Sein und Teilen: Eine Praxis schöpferischer Existenz 9783839435274

In order to develop a different economy and a sustainable relationship with nature and ourselves, we need to abandon our

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German Pages 140 Year 2017

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Inhalt
Vorwort – Verbinden
Kapitel 1 – Teilen
Kapitel 2 – Atmen
Kapitel 3 – Fühlen
Kapitel 4 – Lieben
Kapitel 5 – Tauschen
Kapitel 6 – Schöpfen
Kapitel 7 – Sein
Dank
Anmerkungen
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Sein und Teilen: Eine Praxis schöpferischer Existenz
 9783839435274

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Andreas Weber Sein und Teilen

X T E X T E

Andreas Weber

Sein und Teilen Eine Praxis schöpferischer Existenz

Diese Arbeit wurde durch die Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis gefördert.

The creation of this book has been made possible through a fellowship at the Bogliasco Foundation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: mosaiko / Photocase.de Lektorat: Demian Niehaus, Nürnberg Druck: Majuskel Medienproduktion, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3527-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3527-4 EPUB-ISBN 978-3-7328-3527-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort – Verbinden  | 9 Kapitel 1 – Teilen  | 15 Kapitel 2 – Atmen  | 25 Kapitel 3 – Fühlen  | 43 Kapitel 4 – Lieben  | 57 Kapitel 5 – Tauschen  | 77 Kapitel 6 – Schöpfen  | 99 Kapitel 7 – Sein  | 115 Dank  | 127 Anmerkungen  | 129

»Die Frucht der Welt ist die Frucht meines Lebens. Die Frucht gehört mir in dem Maße, in dem sie meiner Pflege und Aufmerksamkeit anvertraut ist; mein Leben ist das der Welt in dem Maße, wie es aus mir herausgepresst wird, indem es in alles hinausfließt und einen Gleichklang mit Wesen bildet, die nicht Ich sind.« M ichael M arder1 »Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommt. Wenn es sie gibt, dann ist sie bereits hier. Es ist die Hölle, die wir alle Tage bewohnen, die wir herstellen, indem wir zusammen sind. Es gibt zwei Arten, nicht unter ihr zu leiden. Die erste gelingt vielen leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil von ihr werden, dass sie nicht mehr zu sehen ist. Die zweite ist riskant und verlangt dauernde Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: das, was mitten in der Hölle keine Hölle ist, suchen, es zu erkennen wissen und ihm Dauer verleihen und Platz einräumen.« I talo C alvino 2

Vorwort – Verbinden »Wissenschaft beruht auf Wissen. Kunst beruht auf Wissen. Magie beruht auf Wissen und so weiter und so fort. Es gibt dagegen nur eine Form von Weisheit, und sie beruht auf Liebe.« F rancisco Varela 3

Sein heißt Teilen. Teilen heißt Sein, auf allen Ebenen, vom Atom bis zu unserer Erfahrung von Glück. Das soll dieses Buch zeigen. Es soll dabei erklären, was wir fühlen, wenn wir uns glücklich und »richtig« fühlen  – und es soll uns helfen, mehr davon zu haben, als Einzelner*, als Paar, als Gesellschaft, als Biosphäre, als Kultur. Das Buch plädiert dafür, dass Teilen nicht heißt, weniger zu sein, sondern mehr. Jeder Spielart des Glücks, jeder Erfahrung der Seele im Aufschwung liegt ein Moment des Geteiltseins, der Veräußerung und der damit einhergehenden neuen Verbindung zugrunde. Nur aus Teilhabe entsteht das Gefühl der Stimmigkeit, das Gefühl, ein eigenes Selbst, Zentrum der eigenen Erfahrung zu sein. Das Buch soll zeigen, dass Atmen Teilen heißt, Körpersein Teilen ist und Lieben Teilen bedeutet. Es soll zeigen, dass ein Ökosystem Sein durch Teilen ist, ja geradezu dessen ground zero. Lebendigsein kann immer nur durch Lebendigkeit erreicht

* | Ich verwende im folgenden Text weitgehend die maskuline grammatische Form. Das geschieht lediglich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.

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werden, jene, die ich nicht besitze, sondern verschenke, und jene, die mir gespendet wird. Ich will in diesem Buch verstehen, warum bereits das Ich Teilen ist und warum jedes Subjekt in Wahrheit ein »Inter-Subjekt« darstellt, also gemeinschaftlich erzeugtes Sein. Das gesunde Selbst schließt den anderen ein. Erlebte Lebendigkeit ist expansiv. Sie will den Anderen lebendiger machen. Das Buch ist damit so etwas wie eine erneuerte Gebrauchsanweisung für die Welt mit ihren Beziehungen, ihren Erfahrungen, ihren Schöpfungen, dem Wirtschaften in ihr und als sie, ihrer Kultur. Seine Botschaft lautet: Nicht das Individuum und sein Sieg im Wettstreit bewirkt, dass sich die Welt dreht. Umgekehrt stehen Individuen nicht allein im Dienst des großen Ganzen. Das Ganze kann vielmehr nur sein, wenn es sich selbst in einem Einzelnen erfährt. Das Prinzip der Wirklichkeit besteht weder in universeller Konkurrenz noch in allgemeiner Symbiose. Es liegt vielmehr darin, dass sich das Ganze danach sehnt, in vollendeter Individualität zu erscheinen. Es ist ein Prinzip, das in anderen Kulturen immer schon galt und das Afrika südlich der Sahara als »Ubuntu« bekannt ist: Ich kann nur sein, weil du bist.4 Hier möchte ich verfolgen, warum dieses Prinzip den Kern unserer Wirklichkeit bildet, und wie wir uns mit ihm in Verbindung setzen können. Wirklichkeit ist nicht nur »das, was ist«, sondern immer auch schlummerndes Potential. Was wirklich ist, drängt danach, sich intensiver zu erfahren, dichtere Verbindungen einzugehen, inniger geteilt zu werden. Die Geschichte des Kosmos lässt sich als eine Geschichte der Differenzierung von einer Singularität zur Komplexität lesen, und schließlich – wie wir aus eigener Erfahrung wissen – als das Aufscheinen von Innerlichkeit. So kann die französische Sozialistin und Mystikerin Simone Weil sagen: »Gut ist, was wirklicher macht.«5 Dieses Buch ist somit der Versuch, etwas wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, was als die alltägliche Lüge vom »notwendigen Egoismus«, von Wettbewerb, Effizienz und kalter Separation unsere Welt und unser Fühlen zerstört. Der englische Maler und Dichter John Berger sagt: »Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Trennung.«6 Teilen ist gerade nicht Trennung. Das soll

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auf diesen Seiten deutlich werden. Teilen ist im Gegenteil die Weise, wie alles, was lebt, sich durchdringt, um so zu sein. Trennung aber, die als »analytische Herangehensweise« und als Wettkampf aller gegen alle unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit vergiftet, verhindert Teilen, und darum verhindert sie Sein. Natürlich kennen wir »Teile!« als moralischen Weckruf. Als christlich-humanistische Kultur des Abendlandes sind uns die Appelle an ein höheres und ziemlich abstraktes Prinzip der Großzügigkeit geläufig, wenn sie uns auch ermüden. Solche uns übergestülpte Moral behauptet sich nur mehr schlecht als recht gegen die dem Kapitalismus eingebaute Devise: »Teile nicht! Vernichte!« Wir lassen uns immer noch von altruistischen Appellen berieseln, während das Ethos des Teilens nicht nur seine Glaubwürdigkeit, sondern auch seine Praktikabilität verloren hat. Konnte die Wissenschaft denn nicht beweisen, dass Vielfalt gerade dadurch entsteht, dass wir  – alle Wesen, die Evolution selbst – nicht teilen, sondern raffen? »Teile!« ist in der Welt, die wir bewohnen und durch unsere Taten beständig erschaffen, eine hohle Phrase und kaum noch an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Wir müssen uns schon etwas Besonderes überlegen, um Teilen attraktiv zu machen und daran zu erinnern, dass es das Zentrum unserer Identität bildet. Dass ohne Teilen auch kein Sein ist. Diesen Versuch will das Buch antreten. Aber nicht durch eine weitere moralische Beschwörung, sondern indem ich zeige, dass Teilen dem gesunden Sein bereits eingebaut ist. Wer zu sein versteht, wer er selbst sein kann, wer lebendig zu sein vermag, dem gelingt das stets nur im Teilen. Gesund sein heißt somit echt sein. Es bezieht sich nicht auf einen Maßstab des Funktionierens, sondern auf eine Erfahrung, nämlich die, eigene Identität durch Verbundenheit herzustellen. Wie uns diese Erfahrung gelingen kann – als Gesellschaft, aber auch im eigenen Leben – soll auf den folgenden Seiten ergründet werden. Unsere Gesellschaft der zerstörerischen Egoismen muss daher nicht besser  – oder gar effizienter  – teilen lernen, sondern zum Sein fähig werden. Teilen lässt sich einem Egoisten nicht beibringen. Zu sehr ist es das Gegenteil von dem, was das ausmacht,

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womit er sich schützt. Sein hingegen ist, wonach sich auch der Egoist im Stillen verzehrt. Seinkönnen. Loslassen. Nicht bewertet werden. Nicht funktionieren müssen. Sich angenommen wissen. Das gilt auch für die Gesellschaft als Ganzes: Wenn in ihr die Einzelnen, die Menschen, die Tiere, alle Wesen, zu sein vermögen, ist bereits genug geteilt. Ich behaupte, dass wir das wahre Problem nicht sehen, während wir über die Wege zu einer Gesellschaft mit weniger Eigensucht und Gewalt diskutieren.7 Wie bei der Maßregelung eines »schwer erziehbaren« Kindes versuchen wir mit Strafen und Symptomkuren das richtige – zukunftsfähige – Verhalten zu erzwingen. Doch in Wahrheit sehnt sich ein Großteil der Menschen danach, so in sich selbst verankert zu sein, dass sie dieses Verhalten von allein hervorbringen können. Niemand wünscht nicht, ganz er oder sie selbst sein zu können und dieses Selbstsein so zu genießen, wie es uns angeboren ist. Das Gefühl, sein zu können, folgt dabei keinen objektivierbaren Kriterien, ist aber gleichwohl unverwechselbar: Es ist die emotionale Erfahrung der eigenen Lebendigkeit im Kontakt mit der Welt. »Sei!« freilich hatte in unserer Kultur nie eine moralische Konjunktur. »Sei!«, das klingt nach Ineffizienz, Schwärmerei, Romantik und anderen Formen der Taugenichtserei. Sein ist uns suspekt. Wir lehnen es als ineffizient ab, gerade weil es uns so schwer möglich ist. So ist das Gefühl, nicht sein zu können, oder in abgeschwächter Form, nicht das sein zu dürfen, was man eigentlich ist, der gemeinsame Nenner psychischer Störungen und seelischen Leidens. Wer sich am Sinnverlust quält, vermag nicht zu sein. Ihm gelingt es nicht, lebendig zu sein. Diese Erfahrung zeigt sich immer als Einschränkung auf beiden Seiten: der Möglichkeit, im vollen Sinne »ich« zu sein, und dem Gefühl, in Verbindung zu sein, in Kontakt mit der Welt, also mit den anderen. Eine Gesellschaft, die vornehmlich aus Menschen besteht, die nicht zu sein vermögen, ist ungesund. Es ist eine Gesellschaft, welche die Wirklichkeit ignoriert. Denn deren Charakter ist es, übervoll von Seinkönnen zu sein und sich beständig in Wesen zu differenzieren, denen ihr Sein am Herzen liegt. Die Wirklichkeit zu ignorieren aber ist immer Zeichen einer Pathologie. Eine

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solche Gesellschaft überträgt ihre Störung auf alle Mitglieder. Das schwerste Symptom dieser Störung besteht darin, dass sie allem, was zu sein vermag, Kindern, Pflanzen, Tieren und dem Geschenk, das einfach so da ist und nicht weil es nützt, die Möglichkeit zu diesem Sein abspricht. Diese Buch soll zeigen, dass »Sei!« das wichtigere moralische Gebot ist – und dass Teilen, und zwar so radikal, wie wir uns das ethisch immer wünschen, automatisch nachfolgt, wenn Sein erlaubt ist. Sich Sein zu geben heißt sich zu gestatten, unmittelbar – mit dem Körper und als Gefühl – die Wirklichkeit zu sein, sodass sie mit allen geteilt ist. Die wahre Moral ist die Moral des pochenden Fleisches, die uns immer schon trägt, selbst dann, wenn wir nicht an sie glauben. Sie funktioniert genau entgegengesetzt der Forderung, die wir mühsam und allzu fruchtlos zu befolgen versuchen, nämlich uns selbst auszulöschen, um dem gerecht zu werden, was rational erforderlich erscheint. Die wahre Moral aber folgt nicht dem, was als notwendig erklärt wird und erlaubt dann noch ein Stück weit Sein, sondern sie akzeptiert immer zunächst, was ist. Sie geht rückhaltlos von der Wirklichkeit aus und beginnt nicht mit dem Urteil über einen vorgeblichen Idealzustand. Das ist ihre Notwendigkeit, die Notwendigkeit der Wahrheit. Sie bildet sich gemäß der Empfehlung des buddhistischen Lehrers Thich Nhat Han, der sagt: »Lieben heißt daran zu arbeiten, sein Glück zu nähren.«8 Lieben, meint Han, bedeutet zunächst, sich das eigene Sein zu gestatten. Daraus folgt dann von allein die Fähigkeit, auch den anderen willkommen zu heißen. Es folgt der Moral einer Wirklichkeit, die wir nur wahrnehmen können, wenn wir uns selbst zu sein gestatten. Aus dem Glück dieses Seinkönnens eröffnet sich uns die Wirklichkeit als eine Allmende. Wenn wir selbst zu sein vermögen, wünschen wir dieses Sein auch den anderen. Echtes Sein ist unmittelbar geteilt. Um die Menschen zum Teilen zu bringen, müssen wir ihnen das Sein gestatten.

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Kapitel 1 – Teilen »Um über die Liebe zum Leben zu sprechen, müssen wir uns zuerst darüber verständigen, was wir unter Leben verstehen.« E rich F romm 9

Ich habe diese Zeilen am Meer geschrieben, an der Ligurischen See. Ich wohnte für einige Wochen in einem Haus mit gelb getünchten Mauern auf einem Felsvorsprung zwischen der geschäftigen Via Aurelia und den stillen Schirmen alter Pinien. Ich habe geschrieben, das Fenster zum Meer geöffnet, wenn der Wind nicht zu kalt war. Dann habe ich das Meer eingeatmet, seinen jodhaltigen Geruch aus Geburt und Verfall, seine salzigen Erinnerungen aus Süße und Bitterkeit, denn ich kenne die Ligurische See schon lange. Das Meer war für ein paar Wochen im Spätherbst meine Wiege. Es hielt mich, es sah mich, es gab mir Licht. Es ließ sich sacht auf mich ein und erlaubte mir jeden Tag, ein Stück näher zu kommen, nicht physisch, aber emotional. Es verwandelte sich in den Grund meiner Seele, der dadurch nicht mehr festes Land war, sondern weich wie Wasser, bewegt durch den Atem der Wellen. Meine Haut erschauerte wie die Oberfläche unter den Berührungen des Windes. »Die Freiheit ist eine Gabe des Meeres«, schrieb der utopische Sozialist Pierre-Joseph Proudhon 1875.10 Proudhons Sinnbild ist gut gewählt. Freiheit heißt, sein zu können. Wer frei ist, kann akzeptieren, was er zu sein bedarf, und kann dieses Sein mit den Mitteln seiner Wahl ausdrücken, mit den Mitteln, welche die

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Wahrheit ermöglichen. Wer frei ist, kann wahr sein. So wahr wie der Ozean, der sich nicht verstellt, der dem Scirocco antwortet, indem sich seine Oberfläche rhythmisch kontrahiert und wieder entspannt. Das Meer kann nicht anders, als dem Scirocco mit seinem Körper zu antworten. Darin liegt seine Freiheit, die seine Wahrheit ist. Diese Wahrheit ist das Ziel unserer Sehnsucht, wenn es uns, wie viele Menschen, an die Küste treibt. Auch wir erfahren das Meer als eine Quelle des Seins, wenn wir uns von seinem Licht anblicken lassen, das an manchen Tagen nicht auf die Wellen zu fallen scheint, sondern aus ihnen hervorstrahlt, als wäre der Ozean die eigentliche Quelle der Energie, nicht die Sonne. Zum Charakter der Wirklichkeit gehört sowohl, dass sie eine Totalität ist, die uns umfasst, als auch, dass sie aus unzähligen Individuen besteht, von denen wir eines sind. Jeder Teilnehmer existiert zugleich als Einzelner und als Ganzes. Das Meer, der Ozean mit seinen kleinsten und gigantischen Wesen, der das Klima reguliert und die Kontinente mit Wasser versorgt, ist der Inbegriff eines Seins, das sich nur im Teilen realisiert. Wenn das Wasser die Felsen begrüßt, an ihnen als Schaum aufleuchtet und zu Spritzern zerplatzt, zeigt es seine viskose Schwere, die zugleich unendliche Formbarkeit ist. Wasser ist sein eigener Widerspruch: Es ist fest und durchlässig zugleich. Seine Moleküle sind nicht wie Salz im Kristall gebunden, aber sie ziehen einander an. Gemeinsam sind sie Meer. Gemeinsam können sie uns tragen, wie die Malerin Sofia Nordmann beobachtet: »Das Meer ist eine Ansammlung von Tropfen, die nur zusammen, Hand in Hand, die Seele berühren.«11 Aber mit dem Wasser ist das Meer noch kaum verstanden. Denn seine Substanz besteht aus Wesen, aus Algen und Plankton, aus Sekreten, Sperma und Eiern, aus den Säften des Verfalls und den Nährstoffen der Geburt. Man kann den Ozean als ins Gigantische vergrößertes Zellplasma betrachten. Alle Meereswesen tragen etwas zu dieser Nährflüssigkeit bei und alle leben von ihr. Und doch sind sie letztlich die Übersetzung eines einzigen umfassenden Geschenks, nämlich der Sonnenenergie, in Individualität.

