Jahrhunderte vor ihm sein eigener Weg von anderen beschritten worden sein muß. Dem Schuß von Abenteurertum, der in Moses von Leon gesteckt hat, und seinem Ingenium zugleich verdanken wir eines der merkwürdigsten und erstaunlichsten Bücher der jüdischen und zugleich der mystischen Literatur überhaupt.« – Der Sohar ist aramäisch geschrieben. Doch nicht etwa (so führt Scholem aus) »in einem lebendigen Dialekt, den Simon ben Jochai und seine Freunde in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts nach Christus in Palästina gesprochen haben könnten. Das Aramäisch des Sohar ist eine durch— 432 —

aus künstliche Angelegenheit, eine literarische Sprache, die sich jemand, der Aramäisch nur aus literarischen Dokumenten der jüdischen Literatur kannte, nach seinem eigenen Sinn zurechtgelegt und gestaltet hat … Durch das Gewand des Aramäischen hindurch ist ständig die Sprachwelt des mittelalterlichen Hebräisch zu sehen, und zwar ist es das Hebräisch des 13. Jahrhunderts«. – Von der Lehre des Sohar hat Reuchlin indirekt durch Gikatilla Kenntnis erhalten. ›Portae lucis‹ sind ja ein Spätwerk Gikatillas, also aus einer Zeit, in der er vom Sohar beeinflußt war. Doch auch die Frühperiode Gikatillas, in der dieser die ganz anders geartete Mystik Abulafias entwickelt, hat auf Reuchlin gewaltig gewirkt. Zunächst ist hier unser Gegenstand: der Einfluß der Sfirót-Theorie auf Reuchlin, wie sie von Gikatilla und dem Sohar vorgetragen wird. ›Portae lucis‹ wird von Scholem, dem hervorragenden Kenner der ganzen Bewegung, als »beste Darstellung dieser Symbolik‹ (l. c. 231) bezeichnet. Und es ist geradezu als besonderer Glücksfall anzusehen, daß Reuchlin (resp. sein Sprecher Simon) gerade auf diese Quelle und nicht auf andere gestoßen ist, die trüber fließen. – Die zehn Sfirót nun erscheinen als die zehn Bereiche »göttlicher Manifestation, in denen Gott aus seiner Verborgenheit hervortritt«. Sie sind von Gott nicht zu trennen. »Er ist sie, und sie sind Er.« Sie bilden, im ganzen genommen, seinen ›großen Namen›, den ›entwickelten Namen‹ oder Schem hameforásch (nomen expositorium sententiae Dei – sagt Simon). Im einzelnen sind sie die verschiedenen Aspekte oder Wirkungsweisen Gottes – und heißen: kéther eljón (die höchste Krone der Gottheit, in der ihre Schöpferkräfte noch ungeschieden auftreten), chochmá (Weisheit Gottes), biná (die sich entfaltende Vernunft), chésed (Liebe, Gottesgnade), din (Gericht, richtende Gewalt Gottes) – dort wo sich die Strenge der letzteren — 433 —

sfirá ungehemmt geltend macht, wird die Quelle des Bösen angenommen, das dann als ›sitra achra‹ (die andere Seite) – man vergleiche den großartigen Roman von Alfred Kubin – die Existenz einer Dämonenwelt ermöglicht, – wiewohl auch diese sfirá, in ihren Maßen gehalten, göttliche Ordnung schafft. Der Ausgleich zwischen din und chesed erfolgt durch die sfirá tiféret (Schönheit), die auch rachamím (Gottes Erbarmen) heißt. Nécach (Ewigkeit) und hod (Majestät) sind die nächsten Bereiche, die sich in jessód (Basis) zusammenschließen und in malchut (das Reich Gottes) münden. Das ›Reich‹ wird auch als schechiná (das Einwohnen Gottes, seine Immanenz in allen Dingen und Wesen) bezeichnet. Damit findet der erschütternd verkündende Ausruf des Jesus »Das Reich des Himmels ist herangekommen«, sein Protest gegen die Trübsal und materialistische Herrschaft der Römer, seine Erklärung. – Die Schechina wird später zum Prinzip des Weiblichen, das bislang im Judentum, einer ausgesprochen männlichen Religion, nur geringen Ausdruck fand. Mein Freund, Georg Mordechai Langer, hat in seinem deutsch geschriebenen Buch ›Die Erotik der Kabbala‹ (Prag 1923) auf dies und vieles Verwandte mit besonderem Nachdruck hingedeutet und sich dadurch ein Verdienst erworben, das seinerzeit nicht allseitig erkannt worden ist, jedoch durch sein weiteres Buch ›Neun Pforten‹, das nach seinem Tode aus dem Tschechischen ins Deutsche und Englische übersetzt wurde, immer deutlicher in den Vordergrund tritt. – Seltsamerweise wurden im Bezirk der Sfirót, deren symbolischer Organismus oft als Baum (Weltenbaum) oder als Gestalt des Urmenschen abgebildet wurde, gerade die abgeleiteten, strengeren, gegenüber dem Bösen anfälligeren Bereiche (Äste, Gliedmaßen) der linken Seite als weiblich vorgestellt. So ist ›Liebe‹ ein männlicher, ›Gericht‹ ein weiblicher Bezirk. Strindberg hätte seine Freude an dieser — 434 —

Einteilung gehabt. – Die Schechina oder Gottesglorie wurde als im Westen thronend gedacht. Es verdient in diesem Zusammenhang (Scholem, l. c., 124f.) Beachtung, daß Kafka im ›Schloß‹ dem nur ein einziges Mal genannten, geheimnisvollen Herrn und Herrscher den Eigennamen ›Graf West-West‹ beilegt. Zusammenfassend gibt Scholem l. c. 245 die beste Charakteristik der Welt der Sfirót, die mir je in die Hände gekommen ist: »Diese symbolischen Bereiche in Gott sind eben doch mehr als die Attribute der Theologen oder die Mittelstufen und Hypostasen, die Plotin in seiner Theorie der Emanation zwischen das absolut Seiende und die phänomenale Welt eingeschoben hat. Die Sefiroth der jüdischen Theosophen haben ein eigenes Leben in sich; sie verbinden sich, strahlen ineinander, steigen auf und nieder. Die ›Stufe‹, die ihnen zukommt, ist nicht ein für allemal statisch bestimmt. Obwohl jede ihren idealen Platz in der Hierarchie hat, kann auch die letzte unter Umständen als die erste erscheinen. Es ist in der Tat so etwas wie ein realer Lebensprozeß in Gott, den der Theosoph mit den Augen des Herzens – wenn man so sagen darf – in seinem Auf- und Abfluten wahrnimmt. Es war die Aufgabe der Theoretiker der kabbalistischen Theosophie, die Realität dieses Lebensprozesses mit der monotheistischen Erkenntnis, die den Kabbalisten ebenso teuer war wie jedem Juden, zu vereinigen. Aber es kann kein Zweifel sein, daß hier auch in großartigen Versuchen, wie denen des Moses Cordovero in Safed, immer ein Rest bleibt, der in keiner rationalen Rechnung aufgeht, daß hier Mystiker etwas an Gott gesehen haben, das tiefer liegt als aller Begriff und in Begriffen daher nur in paradoxen Konzeptionen darstellbar wird.« … »Ursprünglich war alles als eine große Einheit konzipiert, und das Leben des Schöpfers wogte ungehemmt und ohne — 435 —

Verkleidungen in das Leben der Geschöpfe hinüber. Alles stand in einem unmittelbaren mystischen Rapport miteinander und hätte ohne Symbole unmittelbar in einer Einheit erkannt werden können. Erst der Fall Adams hat Gott ›transzendent‹ gemacht; erst durch seine kosmischen Auswirkungen sind die Dinge aus ihrer unmittelbaren Verbindung herausgetreten und haben den Schein eines isolierten und unabhängigen Daseins angenommen. Alle Schöpfung war ursprünglich übersinnlicher Natur und hätte ohne das Dazwischentreten des Bösen keine materielle Form erlangt. Es ist daher kein Wunder, daß, wo die Kabbalisten dieser Schule den Stand der messianischen Welt und die selige Erkenntnis der Frommen in der vom Makel der Sünde befreiten Welt beschreiben, dieser ursprüngliche Rapport aller Dinge untereinander wieder in den Vordergrund gerückt wird. Was jetzt nur der Mystiker erkennt, der die Schale durchbricht und zum Kern der Dinge vordringt, das wird dereinst im Stande der Erlösung allgemeines Wissen der Menschheit sein.« Oder, mit den Worten Reuchlin-Simons: »Aber nur jener, der seine Gedanken in seinem Herzen dahin zwingt, daß er alles Fleischliche dahinfahren läßt und über die geistigen Bestandteile des Gesetzes meditiert, jener, sage ich, ist selig und wird mit reinem Herzen Gott sehen.« An anderer Stelle: »Auch mir geschieht etwas Ähnliches, wenn ich nach vollzogener Meditation über alle geschaffenen Wesenheiten, über alles Sein emporsteige und nichts anderes finde als den unendlichen Ozean des Nichts und die ewig gleichbleibende Quelle alles Seins aus dem Abgrund der Dunkelheiten. O Erhabenheit, o Tiefe, o unsere Schwachheit!«

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6

Hier befinden wir uns bereits an der Grenzlinie der Welt Abulafias; wie man wohl überhaupt die Darstellung, die Reuchlin von dem Gedankeninhalt und der Bilderfülle der Kabbala gibt, als eine (nicht ganz geglückte, weil von ihm selbst nicht mit Schärfe wahrgenommene) Vereinigung zweier einander in vielem widersprechenden, dabei ungefähr zu gleicher Zeit (nicht lange vor 1300) entstandenen Systeme der jüdischen Mystik auffassen muß: dem des Abulafia und dem des Buches Sohar (Mosché de León). Scholem hat in glücklicher Weise für diese beiden Welten die beiden Namen ›ekstatische (prophetische) Kabbala‹ und ›theosophische Kabbala‹ eingeführt. Ekstatisch ist die Kabbala Abulafias, theosophisch die des Mosché de León. Uns sind heute beide Wege, der der Ekstase wie der theosophischen Schau, den Geheimnissen des Seins und der Schöpfung zu nahen, beide einigermaßen fremd geworden, – wenn auch lange nicht so fremd, wie die schematischen Atheisten und Propagandaschriftsteller Osteuropas und Chinas in ihrer ›Gottähnlichkeit‹ annehmen, vor der ihnen noch nicht bange geworden ist. – Wir benützen, um zu erkennen, lieber den Pfad der möglichst genauen Beobachtung und des Experiments als den der Erleuchtung und der Intuition. Doch ist hiezu dreierlei anzumerken: Erstens daß das Ziel im Blickfeld, mit dem wir es auf beiden Pfaden der Erkenntnis zu tun haben, wenn und insolange man diese Pfade in Redlichkeit beschreitet, das gleiche ist, selbst dann das gleiche, wenn die Aspekte, in denen es sich darbietet, für den ersten Blick sich sehr verschieden ausnehmen. – Zweitens daß auch die beiden Pfade sehr viel mehr miteinander gemein haben, als man meist annimmt. Denn es gibt keine Beobachtung der Naturvorgänge, die nicht von blitzartigen Erleuchtungen unterstützt — 437 —

oder eingeleitet und immer aufs neue, von Schritt zu Schritt, durch Intuition begleitet würde. Goethes naturwissenschaftliche Schriften, in neuerer Zeit die Portmanns, sind die deutlichsten Belege für dieses Ineinandergreifen der beiden Pfade; doch beileibe nicht die einzigen – ja in jeder echten wissenschaftlichen Untersuchung und Schrift wird man, oft so oder so verhüllt und manchmal auch absichtsvoll verdeckt, die Spuren solch einer Musik der Eingebungen finden. Andrerseits ist auch in den Welten der Intuition viel exakte Bemühung und scharfsinnige Beobachtung anzutreffen, manchmal als Vorstufe der Erkenntnis, manchmal als Niederschlag oder caput mortuum der ins Unendliche verwehenden, keines faßbaren Ausdrucks mehr fähigen Gedanken- und Gefühlsstürme. – Das dritte Gemeinsame der beiden Erkenntnispfade zeigt sich eben darin, daß beide ins Unendliche führen, ins Unenträtselbare, Unabschließbare, dessen sich die Fußgänger auf beiden Pfaden mit verschiedenen Mitteln zu bemächtigen suchen. Die rationale Methode mit dem Werkzeug der Asymptote, der dauernden Annäherung, die nie zur Erreichung wird, mit dem also, was Hegel die ›schlechte Unendlichkeit‹ genannt hat; – die irrationale Methode aber mit dem andern Werkzeug, das in meinem Hauptwerk ›Diesseits und Jenseits‹ immer wieder geschildert wird und wovon es – Goethes ›Ereignis‹ (›Erreichnis‹) in den Schlußversen des Faust – nun wiederum einige Varianten gibt, die mit den ihnen eigenen verschiedentlichen Unvollkommenheiten behaftet sind, jedoch einander ergänzen, wobei freilich das Manko einer (partiellen oder totalen) Unaussprechbarkeit und Nichtmitteilbarkeit mitverarbeitet werden muß, womit jeder auf seine eigene Weise fertig werden mag. Gegen diese Grenze, gegen solche Hindernisse sehen wir Abulafia anstürmen, wohl eines der merkwürdigsten — 438 —

Ingenien aller Zeiten, dessen Bemühungen durch das Medium Gikatillas im Werk Reuchlins, andrerseits neulich durch die Schriften von Adolph Jellinek und G. Scholem direkt uns nahegebracht worden sind. »Abraham ben Samuel Abulafia wurde in Saragossa im Jahre 1240 geboren und verbrachte seine Jugend in Tudela, im Königreich Navarra«, so beginnt Scholem seinen atemraubenden Bericht über das höchst seltsame Leben Abulafias, dem ich hier folge, soweit ich nicht auf die Schriften A. Jellineks zurückgreife. – Mit achtzehn Jahren verlor Abulafia seinen Vater, der auch sein Lehrer war. Er begab sich nach dem Orient, um den sagenhaften Fluß Sambation zu suchen, in dessen Nähe, wie man annahm, die verlorenen zehn Stämme Israels wohnten. (Dieser Fluß spielt auch in der hebräischen Selbstbiographie Rëuwenis eine große Rolle.) Der Kreuzzugskämpfe wegen verließ er Palästina, lebte zehn Jahre in Griechenland und Italien. »Während seines Wanderlebens widmete er sich vor allem philosophischen Studien und blieb von da an ein begeisterter Verehrer der Philosophie des Maimonides, dessen Lehre und die der Mystik für ihn keine sich ausschließenden Gegensätze bedeuteten.« Wie bereits oben dargelegt. – Die Verbindung von Rationalismus und schwärmerischer Ergriffenheit hat er mit Reuchlin gemein. Vielleicht ist es gerade diese Verbindung, die Reuchlin für die Thesen Abulafias so empfänglich machte. – Jedenfalls blieb der Einfluß Abulafias als eines Führers auf die Zeitgenossen wie später auf Reuchlin sehr stark. Dieser Einfluß beruht auf »der seltsamen Verbindung von logischer Schärfe, klarer Darstellungsgabe, echter Tiefe und offensichtlicher Abstrusität, die seine Schriften auszeichnen. Da er der Meinung war, den Weg gefunden zu haben, der die Menschen zur Prophetie und damit zur wahren Gotteserkenntnis führt, suchte er ihn so darzustellen, daß ihm möglichst — 439 —

jeder aufmerksame Leser folgen könne, wenn er nur den Wunsch habe, es wirklich praktisch zu versuchen«. Von seinen zahlreichen Werken wurde aber keines gedruckt, – nach Scholems Ansicht wohl deshalb, weil gerade die Kabbalisten fürchteten, daß die von Abulafia gelehrten Anweisungen zur Meditation von Nichtberufenen mißbraucht werden könnten. In Handschriften aber, die nur für esoterische Kreise bestimmt waren, wurden diese Werke viel verbreitet. Zum Druck befördert wurden erst in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einige kleinere Abhandlungen Abulafias im hebräischen Original (durch A. Jellinek), später andere durch Scholem. – Zum gegensätzlichen Vergleich führt Scholem an, daß das umfangreiche SoharWerk siebzig- bis achtzigmal gedruckt wurde. – Nach Spanien zurückgekehrt, studierte Abulafia kabbalistische Schriften, namentlich das Buch Jezira, das er nebst 12 Kommentaren durcharbeitete. Erst als er 31 Jahre alt war, überkam ihn der prophetische Geist. »Er erlangte die Erkenntnis des wahren Namens Gottes und schaute Visionen, von denen er aber 1285 selbst sagt, daß sie zum Teil von den Dämonen gesandt worden wären, um ihn zu verwirren, so daß er ›wie ein Blinder am Mittag fünfzehn Jahre umhergetappt sei, mit dem Satan zu seiner Rechten‹. Andererseits war er aber von der Wahrheit seiner prophetischen Erkenntnisse völlig überzeugt. Er reiste einige Zeit als Propagandist seiner neuen Lehren in Spanien umher, verließ 1274 zum zweiten- und letztenmal das Land und führte von da an in Italien und Griechenland ein unstetes Wanderleben. Noch in Spanien gelang es ihm, den jungen Josef Gikatilla tief zu beeinflussen, der später einer der hervorragendsten spanischen Kabbalisten wurde.« Dieser Gikatilla ging später zur Schule der Sohar-Anhänger über, so daß seine Werke für Reuchlin die Quelle für die Anschauungen beider, teilweise entgegengesetzter Richtungen — 440 —

werden konnten. (Abulafia erlebte einige Male, daß seine Schüler ihn verließen.) Sein weiterer Weg führte ihn nach Rom, wo er den Papst aufsuchen wollte, um im Namen des Judentums (als Messias) mit ihm zu verhandeln. Der Papst (Nikolaus III.) soll Anweisungen gegeben haben, ihn zu verhaften und vor der Stadt zu verbrennen. Doch als Abulafia in das Stadttor trat, bekam er die Nachricht, daß der Papst plötzlich gestorben sei. Er wurde sodann im Kollegium der Franziskaner achtundzwanzig Tage lang festgehalten, schließlich aber freigelassen (l. c. 138, 139). – Auch hier Analogien zum Schicksal Rëuwenis (so würde ich heute meinen ›Rëubeni‹ richtiger nennen). Rëuweni kam aus dem äußersten Osten der Judenheit, aus Arabien (nicht etwa aus Prag, wie ich es einst, autobiographischen Impulsen folgend, mit dichterischer Freiheit dargestellt habe), – Abulafia dagegen kam aus dem äußersten Westen. Beide aber mit verwandten Intentionen. Diese Spannweite leidenschaftlicher Sehnsucht nach der jüdischen Heimat, zusammen mit unzähligen andern ähnlichen Strebungen und stets mißglückten Unternehmungen, mußte endlich einmal zu einer Staatsgründung führen, sei es auch nur zu einer Vorform, auf deren friedliche Entwicklung aus den gegebenen natürlichen Bedingungen zu spiritualer Blüte wir hoffen. – Reuchlin-Simon hat aus Abulafias Lehre vor allem die Buchstabenkombinatorik und Anwendung von ZahlenPermutationen sowie das Meditieren über Buchstabenund Zahlenkomplexe übernommen, durch die er sich dem ›großen explizierten Namen Gottes‹ als der Welt-Einheit zu nähern und die Vereinigung (dwekut, Anhaften) mit dem Unsagbaren zu vollziehen gedenkt. Als Mittel, zur Ekstase zu gelangen, bieten die vielen Stellen, an denen Simon die einschlägigen Operationen auseinandersetzt, — 441 —

einen absonderlichen und dunklen Anblick. Erst bei wiederholtem Lesen dieser Passagen hellen sie sich einigermaßen auf, gestatten Durchblicke auf das, was eigentlich gemeint ist. – Dabei spricht Simon von einem radikalen Standpunkt aus. Nur die hebräische Sprache, so meint er, eigne sich zu solchen kombinatorischen Operationen. »Wegen der Dürftigkeit der andern Sprachen, die, mit dem Hebräischen, dem Urquell aller Sprachen verglichen, arm sind.« Eine offensichtlich falsche Ansicht, die aber Reuchlins Bekenntnis ist; die Disposition, in solcher Weise beeinflußt zu werden, zeigte er schon bei Beginn seiner Hebräischstudien. Seine Ansicht stützt sich unter anderem darauf, daß nur im Hebräischen das Hilfsmittel der sogenannten ›Gemátria‹ möglich sei, durch das jedem Buchstaben ein bestimmter Zahlenwert zugeschrieben werde. Worte, die den gleichen Zahlenwert ergeben, können dann vertauscht oder sonst in genau umschriebene Beziehungen zueinander gebracht werden, zum Beispiel auch in die Beziehung gegenseitiger Negation. »Weshalb«, so dekretiert Simon, »diese Kunst (Gematria) nicht in das Idiom eines andern Volkes übersetzt werden kann«. – Wie unrichtig dieser Satz ist, sieht man u. a. aus den von Hans Leisegang (›Die Gnosis‹) veröffentlichten Tabellen, die zeigen, daß auch die griechischen Buchstaben präzisen Zahlenwerten entsprechen und daß beispielsweise der Gnostiker Markos den Ausspruch Jesu, er sei das Alpha und das Omega, mit dem Symbol der Taube (des Heiligen Geistes) identifizierte, weil Alpha = 1, Omega = 800 ist, das griechische Wort für Taube (peristera) aber den Zahlenwert 801 habe. Leisegang gibt eine Art Stammtafel dieser Methode, in der die Pythagoräer, die Babylonier vorkommen, die jüdische Kabbala aber eine bescheidene und späte Rolle spielt. Die historische Richtigkeit dieser Stammtafel kann ich nicht beurteilen. — 442 —

Durchaus nicht so selbstbewußt wie sein Jünger Simon spricht sich der originale alte Abulafia aus. Alle Sprachen seien mit dem Hebräischen verwandt, in allen finde der Kabbalist die ›heiligen Buchstaben‹, könne in allen die gleichen Operationen vornehmen. – Abulafia war ein universal gebildeter Mann, dem jeder Chauvinismus fremd blieb; dabei ein strenger, reiner Charakter, der auch auf Christen als Prophet wirkte. Er sagt, »er habe unter diesen (den Nichtjuden) einige gefunden, die mehr an Gott glaubten als die Juden, zu denen Gott ihn zuerst sandte«. Ein bekannter klassischer Ausspruch aus dem Neuen Testament, ein Ausspruch, dessen Zeitlosigkeit die Weltgeschichte überstrahlt. – Daß sich Abulafia durchaus nicht auf den jüdischen Bereich beschränkt hat und mit der scholastischen Literatur seiner Zeitepoche vertraut war, geht u. a. aus einer Bemerkung hervor, die ich in seiner, von Jellinek edierten Schrift fand: ›Die sieben Pfade der Lehre und das Sendschreiben, das Abulafia an Rabbi Abraham (von Messina?) gesandt hat.‹ »Jadáti sche-sot gweret wesót schifchá« (Ich weiß, daß diese – die Religion – die Herrin und diese – die Philosophie – die Magd ist) – die hebräische Variante zur scholastischen »ancilla theologiaec. – Simon (Reuchlin) erläutert wie Abulafia die drei Techniken der Schrifterklärung: die schon oben dargelegte Gematria, das Notariacum oder Notárikon, die Tmurá. Mit der letzteren (= Vertauschung) ist die Versetzung von Buchstaben gemeint. So deduziert Reuchlin aus ›el‹ (Gott) das Wort ›lo‹ (nicht, nichts), wobei im Hebräischen e und o in der vokallosen Schreibweise durch den gleichen Buchstaben, das Alef vertreten sind. Ähnlich N CH und Ch N, – der erste Ausdruck wird als Noach (Noah), der zweite als Chen (Gnade) gelesen. – Das Notarikon wird angewendet, indem man die Anfangsbuchstaben oder Anfangssilben — 443 —

mehrerer Worte aneinanderfügt, und auf diese Art neue Worte bildet. Auch das Wort ›Gestapo‹ (Geheime StaatsPolizei) ist auf diese Weise entstanden; die Nazis haben sich also nicht entblödet, das altjüdische Verfahren des Notarikon zu ›arisieren‹. In Industriefirmen und amtlichen Benennungen wurden wir schon vorher bis zum Überdruß mit Sprößlingen des Notarikoneinfalls gefüttert. – Reuchlin bringt ein Beispiel aus dem 3. Psalm: »Viele stehen gegen mich auf.« ›Viele‹ heißt im Original: ›rabím‹. Dieses Wort wird als Notarikon folgendermaßen analysiert: R soll Romani bedeuten, B Babylonii, J Jones (Griechen), M Medi. – Man mag dies als mnemotechnisches Mittel allenfalls gelten lassen: Wie Abulafia, und ihm folgend Simon den weiten Weg von da, von scheinbar nüchterner Trockenheit aus zur Ekstase zurücklegen, wird noch zu zeichnen sein. Zunächst verschlägt die Darlegung Simons seinen beiden Partnern wenn nicht die Rede, so doch das Verständnis. Philolaus scherzt: »Nun sind wir durch vieles Studium zum Alphabet zurückgelangt.« – Und Marranus: »Es ist klar, wir werden zu Knaben. Das ist, Philolaus, deine pythagoräische Wiedergeburt.« Die einzelnen Buchstaben, repliziert Simon, sind im Sinne von Sokrates, im ›Kratylos‹, unsagbar wichtig. Sie zeigen uns aber auch einzelne Klassen von Engeln an. Was für die ersten Buchstaben des Alphabets ausgeführt wird. An diese Engelchöre schließe sich der ›nus‹ (Geist) des Aristoteles; die weiteren Buchstaben seien den Planetensphären und den vier Elementen beizuordnen. »All dies überantworten wir der astrologischen Fakultät«, meint Simon, wohl nicht in vollem Ernst. Nur der letzte Buchstabe, das taw, weise auf den Menschen hin, auf die höchste aller Kreaturen. All diese bis ins einzelne und Feinste ausgearbeitete Verknüpfung der Buchstaben-Zahlen mit der Welt kosmischer — 444 —