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Die Liebe als Grundproblem des Seins Die folgenden Seiten handeln von der Erfahrung, Teil zu sein und dadurch Selbst zu werden. Sie handeln davon, wie sich Gemeinsamkeit herstellt, indem sich Individualität entfaltet – und woran das scheitern kann und in unserer Gesellschaft meistens scheitert. Ich möchte verstehen, wie wir, also wir Menschen und in einem weiteren Sinn wir Lebewesen und wir irdischen Körper, uns erschaffen und erfahren, indem wir Verbindungen eingehen. Die folgenden Seiten handeln also von der Liebe als Grundproblem des Seins. Denn lieben heißt, durch Verbindung so zu wachsen, dass diese Verbindung selbst auch wächst. Nur durch Verbindungen können wir selbst sein. Meine Leitfragen sind daher: Wie ist Beziehung denkbar, die für beide Seiten produktiv ist? Wie lässt sich Beziehung so gestalten, dass in ihr beide Seiten wirklich sein können, die damit also gewaltfrei ist? Das ist nicht nur die zentrale Frage der persönlichen Heilung (wie kann ich mir selbst erlauben zu sein?), sondern auch der gesellschaftlichen Veränderung. Ich frage nach den Möglichkeiten der Liebe auf der Ebene des Körpers, der von der Materie der Welt geliebt wird, auf der Ebene der Bindung zwischen Menschen, in denen Liebe ermöglichen kann, dass ein anderer sein darf, und auf der Ebene der Gesellschaft, in der nicht Trennung (und Wettkampf) den Einzelnen Dasein verleiht, sondern in der jeder dadurch sein kann, dass er in wechselseitiger Verbindung mit dem Ganzen ist. Die Lebendigkeit, die wir ersehnen, ist nicht nur ein privater seelischer Zustand, den man sich womöglich auf dem Weg des Konsums (von Partnern, Modeartikeln, Balkons mit Meerblick) sichert. Lebendigkeit schließt den anderen ein. Sie ist ein Anliegen, welches sich nicht erfassen lässt, ohne zu verstehen, wie Lebewesen Verbindungen herstellen, um sie selbst zu sein  – und dem wir ohne dieses Verständnis nicht entsprechen können. Jedes Stückchen funktionierendes Selbst, auf das wir zurückgreifen, ist das Produkt einer Verbindung, und damit immer jeweils Sein durch Teilen. Darum gilt es, die Wege zu erforschen, auf denen sich Identität entfaltet und durch die Verbindung mit dem, was noch nicht in ihr selbst liegt, zu einem Selbst wird.

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Unsere Ohnmacht, zu sein Während ich an diesem Buch arbeite, lasse ich meine Playlist laufen. Sie besteht aus einer Wanderung durch die Musik der italienischen Liedermacher, der »Cantautori« der 1960er und 1970er. Und mir wird klar, wie sehr unsere populäre Musik, die Lieder, denen wir seit Jahrzehnten lauschen, die Verzweiflung angesichts der Liebe auferstehen lassen. Sie beklagen die Unmöglichkeit, in Verbindung zu sein. »Die Liebe, für die wir uns die Haare ausrauften / ist längst verloren. / Es bleiben nur ein paar lustlose Liebkosungen / und ein Rest von Zärtlichkeit«, singt Fabrizio di André in seiner »Storia dell’amore perduto«, der Geschichte der Liebe, die abhanden gekommen ist, 1966.12 Dieses Abhandenkommen könnte geradezu das Label unserer Gesellschaft sein. Uns quält die Unfähigkeit zur Liebe. Wir sind eine Kultur, in der ganze Sparten – die populäre Musik, die Literatur, die Bühne – quasi unisono die Unmöglichkeit des Liebens beklagen. Die tragische Liebe ist die Wunde schlechthin des Abendlandes. Schon auf der Hochzeit wird zu Liebesliedern mit schmerzhaftem Ausgang getanzt. Das ist nicht trivial. Es heißt nicht, dass wir eine infantile Gesellschaft sind, die sich vor allem mit Nabel-(und Genitalien-)schau beschäftigt. Es zeigt vielmehr die tiefe Verzweiflung, mit der wir versuchen, in Verbindung zu treten. Wir mehr oder weniger Erwachsenen suchen Verbindung vor allem durch die erotische Liebe. Aber diese ist nur die Spitze eines Eisberges. Ihr vielfaches Misslingen ist Symptom einer tiefer liegenden Unfähigkeit, in Verbindung zu sein. Und damit ist es Ausdruck einer Ohnmacht, zu sein. Die Verzweiflung über die Liebe, die immer schon »längst verloren« ist, ist in Wahrheit die Trauer darüber, dass wir nicht wirklich sein können, dass wir die Wirklichkeit verloren haben. Wir leben im Exil, aber wir wissen es nicht, weil wir darin nach dem suchen, was uns nicht retten kann. Das Exil lässt sich nur ertragen, indem wir uns in Rauschzustände versetzen – sei es durch die Besessenheit mit Ekstase oder mit Effizienz. Solche Anästhesie ist wie jede Krankheit ein Ausdruck verhinderten Wachstums: eine »unvollendete Schöpfungstat« (Victor von Weizsäcker) und

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somit Begehren, das sich anhand von Verzweiflung zeigt. Es ist ein Zeichen, dass wir es als Gesellschaft und als Einzelne auf eine tragische und vielfach suizidale Weise verfehlen, zu sein. Und so wird mir am eigenen Leibe klar, wie sehr unsere privaten Handlungen Symptome einer allgemeinen Verblendung sind. Sie sind aus dem Rauschen einer Hintergrundmetaphysik gebildet, die wir für so normal halten, dass sie den Grundton bildet, auf den unsere Weltwahrnehmung gestimmt ist. Dieser Grundton ist die Verbindungslosigkeit, der Abriss, die Trennung, die nicht anders sein kann. Das Bild der Wirklichkeit, welches in der Schule gelehrt wird, sagt nichts darüber, wie es sich anfühlt, am Leben zu sein, warum Beziehungen wichtig sind und wie man sie auf bauen kann – Beziehungen zu mir selbst, zu anderen Menschen, und zu allen, die keine Menschen sind, zu Tieren, Pflanzen, Pilzen, Bakterien, Steinen und Flüssen, der Luft, dem Meer. Das Bild, das wir unseren Kindern beibringen, ist das einer leblosen Welt. Deren Mechanik kommt es allein auf Erfolg an: Das, was da ist, hat sich durchgesetzt, indem es andere aus dem Weg räumte. Wir lassen uns von einer Ideologie des Toten leiten. Doch diese Ideologie beschreibt nicht die Wirklichkeit. Sie versteht sie gar nicht. Und gerade weil sie die Wirklichkeit nicht versteht, ist sie dabei, sie zu zerstören. Die Ideologie des Toten zerschneidet die unsichtbaren Bänder der Lebendigkeit. Diese Bänder heißen nicht nur Biodiversität und Rücksicht auf andere Lebewesen. Sie heißen auch Sinn-Erfahrung, Erlebnis von Zugehörigkeit, Spüren der eigenen Bedürfnisse, das Gefühl, gewollt zu sein. Es sind Erfahrungen, die in unserer Welt zunehmend weniger werden.

Freiheit heißt, lebendig zu werden Wenn wir leiden, haben wir zu wenig Lebendigkeit. Zuwenig Lebendigkeit heißt immer: Wir erleben uns nicht aus unserer Mitte heraus mit der Welt in Verbindung. Das Tragische ist, dass wir diesen Mangel heute oft nicht einmal empfinden. Weil wir die Natur des Leidens nicht verstehen, finden wir kein Gegenmittel. Die Natur des Leidens darf in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht

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vorkommen. Darum ignorieren wir es. Wir benehmen uns wie Menschen, die zwar sehen können, aber sich einreden, dass das meiste, was sie erblicken, nicht wirklich ist, und die es daher achtlos zerstören. Darüber sind wir zwar traurig, können uns aber nicht erklären, wie wir die Zerstörung verhindern sollen, denn das, was wir sehen, gibt es ja nicht. Wir sind uns selbst verdächtig. Wie trauen nicht unserem Gefühl. Wir glauben uns in unserer Wahrnehmung dessen, was wir sehen und was wir selbst sind, zu irren, und möchten darum lieber einen Experten entscheiden lassen. Dessen Urteil ist freilich immer das gleiche: »Nimm deine Gefühle nicht so wichtig!«, lautet er. »Was du zu wissen glaubst, ist nichts als Projektion.« Aber unsere Gefühle sind die Stimme der Wirklichkeit in uns. Sie bezeugen, dass wir selbst und diese ganze Welt, von der wir eine Erscheinungsform darstellen, etwas zutiefst Lebendiges sind. Die Trennung ist kein Verhängnis. Sie ist uns nicht angeboren. Sie ist vielmehr die tragische Außerkraftsetzung einer angeborenen Fähigkeit, zu sein. »Unser größtes Begehren ist es, uns lebendig zu fühlen. Sinnlosigkeit, Depression und viele andere Symptome spiegeln wider, dass wir mit dem Kern unserer Lebendigkeit nicht in Kontakt stehen. Wenn wir uns lebendig fühlen, fühlen wir uns verbunden, und wenn wir uns verbunden fühlen, fühlen wir uns lebendig […]. Lebendigkeit [...] ist ein Zustand des energetischen Fließens und der Kohärenz in allen Systemen des Körpers, des Gehirns und der Seele«, sagen die US-amerikanischen Psychologen Laurence Heller und Alina La Pierre.13 Wir streben nach Sein, und wir haben ein Organ dafür, zu erkennen, ob wir am Sein teilhaben, ob wir sind. Dieses Organ ist unsere Fähigkeit zum Glück. Wir spüren, wenn unser Existieren uns schwächt, weil etwas nicht stimmt. Wir fühlen, wenn etwas falsch ist, so wie die Blume fühlt, dass sie nicht genug Wasser bekommt, indem sie welkt. Sie welkt, weil sie nicht anders kann. Genauso können auch wir nicht anders, innerlich, und als Fleisch und Blut. Aber wir können uns einreden, dass wir anders könnten, und solange so tun,

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bis wir brechen: krank werden, unglücklich werden, andere unglücklich machen, eine ganze Gesellschaft des Unglücks und der Fälschung hervorbringen. Jedes Lebewesen sucht durch seine Eigenart die Verlebendigung der Erde zu realisieren. Dazu gehört das körperliche Gedeihen und dazu gehört die Erfahrung der Zugehörigkeit, je nach den eigenen Bedürfnissen. Wir erkennen, was lebendig ist, als unsere Heimat. Es ist heute wichtiger denn je, dieses Bedürfnis nach Verlebendigung aus der esoterischen Ecke zu holen. Es ist unser aller Lebensbedürfnis. Wenn wir es ignorieren, gehen wir zugrunde. Individuation ist der Ausdruck der Lebenskraft, die jedes Wesen erfüllt, und diese Lebenskraft will, um ganz zu sich selbst zu kommen, in Kontakt mit anderen treten, muss von diesen geschützt, geborgen, genährt werden, verlangt Berührung, Zärtlichkeit, Gehaltensein, will sich einbringen, sich verschenken, größer werden lassen. Nur so, in der Berührung, vermögen wir Selbst zu werden. Wir alle sehnen uns danach, sein zu können. Und nur indem wir teilen, können wir sein. Wem verwehrt wurde zu teilen, mit wem nicht geteilt wurde, der ist nicht nur abgetrennt, der vermag gar nicht zu sein. Nicht zu sein ist eine existentielle Erfahrung: Wer nicht sein kann, fühlt sich fehl am Platz, zweifelt daran, ob er wirklich das tut, was er will, ist abhängig von dauernder Bestätigung, sehnt sich nach Sinn, spürt nicht, was er fühlt. Individualität geht aus Austausch hervor. Darin sind der Aspekt des Selbst und der des Ganzen auf eine produktive Weise miteinander verbunden. Es ist zu einfach, diese Einsicht mit der Phrase »alles ist Beziehung« abzuhandeln. Eher gilt, dass jedes Einzelne die ganze Welt in individueller Konzentration ist. Um produktiv an dieser teilzunehmen, muss es einen Beitrag zum Weltsein leisten, der in seiner ganz eigenen Individualität besteht. Dieses Teilhaben ist die Freiheit zu uns selbst, unser Seinkönnen. Freiheit heißt, mit dem, was wir haben, so umzugehen, dass es lebendig wird.

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Die Wirklichkeit ist Allmende Der Begriff, der diese Perspektive beschreibt, ist die Allmende oder, im heute populären englischen Plural, die Commons. Allmende ist ein Geflecht von Beziehungen, durch die sich Lebendigkeit entfaltet. Allmenden kennzeichnen alle Bereiche des Lebendigen. Ökosysteme sind Allmenden – aber auch ein Großteil der Regeln, denen menschliche Gesellschaften folgen, indem sie allen nützen und alle sie erhalten. Materie und Sinn sind in der Allmende nicht getrennt. Lebende Teilnehmer bringen einander durch Beziehungen hervor und produzieren damit ihre Identität. Ein Beispiel ist die einstige Allmendeweide im Wald. Dort ließen die Menschen ihre Tiere grasen, sammelten Feuerholz, schnitten Eichen frei, trieben ein wenig Gartenbau. Sie ernteten und pflegten. Sie trugen bei und erhielten etwas zurück. War der Wald fort, brach ihre Identität zusammen. Ein modernes Beispiel ist die freie Software, zu der alle beisteuern, und die alle nutzen dürfen. Auch die Familie ist eine Allmende: Ihre Mitglieder verlangen Zuwendung und geben Zuwendung zurück. Das Ergebnis ist nicht nur materielle, sondern auch emotionale Geborgenheit. In den besten Momenten liegt darin eine der tiefsten Erfahrungen von Glück. Jede Beziehung, die Gegenseitigkeit entstehen lässt, ist eine Allmende. Sie ist ein Ökosystem. Da wir als Lebewesen beständig in Beziehung stehen, ja, durch unseren Stoffwechsel aus Beziehungen hervorgehen, und da auch unsere Wahrnehmung ein Beziehungssystem bildet, kann man die belebte Wirklichkeit insgesamt als eine Allmende verstehen. Auch das Meer ist, weil es Allmende ist. Darum zieht es uns so magisch an. Weil es Allmende ist, fühlen wir uns vom Meer gesehen. Die Wirklichkeit selbst ist eine Allmende, denn auch sie ist ein Gewebe von Beziehungen, die Gegenseitigkeit entstehen lassen, indem sie beide Seiten verwandeln. Jede Erfahrung ist eine Berührung, und jede Berührung ist eine Verwandlung. An der Wirklichkeit teilzunehmen heißt also, in ein Verhältnis von Gegenseitigkeit einzutreten. Diese Gegenseitigkeit ist nicht abstrakt, sondern fleischlich. Sie ist immer auch verkörpert. Zur Allmende gehören drei Dinge: Sie ist Materie, sie ist Teilhabe, sie ist Gefühl.

Kapitel 1 – Teilen

In der Allmende verstehen wir, wie sich Wirklichkeit herstellt und wie wir uns selbst als Teil dieser Wirklichkeit erschaffen. In ihr liegt die Lösung, wie wir auf das Drama antworten können, uns abgetrennt zu fühlen und nicht sein zu können, das sich als individuelles und als zivilisatorisches Liebesleid darstellt. In der Allmende ist ein Einzelner so mit dem Ganzen verbunden, dass er sich als dessen Steigerung erfährt. Anders als unser gängiges Weltbild, in dem der einzelne der Welt getrennt gegenübersteht (oder sich die Welt gänzlich einbildet), lässt die Lebensanschauung der Allmende das Äußere (Beziehungen, Materie) und das Innerliche (Empfindungen, Sinn) in einen Tanz treten. Als Allmende zu existieren eröffnet den Raum, in dem Qualitäten willkommen sind, die aus uns selbst kommen: Betroffenheit, Bedeutung, Lust, Gefühl. Die Wirklichkeit ist ein Stoffwechsel von Beziehungen in Gegenseitigkeit. An ihnen nehme ich nicht nur teil, sondern sie machen mich aus. Das gilt für den Körper, aber auch für Gefühle. Diese Gegenseitigkeit erst führt zur Erfahrung von Sinn. Ich habe nicht an Stoffkreisläufen teil, ich bin Stoff dieser Welt. Ich verbinde mich nicht mit anderen, sondern entstehe als Verbindung. Die folgenden Seiten entfalten dieses Verständnis von Wirklichkeit als Beziehungsnetz, in dem Identität immer dem verwandelnden Austausch geschuldet ist. Sage ich Wirklichkeit, so meine ich Wirklichkeit-als-Gewebe, Wirklichkeit-als-Ökosystem, Wirklichkeit-als-­ Verbindung. Der karibisch-französische Dichter Edouard Glissant hat dieses Bild der Realität als eine »Philosophie der Relationen« zu beschreiben versucht. An einer Welt, die ein sich ständig wandelndes Gewebe von gegenseitigen Verwandlungen ist, kann ich nur teilhaben, indem ich mich selbst zu einem Agens des Verwandelns mache. Auf produktive Weise Teil einer Allmende zu sein heißt darum selbst zu sein dadurch, Verbindung zu sein. Das ist nicht nur ein Konzept, sondern ein Gefühl. In der Praxis, uns als produktiver Teil der Allmende zu betätigen, aus der Wirklichkeit besteht, lösen wir den Schmerz, nicht lieben zu können, auf. Der Umstand, dass wir Allmende sind, wirkt sich auf alles aus, was uns von Bedeutung ist: wie wir mit der Erde umgehen, welches Verhältnis wir zu anderen Körpern haben, was

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eine gelingende Bindung ist, wie sich eine Gesellschaft gestalten lässt, die Verbindung erlaubt. Zu den praktischen Aspekten der Allmende gibt es hervorragende Bücher (auch wenn das wichtigste, David Bolliers »Think Like A Commoner«, zwar in viele Sprachen, aber immer noch nicht ins Deutsche übersetzt ist).14 Sie zeigen anhand unzähliger Beispiele, dass Allmende nach wie vor unsere Wirklichkeit bestimmt. Allein der Umstand, dass wir in Familien groß werden und uns von den Produkten der Biosphäre ernähren, lässt daran keinen Zweifel.

Leben als Welt stiften Was wir sind, entsteht durch das, was wir nicht sind: durch Eindrücke und Berührung, durch einen Austausch mit dem, was Stein ist und Wasser, was Molekül ist und Lichtquant, all dem, was sich in die Energie des Körpers verwandelt. Wir sind Mitglieder einer Allmende der Wahrnehmung, aus der unsere Erfahrung, die eigene Identität und die der Welt erst hervorgehen. Unsere Existenz in einer von Leben erfüllten Ökosphäre ist immer schon Gemeingut, bevor sie Individualität wird. Jedes Individuum ist der Welt zu eigen und zugleich ihr Besitzer, verschwistert mit dem rauen Stein, gefleckt von den Wellen, vom Wind zerzaust, vom Strahlen gestreichelt. Wir sind Figuren in einem Ballett aus gegenseitiger Abhängigkeit und gemeinsamer Kreativität. Die Welt gehört uns und zugleich sind wir ihr anheimgegeben. Erst durch diese Gegenseitigkeit ist Erfahrung möglich. Sie stellt die Voraussetzung für die Existenz als lebendes Wesen in einem verflochtenen Ganzen dar. Sich zum Teil dieser Wirklichkeit zu machen, heißt Allmende zu fördern, produktiv an ihr mitzuarbeiten, so zu handeln, dass Lebendigkeit steigt. Wirklich werden heißt, Allmende zu werden. Auf diese Weise können wir uns selbst als Welt betätigen. Sich selbst als Welt zu erleben ist der Kern unserer Erfahrung von Glück. Diese Erfahrung zeigt schließlich ein Letztes: Nämlich dass diese Welt, die wir ja selbst sind, immer auch Inneres ist, nämlich Unseres, von einer Haut umschlossen, die berührt wird, empfindsamer Eindruck einer anderen, die berührt.

Kapitel 2 – Atmen »Wir sehnen uns danach, die Welt durch uns hindurchfließen zu lassen wie Luft oder Nahrung. Wir hungern und dürsten nach etwas, das nur innerhalb von Körpern mit sich getragen werden kann.« L ewis H yde 15

Wenn ich während der Arbeit an diesem Buch eine Pause machte, habe ich aufgeschaut, die Brille abgelegt, und zwischen den grauen Wedeln der Pinien hinausgesehen, auf die flach heranlaufenden Wellen, die mit rhythmischem Rauschen die Schieferklippen emporspülen. Ich habe den Mittelmeerduft geatmet, aus und ein, und meinen Blick über die auf- und abgehende Leere schweifen lassen. Bis mir klar wurde, dass auch das Meer nichts anderes ist als ein Atem, ein großes, unaufhörliches Ein- und Ausatmen. In meinen Wochen oberhalb der Wellen hat das Meer begonnen, mich zu atmen. Erstaunt fühle ich, wie sich meine Brust von selbst hebt und senkt. Vielleicht ist dieses Ein- und Ausatmen der See nichts anderes als mein eigener Atem und darum so beruhigend und so rührend. Wir atmen gemeinsam, wir atmen in einem Zug. Die Oberfläche des Meeres hebt und senkt sich wie mein Brustkorb und ich weiß mit jeder gemächlich anrollenden Welle, mit jedem Anrauschen auf den Felsen, das in weißen Schaum zerspringt und wieder hinwegflutet: Ich bin am Leben. Vielleicht ist das, dieser Atem, das

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Glück der See. Vielleicht ist das ihr Geschenk der Freiheit. Ihre Einladung zu sein.

Wir atmen die Welt Wenn wir einatmen, spüren wir, wie sich unsere Lungen mit Luft füllen. Es ist die Luft der Erdatmosphäre, das spezifische Gemisch aus Stickstoff, Sauerstoff, Kohlendioxid und einer Reihe Edelgase, das federleicht auf unserer Erdoberfläche liegt und durch das wir uns hindurchbewegen. Es ist die Materie, die uns umgibt, während wir mühelos durch sie hindurchschwimmen. Es ist die Luft, durch die wir uns mit Natürlichkeit bewegen wie Fische durch die See. Diese Materie nehmen wir, wenn wir einatmen, in uns auf. Wir saugen das, was uns umgibt und unseren Lebensraum bildet, in uns hinein. Wir umschließen das, was außen ist, in unserem Inneren. Vielleicht klingt das nicht besonders spektakulär. Doch in der Bewegung des Atmens, im Hin und Her der Aufnahme und Abgabe dessen, was Außen ist, in unser Inneres, liegt eines der großen Geheimnisse des Lebens. Es ist ein Geheimnis, das wir in ähnlicher Form mit allen anderen Wesen teilen. Zwar atmen längst nicht alle Luft wie wir. Fische etwa inhalieren Wasser durch ihre Kiemenspalten. Manche Bakterien nehmen faulig riechenden Schwefelwasserstoff, in dem sie schwimmen, durch ihre Körperwände auf. Auch die Pflanzen atmen Luft, indem sie den Gasinhalt der Atmosphäre durch spaltförmige Öffnungen auf ihren Blättern in ihre grünen Körper hineinströmen lassen. Aber Pflanzen verwenden bei ihrer Atmung nicht wie wir den Sauerstoff der Luft, sondern das Kohlendioxid, und geben umgekehrt Sauerstoff ab, den wir und die meisten anderen Tiere zum Leben benötigen. Auch die Schirmpinien und die Blaualgen im aquamarinen Wasser beteiligen sich an der umfassenden Alchemie des Daseins, die uns durchherrscht, während unsere Brust auf und ab geht. Sie nehmen das, worin sie sich aufhalten, ihren Außenraum, ihre Umwelt, in sich hinein und verwandeln dieses Äußere in etwas, was sie selbst sind. Das ist ein Prozess, der auf einer ganz natürlichen und körperlichen Ebene stattfindet. Wir alle haben an der

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Welt teil, wir alle finden unseren Platz und unseren Lebensunterhalt in den Räumen dieser Erde, indem wir ihre Materie in uns aufnehmen, diese Außenwelt in unseren Stoff verwandeln und im Gegenzug etwas von uns zur Außenwelt werden lassen, auf und ab, ein und aus, hoch und nieder. Es ist ein Prozess, der uns überhaupt erst als Lebewesen hervorgebracht hat. Wir können nicht entscheiden, ob wir daran teilnehmen. Ob es uns gefällt oder nicht: Durch unseren Stoffwechsel, der verlangt, dass wir uns von anderen Lebewesen ernähren und die Atmosphäre in uns hineinziehen und in uns verwandeln, haben wir an der Totalität der Biosphäre teil. Wir stehen nicht nur in einem Kontinuum mit allen anderen Wesen und mit aller nichtlebendigen Materie, sondern wir sind diese buchstäblich selbst. Natürlich sind wir nicht in jedem Moment aller andere Stoff – ein Stein, ein Baum oder ein Vogel am Himmel. Aber der Stoff, aus dem wir in diesem Moment bestehen, wird im nächsten wieder Luft sein, dann Körper einer Pflanze oder Schale einer Muschel, und eines Tages Kalksediment, Felsen, Sand. Stofflich ist diese Welt ein großer Körper, von dem die Einzelnen momentane Auswüchse darstellen. Alle anderen Überlegungen sind erst durch diese profunde Form der materiellen Teilhabe ermöglicht. Was wir unseren Geist nennen, beruht darauf, dass wir ein Körper sind, der sich mit der Welt austauscht, ja, der diese Welt in einer ihrer Manifestationen selbst ist. Wir können uns noch so sehr abmühen, kraft unserer rationalen Fähigkeiten oder unserer brutalen Gewalt, ganze Landschaften zu verändern, Flüsse umzuleiten und Polkappen abzuschmelzen, uns zu etwas Besonderem und von allem anderen Abgesonderten zu machen. Aber unsere besonderen Fähigkeiten sind nur eine sehr unbedeutende Variation des Ganzen. Vor allem gilt erst einmal: Wir sind mit Haut und Haaren diese Erde. Der Atem ist darum etwas ganz und gar nicht Triviales. Sein Geheimnis besteht darin, dass jeder von uns atmend nicht bloß ein Gas hin- und herbewegt, sondern sich in die umgebende Welt verwandelt. Indem wir spüren, wie wir atmen, können wir erfahren, dass wir diese Welt sind. Wir spüren, dass wir

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anschwellen, abebben, in Wellen, auf und ab, wie das Meer. Das Meer, dessen Atem den Strand liebkost und sauber leckt und dabei verwandelt.

Stoffwechsel heißt, das Ganze zu sein Um die Verwandlung durch den Atem zu verstehen, hilft es, wenn wir uns ein Thema aus dem Biologieunterricht der zehnten Klasse vergegenwärtigen. Ich mache es ganz kurz, keine Sorge – wenn Sie das schon damals nicht verstanden haben, wird es jetzt nicht komplizierter. Im Gegenteil: Ich hoffe, dass ich etwas aufdecken kann, was die Lehrer normalerweise übersehen, weil es einfach nicht in die Perspektive biologischen Denkens passt, obwohl es doch so offen zutage liegt. Dieser offenkundige Umstand besteht darin, dass wir jedes Mal, wenn wir Luft einatmen, den darin enthaltenen Sauerstoff zu einem Teil unseres Körpers machen. Und genauso ist das Kohlendioxid, das wir ausatmen, nicht die Nahrung, die unser Körper »verbrannt« hat (obwohl das in der Kalorien- und Joule-Sprache der Diät-Anbieter so genannt wird). Das Kohlendioxid, das aus unseren Lungen in die Welt zurückströmt, das sind wir selbst. Es ist eben noch Bestandteil unseres Körpers gewesen, war Kohlenstoff in der Wand einer Zelle, im Gerüst eines Enzyms, in der Spirale eines DNA-Strangs, in der empfindlichen Antenne eines Sinneshärchens, Baustein in einem Botenstoff, der sich im Gefühl durch freudige Erregung manifestiert hat oder als Gerinnungsstoff beim Stillen einer Wunde, die schmerzt. Das bemerkenswerte Phänomen, das sich bei jedem unserer Atemzüge wiederholt (und entsprechend auch bei jedem Schlucken, mit dem wir Nahrung in uns aufnehmen), ist der Stoffwechsel. Es ist mir nicht klar, ob die an der Prägung dieses Begriffs Beteiligten eine Ahnung davon hatten, dass wir im Stoffwechsel uns selbst mit der umgebenden Erde und allen ihren anderen Wesen austauschen. Freilich gab es zu jener Zeit noch nicht die Idee, ein Wesen mit einer Maschine zu vergleichen, einem Motor, der mit Treibstoff betankt wird (der Nahrung) und Abgas ausstößt (das

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Kohlendioxid), dabei aber im Großen und Ganzen unverändert und zutiefst unbeteiligt bleibt. Es war der Philosoph Hans Jonas, der in seinem bahnbrechenden, aber immer noch vergleichsweise unbekannten Buch »Das Prinzip Leben« beschrieb, welche fundamentalen Konsequenzen der Stoffwechsel hat.16 Verstehen wir, was er bedeutet, müssen wir einsehen, dass die Idee, jeder Akteur sei letztlich von allen anderen getrennt, unhaltbar ist. Wir können erfassen, dass wir nicht auf der Erde herumlaufen, und auch nicht nur in ihr, innerhalb ihres Körpers, sondern dass wir diese Erde sind. Wir können insbesondere sehen, dass wir nicht grundsätzlich von den anderen Lebewesen getrennt sind, denn wir ernähren uns ja von ihnen und verwandeln darum ihre Körper in unseren eigenen. Zugleich aber sind wir alle Individuen, mit einem je eigenen Blickwinkel auf die Welt. Wir sind beides, Welt und Einzelner, aus je unterschiedlichen Blickwinkeln. Der Ort, wo diese sich vertauschen, ist der Atem, der Rhythmus, in dem wir aus der Welt zu einem Ich kristallisieren und dieses wieder auflösen. Atmend als Welt mit den anderen Wesen Stoff zu wechseln ist die fundamentale Ebene des Seins als Teilen. Stoffwechsel heißt, dass wir in keinem Moment die Gleichen bleiben. Er bedeutet, dass wir unsere Substanz mit dem Rest der Wirklichkeit tauschen, dass wir von dieser nicht unterschieden sind, dass wir im Innersten aus dem Mineral bestehen, das die Schieferklippen der Ligurischen Küste bildet, und aus dem Wasserstoff, der im Kern der Sonne brennt. Einen Stoffwechsel zu haben bedeutet eben, diesen Zusammenhang nicht nur als nette Theorie aufzufassen, sondern mit jedem Atemzug neu zu vollziehen. Mit jedem Einatmen stülpe ich die Bestandteile der Atmosphäre in mich hinein, lasse sie zu mir selbst werden – und verwandle mich zurück in Stein, Wasser und Luft. Das An- und Abschwellen meines Leibes, das ich im Atmen erfahre, und dem ich mich vertrauensvoll überlassen kann, als würde ich sanft vom Meer gewiegt, von einem unendlich großen Organismus, der weiß, was er tut, und der weiß, was für mich richtig ist, ist also der emotionale Grundton, in dem jeder von uns