Potenzen mag man doch einigermaßen bizarr und ungenügend finden, wiewohl Simon immer wieder die emotionale Unterströmung der Erlebnisse auf diesem Wege der Kombinationen als die eigentliche Hauptsache hinstellt. Es handelt sich bei Abulafia um »eine rationale Lehre vom Weg zur Ekstase und prophetischen Inspiration«. Er erscheint uns, wenn wir in den Anfängen der Schülerschaft stecken, selbstverständlich wenig verlockend, allzu kahl, allzu abstrakt. Allmählich erst werden wir gewahr, daß gerade in der Abstraktion, im Entfernen aller weltlicher Beimengsel: die Magie, allerdings auch die Hauptschwierigkeit dieses Weges besteht. – Simon zitiert als maßgebend für die Wichtigkeit der Buchstabenmystik ein Buch des Rabbi Jakob Cohen ›Perusch haschém hakadósch‹ (Die Erklärung des heiligen Namens). Jedem Buchstaben wird ein weiter Wirkungs- und Bedeutungs-Bereich zugewiesen. Daran schließen sich Mahnungen Simons: »Der Kabbalist darf nicht nach Weiberart, er muß tapfer glauben – und muß das, was in den Schriften der Väter auf uns gekommen ist, mit einzigartiger Liebe und frischem Sinn, mit heller Freude und mit Zutrauen empfangen. Wer den großen Namen hören will, muß mit Reinheit der Gesinnung, Aufrichtigkeit des Glaubens, Festigkeit der Hoffnung und Feuer der Liebe ausgestattet und geschützt sein. Kein Zorniger, kein Trunkener, kein von verkehrten Sitten Befleckter wird zugelassen. Nur ein friedfertiger Mann, der sanft mit der Kreatur zu reden versteht. – Die Vermischung der 22 Grundlagen (Buchstaben) darf keineswegs bäurisch (rustice) und direkt aufgefaßt werden. Denn all diese Vorgänge sind Geist. Und so steht es im Buch Jezira: Gott schuf mit seinem Geiste jene 22 Buchstaben, drei von ihnen Mütter, sieben zusammengesetzte und zwölf einfache, und jeder von ihnen ist Geist. Dies also ist uns gegeben, damit wir es im Geiste mit ungeheurer Freude betrachten — 445 —

und im Glauben die Mysterien der heiligen Schriften umfangen können. Es ist uns befohlen, die Geheimnisse des Gesetzes Fremden nicht anzuvertrauen; nur dem ›joéz chachám‹, dem weisen Ratgeber, dürfen sie mitgeteilt werden. Und ich bitte euch«, so spricht Simon demütig zu seinen Gesprächspartnern, »ich bitte euch, über diese Vorsichtsmaßregel nicht ärgerlich zu werden. Denn da wir uns in so langdauernder Zerstreuung befinden, hat um der drohenden Gefahr willen die Versammlung der Väter dies bestimmt. Doch ich hoffe, daß ihr solches und manch anderes unserem Volk Eigentümliche gut aufnehmen werdet.« Soweit Simons Bericht, der noch vieles Merkwürdige enthält; einen Exkurs über die Schöpfungstage und die Bewegungen der Gestirne. Der Engel Metatron lenkt alles Körperliche, wozu offenbar die Gestirne nicht gehören. Dann einen Exkurs über die Winde. »Von der Erde bis zum Firmament gibt es keinen leeren Ort, sondern alles ist voll von Formen (Urtypen), von denen einige rein sind, einige der Gnade und des Erbarmens fähig; und tiefer befinden sich viele Bilder der Scheußlichkeit, schädliche Versucher und alle vorüberziehend und in der Luft dahinfliegend.« Nicht sprechen will er über die »schmutzigen und schändlichen Dämonen, die Feinde des menschlichen Geschlechts«, die als »Potenzen der Gegenseite« wirksam sind; denn auch die »andere Seite« hat ja ihre Sfirót. (N. B. bei Breughel, Bosch, im ›Macbeth‹ und anderwärts tummeln sie sich in ihrem ungebrochenen höhnischen und verrückten Zauber. Heutzutage und schon seit langem scheinen diese unreinen Geister vornehmlich in den Versammlungsstätten der Diplomaten, Politiker, Generäle, Propagandaschreiber und anderer Weltbeglücker ihre Zusammenkünfte abzuhalten.) Simon will von ihnen »bei unserem heiligen Unternehmen der Disputation« nicht viel Erwähnens machen. Entfesselt aber, unbeabsichtigter— 446 —

weise, in zwölf konzentrierten Textzeilen einen wahren Hexentanz. – Über alles, was hierhergehört: Mysterien, Talismane, Sigilla, Schutzmittel und Ähnliches habe Costa Ben Luca viel geschrieben. (Eine Spur von diesem Autor habe ich sonst nirgends gefunden.) – Als verwandte Ansichten werden die des Plotinus, Porphyrius und Jamblichus angeführt, ebenso erwähnt Simon die magische Heilpraxis der Christen. Doch alle diese äußeren Operationen seien nur mit göttlichem Beistand durchführbar, nicht durch ›Figuren und Linien‹ ohne solchen Beistand. Das Pentagramma werde auch von den Heiden, speziell bei Lukian erwähnt. Er (Simon) selbst habe dieses Zeichen auf Silbermünzen gesehen, mit der Umschrift ›Gesundheit‹. – Marranus erinnert an das Kreuz, das dem Konstantin mit der bekannten Umschrift »In hoc signo vince« erschienen sei. Die Christen seien imstande, mit diesem Kreuzeszeichen das Meer zu besänftigen, die Winde zu zähmen, Blitze zurückzuweisen. Darauf bemerkt Simon, daß das hebräische Wort für Kreuz (Zelem) denselben Zahlenwert 150 wie ›ez‹ (Holz) habe und daß das Holz gemeint sei, auf dem die eherne Schlange ruhte. Doch Simon selbst schrickt zurück, sobald sich hier die Welt des Mythos auftut. »Mit dem Finger bändige ich meine Lippe. Die Angst des Zeitalters zwingt, beste Freunde, daß ich weniger sage, als ich wollte.« Es handle sich um gefährliche Dinge, über die Menachem Recanati einiges berichtet habe. »Hamaskíl jawín« – die abbrechende Formel, die auch sonst in kabbalistischen Schriften vorkommt: »der Wissende wird verstehen«. Hier bringt Simon auch den Grundsatz, der mir einmal als Inbegriff der viel späteren, okkulten Weisheit Swedenborgs dargeboten worden ist (H. de Geymüller, ›Swedenborg und die übersinnliche Welt‹, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1936): »Wie es unten zugeht, so — 447 —

geschieht es oben.« Scholem gibt (l. c., 126) eine noch ältere Quelle an, die (allerdings stark modifizierte) Konzeptionen der platonischen Ideenlehre aufnimmt. Man findet ja überhaupt, bei Studium der Geschichte der Wissenschaften, daß Grundlehren, die späteren Meistern als deren besonderes Charakteristika zugeschrieben werden, in vielen Fällen Errungenschaften früherer Ingenien sind. Dies bringt einen, richtig überlegt, zur Einsicht, wie wenig wichtig die heute so überhitzt angestrebte individuelle Originalität und wie wesentlich die ewige überhumane Wahrheit sein mag. – Zum Abschluß die Worte Simons, im humanistischen Paradegewand: »Unsere ganze Philosophie (d. h. die Kabbala) liegt darin beschlossen, daß wir durch gutes Leben einen guten Tod gewinnen, daß wir nicht zu einem Beuteanteil des Tartarus und der rächenden Furien werden, die den Menschen aller Hoffnung berauben und dem Bösen mit Bösem heimzahlen.« Nicht ohne Wirrnis, nicht ohne Widersprüche in sich selbst ist die von Simon dargebotene Belehrung, in der wir an wichtigen Nahtstellen Berührungen mit der Theorie Abulafias finden. Abulafia war davon überzeugt, daß das menschliche Bewußtsein von den groben Objekten und Formen der Natur gereinigt werden müsse, um zur Anschauung der göttlichen Dinge und der reinen geistigen Formen zu gelangen (Scholem, l. c., 142 ff.). »Will man das göttliche Leben in der Seele durch die Grenzen ihres natürlichen Lebens hindurchbrechen lassen und doch dabei nicht zugrunde gehen, so muß also ein Weg gesucht werden, auf dem solcher Übergang mit methodischer Sicherheit erreicht werden kann.« … »Abulafia sucht also Formen und Vorstellungsinhalte eines höheren Ranges, mit denen die menschliche Seele imprägniert werden kann und die die tieferen Schichten der Seele nicht — 448 —

mehr verschütten, sondern umgekehrt zur Wirkung bringen. Er sucht sie mit der Anschauung von etwas Geistigem zu befassen, das doch zugleich sich durch sein eigenes Gewicht und seine eigene Bedeutung nicht störend in den Prozeß der Reinigung der Seele einschaltet.« … Er sucht »einen absoluten Gegenstand solcher Meditation, das heißt einen solchen, der zwar den Zweck erfüllt, ein tieferes Leben in der Seele entstehen zu lassen und sie von den natürlichen Formen zu entleeren, der also höchste Bedeutung annehmen kann, selber aber möglichst keine Bedeutung besitzt. Einen solchen Gegenstand glaubt er im hebräischen Alphabet gefunden zu haben, in den Buchstaben der Schriftsprache. Es ist dies also ein unansehnlicher, abstrakter Gegenstand, mit dem die Seele sich beschäftigen soll, denn alles Anschauliche hat ja der Natur der Sache nach selbst einen Sinn und eine eigene Bedeutung. Es genügt Abulafia nicht, obwohl er auch darin schon einen sehr wichtigen Schritt sieht, die Seele mit dem Nachdenken über abstrakte Wahrheiten zu beschäftigen. Denn auch in ihnen bleibt die Seele noch zu sehr an deren spezifischen Sinn gebunden.« … »Und so hat er denn seine Wissenschaft von der mystischen Meditation über die Buchstaben und ihre Kombinationen als Elemente des Namens Gottes entwickelt. Denn das ist ja der eigentliche, wenn ich so sagen darf, der jüdische Sinn solcher Versenkung: der Name Gottes, der etwas Absolutes ist, indem er das verborgene Wesen und die Fülle des höchsten Sinns ausdrückt, der Name, der allem Bedeutung gibt und dennoch selber, an menschlichen Anschauungen gemessen, nichts bedeutet, keinen konkreten Inhalt oder Sinn hat. Wer also, so argumentiert Abulafia, dazu gelangt, diesen großen Namen Gottes, das Unanschaulichste auf der ganzen Welt, zum Gegenstand seiner Versenkung zu machen, ist auf dem richtigen Wege, auf dem das verborgene Leben in der Seele geöffnet werden kann.« — 449 —

Die Verwandtschaft dieser Gedankengänge mit dem, was ich im 2. Band meines Hauptwerks ›Diesseits und Jenseits‹ (Seite 52–55 et passim) darstelle, ist in die Augen springend. An einer späteren Stelle vergleicht Scholem die seltsame Lehre Abulafias mit der Musik. »Mit anderen Worten: es kommt Abulafia darauf an, durch methodische Meditationsübung einen besonderen Zustand neuen Lebens in der Seele des Menschen zu erzeugen, etwas wie eine harmonische Bewegung des reinen Denkens, das sich von jedem sinnlichen Gegenstand abgelöst hat. Schon Abulafia selbst vergleicht diese seine neue Disziplin mit Recht mit der Musik. In der Tat führt eine systematisch geübte Meditationspraxis, wie er sie in seinen Werken lehrt und schildert, zu Empfindungen, die eng mit dem Gefühl zusammenhängen, das musikalische Harmonien, die ja auch wesentlich unanschaulicher Natur sind, im Menschen hervorbringen. Die Wissenschaft der Kombination ist eine Musik des reinen Denkens. Was in der Musik die Tonleiter, das ist hier die Alphabetreihe.« – Wozu ich bemerke, daß die ›musikalischen Harmonien‹ wohl unanschaulich, aber nicht unsinnlich sind. Ferner scheint mir als Vergleichsobjekt weniger die tonale Musik zu passen, als die von Schönberg entwickelte atonale Musik der (tonartfreien) zwölf Töne, deren Kombination freier, allerdings nicht etwa schöner und auch nicht abwechslungs- und kontrastreicher ist als die der tonartgebundenen Töne. – Ein anonymer Schüler Abulafias schrieb 1295 ein Buch »Die Tore der Gerechtigkeit‹, in das er einen autobiographischen Bericht über seine persönlichen Erfahrungen mit der kombinatorischen Lehre des Meisters, sein allmähliches Aufsteigen auf der Skala der Verzückungen, sein »geistiges Fortschreiten von körperlicher zu immer reinerer, vergeistigterer Wahrnehmung« einschiebt; einen — 450 —

Bericht von nicht zu überbietendem Realismus. Auch die Sonderbarkeiten und die geradezu physischen Gefahren dieses Aufstiegs werden genau geschildert. »Gibt es doch in diesem Wissen keine anderen Beweise als die Erfahrung selbst.« … Dieses Werk lag bis vor kurzem nur in vier Handschriften vor, von denen nur zwei den autobiographischen Teil enthalten. Denn derartig persönliche Konfessionen waren im strengen Kreise der Kabbalisten unbeliebt. Scholem hat den hebräischen Text veröffentlicht und bringt nun als einen besonders kostbaren Teil seines hier vielzitierten Standardwerkes (S. 160 ff.) einen ausführlichen Auszug. Dieser beginnt mit den schönen Worten: »Ich, der Ungenannte, der Geringsten einer, habe mein Herz nach den Wegen der Gnade zu geistiger Expansion erforscht.« Man kann diesen Abschnitt, einen Höhepunkt der Aufrichtigkeit in einer wie Mondlandschaft entlegenen Seelenregion, nicht ohne tiefste Erschütterung lesen. Ich zitiere hier nichts. Man muß das Ganze in sich aufnehmen – oder die Hand ganz davon lassen. »Wir reißen uns nur mit Mühe von dir los, Simon«, gestehen die zwei, die sich mit ihm unterreden. »Wir würden wünschen, dich immerfort zu hören. Von den Vielrednern wünschen wir nicht einmal ein einziges Wort.« – Darauf sagt Simon: »Ich kann euch nicht verhehlen, Freunde, was ich beschlossen habe. Morgen verreise ich in weite Ferne, da ich zur Hochzeit eingeladen bin, die meines Vaters Bruder in Regensburg feiert. Es sei zum Guten.« Abschied von amicissimus Simon, virorum optimus. »Lebe wohl, geh, du Zierde, geh, unsere Zierde« rufen sie ihm nach. Ein Schlußwort überantwortet das Werk »Deines demütigen Dieners Capnio« dem »allerheiligsten (Papst), dem zehnten Leo«. Die Beweise für Reuchlins Unschuld in dem bekannten Streit werden gehäuft, nochmals zusam— 451 —

mengefaßt. Leo wird gebeten, dem Verfasser für seine vielen und harten Arbeiten zugunsten des orthodoxen Glaubens Frieden und Seelenruhe zu verschaffen. »Wenn du aber wünschest, daß ich in diesem Leben der Verfolgung durch die Bösen weiterhin ausgesetzt bleibe, so freue ich mich ganz heftig, daß ich würdig erscheine, für unseren Christus so arges Unrecht zu leiden.«

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ELFTES KAPITEL

Die letzten Lebensjahre. Nachruhm, Porträt und Grabstein

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Nach der päpstlichen Verurteilung vom Juli 1520 blieben für Reuchlin noch knapp zwei Lebensjahre. Sie waren voll von Unrast und Leiden. Kurze Zeitabschnitte der Ruhe fehlten allerdings nicht vollständig, und im ganzen gingen die Wellenkämme der Erregung nicht mehr so hoch wie während der langen Jahre des Kölner Streites. Die politischen Wirren, die den Hintergrund für diesen bescheidenen und eher grämlichen Abschluß eines großen Lebens stellen, hatten schon früh begonnen. Schon im Jahre 1514 hatten sich die Bauern Württembergs, die ihrem Haufen den Namen ›Der arme Konrad‹ (›Armer Kunz‹) gaben, gegen Herzog Ulrich erhoben. Diese Kämpfe waren, ähnlich wie der ›Bundschuh‹, Vorläufer des großen Bauernkrieges, der im Gefolge der Reformation und des ›Pfaffenstürmens‹ 1525 (also drei Jahre nach Reuchlins Tod) losbrach. Die Vorwehen aber waren schon lange zuvor spürbar. Auch das Bürgertum nahm an der Bewegung mit großem Kraftaufwand teil. – Zur Zeit des ›Armen Konrad‹ war Reuchlin noch herzoglicher Rat. Später trübte sich die Beziehung zu seinem Landesherrn. Der Herzog hatte Hans von Hutten umgebracht, ein Verbrechen aus Leidenschaft, der Gattin des Ermordeten wegen; der Vetter des Erschlagenen, unser Ulrich von Hutten, forderte in maßlos erbitterten Schriften Rache. Die Mißwirtschaft des Herzogs — 453 —

war im Lande allgemein verhaßt. Mit dem Tode Kaiser Maximilians (Januar 1519) verschärfte sich die Lage. Der Herzog glaubte sich aller Rücksichten auf Recht und Anstand ledig, besetzte die freie, allerdings unter württembergischem Schutz stehende, doch reichsunmittelbare Stadt Reutlingen. Darauf bewaffnete Intervention des Schwäbischen Bundes, dem Reutlingen angehörte. Das Bundesheer unter Führung des Herzogs Wilhelm von Bayern eroberte das ganze Land. Im April fiel Stuttgart, damit war Reuchlins Wohnsitz Kriegsschauplatz geworden. Er hatte, wie er an den jungen Michael Hummelberg, den Verfasser einer griechischen Grammatik und Freund des berühmten Pariser Theologen Jakob Faber, berichtet, aus Angst vor den Brandschatzungen des Krieges seine geliebtesten Bücher »in einen Kerker getan und versteckt«. Nun ist er ohne Bücher, ohne die »Hälfte seiner Seele« (dimidium animae), – so nennt er seine Bibliothek in einem späteren Brief an Pirckheimer. Empfindlich entbehrt er ihrer Hilfe. »Daher erwarte von mir, Hummelbergius, nichts der Musen Würdiges.« »Fuimus Troes« (Einst waren wir Trojaner) seufzt er herzbewegend vergilisch mit dem Flüchtling Äneas. In diesem einen Jahr 1519 wechselte die gute Hauptstadt Stuttgart dreimal den Besitzer. Zuerst hatte es sich dem Bundesheer ergeben; dann kehrte Herzog Ulrich zurück; er hat sich, wie es in dem gleich zu zitierenden deutsch geschriebenen Brief Reuchlins an Pirckheimer heißt, »nach der bündischen Regenten und des Statthalters Abzug mit Macht wieder herzugetan und uns Stuttgarter unversehens bei Nacht überfallen«. Aber schon gegen Ende Dezember schreibt Reuchlin aus Bayern, aus Ingolstadt, das bei ihm bald Ingolstadium, bald »Angelopolis inter Bojos« heißt. Er war mit Erlaubnis des Bayernherzogs Wilhelm I. dahin umgezogen. In Stuttgart aber herrschte aufs neue der Schwäbische Bund. — 454 —

In dem oben erwähnten deutschen Brief an Pirckheimer bemüht sich Reuchlin als ehrlicher Humanist und Pazifist um den Frieden, er appelliert an Pirckheimer, indem er gleichfalls den »Liebhaber des Friedens« anspricht, und bittet ihn um Vermittlung zwischen dem Schwäbischen Bund und dem Herzog Ulrich. »Dem würdigen und hochgelehrten, fürnehmen und weisen Herrn Willibalden Birckhaymer des Rats zu Nörenberg, minem lieben Herrn und Fründt.« – Die abenteuerliche Orthographie dieses frühen Deutsch gebe ich nur andeutungsweise wieder. Merkwürdig ist, daß Reuchlin in der langen Reihe der sich hier anschließenden Briefe an Pirckheimer den Namen des Freundes, wenn der Brief lateinisch abgefaßt ist, meist richtig schreibt, beispielsweise: »Magnifico Norimbergensi Patricio Domino Bilibaldo Pirckheimero, viro docto et eleganti, amico suo.« Zur deutschen Schreibweise gehörte damals offenbar jeweilig eine rechte Portion des Ungeregelt-Mundartlichen. Zur Sache selbst findet Reuchlin Worte der beweglichsten Klage, der eindrucksvollsten, schlichten Friedenssehnsucht: »Würdiger, hochgeehrter, lieber Herre! Mein williger Dienst sei Euch allzeit, teurer günstiger lieber Freund und Bruder. Euch ist unverborgen, wie der löbliche große Bund das Land Württemberg mit großer Mühe, Kosten und Arbeit erobert und kleinen Nutzen dargegen empfahen hat, ausgenommen die Hoffnung, einen ewigen Frieden für sich und die seinen dadurch zu erhalten, damit jedermann in künftiger Zeit mit Ruhe bei dem Seinen bleiben könnte. Denn fürwahr sonst ist nichts allda zu gewinnen gewesen … Man frage (jene), die alles über unser Wesen und des ganzen Landes Württemberg Vermögen, Hab und Gut wissen. Die werden sagen können, daß wir verdorben (ruiniert) sind in Grund und Boden, und haben fürder die Bösen bei uns keinen andern Trost denn ihre Armut, es kann ihnen nicht — 455 —

schlimmer gehen … Ist die Sag’, der Bund werde sich wieder empören, so daß es uns armen im Land Sitzenden gar sehr beschwerlich wäre, falls der Bund uns also aufgegeben hätte und wollte sich wiederum mit unserem Herren in unserem eigen Haar raufen, uns jetzt gewinnen, dann wieder verlieren und voraussichtlich abergewinnen. Dadurch alle frommen Landsassen unverschuldeterweise um Leib und Gut kommen möchten, wiewohl (auch) zu eurem großen Schaden. Deshalb ich hab mit etlichen Namhaften Rede gehabt und wahrlich erfunden: Wann der löbliche Bund einen Willen hätte zum Frieden, so wären gut Wege zu finden, daß unser Herre, Herzog Ulrich, seine Erben und Nachkommen und das Land Württemberg mit dem löblichen Bund und den Reichsstädten einen ewigen Frieden aufrichten, haben und halten möchten, unverbrüchlich und immerwährend. Das sind nit leere Wort, sonder wahrlich wenn der Bund ein Liebhaber des Friedens gern sein wollte, so würde unser Herr Herzog Ulrich in den Bund eintreten getreulich und beistehen brüderlich, daß man Wort und Werk als gleich befinden würde … Auf dies, lieber Herr und Bruder miner, hab ich min Zuflucht zu Euch als zu dem, den ich kenn für einen besonderen frommen und weisen Mann und Liebhaber des Friedens, und bitt Euch mit Fleiß ernstlich, Ihr möget mit Euern Ratsfreunden von dieser Sach Red haben und mir zu verstehen geben, ob etwas daran zu verhoffen wäre, daß wir armen Landsassen möchten dermaßen, wie oben angezeigt, Frieden bekommen. Das wäre den Reichsstädten nutz und gut, meinem Bedünken nach, ebenso wie uns. Denn wenn ihr das Land Württemberg behieltet, so müßtet ihr die jährlichen Schulden und Gülten bezahlen, deren gar viel mehr sind, als das Fürstentum Jahreseinnahmen hat, denn es gehn alle Jahr etwa zehntausend Gulden mehr aus des Landschreibers Seckel als anfallen. Das laßt Euch — 456 —

ein wahres Wort sein und ich glaube wohl, die Borger und Gläubiger, denen man schuldig ist, würden euch viel lieber zum Schuldner haben als unsern Herrn Herzog Ulrich. Ihr vermöchtet es besser und es wird leichter bei euch eingebracht. Ich hätte diese Sach gern auch Herrn Jeronymus Tucher geschrieben, da ich höre, daß er ein gelehrter Mann sei, aber ich kenne ihn noch nicht. Darum welcher gut dazu sei, den brauchet hierin, auf daß ich von Euch möge ein gute Antwort empfahen. Dann will ich nach Eurem Fürhalten, was Euch gut bedünkt, Artikel und Kapitel fleißig und getreulich auf dieser Seite arbeiten, so daß ich hoffe, ihr alle und ich werden von Gott und frommen Leuten Dank empfahen. Hiemit seid Gott befohlen und lasset mich bald ein Antwort wissen, damit beide Parteien desto minder in Unkosten kommen. Gegeben zu Stutgarten Bartholomej ao. 1519 (Unterschrift) mit diser myner aigen Handt.« Das sind wahrlich keine erasmischen Flausen und allgemein-unverbindliche Friedensredensarten, sondern kräftiger Realismus und konkrete Vorschläge, die von Reuchlins gesundem gutem Wollen zeugen und ihm alle Ehre machen. Ungefähr um dieselbe Zeit schrieb Reuchlin noch zwei weitere Briefe, in denen er aufs eindringlichste Melanchthon und Spalatinus um Friedensvermittlung durch den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen anfleht. Die Antwort Pirckheimers fiel nicht gerade zufriedenstellend aus. Es ist allerdings nur ein sehr flüchtiges Konzept von Pirckheimers Hand erhalten, das in der Nürnberger Stadtbibliothek aufbewahrt wird. Vielleicht klang der ausgeführte Brief um einiges inhaltsreicher. In dem Konzept heißt es, daß Pirckheimer über die Meinung des Schwäbischen Bundes nicht unterrichtet sei. Tatsächlich — 457 —

hat ja Nürnberg nie zu diesem Städtebund gehört. Aber Reuchlin dachte nicht so formalistisch. Ihm war es um den Einfluß zu tun, den Nürnberg als die führende, angesehenste und reichste Stadt Deutschlands wohl ausüben konnte. In dieser Hinsicht nun kommt Pirckheimer nicht über ein schönes, aber doch recht nebelhaftes Versprechen hinaus: er wisse, daß der Nürnberger Rat dem Frieden geneigt sei und durchaus bereit sein werde, zur Beruhigung des württembergischen Landes mitzuwirken. Aber auch Herzog Ulrich scheint durchaus nicht im Sinne Reuchlins für den Frieden gewirkt zu haben; im Verlauf der späteren Geschehnisse hat er sich ja auch wirklich gewaltsam wieder in den Besitz seines Landes gesetzt. – Reuchlin ändert bald den Ton, in dem er von ihm gesprochen hat. In dem zitierten deutschen Brief an Pirckheimer wird Ulrich noch »unser natürlicher Herre« genannt. Manche Stellen in diesem Brief klingen so, als ob Reuchlin, wo nicht eben Sympathie für ihn, so doch Anteil an seinem Schicksal empfände. Es sei dem Herzog »merkliche Untreue widerfahren, darum er Landes hat müssen entlaufen«. Wenige Tage später aber, im nächsten Brief an Pirckheimer, wird Ulrich schlechtweg als »Princeps latronum« (Anführer der Räuber) bezeichnet. Die Zustände in Stuttgart schildert Reuchlin mit äußerster Bitternis. »Bei uns herrscht da Pest, herrscht Rache der Sieger, herrscht Neid, Unterdrückung der Guten, Zerrüttung. Zuerst gab es eine Hungersnot, es folgte das Schwert, den Abschluß macht die Seuche. Schlimmer noch: an Parteisucht krankt fast unser ganzes Land, denn die Zahl derer, die von Schulden und Armut gedrückt werden, überragt die Zahl der Wohlhabenden. Und allgemein ist man darauf aus, zu plündern und den Besitz der Reichen an sich zu reißen. Ihren Herzog, der sich gleicher Bestrebungen befliß, haben sie verloren. Daher ihr Wunsch, wie sie diesen Anführer — 458 —

der Räuber wiedergewinnen könnten. Wenn der Bund nicht bedachtsam vorgeht, ist es um alle guten und redlichen Bewohner Württembergs geschehen.« Die schärfste Kritik liegt aber in der Ankündigung Reuchlins, daß er nun nach Ingolstadt flüchtet, »um ein wenig mit Gebildeten umzugehen, solange sich die Zustände (daheim) nicht ändern«. Der Bayernherzog Wilhelm I. hat ihm ermöglicht, so schreibt er dankend, »so schlimmen Wirren zu entfliehen«. 2

Aus Ingolstadt meldet der Leichtverzagte am 21. Dezember 1519 an Pirckheimer: »Der Pest bin ich entflohen; dem Schwert bin ich entflohen; möge ich doch auch dem Hunger entfliehen!« (Fugi pestem, fugi gladium, utimam effugerim famem!) – In seiner wohlstilisierten Konzentration eine Art traurigen Gegenstückes zu Cäsars berühmtem: Veni vidi vici. Wenige Tage später schickt er alte Goldmünzen an Pirckheimer, mit der Bitte, sie in Münzen gültiger Währung umzutauschen. Erst im März werde ihm sein Hausverwalter Geld schicken können, bis dahin müsse er vom Verkauf der alten Erinnerungsstücke leben. – Pirckheimer hilft in großzügiger Weise. Er sendet mehr als die erwartete Summe, fügt auch bei, was der Gelehrte am dringendsten braucht: Schreibmaterial – Federn, Papier, Tinte. Reuchlin dankt in überschwenglichen Worten, zitiert den 120. Psalm, der u. a. die Verse enthält: »Es ergeht dem wohl, der barmherzig ist und darleiht … Er hat ausgestreut, den Armen gegeben. Seine Gerechtigkeit besteht für immer. Sein Horn wird hoch erhoben sein mit Ehren.« – Den Schwestern und Töchtern Pirckheimers übersendet er Geschenke, auch eine von ihm aus dem Griechischen ins Lateini— 459 —

sche übersetzte Schrift des Athanasius, der im vierten nachchristlichen Jahrhundert als Bischof von Alexandria unermüdlich den Arianismus bekämpfte, mehrmals in die Verbannung gehen mußte, dann aber als Kirchenvater anerkannt wurde und den ehrenden Beinamen ›Vater der Orthodoxie‹ erhielt. (Unter den zahlreichen Übersetzungen, die Reuchlin verfaßt hat, findet sich noch eine zweite Schrift des Athanasius, was vielleicht auf eine besondere Vorliebe Reuchlins für diesen Kämpfer der Orthodoxie hinweist.) – Als Gegengabe erbittet Reuchlin Saiten für seine Laute, »die ich in meiner Einsamkeit oft benütze, wenn ich nach dem maßlosen grausamen Sturz meiner Heimat den Zorn meines außer Fassung gebrachten Gemüts zu dämpfen bemüht bin«. Inzwischen läuft das Eingreifen Sickingens zugunsten Reuchlins gegen die Dominikaner. »Spero illum Herculem ponere nequitiis modum.« (Ich hoffe, jener Herkules werde diesen Nichtswürdigkeiten ein Ende bereiten.) Reuchlins Schicksal zeigt wieder einmal hoffnungsvollere Züge. Er wird an der Universität Ingolstadt zum Professor der griechischen und hebräischen Sprache bestellt. Zweihundert Gulden beträgt sein Gehalt. Am 1. März 1520 beginnt er zu lehren. In einem tags zuvor an Pirckheimer abgesandten Brief ironisiert er sich: »Du kannst in mir Dionysios, den abgesetzten Herrscher Siziliens, sehen, der zuletzt in Korinth Kindern Elementarunterricht erteilen mußte.« Doch Reuchlins Stimmung ist auch im Unglück unstabil, sie bessert sich. In einem Brief, der wenige Wochen später an Secerius abgeht (Johann Setzer, der gelegentlich als Dichter, später als Verleger hervorgetreten ist, den ich auch am Anfang meines 10. Kapitels als Herausgeber von Reuchlins Kabbala erwähnte, war der Schwiegersohn von Reuchlins wichtigstem Drucker, Thomas Anshelm), vergleicht sich zwar Reuchlin nochmals mit dem Schul— 460 —

lehrer Dionysos, dem vertriebenen Tyrannen, – aber nur in negativem Sinn, um den Unterschied hervorzuheben. Dionysos habe als Exulant aus Armut um Tageslohn unterrichtet. Er dagegen sei weder ohne Freunde noch ohne Geldmittel, noch ohne Vaterland, sondern »dem Katalog meiner Freunde füge ich täglich eine unbegrenzte Zahl zu«. Er spricht sich nach echter Humanistenart pompös über seine Lehrtätigkeit, über die nahezu vierhundert Schüler aus, die er täglich im Griechischen (Xenophon) und Hebräischen unterrichte. Er ist wieder von jugendfrischem Arbeitseifer erfüllt, hat drei Werke von Xenophon durchgesehen, die er unter Mithilfe des Secerius in der Anshelmischen Offizin gedruckt zu sehen wünscht, – »damit meine Hörer, deren Zahl gewaltig ist und von Tag zu Tag wächst, jeder für sich ein eigenes Buch habe und meinen Vorlesungen folgen kann, sowie auch zum Nutzen der Studierenden in der ganzen Welt.« Im Mai zahlt er dem Freunde Pirckheimer pünktlich die geliehenen 30 Goldgulden zurück und kauft bei einem Nürnberger Buchhändler für 11 Gulden eine hebräische Bibel und das berühmte griechische Glossar des Alexandriners Hesychios. – Er bittet Pirckheimer um Nachricht, ob das Geld dort eingelangt sei, denn »vorläufig habe ich Angst vor den in deiner Gegend eingerissenen Unsitten«; eine Bemerkung, die darauf hindeutet, daß Reuchlin von den gerade damals beginnenden Unruhen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Reformationszeit alles andere als entzückt war. – In Ingolstadt wohnte Reuchlin im Hause des Theologieprofessors Johann Eck (Johann Mayr von Eck), der zu den unversöhnlichsten Gegnern Luthers gehörte. – Dabei war dieser anfangs mit Luther sogar befreundet gewesen. Noch kurz vor der Leipziger Disputation mit Eck, die im Juni und Juli 1519 zwanzig Tage lang andauerte, schrieb — 461 —

Luther von seinem Gegner als »Eccius noster, eruditissimus et ingeniosissimus vir« (im Lateinstil des jungen Luther gibt es viele Superlative). In einem andern Brief erwähnt er dessen Schrift ›Obelisci‹, die gegen seine (Luthers) Thesen gerichtet war, und hebt wieder die hohe Bildung des Mannes hervor, »der mir durch große und erst neulich geschlossene Freundschaft verbunden ist«. Aber die Disputation in Leipzig benimmt ihm wohl alle Illusionen über die Vereinbarkeit der Meinung Ecks mit seinen Thesen, er geht aus diesem Kampf nicht unlädiert, durchaus nicht als Sieger hervor und ist froh, daß die auf seinen Wunsch hin zum Schiedsrichteramt mitberufene Universität Erfurt von einem Urteil absteht. Von da an ist Eck im antilutherischen Sinn unermüdlich tätig, reist nach Rom und unterstützt die Bestrebungen, die auf Veröffentlichung einer päpstlichen Bannbulle gegen den aufrührerischen Mönch hinarbeiten. Die Bulle wird ausgefertigt. »Nach dem, was vorhergegangen, war der Kirche, wollte sie sich nicht selbst aufgeben, nichts übrig geblieben, als zu diesem äußersten Mittel zu greifen.« (Kampschulte, l. c.) »Getragen von der nationalen Opposition, unter dem rauschenden Beifall der Humanisten hatte Luther in Predigten, Streitschriften und Briefen eine kirchliche Lehre nach der andern angegriffen.« – Anfangs war sein Abscheu vor dem ›Ablaßhandel‹ der Kampf eines in sich spürenden Mystikers gewesen, der mit letztem Ernst nach Reinheit und Gottes Gnade strebt, das Ringen beleidigter Innigkeit und Innerlichkeit. Aber bald geriet Luther (anfangs ohne es zu wissen oder richtig einzuschätzen) in das Geleise der Nationalisten, die wie z. B. Hutten im Ablaß vor allem eine ungerechte Besteuerung Deutschlands durch römische Arglist und Heuchelei erblickten und gegen diese Schmach (so empfanden sie den Tatbestand) losdonnerten. Die religiösen Motive Luthers vereinten — 462 —

sich unbewußt, fast unmerklich, mit solchen sehr materieller, finanzpolitischer Natur an mächtigen Fürstenhöfen, andrerseits auch mit der Abneigung einiger Universitäten gegen die alte Scholastik. Nannte doch Luther schon 1516 den (allgemein mißverstandenen) Aristoteles einen Schauspieler (histrio), einen Proteus, einen Teufel … gelegentlich einmal auch einen Esel. All dies zu angeblicher Ehre des Gotteswortes und seiner ausschließlichen Geltung, wie Luther sie (übrigens philosophisch fehlerhaft, nämlich mit unbedingter Leugnung der menschlichen Willensfreiheit von ihrer Wurzel aus) auffaßte und leidenschaftlich predigte. Die alleinige Rechtfertigung durch den Glauben, nicht durch Taten und Werke wurde ihm die wichtigste Doktrin. Die Humanisten verfolgten bei ihrer Ablehnung der Scholastik eine ganz andere Tendenz; aber zunächst floß jetzt alles in trübem Wirbel zusammen, wirkte gemeinsam gegen das, was man für überlebt ansah. Die Reformation siegte, zumindest in diesem ersten Ansturm. Luthers Sprache (Kampschulte l. c.) »wurde immer verwegener, seine kirchlichen Umsturzgedanken immer radikaler; schon im Februar 1520 fing er an, von dem Antichrist zu sprechen, der in Rom seinen Sitz habe. War somit jener Schritt des Papstes (sc. die Erlassung der Bulle) vollkommen gerechtfertigt, muß sogar der in dem päpstlichen Schreiben herrschende Ton als ein verhältnismäßig milder bezeichnet werden, so war es doch ein nicht zu leugnender Mißgriff, daß Luthers persönliche Gegner (sc. Eck) mit der Publikation desselben in einem großen Teil von Deutschland beauftragt wurden.« – Die weiteren Ereignisse sind bekannt, sie führten dazu, daß Luther am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor von Wittenberg die päpstliche Bulle nebst dem Gesetzbuch des kanonischen Rechts (die Dekretaliensammlung) verbrannte. »Hoch vonnöten wäre es«, äußerte er des andern Tages vor seinen Zuhörern, »daß der — 463 —

Papst, das ist der römische Stuhl samt allen seinen Lehren und Greueln, verbrannt würde.« Damit erreichte die Reformationsbewegung einen ihrer ersten Höhe- und Merkpunkte. Der nächste war Luthers furchtloses Auftreten im April 1521 vor Kaiser Karl V. und den auf dem Reichstag zu Worms versammelten Fürsten und Führern Deutschlands, wobei schon der größere Teil der deutschen Nation für ihn Partei nahm und ihn stützte. Eck aber war in jener Zeit der bestgehaßte Mann Deutschlands, soweit es nicht noch katholisch geblieben war. In Leipzig geriet er in Lebensgefahr. In Erfurt, wohin er gleichfalls zum Zweck der Bullenverkündigung gekommen war, wurde er von den ergrimmten Studenten in seiner Wohnung belagert. Die akademischen Behörden selbst hatten durch öffentlichen Anschlag alle aufgefordert, sich zu erheben, »denen die göttliche Wahrheit und das Heil ihrer Seelen am Herzen liege«. Sie sollten »Christi Wort mannhaft verteidigen und den wütenden Verleumdern Luthers mit Händen und Füßen widerstreiten«. – »Zum Anschlagen der Bulle scheint es gar nicht gekommen zu sein. Die gedruckten Exemplare der Bulle wurden dem Buchdrucker geraubt, in Stücke zerrissen, beschimpft und ins Wasser geworfen.« Unter Benutzung der Äquivokation, laut der ›bulla‹ auch ›Blase‹ bedeutet, brüllte man: »Bulla est, in aqua natet.« (Eine Blase ist es, möge sie im Wasser schwimmen.) – Pirckheimer aber, Reuchlins Freund, veröffentlichte anonym, wie es damals gang und gäbe war, eine derbe satirische Schrift ›Eccius dedolatus‹ (Der abgehobelte Eck), in der er als Kenner und Nachahmer des Lukianos seinen Hohn über Eck ergießt. Der wird als kranker Trunkenbold und Humanistenfeind hingestellt. Er schickt, da er sich von allen verlassen fühlt, eine Hexe als Botin zu den Theologen nach Leipzig, um Hilfe zu holen. Den Arzt, der sich einem herbeigezauberten Bock an den Schwanz — 464 —

hängen muß, bringt die Hexe aus Leipzig zur Stelle, es begibt sich am Krankenbett ein sarkastisches Beichtehören, dann eine Art ›Narrenschneiden‹, in dem Eck von sieben Männern so lange geprügelt wird, bis alle Ecken und Kanten von ihm abfallen und alle Laster, Sophismen, Syllogismen, der kanonische Doktorhut, nebst Stolz, Neid, Heuchelei, Schwelgerei wie böse Geister von ihm ausfahren. Zum Schluß fühlt sich Eck, aus tiefem Schlaf erwachend, eigentlich ganz wohl und bittet nur, daß man Hutten und den »vermaledeiten Wittenberger Poeten« nichts von dem Geschehenen mitteilen möge. – Und gerade bei diesem Johann Eck nahm Reuchlin in Ingolstadt Wohnung! Das dürfte wohl kein bloßer Zufall gewesen sein. Reuchlin wollte vielleicht zeigen, daß seine Stellung streng-kirchlich, katholisch, dem revolutionären Wirken Luthers strikt entgegengesetzt war. Er scheint Freundschaft mit Eck geschlossen zu haben; zumindest zeigt sich, daß Eck seine Vorlesungen eifrig besuchte. Denn in der Wiener Hofbibliothek befindet sich eine Epitome, ein Auszug aus einem Kolleg über die Grammatik des Kimchi, von Capnion in Ingolstadt gelesen und von Eck als Hörer mitgeschrieben. (Geiger, l. c.) – Fast alle Humanisten waren damals zu Luther übergeschwenkt, auch der neutralistische Erasmus, der hochangesehene Pirckheimer, und der stille Mutian sowie dessen Schule wie Crotus Rubeanus, Petrejus, Cordus, Eoban Hesse. – Es ist viel darüber gefabelt worden, daß auch Reuchlin ein Anhänger oder doch ein Vorläufer der Reformation war. Aber ist diese Legende auch nicht auszurotten, ist sie nicht auf das genau begrenzte Maß zu reduzieren, das Reuchlin, seine Hebräischstudien, sein Griechisch, sein der Wahrheit aufgeschlossener Geist mit jedem, berechtigten Neuerungen und Verbesserungen nicht abgeneigten Streben gemein hatten: so muß doch jeder, der die Geschichte jener — 465 —

geistig und physisch wilden Zeiten mit möglichster Objektivität zu erfassen sucht, zu dem Schlusse kommen, daß gerade Reuchlin der einzige Humanist war und geblieben ist, der der Propaganda des Zerstörens einen eisernen, mit der sonstigen Milde und Weichheit seines Charakters fast unvereinbar scheinenden, tief instinktiven Widerstand entgegensetzte. Wohl liegt in jedem Neuaufbau auch ein Keim des Zerstörens notwendig mitenthalten. Doch die Reformation in ihrem Sturm und Drang, vor allem Luther selbst, schritt von Anfang an über manche heilsame Grenze hinaus. Wobei die vielerorts auf katholischer Seite herrschende Intoleranz (Hochstraten, die Kölner usw.) nicht übersehen werden soll. Auch Eck hat sich ja später durch ein antisemitisches Machwerk ausgezeichnet: ›Ains Judenbüchlins Verlegung: drin ain Christ, gantzer Christenhait zu schmach, will, es geschehe den Juden unrecht in bezüchtigung der Christenkinder mordt.‹ (Ingolstadt 1541. – ›Verlegung‹ ist als ›Widerlegung‹ zu übersetzen.) Und sogar der Besonnenste von allen, Mutian, schreibt, verarmt und seelisch gebrochen, von den Ausschreitungen der Reformation angewidert, an den Kurfürsten Friedrich von Sachsen, er habe in Erfahrung gebracht, daß die Reichsstädte durch geheime Ränke und Listen unter Vorspiegelung evangelischer Lehren und unter Mitwirkung der Juden (adjuvantibus Judaeis) die fürstlichen und vornehmen Familien, die Erzbistümer und alle Fürstenmacht vertilgen und Volksherrschaft, Demokratie nach Vorbild der alten Griechen einführen wollen. – Das klagt Mutian während des großen Bauernaufstandes 1525. Einige Jahre später ergießt sich von der Gegenseite, von Luther her brutalstes Zornwort gegen die Juden, die ewigen Prügelknaben der Weltgeschichte in allen Parteizwistigkeiten der Völker – das wehrlose, schutzlose, allen Angriffen ausgesetzte ›Volk der Mäuse‹ (Kafka) – bis zur politischen Befreiung Israels — 466 —

in unseren Tagen, in denen durch Wiedererlangung einer, sei es vorläufig auch noch so gefährdeten und umstrittenen Souveränität, zumindest ein erheblicher Teil dieser wehrlosen ›Mäusehaftigkeit‹ abgestreift wird. – Luther hatte sich 1518 an Reuchlin gewandt und ihn seiner Ergebenheit versichert. In aller Bescheidenheit, damals noch Anfänger, schilt er sich selbst, nennt sich frech (impudens), da er so familiär, ohne ehrenbezeugende Vorrede ihn anzureden wagt. »Verum facit hoc animus in te officiosissimus etc.« heißt es mit der charakteristischen Vorliebe für Superlative. (In Wahrheit wird solches durch meine dir besonders ergebene Gesinnung bewirkt usw.) Luther preist Reuchlin als seinen Meister, als Vorgänger im Kampf gegen die Mißbräuche der Kirche. Was wohl zum Entstehen der oben kritisierten AnhängerschaftsLegende Anlaß gegeben hat. – Aber man vergißt, daß Reuchlin auf diesen schönen Brief nicht geantwortet, überhaupt niemals an Luther geschrieben hat, obwohl er sonst derartig schmeichelhafte Schreiben nicht unbegrüßt zu lassen pflegte. – Auch an Erasmus und Mutian, die neben Reuchlin führenden Humanisten, hat Luther ganz ähnliche Briefe (sogar im Wortlaut ähnlich) gerichtet, die von Bescheidenheit, ja von Masochismus geradezu triefen (z. B. an Erasmus: »Doch ich bin dumm, daß ich mich dir, einem so großen Mann, mit so ungewaschenen Händen und ohne Vorrede der Ehrerbietung nähere, als seist du mein ›familiarissimus‹«). Aber Erasmus und Mutian haben freundlich geantwortet, Briefwechsel hatten sich entsponnen, deren Abschlüsse allerdings viele Jahre später, in beiden Fällen negativ ausfielen, – wie überhaupt das Liebäugeln der Humanisten mit den Evangelischen nur eine Zeitlang eine gewisse Schein-Parallelität der zwei Richtungen bewirken konnte. Späterhin aber, als die Reformation zu Gewalttaten, Plünderungen, Aufständen führte, — 467 —

kehrten sehr viele Humanisten wie Mutian, Pirckheimer usw. erschreckt und reuig zu den alten Ordnungen zurück. Am fundiertesten vollzog Erasmus die Korrektur und Abkehr in seiner Schrift über die Willensfreiheit ›De libero arbitrio diatriba‹; und hier ist nun endlich eine Leistung des Rotterdamers, die ich vorbehaltlos anerkennen darf, – wie ich Luthers von Schopenhauer so hochgehaltene Gegenschrift über die Willensunfreiheit ›De servo arbitrio‹ vorbehaltlos verwerfen muß, – unbeschadet des Respekts, den ich für den jungen Luther als Mystiker und selbständig suchenden, sei es auch irrenden Philosophen habe. Über diesen Punkt siehe oben im 6. Kapitel, Abschnitt 4. – Daß die zum Teil sehr diffizilen ideologischen Unterschiede zwischen der humanistischen und reformatorischen Richtung von den Zeitgenossen und eine Spanne Zeit lang auch von den Nächstbeteiligten bona fide nicht bemerkt wurden, wirkte verhängnisvoll, ja tragisch, und sollte für immer, aber vor allem auch heute zu schärferem und redlicherem Durchdenken der Probleme an der Grenze der menschlichen Existenz mahnen. Wie dem auch sei: damals ließen sich viele eine Zeitlang fortreißen, kehrten dann um, zum Teil in spektakulärster Art wie der jammernde, materieller Not preisgegebene Mutian. Oder Eoban Hesse, lange Jahre ein Herold Luthers, später in seinem Dialog ›Melänus‹ die Lehre von der »menschlichen Schwachheit« verspottend, die zur Rechtfertigung aller bösen Triebe mißbraucht werden kann. Im Melänus wird satirischerweise sogar die ärztliche Kunst als Menschen-Übergriff getadelt. Nur von Gott dürfe der Mensch in Leibesnöten Hilfe und Heilung erwarten. – Lese ich so amüsant-extreme Formulierungen, so komme ich immer wieder auf die Wichtigkeit meiner Unterscheidung von edlem (unbehebbarem) und unedlem (behebbarem) Unglück zurück, die ich wiederholt, zuletzt in meiner Autobiographie ›Streit— 468 —

bares Leben‹ dargestellt habe. Und auf meines Freundes Felix Weltsch ›Wagnis der Mitte‹. Reuchlin hatte nicht umzuschwenken, hatte nichts zurückzunehmen, war (um es mit einem vulgären Ausdruck klar zu sagen) niemals auf Luther hereingefallen. Er war, bei all seiner Kritik an vielen Mißbräuchen der Kirche, stets im alten Sinn gläubig geblieben. Gegen Luther, der sich seinen ›Nachfolger‹ nannte, hatte er sich von Anfang an ablehnend verhalten, der neuen Lehre niemals von Grund aus getraut, nie zu ›Pecca fortiter‹ (Sündige nur tapfer) und dem allein rechtfertigenden Glauben gehalten. Nicht nur die Nicht-Beantwortung des so einladenden Lutherbriefes beweist das. Er hat Luther auch nur ein einziges Mal einen knappen Gruß bestellen lassen, »ihm und den andern Freunden« in Wittenberg, wobei er charakteristischerweise Luthers Humanistennamen Martinus Eleutherius benützt. Und dieser Gruß ist überdies durch das brennende Interesse Reuchlins an der Friedensvermittlung (Herzog Ulrich, Schwäbischer Bund) bedingt. Luther dagegen hatte um Reuchlin bedingungslos geworben, wie um Mutian, wie um Erasmus. Damit will ich nun wahrlich nicht sagen, daß Luther bloß ein eifriger und geschickter Propagandist seiner Sache war. Er war weit mehr, sein elementarvolkhaftes Temperament riß alle, die ihm nahekamen, mit sich fort; und am stärksten wirkte sein unerschütterliches Selbstbewußtsein, die von ihm ausstrahlende Überzeugung, daß er in Gottes unmittelbarem Auftrag handle. Reuchlin blieb einer der wenigen Repräsentanten jener Zeit, die gegenüber der Suggestionskraft Luthers Kühle wahrten – vielleicht auch nur deshalb, weil er schon längst in seine eigene Fehde mit einem Teil des Klerus verwickelt war. – Nicht verbürgt ist sein Ausspruch, den er getan haben soll, als die Kunde vom ersten Auftreten Luthers zu ihm drang: »Gottlob, daß nun die Mönche einen andern — 469 —

gefunden haben, der ihnen mehr zu schaffen machen wird als ich.« (Vgl. Geigers Reuchlin-Biographie.) Dagegen heißt es l. c.: »Wenn man anführen möchte, daß er 1520 zu Ingolstadt, als er in Johann Ecks Hause lebte, diesen verhinderte, die Bücher Luthers zu verbrennen, so ist dies nur ein schönes Zeichen der Ehrfurcht vor wissenschaftlicher Forschung, der unbedingten Anerkennung freier Meinungsäußerung, nicht ein Beweis von Übereinstimmung mit Luthers Lehren.« Ein starker und gänzlich unangreifbarer Beweis für Reuchlins Unberührtheit vom eigentlich reformatorischen Akzent ist der Schmähbrief, den Ulrich von Hutten 1521 von Sickingens Ebernburg herab an Reuchlin gerichtet hat. Da heißt es u. a.: »Luthers Arbeit mißfällt dir, du mißbilligst sie, wünschest sie ausgelöscht. Du hast des tapferen Mannes vergessen, deines Vorkämpfers Franz. Auch meiner, der ich nicht erst neulich für dich eingetreten bin usw…. Gehe nach Rom, küsse die Füße des Papstes Leo usw.« Das Manifest Huttens war durch einen (nicht erhalten gebliebenen) Brief Reuchlins an die beiden Herzöge von Bayern veranlaßt, in dem er seine Ansichten offenbar gegen die Luthers abgegrenzt hatte. Übrigens haben die Forschungen von Hansmartin Decker-Hauff ergeben, daß Reuchlin in Stuttgart als Mitglied in die Salve-Regina-Bruderschaft eingetreten war. Vorher war er Mitglied einer Gebetverbrüderung des Dominikanerordens und seit 1516 einer solchen des Augustinerordens gewesen. Im abschriftlich erhaltenen Verzeichnis der Salve-Regina-Bruderschaft, das nach Ständen geordnet ist, erscheint Reuchlins Namen in der Rubrik der ›Sacerdotes‹, »die alle geweihten Priester vom einfachen Kaplan bis zu den obersten Geistlichen Württembergs umfaßt. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Reuchlin steht mitten unter Geistlichen, die alle urkundlich als solche — 470 —

nachzuweisen sind. Laien sind in dieser Gruppe nicht ein einziges Mal aufgeführt«. Decker-Hauff schließt diesen Teil seiner Ausführungen mit der Hypothese: »Reuchlin ist vor seinem Tode, wohl in seinem letzten Lebensjahr, Geistlicher geworden und hat die Weihen empfangen.« – Über das Datum und die Motive dieses Schrittes sind wir allerdings nicht unterrichtet. Im Briefwechsel, der für die letzten Jahre freilich nicht gerade reichlich fließt, findet sich keine Andeutung. Der Zeitpunkt kann nicht vor dem Tod seiner zweiten Frau (um 1519) liegen. Ja, noch am 3. Januar 1520 erbittet Reuchlin von Hummelberger (Horawitz No. 34), er möge »für ihn als Priester vor Gott eintreten«, was wohl darauf hinweist, daß er selbst um diese Zeit noch kein Priester war. – Einen großen Dienst hat Reuchlin der Reformationsbewegung freilich geleistet, aber unabsichtlich. Am 30. März 1518 hatte Friedrich, Kurfürst von Sachsen, an Reuchlin, »seinen besonders geliebten Doktor der Rechte«, einen sehr freundlichen Brief geschrieben, in dem er bat, für die von ihm gegründete und höchlichst geförderte Universität Wittenberg je einen Professor für die Lehrstühle der griechischen und hebräischen Sprache namhaft zu machen. Habe Reuchlin aber nicht zwei Kandidaten, so wünscht der Kurfürst heftig (vehementer), er möge wenigstens einen einzigen verschaffen, der beide Sprachen beherrscht. Zugleich erkundigt sich der Kurfürst auf das wohlwollendste nach dem Stand von Reuchlins Prozeß in Rom. Reuchlin antwortet nicht sofort, sondern erst nach zwölf Tagen; offenbar wollte er sich erst die Zustimmung der Hauptperson, seines Großneffen Philipp Melanchthon, verschaffen, der in Tübingen lehrte, »seines Solds halber nützlich gehalten und versehen und hat daselbst ein ehrbar Auskommen«. Diesen Melanchthon, für dessen hu— 471 —

manistische Ausbildung er seit vielen Jahren väterlich gesorgt hat, hat er nämlich für den Posten in Aussicht genommen, – »meinen gesippten Freund, den ich von seiner Jugend auf solche Sprache unterwiesen und gelehrt habe«. Melanchthon wird »in dieser Sache tun, was ich ihm heiße«. Zwar hätte er ihn »wie gern« noch bei sich behalten. Nun aber wird der junge Mann »auf Euer fürstliche Gnaden gut Vertrauen und (auf) mein Befehl gen Wittenberg kommen, der Hoffnung, Nutz zu schaffen und Ehre einzulegen der Stadt und der hohen Schule«. Daß Reuchlin bei dieser Empfehlung alles eher im Sinne hatte als die Sache der antipäpstlichen Bewegung zu fördern, kann aus manchen Indizien geschlossen werden. Es wäre ja auch, da sein Prozeß bei der Kurie sich der Entscheidung näherte, die höchste Unklugheit gewesen. Damals, als er die schicksalsvolle Empfehlung schrieb und die Verhandlungen durchführte, war Luthers Einfluß in Wittenberg noch nicht voll formiert. Der Kurfürst blieb katholisch, erst auf dem Sterbebett nahm er das Abendmahl unter beiderlei Gestalt (1525). Während seiner Regierung erwies er sich durch eifriges Reliquiensammeln, durch eine Wallfahrt nach Jerusalem usw. als Frommer alten Stils, nach der Sitte der Väter, nicht nach den Thesen des Neuerers. Daß er sich des angegriffenen und verfolgten Luther gegen Papst, Kaiser und Reich tatkräftig annahm – auch das bildete sich erst spät klarer heraus –, war natürlich in persönlicher Sympathie zu dem aufsehenerregenden Stürmer und Dränger begründet, den er achtete, doch daneben auch im Gefühl landesfürstlicher Macht, die sich souverän gegen alle andern Gewalten behauptete. Man hatte ihm die Kaiserwürde angetragen; er schlug sie ab. – Wie wenig Reuchlin an Umsturz der Kirchenverfassung dachte, obwohl er manches, z. B. die Verketzerungssucht, den Reliquienkult scharf kritisiert hatte (vgl. das Lustspiel — 472 —

›Capitis caput‹), geht aus seinem ungefähr zu gleicher Zeit, im April 1518 abgeschickten Brief an Pirckheimer hervor, in dem er die »Geringschätzung gegenüber dem apostolischen Stuhl und den Kardinälen« heftig verurteilt und sogar die Verbrennung des »Ketzers Savonarola« nicht ungerechtfertigt findet, da dieser Mann den Befehlen des Papstes nicht gehorcht habe. Er konnte nicht vorhersehen, daß Luther rasch und entscheidend den jungen begabten Melanchthon zu sich herüberziehen würde, daß die beiden einander ergänzenden Naturen Luther und Melanchthon sich aneinander entzünden und zur machtvollen geistigen Phalanx des neuen Glaubens zusammenwachsen könnten. Jetzt, in Ingolstadt selbst Professor geworden, hätte Reuchlin gern den Schüler wieder an seiner Seite gesehen. Doch Melanchthon antwortet ablehnend. In einem Brief an Hummelberger beklagt Reuchlin, daß Melanchthon allzusehr zu Luthers »treuem Achates«, dem Freund des Äneas bei Vergil, geworden ist. Und setzt unmißverständlich hinzu: »Doch die jungen Leute haben keinen Verstand.« Gleich nachher sucht er rührenderweise Entschuldigungen für Melanchthons Verhalten, wobei auch für Luther einige gute Worte mitabfallen. Luther hatte allerdings damals (Januar 1520) seinen entscheidenden Bruch mit der päpstlichen Gewalt noch nicht ausdrücklich vollzogen. – Es mag in jenen Tagen in Reuchlins Seele überaus schmerzlich zugegangen sein. Denn Melanchthon, der wie ein Sohn Geliebte, widersetzt sich allen Überredungsversuchen des Alten. Das ›Nein‹ ist in viele Floskeln eingewickelt, aber trotzdem deutlich genug. Die neue Pflicht, das dem Kurfürsten gegebene Versprechen wird angeführt, die Freunde, die er gewonnen habe. »Hier hast du den Grund meines Entschlusses. Es ist deine Sache, ihn zu billigen oder zu widerlegen. In deine Gewalt begebe ich — 473 —

mich für die Zukunft. Was du beschließen wirst, werde ich gehorsam tun.« Aber er blieb. Reuchlin ließ dem jungen Gelehrten, der bei all seinem evangelischen Eifer doch entschiedener als andere Reformatoren ein Stück humanistischer Weltschau beibehielt, einen Rest der sorgsamen Erziehung, die er Reuchlin verdankte, ließ seinem zärtlich umhegten Verwandten mitteilen, er möge ihm nicht mehr schreiben. Die Beziehung wurde nicht mehr hergestellt. Es ist eine Behauptung Melanchthons, daß Reuchlin sein Testament änderte und seine Bibliothek, die dem Großneffen versprochen war, nicht ihm, sondern der Stadt Pforzheim hinterließ. Dabei gestattet er sich nach dem Tod des Alten manche herabsetzende Bemerkung gegen ihn. Erst dreißig Jahre später erinnert er sich seiner großen Dankespflicht und schreibt in seiner ›Oratio continens historiam Johannis Capnionis‹ (1552) nebst vielem andern Zutreffenden, Rühmenden: »Er (Reuchlin) lebte einfach, und der Bedürftigen, vor allem armer Schüler nahm er sich hilfreich an. Reinheit der Gesinnung leuchtete aus ihm, nichts von Mißgunst und Neid haftete ihm an.« 3

Im Frühjahr 1521 kehrte Reuchlin in seine Heimat zurück, als Professor der hebräischen und griechischen Sprache nach Tübingen berufen. Hier, wo er einige seiner ersten Schritte getan, wo er vielleicht (vergeblich) ein Lehramt angestrebt hatte, sollte sich der Kreis seines Lebens und Wirkens schließen. Und Tübingen war ja jene Stadt in deutschen Landen, in der es zuerst Hebräischkundige gegeben hatte, die Theologen Conrad Summenhart und Paul Scriptoris. Ferner den späteren Freund Zwinglis, — 474 —