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sich als Teil dieses großen Austausches erfährt. Im Atem offenbaren wir uns selbst als Allmende, wir selbst als Teilnehmende und Teilhabende an einem großen Körper, der wir sind, ohne dass er uns ganz bestimmen oder ausmachen oder gar vollständig kontrollieren würde. Im Atmen spüren wir uns nicht nur als einzelnes Subjekt in seinem pulsierenden Körper, sondern wir erfahren uns als die Welt selbst in ihrem rhythmischen Auf und Ab. Diese radikale Konsequenz des Stoffwechsels lässt sich nicht nur theoretisch beschreiben oder allenfalls in einem biophysikalischen Experiment erweisen, sondern sie stellt unsere primäre Erfahrung dar. Wir sind dieser Körper, der die Welt, also die Körper der anderen, in sich verwandelt. Und wir bekommen davon etwas mit. Wir fühlen uns mit Welt gefüllt, wenn wir atmen, und dieses Gefühl flößt uns Vertrauen ein. Emotional vollziehen wir unser Verhältnis zur Wirklichkeit unmittelbar. Wir können uns höchstens einreden, das sei alles nur Einbildung. Aber im Atem sind wir dieser Stoffwechsel, sind wir der Körper der Welt, der sich durch uns hindurch bewegt. Wir sind auf eine sehr kluge und altertümliche Art diese Welt von innen, und wir sind auch ihre Weisheit von innen. Wir sind Welt, die um sich weiß; dies wird klar, wenn wir bedenken, dass wir diese Welt als Stoff sind. Das sind freilich Gedanken, die sich in einer kulturellen Umgebung, die von den »objektiven Wissenschaften« geprägt wurde, seltsam anhören können. Die Wissenschaft hat sich ja gerade auf die Fahnen geschrieben, die Welt (und damit auch den Menschen) zu erkennen, indem sie alles ins Kleinste analysiert, also trennt. Dabei kommt dann ein Bild des Stoffwechsels heraus, das den Atem, wie wir ihn als Schwellen und Loslassen erleben, gerade nicht enthält, sondern das sich auf eine chemische Gleichung beschränkt. Die Wissenschaft hat sich entschieden, dass sie sich nicht mit Verwandlung beschäftigt, sondern mit dem Gegenteil, mit den Ergebnissen der Trennung. Es ist kein Wunder, dass auf diese Weise das meiste Leben aus der Wissenschaft verschwunden ist. Denn der Charakter des Lebens ist Verwandlung. Verwandlung und Transformation, das ist das Prinzip dieser belebten Welt, an der wir teilhaben, indem wir sie in uns überführen und wieder neu produzieren.

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Ökologie als Ver wandlung Verwandlung ist die Grundtätigkeit aller Ökosysteme. In der Schule lernt das keiner mehr, weil die Wissenschaftler schon viel zu lange ihr Augenmerk auf das Gegenteil gerichet haben: nämlich darauf, Lebewesen (wie auch uns selbst) als getrennt voneinander agierende kleine Überlebensmaschinen zu verstehen, die brutal darauf erpicht sind, die anderen großflächig aus dem Feld zu schlagen und sie zu besiegen. In dem, was viele Biologen (und fast alle Wirtschaftstheoretiker) für die Wirklichkeit ausgeben, sind lauter Einzelspieler darauf programmiert, den anderen gegenüber ihre Souveränität zu behaupten. Organismen, uns eingeschlossen, haben keine Empfindungen. Diese werden allerhöchstens als wirkungslose »Epiphänomene« abgetan: Illusionen, die im Dienste einer verbesserten Fortpflanzungswahrscheinlichkeit stehen. Unsere Gefühle gelten letztlich als nützliche Illusionen im Dienste höherer Effizienz. Manche nennen diesen Einzelspieler dann »Homo oeconomicus«, andere »egoistisches Gen«. In jedem Fall beschreiben alle solche Namen nicht lebende Wesen mit Gefühlen und Erfahrungen, sondern Biomaschinen. Und diese vereinzelt kämpfenden Biomaschinen haben genau nicht die Eigenschaft, die sich uns mit jedem Atemzug, den wir tun, offenbart: Sie bestehen nur aus sich selbst, sie teilen nicht, sie verwandeln sich nicht in die anderen, sie nehmen weder deren Materie auf noch deren Standpunkte ein. Aber was beim Atmen geschieht, ist nicht nette Esoterik. Jeder Laborant kann es durch ein vergleichsweise einfaches Experiment mit radioaktiv markierten Nahrungsmitteln nachweisen. Was beim Atmen geschieht, hat vielmehr Ähnlichkeit mit dem, was Theologen einst als »Transsubstantiation« bezeichneten, als das Wunder der Verwandlung des Fleisches: Der Stoff, aus dem unser aller Leiber bestehen, und aus dem die Welt besteht, die sie hervorbringt, ist in der Lage, von einem zum anderen weiter zu wandeln. Im Fleisch, also in unseren atmenden Körpern, sind wir alle Teile einer einzigen großen lebenden (und darum stets nach Verwandlung verlangenden und zutiefst verletzlichen) Materie.

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Der andere, das andere, die Welt, in der wir uns bewegen, ist somit einerseits unsere materielle Substanz. Wir sind unser Körper. Wir sind die Materie, aus der wir bestehen. Zerstört man diese Materie, hören auch wir auf zu bestehen. Doch zugleich werden wir dieser Materie niemals habhaft: Sie läuft durch uns hindurch. Was heute ich ist, füllt morgen schon als Gas die Atmosphäre. Unser Selbst ist also nur die Form, die wir dieser Materie geben. Dieses Selbst könnte man als die Sehnsucht danach beschreiben, in jedem Augenblick aufs Neue der Materie, die uns zwischen den Fingern zerrinnt, eine Form zu geben. Das ist das Geheimnis biologischen Lebens: Seine Form ist nicht sein Stoff, sondern eine Tätigkeit. Nur die beständige aktive Verwandlung ist unser eigenes kreatives Werk. Nur in ihr sind wir ganz wir selbst, und doch vollkommen auf das gebaut, was uns nicht gehört.17 Es gab eine Zeit in der Entwicklung der Wissenschaften, früh im neunzehnten Jahrhundert, in der manche Gelehrte daran festhielten, der Stoff, aus dem Lebewesen gemacht sind, sei etwas grundsätzlich anderes als die anorganische Materie der Steine, der Luft, des Bodens, der Gewässer. Die Experimente, in denen ihre dem Fortschritt zugeneigten Kollegen dann zeigten, dass die Asche eines Lebewesens kein Stück mehr enthielt als das, was auch das Unbelebte ausmacht, zerstörte freilich kurz darauf den Glauben, dass es einen Stoff des Lebens gebe. Die Konsequenz schien klar: In Wahrheit sind wir auch unbelebt. In Wirklichkeit sind wir tote Atome, wie alles andere auch. Aus einem anderen Blickwinkel hätte bereits damals das Gegenteil begriffen werden können: In Wahrheit sind wir selbst diese ganze Erde, die ihre Lebendigkeit in jedem Lebewesen neu erfährt. In Wirklichkeit sind wir nicht grundsätzlich verschieden, sondern sind immer bereits all das, durch das wir uns hindurchbewegen  – während wir dieses alles aber zur gleichen Zeit nur sein können, indem wir ganz Individuum sind. Dass dieses Begreifen vielen immer noch so fern liegt, beruht nicht auf bösem Willen oder Achtlosigkeit, sondern vor allem darauf, dass die damit verbundene real existierende Paradoxie schwer zu denken und oft noch schwerer auszuhalten ist. Darum geschieht es uns

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so leicht, ihre prekäre Balance für eine klare Entscheidung zu verraten: Wenn wir eigene Individualitäten haben, dann können wir ja nicht die Welt sein, das leuchtet doch ein! Ich versuche auf diesen Seiten zu verstehen, warum Individualität immer als Funktion des Ganzen zu verstehen sein kann. Das ist der Wunsch nach einer Besinnung – darauf, dass wir uns nicht zwischen »Ich« und »Welt« entscheiden müssen, ja, diese Entscheidung nicht fällen dürfen, sondern versuchen sollten, immer beides gleichermaßen im Blick zu haben, Das ist nicht anders als in einer Liebesbeziehung: Wer dort an den Punkt des »entweder ich oder du« ankommt, hat die Partnerin bereits verloren. Und lieben ist ja nichts anderes als die Praxis, dem Ich Wachstum zu gewähren, indem dieses Wachstum der Partnerin gewährt wird. Damals aber, in der rauschhaften Phase der Wissenschaft und Technik im Banne der Aufklärung, ertönte der Aufruf, die Trennung mutig zu vollziehen und uns zu Herren über die Welt zu machen. Es war auch eine Trennung von uns selbst, denn von nun an mussten die Menschen zunehmend darauf verzichten, sich ernst zu nehmen, wenn sie die leise, aber hartnäckige Stimme eines Gefühls von Heimat, Zusammengehörigkeit und Schwesternschaft mit der Materie empfanden. Der Atem des Meeres, sonst von demselben Göttlichen beseelt, das auch einem Menschen Leben einhauchte, war plötzlich nichts weiter als das Pumpgeräusch einer großen Maschine.

Die Blüte träumt die Biene Der Riss, den wir uns verordnet hatten, lief durch uns selbst. Das Gefühl, mit dem wir nach wie vor die Verbindung mit der übrigen Erde erfassen, wurde verboten, weil es nicht wissenschaftlich war. Aber von nun an galt der Mensch vor allem als rationales und körperloses Bewusstsein und war damit als leidender und lustvoller Körper von der Welt isoliert. Diese Isolation brachte Macht, aber auch Einsamkeit. Die einzige Chance zu deren Überwindung bestand nun darin, dieses andere, die ganze übrige Welt, die Körper der anderen Tiere und Pflanzen und auch den eigenen Körper und sogar das eigene Gefühl zu unterjochen und

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zu kontrollieren. Dafür versprechen wir uns die Erlösung von allen Notwendigkeiten des Körpers. Aber wir sind nicht isoliert. Die Nahrungsketten der Ökosysteme bezeichnen Wege, wie sich Materie, Energie und Gefühle in der Form einzelner Körper fortpflanzen. Auch das ist wieder ein rhythmisches Pulsieren, ein Wogen, eine Form des Luftholens und Ausstoßens. Ökosysteme sind Landschaften, die daraus bestehen, dass in ihnen die Verwandlung des Fleisches stattfindet. Das Fressen und Gefressenwerden in der Natur ist auch ein Stoffwechsel. Es ist im Grunde so etwas wie das Atmen der Biosphäre. Das Ökosystem, in dem sich ein Individuum das andere einverleibt und eine Art von der anderen abhängt, ist damit auch die Grundform der Allmende. Es kann nur bestehen, weil alle sich beteiligen, weil alle etwas beisteuern und weil alle etwas erhalten, weil in der Tiefe alle den gleichen Stoff teilen. Ökosysteme sind Beispiele dafür, wie die festgefügten Grenzen zwischen Individualitäten immer wieder zerbrechen und sich dauernd neu ziehen, dafür, dass Arten sich nicht nur bekämpfen, sondern voneinander abhängen und erst gegenseitig ihre Existenz ermöglichen. Wenn ich auf den behutsam schwellenden Atem des Meeres blicke, der die Küstenfelsen liebkost, diesmal noch dunkel zur frühen Morgenstunde, träge wie schwarzes Öl, heißt diese Wechselseitigkeit: Ohne Algen gäbe es keine Seeigel, Schnecken und kleinen Krebse, und ohne diese unscheinbaren Wirbellosen gäbe es keine Algen. Ohne die Insekten, die immer neue Wege ersonnen haben, zarte Pflanzenteile zu fressen, gäbe es nicht die Unzahl von Formen pflanzlicher Körperoberflächen, von Borken, Wachsschichten, holzigen Deckmembranen, mit denen die verschiedenen Gewächse versuchen, sich zu schützen. Und ohne diese Formen wiederum existierte nicht eine solche Diversität von Insektenarten, die alle eine andere Strategie haben, die harten Hüllen zu durchbeißen und sich die Materie der Pflanzenkörper einzuverleiben, die ja in Wahrheit nichts anderes sind als kristallisiertes Sonnenlicht. Ohne Insekten keine Blüten, die Organe darstellen, mit denen Hummeln, Wespen und Käfer dazu ermutigt werden (durch reichhaltige Geschenke von Pollen und Nektar), den

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Gewächsen bei der Fortpflanzung zu helfen. Ohne Blüten nicht diese Variationsbreite von Bestäubern, Wildbienen mit je angepassten Rüssellängen, Schmetterlinge, die ganz bestimmten Blütenformen treu sind. All das, was Evolutionsforscher in den letzten 150 Jahren ausschließlich als Wettkampf beschreiben, ist mehr als das: ein Verhältnis von bedingungsloser Gegenseitigkeit. Das soll nicht heißen, dass in der Biosphäre keine Konkurrenz herrsche, sondern nur die Harmonie hilfreicher Kooperation. Aber die bloße Idee des Wettkampfes löst den Sinn des Geschehens noch nicht ein. Denn der Wettkampf ist aus einem anderen Blickwinkel auch eine gegenseitige Hilfestellung, die beiden Seiten erst ermöglicht, Form zu gewinnen, und zwar durch einander. In einem solchen Verhältnis kann das eine nicht sein, wenn nicht das andere ist. Das eine hat nur Platz, indem auch das andere existiert. Somit trägt es seinen eigenen Gegensatz bereits in sich. Francisco Varela sagte: »Die Blüte träumt die Biene, und die Biene imaginiert die Blüte.«18 Die Individuen, also die Blume und die Biene in Varelas Beispiel, mögen völlig davon bestimmt sein, auf ihre Weise ihr Überleben zu sichern, während dies in der Totale zu einem Ökosystem von harmonischer Gegenseitigkeit führt. Blüte und Biene bedenken nicht Gegenseitigkeit und Kooperation, sondern ihr Handeln und ihre Physis verkörpern diese. Beides sind Ausdrucksformen einer gemeinsamen Realität. Und diese Realität ist eine Fantasie über Freiheit und Individualität, während die Basis dieser Freiheit ein radikal geteilter gemeinsamer Körper ist. Vermutlich ist es die Herausforderung menschlicher Kultur, aus der in den Körpern angelegten Gegenseitigkeit ein bewusstes Anliegen zu machen.19

Ökologie heißt Essbarkeit Schon mit uns selbst sind wir nicht identisch. Nicht nur der Stoffwechsel bewirkt, dass unser Körper keine materielle Substanz hat, sondern ein beständiger Durchfluss der Welt ist, und unser Selbst so etwas wie einen Knotenpunkt des Ganzen oder den Kamm einer Woge darstellt. Aber das gilt eben nicht nur physikalisch, auf

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der Ebene der Atome, die sich als unser materielles Ich bündeln und sich dann wieder zur Welt hin auflösen, sondern auch biologisch. Auf der Ebene unserer leiblichen Identität sind wir mehr als wir selbst, sind wir immer schon eine andere. Unser Körper besteht nicht nur aus Zellen einer einzigen Art, dem Menschen, Homo sapiens, sondern aus Dutzenden fremden Spezies. Wir tragen Bakterien im Darm, Bakterien auf der Haut und den Schleimhäuten, und Amöben im Mund. Die Zahl dieser Wesen übertrifft die Menge unserer Zellen um das Zehnfache.20 Die Gene der Mikroorganismen, die uns gemeinsam hervorbringen, sind sogar 100 Mal so zahlreich wie unsere eigenen.21 Diese anderen Organismen sind an der Herstellung unseres gesunden Selbst genauso beteiligt wie unser »eigener« Körper. Sie bilden nach eigenem Gutdünken winzige Ökosysteme: Die Bakterienflora der rechten und der linken Hand eines Menschen können vollkommen verschieden sein.22 Ohne die Bakterien auf der Haut etwa würde unser Immunsystem mit der Abwehr von Eindringlingen vollkommen überfordert sein. Nicht die aggressive Bewahrung eines vom Rest getrennten Selbst also erhält uns aufrecht, sondern das Aushandeln eines Gleichgewichtes zwischen Dutzenden von Mitspielern. Unser Körper selbst ist ein Ökosystem und damit eine Allmende. 23 Ökologie ist die Frage, wie die Beziehungen zwischen den einzelnen Wesen eines Lebensraums organisiert sind. Der Stoffwechsel der Biosphäre ist wie der Stoffwechsel eines einzelnen Lebewesens allein dem Umstand geschuldet, dass sich seine Einzelteile beständig ineinander verwandeln, um so ein kohärentes Ganzes zu bilden. Die Natur ist der Modellfall der Allmende. Ihr Haushalt, der oikos, ist ein Haushalt der Gemeingüter. Die Gene der Organismen sind austauschbar und nicht patentiert. Sie bilden für jede Art den Quelltext biologischer Information. Die DNA konnte sich nur darum in das Erbgut verschiedener Arten aufspalten, weil alle Wesen ihren Code nutzen dürfen, weil jeder Mitspieler das für ihn Sinnvollste daraus basteln kann. So besteht unser eigenes Erbgut etwa zu einem Fünftel aus den Genen von Viren.

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An dieser Stelle ist es möglich, prägnant den Begriff der Natur zu fassen: Als Natur verstehe ich im weitesten Sinne eben diese Allmende der Wirklichkeit durch gegenseitige Verwandlung. Ich folge also nicht der mittlerweile überkommenen Tradition, Natur als das andere vom Menschen abzusetzen. Wenn ich das Wort »Natur« auf diesen Seiten verwende, dann in dem Sinne, dass nichtmenschliche Tiere, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen die ökologische Allmende von allein hervorbringen, während der Mensch diese erschaffen muss. Dieser Gedanke folgt einer von Friedrich Schiller ausgedrückten Idee: »Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren: Was sie willenlos ist, sei du es wollend  – das ists!« 24 Wie die Natur zu handeln, heißt also für mich den Prinzipien der schöpferischen Wirklichkeit aktiv Vorschub zu leisten, Selbstsein-durch-Transformation zu gestatten, und darin eben auch  – »die Pflanze kann es dich lehren« – zu blühen. Diese Blüte ist denkbar durch einen radikalen Verzicht darauf, etwas zu bseitzen. Weil es in der Natur kein Eigentum gibt, gibt es auch keinen Abfall. Alle Teilnehmer der Biosphäre sind Nahrung. Ja, lebendig sein heißt vor allem, Speise zu sein, heißt, unweigerlich irgendwann gegessen zu werden. Wenn wir lebendig sind, sind wir essbar. Jedes Individuum macht sich im Tod einem anderen zum Geschenk. In einer solchen ökologischen Allmende stehen alle Individuen und Arten in einer Unzahl von Verbindungen. Zwischen ihnen herrscht zugleich Kooperation und Konkurrenz, sie sind Partner und Beute, sie ermöglichen sich gegenseitig das Sein und verleiben sich einander ein. Hier gehört nichts einem Einzelnen, alle Körper sind ineinander verwandelbar, und gerade dadurch fällt für jeden etwas ab. Unsere Essbarkeit ist der Aufweis der Allmende in uns. Unsere Essbarkeit verbürgt unsere Identität als das Ganze in unserer ganz spezifischen Eigenart. Die Ökologie funktioniert nicht nach dem Grundsatz der gnadenlosen Verdrängung, sondern nach dem Prinzip der wechselseitigen Ermöglichung. Sie ist ein Waltenlassen der Gnade auf Gegenseitigkeit: Weil es dich gibt, darf ich sein. Die Bedingung dieses Austausches ist freilich unerbittlich. Sie liegt im Tod der

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einzelnen Mitspieler. Zu akzeptieren, »in Wahrheit das Ganze« zu sein, heißt eben auch, seine Sterblichkeit klar zu erkennen, heißt zu sehen, dass die Vielfalt der Biosphäre und ihrer Ökosysteme gerade dieser Sterblichkeit geschuldet ist, welche die Art und Weise beschreibt, wie sich alles austauscht. So erst können wir verstehen, dass im brutal scheinenden Fressen und Gefressenwerden ein Sinn liegt, welcher die tiefere Verbindung ermöglicht, die auch uns Körperwesen ganz diese Welt sein lässt, und uns beständig im Austausch mit ihr hält. Dass wir sterben müssen, ist der Beweis dafür, dass wir selbst bereits das Ganze sind. Der Tod ist die Stimme des Ganzen in uns, die Stimme, die uns erinnert, dass wir immer schon als dieses Ganze existieren.

Wahrnehmung als Teilen Bereits Wahrnehmung lässt sich als Teilhabe verstehen. Wenn ein Lichtquant auf meiner Netzhaut auftrifft, so lässt es seine Energie mit der Energie meines Körpers zusammenfließen. Ich kann nur sehen, indem ich die Sonne in mich aufnehme, die alles im Licht sichtbar macht, weil sie ihre Energie von den Dingen in bestimmtem Maße aufsaugen und in bestimmter Menge wiedergeben lässt. Ich muss also selbst Licht werden, um die Welt in Helligkeit zu erfassen. Vielleicht hat Goethe davon etwas geahnt, als er die rätselhaften Zeilen schrieb: »Wär nicht das Auge sonnenhaft / die Sonne könnt’ es nicht erblicken.« Das ist es, was ich in meinem Buch »Lebendigkeit« als die grundlegende erotische Verfassung der Wirklichkeit beschrieben habe: Alles zieht sich gegenseitig an, verwandelt sich durcheinander, hinterlässt seine Spuren auf- und ineinander.25 Diese Gegenseitigkeit, aus der unsere körperliche Existenz erst hervorgeht und aus der sich auch unsere Wahrnehmung speist, bezeichnete der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty als das »Fleisch der Welt«. Damit meinte er nicht allein den Umstand, dass die Biosphäre von einer feinen Haut aus Wesen gebildet ist, die fast alle Areale, Nischen und Winkel bewohnen  – von den fleischigen See-Anemonen an den ligurischen Felsriffen über das grüne

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Fleisch der Büsche und Blätter zu den Flechtenhäuten noch der unwirtlichsten Felswände und den unsichtbaren Bakterienrasen auf quasi jeder Oberfläche. Das Fleisch der Welt war für Merleau-Ponty mehr als ein Körper, nämlich rhythmische Gegenseitigkeit, aus der die Einzelnen hervorgehen, weil sie immer dem Rest geschuldet sind. Das Fleisch der Welt ist Atem, der Atem, in dem wir uns in Steine und Wasser verwandeln, der Atem, mit dem die See ihre Geschöpfe benetzt, sodass diesen die dauernde Verwandlung möglich bleibt. Das Fleisch der Welt ist der Umstand, dass Existieren auf eine fundamentale Weise Teilhabe und Gegenseitigkeit heißt. Und so ist alles Atem, in verschiedenen Rhythmen und wechselnden Frequenzen. In den Jahreszeiten atmet sich das Jahr ein und aus. Auch das ist eine Verwandlung, genau wie der Wechsel zwischen Tag und Nacht. Der Ozean gibt in den Gezeiten den Meeresgrund frei und verschluckt ihn wieder. Die Wiese verwandelt sich mit den Phasen des Wachstums und der Mahd, mit ihren unterschiedlichen Bewohnern, die einander ablösen, der Wald atmet in seinen Farben den Herbst und in seinem hauchdünnen Grün den Frühling. All das ist immer Einkehr im Wechsel mit Veräußerung: ein Auf und Ab, ein Schwellen und Verebben, ein Sterben und Geborenwerden. Produktiver Teil der Welt zu sein heißt somit, ein verwandelnder Teil der Welt zu sein. Denn die Wirklichkeit ist vor allem ständiger Wandel. Produktiv heißt hier, sich selbst zu verwandeln, aber zugleich auch dem anderen, der Welt, Verwandlung zu ermöglichen. Produktivität heißt, sich dem Drang der Verwandlung hinzugeben, der das Innere der Wirklichkeit erfüllt, und sich nicht länger dagegen zu sperren, sein Werkzeug zu sein, also sich selbst zu verwandeln. Ganz Wirklichkeit (und in diesem Sinne auch ganz Natur) zu sein hieße somit, an der Welt verwandelnd im Geiste der Verbundenheit teilzunehmen. Erst das ist vollends ökologisch, und doch nicht an die materielle Ressource »natürlicher Ungestörtheit« geknüpft – sondern an das Zulassen schöpferischen Wandels, der zu seiner je eigenen Individualität drängt. Das Ökosystem ist ein Ort der Verwandlung, ein Ort, an dem die Chance besteht, aus seiner Rolle zu schlüpfen und das andere zu

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werden. Dieses Aus-seiner-Rolle-Schlüpfen und die damit verbundene Bestätigung in seiner eigenen Rolle ist eine Erfahrung von Glück. Glück heißt, sich durch die eigene Verwandlungskraft als stimmigen Teil der Wirklichkeit zu erfahren. Glück ist etwas Einfaches: die Erfahrung, in vollkommenem Maße wirklich zu sein. Nicht nur »mit allem verbunden«, sondern dieses Ganze selbst zu sein, und zugleich doch im konzentriertesten Maße ich. Man könnte somit auch sagen, Glück ist die Erfahrung, Lebendigkeit zu intensivieren, nämlich sowohl die eigene als auch die des Ganzen, dessen Erscheinungsform ich selbst bin. Lebendigkeit ist das Wirklichwerden im Austausch. Das ist sowohl eine ökologische Definition als auch eine, die unser inneres Erleben erfasst. Fällt beides zusammen, dann haben wir es geschafft, für einen Atemzug den ganzen Spannungsraum der Wirklichkeit auszubalancieren. Genau das ist, wenn wir genau hinschauen, die Botschaft, die jedes Lebewesen mitbringt. Es ist die Totalität, und zugleich die allerhöchste Individuation, und darin bringt es gerade unsere Sehnsucht auf den Punkt, genau das sein zu können: Totalität und Individuation. Lebewesen sind das Ganze, weil sie ganz sie selbst sind. Die rührende Kraft der Natur liegt darin, dass sie uns die Totalität zeigt und zugleich deren Individuellstes. Sie nimmt uns an die Hand und sagt: Das bist auch du.

Der Ozean bin ich Auf einer fundamentalen physikalischen Ebene, auf der Ebene des Stoffes, aus dem wir bestehen, und seines Austausches ist unser Sein nur möglich, indem wir teilen. Auch unser Bewusstsein kann nur entstehen, weil wir auf einem grundlegenden Niveau an einer Allmende der Körper, der Energie und der Wahrnehmung teilhaben. Das ist die Voraussetzung, Subjekt zu sein, ein Einzelner zu sein. Aus dieser Perspektive erst lässt sich in ganzer Tragweite – also auch spürend – erfassen, was es heißt, ein Individuum zu sein, das fühlen und denken kann und das ein Selbst hat, zu erfahren, wie es ist, wenn sich Materie von innen fühlt. Wir sind

Kapitel 2 – Atmen

Stoff, wir sind diese Welt, wir sind ihr großer Körper, der sich regt und entfaltet, indem wir ihn mit anderen teilen, zerteilen, neu mischen und hervorbringen. Und nur dieses Teil- und Ganzes-Sein ermöglicht, dass wir uns selbst erfahren, ermöglicht Gefühl. Fühlen heißt wissen, wie Materie sich von innen erfährt, denn das sind wir: Materie, von innen. Der italienische Schriftsteller Italo Calvino erzählt seine Geschichte mit dem merkwürdigen Titel »Qfqw« aus der Sicht eines Blutkörperchens, das in unserer Körperflüssigkeit schwimmt und diese als »inneres Meer« erfährt. Die Salzkonzentrationen in unseren feuchten Zwischenräumen ähneln auf eine erstaunliche Weise denen im Ozean, aus dem das Leben hervorging. Fast ließe sich sagen, dass wir Organismen das Meer mitgenommen haben, als wir an Land gingen. Darum heißt dem Meer zu begegnen sich selbst zu erfahren. Vielleicht ist es deshalb so verlockend, in den Wellen zu baden. Wir erkennen uns in einer der gewöhnlichen Selbstbesinnung sonst verschlossenen Form, wenn wir uns vom Ein- und Ausatmen des Ozeans wiegen lassen. Unser Körper wird die Art und Weise, wie das Meer eine Einfaltung seiner selbst auf engstem Raum denken kann. Schwimmend, schwebend als Teil des Meers, erfährt unser Körper seine Innenseite als ein Außen, zu dem wir sonst keinen Zugang haben. Im Atem des Meeres, in unserem Atem, welcher der Wellenbewegung des realen Ozeans ein Echo leiht, werden wir durch das ganz andere zu uns selbst hingetragen.

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Kapitel 3 – Fühlen »Das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, besteht darin, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn das geschieht, entsteht Kontakt.« V irginia S atir 26

Wenn ich darüber nachdenke, was aus meinen ersten Jahren geblieben ist, fällt mir ein Tier ein. Es war in den frühen 1970er Jahren, dem Höhepunkt des Kalten Krieges, der von heute aus wie eine verklärte Welt wirkt. Ich war vielleicht vier Jahre alt. Ich machte im hessischen Mittelgebirge Ferien, im Haus meiner Großeltern, das auf einer Wiese lag, unter einem mir damals riesig vorkommenden Kirschbaum. Auf der Rinde dieses Baumes saßen in den Abendstunden Nachtfalter, braun und unscheinbar von außen, nur als borkige Erhöhungen zu erkennen. Sie bewegten sich nicht, denn sie waren nur nachts aktiv. Aber wenn man sie aufscheuchte, klappten sie ihre orange, gelb und ocker gezeichneten Flügel auf und flogen mit einem dumpfen Brummen davon. Der Name dieser Falter ist »Brauner Bär«. Er hatte es mir angetan. Ich hielt mich stundenlang am Kirschbaum auf, lief immer wieder hin, von der Sehnsucht getrieben, noch einen Falter zu sehen. Ich gewöhnte mir an, die Lippen so vorgeschoben, dass

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sie sich weich schürzten, die Augen weit aufgerissen, ein sattes Brummen zu imitieren, das dem Fluggeräusch des Braunen Bären gleichen sollte. Meine Eltern lachten über meine Grimassen. Mein Gesichtsausdruck wurde eine Art Familienlegende. Ich hatte mich in einen Schmetterling verliebt. Der Braune Bär war das schönste und größte Wesen, das ich kannte. Wenn ich einen Vertreter der Art traf, fühlte ich mich auf intensive Weise real. Das Gefühl, dass mir aus diesen frühen Kindheitstagen bleibt, ist die Süße des Glücks, sein zu können, und das Sein eines anderen Wesens zu wollen. Ich habe seit Jahrzehnten keinen Braunen Bären mehr gesehen. Die Art ist längst vom Aussterben bedroht und weitläufig verschwunden. Aber von der Begegnung mit ihr bleibt das Gefühl, ein Leben in der Fülle der Welt zu führen.