Conrad Pellicanus, der von diesen beiden Ermunterung im Hebräischstudium empfing. – Es ist vielleicht kein Zufall, daß die älteste deutsche Stätte des Hebräischstudiums nun Reuchlin einlud, die Professur dieser Sprache zu übernehmen. (Vgl. 2. Kapitel, Abschnitt 4.) Am 12. September 1521 gratuliert der treue Theolog Michael Hummelberger aus Ravensburg dem schwäbischen Vaterland wie dem clarissimus Capnion zur Heimkehr (Briefsammlung Adalbert Horawitz, Wien 1877, Sitzungsbericht der Kais. Akademie der Wissenschaften). In Stuttgart muß Reuchlin vorübergehend, vielleicht zum Urlaub, geweilt haben. Denn ein Brief vom 25. Dezember dieses Jahres an den württembergischen Staatsmann Gregor Lamparter ist aus Stuttgart datiert. Er enthält ein Lob der Einsamkeit und der Ruhe des Gemüts, fern vom Lärmen des Pöbels und der Knechtschaft des Hoflebens. Moses, der ohne Begleitung den Sinai bestieg, obwohl kein Kaiser ihn je an Länge der Herrschaft und an Zahl der Soldaten übertroffen habe (sic!), Minos und Numa Pompilius werden als Beispiele des einsamen Verkehrs mit der Gottheit angeführt. Die Rede des Bischofs Proclus zum Lobe Marias (aus der patristischen Zeit), die Reuchlin vor Jahren aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt hat, wird als Geschenk beigefügt. Reuchlin will seine echte Verehrung der heiligen Jungfrau und Gottesmutter vom schmeichlerischen Geschwätz einiger Spaßmacher wohl unterschieden wissen. Der vorletzte Brief Reuchlins, der erhalten geblieben ist, geht am 12. Januar 1522 aus Tübingen an Anshelm. Ein aufschlußreicher Brief aus der Geigerschen Briefsammlung. – Ihm ähnlich der letzte Brief (bei Horawitz) an Hummelberger, mit den hoffnungsvollen Worten: »Die Wahrheit wird von der Erde aufsteigen und die Finsternis verscheuchen; das Licht wird leuchten, das schon vierhun— 475 —

dert Jahre lang vom gefährlichen Treiben der Sophismen verdunkelt wurde. Ich werde darüber wachen, obwohl ich selber ein Greis bin.« – Weiter im Brief, den Geiger tradiert: Der alte Mann meldet, daß er Ingolstadt der Pest wegen verlassen mußte, die sich dahin ausgebreitet hatte, und daß ursprünglich seine Absicht war, ermüdet von seinen Arbeiten und unter der Last der Jahre den Schlaf des Epimenides zu schlafen. So sei er in die Heimat zurückgekehrt, die indessen zum Frieden zurückgefunden und dem römischen Kaiser Karl V. den Treueid geschworen habe. (In der Tat hatte der Bund 1520 das eroberte Württemberg für 200 000 Gulden an Karl verkauft, der dann einige Jahre später das Land seinem Bruder Ferdinand von Österreich als Lehen weitergab.) Er habe sich damals von seinen Neidern, den Bücherverbrennern, bis zum Ekel gefoltert, versengt, mit Schmutz beworfen und zerrissen, ja als »Protomartyr der hebräischen Literatur« gefühlt, so daß es sein Beschluß war, fern von der Menge, »contempta plurimorum conversatione, contempta etiam paucorum« (unter Verachtung des Umgangs mit den vielen, ja auch mit den wenigen) seine Muße geheim zu genießen. Nichts Süßeres für den Gebildeten! Doch unsere Tübinger, tapfere Soldaten der schönen Künste, hätten seine Ankunft gewittert, – eine ansehnliche Abordnung der Hochschule habe sich bei ihm eingefunden und ihn gebeten, das, was er in Bayern hebräisch und griechisch begonnen, nun bei den Schwaben, die doch seine Landsleute seien, unter ehrenvollen Honorarbedingungen fortzusetzen. Man habe an seinen Patriotismus appelliert, an Sätze der Alten erinnert, so etwa: Dem Vaterland muß man Gutes erweisen, für das Vaterland muß man kämpfen, und wir Greise müssen im Vaterland sterben, müssen zumindest unseren Körper da, wo unser Leben entsprungen ist, zur Ruhe legen. – Solche kluge Reden hätten ihn bewogen, von seinem Ent— 476 —

Titelblatt der ›Epistolae Obscurorum Virorum‹ (Dunkelmännerbriefe) o. O. um 1517.

schluß abzugehen, den die Abgesandten eher »für einen warmen Umschlag der Untätigkeit als für eine richtige literarische Muße« erklärt hatten. – Seither sein Lehramt. In diesem ersten Semester habe er die Anfangsgründe vorgetragen, den hochgelehrten Grammatiker der Hebräer Moses Kimchi. Das Buch habe allerdings, obwohl viele Juden und Lateiner es vorher benützt hätten, von Fehlern so sehr gewimmelt, daß die Schüler mehr als die Hälfte der Zeit mit Textverbesserungen verloren hätten. Nicht anders sei es ihm mit der griechischen Grammatik des Chrysolaras gegangen. Keine geringe Arbeit, doch nötig, um keine Fehlgeburten, keine ungelehrten Söhne zur Welt zu bringen. – Nach Absolvierung des Elementarkurses möchte er jetzt den Hörern solidere Kost vorsetzen. Da hat Daniel Bomberg, der kunstreiche Drucker jüdischer Schriften, aus Venedig viele Exemplare (laut dem Brief an Hummelberger: 100 Stück) der hebräischen Bibel an die Universität in Tübingen zum Verkauf geschickt. Ohne diese Bibel kann niemand die Sprache lehren oder lernen. »In gleichem Sinne schicke ich hier an dich, wenn du mir helfen willst, Thomas Anshelm, Geschmücktester der Typographen, zwei Reden des Demosthenes und Aeschines, die sie gegeneinander gehalten haben. Diese hervorragendsten griechischen Redner haben den lateinischen Autoren viele schöne Redewendungen geliefert und ihnen die Gewohnheit gebracht, elegant und angenehm zu reden. Im Namen unserer alten Freundschaft bitte ich dich, Redlichster der Freunde, dieses Werk möglichst bald in deiner vornehmen griechischen Druckschrift, so fehlerfrei als möglich, so griechisch als möglich, herauszugeben, zu Nutz und Frommen aller Griechischlernenden, auch zu deinem eigenen nicht geringem Gewinn. Schicke die Bücher ohne Verzug an mich nach Tübingen. Mit griechischem Kredit, das heißt: du erhältst für die Ware das bereitliegende bare — 478 —

Geld. Wenn du meinem Versprechen traust, wird der besondere Dank aller Schüler mit der Unsterblichkeit der dir gewidmeten Lobsprüche folgen.« Die beiden Reden erschienen im April 1522 bei Anshelm in Hagenau. ›Graeciae excellentium oratorum Aeschinis et Demosthenis orationes adversariae.‹ (Rede und Gegenrede der vorzüglichsten Redner Griechenlands, Aeschines und Demosthenes.) Mit der Zuschrift Reuchlins an den Drukker. – So war Reuchlin bis fast zum letzten Augenblick in wissenschaftlich-pädagogischem Schwung. Doch im Sommersemester hat er wohl nicht oder nicht mehr lange unterrichtet. Er fuhr nach Bad Liebenzell bei Hirsau. Hier hatte er schon im Jahre 1518 (und vielleicht auch in den dazwischen liegenden Jahren) Heilung gesucht; die Briefe, die er damals »ex thermis Harciniis Cellae Bacenarum« (Bacenis hieß im Altertum ein ausgedehntes Waldgebirge Germaniens, an der Grenze Sueviens) an Joannes Cellarius in Versen und an Mutianus Rufus in zierlicher Prosa gerichtet hatte, waren von heiterster Badelaune erfüllt gewesen. Entspannt, wie mancher Brief Goethes aus Karlsbad oder Marienbad. »Auf den harcinischen Felsen, unter Hamadryaden im Bacenerwald, an der Seite einer schönen Najade spazieren wir und vergessen das uns zugefügte Unrecht. Wir baden im öffentlichen Bad, lassen die Gelehrsamkeit beiseite, doch nicht die Philosophie. Mit Wahrung der schicklichen Tugend sprechen wir die jungen Mädchen an, da dies hier die Sitte der Bäder ist. (Dazu die merkwürdige Randbemerkung, die wohl nicht ganz mythologisch zu verstehen ist: »Die Anadyomene des Apelles, wie er aus der Ferne sofort erkannt hat« – also die nackt aus dem Meer aufsteigende Venus.) Unsere Dichter haben alle Erfahrungen erprobt, so auch wir. Wir freuen uns, wenn Zeit zur Freude ist usf.« Die übermütige Schlußwendung: »In Zell, zwischen Felsen und Tannen — 479 —

und den Wohnungen wilder Tiere.« Was wohl weniger an die Realität als an Kap. 4 Vers 8 des Lieds der Lieder anklingt. – Das Bad Liebenzell war damals seiner Kuren wegen berühmt. Im Jahre 1522 hat es dem vielumgetriebenen Manne Reuchlin keine Rettung mehr gebracht. Todkrank ließ er sich nach Stuttgart zurückbringen, wo er am 30. Juni starb. Als Todesursache wird Gelbfieber angegeben. Eine dokumentierte Nachricht über die Art der Krankheit ist mir nicht zu Gesicht gekommen. Erasmus schrieb noch im gleichen Jahr eine ›Apotheose Reuchlins‹, die von klangvollen Lobpreisungen für den Dahingeschiedenen hallt und in der auch mancher Funke echten Gefühls aufblitzt, das ja Erasmus für Reuchlin zweifellos gehegt hat. Reuchlin wird, so deutet Erasmus die Vision, die ein frommer Franziskaner gehabt haben soll, in den Himmel aufgenommen. Der heilige Hieronymus selber, sprachgelehrt wie der Novize, empfängt ihn auf einer herrlichen Wiese, die beiden steigen gemeinsam in einer Feuersäule empor, die Engel singen … Es ist derselbe Erasmus, der, solange Reuchlin lebte, ihn mit manchen Sticheleien verfolgt, ihn und seine Sprache getadelt, ihm nur vorsichtig und lau Hilfe geboten, ihn allerdings bei entscheidenden Gelegenheiten doch auch wieder kräftig unterstützt hatte – das rechte Beispiel einer einigermaßen kühlen, wackligen Literatenfreundschaft. Doch nur von der Seite des Erasmus her bietet die Beziehung einen so banalen Anblick. Der bescheidene Reuchlin dagegen war immer ein lauterer und neidloser Verehrer des Erasmus. Wenn er dem sächsischen Kurfürsten seinen Melanchthon empfiehlt, so fällt ihm kein besseres Lob ein als: »Denn ich weiß unter den Teutschen keinen, der über ihn sei, ausgenommen Herr Erasmus Roterdamus, der ist ein Holländer, derselbe übertrifft uns alle im Latein.« – Bei der Verherrlichung des Rivalen Reuchlin durch Erasmus, — 480 —

der ihn sogar unter die Heiligen gezählt wissen will, kann man also ein bitteres Gefühl nicht ganz loswerden und denkt leider, ironischerweise, etwa an jenen römischen Imperator, der bei der Nachricht, sein Vorgänger sei vergöttert in den Olymp erhoben worden, geäußert haben soll: Sit divus, – dum non sit vivus. (Er sei ein Gott, – wenn er nur nicht lebt.) 4

Man kann nicht behaupten, daß Reuchlins Wirken, vor allem sein Kampf für die Geistesfreiheit, je ganz vergessen worden wäre (wie eine Zeitlang etwa sogar Shakespeare vergessen war – denn die Menschen wissen weder von den Göttern noch von ihresgleichen Geschenke entgegenzunehmen, wie unser aller Lehrmeister und väterlicher Freund Goethe einmal bemerkt), aber man kann auch nicht sagen, daß sein Andenken richtig lebendig geblieben ist. Die Humanisten wie Eoban Hesse, Peutinger, Beatus Rhenanus, Camerarius usw. haben ihn bildkräftig gerühmt, – in späterer Epoche haben Wieland und Goethe ihn erkannt und gefeiert. Jüngst hat Kurt Hannemann in der Pforzheimer Festgabe 1955 auf einen vergessenen Beitrag zum Ruhm Reuchlins aus der klassischen Zeit aufmerksam gemacht, auf die ›Literarischen Fragmente‹ Ludwig Schubarts, des Sohnes des großen Dichters Christian Friedrich Daniel Schubart, dessen ›Fürstengruft‹ (und nicht nur sie) Schiller erschüttert und beeinflußt hat. – Reuchlins schönstes Standbild ist die klassische Biographie von Ludwig Geiger 1871, ohne die das vorliegende Buch nie hätte geschrieben werden können. In der Einleitung erwähnt Geiger die Reihe der früheren Biographen Reuchlins, von Joh. Heinrich Mai, Professor in Gießen, ›Vita Reuchlini‹ 1687 (auch May geschrieben – er signierte — 481 —

die berühmte Biographie als Jo. Henricus Majus) bis zu Lamey 1855. Doch seit dem Erscheinen von Geigers Monumentalwerk sind immerhin fast 100 Jahre verflossen, die Wissenschaft hat in Spezialuntersuchungen außerordentlich viele Details zutage gefördert und in mancher Art Reuchlins Bild für uns verändert – außer Einzeluntersuchungen (von Geiger und Späteren) liegt der von Geiger 1875, Horawitz 1877 und anderen gesammelte, aber nicht voll ausgewertete Schatz von Reuchlins Briefwechsel vor. Vor allem aber haben sich in einigen Hauptpunkten (z. B. in Hinblick auf die Wertung der Kabbala, durch Prof. Scholems Verdienst, oder was das Wesen der jüdischen Fortexistenz anlangt) unsere Anschauungen so sehr gewandelt, daß der Versuch einer neuen Gesamtdarstellung wohl gewagt werden konnte. Auffallender Umstand: es war jahrhundertelang kein authentisches Bildnis Reuchlins bekannt. Es gab nur die Karikaturen Reuchlins in den Schandschriften Pfefferkorns. Diese vom leibhaftigen Satanas eingegebenen Persiflagen enthüllen immerhin nolens volens eine Teilansicht von Reuchlins stillem ehrwürdigem Wesen und Äußeren, wie wir dies jetzt durch Vergleich mit dem einzigen Porträt feststellen können, das auf uns gekommen ist. – Alles andere ist Nebel. Im ›Triumphus Capnionis‹ wird nur ein idealisierter Reuchlin gezeigt, der nicht viel mehr als den allgemeinen Typus erkennen läßt. Auch die Darstellung Pfefferkorns auf diesem Holzschnitt ist nichts als Phantasie und deutet wohl an, daß es dem Künstler nicht um Naturwahrheit zu tun war. Nur der Reuchlin-Holzschnitt auf dem Titelblatt der ›Vier Ketzer des Predigerordens‹ bringt uns die konkrete Wirklichkeit seiner Person nahe. Das Verdienst, dieses Unikum aufgefunden zu haben, gebührt Johannes Ficker, der es in der Festschrift der Stadt Pforzheim 1922 beschrieben und zum erstenmal veröf— 482 —

fentlicht hat, zusammen mit der an skurrilen Zügen reichen Geschichte der Ikonographie Reuchlins, – einem Humoristikum ersten Ranges, wie mir scheint. Denn alles, was bis zum Zeitpunkt der großartigen Publikation Fickers umlief, war, rundheraus gesagt, Fälschung. – Reuchlin scheint sich in seiner Vornehmheit und gelegentlich scharf hervortretenden Öffentlichkeitsscheu den Ansprüchen einer konterfeisüchtigen Zeit mit Erfolg entzogen zu haben; ganz anders als Hutten, Erasmus, Luther, Celtes und fast alle anderen Geisteshelden jener bewegten Jahre. Seine Flucht vor den Zeichnern, Malern, Holzschneidern erwies sich als so wirksam, daß die Bilder, die vierhundert Jahre lang verbreitet wurden und angeblich seine Züge zeigten, samt und sonders Schwindel waren (mit Ausnahme der oben erwähnten beklagenswerten Karikaturen und des undeutlichen ›Triumphzugs‹). Und niemand hat diesen groben Betrug oder Irrtum bemerkt. Erst mit dem Auftreten E. Gotheins (siehe unten) und Fickers kam schrittweise, unaufhaltsam die Wahrheit ans Licht. Seither ist der schlichte, aber vielsagende Holzschnitt vom Titelblatt der ›Vier Ketzer‹ oft publiziert worden. Und heute läßt sich, zumindest in diesem Punkte, niemand mehr hinters Licht führen. Wesentliche Ergänzungen zur Arbeit Fickers hat Kurt Hannemann in der zweiten Festgabe der Stadt Pforzheim 1955 in einem Essay beigebracht, der sich durch besondere Genauigkeit und Ausführlichkeit auszeichnet. Den Anfang in der Aufdeckung des jahrhundertealten Irrtums machte E. Gothein mit seinem Artikel in ›Sybels Historischer Zeitschrift‹, 46, 1881. Er wies nach, daß das oft (u. a. auch von so ernsten Forschern wie Lamey und Böcking) veröffentlichte Bild Reuchlins nichts anderes sei als eine durch Hinzufügung eines Schnurrbarts und Knebelbartes sowie durch andere kleinere Zutaten zurechtge— 483 —

machte Kopie einer Rembrandtschen Zeichnung, die unter dem Namen ›Schlafende Alte‹ bekannt war. Ich entnehme dem Aufsatz Hannemanns, daß die Forschung inzwischen nicht stehengeblieben ist. Heute ist nämlich erkannt, daß es nicht um ein Werk Rembrandts geht, sondern nur um »ein Erzeugnis aus der Nähe Rembrandts, eine Schöpfung Ferdinand Bols (1616 bis 1680) …« Der ›Reuchlinus‹ aus Gießen (Näheres folgt unten), den man zu einem Reuchlin-Porträt umzauberte, ist danach auch keine Rembrandtimitation mehr, sondern in seiner Vorlage nur noch »niederländische Schule des 17. Jahrhunderts«. Immerhin war Reuchlin mehr als 100 Jahre tot, als das weibliche ›Porträt‹ entstand, das später die seltsame Metamorphose in einen maskulinen Pseudo-Reuchlin erlitt. »Wie konnte es zu dem ›Mißverständnis‹ der Radierung kommen?« fragt mit Recht Hannemann, der die ganze Sache umfassend darstellt. »War die Umstilisierung auf Reuchlin hin eine naive oder eine raffinierte Abwandlung des Motivs der ›Schlafenden Alten‹, ein kunstgeschichtlicher Irrtum, eine spielerische Laune oder eine Fälschung?« – Die Frage bleibt vorläufig ungelöst. Das in Gießen aufbewahrte Ölbild ist unsigniert. Niemand weiß, wer die vergrößernde Travestie des Bolsschen Opus auf dem Gewissen hat. »Die ersten und einzigen bekannten Vorbesitzer, der ältere und der jüngere Joh. Heinrich May (beide als Professoren in Gießen tätig), haben es sicherlich für authentisch gehalten.« In der Reuchlinbiographie Mays ist allerdings ein anderes Bild als Titelkupfer verwendet, das gleichfalls apokryph ist – schon die barocke Perücke, der philiströse sauersüße Gesichtsausdruck zeigen die Unstimmigkeiten an. Der jüngere May hat dann seine und die väterliche Bibliothek der Universität Gießen hinterlassen. Das nachgedunkelte Ölbild trug die alte Aufschrift »Jo. Reuchlinus«. Es blieb nun zunächst lange un— 484 —

beachtet, richtete keinen Schaden an, bis es von Gehres, dem Verfasser der ›Kleinen Chronik Pforzheims‹ bemerkt wurde, der Bild und Aufbewahrungsort in einer Anmerkung erwähnte. Nun aber machte das absonderliche Machwerk eine erstaunliche Karriere. – Fragen wir uns, warum es zu so hohen Ehren kam, die wir (nach Hannemann) schildern, so erscheint als wahrscheinliches Verbindungsstück zwischen der ursprünglichen Radierung und dem paraphrasierenden Ölbild: – die Brille in der Hand der alten Frau. Sie mag die Assoziation: Reuchlin-›Augenspiegel‹ geweckt haben. Die Brille erscheint ja schon in der Erstausgabe auf dem Titelblatt des ›Augenspiegels‹, wurde mehr und mehr zum Emblem Reuchlins, war populärer als sein Wappen, der Altar Capnions mit dem aufsteigenden Rauch. Ferner wirkte der Umstand mit, daß die Alte ihre Wange in die auf den Tisch aufgestützte Linke schmiegt, während ihre Rechte mit dem ›Augenspiegel‹ fest auf einem aufgeschlagenen Buche unbestimmbaren Inhalts, einem mächtigen Kodex lastet. »Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofens.« Die Augen sind geschlossen. Das Gesicht zeigt tiefe Furchen, die Mundwinkel erscheinen böse hinabgezogen, sorgenvoll. – Runzeln und Mundwinkelfalten wurden im Ölbild geschickt wegretuschiert, Schnurrbart und kleiner Knebelbart à la Wallenstein aufgepappt, die Miene besänftigte sich, auf der Postille zeigten sich deutlich hebräische Buchstaben. Und nun konnte ein begeisterter Beschreiber leicht seinen Eindruck in die folgenden Worte fassen: »Der Alte scheint über den hebräischen Studien eingeschlafen. Oder ist er in selige Betrachtung versunken und hat nach Art der Mystiker die Augen geschlossen?« – Meiner Meinung nach drängt sich beim Betrachten der kleinen Originalradierung allerdings eher das Gefühl eines schweren Traums auf, über das Thema etwa: Wie kann ich aus meinen Mietern vom — 485 —

nächsten Ersten ab einen noch höheren Mietzins herauspressen? – Das große Bild aber hieß bei dem Entdecker: »Des Reuchlin’s menschenfreundliches Bildnis.« Der Gießener Reuchlin wurde zunächst im ›Reformationsalmanach‹ von 1821 wieder erwähnt. Nun aber geschah das Unerwartete, auf das wohl kaum die Phantasie eines Aristophanes oder eines andern großen komischen Dichters verfallen wäre. – König Ludwig I. von Bayern brauchte für den von ihm gegründeten deutschen Ehrentempel bei Regensburg, den er ›Walhalla‹ nannte, eine Büste Reuchlins. Der große Philosoph Schelling (meiner Meinung nach der wahre Erbe Kantscher Weisheit, – er, nicht Hegel oder gar Schopenhauer) war bald nach Ludwigs Regierungsantritt zum Generalkonservator der wissenschaftlichen Sammlungen des bayrischen Staates ernannt worden. Der König wandte sich daher mit seinem patriotischen Wunsch an Schelling. Schelling suchte ein »authentisches Bild, nach welchem die Büste für die Walhalla gearbeitet werden könnte«. Er wandte sich an den Professor Joh. Bernhard Wilbrand in Gießen. Die zwei Briefe Schellings aus den Jahren 1833 und 1834 hat Hannemann nach den im Schiller-Nationalmuseum (Marbach) befindlichen Originalen 1955 zum erstenmal veröffentlicht. Schelling hat sich auch sonst umgesehen, um den Wunsch des Königs zu erfüllen (Brief an J. Chr. Pfister 1830). Es gereicht dem Philosophen zur Ehre, daß er sich von der »Echtheit des in Gießen befindlichen Bildnisses nicht so völlig überzeugt« erklärt. Seine Zweifel aber drangen nicht durch. Der Schweizer Bildhauer Max Imhof bekam den Auftrag, auf Grund des Gießener Bildes eine Büste zu schaffen. Er führte das Werk 1835 in Rom aus. So kam, wie E. Gothein es ausdrückt, »ein berühmter Mann zu einem Bild und die femme endormie (Rembrandts) zu einer Marmorbüste in der Walhalla«. — 486 —

Von da wurde die Gießener Fassung immer wieder in historischen Büchern zu Ehren Reuchlins reproduziert. Das alte Weib mit dem angepinselten Schnurrbart verdrängte als Walhallamarmor die früheren Darstellungen, zumal als da und dort die falsche Meldung auftauchte, die Büste sei von Thorwaldsen angefertigt worden, was ihre Autorität womöglich noch erhöhte; denn über Thorwaldsen als bildhauerischen Genius hinaus war jenen Zeiten nichts vorstellbar; nachklassizistisch gebannt, nahm keiner Ärgernis an dem weichlich-glatten Akademismus des Dänen. Diese Verdrängung der früheren Reuchlinvorstellung tat übrigens der historischen Wahrheit keinerlei Abbruch. Denn das verdrängte Porträt, das 350 Jahre lang die optische Erscheinung Reuchlins wach erhalten hatte, – war gleichfalls eine Fälschung. Allerdings eine primitivere Fälschung – doch nicht weniger komisch. Ficker zählt eine lange Reihe von Bildvarianten, Reuchline aller Art (unter ihnen auch Medaillen und Statuen) auf, die alle auf das universale Porträtbuch Pantaleons ›Prosopographia heroum atque illustrium virorum totius Germaniae‹ zurückgehen, das 1566 erschienen ist. Pantaleon bringt den Holzschnitt eines ernsten, versonnenkämpferischen Charakterkopfes. Man könnte ihm auf den ersten Blick hin vertrauen. Leider hat Pantaleon genau denselben Charakterkopf als Porträt von 20 verschiedenen Persönlichkeiten aus diversen Zeitperioden verwendet; nicht nur für Reuchlin, – auch für Einhart (den Biographen Karls des Großen), Sebastian Brant, Pellican, Cochläus, Jakob Spiegel u. a. – Es war diesem Heinrich Pantaleon, dessen Werk auch unter dem Titel ›Teutscher Nation Heldenbuch‹ erschienen ist, offenbar mehr um den Idealtypus eines streitbaren Gelehrten als um das Individuum zu tun. Er — 487 —

stellt, wie Ficker hervorhebt, beispielsweise auch Zwingli und Ambrosius Blaurer (Blarer, den Freund Melanchthons, den Reformator des südlichen Württemberg) durch das gleiche Bild dar. »Unter den etwa 250 Klischees, über die Pantaleon für die Illustrierung verfügte, sind nur ungefähr 50 authentische Bildnisse nachweisbar« (Hannemann). 1921 hat Hans Kaegler den Beweis erbracht, daß Pantaleon als Vorlage den von Holbein geschaffenen Holzschnitt eines Lutherrundbildes (oder Medaillons) von Cranach benützt hat. Das Holbein-Cranachsche Werk hat Pantaleon für seine, von Hannemann humorvoll so benamste ›ikonographische Einheitsgruppe‹ in gleicher Art verballhornt. Diese ›Einheitsgruppe‹ zählt 20 Mann, darunter ununterschiedlich unseren guten Reuchlin. – Der ganze Vorgang mutet uns einigermaßen fremdartig an. Steht aber nicht so einzigartig da, wie er dem ungeschulten Blick erscheinen mag. In Fritz Schachermeyrs geistreichem Buch ›Die minoische Kultur des alten Kreta‹ (24. Kapitel) wird uns ein ähnliches Verfahren als Methode archaischer Geschichtsschreibung vorgeführt, die alles Unwesentliche wegstreicht. »Das Wesentliche aber wird bis auf wenige anschauliche und lebenskräftige Idealgestalten vereinfacht. Bei diesen handelt es sich gleichsam schon um Allegorien oder besser gesagt um Symbol-Gestalten, welche in der Regel eine Fülle einstiger Persönlichkeiten, Gruppen … repräsentieren.« Nach soviel Irrungen, Wirrungen, die sich bei näherem Einblick als noch viel komplizierter enthüllen, als hier dargestellt, nun die von Ficker entdeckte Wahrheit. Sie zeigt sich aber auch nicht etwa in reiner Seelenklarheit. Ich meine damit die reale objektive Tatsache, nicht etwa die Fickersche Großtat, an der kein Falsch ist. Das zugrunde liegende tatsächliche Geschehen selber aber ist von Irrtum — 488 —

durchflochten oder durch Irrtum hervorgebracht. Wir werden, um das möglichst richtig darzustellen, mit einigem Ausgreifen ziemlich weit vorn anfangen müssen. Im Jahre 1502 fällte Papst Alexander VI. eine Entscheidung, die in manchem den späteren Entscheidungen oder besser gesagt: den Unentschiedenheiten im Reuchlin-Streit analog ist. Der Streit zwischen den sogenannten Maculisten und Immaculisten wurde vorläufig nicht geschlichtet, jedoch wurde beiden Parteien verboten, einander Ketzer zu schimpfen. Immaculisten waren jene, die die These verfochten, nicht nur Jesus, sondern auch Maria sei nach unbefleckter Empfängnis zur Welt gekommen. Diese Ansicht ist heute kirchliches Dogma. – Die spöttisch so benannten Maculisten dagegen glaubten, die Jungfrau sei auf natürlichem Wege gezeugt worden. Der Streit wurde mit großer Heftigkeit geführt. Das Basler Konzil hatte die Meinung der Immaculisten autorisiert. Sie wurde von den Franziskanern, aber auch von Laien wie Sebastian Brant und Wimpheling beredt verteidigt, von den Dominikanern dagegen bestritten. Nun inszenierten einige, vielleicht jugendlich übermütige Dominikaner 1509 ein ›Wunder‹ in Bern, das als ›Bernense scelus‹ (Berner Verbrechen) bekannt und berüchtigt geworden ist. Es spielt in den Dunkelmännerbriefen eine Rolle, wurde zu einem Lieblingsthema der Humanisten, die kirchliche Mißgriffe anprangerten. Was war geschehen? Einige Dominikaner hatten in ihrem Berner Kloster einen eigentlich sehr dummen Schabernack veranstaltet, dessen Opfer ein etwas stumpfsinniger Laienbruder war, der Schneider Johann Jetzer. Man quälte ihn mit Geister- und Heiligenerscheinungen, die bezeugten, daß Maria in Sünde empfangen worden sei, man ›stigmatisierte‹ ihn und trieb ähnlichen Unfug mit dem Armen. Bis er entfloh und die Sache angab. Darauf wurden vier Mönche verbrannt, die man als die Hauptschuldigen ansah. — 489 —