Fühlen verbindet uns mit allem, was lebt Alle Lebewesen fühlen. Sie erleben, was auf sie zukommt, als Mosaik aus gut und schlecht, und sie erfahren dieses Mosaik vom Standpunkt eines intensiven Anliegens, nämlich dem Wunsch, weiter zu existieren. Wir Menschen sind darin keine Ausnahme. Unsere Existenz ist emotional. Wer sich an seine frühe Kindheit zurückzuerinnern vermag, der weiß, dass wir damals kaum Kenntnisse und Fähigkeiten hatten, dass wir aber in einer Intensität fühlten, die uns mit zunehmender Entwicklung eher verlorenging. Fühlen ist im Leben das Primäre. Fühlen ist das, was uns mit allen anderen Wesen verbindet. Es ist geteilte Existenz unter einer gemeinsamen Sonne, die Leben spendet. Wir alle gehen uns etwas an, und dieses Angehen ist gefühlt. Wir gehen uns etwas an, weil wir nicht abgeschlossen sind, sondern offen und voller Erwartung. Mit »Fühlen« meine ich, die Welt in existentieller Betroffenheit zu erfahren. Durch diese Erfahrung erleben wir uns als mit der Welt in Verbindung. Organismen sind Materie, der es um etwas geht, nämlich darum, in einer bestimmten Form und Individualität weiter zu existieren. Fühlen ist somit das Grundphänomen der Lebendigkeit. Alles, was lebt, fühlt: Jedes Wesen

Kapitel 3 – Fühlen

strebt danach, sich zu erhalten und zu entfalten. Alles, was es erfährt, kann dieses Entfalten fördern oder verhindern, ist also gut oder schlecht im Hinblick auf das Begehren, zu sein. Der Kern jeder Erfahrung ist diese existentielle Betroffenheit. Fühlen bestimmt die Physik des Lebendigen. Es liegt dem Denken zugrunde und auch dem Bewusstsein. Fühlen ist die Grundlage aller Wahrnehmung, weil es das Maß ist, wie die Herstellung der eigenen Identität als ein verletzlicher Körper im Austausch mit der Welt gelingt. Wir  – wie alle Wesen  – fühlen, weil der Stoff, aus dem wir unsere Individualität erschaffen, der Welt gehört. Zu sein ist nicht selbstverständlich, sondern das Ziel eines Begehrens, das jederzeit verfehlt werden kann. Hier liegt das Uratom des Fühlens. Ich habe über das Fühlen als die eigentliche Realität des Lebendigen schon viel geschrieben (vor allem »Alles fühlt«, 2006, und »Lebendigkeit«, 201427). Ich will daher in diesem Kapitel nur ein paar Grundgedanken skizzieren. Sie sollen zeigen, in welchem Maße die Lebenswirklichkeit aller Wesen als Individuen mit einem Körper, die ihren Fortbestand begehren, auf einem gemeinsamen Sein in einer geteilten Wirklichkeit beruht. Sie sollen zeigen, dass Fühlen, in dem sich die eigene Individualität am schärfsten akzentuiert, in der Tiefe eine Erfahrung des Geteiltseins ist. Dass wir fühlen, ist die Folge daraus, dass wir keine abgeschlossenen und vereinzelten Atome sind. Dass wir fühlen, ist ein Symptom dafür, dass wir, obwohl eigenständige Subjekte, offen zum anderen hin sind, ohne den wir vergehen müssten. Fühlen ist die Konsequenz daraus, dass wir Einzelne sind, welche zum Selbstsein die Gegenwart der anderen brauchen, die Präsenz dessen, was wir gerade nicht sind, und in das wir uns verwandeln, auch wenn diese Verwandlung imaginär bleibt wie bei mir und meinem Nachtfalter. Fühlen ist der persönlich erbrachte Beweis dafür, dass Sein Teilen heißt. In ihm spiegelt sich unser Wissen um eine Existenz in den und durch die anderen. Weil wir kein Atom sind, kein blind um sein Überleben kämpfendes egoistisches Gen, kein Homo oeconomicus, der jeden für seinen eigenen Vorteil

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ausstechen will, kann die Welt überhaupt eine Innenseite haben, die wir in unserem Fühlen und in unserem Bewusstsein erfahren. Fühlen ist eine Eigenschaft der Wirklichkeit, weil es eine Fähigkeit aller Lebewesen und natürlich von uns Menschen ist. Das verbreitete Bild vom Leben lässt genau dieses Element aus. Wir übersehen darum etwas Grundlegendes, wenn wir biologisches Leben beschreiben, ohne es grundsätzlich als Phänomen des Fühlens zu verstehen. Weil die Wirklichkeit geteilt ist, geht sie uns etwas an, so wie auch wir uns etwas bedeuten. Weil die Wirklichkeit geteilt ist, ist sie lebendig. Und nur wenn wir die Wirklichkeit teilen und uns in Gegenseitigkeit hervorbringen, kann die Welt lebendig bleiben und wir in ihr. Wir sind zur Erfahrung von Innerlichkeit in der Lage, weil unser Inneres mit anderen geteilt ist. Wir können uns nur erfassen, weil wir uns nicht gehören. Sobald wir uns ganz in der Gewalt haben, verlieren wir uns. Nur weil wir uns nicht selbst gehören, können wir selbst sein. Allein in der Veräußerung liegt die Identität. Im Akt der Abtrennung, dem Versuch, sich zu schließen, stellt sich nur Leere ein. Wir verlieren uns an die Äußerlichkeit und erlauben nicht mehr, dass sich Fremdes in uns verwandelt. Unsere Innenseite ist dem anderen geschuldet. Wir können Subjekt nur sein, weil wir ursprünglich mehr als Subjekt sein durften. Aufgehoben im Stoff, der vom anderen kommt, aufgehoben im Blick, der mich bejaht, wird das Subjekt zum Intersubjekt. So entsteht aus dem »Interbeing« (Thich Nhat Han), aus dem In-Beziehung-Sein, die eigene Identität.28 Dass Lebewesen fühlen, beruht darauf, dass sie ihres Stoffes niemals sicher sein können. Wir hatten im vorangegangenen Kapitel gesehen, dass die Materie im Essen und im Atmen durch jedes Wesen hindurchfließt. Kein Organismus ist, wie eine Statue, sein eigener Stoff. Er ist vielmehr das Verlangen danach, diesen Durchfluss irgendwie zu organisieren und so zu entwerfen, dass er auf eine produktive Weise weitergeht. Identität ist also das Ziel, einen produktiven Austausch mit der übrigen Welt zu etablieren.

Kapitel 3 – Fühlen

Am Austausch kommt keiner vorbei, so sehr er sich auch dagegen sperren mag. Das Ende des Stoffwechsels ist das Ende des Lebens. Darum will jedes Wesen diesen Austausch so gestalten, dass das eigene Selbst, der Körper, der sich zusammenhält, sich weiter entfalten kann. Solches Wachstum geschieht durch die Interaktionen mit der Umgebung, also durch Verwandlung. Der Maßstab dessen, wie gut oder schlecht das gelingt, ist das Fühlen – das Auftreten der Dimension einer betroffenen Innenseite, einer Perspektive, der es in höchster Betroffenheit um etwas geht.

Was wir nicht sind, schenkt uns Identität Wären Lebewesen Maschinen, hätten sie keine Innenseite, denn sie würden ja nicht zerfallen und müssten nichts gegen das langsame Zerbröseln unternehmen. Wären Wesen vollkommen mit sich identisch, dann würden sie nicht fühlen. Weil sie aber verwundbar und zerbrechlich sind, ja, weil ihr einziges Tun überhaupt nur darin besteht, diesem dauernden Zerfall etwas entgegenzusetzen, fühlen wir. Wir müssen also verwundbar bleiben, um zu fühlen. Wir setzen der Auflösung die Sehnsucht entgegen, weiter zu sein. Diese Sehnsucht ist unser Selbst. Es ist das, was wir nicht sind, was uns dazu bringt, eine Identität auszubilden, der es um etwas geht. Weil wir unseren Stoff mit allem teilen, ja, weil wir eigentlich die ganze Welt sind, im jeweiligen momentanen Ausschnitt ihres Durchflusses, flammt unser Selbst im intensiven Interesse an seinem eigenen Fortbestand auf. Wir – und damit meine ich ausnahmslos alles Leben, alle Zellen – sind um uns besorgt, nicht weil feindliche Angreifer unsere festgefügte Identität zerstören könnten, sondern weil wir uns von Anbeginn nicht gehören. Identität ist das: ein Prozess fühlender Sorge um sich. Zu diesem Fühlen gehören ein primäres Verlangen nach Weiterexistenz und ein primäres Glück, hier zu sein, real zu sein, in seiner Empfindung von dieser Welt zu sein. Es sind die beiden Grundmomente der Fülle und der Entleertheit, die uns auch schon im Atmen begegnet sind, jener Grundbewegung, in der

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wir uns von der Welt emanzipieren und dann wieder ganz an sie zurückfallen. Fühlen heißt, das andere zu begehren, woraus ich nicht bestehe, was ich aber in mich selbst verwandeln muss, um weiter zu existieren. Und zu diesem »anderen« gehört alles, die Materie in Form von Nahrung, ein Unterschlupf, oder das, was Mikrobiologen »Substrat« nennen, das Nährbeet einer Bakterienkolonie, bis hin zur Gegenwart von anderen Wesen als Partner oder Beschützer. Der Austausch mit anderen Organismen ist Teil des Stoffwechsels mit der Wirklichkeit. Und weil wir teilen müssen, ist dieses Sein eben nicht nur ein materielles Sein, sondern ein innerliches, ein Fühlen. Fühlen ist die fundamentale Dimension des Selbstseins. Fühlen heißt Selbstsein erleben. Fühlen als Selbstsein ist vor allem ein Sich-selbst-Wollen. Wenn wir das Fühlen abstellen, stellen wir unser Selbstsein ab. Selbstsein ist aber paradoxerweise nur dann möglich, wenn wir uns durch unser Gegenüber verwandeln. Weil uns etwas fehlt, das wir selbst sein sollen, bildet sich im Zentrum des Stoffes, aus dem wir bestehen, die Sehnsucht nach mehr Sein, die das Uratom des Fühlens darstellt. Es ist kein Leben denkbar, dass sich nicht als begehrendes Selbst manifestieren würde, weil kein Leben denkbar ist, das nicht auf das angewiesen ist, was es noch nicht ist. Nur weil ich ganz Welt zu sein begehre, kann ich ganz ich sein. Die Wirklichkeit ist eine Allmende, an der nur teilhaben kann, wer sich mit seinem Stoffwechsel an sie verausgabt, sich also ständig riskiert. Darum hat sie einen Aspekt des Erlebens. Fühlen – zu erfahren, wie produktiv sich die eigene Identität im Austausch mit dem anderen entfaltet – ist damit die Erfahrung von Allmende – der gemeinsamen Welt existentieller Austauschbeziehungen  – von innen. Allmende heißt im Gegenzug also stets, einen Innenraum aufzuspannen, der uns etwas bedeutet. Darin können wir nicht nur teilhaben, sondern uns als beteiligt und betroffen erfahren. Diese zugleich körperliche und innerliche Beteiligung ist der Charakter der Wirklichkeit für Lebewesen, wenn sie ihren Bedürfnissen folgen dürfen.

Kapitel 3 – Fühlen

Fühlen können heißt gesehen werden Nicht nur auf der Ebene des Stoffwechsels ist das, was nicht zum eigenen Selbst gehört, zu dessen Bestehen und Wachstum notwendig. Seelische Identität ist erst recht auf den anderen angewiesen. Um ein gesundes Selbst zu entwickeln, hat ein Mensch nötig, als dieses Selbst gesehen zu werden, und zwar schon als Kind. Der britische Psychologe Donald Winnicott bemerkte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dass für einen Säugling noch mehr als die Nahrung der Blick der Bezugsperson lebensspendend ist. Dieser Blick muss zeigen, dass der andere fühlt, was das Kind umtreibt. Wenn es vor Hunger schreit, muss dieser Blick die hungrige Verzweiflung erkennen und ein Echo darauf geben. Wenn es vor Lust gluckst, muss der Blick die Lust an dieser Lust zurückwerfen. Darin muss er die Entschlossenheit enthalten, dem Leiden abzuhelfen  – oder die Freude durch Herzlichkeit noch größer zu machen. Mehr als ein Gefühl zu spiegeln, muss der Blick des anderen in seinem eigenen Fühlen den Raum eröffnen, innerhalb dessen dem Kind seine Gefühle erlaubt sind. Er muss das Glück über das Glück zeigen und die Freude über die Freude. Er darf nicht direkter Spiegel sein – die Mutter, die im Schmerz des verzweifelten Kindes versinkt, ist selbst zu verzweifelt, um ihm zu helfen –, sondern Welt, die darin gedeiht, sich durch das Empfinden eines anderen hindurch neu als sie selbst zu erfahren. Der Blick des anderen muss das Sein des Kindes willkommen heißen. Leidet es, heißt dieses Willkommenheißen nicht, den Schmerz zu begrüßen, sondern ihn mittels des eigenen Schmerzes zu erkennen. Dieses Erkennen sagt: Ja, ich sehe dich, ich will dich nicht anders, und so wie du bist, bist du gut. Damit ein Kind sein kann, muss es gesehen sein. Es zu sehen heißt, sein Sein zu teilen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass ein Kind ein gesundes Gefühl seines eigenen Selbst entwickeln kann, ein Ich, das wirklich fühlt und wirklich atmet, und das sich nicht von der Wirklichkeit abkoppelt. Das mit dem umgehen kann, was ist, nicht nur mit dem, was vielleicht sein soll. Wenn

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ich jemanden auf diese Weise sehe, räume ich ihm, so wie er ist, einen Platz in der Welt ein. Augen lassen stets ein fühlendes Ich deutlich werden. Augen, die wir sehen, zeigen so viel, wie sie aufnehmen. Augen, die zu sehen vermögen, vermögen auch zu zeigen. Auch hier wieder muss man an Goethes kluges kleines Gedicht denken. Weil Augen die Organe sind, mit denen wir den andern sehen, sind sie auch die Organe, in denen der andere uns sieht. Sie sind Organe, mit denen wir uns mitteilen, mit denen wir unser Sein teilen. Selbst ist allein dadurch möglich, dass der Blick geteilt wird. Es gibt kein Selbst ohne den Raum, den der andere eröffnet. Der Glaube an substantielle Selbstkontrolle ist eine Illusion. Er hat mit der psychologischen Realität nichts zu tun. Er hat nichts damit zu tun, wie wir in Wirklichkeit existieren: ein- und ausgeatmet aus der Welt, geformt im Uterus eines anderen, willkommen geheißen von seinem Blick. Lebendigsein heißt Wirklichsein. Wirklichsein heißt Gesehenwerden. Gesehenwerden heißt, dass ich verwundbar sein darf. Sich ganz verletzlich zu zeigen kann damit auch eine Geste sein, mit der man sich ganz als Welt zeigt: Hier ist mein wahres Selbst. Darunter gibt es nichts, hier existiert kein doppelter Boden, das bin ich, ich kann nicht anders als ich zu sein. Ich bin echt wie ein Baum, der gegen den Sturm gewachsen ist, echt wie ein Mohn, den der leichteste Frühlingshauch bereits zerpflückt, ich bin, der ich bin. Verletzlichkeit ist das andere Gesicht des Atems. Verletzlich zu sein heißt einzuräumen, dass ich nicht substantiell unabhängig bin, sondern dass das, was ich nicht kontrollieren kann, das andere, das Fremde, das, was wir teilen, meinen innersten Wesenskern mit hervorbringt.