Der böse Streich weckte Betrübnis und Protest; gerade bei den aufrichtigsten Katholiken wurde naturgemäß die stärkste Opposition laut. Der Franziskaner Thomas Murner, den Paul Wiegler »das in seinem ruhelosen Draufgängertum wuchtigste Talent unter den Feinden des Protestantismus« nennt, schrieb ein heftiges Pamphlet gegen die Berner. Es ist wirksam, phantasievoll und volkstümlich wie seine anderen Satiren ›Schelmenzunft‹, ›Narrenbeschwörung‹, ›Von dem großen lutherischen Narren, wie ihn Doktor Murner beschworen hat‹. Sich selbst stellt er, seinen Namen frei auslegend, mit heiterer Selbstironie als Kater dar, der in der Kutte aufrecht einherschreitet, einem dicken Narren allerlei kleines Narrengezücht aus dem Rachen zieht usf. – Durch besondere Feinfühligkeit hat sich jene ›grobianische‹ Zeit ja nicht gerade hervorgetan. – Murner veröffentlichte gegen die Berner Dominikaner 1511 in Straßburg ein Büchlein in gereimten Versen, das in ein Lob der heiligen Jungfrau ausklingt. Bis hierher ist die Sache eindeutig. Von hier an beginnen die Paradoxe und Ungenauigkeiten, beabsichtigte und unbeabsichtigte Irrtümer oder Irreführungen. Im Jahre 1521 erschien nämlich, gleichfalls in Straßburg gedruckt, Murners Schrift zum zweitenmal, aber diesmal war die Ausgabe von Murners Feinden veranstaltet, die den neu aufgegangenen Gestirnen Luther und Hutten huldigten – und die den alten Ketzerhandel mit der aktuelleren Angelegenheit Reuchlin (contra Hochstraten und die Kölner Dominikaner) und mit Luther in einen damals offenbar als richtig empfundenen, jedoch im wesentlichen falschen Zusammenhang brachten. Denn Reuchlin war alles andere als ein Anhänger Luthers, – wie oben erhärtet. Trotzdem erscheint auf dem Titelholzschnitt des Murnerschen Nachdrucks neben Luther und Hutten: auch Reuchlin. Und auf diesem seltsam gewundenen Weg ist »die einzige erhaltene, der — 490 —

Reuchlinforschung bisher unbekannt gebliebene Wiedergabe seiner wirklichen Erscheinung« (so schreibt der Entdecker J. Ficker) auf uns gekommen. Murners Text ist in diesem Pamphlet übernommen, doch durch einen Anhang ergänzt, der gegen Murner gerichtet ist. Murner erscheint also in dem Buch, was wohl als Kuriosum zu bezeichnen wäre, zugleich als Autor, Ankläger (der Berner Missetäter) und Angeklagter (durch die unbefugten Nachdrucker). Als Angeschuldigter tritt er auch schon im Titelholzschnitt auf, und zwar sowohl im Bild, das wir im folgenden genauer betrachten, – wie im Untertitel des Buches, der lautet: ›Ein kurtzer begriff unbillicher frevelhandlung Hochstrats, Murners, Doctor Jhesus und irer anhenger, wider den Christlichen Doctor Martin Luther, von alle liebhaber Evangelisther lere.‹ Man sieht, wie Kraut und Rüben durcheinandergebracht sind, – von den Druckfehlern abgesehen. So z. B. vermutet Ficker mit Recht, daß das fünfte Wort vor dem Schluß ›und‹, nicht ›von‹ lauten soll. – Konkreter und sachlich richtiger ist der Haupttitel: ›History Von den fier ketzren Predigerordens der observantz zu Bern im Schweytzer land verbrant‹ usf. – Das Bild zeigt drei Gruppen. Rechts eine Gruppe von Kuttenträgern, einige von ihnen gefesselt, mit der Überschrift ›Die Maculisten von Bern‹. Es sind aber nicht vier, sondern eine ganze Menge. Einer davon mit dem seitlich angebrachten Namen: Hans Jetzer. – In der mittleren Gruppe dominiert Murner, als Kater in der Mönchstracht, sein Katzenschwanz ringelt sich verdächtig luziferisch, eine sich aufbäumende Schlange. Im übrigen aber schaut er ganz gemütlich drein. Man könnte an irgendeine äsopische Tierfabel denken. Oder an Reinecke Fuchs. – Die fünf Dominikaner zu seiner Seite gestikulieren heftig. Man liest die Erklärung: ›Hochstrat, Doct. Jesus et cetera‹. – Die wichtigste Gruppe steht links: Luther, — 491 —

Huttenus, Reuchlin. Luther, die Bibel haltend, disputierend, die linke Hand vorgestreckt. Ritter Hutten mit seinen Emblemen: Dichterkrone, gepanzert, das Schwert leicht und bedrohlich aus der Scheide ziehend. Am äußersten Rand, in die Ecke gedrängt, stillbescheiden: Reuchlin. Auch er wie die beiden andern mit seinem Namen gekennzeichnet. Die Unterschrift: Patron. libertatis; was wohl als Plural zu lesen ist: Die Beschützer der Freiheit. Unter den zwei andern Gruppen heißt es: conciliabulum malignantium – (Klüngel der Übelwollenden). Über Reuchlin sagt Ficker treffend: »Reuchlins hohe Erscheinung, den scharfen Blick in ruhiger Gespanntheit voraus, auf die Gegner gerichtet … im schlichten, langen, bis auf die Füße herabfallenden Talare mit dem Doktorhute, eine imponierend würdevolle Greisengestalt, bartlos, mit schmalen, abgearbeiteten Zügen; die Nase scharf gebogen, das Kinn tritt schmal und scharf unter dem fest geschlossenen Munde nach vorn, – diese scharfgeschwungenen Linien lassen ahnen, daß der schlichte Mann auch leidenschaftlich scharf denken konnte; das Gesicht ist von langen und abstehenden Haaren eingerahmt.« Wir können sicher sein, daß das kleine Bildchen dem wirklichen Aussehen Reuchlins nahekommt. Es ist mit gutem Recht bei Prägung einer Gedächtnismedaille zum vierhundertsten Todestag des Helden benützt worden (Pforzheim 1922), ferner 1954 für die Reuchlinbüste des Baden-Württemberg-Hauses in Bonn. Abschließend kann man feststellen: Wir verdanken das äußere Bild des großen Humanisten zwei Zufällen: Erstens dem, daß man in ihm einen Feind Murners sah, dem er in Wahrheit geistig weit näher stand als den mit ihm zur Gruppe vereinten Antipapisten Luther und Hutten – siehe seine oben dargestellte Zugehörigkeit zur Salve-Regina-Brüderschaft, ja zum Priesterstand, und andrerseits — 492 —

Murners Marienverehrung; irrtümlich also wurde er dazu mißbraucht, das Titelblatt eines ›Anti-Murner‹ zu zieren. – Zweitens (wie Hannemann es ausdrückt): »Ein geistesgeschichtlicher Irrtum der Zeitgenossen in der Auffassung der Stellung Reuchlins zur Reformation diente der ikonographischen Wahrheit – ein Paradoxon.« Der Irrtum geschah allerdings bona fide: »Ein sehr begreiflicher Irrtum vor der Klärung der Fronten … die Freund-FeindBeurteilung mußte unsicher werden in einer Zeit zwischen Untergang und Aufgang, die auch noch nicht die reinliche Scheidung zwischen humanistischem und reformatorischem Anliegen kannte.« Einer der Schüler Reuchlins schreibt 1514 über ihn: »Er hat eine sanfte, zugängliche Seele, das Gesicht ist freundlich-offen, freimütig-natürlich die Haltung des ganzen Körpers und von einer gewissen senatorischen Würde.« – Das entspricht jenem Bildchen wie seinem ganzen Lebenslauf. 5

Das Grab Reuchlins. Hier gibt es Unklarheiten wie in der Porträt-Angelegenheit. Durch Decker-Hauffs gründliche Forschungsarbeit (s. oben ›Bausteine‹) ist indessen nun auch hier die Wahrheit erkannt. Reuchlin ist in Stuttgart in der Leonhardskirche begraben. Sein Grabstein aber stand seit je im Kreuzgang der Dominikanerkirche (Hospitalkirche), die 1944 und 1945 durch Bomben schwer beschädigt wurde. Die Kirche wurde restauriert, der Grabstein in die gleichfalls wiederaufgebaute Leonhardskirche übertragen. Der Wiederaufbau fällt in die Jahre 1948–1950. Schließlich ist es ja ein naheliegender Gedanke, daß der Grabstein dahin gehört, wo sich das Grab befindet. Jedoch an der Stelle, an der jetzt der — 493 —

Grabstein steht, dessen Inschrift übrigens auch noch einige Rätsel aufgibt, ist Reuchlin nicht begraben, wie bereits im 4. Abschnitt des 2. Kapitels kurz dargestellt. Er ruht, so schreibt Decker-Hauff, »neben seiner zweiten Frau im Schiff der Leonhardskirche an einem nicht mehr genau auszumachenden Platz beim ersten oder dritten Pfeiler der Nordarkade«. Der Grabstein dagegen steht im Chor eben dieser Leonhardskirche. Es ist nun durch die Überführung des Grabsteins in unsern Tagen die Legende entstanden, der Stein sei an seinen ›alten geschichtlichen Standort‹ zurückgekehrt. Man geht davon aus, Reuchlin habe den Grabstein 1501 für die Dominikanerkirche gestiftet. Das ist richtig. Mit diesem Orden war ja schon sein Vater verbunden und Reuchlin selbst hat dem Orden manchen juristischen Dienst geleistet, war auch mit einigen Ordensmitgliedern befreundet, – bis der Talmudstreit, von Pfefferkorn angezettelt, die gute Beziehung zerstörte. Man hat nun fabuliert, daß Reuchlin sein Grab nicht bei den ihm später so feindlich gesinnten Dominikanern haben wollte. Das mag nun richtig oder falsch sein: jedenfalls hat der Grabstein bis in die neueste, in unsere Zeit den Standort nicht gewechselt. Das hätte wohl auch dem konservativ-ehrfürchtigen Sinn Reuchlins nicht entsprochen. Man erfand allerdings eine komplizierte Geschichte, der Grabstein habe sich zwar ohne Zweifel ursprünglich in der Hospitalkirche befunden, sei dann des Talmudstreites wegen nach St. Leonhard überführt worden, in der Folge aus nicht recht ersichtlichem Grund wieder in die Hospitalkirche gebracht worden, wo er bei der Bombardierung beschädigt wurde, und habe schließlich wieder bei Leonhard (jetzt ohne Sankt, denn die Kirche war seither protestantisch geworden) seinen vorläufig letzten Standort gefunden. Das ist aber nur Erfindung, denn der Grabstein wird im— 494 —

mer – bis zur Katastrophe – als in der Hospitalkirche befindlich erwähnt. Begraben aber ließ sich Reuchlin nicht in der Dominikanerkirche (Hospitalkirche), sondern in der Leonhardskirche, wo seine zweite Frau aus der Familie Decker-Vautt ein Erbbegräbnis hatte. »Es erklärt sich ohne Zwang, daß Reuchlin neben dieser Frau, die er allem nach mehr liebte als die erste, seine endgültige Grabstätte wählte. Da zudem das ganz jung verstorbene Kind, das aus der zweiten Ehe hervorgegangen sein soll, wohl gleichfalls in dem Decker-Vauttschen Familiengrab beigesetzt wurde, so ist es einleuchtend, daß Reuchlin neben Frau und Kind bestattet sein wollte.« So sagt mein Gewährsmann und macht es auch wahrscheinlich, daß im Grab mit dem (jetzt nicht mehr dort stehenden) Grabstein in der Hospitalkirche Reuchlins erste Frau begraben liegt. – Unklar oder vielmehr: kontrovers bleibt trotz allem die Inschrift, wenn man die Worte »Sibi et posteritati« auf eine eventuelle ›Nachkommenschaft‹ beziehen will, wie Decker-Hauff es tut, statt im allgemeinen auf die ›Nachwelt‹. Dies klingt zwar ruhmredig genug, aber doch humanistisch – und hat überdies ein klassisches Vorbild in der berühmten Verszeile des Ovid: »Quem legis ut noris, accipe posteritas« (Damit du weißt, wer ich war, ich, den du liest: vernimm, Nachwelt). Ein anderes Rätsel: die hebräischen Worte enthalten einen orthographischen Fehler – was bei dem minutiösen Grammatiker der heiligen Sprache auch nicht ohne weiters erklärlich ist. Auf dem Grabstein steht oben links: olám chajim (Welt des Lebens), oben rechts: Anástasis (Auferstehung). Die zwei Worte links in hebräischen, das Wort rechts in griechischen Lettern. Der übrige Text ist lateinisch, so daß das ›dreisprachige Wunder‹ Reuchlins auch auf seinem Grabstein zur Geltung kommt. Aber olam ist ohne Waf geschrieben, – ein so elementarer Schnitzer, daß man an— 495 —

nehmen könnte, Reuchlin habe seinen eigenen Grabstein nie in Augenschein genommen. Im September 1962 stand ich vor diesem einfachen respektgebietenden Grabmal, einer Sandsteinplatte. Die Zutaten aus dem 19. Jahrhundert, Basis, Pilaster, Architrav, Plastik (ein Porträt Reuchlins?), hat man nach dem Kriegsschaden entfernt. Die Festgabe 1955 bringt das Grabmal in der früheren Gestalt. Es wirkt heute zweifellos schöner, ernsthafter, sozusagen römischer. – Die Kirche, ursprünglich eine Gründung der Zisterzienser aus dem 14. Jahrhundert, einem Heiligen gewidmet, der Gefangene befreite und dem Ackerbau zuführte, daher als Schutzherr der Bauern galt, war ursprünglich eine Feldkapelle, ihre endgültige Form erhielt sie 1463–1466 durch den Baumeister Aberlin Jörg, den Erbauer oder Umgestalter der drei gotischen Kirchen in Stuttgart, darunter der Stiftskirche. Die Leonhardskirche liegt in der Altstadt, nicht weit von dem (zerstörten) Wohnhaus Reuchlins, das in der Stiftstraße lag. Durch enge Gassen kommt man auf einen breiten Platz. Rings um den mäßig großen, in seiner innigen, gleichsam selbstverständlichen Ruhe ergreifend wirkenden Bau hat sich ein riesiger Verkaufsplatz gebrauchter Autos aufgetan. An der Kirchenwand in lebhaften Farben ein Plakat: Bild eines Telephons mit Drehscheibe. Dazu die Aufschrift: »Haben Sie heute schon Nr. 1 angerufen? Gott.« (Wie sagten doch unsere Lateiner: »De gustibus etc.« »Über Geschmäcker ist nicht zu streiten.«) – Tritt man ein, so drückt einem der Kirchenwächter eine zellophanumhüllte Papptafel in die Hand; auf der Tafel liest man geschichtliche Erläuterungen, darunter unrichtige oder doch nur sehr bedingt richtige, beispielsweise: »Neben dem Pfeiler beim Altar liegt der berühmte Humanist Johannes Reuchlin begraben. Er war ein Vorkämpfer der Reforma— 496 —

tion und Rat des Grafen Eberhard im Bart, lebte 34 Jahre lang in Stuttgart.« – Vorkämpfer? Reuchlin, der in einem seiner letzten Lebensjahre die Priesterweihe genommen hat! – Dagegen kann man erfreut zustimmen, wenn unter den berühmten Predigern der Kirche Gustav Schwab angeführt ist. Seinen griechischen und deutschen Heldensagen danken viele, wie auch ich, die schönsten Bezauberungen ihrer Kinder- und Jugendjahre. – Nun fällt mein Blick auf mächtige Kirchenstühle. Auch sie sind aus der Hospitalkirche hierher geschafft worden. Das alte holzgeschnitzte Brustbild eines Mönchs, mit Schwert und Spruchband: »Vor dem Glauben weicht die Ketzerei.« Es ist, als ob Disput und Streit an Reuchlins letzter Ruhestätte nicht haltmachte. Auf der Rückseite der vielen prachtvollen Kirchenthronsessel sind die Ortsnamen derjenigen Dominikanerklöster angebracht, die mit dem Predigerorden in Stuttgart in Verbindung standen. Ich lese Koblenz, Konstanz, – und noch zwanzig Namen. Unter den letzten: Pforzheim. Es ist wie eine ungeheure Machtentfaltung, ein Heeresaufgebot, eine Demonstration. Grandios dröhnen die lateinischen Namen, die wohl den einzelnen Repräsentanten der Klöster zukamen, wenn sie sich, auf diesen Thronen sitzend, versammelten: Confluentinus, Constanciensis, Spirensis, Lovaniensis. Drängen sie sich heran? Verfolgen sie immer noch den müdegehetzten Gelehrten? Vergebens sage ich mir, daß diese ganze Ansammlung von Möbeln ein Zufall ist, daß man die alten Prachtstücke vermutlich bald in die Dominikanerkirche zurückbringen wird, wenn sie zu Ende restauriert ist. Unter einem der Bildwerke droht eine Beschriftung: »Es kommt die Stunde seines Gerichts« (Offenbarung 18, Vers 10). Es ist der Vers, in dem Wehe gerufen wird über die große Stadt Babylon. Gewiß, all das ist Zufall; auch daß der Holzschnitzer aus dem Jahre 1493 sich Hans Hass nennt, – nichts als Zufall. Ich suche mein — 497 —

Herz zu beschwichtigen und ich flüchte zuletzt zu einem sehr alten Gebet, in dem es heißt: »Der Frieden schafft in seinen Höhen, er schaffe in seinem Erbarmen Frieden auch uns.«

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NACHWORT Die Arbeit an diesem Buch wurde im Dezember 1961 begonnen und Ende Februar 1965 abgeschlossen. Den langen Zeitraum fast ununterbrochener glücklicher Beschäftigung mit dem Werk überblickend danke ich vor allem meiner unermüdlichen Helferin und Mitarbeiterin Frau Ilse Ester Hoffe für ihre Mühe bei Reinschrift und Korrekturen, ihre Verbesserungsvorschläge, ihr nie nachlassendes Interesse und die von ihr ausgehende Ermunterung, wenn Schwierigkeiten mich zu übermannen drohten. Mein weiterer Dank gilt meinem (leider seither verblichenen) besten Freunde, dem Philosophen Felix Weltsch. Er hat durch Diskussion und durch Nachweisung wie Heranschaffung einer reichen einschlägigen Literatur die Arbeit gefördert. Mein Dank gilt ferner mit gleicher Intensität Prof. Kurt Worrmann, Direktor der Universitätsbibliothek Jerusalem, und Dr. Liff, Direktor der städtischen Bibliothek Tel-Aviv, sowie den Leitern anderer Bibliotheken wie der Rambambibliothek in Tel-Aviv, der Universitätsbibliothek Tübingen und der Landesbibliothek Stuttgart sowie dem Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim, Herrn Dr. Brandenburg, dem Stadtarchivar daselbst, Herrn Wahl, und Herrn Dr. Hannemann von der Badischen Landesbibliothek, die mir alle in freundlichster Weise die Benützung ihrer Bücherschätze erleichterten und bei der Bildbzw. Klischeebeschaffung halfen. Aus zwei Orten, an denen Reuchlin gewohnt hat, Poitiers und Linz, erhielt ich Darstellungen aus lokalen Quellen, was gleichfalls mit Dank vermerkt sei. Ebenso danke ich meinem Freund Dr. Jörg — 499 —

Mager (Düsseldorf) für seine wichtigen Anregungen. – Den Autoren, denen ich für meine Darstellung verpflichtet bin, habe ich in den betreffenden Kapiteln des Buches durch genaue Zitierung und Anführung ihrer Bücher, aus denen ich gelernt habe, meinen Respekt bezeugt. Ich hoffe, daß ich mich der in neuester Zeit eingerissenen Unsitte nicht schuldig mache, ganze Partien aus fremden Büchern zu entlehnen, ohne den ursprünglichen Autor oder Entdecker anzugeben. So ist (beispielsweise) in einer neueren Kafkabiographie ein wichtiges Dokument aus Kafkas Amtsarbeit bei der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt (und nicht nur dieses Dokument) samt den dazugehörigen technischen Bildern so angeführt, als ob der Verfasser dieser Biographie alles das als erster veröffentlicht hätte, während ich es Jahrzehnte vorher (ebenso die Bilder) in der von Willy Haas in Berlin herausgegebenen ›Literarischen Welt‹, sowie in meiner Kafkabiographie (ohne Illustration) der Vergessenheit entrissen habe. Auch Kafkas Ausspruch »Betrachten Sie mich als einen Traum«, den ich tradiert habe, und sehr vieles andere, nebst den Zeichnungen Kafkas, wird meist und immer wieder von verschiedenen Autoren so angeführt, als ob es herrenloses Gut und nicht meinen Büchern über Kafka entnommen wäre. Im Grunde ist das nicht eben sehr wichtig; doch da es gegen die guten Sitten des literarischen Umgangs verstößt, bringt es mich gelegentlich einmal in Wallung. Zuletzt noch zwei Bemerkungen fachlicher Art: Die Transkription hebräischer Worte habe ich nicht der üblichen ›wissenschaftlichen‹ Methode gemäß vorgenommen, die mir allzu künstlich scheint. Diese ist u. a. von der Angst beeinflußt, der Laut ›ch‹ werde nicht wie etwa im deutschen Wort ›machen‹ ausgesprochen werden, sondern auf englische Art (als tsch). Und ähnliche Rücksichtnahmen herrschen da auch sonst vor. Im Gegensatz hiezu — 500 —

habe ich eine Transkription gewählt, die der heute im Lande Israel üblichen Aussprache möglichst nahekommt; auch an Akzentzeichen habe ich nicht gespart. – Schließlich sei erwähnt, daß ich meiner (vielleicht übertriebenen) Abneigung gegen Fußnoten und Anmerkungen Raum gegeben habe. Ich bin der unmaßgeblichen Meinung, daß das, was sich nicht in den Haupttext einfügen läßt, auch keinen Anspruch darauf hat, anmerkungsweise mitzutrotten.

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Nachwort

Jüdische Reuchlin-Bilder Josel von Rosheim (1476-1554), der Anwalt und »Befehlshaber« der Juden im Deutschen Reich, war Zeitgenosse von Johannes Reuchlin und »Augenzeuge« von dessen Kampf um den Talmud. Er selbst hat sich in diesen Streit offenbar nicht eingemischt, wohl aber hat er in seinen Erinnerungen eine kurze Notiz über den Pfefferkorn’schen Streit hinterlassen, die man als frühe authentisches Beurteilung Reuchlins durch einen Juden betrachten kann: »Siehe, was sich ereignet hat mit dem Bedränger und Feind, den man mit seinem unreinen Namen Kazuff (Metzger) nannte, der anfangs aufstand, um über Einzelne und Viele üble Nachrede zu verbreiten, und nachher in Streit kam mit unbescholtenen Männern, um zu verleumden und ihnen zu schaden, bis er zu der bösen Brut konvertierte, um ganz Israel Not zu bereiten. Er wollte die mündliche Tora und alle heiligen Bücher vernichten und vertilgen. Aber Gott verübte für uns ein Wunder im Wunder, indem er einen guten Mann aus den Weisen der Völker, den Doktor Reuchlin, sandte, um ihn vor dem Papst und Bischof zu besiegen, dass es nämlich nicht rechtens sei, den Talmud und unsere heiligen Bücher zu konfiszieren. Und dem Bedränger wurde seine Schmach heimgezahlt,1 er krepierte in Köln. ›Wenn die Frevler untergehen herrscht Jubel‹2 ›und Freude bei den Juden‹.3«.4

1 2 3 4

Nach Ps 70,4. Prov 11,10. Vgl. Esther 8,17. R. Joseph Isch Rosheim, Sefer ha-Mikna, ed. Ó. Fraenkel – Goldschmidt, Jerusalem 1970, S. 14.

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Selbst dieser Josel, der sich in zahlreichen Schreiben an die christlichen Fürsten aktiv für seine jüdischen Volksgenossen einsetzte, konnte das Auftreten Reuchlins im Streit um den Talmud nicht anders denn als ein göttliches Wunder verstehen. Reuchlin erschien diesem frommen Mann als das Werkzeug Gottes zur Rettung seines Volkes. Mehr interessierte Josel an diesem Streit nicht. Es scheint indessen, dass die Reuchlinaffäre bei den Juden zunächst als nur eine weitere Episode der stets gleichen stereotypischen Verfolgungen in Vergessenheit geraten war, weil diese für sie weniger Bedeutung hatte als für die Christen, die darin die Befreiung von der geistigen Unterdrückung durch die kirchliche Scholastik und einen Vorläufer der Reformation sahen. Denn, so zumindest meint auch Ludwig Geiger: »Nachdem die Juden ihre Bücher zurückerhalten hatten – zwischen März und Juli 1510 – war für sie die Angelegenheit zu Ende, vielleicht wussten sie kaum, dass Gutachten über die Zulässigkeit ihrer Schriften eingeholt wurden, und ob sie eine Ahnung von der literarischen Fehde hatten, die über eines dieser Gutachten entbrannte, welche in einer für die meisten unter ihnen damals doch fast ganz unverständlichen Sprache, nämlich der deutschen, geführt wurde, ist höchst ungewiss. Von Juden ist in jener Zeit das Lob Reuchlins nicht gesungen worden, nirgends in jüdischen ganz gleichzeitigen Quellen [ist] von seinem Streit die Rede, was der Fall sein müsste, wenn das Erscheinen des Augenspiegels jene freudige Aufregung unter den Juden hervorgerufen hätte. Schon diese einfache Thatsache könnte die grosse Verkennung lehren, die darin liegt, den Reuchlinschen Streit als einen Kampf für den Thalmud aufzufassen, wie man neuerdings versucht hat.«5 5 Geiger, Reuchlin, S. 253-254.

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Ganz vergessen war die Angelegenheit aber offenbar dennoch nicht, wenn auch ohne Nennung Reuchlins. So findet sich in dem mehrmals gedruckten6 Buch Sefer ha-Óajjim des ehemaligen Rabbiners von Friedberg (Hessen) Óajjim Ben Bezalel (1530-1588) ein Hinweis auf den Talmudstreit, wodurch immerhin die Erinnerung wachgehalten wurde. Dort schreibt der Autor: »Ich habe von Alten hierzulande erzählen hören, dass in früheren Jahren einige Frevler aus unserem Volk aufgetreten sind, und mit Wort und Tat ihre Hand gegen dieses wunderbare Gefäß [den Talmud] ausgereckt haben, es dem Feuer zu übergeben, aus Spott und Hass gegen die darin enthaltenen Dinge wegen der Geringheit ihres Verstandes. Und beinahe hätten sie ihren bösen Plan ausgeführt, da erweckte Gott den Geist eines weisen Christen, der vor Fürsten und Völker hintrat und dieses heilige Buch verteidigte. Er sagte: die wundersamen Erzählungen (Agadot) in ihm, seien wie die bitteren Kräuter und tödlichen Gifte, die neben köstlichen Gewürzen in den Apotheken verkauft werden. Auch sie werden gebraucht zur Heilung von Krankheiten […] aber man verkauft sie nur den sachkundigen Ärzten, die wissen, wie sie an richtiger Stelle zu gebrauchen sind. So sind auch die köstlichen Worte unserer Weisen, seligen Angedenkens und ihre Rätsel nur denen, welche die Mysterien verstehen, bestimmt, aber für die Toren, die in der Finsternis wandeln, sind sie Tod und Verderben. – Die Verteidigungsworte dieses christlichen Weisen gefielen den Fürsten und dem König, so dass die Verleumder beschämt von dannen gingen.«7 6 Krakau 1593, Amsterdam 1713, Lemberg (Lvov) 1847, Warschau 1876. 7 Bei Geiger, S. 253-254; Krakau, 1593, S. 6; Warschau, S. 8; Lemberg, Seite Perek Bet/Gimmel.

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Klar wird aus diesen Berichten, dass der Streit im jüdischen Gedächtnis offenbar nur ein Streit um die Verbrennung des Talmud war. Die alten Zeugnisse bestätigen die Auffassung von Heinrich Graetz in seiner »Geschichte der Juden«, der in dem ganzen Streit gleichermaßen vor allem einen Kampf um den Talmud sah, und setzen hinter Ludwig Geigers gegenteilige Einschätzung ein deutliches Fragezeichen. Es waren dann die beiden genannten großen jüdischen Historiker des Judentums, Heinrich Graetz (1817-1891) und Ludwig Geiger (1810-1874), die sich dem Thema nach einer langen Pause wieder zuwandten. Graetz widmete dem Pfefferkorn-Reuchlin’schen Streit in dem 1866 erschienenen neunten Band eine für seine umfassende »Weltgeschichte des Judentums« ungewöhnlich ausführliche und zugleich dezidiert nationaljüdische Darstellung. Kurz nach ihm, 1871, folgte der Berliner Literatur- und Kulturhistoriker Ludwig Geiger mit seiner Biographie Reuchlins, die deutlich andere Akzente setzte. Auf beide Autoren beruft sich Max Brod in seiner Reuchlinbiographie, meist zustimmend, aber auch kritisch ablehnend, und erst vor dem Hintergrund dieser beiden jüdischen »Standarddarstellungen« wird das neue und ganz andere Profil von Brods Reuchlindarstellung deutlich. Max Brod geht in seiner Beurteilung dieser Vorgänger sogar so weit, dass er gegen Ende seines Buches sagte: »Reuchlins schönstes Standbild ist die klassische Biographie von Ludwig Geiger 1871, ohne die das vorliegende Buch nie hätte geschrieben werden können.« (S. 481) Was also hat Max Brod, den Schriftsteller und Romancier, bewegt, einen neuen Versuch zu unternehmen, der obendrein von seinem eigentlichen Faible für historische Romane abweicht? Diese Frage lässt sich beantworten, wenn — 516 —

man die drei Werke miteinander vergleicht und erkennt, dass jedes von ihnen Kind seiner Zeit ist, also die Biographie Reuchlins in die je eigene Gegenwart hineinspricht. Dies gilt in besonderem Maße für Max Brods Unternehmen. Deshalb ist aber auch über seine Darstellung die Zeit in mancher Hinsicht schon wieder hinweggegangen. All das soll uns im Folgenden beschäftigen. Heinrich Graetz – ein trotziger Nationaljude und Aufklärer, zeichnet das Bild eines durch eigene Interessen geleiteten unbewussten Helfers der Juden Dreihundert Jahre nach Josel von Rosheim folgt Heinrich Graetz in durchaus dialektischer Weise dessen Einschätzung der Rolle Reuchlins. Graetz war der erste und herausragende Historiker einer Nationalgeschichte des Judentums: »Die Geschichte des nachtalmudischen Zeitraums hat also noch immer einen nationalen Charakter, sie ist keineswegs eine bloße Religions- oder Kirchengeschichte.«8 Moses Hess der geistige Vater des modernen politischen Zionismus, der während der Entstehung seines epochalen protozionistischen Buches von 1862, Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätenfrage, mit Heinrich Graetz in engem Austausch stand, hat diesen Satz von Graetz eigens zitiert9 und mit ihm den für sein eigenes Buch geeigneten Titel diskutiert – Graetz identifizierte sich also mit dem Gedanken der nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Heinrich Graetz tat mit dem Wunder Josels das, was der spätere Zionist Achad Ha-Am in seinem programmatischen Aufsatz »Nicht dies ist der Weg« von 1892 schrieb: 8 H. Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 3, Leipzig 1909 (4. Aufl.), S. XV. 9 Rom und Jerusalem, (2. Aufl.) 1899, S. XVII; dazu K.E. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 68-79.

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»Nach vielen Jahrhunderten der Armut und Niedrigkeit von außen und des blinden Glaubens und der Hoffnung auf die Gnade des Himmels von innen trat in unserem Zeitalter ein neuer, folgenschwerer Gedanke in Erscheinung: den Glauben und die Hoffnung vom Himmel herunterzuholen und sie in lebendige, reale Kräfte umzusetzen; auf die Erde die Hoffnung und auf das Volk den Glauben zu gründen …«10 So hat auch Graetz in durchaus polemischer, ja verstörender Weise das Wunder der Rettung vom Himmel in die Menschenwelt, von der Theologie in die Anthropologie herabgezogen. Unter der Überschrift Die Reuchlin-Pfefferkornsche Fehde oder der Talmud ein Schibbolet der Humanisten und der Dunkelmänner schrieb Graetz: »Wer hätte es damals ahnen können, daß gerade von dem plumpen, allerwärts für dumm gehaltenen deutschen Volke, von dem Lande der Raubritter, der täglichen Fehden um die nichtigsten Dinge, der Zerfahrenheit der politischen Zustände, wo jeder zugleich Despot und Knecht war, nach unten unbarmherzig tretend und nach oben erbärmlich kriechend, wer hätte damals ahnen können, daß gerade von diesem Volke und diesem Lande eine Bewegung ausgehen würde, welche die europäischen Zustände bis in ihre Tiefen erschüttern, eine neue Gestaltung der politischen Verhältnisse schaffen, dem Mittelalter den Todesstoß versetzen und dem Anbruch einer neuen Geschichtsperiode das Siegel aufdrücken würde? […] Sollte von diesem Lande […] eine Kraftanstrengung ausgehen, welche die europäischen 10 Achad Haam, Nicht dies ist der Weg!, in: Achad Haam, Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze, dt. von I. Friedländer u. H. Torczyner, Berlin 1923, Bd. 1, S. 41; bei Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 23.

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Länder verjüngen sollte! Gewiß, das schien den damals Lebenden als eine baare Unmöglichkeit«.11 Wer nun erwartet, dass Graetz den in diesen Worten angekündigten Stern der Erleuchtung, Johannes Reuchlin, nennen würde, sieht sich getäuscht. Nachdem Graetz im weiteren Verlauf dieser Attacke dann doch die sittlichen Keime des biederen Volksstammes der Deutschen als positives Element hervorhebt, fährt er fort: »Aber diese sittlichen Keime im deutschen Volksstamme waren so sehr verborgen und vergraben, daß es günstiger Umstände bedurfte, sie ans Licht zu treiben und als geschichtliche Mächte hervortreten zu lassen. Einen großen Anteil an der Erweckung der schlummernden Kräfte hatte – wie sehr es auch die Deutschen selbst verkennen – mittelbar der Talmud. Man darf kühn behaupten, daß der Streit für und wider den Talmud das Bewußtsein der Deutschen wachgerufen und die öffentliche Meinung geschaffen hat, ohne welche die Reformation, wie so viele andere Versuche in ihrer Geburtsstunde gestorben, ja gar nicht zur Geburt gelangt wäre.«12 Und noch immer wird Reuchlin nicht genannt, sondern: »Das unscheinbare Sandkörnchen, welches diesen Sturz herbeiführte, war ein unwissender, grundgemeiner Mensch, der Abschaum der Juden, welcher nicht verdient hat, daß von ihm in der Geschichte die Rede sei, den aber die Vorsehung bestimmt zu haben scheint, wie 11 Graetz, Geschichte der Juden von der Verbannung der Juden aus Spanien und Portugal (1494) bis zur dauernden Ansiedlung der Marranen in Holland (1618) (Bd. 9). (4. Aufl.) Leipzig 1907, S. 63. 12 Graetz, Geschichte, Bd. 9, S. 64.

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den Stinkkäfer, ein nützliches Werk wider Willen zu vollbringen.« Der schreckliche Pfefferkorn, ein übler Jude, aber eben doch ein Jude, war es, der den großen Stein ins Rollen brachte. Reuchlin kommt dann erst später nolens volens ins Spiel. Gewiss sind die Dinge so gelaufen. Es kommt hier aber auf die Bewertung im Rückblick an, denn schließlich wäre der Pfefferkornaffäre ohne Reuchlin kaum eine außergewöhnliche Bedeutung in der Erinnerungskultur zugekommen. Natürlich bietet Graetz auch eine Kurzbiographie Reuchlins, den wichtigen Anteil, den jüdische Lehrer im Bildungsgang Reuchlins spielten. Er nennt Reuchlins hebräische Grammatik, die »freilich dürftig genug ausgestattet war« (S. 82), um dann auf etwa einer Seite (S. 7981) Reuchlins Buch »von dem wunderbaren Worte« (er sagt nicht »wunderwirkenden Worte«) zu beschreiben. Aber die zu Beginn aufgesteckte Lampe lässt Reuchlin doch in einem etwas blasseren Licht erscheinen, das zeigt sich ebenso an den weiteren Themen, welche Graetz in Sachen Reuchlin aufgreift. Graetz lobt Reuchlins Verehrung der hebräischen Sprache in diesem kabbalistischen Büchlein, kommt dann aber zu dessen Beurteilung, die eine nicht zu hohe Meinung von Reuchlin verrät: »Die kindische Auslegung der Namen und Buchstaben in der heiligen Schrift von Seiten der Kabbalisten war es, die Capnion anstaunte, und er wendete sie auf die Dogmen des Christentums an. So schwärmte Reuchlin für die Zahlendeutungen der Buchstaben des Gottesnamens (Tetragrammaton), wie die Kabbalisten, für die zehn Sefirot der Geheimlehre und suchte für alle diese Spielereien pompöse Belege aus der klassischen Literatur. Dieses mystische Kinderspiel übertrug er auf das — 520 —

Christentum, sah in den ersten Worten der Schöpfungsgeschichte die Andeutung der christlichen Dreieinigkeit von Vater, Sohn und heiligem Geist.« (S. 80-81) An einer späteren Stelle, in welcher es um das zweite kabbalistische Werk Reuchlins ging, De arte cabbalistica, zieht der aufgeklärte Rationalist Graetz noch mehr vom Leder. Zu dieser Schrift Reuchlins sagt Graetz unter anderem: »Nachdem er lange nach einem Leitfaden gesucht, machte ihn das Ungefähr mit der trübsten Quelle [der Kabbala] bekannt, mit einigen sinnlosen Schriften des Kabbalisten Joseph Gicatilla […] Sobald Reuchlin von der Fundgrube des sinnverwirrten Joseph Gicatilla erfuhr, hatte er keine Ruhe, bis er sie erhielt, und er machte sich darüber her, die Kabbala von neuem für die Dogmen des Christentums auszubeuten und seine Behauptung, die Kabbala sei gut christkatholisch, zu belegen […] Mittels der Spielereien des Gicatilla glaubte Reuchlin das Rätsel der Welt lösen zu können – ein Lächeln erregender Irrtum des sonst so besonnenen Mannes. […] Der jüdische Kabbalist von Frankfurt oder vielmehr Reuchlin stoppelt nun einen schwindelerregenden Wust zusammen […] um zum Ergebnisse zu gelangen, daß die kabbalistische Spielerei des halbverrückten Abraham Abulafia und seines Jüngers Joseph Gicatilla mittels Buchstabenversetzung und Zahlenkombination ihre volle Berechtigung hätte und den Schlüssel zur höchsten Weisheit böte.« (S. 165-169) Der Historiker Graetz lässt hier jegliches Gefühl für eine zurückliegende geistesgeschichtliche Epoche vermissen und urteilt von seinem modernen rationalistischen Gesichtspunkt aus, den er mit vielen zeitgenössischen Reformern teilte. — 521 —

Wie alle Historiker dieser Geschichte versäumt auch Graetz nicht, darauf hinzuweisen, dass es Reuchlin zuallererst um seinen ihn interessierenden Forschungsgegenstand, weniger um die Juden ging, doch er tut dies in einem Ton, in dem er sich von den anderen noch zu nennenden Autoren deutlich unterscheidet: »Wenn Reuchlin in die Judengasse hinabstieg, um einen daselbst vergrabenen Schatz zu heben, so war er darum anfangs doch nicht weniger als seine Zeitgenossen von dickem Vorurteil gegen den jüdischen Stamm befangen. […] Uneingedenk seines ehemaligen Glanzes und ohne Blick für dessen gediegenen, wenn auch von einer abschreckenden Schale umgebenen Kern, betrachtete Reuchlin ihn nicht nur als barbarisch und alles Kunstsinnes bar, sondern auch als niedrig und verworfen. […] Mit dem zerfahrenen Kirchenvater Hieronymus, seinem Musterbilde, bezeugte er, daß er die jüdische Nation gründlich haßte.« (S. 83) Nach der Erörterung von Reuchlins »Missive«, das die Grundlage für Graetzens negatives Reuchlinbild abgeben konnte, beschreibt Graetz natürlich auch Reuchlins positive Seiten, dessen Eintreten für die jüdischen Bücher, das auch den jüdischen Menschen Erleichterung schuf. So sagt Graetz: »Gewiß, seitdem die Juden von der Christenheit gemißhandelt und verfolgt wurden, haben sie keinen so wohlwollenden Sachwalter gefunden, wie Reuchlin und dazu noch in einer amtlichen Erklärung für den Reichskanzler und den Kaiser. Zwei Punkte, welche Reuchlin betont hatte, waren von besonderer Wichtigkeit für die Juden. Der erste, daß die Juden Mitbürger des deutschrömischen Reiches seien und desselben Rechtes und — 522 —

Schutzes genießen. Es war gewissermaßen der erste stotternd ausgesprochene Laut zu jenem befreienden Worte vollständiger Gleichstellung, welches mehr als drei Jahrhunderte brauchte, um voll ausgesprochen und anerkannt zu werden. Damit war der mittelalterliche Spuk zum Teil gebannt, daß die Juden durch Vespasians und Titus‘ Eroberung Jerusalems ihren Nachfolgern, den römischen und deutschen Kaisern, mit Gut und Blut verfallen seien, daß diese das volle Recht hätten, sie zu töten und nur Gnade übten, wenn sie ihnen das nackte Leben ließen, daß mit einem Worte, die Juden gegenüber den Machthabern durchaus rechtlos wären.« (S. 98) Der zweite Punkt war der, dass die Juden nicht als Ketzer betrachtet werden, weil sie ja nie Christen gewesen waren, sie also nicht der Macht des geistlichen Armes unterliegen. Aber auch diese beiden wichtigen Taten Reuchlins konnte Graetz nicht ohne fast herabwürdigende Bemerkung stehen lassen. Denn er fügt hinzu, dass Reuchlin letztlich selbst nicht begriffen habe, welch große Worte er damit ausgesprochen hat: »In seinem Unwillen gegen Pfefferkorns Unverschämtheit ermaß Reuchlin selbst nicht die Tragweite seiner Äußerungen; sie sind ihm gewissermaßen nur entschlüpft; aber seine Feinde ermangelten nicht, sie als Waffen gegen ihn zu gebrauchen.« (S. 98) Sollte der Jurist und weltläufige Staatsmann Reuchlin seine eigenen Worte weniger verstanden haben als die »Dunkelmänner«, die ihn verfolgten? Graetz beurteilt Reuchlin nach seinen eigenen nationalen, protozionistisch-politischen und rationalistischen Einstellungen – Reuchlin erscheint fast nur als von jüdischen Kräften, voran des Talmud, getriebenes Werkzeug. — 523 —

Ludwig Geiger – ein deutsches Denkmal Reuchlins Max Brod hat die richtige Formel gefunden, wenn er davon spricht, dass Ludwig Geiger, der Sohn des deutschjüdischen Reformtheologen Abraham Geiger, Reuchlin das schönste Denkmal, man möchte fast sagen eine Marmorstatue, errichtet hat. Es ist gewiss nicht zufällig, dass dieses Denkmal gerade im Siegesjahr 1870 verfasst wurde und 1871 erschien, im Jahr der Errichtung des wiedererwachten deutschen Kaiserreiches. Geiger zeichnet Reuchlins Bild entsprechend in das Wiedererstarken der deutschen Wissenschaft durch die herausragenden Gestalten des Humanismus ein. Nachdem in Deutschland die Buchdruckerkunst erfunden wurde, »wanderte die Kunst nach Italien: hier wurde sie zuerst in den Dienst wissenschaftlicher Arbeit gestellt. Erzeugnisse italienischer Pressen kamen nach Deutschland zurück, die stummen Zeugen trieben mächtiger an, redeten lauter, als die beredtesten Zungen. Der deutsche Humanismus versuchte Deutschland wieder in das Recht einzusetzen, das es nie hätte verlieren sollen.«13 Für Geiger war es ein geschichtlich wichtiges Faktum, dass die ersten deutschen Humanisten aus dem Norden des Landes kamen und deren Nachfolger aus Süd- und Mitteldeutschland: »so reichten sich Nord und Süd zur geistigen Wiederbelebung des Vaterlands die Hände.« (S. X) Der national-humanistische Mythos geht weiter: »Die Humanisten schaarten sich um ihren Herrscher. Sie schrieben lateinisch, aber sie waren deutsch; griechische und lateinische Schriftsteller hoben sie zum Licht 13 L. Geiger, Johann Reuchlin sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871, S. IX.

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empor, aber zum Ruhme Deutschlands; die Forschung der vaterländischen Geschichte lag ihnen am Herzen, denn Deutschland musste stets gross gewesen sein, – sie waren deutsch mit jeder Faser ihres Geistes und Herzens.« (S. XIV). Die deutschen Humanisten waren auf dem Weg, die ultramontane Herrschaft von Papsttum und italienischer Renaissancewissenschaft zu überholen: »nun haben wir das Erbtheil angetreten, wir brauchen nicht nach Griechenland zu eilen, in heimischen Gefilden können wir die Sprache erlernen, unser ist Plato, unser ist Aristoteles […]. Hebräische Bibeln sind bei Euch zuerst gedruckt, aber wir geben der Sprache ihr erstes, wissenschaftliches Lehrgebäude; wer in jene heiligen Tiefen hinabsteigen will, bedarf der Juden nicht mehr, uns muss er fragen.« (S. XIV) Und nun kann Reuchlin auftreten: »Eine Zeit stillen Forschens, emsiger Arbeit, muthigen Ringens liegt zwischen inne: drei Jahrzehnte, die letzten des fünfzehnten, das erste des sechszehnten Jahrhunderts, wenn man geistige Arbeit so strenge in zeitliche Grenzen einschliessen kann. Diese Arbeit hat ein Mann gethan, zum grossen Theil allein, zum Theil mit Helfern, die er selbst sich ausrüstete: dieser Mann war Johann Reuchlin.« (S. XV-XVI). Reuchlin wird dann als Leuchtturm der humanistischen Wissenschaft gezeichnet, dem nicht der Ruhm des Vaterlandes an erster Stelle steht, sondern alleine die Wissenschaft und der Glaube. »Durch ihn ist das Hebräische wiedererweckt, durch ihn das Griechische neu erstanden, in die tiefsten Gründe menschlichen Denkens ist er gestiegen« (S. XVI). Und schon hier klingt es an, dass für Geiger Reuchlins Arbeit an der Kabbala nicht wie bei Graetz — 525 —

dumme Kinderspielerei ist, sondern das tastende Suchen nach der Vervollkommnung und Veredlung der Menschheit. Diesem hehren Prolog folgt die Choreographie des gesamten Buches. Auf nur achtzehn Seiten werden im ersten Buch die »Lebensereignisse« als Jugendzeit, Schüler- und Wanderjahre dargestellt, denen der Mann in Amt und Würden folgt. Eine wunderbare Gelehrtenbiographie, der strebsame Sucher eilt von Universität zu Universität und wird schließlich als hochbegabter lateinischer Redner entdeckt, wird zum fürstlichen Rat, Diplomaten, Hof- und Bundesrichter ernannt und nutzt alle diese Gelegenheiten zur Vervollkommnung seiner wissenschaftlichen Kenntnisse. Für eine solche Gestalt ist es natürlich, dass die Darstellung seiner wissenschaftlichen Ergebnisse den nächsten großen Hauptteil, das gesamte zweite Buch, einnimmt, auf nicht weniger als 144 Seiten, erst jetzt folgt im dritten Buch der Teil, durch den Reuchlin in der öffentlichen Erinnerung verankert ist, der Kampf um den Talmud und die Erhaltung der jüdischen Schriften, welcher bei Geiger allerdings die Überschrift »Der Streit mit den Kölnern« trägt. Allerdings lauten die Kapitel dann wie zu erwarten »Der Kampf um die Bücher der Juden«, »Reuchlins Gutachten«, »der Augenspiegel und seine Folgen«, »Der Prozess: Mainz, Speier, Rom«, »Die öffentliche Meinung für Reuchlin«, »Schriften für und wider: Schimpf und Ernst« und schließlich »Die Entscheidung«. Das vierte Buch beschreibt die »Letzten Lebensjahre und den Tod«. Geiger betont in seiner Einleitung, dass er als unparteiischer Biograph zu Werke gehen möchte, »nicht von parteiischer Vorliebe für seinen Helden und Voreingenommenheit gegen seine Widersacher erfüllt sein« will, »um die rechte Bedeutung des Mannes zu erkennen, den er zu schildern unternommen hat, muss er Alles erwägen, was — 526 —

zu seinen Gunsten und Ungunsten gesagt worden ist.« (S. XIX) Und dazu gehört für ihn auch, dass die schriftstellerischen Werke des Helden nicht nur aufgezählt, sondern eingehend besprochen werden müssen. Für einen Biographen, der selbst noch in der Tradition des Humanismus an einem entsprechenden Gymnasium und solchen Universitäten gebildet wurde, sind derartige Detaildarstellungen, wie zum Beispiel von Reuchlins Rudimenta hebraica, gewiss ein Vergnügen, die aber zum Beispiel einen nicht entsprechend ausgebildeten Leser unserer Tage kaum mehr ansprechen werden. Geiger delektiert sich geradezu daran, die Rudimenta mit zahlreichen hebräischen Zitaten aus den angezogenen jüdischen Autoren sehr eingehend und detailreich auch mit Erörterungen zur Grammatik zu besprechen. Erfreulich wirkt sich diese Einstellung insbesondere bei der Erörterung von Reuchlins kabbalistischen Arbeiten aus, bei denen Geiger in völligem Gegensatz zu Graetz nicht einen modernen Rationalismus, sondern die geistesgeschichtlichen Umstände als Maßstab heranzieht. Natürlich aber fügt sich diese Herangehensweise in den skizzierten Prolog zum ganzen Buch. Wie der eingangs geschilderte Grundton sich immer wieder Geltung verschafft, soll an dieser Stelle bezüglich des biographischen »ersten Buches« noch kurz vermerkt werden. Anlässlich der Geburt Reuchlins in der Schwarzwaldstadt Pforzheim übernimmt auch Geiger aus Reuchlins De verbo mirifico, dessen Selbstverherrlichung seiner Vaterstadt als der Gründung zweier Helden aus Homers Ilias, nämlich des Phrygers Phorcis und mittelbar des Trojaners Aeneas. Dies ist gewiss als omen für das dort geborene Kind gedacht, denn Reuchlin lässt ebenda den herbeigereisten Sidonius sagen: »Trotzdem meine ich feststellen zu können, daß die besondere Beschaffenheit der Region von Pforzheim die geistigen Fähigkeiten der Einheimi— 527 —

schen durchaus nicht unwesentlich begünstigt; und daß dies zutrifft, belegt die ungeheure Zahl der dorther stammenden Gelehrten. Das Vaterland hat nämlich eine nur unbeträchtlich geringere Vererbungskraft als der eigentliche Vater […].«14 Die philologischen Leistungen Reuchlins im Lateinischen, Griechischen und vor allem im Hebräischen verdienten natürlich das uneingeschränkte Lob Geigers und eine entsprechende Darstellung – er nennt Reuchlin zu Recht den Vater der hebräischen Sprachwissenschaft unter den Christen. Natürlich hebt Geiger hervor, dass sich Reuchlin dabei intensiv mit den hebräisch-jüdischen Grammatikern auseinandergesetzt hat und von ihnen profitierte, was natürlich auch seine Haltung zu den lebenden Juden beeinflusste, wenn auch in sehr ambivalenter Weise: »Durch seine Beschäftigung mit dem Hebräischen, wurde Reuchlin nothwendigerweise zu einer Betrachtung des Volkes gedrängt, das diese Sprache gesprochen hatte. Dieses Volk waren die Juden. Bei jedem Schritte wurde Reuchlin zu ihnen geführt. Die Lehrer, bei denen er Unterweisung erhielt, waren Juden, die Bücher, deren er sich als Quellen bediente, waren von Juden geschrieben. Und dieses Volk, das einst heilige, gotterwählte, wie es sich selbst nannte, das einst über mächtige Reiche geherrscht hatte, zu welch elender Lage war es herabgesunken, in wie grosse Verachtung war es gerathen. Vertrieben und verfolgt aus allen Orten, wo es sich aufhielt, nur mit Widerwillen geduldet, gehetzt wie ein Wild, wie ein unreines Thier, und selbst 14 Johannes Reuchlin. Sämtliche Werke, Bd. I,1, De verbo mirifico. Das wundertätige Wort (1494), ed. W,-W. Ehlers, L. Mundt u.a., Stuttgart-Bad Cannstadt 1996, S. 21-23.

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scheu geworden, abgeschlossen, feindselig gegen Alle. [… Dennoch] Er hasste das Volk, als den Christen feindlich entgegengesetzt, aber er ehrte in ihm den Träger der heiligen Ueberlieferung: er achtete die Juden, weil sie die Bibel unverletzt und unverfälscht durch die Jahrhunderte hindurch erhalten hätten. Da sein Hauptfeind, der ihm Jahre seines Lebens vergällte, ihn zu dem wissenschaftlichen Stilleben, der Ruhe des Alters, nach der er sich sehnte, nicht kommen liess, ein getaufter Jude war, so war schon seine Abstammung in Reuchlins Augen ein Verbrechen; er war nicht vorurtheilsfrei genug, die Fehler seines Feindes nur diesem Schuld zu geben, er musste das ganze Volk, von dem er stammte, damit belasten.« (S. 162) Andrerseits sieht Reuchlin zugleich, so Geiger, dass die Situation der Juden nicht durch sie verursacht war, sondern durch die christlichen Wirtsvölker, so dass der Jurist Reuchlin seine diesbezüglichen Ausführungen sogar einmal mit dem Satz beenden konnte »Die Juden sind unsere Nebenmenschen, wir müssen sie lieben.« (S. 164) Natürlich war der Jurist und Philologe Reuchlin durch seine Befassung mit den beiden biblischen Ursprachen Griechisch und Hebräisch mit der Theologie in Berührung gekommen, allerdings ging es ihm dabei, so Geiger, nicht um die kirchlichen Lehren, sondern vor allem darum, die Theologen zu den Urquellen der Bibel zurück und weg von der spitzfindigen Scholastik zu führen (S. 160). Wo er selbst sich zu biblischen Texten äußere, betone er, nicht Theologe sein zu wollen, sondern nur Philologe – die hebräische Sprache war sein Terrain, nicht die Theologie (S. 146). Erstaunlich ist, dass Geiger Reuchlins Befassung mit der Kabbala unter die Rubrik Philosophie stellte. Dies ist — 529 —

umso bedeutender, als es in der philosophischen Zunft Europas eine Debatte um die Zugehörigkeit der Kabbala zur Philosophie gegeben hat, allerdings mit dem Resultat, dass man diese ausschließen wollte. Geiger schließt sich mit seiner Zuordnung den seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Juden veröffentlichten Werken zur »jüdischen Philosophie« an, welche die Kabbala ausdrücklich als Philosophie bezeichneten, so Adolphe Franck, Die Kabbala oder die Religions-Philosophie der Hebräer (deutsch 1844, frz. 1843), und der deutsche Rabbiner D. H. Joel, Die Religionsphilosophie des Sohar (Leipzig 1849).15 Um diese Zuordnung zu rechtfertigen, bietet Geiger eine mehrseitige, für seine Zeit erstaunlich korrekte Geschichte der Kabbala. Die Kabbala, so definiert Geiger, »war ein theosophischer Versuch, der durch den jüdischen Geist seine eigenthümliche Färbung erhalten hatte«. Und um deren Ernsthaftigkeit auch für christliche Autoren zu erweisen, verweist er auf Raimund Lullus, der schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts sich in die Geheimwissenschaft der Hebräer versenkte und sie als »eine göttliche Wissenschaft betrachtet, als eine wahrhafte Offenbarung, deren Licht der vernünftigen Seele sich zuwendet« (S. 166). Weitere Denker, unzufrieden mit der Sterilität der christlichen Scholastik, hätten den Weg weiterverfolgt und in der Kabbala eine Stütze des Christentums sehen wollen. Herausragend darin war der italienische Graf Johann Pikus (Pico) von Mirandula, auch er Schüler bedeutender jüdischer Kabbalisten und Philosophen, der vor allem durch seine Schriften zum wichtigsten Lehrer Reuchlins in dieser Materie wurde. Geiger nennt schließlich Reuchlin als den unmittelbaren Nachfolger von Pikus, der allerdings noch mehr für die Verbreitung der Kabbala getan habe als sein Lehrer. 15 Dazu siehe K.E. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 5, S. 277283.