Tiere und Pflanzen zeigen uns, was Selbstsein heißt Verletzlichsein heißt, lebendig zu sein. Und es heißt auch immer, sich der Wandlung zu stellen. Es heißt nichts anderes als zu atmen, wo andere, weniger Verletzliche, die Luft anhalten oder sie

Kapitel 3 – Fühlen

nur ganz flach einziehen, um nicht aufzufallen. Es ist eine interessante Erfahrung, dass auf alle Menschen, die nicht zutiefst verstört sind, die Verletzlichkeit des anderen einen Impuls unwiderstehlicher Zärtlichkeit auslöst. Verletzlichsein heißt anzuerkennen, dass ich Bedürfnisse habe. Was sind diese Bedürfnisse anderes als die Äußerungen des lebendigen Selbst darüber, was es zu seinem Wachstum nötig hat? Was sind sie anderes als der Ausdruck der verdorrenden Pflanze, nach Wasser zu dürsten? Des zitternden Tieres, nach Wärme zu verlangen? Bedürfnisse sind Äußerungen über das, was ist, was real ist, Teil der Wirklichkeit, und damit Zentrum des Lebens. Der Adel der nichtmenschlichen Wesen ist gerade, sich rückhaltlos in das hineinzugeben, was sie sind. Sie nehmen die Wirklichkeit ohne Bedingung an. Hier muss ich wieder an den Braunen Bären denken, den weich brummenden Nachtfalter meiner frühen Kindheit, atemlos immer wieder gesucht. Er war für mich vor allem das: eine absolute Weise zu sein. Er stand in seinen Farben und den Tönen, die er mit seinem gedrungenen großen Körper produzierte, ganz dafür ein, in Totalität und Rückhaltlosigkeit genau er selbst zu sein. Das dröhnende Flattern seiner Flügel gehörte dazu, und genau darum wollte ich es unbedingt imitieren. Es war für mich eine Einladung, sein zu dürfen. Wir können uns von dieser Aristokratie des Seins anblicken lassen. Wir können angesichts der Einladung der anderen Wesen, dass es möglich ist, rückhaltlos Selbst zu sein, unsere Reserve lockern, unsere Blockade. Wir können es uns erlauben, selbst zu blühen. Und auch das ist wieder eine Leistung des Seins, die allein dem geschuldet ist, was wir nicht sind. Der Psychologe und Erfinder der »Gewaltfreien Kommunikation« Marshall Rosenberg hat die Erfahrung gemacht, dass es Menschen besser geht, wenn sie ihre Bedürfnisse äußern dürfen. Wenn sie gehört und gesehen werden. Oft ist das die Hürde: nicht in seinem Bedürfnis wahrgenommen zu werden, weil eine rationale Regel ins Feld geführt wird, die es gleich ausschließt. Andere mit Hilfe vermeintlich rationaler Regeln zu kontrollieren und dadurch ihre Bedürfnisse für nicht legitim zu erklären ist die

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eigentliche Ursache für Gewalt in Beziehungen. Es ist Gewalt, die Menschen anderen antun, aber auch sich selbst.29 »Was du fühlst ergibt keinen Sinn«, »das zu denken ist unmoralisch«, »das ist egoistisch«, all das sind die Anwendungen von Regeln, die dazu dienen, den anderen unsichtbar zu machen und ihn am besten dazu zu verleiten, auch für sich selbst unsichtbar zu werden. Es sind Aufforderungen zum Nichtsein, die dazu dienen, als einziger die Kontrolle zu behalten, also selbst mit seinem eigenen Nichtsein zu triumphieren.

Sein dürfen heißt Bedürfnis sein dürfen Dem anderen zu gestatten, sein Bedürfnis zu äußern, heißt, ihn ins Sein einzuladen. Diese Einladung zu erfahren ist ein so überwältigendes Gefühl, dass meist die Erfüllung des Bedürfnisses weniger wichtig wird, wenn dieses nicht gerade existentiell ist wie Hunger und Durst. Das ist ein entscheidendes Detail, das viele übersehen: Seine Bedürfnisse äußern zu dürfen heißt nicht, sie erfüllen zu müssen. Es heißt aber, eine Einladung ins Sein zu erhalten, es heißt wirklich zu werden, und das ist es, wonach wir streben. Unsere Gesellschaft leidet daran, dass wir uns nicht erlauben, unsere Bedürfnisse zu fühlen. Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht spüren, dann wissen wir nicht, wer wir sind. Wir verharren in Situationen und wiederholen Verhaltensweisen, von denen wir ahnen, dass sie abgestorben sind – Partnerschaften, Arbeitsverhältnisse, unser Hang, uns durch Kaufen über den Verlust an Fühlen hinwegzutäuschen. Wir leben in einer Welt, in der wir alle Angst davor haben, gesehen zu werden, obwohl gerade das unser tiefstes Bedürfnis ist. Nur wenn wir gesehen werden, können wir lebendig sein. Ohne gesehen zu werden, können wir nicht teilen. Ohne zu teilen können wir nicht sein. Fühlen, das Grundmoment lebendiger Existenz, ist unwiderruflich an das gekettet, was nicht vom eigenen Selbst gewährleistet werden kann. Fühlen, die Empfindung, wie es um die Entfaltung der eigenen in einem verletzlichen Leib verkörperten Identität bestellt ist, ist an die Bedingungen gekoppelt, nach denen sich diese

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Identität hervorbringt. Das ist auf der Ebene des Stoffes der Atem, der Tausch des eigenen Ortes mit der Materie der Welt. Und das ist auf der Ebene der Seele oder des Selbst der Raum, der dem Einzelnen vom anderen geöffnet wird, der Raum, in dem ich sein darf, weil ich, wie ich bin, willkommen geheißen werde. Dieses Willkommen ist ein Erfordernis der ersten Jahre. Es muss am Beginn des Lebens stehen, um seine Kraft auf den ganzen Rest zu erstrecken. Werde ich von der Welt (durch die Augen einer liebenden Bezugsperson) angenommen, so wird dadurch eine entscheidende Verwandlung angestoßen: Ich lerne, mir selbst Welt zu sein. Ohne dass der andere mir den Raum dahin eröffnet, ohne, dass er das Sein auf eine von Bedingungen freie Weise mit mir teilt, gelingt das freilich nicht. Jeder Mensch braucht am Beginn seines Lebens die Augen der sorgenden Person, die sagen: »Ich sehe deine Gefühle, ich sehe dich, du darfst so sein, und ich will dir helfen, dass du mehr du selbst sein kannst. Sei!« Dieser frühe Akt des bedingungslosen Geschenks ist entscheidend, um dem Einzelnen den Mut zu geben, den Raum dieser Willkommensgeste in sich selbst auszubreiten. Er kann sagen: Ich bin willkommen, weil ich das Willkommen des anderen in mich selbst hineingenommen habe. Weil ich verstanden habe, dass ich kein abgetrenntes Ich bin, sondern bereits selbst das Ganze, die Stimme des anderen, die mich willkommen heißt.

Gesund sein heißt Welt sein Erwachsenwerden bedeutet damit immer auch, selbst zu Welt zu werden, sich selbst nicht nur als Atom der Bedürftigkeit zu verstehen, sondern als Raum der Begrüßung des Lebens. Der Theologe Martin Buber nannte diese Möglichkeit »das Wirkliche imaginieren«. Sie bedeutet, »in der anderen Person den sich selbst transzendierenden Lebensprozess zu erfahren, der dem eigenen Selbst die umfassende Nahrung gibt, die es benötigt.«30 Das Vertrauen auf den Lebensprozess, der auch in mir selbst wirkt, ist das Urvertrauen, von dem der Psychologe Erik Erikson spricht: die aus unmittelbarer Lebenserfahrung geborene

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Zuversicht, von dieser Welt getragen und gehalten zu sein. Eriksons Kollege Donald Winnicott glaubte, dass der Säugling bereits eine erste Kohärenzerfahrung kennt, die aus den eigenen körperlichen Prozessen herrührt, und damit aus der Sicherheit, vom Atem des eigenen Stoffwechsels getragen zu sein.31 Winnicott prägte dafür die auch heute noch in der Psychologie gebräuchliche Bezeichnung »wahres Selbst«: Dieses beruht auf der spontanen, als wirklich und stimmig im Körper erlebten Erfahrung, ein Körper zu sein, der sich zusammenhält – aus der Erfahrung, lebendig zu sein und dieses eigene Leben selbst zu produzieren. In der Erfahrung der Lebendigkeit erfahren wir immer wieder das wahre Selbst. Das werdende Kind kann sich auf diese Weise als stimmig und kohärent wahrnehmen, weil es vom Meer, in dem es im Mutterleib schwimmt, getragen wird. Die Zeit im Mutterleib ist eine Situation des geteilten Seins par excellence. Fötus und Mutter sind keine symbiotische »Einheit«. Sie sind zwei getrennte Subjekte, denen das Wechselspiel aus Angewiesenheit und Trennung darum so gut gelingt, weil sie es ganz der Weisheit ihrer Leiber überlassen. Psychologen gehen immer noch davon aus, dass sich das Kind im Mutterleib und auch nach der Geburt als eine Einheit mit der Mutter, als mit ihr verschmolzen erlebt.32 Doch was das werdende Wesen erfährt, ist vielmehr die Einladung, im Raum eines anderen zu wachsen. Dieser Platz, den der andere einräumt, ist ein reales, mit salzigem Wasser gefülltes Volumen im Bauch, der mit dem Atem der Mutter auf und ab wogt. Dieses Selbstsein-in-Verbindung erlaubt es dem Kind, sich selbst als kohärent zu erfahren. Das Kind erlebt, dass Sein geteilt ist, und dass es gerade darum sein darf. Das Problem entsteht nach der Geburt. Eine adäquate Kultur der Kindheit müsste in der Lage sein, das Ökosystem des Uterus in Form der zwischenmenschlichen Beziehung neu zu erfinden. Die Bindung zwischen Bezugsperson und Kind sollte diesem die Empfindung, in seinem Atem, in seinen gefühlten Sinnen richtig zu sein, erlauben.

Kapitel 3 – Fühlen

Die aus dem Leeren drängende Kraft Jedes Wesen besitzt die durch keine Leistung verdiente und aus dem Leeren ins Leben drängende Kraft, mit der es nach Berührung strebt. Lebendigsein heißt, über sich selbst hinaus den anderen und das andere zu suchen, um sich mit diesem zu verbinden und an diesem zu verwandeln. Diese Kraft muss nicht bezahlt werden, sie ist ein Geschenk. Sie ist immer da. Sie will teilen, sie strebt aus sich heraus und sucht nach Kontakt. Auch in diesem Drängen, bedingungslos aus uns heraustreten zu wollen, sind wir bereits mehr als ein abgeschlossenes Ich, sind wir bereits Welt, die sich nach Entwicklung und Berührung sehnt, danach, Erfahrungen mit sich selbst zu machen und so lebendig wie möglich zu sein. Lebendigkeit ist die Kraft, die von allein, fraglos, grundlos Berührung sucht und damit immer den anderen. Wachstum entspringt dem Gefühl, sein zu können. Es speist sich aus der Sicherheit, seinem Atem vertrauen zu dürfen, der Gewissheit, mit mir selbst kohärent zu bleiben, während ich mich beständig stoffwechselnd verwandle. Die Psychologen Heller und La Pierre meinen: »In dem Maße, in dem wir uns angenommen, geliebt und in der Welt willkommen geheißen fühlen, bilden wir den Grundpfeiler unserer Identität. Wenn sich unsere Fähigkeit in Verbindung zu treten gebildet hat, verspüren wir ein Recht auf Dasein, welches zum Fundament wird, auf dem unser gesundes Selbst und unsere lebenswichtigen Beziehungen gebaut sind.«33 Es ist die Erfahrung, dass die eigene Existenz auf so vielen Ebenen dieser Erde willkommen ist, die einfache, sinnliche Zärtlichkeit, in der Haut willkommen zu sein. Es ist das, was der Schriftsteller Albert Camus als »Hochzeit des Lichts« bezeichnete. Der Körper, der sich in seinem Seinkönnen in jedem Moment neu hervorbringt, ist ein Vollzug von Heilung, der sich ungefragt und tröstend selbst organisiert. Jeder Atemzug bringt uns zurück in uns selbst, indem er Verbindung schafft. Der Atem des Meeres ist flach, ölig, von einem bleiernen Türkis unter dem zerkratzten Himmel, in dessen unterstem Streifen

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die schwindende Sonne noch einmal orange aufglüht. Auch dieser Atem ist ein Echo auf den, der ihn wahrzunehmen vermag. Auch der ausgewaschene Schiefer, hart unter dem Druck des eigenen Körpers beim Sitzen, ist Widerhall einer Dimension, die uns gewahrt, des Mineralischen, das dem Mineralischen in mir, dem Kalk meiner Knochen, dem Phosphor meiner DNA, dem Schwefel meiner Proteine, antwortet. Sobald wir atmend die Welt betreten, ist der andere, das andere, das uns Leben ermöglicht, immer schon da. Die Kunst besteht darin, selbst dieses andere zu sehen und es dadurch, im eigenen Blick, wirklicher zu machen. Das ist die Perspektive, die willkommen heißt, und die dabei dem, der dieses Willkommen ausspricht, einen Platz freihält, welcher die Erde selbst ist. Er spricht mit der Stimme des Seins, das sich ihm so schenkt. Auf einer fundamentalen seelischen Ebene, auf der Ebene der Identität, die wir als unser Ich erfahren, ist das Sein des Einzelnen nur möglich, indem es von Anfang an geteilt werden durfte, indem es sich mitteilen darf.

Kapitel 4 – Lieben »Es braucht zwei, um einen zu kennen.« G regory B ateson 34

Ich habe in Italien einen Freund, der sich vor ein paar Jahren Hals über Kopf verliebte. Nie hatte er sich so gesehen gefühlt. Es kam ihm vor, erzählte er mir, als würde seine Geliebte ihn durch und durch verstehen. Er empfand sich als ganz angenommen. Der Freund lebte im Rausch des Glücks: Da war ein Mensch, der ihn wirklich wollte, der wollte, dass er sich so zeigte, wie er im Innersten war. Ich erinnere mich gut an diese Geschichte, weil er mir viel berichtete, und weil ich ihn für sein Glück beneidete. Und dann, als es vorbei war, habe ich ihn oft angehört, verwundert, verwirrt, und mich gefragt, was er falsch verstanden hatte. Und ich habe mich gefragt, was wir alle falsch verstehen, wenn wir sagen: Wir lieben, und wie dieses Falschverstehen etwas mit unserem verzerrten Bild der Welt zu tun haben könnte. Wie sehr folgt, was den meisten als intensive Liebe erscheint, in Wahrheit einem Modell des emotionalen Kapitalismus? Im Akt des Liebens trifft der Einzelne auf den anderen. Liebe ist der Bereich der Verbindung und Verwandlung, der Zentralbereich unseres Existierens. Wir alle versuchen, so lange wir atmen, zu lieben, so produktiv oder so tragisch uns das möglich ist, so produktiv oder tragisch, wie wir unser Leben leben können. Die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa schrieb: »Jemanden lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat, aber wie seine Eltern ihn nicht zu realisieren vermochten.«35 Genau so ging es dem Freund eine Weile. Er konnte sein Glück nicht

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fassen. Er wurde auf Händen getragen, und er trug seine neue Partnerin auf Händen. Es war so, wie wir alle immer geträumt hatten, dass es sein müsste. Und dann kam jene Nacht, so hat er es mir erzählt, in der sie mitten in der Umarmung ihren Kopf auf die Seite drehte und flüsterte: »Ich habe Angst. Ich habe Angst, dass ich mich in dir verliere. Ich fühle mich mit dir so verbunden, dass ich in dir verschwinde.«

Wie können wir lieben? Nach dieser Nacht, nach diesem Moment des plötzlichen Schreckens, ging es bergab. Immer öfter wendete sie sich überraschend von ihm ab, wurde kalt und unzugänglich, und das nach Momenten, die so wie am Anfang waren: tiefste Öffnung, gesehen sein. Sie stieß ihn schmerzhaft fort. Sie rief ihn sehnsüchtig zurück. Nach einer Weile der Verwirrung entschloss er sich zu gehen. Die Liebe war zu Ende. Aber war es überhaupt Liebe gewesen? Oder ein Rausch? Eine Fantasie, die ganz und gar ohne den anderen auskam? Jedenfalls war das, was der Freund mir erzählte, und was ich an seiner Seite miterlebte, das tragische Scheitern dessen, wie eine Verbindung zwischen dem eigenen Selbst und dem eines anderen hergestellt werden kann. Vielleicht ist das geradezu ein Maßstab, wie menschlich eine Gesellschaft zu sein vermag: Welches Bild der Liebe trägt sie in ihrer Mitte? Es ist ja ganz einfach: Wenn wir nicht wissen, was lieben heißt, fällt es uns schwer, es zu tun. Und so könnte man sagen, dass Lieblosigkeit unser tiefstes Problem ist. Der humanistische Psychologe Erich Fromm sagt: »Unter dem gegenwärtigen System sind Menschen, die zur Liebe fähig sind, notwendigerweise die Ausnahme. In der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft ist Liebe zwangsläufig ein Randphänomen.«36 Wie aber können wir lieben? Wie können wir die Verbindung zwischen dem Selbst und dem anderen so gestalten, dass beide dabei lebendiger ­werden? Beim Nachdenken darüber hat mir immer wieder das Meer geholfen, an dessen Ufern ich dieses Buch geschrieben habe, die Ligurische See mit ihrem im Winter oft bleiernen Schuppenkleid,

Kapitel 4 – Lieben

aus dem gleichwohl auch an Regentagen das Wasser von innen in einem rastlosen Blaugrün schimmert, in einem Licht, das aus einer Tiefe aufzusteigen scheint, die keinen Ort hat, nur Intensität. Das Meer hat mir geholfen, weil seine Gegenwart und das intensive Glück, das sie mir bereitet hat, immer wieder die Frage in mir aufkommen ließ: Warum? Warum dieses Glück? Das Meer, seine Wellen, seine oszillierenden Kontraktionen und Entspannung. Die türkise See, die den Schiefer zwischen ihren weichen Händen reibt. Wasser, das Paradox des ganz Durchdringbarseins, das vollkommen in sich selbst beharrt. Die Figuren des türkisen Wassers, Muskeln der Veränderung, Jubel der Beharrung. Wer wundert sich, wie sehr wir selbst aus Wasser, wie sehr wir selbst seine Verwandlung sind? Ist nicht die Antwort darauf, was lieben heißt, in unserer Begegnung mit der Welt zu suchen, und im Glück, in das sie uns oft versetzt? Das glaubte Albert Camus, der Philosoph und Autor, der auf der anderen Seite des Mittelmeeres aufgewachsen ist, in Algier, und der seine Jugend an den Felsen der Küste verbrachte, von den Wellen gesehen, von der Sonne beschenkt. Camus schrieb am Schluss seines Buches »Der Mensch in der Revolte« 1952: »Im Licht bleibt die Welt unsere erste und unsere letzte Liebe.«37 Lieben heißt, auf je eigene Art und Weise in dieser Welt zu existieren. Lieben heißt, Teil dieser Welt zu sein und sich derart als ihren Teil zu erfahren, dass wir zugleich produktiv Welt und produktiv Einzelner sein können. Und nur wenn wir diese Liebe verstehen, so glaube ich, können wir verstehen, wie die Liebe zu einem anderen Menschen gelingen kann. Das Rätsel der Liebe zu verstehen heißt also zu verstehen, wie es gelingen kann, ein eigenständiges Individuum zu sein, das sich zugleich selbst ganz als Welt erfährt.