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Darum hielt es Geiger für gerechtfertigt, diesen beiden Büchern Reuchlins einen erstaunlich großen Raum in seiner Darstellung einzuräumen. Geigers Resümee nach deren ausführlichen Erörterung: »Denn ernst war Reuchlins Streben, Reuchlins Arbeit. Wir dürfen nicht den Maasstab unserer Zeit an ihn anlegen; wir müssen versuchen, jene Zeit zu begreifen, in der er lebte. Nicht mit überlegenem Lächeln sollen wir auf ihn herabsehen. Er ist sehr oft wol als Schwärmer bespöttelt, gar als Zauberer verhöhnt worden. Von Zauberei wollte er durchaus nichts wissen; ein Schwärmer war er. Unklar und mystisch waren seine Gedanken, ihm fehlte die rechte Durchbildung, zu philosophischer Höhe erhob er sich nicht.« (S. 195) »Wir haben gesehn, die Veredlung, die sittliche Reinigung des Menschen, war auch das Ziel, das Reuchlin zu erreichen strebte; das Ziel ist so hoch und rein, dass wir über Dornen und Gestrüpp am Wege hinwegsehen.« (S. 198) Den Löwenanteil von Geigers Buch nimmt natürlich der sogenannte Bücherstreit ein. Diesen unterteilt Geiger in zwei thematisch getrennte Phasen. Im ersten Teil geht es um die von dem Apostaten betriebene antijüdische Hetze sowie Konfiszierung und geforderte Verbrennung jüdischer Bücher, voran des Talmud. Die zweite Phase hat damit nur noch indirekt zu tun. In ihr geht es um Johannes Reuchlins Gutachten, den »Ratschlag« für den Kaiser und seinen an die gesamte deutsche Öffentlichkeit gerichteten Augenspiegel. Das hier im Mittelpunkt stehende Thema ist, wie vor allem von den Kölner Dominikanern behauptet, dass oder ob Reuchlin in diesen beiden Schriften ketzerische Thesen aufstellt, der Augenspiegel selbst deshalb als ketzerisches Buch verboten werden müsse. Letztlich — 531 —

steht hinter dem Ganzen dann der »innerdeutsche« Streit um die von den Humanisten geforderte freie Wissenschaft und Meinungsfreiheit gegen die von der Kirche strafbewehrte Scholastik und Dogmatik. Nachdem auf Befehl des Kaisers den Juden im Juni 1510 bis zur weiteren Klärung des Sachverhalts ihre Bücher zurückgegeben worden waren, begann mit den Gutachten dazu die neue Phase des Streites: »Damit war die Bücherangelegenheit beendigt. Der geistige Kampf, der sich an diese kleine, dem deutschen Geiste, wie es schien, so fern liegende Angelegenheit anknüpfte, aber, obwol aus ihr entsprungen, sofort einen veränderten Charakter, eine wesentlich andere Gestalt annahm, begann erst jetzt. Von den Büchern der Juden war in ihm gar nicht, von den Juden kaum mehr die Rede: worum es sich handelte, das war die Berechtigung der freien Meinungsäusserung gegenüber inquisitorischer Verketzerungssucht.« (S. 240) Es war ein »Kampf, der Deutschland in zwei Lager spaltete, an dem die Gebildeten ganz Europa’s Antheil nahmen«. Dieser Reuchlinstreit war nach Auffassung Geigers, anders als Graetz dies darstellte, nicht länger ein Kampf für den Talmud. Es scheint, dass sich hier nochmals Geigers optimistische Sicht von den Juden in dem neuen deutschen Vaterland bemerkbar macht. Denn er hält es nicht für angezeigt, den Mittelpunkt dieses Streites zu skandalisieren, nämlich dass im damaligen Deutschland, in der damaligen Kirche, eine gerechte Parteinahme für die Juden und ihre Kultur als ketzerisch und damit nach den Regeln der Kirche strafwürdig war. Natürlich ging es dabei um die neue Freiheit gegenüber den Lehren der Kirche durch freie Forschung in Recht und Theologie. Dennoch war das treibende Skandalon die Stellung zum Judentum. Immerhin — 532 —

meint Geiger zum »Ratschlag« Reuchlins mit Leopold von Ranke: »Das war Reuchlins Gutachten ›ein schönes Denkmal reiner Gesinnung und überlegener Einsicht‹. Manches mag noch darin sein, was mit den Anforderungen völliger religiöser Gleichberechtigung nicht ganz harmonirt, aber im Ganzen zeigt es reine und tolerante Grundsätze, milde und schöne Auffassung. Einiges von dem hier etwas kühn Behaupteten hat Reuchlin zwar später gemildert, ganz zurückgenommen; die Menge, meinte er wol, sei für die Auffassung noch nicht reif, er hatte sie nur für Kaiser und Erzbischof niedergeschrieben. Doch was er auch daran änderte, im Wesentlichen hielt er die Behauptungen fest, um derenwillen er bei den Finsterlingen stets für einen Ketzer würde gegolten haben: die Juden sind unsere Mitbürger; was sie gegen die Christen denken, haben diese nicht zu prüfen, die Obrigkeit hat kein Recht, ihnen ihre Bücher fortzunehmen; und machte stets den falschen, aber für seine Zeit sehr anstössigen Zusatz: aus den jüdischen Schriften lässt sich die Wahrheit des Christenthums erweisen.« (S. 233-234). In der zusammenfassenden Bewertung Reuchlins durch Geiger verschafft sich die Relativierung dieses Kampfes als Kampf für die Juden und deren Buchkultur und demgegenüber die Betonung der universellen und auch vaterländischen Dimension dieses Streites nochmals ein wohl vernehmliches Echo: »Ein Heiliger, zu deren Reigen Erasmus ihn erhob, war Reuchlin nicht, er war ein Mensch auch mit menschlichen Fehlern und Schwächen. Er hatte einen weltgeschichtlichen Kampf unternommen, dessen Gefährlichkeit er bald einsah, aber er gab ihn deshalb nicht auf. […] — 533 —

Reuchlin war von der Heiligkeit seiner Sache, von der Wahrheit seiner wissenschaftlichen Ansichten überzeugt. Er wusste, dass er Manches geleistet, und er sprach es auch aus. Aber nicht Stolz erfüllte ihn dabei. Er betrachtete sich nicht als Führer und Herrscher im Geistesgebiete, sondern reichte den Mitstrebenden als Genossen die Hand. Wenn er es auch oft sagte, dass er das Griechische in Deutschland eingeführt habe, wenn er mit gewisser Befriedigung auf seine Leistungen für das Hebräische hinblickte, so war es nicht persönliche Eitelkeit, sondern der Eifer im Dienste der ergriffenen Sache, das Streben, die Kirche, die Religion zu stützen, den Ruhm des Vaterlandes zu erhöhn.« (S. 475-476) Reuchlin war, so wie es die Einleitung ankündigte, der bescheidene geistige Heros des voranschreitenden deutschen Vaterlandes.

Max Brod – ein aus der deutschen Kultur vertriebener Literat, als Zionist nach der Schoah Die bisherigen jüdischen Reuchlin-Bilder waren von der historischen und geistesgeschichtlichen Situation ihrer Autoren geprägt. Dasselbe gilt in noch vermehrtem Maße für Max Brod. Er war ein deutscher Literat und Denker, der durch die Verfolgungen des Nazi-Regimes aus seiner deutsche Sprachheimat vertrieben wurde, zu der das gebildete jüdische Prag seiner Zeit hinzugehörte, der das Grauen der Schoah miterlebte und bis in seine Tiefen kannte. Er entkam in die rettende jüdisch-zionistische Heimstatt nach Palästina. Er erlebte stolz die Wiederbelebung der hebräischen Sprache im jüdischen Alltag, die aufstrebende jüdische Wissenschaft, insbesondere zur Kabbala, und das Entstehen eines jüdischen Staates nach fast zweitausend Jahren. Er nahm — 534 —

den Kontakt zu Deutschland bald nach dem Krieg wieder auf, spricht in seiner 1960 bei Kindler veröffentlichten Autobiographie von hoffnungsvollen Zeichen bei der deutschen Jugend, vertritt hier und schon in seinem 1947 in Winterthur publizierten philosophischen Hauptwerk »Diesseits und Jenseits« die Auffassung, dass es des Menschen Pflicht sei, das »unedle Unglück«, also ein abwendbares Leid, durch eigenes aktives Handeln zu verhindern, ihm gegenzusteuern. Diese Einstellung wird es wohl gewesen sein, warum er sich trotz des durch Deutschland erfahrenen Leides zumutete, ein Buch über Reuchlin zu schreiben, das ihn unausweichlich mit dem jüdischen Leiden konfrontieren würde. Aber ebendies hat er wohl als Gelegenheit gesehen, solchem »unedlen Unglück« entgegenzutreten, durch dieses Buch. Und Max Brod lässt keine Gelegenheit aus, dies zu tun. Er schreibt seinen Protest, seine Kommentare, seine Geschichtsphilosophie, die erlebte und die jahrtausendealte jüdische Not in das von Ludwig Geiger bereitgestellte Rahmenwerk ein. Und dies ist es, was seine Reuchlin-Biographie so grundlegend von der Ludwig Geigers unterscheidet. Geiger blickt auf den Reuchlinstreit eher als auf eine überwundene Epoche zurück, während Brod sich aufgerufen fühlt, dem nicht enden wollenden jüdischen Unglück entgegenzusteuern. Brod übernimmt zugegebenermaßen und auf weite Strecken erkennbar die historischen Fakten aus Geigers Darstellung, aber in deren Bewertung und in deren nötiger historischer Einbettung unterscheidet er sich – ich möchte fast sagen: existentiell. Dies ist auch der Grund, weshalb Brod in seine Darstellung immer wieder eigene biographische Erfahrungen einblendet, Parallelen zum damaligen Geschehen, das er selbst fünfhundert Jahre später wieder erleben musste. Er spricht immer wieder von »unserer Diaspora«, »unserem Exil«, auch davon, dass man angesichts mancher wunderbarer Rettung — 535 —

niemandem verwehren kann, hier Gottes Hand zu sehen. Es ist diese eigene Betroffenheit, weshalb er bei der Bewertung mancher Handlungen und Texte Reuchlins die historische Distanz verliert und sie nach seinen eigenen Maßstäben kritisiert. In dieser Hinsicht steht Brod näher bei Graetz, in dessen Darstellung sehr viel mehr die noch existentielle Betroffenheit deutlich wird. Diese Distanz zu Geiger zeigt sich zum Beispiel dort, wo Geiger im Reuchlinstreit zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Phasen sieht und meint, die zweite Phase – nach Reuchlins Augenspiegel – habe nichts mehr mit dem Streit um den Talmud und dessen geforderter Verbrennung zu tun, während Brod und Graetz die Zusammengehörigkeit beider Phasen, vor und nach Reuchlins Gutachten, gerade betonen. Brod demonstriert die bleibende Bedeutung des Talmud-Themas an Hochstratens antireuchlinischen Apologien, in welchen der Ketzerjäger Reuchlin gerade die Verteidigung des Talmud als Hauptsünde vorwarf. Brod wird hier heftig und grundsätzlich: »Es gehörte leider zur masochistisch-unheilvollen Tendenz der Emanzipationszeit, in der Geiger schrieb: das Jüdische immer wieder womöglich ins Dunkel zu ziehen und zu verdecken, auch da, wo das ganz undurchführbar ist, da es den eigentlichen Gegenstand bildet. Wie lächerlich und wirkungslos auch immer im gegebenen Fall eine solche leisetreterische Bemühung anmuten mag, der Versuch wird gleichsam unter Hypnose zwangsläufig, auf jeden Fall unternommen (sogar mit gesperrtem Druck). Bestimmend ist das unheimliche Arbeiten eines halbbewußten Mechanismus im Herzen dieses bedauernswerten Geschlechts, der ›Erstlinge der Entjudung‹, wie S. Schazár (Rubashow)16 sie genannt 16 Er war von 1963 bis 1973 der dritte Staatspräsident Israels.

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hat. – In Wirklichkeit waren natürlich beide Zeitprobleme, der Kampf um den Talmud und der Kampf um die Gedankenfreiheit, unlösbar miteinander verflochten, und man darf keinem von beiden den Vortritt oder gar die Ausschließlichkeit zuschanzen.« (S. 380). Brod betont zu Recht, dass das Ganze ein schon notorischer Streit um den Talmud war, der schon in viel frühere Zeiten zurückreichte und nun in neuem Kontext mit neuen Interessenlagen geführt wird. Brod kritisiert die sich der Emanzipationszeit anbiedernde Haltung Geigers ein weiteres Mal. Parallel zu Reuchlins als »Ratschlag« betiteltem Gutachten haben auch der Inquisitor Hochstraten und der Konvertit Viktor von Karben Gutachten zur Frage der Verbrennung der jüdischen Bücher geschrieben. Brod meint zu diesem Vorgang und dessen Darstellung bei Geiger: »Hochstraten und Viktor von Karben waren selbstverständlich radikal gegen die jüdischen Bücher. Der Ketzermeister und Inquisitor Hochstraten verlangte sogar eine ›solemnis inquisitio‹ (feierliche Inquisition) gegen die Juden, was mit Graetz als richtiges Inquisitionsverfahren verstanden werden muß und nicht, wie Geiger verwässern möchte, als bloße Befragung der Juden, als ›eine im Ganzen nicht inhumane Maßregel‹, wie dieser eminente Gelehrte es unbegreiflicherweise nennt. Diese masochistische Einstellung unseren fürchterlichsten Feinden gegenüber war eben leider in der Zeit Geigers, im Gefolge von Emanzipation und Assimilation, allgemeine Mode geworden.« (S. 288). Brod ist mit seiner Sichtweise kein Monolith. Er ist selbst wieder ein typisches Kind seiner Zeit. In weiten Teilen seines Buches hat man den Eindruck, dass er sich aktiv in den — 537 —

damals verordneten jüdisch-christlichen Dialog einmischt. Ein zentrales Ziel dieses Dialogs war es, den vergesslichen Deutschen, oder noch mehr den vergesslichen Kirchen die grundlegenden Fakten der jüdischen Verfolgungsgeschichte und der Schuld der christlichen Kirche und Theologie daran in Erinnerung zu rufen. Bei Geiger findet man dazu nur kurze abgeklärte Erinnerungen, bei Graetz bedarf es im Rahmen seiner Geschichte solcher nicht mehr eigens. Brods neue Aufgabe zeigt sich nicht nur in einzelnen Textstücken, sondern auch im Aufbau des gesamten Werkes. Besonders nachdrücklich erkennt man dies an einem von Brod eigens eingefügten umfangreichen Kapitel zu »Rechtslage und Zustand des jüdischen Volkes in Deutschland zur Zeit Reuchlins. – Missive und Rudimenta«. Mit diesem Kapitel stellt Brod Reuchlins Befangensein in den ererbten Vorurteilen gegen die Juden dar, wie sie in dessen 1505 erschienener Schrift »Doctor johanns Reuchlins tütsch missive, warumb die Juden so lang im ellend sind« so bestürzend zum Ausdruck kommt. In ihr kann sich Reuchlin die Besserung der Juden nur in der Taufe vorstellen, denn sie seien in der langen Strafe des Exils »wegen der Sünde, die sie am Messias, Sohn Gottes begangen«. Brod hält es zu Recht für nötig, »den Grundstock dieser schlimmen Begleitumstände unserer ExilExistenz wenigstens umrißweise ins Gedächtnis zu rufen«, (S. 218). Brod erinnert an »den fanatischen Haß der Kirche gegen die Juden« und »die systematische Ausschließung der Juden aus den damals wichtigsten anständigen Berufen, aus Landwirtschaft und Handwerk, – verbunden mit erhöhter Steuerlast«, »Einsperrung ins Ghetto, auffallende besondere Tracht, spitzer Judenhut« (S. 226). Dieses schreckliche Wissen, das inzwischen ja dank solcher geschichtlichen »Lehrstunden« weiter verbreitet, — 538 —

aber doch wieder in einer neuen antisemitischen Welle versinkt, ist für Brod auf der andern Seite zugleich Anlass, vor Reuchlin den Hut zu ziehen: »So viel über den Hintergrund, vor dem sich Reuchlins erstaunliches Eintreten für die Juden abspielte, obwohl er, wie immer wieder hervorgehoben werden muß, durchaus kein Freund der Juden, ja ein offener Gegner ihres Glaubens war. Doch ein redlich nach Gerechtigkeit strebender Mann, das war er, – mithin das Seltenste, was auf Erden zu finden ist.« (S. 244f.) Mehr als Geiger und Graetz hat Brod versucht, den inneren Reuchlin’schen Widerspruch als individuelle Geschichte, als Geschichte eines Lernprozesses zu verstehen. Auch dies führt ihn zu einer neuen Gliederung seines Stoffes. Geiger hat seine Darstellung in drei Bücher geteilt I. Lebensereignisse (1455-1512), II. Reuchlins Werke, III. Der Streit mit den Kölnern und IV. Letzte Lebensjahre und Tod. Diese Systematik hat den inneren individualgeschichtlichen Zusammenhang, der sich ja gerade auch an den Schriften Reuchlins ablesen lässt, unsichtbar gemacht und damit auch die Deutung dieser Schriften aus diesem Entwicklungsgang gerissen. Am deutlichsten wird dieses Auseinanderreißen des biographischen Entwicklungsganges an der Behandlung der beiden kabbalistischen Werke Reuchlins, zwischen denen doch gut 25 Jahre lagen. Wie Brod zu Recht beklagt, sieht Geiger – trotz seiner sehr ausführlichen Referate beider Werke – vor allem das Gemeinsame zwischen diesen beiden Schriften, während Brod die tiefgreifenden Unterschiede hervorhebt (S. 154) und diese als durch Reuchlins innere Entwicklung begründet versteht. Brod widmet den beiden kabbalistischen Werken Reuchlins je ein eigenes Kapitel, und zwar an der biographisch wirklichen Stelle Reuchlins. Auch deren — 539 —

Überschriften verraten die damit intendierte Sichtweise. Das Kapitel zum ersten Buch Reuchlins trägt den Titel: »Das vorbereitende Werk: ›Über das wundertätige Wort‹. 1494« und das andere »Das vollendete Werk: ›De arte cabalistica‹«. Im ausführlichen Inhaltsverzeichnis folgt die weitere Charakterisierung des zweiten als »Meisterwerk«. Die wesentlichen Unterschiede der beiden Bücher sind, so Brod, Zeugnisse nicht nur der vertieften Studien in die Texte der Kabbala durch Reuchlin, sondern vor allem der gewandelten Einstellung gegenüber dem Judentum, »Ein Werk, in dem er mehr und Wesentliches zugunsten der verfolgten Juden und ihrer mißverstandenen Geisteshelden zu sagen wagte als in all seinen früheren Schriften zusammengenommen.« (S. 394f.), während im ersten Werk noch heftige Attacken gegen das Judentum geritten werden. Im ersten Buch ist Capnion-Reuchlin der Belehrende, im zweiten der Belehrte (S. 146). Die in den Trialogen der beiden Bücher mitdisputierenden Juden (Baruchias und Simon) sind in beiden Büchern grundverschieden: »Der Jude Simon wird geehrt, bewundert, der Jude Baruchias wird öfters, wenn auch höflich kritisiert, manchmal rauh zurechtgewiesen.« (S. 145) Brod zeigt mit der Zuordnung der beiden kabbalistischen Bücher zu ihrer biographischen Stelle eine innere Entwicklung Reuchlins zum Besseren auf. Ein prominenter Teil von Brods literarischer Teilnahme am jüdisch-christlichen Dialog sind die zahlreichen Belehrungen seiner Leser nicht nur in Sachen jüdischer Geschichte, sondern vor allem auch in jüdischer Lehre und dem Denken. Dieses Anliegen ist Brod so wichtig, dass er mehrfach auch Reuchlins judaistische Kenntnisse kritisiert und korrigiert, als hätte Reuchlin nicht ebendie ihm damals zur Verfügung stehenden Quellen und auch jüdischen Meinungen herangezogen, die Brod selbst nicht — 540 —

kennt oder anerkennt. Und wenn Brod kritisiert, Reuchlin halte das aus Ex 3,14 genommene Wort »Ehje« für einen Gottesnamen, der doch »Ehjeh ascher ehjeh« laute, so muss man doch Reuchlin recht geben, der dies als einen in der Kabbala und der mittelalterlichen jüdischen Philosophie durchaus gängigen Gottesnamen kennt.17 Auch wenn Reuchlin das hebräische Wort Schamajim als Esch und Majim (Feuer und Wasser) deutet (S. 167), so mag das Brod als eine abstruse oder kuriose Deutung erscheinen, aber sie findet sich eben so in den hebräischen Quellen. Reuchlin verfährt wie ein professioneller – wenn auch christlicher – Kabbalist, wenn er in dem Wort ʯʡʠ ’äBeN den Ab und Ben, also Vater und Sohn, angedeutet findet und im zweiten Wort der Bibel ʠʸʡ BaRa’ ʯʡʧʥʸʡʠ Vater, Geist und Sohn (S. 166). Reuchlin gibt den Geist und die exegetischen Methoden der von ihm studierten Texte besser wieder, als es dem modernen Juden Brod lieb ist. Brods Position ist hierbei durchaus schwankend, wo er doch die Kabbala überaus schätzt. Auch Reuchlins Darstellung der Lehre vom Messias erscheint Brod »hanebüchen«, wiewohl es gewichtige jüdische Lehrer gibt, die gerade das von Brod Kritisierte vertraten (S. 97). Kurz, Brod lehrt und korrigiert nach dem, was für ihn das gültige Judentum ist – das muss man ihm, in der beschriebenen Situation der notwendigen Belehrung der Christen, auch nicht übelnehmen, man sollte nur wissen, dass es noch jüdische Traditionen gibt, die in Reuchlins Zeit gängig waren und nach denen dieser sich richtete, die Brod offenbar nicht kannte oder anerkannte. Natürlich hat der durch den Zionismus gerettete Brod allen Grund in seinen jüdisch-christlichen Dialog die für ihn grundlegende Einsicht einzuführen, dass nur eine jü17 Siehe De verbo mirifico, dt. S. 209.

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dische Eigenstaatlichkeit ein Weg aus dem jahrtausendealten jüdischen Elend sein konnte. Und hier greift Brod gleichfalls zum Begriff des Wunders, der die ältesten oben genannten Zeugnisse prägte. Aber auch er holte die Wundermacht vom Himmel auf die Erde. »Dieses Elend konnte nur durch ein Wunder besiegt werden, das heißt durch die geistige Kraft des Volkes, das seine biblisch-ethische Weltschau im ganzen nicht aufgab (was in solcher Lage wohl jedes andere unglückliche Volk getan hätte), das also seine eigene Werteskala den Wertskalen der Umgebung beinahe instinktiv, naturgegeben entgegensetzte, und in seinen Gemeinden, unter seinen spirituellen Führern, den Rabbinern, seinen eigenen Rangordnungen, in die es die Dinge des Weltgeschehens und der privaten Sphäre einordnete, treu, somit geistig unabhängig blieb – durch ein Wunder also, in dem unmittelbaren göttlichen Beistand zu erblicken niemandem verwehrt werden kann.« (S. 227) Stolz kann Brod Reuchlins Sorge, das Hebräische werde bei den Christen nicht mehr verfügbar sein, wenn nicht er sich der hebräischen Sprachwissenschaft widmete, das blühende hebräische Leben in Israel entgegenstellen (S. 216f.). In bewusstem Gegensatz zu Graetz und Geiger sah Brod eine Hauptaufgabe seines Reuchlin-Buches darin, Reuchlin aus dem Ruch zu befreien, er sei ein Mann, der sich »in die Labyrinthe jüdischer ›Zahlenspielerei‹ und kabbalistischer ›Flausen‹« verfangen habe. Brod wollte vielmehr zeigen, »daß […] in dem scheinbaren Unsinn und Hexeneinmaleins der kabbalistischen Kunst sehr viel Sinn zu entdecken ist, wenn man eine gewisse Anstrengung nicht scheut.« (S. 424) Auch damit war Brod ein typisches Kind seiner Zeit. Denn es war der in Jerusalem lehrende Gershom Scholem, der die Kabbala aus ihrem schlechten Ruf befreite und deren geistesgeschichtliche Bedeutung neu verstehen lehrte und dem Brod deshalb weitestgehend folgte. — 542 —

Aber auch über diese geistesgeschichtlich-wissenschaftliche Situation ist die Zeit wieder hinweggeschritten, so dass manche von Brod aufgeführten Details in der modernen Kabbalaforschung schon wieder anders gesehen werden.18 Nur ein Punkt soll hier beispielhaft hervorgehoben werden, der für das Verständnis von Reuchlin zentral ist. Am Ende seiner Besprechung von Reuchlins zweifellos reiferem Werk über die Kabbala, De arte cabalistica, meint Brod: »wie wohl man überhaupt die Darstellung, die Reuchlin von dem Gedankeninhalt und der Bilderfülle der Kabbala gibt, als eine (nicht ganz geglückte, weil von ihm selbst nicht mit Schärfe wahrgenommene) Vereinigung zweier einander in vielem widersprechenden, dabei ungefähr zur gleichen Zeit (nicht lange vor 1300) entstandenen Systeme der jüdischen Mystik auffassen muß: dem des Abulafia und dem des Buches Sohar (Mosché de León).« (S. 437). Der Grundfehler dieser Zusammenfassung ist der, dass Brod der Auffassung ist, als habe Reuchlin nur eine Darstellung der jüdischen Kabbala bieten wollen. Demgegenüber muss man betonen: Reuchlin schöpft zwar aus dieser jüdischen Kabbala, aber doch sehr gezielt, weil er daraus etwas Neues schaffen wollte, nämlich eine christliche Kabbala. Reuchlin hat sehr wohl die unterschiedlichen Schulzugehörigkeiten der ihm vorliegenden Texte erkannt, und eine präzise Auswahl aus ihnen getroffen.19 Reuchlin erweist sich als geschickter Kabbalist, der es 18 Dazu K.E. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, »Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus«, Frankfurt a. M. 2005. 19 Siehe K.E. Grözinger, »Reuchlin und die Kabbala«, in: Reuchlin und die Juden, ed. A. Herzig, J.H. Schoeps u. S. Rohde, Sigmaringen 1993, S. 175-187, online: https://publishup.unipotsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/1696/ file/groezinger1993.pdf

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vermochte, anhand der kabbalistischen jüdischen Texte Auffassungen darzustellen, die seiner eigenen humanistisch-christlich-intellektualistischen Auffassung entsprachen. In seinem De arte cabalistica hat er mit Hilfe der kabbalistischen Intellektsmystik der maimonidisch geprägten Schule des Abraham Abulafia die Erlangung des individuellen Heils an die individuelle Entwicklung eines jeden Menschen gebunden. Er hat gezeigt, dass das Ziel dieser Erkenntnis nichts anderes ist als die Erkenntnis Gottes, vermittelt durch den Namen des Messias »Jesus«. Der Weg zu dieser Erkenntnis ist laut Reuchlin die – kabbalistisch verstandene – Sprache, die ja dem Humanisten oberstes Erkenntnismedium war. Mit Hilfe der Lehre Asriels aus Gerona endlich hat Reuchlin vermocht, seine mystisch-intellektuell-sprachliche Messianologie an die Geschichte zu binden in einem Sinne, wie sie in der christlichen Tradition verstanden wird. Ist einmal diese Erlösungskonzeption entfaltet und deren eminente Bindung an die Sprache als das wesentliche Mittel zur Aneignung der messianischen Gotteserkenntnis bewerkstelligt, kann Reuchlin im dritten Dialog seines Buches ohne Scheu und Vorbehalte die wunderlichsten kabbalistischen Sprachtheorien vortragen. Reuchlin hat also durch die Kombination verschiedener jüdischer Traditionen und durch eine gezielte Auswahl etwas ganz Neues geschaffen – die christliche Kabbala. Die ganze Operation gipfelt in Reuchlins »Entdeckung« des »wunderwirkenden Namens«, des Namens des christlichen Messias, der ein Ausfluss aus der Gottheit selbst, das heißt aus dessen oberstem und wesenhaften Namen JHWH sei. Gemäß dem Denken der kabbalistischen Lehre von den Gottesnamen konnte Gott, sprich das Tetragramm JHWH, in der Welt nur wirken, nachdem aus dem Tetragramm ein neuer Name hervorgegangen war. Bei Reuch— 544 —

lin lautet das so: Wollte der Unaussprechliche sich der Welt zuwenden, musste aus seinem Wesensnamen JHWH ein Wirkname hervorfließen. Diesen Namen gewann Reuchlin durch die in der Kabbala legitime Methode der Gematria: Die hebräischen Worte »mit Erbarmen« (beRachamim) haben denselben Zahlwert wie der Buchstabe Sin (S). Dieser, nach einer weiteren exegetischen Operation, zwischen die beiden Hälften des Tetragrammaton eingeführte Buchstabe ergab nunmehr das bekannte Pentagramm JHSWH – also Jesu. Auch diese typisch kabbalistische Operation hat Brod als falsch verworfen. Der Grund war dann wohl der, dass Reuchlin mit dieser Operation den Juden ihre Kabbala entwendet und christianisiert hat und die Juden dem Vorwurf aussetzte, sie würden dieses Zeugnis ihrer eigenen Kabbala für den christlichen Glauben aus Verstockung nicht anerkennen. Das Gemeinsame all dieser unterschiedlichen Sichtweisen Reuchlins ist: Sie dienen ihren Autoren zur Klärung des Verhältnisses ihres Judentums zu Deutschland. Bei den Alten besteht es nur dank göttlicher Wunder, bei Graetz ist es die konfliktreiche Beziehung zweier Nationen, bei Geiger der Versuch der Assimilation und bei Brod die Suche eines möglichen Neubeginns nach der völligen Zerstörung. Reuchlin ist das Schibbolet der Grenzmarkierung.

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Register

Abälard, Petrus 18, 29 Aberlin, Jörg Abraham (A.T.) Abuja, Elischa ben 411 Abulafia 105, 137, 151, 400, 404, 424, 427, 429, 433, 437, 438-441, 443-445, 448-450 Achaw, König (= König Ahab) Adrian von Utrecht, Kardinal 392 Aeschines 478f. Agricola, Rudolf 61, 108, 113 Alarich, König der Westgoten 17 Alberts, Hildegard 56 Albertus Magnus 133, 268 Albo, Joseph 136 Albrecht, Erzbischof von Mainz 359, 376 Albrecht, Herzog von Bayern 275 Albrecht III., Kurfürst von Brandenburg 113 Aleman, Jochanan 95 Alexander VI., Papst 92, 176, 269, 314, 489 Algazel, Ghasali 121 Alkabez 202 Alkinoos 410 Ammonius 410 Amorbach, Johannes 68, 130f., 172, 253 Anconitanus, Petrus, Kardinal 349, 392 Andreas, Willy 20, 28, 59, 87, 176

Angelus (Theologe) 292 Angelus Silesius (Johannes Scheffler) Anshelm, Thomas 56, 246, 248, 250, 253, 298, 396, 460f., 475, 478, 479 Antigonos von Socho 411 Apollonius von Tyana 410 Apulejus 420 Areopagita, Dionysius 407, 410, 430 Argyropulos, Johann 77 Ariost, Ludovico Ariosto 18, 95, 196 Aristophanes 252, 486 Aristoteles 29f., 46f., 105, 176, 252, 341, 362, 444 Athanasius, Bischof von Alexandria 460 Athenodorus 417 Attila, König der Hunnen 390 Augustinus, Aurelius 102, 228, 231, 317 Averroës s. Ibn Roschd Azriel von Gerona 400, 409 Baeck, Leo 186 Baer, Seligmann 54 Baldung, Hans, gen. Grien 89, 103 Baldus (Theologe) 292 Barbarus, Hermolaus 83 Baschwitz, Kurt 90 Basilides 409 Bebel, Heinrich 276 Belmont, Etienne 266 Ben-Chorin, Schalom 99 Benedikt XIII., Papst 262

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Benignus, Georgius, Erzbischof 355, 374 Benvenisti, Vidal 262 Benzing, Josef 69, 172, 193f., 209 Bernhard von Clairvaux 229 Bernini, Gian Lorenzo 332 Beroaldus, Philippus d. J. 392 Berthold von Henneberg, Kurfürst von Mainz Bessarion, Kardinal 46 Binder, Wilhelm Bismarck, Fürst Otto von 282 Blanchet, Pierre 195 Blaurer, Ambrosius 488 Boccaccio, Giovanni 18, 44f., 363 Böcking, Eduard 356, 360, 483 Böhme, Jakob Bojardo, Matteo Maria 95 Bols, Ferdinand 484 Bomberg, Daniel 391, 478 Bonet de Lates (päpstlicher Leibarzt) 284, 309 Borgia, Cesare 20, 92 Borgia, Rodrigo s. Alexander VI. Bosch, Hieronymus 89, 446 Botticelli, Sandro 78 Brambach, Wilhelm 53f. Brandenburg, Johann Peter 53, 499 Brant, Sebastian 67f., 131, 343, 487, 489 Brecht, Walther 45, 356, 360 Breughel, Pieter d. J. 446 Buber, Martin 99 Bucer, Martin 384 Bürger, Gottfried August 211 Burckhardt, Jacob 31 Burgensis, Paulus 303

Burgkmair, Hans 58 Busch, Hermann von 356, 380 Cäsar, Gaius Julius 218, 459 Cäsarius, Johannes 373 Calman (Lehrer Reuchlins) 114 Camerarius, Joachim 481 Caracalla, röm. Kaiser 218 Catull, Gaius Valerius 45 Cato der Ältere (Censorius) 252 Cellarius, Joannes 479 Celtes, Konrad 72, 130, 178, 483 Chaucer, Geoffrey 45 Christ, Karl 53 Chrysolaras 478 Cicero, Marcus Tullius 170 Clemen, Otto 387 Clemens V., Papst 216 Clemens VI., Papst 108 Cleve, Eberhard von 388 Cochläus, Johannes 487 Cohen, Jakob 445 Colet(us), John 354 Collin, Konrad 328-330, 333f. Colonna, Giovanni 46 Contoblacas, Andronicus 61 Cordovero, Moses 151, 161, 435 Cordus, Euricius 465 Corneto, Adrian von, Kardinal 349 Cranach, Lucas 488 Crescas, Chasdai 136 Cusanus (Nikolaus von Cues) 18, 100, 105, 147, 158, 422 Cuspinian, Johannes (Hans Spießhaymer) 339 Dalberg, Johann von 113, 130-132, 173-175, 194

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Dante Alighieri 18, 29f., 70, 77, 154, 414 David, König (A.T.) Decker-Hauff, Hansmartin 80-82, 124, 470f., 493-495 Delmedigo, Elia 46 Demosthenes 336, 478f. Descartes, René 63 Dionysios I. von Syrakus 460 Donin, Nicolas 288 Dracontius, Jakob 178 Dürer, Albrecht 39, 77, 82, 89, 347 Dürrson, Werner 195 Duns Scotus, Johannes 63, 65 Eberbach, Petrejus 356 Eberhard V., im Barte, Herzog von Württemberg 73f., 77, 83, 106f, 123, 130, 173f., 497 Eberhard der Jüngere, Herzog von Württemberg 173f., 188 Eck, Johann 254, 461, 464f., 466, 470 Eckhart, Johann, gen. Meister 268, 407 Ehrlich, Ernst Ludwig 219, 234 Eike von Repkow 219, 223230 Einhart (Biograph Karls d. Gr.) 487 Eitelwolf vom Stein 376 Elbogen, Ismar 307f. Elias, Prophet 427 Ellenbog, Nicolaus 213f., 253, 341 Emser, Hieronymus 194 Epikur von Samos 133, 137f., 149 Epimenides 476 Erasmus von Rotterdam 42,

47, 65-67, 70f., 82, 113, 140, 146, 176, 203, 254, 261, 267, 274, 290, 304, 343, 349, 350, 357, 373, 381f., 393, 420, 467-569, 480f., 483 Eriugena, Scotus 407 Ernst, Victor 80 Esau (A.T.) 111, 228 Euphorbus 417 Eustathios 315 Ezechiel, Prophet (Jecheskel) 397 Ezobi, Joseph ben Chanan (Josef Hyssopaeus) 248 Faber, Jakob 454 Ferdinand, Erzherzog von Österreich 476 Fiametta, Maria 44 Ficinus, Marsilius 46, 75f. Ficker, Johannes 482, 483, 487-489, 492 Fisher, Johannes 354 Flaubert, Gustave 33 Franz von Assisi 288 Franz I., König von Frankreich 351, 384 Freud, Sigmund 172 Friedrich II., Kaiser 232f. Friedrich III., Kaiser 83f., 106f., 112, 303 Friedrich II., König von Preußen 238 Friedrich III., der Weise, Kurfürst von Sachsen 60, 278, 326, 340, 342, 350, 389, 457, 466, 471 Frisius, Andreas 283 Gadner, Georg 50 Galatinus, Petrus 379 Galilei, Galileo 63, 402

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Gallus, Jodocus 108 Gamliel II., Rabbi 307f. Gauguin, Paul 72 Gehres, S. F. 485 Geiger, Ludwig 31, 45, 60, 69, 71, 73, 78, 80, 110, 113, 114, 125, 149f., 154, 158, 174, 246, 248, 255, 257, 270, 275, 286, 288, 312, 330, 338, 356, 380, 388f., 424, 465, 470, 475f., 481, 482 Georg, Herzog von Bayern zu Landshut 236 George, Stefan 232, 290 Geronimo von Santa Fé 262 Geymüller, Henry de 447 Ghirlandaio, Domenico 78 Gikatilla, Josef 108, 255, 400, 403, 405, 414, 429, 433, 439f. Giorgione (da Castelfranco) 332 Giraudoux, Jean 77 Glaber, Rodulphus 229 Goebbels, Joseph 346 Goethe, Johann Wolfgang von 66, 77, 216f., 312, 331, 366, 378, 395, 396, 438, 479, 481 Götz von Berlichingen 318, 383 Goldoni, Carlo 196 Golfer von Brixen, Bischof 88 Gordon, Ahron David 244 Gothein, Eberhard 483, 486 Gottsched, Johann Christoph 210f. Grabbe, Christian Dietrich 185 Graetz, Heinrich 125, 150, 242, 261-263, 270, 275, 284, 288, 302, 356, 389, 424, 430 Gratius, Ortwin 267, 336, 338, 361f., 365, 379

Gregor VII., Papst 23 Gregor IX., Papst 235, 250, 288 Gregorovius, Ferdinand Adolf 93 Grillparzer, Franz 107 Grimani, Kardinal 349, 350, 391 Haas, Willy 500 Hadrian, Kardinal 70, 391 Halevi, Jehuda 137, 255, 394, 405 Hanka, Václav 430 Hannemann, Kurt 481, 483f., 484f., 488, 493, 499 Harnack, Adolf 409 Hartmann (Freund Mutians) 352 Hass, Hans 498 Hauslamp (Oekolampadius) 384 Heer, Friedrich 22,42, 226 Hegaur, Engelbert 35 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 438, 486 Heine, Heinrich 144, 166, 217, 227, 238, 242, 311 Heinrich IV., Kaiser 23 Heinrich von Morungen 49 Herder, Johann Gottfried 366 Herford, Robert Travers 186 Hermes Trismegistos 155 Hermonymus, Georgius 61, 71 Herwegh, Georg 196 Hesiod 93, 134, 416 Hesse, Eoban 72, 124, 356, 465, 468, 481 Hesychios 461 Hieron L, Tyrann von Syrakus 160 Hieronymus 64, 102, 158, 254, 304, 315, 331, 480

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Hilarius 315 Hillel 135 Hitler, Adolf 142, 222, 390 Hochstraten, Jakob 269-274, 283, 288, 328, 333, 342-346, 379, 380, 382, 387, 388f., 392, 404, 422, 466, 492 Hocke, Gustav René 181 Hoffe, Ilse Ester 499 Holbein der Jüngere, Hans 82, 488 Holstein, Hugo 187, 194, 203, 209f. Holzinger, Conrad 173f., 188, 194 Homer 30, 75, 93, 154, 315 Honorius III., Papst 235 Honorius, röm. Kaiser 229 Horawitz, Adalbert 350f., 475, 482 Horaz, Quintus Flaccus 178, 218 Hoschea, Prophet 98 Hrabanus Maurus 17, 56 Hroswita von Gandersheim 179 Huch, Ricarda 377 Huizinga, Johan 27, 32 Hummelberger, Michael 351, 454, 471, 473, 475, 478 Hus, Johannes 62 Hutten, Hans von 395, 453, 465 Hutten, Ulrich von 32f., 43, 47f., 49, 72, 79, 174, 176, 261, 274, 276, 290, 356-358, 360f., 375f., 380, 382, 384, 387, 453, 462, 470, 483, 490-493 Ibn Roschd (Averroës) 30, 121 Imhof, Max 486

Innocenz III., Papst 23, 235 Innocenz IV., Papst 288 Innocenz VIII., Papst 86f., 93 Institoris (Heinrich Krämer) 87 Jacobatiis, Dominicus de, Kardinal 392 Jakob (A.T.) 228 Jamblichus 447 Jeanne d’Arc 23 Jellinek, Adolf 137, 439f., 443 Jesaja, Prophet 98, 166, 262 Jesus Christus 232 Jetzer, Johann 489, 491 Joachim I., Kurfürst von Brandenburg 89, 296 Joel, Prophet 98 Johann von Landau 278 Johannes, Evangelist 169 Johannes XXII., Papst 108 Johannes XXIII., Papst 231 Johannes a Lapide (Heynlin) 67, 131 Jona, Rabbi 255 Josephus, Flavius 230 Josquin de Près 78 Jossel von Rosheim 239f., 266, 287 Josua (A.T.) 169 Judas, Ischariot 119, 344 Julian Apostata, röm. Kaiser 47 Justinian I., oström. Kaiser 218 Kaegler, Hans 488 Kafka, Franz 160, 387, 399, 435, 467, 500 Kalonymos bar Meschullam 220 Kampschulte, Friedrich Wilhelm 124, 268, 289f., 292, 352, 356, 361, 462f.

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Kant, Immanuel 166, 307, 486 Karben, Viktor von 283, 288 Karl der Große 17, 487 Karl IV., Kaiser 62, 234 Karl V., Kaiser 42, 110, 239, 391, 464, 476 Karlstadt, Andreas 274 Kastein, Josef 24, 27 Kierkegaard, Sören 419 Kilwardly, Robert 64 Kimchi, David 34, 255 Kimchi, Josef 255 Kimchi, Moses 478 Kisch, Guido 115, 219f., 223, 225, 228-231, 235, 246, 250, 268, 320, 372 Klotz, Christian 211 Kolumbus, Christoph 84 Konstantin der Große, röm. Kaiser 225 Kopernikus, Nikolaus 63 Kotzebue, August von 207 Kraus, Hans Joachim 244 Kraus, Karl 227 Kubin, Alfred 434 Kühner, Hans 92 Kunigunde von Bayern 284 Lamey, Jacob 73, 269, 390, 483 Lamparter, Gregor 475 Landau, M. J. 307 Landauer, S. 54 Landino, Cristoforo 76 Lang, Mattäus, Kardinal von Gurk 349 Langer, Georg Mordechai 434 Latomus, Barthélemy 382 Lee, Eduard 382 Leibniz, Gottfried Wilhelm 307 Leisegang, Hans 65, 442 Leo X., Papst 67, 76, 76, 132,

273, 344, 376, 391, 396, 451f., 470 Leon, Mosche de 151, 400, 429f., 432, 437 Leontorius, Conrad 129f. Lessing, Gotthold Ephraim 119, 210f. Lessing, Theodor 227, 390 Lieben, Salomon 263 Liff, Dr. 499 Livius, Titus 284 Loans, Jakob ben Jechiel 84, 86, 112f., 114, 115-118, 120, 125, 129, 145, 153, 255, 422 Louber, Jakob 85 Luca, Costa ben 447 Ludwig IV., der Bayer, Kaiser 63, 233 Ludwig IX., der Heilige, König von Frankreich 340 Ludwig XII., König von Frankreich 340 Ludwig I, König von Bayern 351, 486 Lukas, Evangelist 168 Lukian von Samosata 374, 421, 447, 464 Lukrez, Titus Lucretius Carus 137f., 141, 149 Lunicerus, Johann 273 Lurja, Isaak ben Salomon (auch Ari genannt) 404 Luther, Käthe 241 Luther, Martin 142, 166, 176, 184, 194, 240-242, 244, 249, 252, 254, 267, 270, 273f., 312, 345, 355, 384, 391f., 461-464, 466, 468-470, 472f., 483, 488, 490f. Machiavelli, Niccolò 92 Macpherson, James 430

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Madariaga, Salvador de 84 Mager, Jörg 499f. Mahler, Gustav 17, 427 Maimonides 136f., 151, 218, 255, 268, 405, 427, 439 Mann, Thomas 77 Manutius, Aldus 176 Marchio de Badin 51 Margaritha, Antonius 110f-112 Margolith, Jacob 109f. Maria, Gottesmutter 44, 168, 303, 317, 338, 475, 489 Maria Theresia, Kaiserin 107 Maria von Burgund 106 Markion (Markos) 408, 442 Martial, Marcus Valerius M. 19 Matsys, Quinten 82 Maximilian I., Kaiser 51, 58, 81, 83, 106f., 174, 192, 235, 275f., 279, 283, 297, 314, 337, 339-343, 351, 379, 422, 454 Maximus Tyrius 410 May, Johann Heinrich 481f., 484 Medici, Cosimo di’ 46, 75f. Medici, Giuliano di’76f. Medici, Lorenzo di’, il Magnifico 76f., 92, 94, 130 Medici, Piero di’, Sohn des Cosimo 76 Medici, Piero di’, Sohn des Lorenzo 76 Medigo, Elia del 95 Megel, Daniel 195 Meïr, Rabbi 411, 415 Melanchthon, Philipp 53, 61,68, 126, 193, 197, 349, 384, 457, 471-473, 480, 488

Mell, Max 18 Menander 201 Menelaos 19, 417 Menius, Justus 359f. Menzel-Rogner, Hildegund 100 Merian, Matthäus 50 Meyer, Conrad Ferdinand 384 Meyer, Peter 324 Michelangelo Buonarotti 18, 92 Minos, König von Kreta 475 Minutius, Aldus 353 Minutius, Felix 101 Mirandola, Gianfrancesco Pico della 46f., 78, 84, 86, 93f., 95-97, 99-102, 104f., 106, 108, 115, 127, 129, 136, 167, 214, 314, 401, 403, 406, 413, 422, 428 Mörike, Eduard 58, 197, 413 Mohammed 115 Molière (Jean Baptiste Poquelin) 201 Morus, Thomas 354 Moses (A.T.) 134, 418, 423, 475 Mühlberger, Josef 105f. Murner, Thomas 274, 490f. Musil, Robert 328 Mutianus Rufus, 356 (Conrad Muth) 60, 215, 267, 289f., 292, 304, 339-343, 351-353, 358, 360f., 393, 465-469, 479 Namatianus, Claudius Rutilius 17 Napoleon I. Bonaparte 390 Nauklerus 73, 174 Nerva, Marcus Cocceius, röm. Kaiser 308

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Nestorius, Patriarch von Konstantinopel 90, 158 Nicolaus von Oresme 63 Nietzsche, Friedrich 114 Nikolaus III., Papst 441 Nikolaus V., Papst 44 Nikolaus von Cues s. Cusanus Nikolaus von Lyra 64, 102, 254, 315 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 170 Nuenar, Graf Hermann von 374, 380 Numa Pompilius, König von Rom 475 Numenios von Apamea 65, 409 Ockham, Wilhelm von 63-65 Orpheus 93, 156, 161, 416 Ossian 430 Otto, Rudolf 254 Ovid, Publius Ovidius Naso 45, 326, 364f., 367f. Owlglass, Dr. O. (Hans Erich Blaich) 35 Pantaleon, Heinrich 291, 487 f. Parmentier, J. 196 Pastor, Ludwig 270 Patroklos 417 Paulus, Apostel 317 Paulus, Nikolaus 270, 272f. Pellikan, Conrad 113, 475, 487 Pernoud, Régine 311 Petit, Guillaume 340 Petrarca, Francesco 18, 46 Peutinger, Conrad 81, 297, 481 Pfefferkorn, Anna 258, 338 Pfefferkorn, Johannes 72, 85, 111, 117, 146, 150f., 212, 215, 221, 248f., 255, 257-269, 275, 279-287, 292-302, 318-322, 324, 328,

331, 336-338, 365, 376f., 379, 382, 393, 482, 494 Pfefferkorn, Laurentius 258 Pfefferkorn, Meïr 262 Pfister, Joh. Christian 486 Pflüger, Joh. Georg Friedrich 50, 58 Philipp, Kurfürst von der Pfalz 174f. Philon von Alexandria 408 Piccolomini, Enea Silvio (Pius II.) 18f., 44 Pirckheimer, Willibald 261, 304, 341, 374, 393, 454, 455, 457-461, 464, 468, 473 Platon 23, 46, 47, 66, 75, 97, 102, 160, 195, 211, 289, 353, 395, 403, 406-409, 420 Plautus, Titus Maecius 179, 200, 203, 252 Plethon, Georgius Gemistos 46f. Plinius d. J., Gaius P. Caecilius Secundus 417 Plotin 161, 407, 435, 447 Plutarch 148 Poliziano, Angelo 76 Pompejus, Gnaeus Magnus Porphyrius 421, 447 Portmann, Adolf 438 Potken, Johannes 379 Preisendanz, Karl 53, 67, 86 Prierias, Sylvester 355 Proclus, Bischof 85, 202, 349, 475 Ptolemäus, Claudius 202 Pucci, Lorenz, Kardinal 212, 379, 392 Pulci, Luigi 77 Pythagoras 353, 416-418, 420f.,

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Questenberg, Jakob Aurelius 202, 349, 392 Rabelais, François 33, 35, 37, 41, 45 Raffael Santi 344 Raimund von Gurk, Kardinal 80 Ramban (Nachmanides) 151 Randow, Thomas von 398 Ranke, Leopold von 235, 276, 288 Raphael, Kardinal 350 Raschi (Rabbi Schlomo Jizchaki) 254, 315 Rathenau, Walther 227 Recanati, Menachem 447 Reisch, Gregor 292 Rembrandt (R. Harmensz van Rijn) 484, 487 Reuchlin, Anna 82 Reuchlin, Dionysius 123, 126, 216 Reuchlin, Georg 54 Reuther, Elisabeth 61, 471 Rhenanus, Beatus 82, 481 Riccius, Paulus 108, 110, 422, 429 Richartshuser, Johannes 195 Rienzo, Cola di (Nicolaus Laurentii) 46 Rosinus (Freund Reuchlins) 379 Rubashow, Salman (Schazár) 380 Rubeanus, Crotus (Johann Jäger) 72, 358, 465 Rudolf I. von Habsburg, König 49, 233 Rudolf II. von Habsburg, Kaiser 107 Rummel, Erich 50

Rupprich, Hans 114, 158 Rysswick, Hermann von 272 Sachs, Hans 209f. Sallust, Gaius 364 Salm, Emil 348 Salomo, König (A.T.) 366 Samuel (Dichter) 366 Saruk, Menachem ben 114 Sattler, Balthasar 273 Savonarola, Girolamo 47, 77, 94, 473 Schachermeyr, Fritz 488 Schalom, Sch. 99, 126 Schammai 135 Schelling, Friedrich Wilhelm von 486 Schiffmann, Konrad 115 Schiller, Friedrich von 173, 188, 379, 481 Schleiermacher, Friedrich 419 Schlick, Kaspar 18f. Schneider, Eugen 80 Schnitzler, Arthur 264 Schönberg, Arnold Scholem, Gershom 125, 136f., 161, 377f., 394, 396, 404, 409, 420, 424f., 429, 430, 432, 433, 437, 439f., 448, 482 Schopenhauer, Arthur 468, 486 Schubart, Friedrich Daniel 481 Schubart, Ludwig 481 Schumann, Robert 366 Schwab, Gustav 497 Scriptoris, Paul 73, 475 Secerius, Johann (J. Setzer) 396, 460f. Seuse, Heinrich 28 Sforno, Owadja 125, 126, 128, 174, 255

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Shakespeare, William 196, 211, 216, 353, 481 Siber, Petrus 212 Sicherl, Martin 90f., 158 Sickingen, Franz von 33, 49, 318, 384, 387f., 395, 460 Sigismund, Kaiser 19 Sigismund, Erzherzog von Österreich Simler, Georg 193 Simon (bar) ben Jochai 432 Simonides von Keos 160 Simson (A.T.) 366 Singer, Ludvik 260 Sinsheimer, Hermann 239 Sixtus IV., Papst 77, 108, 272 Sokrates 134, 211, 420 Soncino, Gerson 391 Sozzini, Mariano 18 Spalatinus, Georg 457 Spee, Friedrich 90 Sperancius 339 Spiegel, Jakob 194, 201, 487 Spinoza, Baruch 43, 136, 218 Sprenger, Jakob 86f., 90 Stern, Selma 110f., 112, 239, 287 Stifter Adalbert 125 Strauß, David Friedrich 45, 353, 356f., 373, 376, 384, 387 Streicher, Andreas 173 Strindberg, August 32, 434 Summenhart, Conrad 73, 474 Swedenborg, Emanuel 414, 447 Szamatolski 387 Tacitus, Cornelius 218 Tanner, Adam (SJ.) 90 Tasso, Torquato 18 Tauler, Johannes 268

Terentius Afer 45, 179 Tetzel, Johann 274, 343 Theodosius II., oström. Kaiser 218 Theokrit 357 Thieme, Karl 142, Thoma, Ludwig 356 Thomas von Aquin 29, 63, 65, 229, 268 Thomas von Kempen (a Kempis) 203 Thorwaldsen, Bertel 487 Thrithemius von Sponheim, Abt 88, 97 Thukydides 43 Tieck, Ludwig 185 Titus, Flavius Vespasianus, röm. Kaiser 230 Tizian (Tiziano Vecellio) 367 Tolstoi, Leo 244 Tomasi, Petrus 271 Tornaesius, Joan 172 Torquemada, Thomas de 78 Tucher, Jeronymus 457 Tuitiensis, Rupertus 229 Tungern, Arnold von 324f., 327f., 330, 336, 379 Udalricus (Confessor) 324f. Ulrich, Herzog von Württemberg 174, 340, 343, 351, 453, 454, 455-458, 469 Urbanus, Rhegius 339, 351f. Uriel, Erzbischof von Mainz 282, 287, 293 Usamâ, Emir 311 Valla, Lorenzo 42f., 102 Venerabilis, Petrus 229 Vergil, Publius V. Maro 19, 30, 454, 473 Verrocchio, Andrea del 78 Vespasian, röm. Kaiser 230

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Villon, François 182 Vischer, Friedrich 353 Viterbo, Aegidius von, Augustinergeneral 349, 391 Vulpius, Christiane 238 Wacker, Johannes (Vigilius) 174 Wahl, Hermann 53, 55, 499 Wallenstein, Albrecht von 485 Walther von der Vogelweide 49 Weltsch, Felix 146, 469, 499 Wernher, Adam 178 Widemann, Leonardus 157 Wiegler, Paul 490 Wieland, Christoph Martin 481 Wigandus (Theologe) 212 Wilbrand, Johannes Bernard 486

Wilhelm I., Herzog von Bayern 454, 459 Wimpheling, Jakob 129f., 175, 179, 194, 203, 343, 489 Wirt, Caspar 349 Wolfram von Eschenbach 49 Wolfson, Harry A. 408 Worrmann, Kurt 499 Xenophon 461 Zasius, Huldrich 115, 268, 320, 337 Zefanjah, Prophet 98 Zefira, Bracha 405 Zobel, Moritz 97-99, 297 Zobel, Propst 297 Zweig, Stefan 382 Zwingli, Ulrich 113, 475, 488

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Editorische Notiz Die Textgestalt folgt der unten angegebenen Originalausgabe, offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.. Max Brod, Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie. Wiesbaden: Fourier Verlag 1965 (359 S.)

Über den Autor Max Brod wurde am 27. Mai 1884 in Prag geboren. Er wuchs in einer wohlhabenden, deutsch-jüdischen Familie auf. Sein Vater war stellvertretender Direktor einer Bank, seine Mutter, nach damaligen Maßstäben eine Schönheit, litt unter sehr wechselhaften Gemütslagen, die immer wieder zu häuslichen Konflikten mit dem Dienstpersonal führten. Ihre zeitweilige Einweisung in eine Klinik wie auch seine eigenen Krankheiten – nach Scharlach, Masern und Diphtherie erkrankte er als Fünfjähriger an Kyphose, einer Verkrümmung des Rückgrats – prägten seine Kindheit. Nach dem Besuch der Volksschule des Piaristenordens und des Stefansgymnasiums nahm Brod in Prag ein Jurastudium auf, das er 1907 mit der Promotion abschloss. Während des Studiums lernte er den ein Jahr älteren Franz Kafka kennen; ihre Begegnung am 23. Oktober 1902 in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten markiert den Beginn einer lebenslangen engen Freundschaft. Brod trat bereits während des Studiums mit literarischen Arbeiten hervor, seine erste Buchveröffentlichung war 1906 die Novellensammlung Tod den Toten. Nach seiner Promotion und dem anschließenden gerichtspraktischen Jahr erhielt er eine Anstellung bei der neugeschaffenen Pensionsversicherungsanstalt für Angestellte in Prag, wechselte aber schon bald in eine wegen der kürzeren Arbeitszeit begehrte Stellung bei der Prager Postdirektion. Dank seiner eigenen literarischen Erfolge und den daraus erwachsenen Beziehungen vermochte sich Brod schon früh als literarischer Mentor zu engagieren. Er eröffnete Franz Kafka, dem jungen Lyriker Franz Werfel und vielen anderen Prager deutschsprachigen Autoren seiner Generation Publikationsmöglichkeiten. Wegbereiter war er aber auch für tschechischsprachige Künstler, so wirkte er zum Beispiel an der deutschen Bühnenfassung von Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk mit und übersetzte Opernlibretti des Komponisten Leoš Janáček, dem er dadurch Zugang zu den internationalen Opernbühnen verschaffte. Brod selbst stieg bereits vor dem Ersten Weltkrieg über den engeren Prager Bereich hinaus zu einer wichtigen Figur des Kunst-, Musik- und Literaturgeschehens im deutschsprachigen Raum auf. Gleichzeitig bekannte er sich – u.a. unter dem Einfluss Martin Bubers – immer entschiedener zum Judentum, später auch zum politisch aktiven Zionismus.

Nach der Proklamation der Tschechoslowakei wurde Brod Vizepräsident des Jüdischen Nationalrats. Er verließ den Postdienst und arbeitete zwischen 1924 und 1929 als Kunstkritiker im Pressedepartement der Regierung. Nach Kafkas Tod im Jahr 1924 bemühte er sich um die Herausgabe des literarischen Nachlasses seines Freundes. Neben seiner eigenen Tätigkeit als Schriftsteller, Komponist und Librettist arbeitete er zwischen 1929 und 1939 als Literatur- und Kunstkritiker für das Prager Tagblatt. Seine in den 1920er und 1930er Jahren erschienenen Romane erzielten Riesenauflagen, einige von ihnen wurden verfilmt. Für seinen Roman Rëubeni, Fürst der Juden erhielt Brod 1930 den Staatspreis der tschechoslowakischen Republik. Mit seiner Frau Elsa, die selbst schriftstellerisch tätig war, aus dem Tschechischen, Russischen, Französischen und Englischen übersetzte und seit der Heirat im Jahr 1913 seine engste Mitarbeiterin war, emigrierte er im Jahr 1939 nach Palästina. In Tel Aviv führte er seine literarischen und essayistischen Arbeiten fort und arbeitete überdies als Dramaturg des Nationaltheaters Habimah. In den späten 1940er und den 1950er Jahren verschaffte er den Werken seines Freundes Franz Kafka mit einer umfassenden Werkausgabe Weltgeltung. Er selbst vermochte nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen eigenen Werken nicht mehr an die großen Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Seine nahezu jährlichen Lese- und Vortragsreisen in Europa wurden indes mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, und für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. 1948 den Bialik-Preis der Stadt Tel-Aviv und 1965 den Heine-Preis der Stadt Düsseldorf. Max Brod starb im Alter von 84 Jahren am 20. Dezember 1968 in Tel Aviv.