Wenn das tiefste Bedürfnis zur schlimmsten Bedrohung wird Blicken wir noch einmal auf die intensive, aber unglückliche Liebesgeschichte meines Freundes: Er und seine Partnerin waren erst im Rausch verschmolzen, ganz vom anderen aufgefangen

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und absorbiert. Dann begann die Abwärtsspirale damit, dass die Freundin gerade diese Totalität, ganz zum anderen zu gehören, nicht mehr aushalten konnte. Es ist eine extreme Geschichte, die zugleich aber doch die Problematik unseres Liebens heute kennzeichnet: Wir wissen nicht, was es heißen kann, sowohl ganz selbst als auch ganz beim anderen zu sein. Liebe heute dreht sich vor allem darum, gemeinsam in ein widerspruchsloses Wohlgefühl einzutreten. Wird dieses erschüttert, kann es nicht weitergehen – und wir müssen uns einen neuen Spender für dieses Wohlgefühl suchen. So weit die Zeitkritik, die wir in der einen oder anderen Weise schon einmal gehört haben. Liebe hat sich in Konsum verwandelt. Der andere existiert nicht mehr für sich selbst, sondern nur als Mittel zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse. Doch so einfach ist es nicht. Darum ist die Geschichte meines Freundes so lehrreich (und es ist eine Geschichte, die beileibe nicht nur ihm passiert). Hier ist keine konsumistische Übersättigung eingetreten, sondern etwas viel Dramatischeres: Die Freundin erlebte sich durch die Verbundenheit, die sie plötzlich erfuhr, und nach der sie sich wie nach nichts anderem gesehnt hatte, in ihrem Selbstsein bedroht. Sie war eine Verdurstende, die Wasser krank macht. Die Freundin hatte als kleines Kind die Erfahrung machen müssen, dass sie gerade dann, wenn sie ihre spontansten Regungen zeigte, überhört oder zurückgewiesen wurde. Um ihre Eltern zu erreichen, konnte sie gerade nicht so sein, wie sie von innen heraus war. Sie hatte, wie viele von uns, früh im Leben erfahren, dass sie nur mit dem anderen in Verbindung sein konnte, indem sie sich selbst vernichtete. Jede Verbindung musste sie daher als Erlösung aus einer eisigen Erstarrung erleben und zugleich als tödliche Bedrohung. Die natürliche Fähigkeit ihres Wesens, sich in seinem ureigenen Kern zu entfalten, indem es sich in seiner Eigenart dem anderen zeigt und mit ihm verbindet, war durch traumatische Kindheitserfahrungen zerstört worden. Übrig blieb nur die scheinbare Wahl zwischen zwei Arten des Todes: totaler Verschmelzung und quälender Vereinzelung.

Kapitel 4 – Lieben

Diese Geschichte zeigt: Das biologische Wesen Mensch hat nicht von Natur aus ein Problem mit der Bindungsfähigkeit. Unsere Begabung zu lieben ist vielmehr an der Leugnung unserer Kultur zerbrochen, dass diese Fähigkeit existiert. Unsere Kultur hat verlernt, dass man sie schützen und fördern muss, indem man jedem Wesen den Platz dazu einräumt, es selbst zu sein und weiter zu werden. Wir haben uns angewöhnt, uns selbst als Mängelwesen zu sehen, als »Ausländer des Daseins«, wie es der Schriftsteller Knut Hamsun ausdrückte. Aber diese Tragik ist nicht in uns angelegt. Wir bringen sie selbst hervor. Wir alle freilich tragen in uns eine Lösungsstrategie für das Rätsel, wie man selbst im Einklang mit anderen oder eben selbst gerade durch andere, sein kann. Wir alle haben in unserer Tiefe ein Programm dafür, zu uns selbst zu werden, indem wir in Verbindung treten. Es sind nicht nur die Pinien am Meer, die das können, nicht nur der Atem der Wellen, der es schafft, zugleich das Einzelne und das Ganze zu sein. Wir haben diese Fähigkeit, aber um sie auszuüben, müssen wir sie zunächst erkennen, und dann schützen und entwickeln. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir immer wieder Liebesenttäuschungen erleben wie jenes Paar, und in die Vereinzelung zurückfallen. Wenn es uns als Gesellschaft nicht gelingt, diesen Weg besser auszuleuchten, wird Vereinzelung auch weiter unser Zusammenleben prägen. Und am Ende der totalen Vereinzelung steht der totale Krieg aller gegen alle. Philosophisch wurde dieser totale Krieg bereits vor geraumer Zeit erklärt. Seit Ideologen – seien es Ultradarwinisten oder Neoliberale – behaupten, dass die Funktion der Welt darin liege, dass sich seelenlose Partikel im Wettkampf optimieren, gehört es zum gebildeten Ton, zu behaupten, dass diese Welt in Wahrheit ein Ort des dauernden Wettkampfes sei – und somit im Grunde ein Kriegsschauplatz. Dieser Krieg, von dem viele glauben, er sei der Vater aller Dinge, ist aber angezettelt worden, um die Menschen von der Wirklichkeit zu entzweien und den Einzelnen von seinen Gefühlen.

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In-Verbindung-Sein ist ein biologisches Kernbedürfnis Die kalifornischen Psychologen Heller und La Pierre haben über viele Jahre untersucht, welche Traumata dadurch entstehen, dass Kindern die Verbindung zum anderen verwehrt wird. Diese Beziehung zum anderen, in der man sich so zeigen darf, wie man ist, betrachten die beiden Forscher als ein biologisches Kernbedürfnis. Dieses Bedürfnis hat weniger mit einer mentalen, und vielleicht auch mental beeinflussbaren, Konstitution der Psyche zu tun als damit, dass biologische Wesen nur existieren können, wenn sie die Herstellung ihres Selbst und den dafür zentral notwendigen Aspekt des Fremden, Neuen, des Nicht-Selbst frei gestalten können. Dieses Wechselspiel ist der Atem des Seins. Wird er gestört, nimmt ein Wesen Schaden. Nur wer Verbindung gespürt hat, kann diese selbst gewähren. Nur ein solcher Mensch ist in der Lage, auch Unverbundenheit auszuhalten. So meinen Heller und La Pierre: »In dem Maße, in dem unsere biologischen Kernbedürfnisse im frühen Leben erfüllt werden, entwickeln wir Kernfähigkeiten, die es uns gestatten, diese Bedürfnisse als Erwachsene zu erkennen und zu befriedigen.«38 Es ist also von zentraler Wichtigkeit, dass ein Kind wahrgenommen wird, dass ihm zugestanden wird, selbst ein Stück Welt mit seinem spezifischen Kolorit zu sein, damit das Kind später die Sorge für dieses Stück Welt in die eigenen Hände nehmen kann. Wenn das Kind in diesem Raum nicht willkommen geheißen wird, kann es sich auch selbst darin nicht den Aufenthalt erlauben, beobachten Heller und La Pierre. »Wenn Kinder nicht die Verbindung erhalten, die sie brauchen, dann wachsen sie so auf, dass sie Verbindung sowohl suchen als auch fürchten. Wenn Kindern ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden, lernen sie nicht, zu erkennen, was sie brauchen, sie sind unfähig, ihre Bedürfnisse auszudrücken, und haben oft das Gefühl, dass sie es nicht verdienen, dass ihre Bedürfnisse erfüllt werden.«39 Nur wenn Identität von einem anderen gespendet wird, ist dem Selbst später Autonomie möglich.

Kapitel 4 – Lieben

Es war vor allem die Psychologinnen Alice Miller und Virginia Satir, die in den 1970er Jahren erkannten, wie essentiell es für einen Menschen ist, als Kind von seiner Bezugsperson im Sein begrüßt zu werden. Miller beschrieb ihre Einsichten in einer Reihe von Büchern. Das bekannteste von ihnen ist »Das Drama des begabten Kindes«. Die Schriften der Kindheitsforscherin lösten Skandale aus, was man sich heute kaum noch vorstellen kann. Bis dahin hatten Psychologen geglaubt (und sie folgten darin ihrem Urvater Freud), dass ein Kind durch rohe, geradezu aufsässige und destruktive Triebe gekennzeichnet sei. Eltern müssten diesen Rohdiamanten folglich mit Härte abschleifen. Als Miller behauptete, am Leiden vieler Menschen sei schuld, dass sie in der Kindheit von ihren Eltern nicht als sie selbst gesehen wurden, dass ihre Eltern ihnen nicht das Recht zugestanden hatten, ihre eigenen Gefühle zu fühlen, entlud sich eine Welle von Wut gegen die Psychologin. Sie hatte die Lüge demaskiert, dass für ein gesundes Ich vor allem Disziplin und Selbstzucht nötig sei. Stattdessen zeigte Miller, dass der Rolle des anderen, der Rolle der Bezugsperson eine entscheidende Aufgabe darin zufällt, ein Kind ins Sein einzuladen. Ohne diese Einladung ins Sein, so verstehen wir heute, ohne den Blick des anderen, der »Ja!« sagt, kann ein gesundes Selbst nicht zustande kommen. Sein gelingt auch hier nur durch Teilen. Ohne die Botschaft »Sei!«, die vom Blick der Bezugsperson ausgeht, vermag niemand ein gesundes Selbst auszubilden. Dass diese Botschaft oft nicht übermittelt wird, ist die Grundkrankheit unserer Zivilisation. Diese glaubt nicht daran, dass Willkommen der Schlüssel zur Existenz ist. Sie setzt auf Leistung, darauf, dass sich jemand seinen Platz erarbeitet. Aber der Einzelkämpfer hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Sein Mythos ist vielmehr darauf angelegt, ihr Gewebe von Gegenseitigkeit zu zerstören und uns mit ihm. Kinderpsychologen haben einen Versuch ersonnen, um nachzuweisen, mit welcher Präzision das Kind die Gemütsbewegungen der Mutter, die sich in ihrem Gesicht spiegeln, erfasst. Das Experiment ist grausam, aber weil die Mutter sofort danach auf ihr Kind reagieren kann, hat es hoffentlich keine langfristigen

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traumatischen Folgen. Das Setting besteht darin, dass die Mutter bewusst keine Reaktion zeigt, wenn das Kind sie anblickt. Sie schaut zwar zurück, aber ihr Gesicht bleibt eisig und unbewegt. (Verschiedene Dokumentationen dieses Versuches haben sich inzwischen bei YouTube angesammelt und lassen sich dort anschauen.) Das Kind reagiert mit zunehmender Verzweiflung. Wenn die mütterliche Botschaft »Sei!« ausbleibt, die im »Ich sehe dich mit Freude!« liegt, ist das Kind von seiner Lebensader abgeschnitten. Stattdessen erhält es unmittelbar eine Aufforderung zum »Sei nicht!«. Das aber ist die Androhung des Todes, die Aufforderung, in den eigenen Tod aktiv einzuwilligen. Die Bedingung lautet: Nur wenn du nicht du selbst bist, bleibst du hier geduldet. Nur wenn du deine Bedürfnisse verleugnest, hast du das Recht, sie zu erfüllen. Eine solche Botschaft verbindet das Willkommensein in der Welt mit ihrer Zerstörung. Ein Mensch, der diese Lektion gelernt hat, wird zur Gegenseitigkeit nur in der Lage sein, wenn sie ein Element der Destruktion seiner selbst oder des anderen beinhaltet. Er wird nur existieren können, wenn es den anderen eigentlich nicht gibt, wenn er den anderen eliminiert oder ignoriert. Ohne den anderen aber gibt es auch kein Selbst. Die Strategie, sich dadurch einen Platz in der Welt zu erschaffen, dass der andere zu einem wohlkontrollierten Objekt wird, führt also gerade nicht zum Erfolg, auch wenn es so scheinen mag. Ohne den Blick des anderen, der mir einen Ort in der Welt einräumt, weil er die Stelle der Welt vertritt, die sagt: »Sei!«, ist mein Inneres leer. Das Bild der Abgetrenntheit, die Todesfurcht, mit der jene Geliebte meines Freundes die Momente der Verbundenheit immer wieder lösen musste, verfolgt uns, weil die meisten Menschen aus ihrer Kindheit beschädigt hervorgehen. Fast alle sind Überlebende von Bindungstraumata. Aber diese Tatsache kommt in unserem Weltbild nicht vor. Wir haben eine falsche Wirklichkeit erfunden, um die Folgen einer schweren Schädigung vor uns selbst zu verbergen. Wir haben ein Bild der Welt als Wettkampf und Trennung erfunden, so wie ein Mensch, dessen Seinkönnen in der Kindheit zerstört wurde, sich einen Überlebensmechanismus zurechtlegt,

Kapitel 4 – Lieben

eine seelische Rüstung, die ihn absichern und schützen soll. Aber diese Rüstung verhindert zugleich, dass dieser Mensch lebendig sein kann, denn sie verhindert die Verbindung. Als Gesellschaft verschleiern wir kollektiv die Traumata, an denen jeder Einzelne leidet. Wir versuchen sie mit Härte und Erbarmungslosigkeit zu übertünchen, die alles nur noch schlimmer machen. So wird das Problem unserer individuellen Kindheiten zum Trauma unserer Gesellschaft. Deren tragische Regel lautet: Die seelische Zerstörung, die ein Kind erfährt, dessen Eltern ihm nicht zu sein gestatten, gibt es an seine eigenen Kinder weiter. Die seelische Not Einzelner wird zur Not von Generationen, zur Lüge einer ganzen Zivilisation. Das herrschende Unverständnis darüber, was die Liebe ist, beruht nicht auf einer willkürlichen Idee. Es beruht auf einem Trauma, das wir fast alle am Anfang unseres Lebens erlitten haben. Wir müssen in die Kindheit zurückgehen. Nur so können wir nicht nur das Scheitern der Liebe zwischen Partnern verstehen, sondern auch erkennen, wie sich daraus die Lieblosigkeit der Gesellschaft formt. Und so wie der Einzelne in früher Kindheit Teile seiner Gefühle abstellt, damit er gerade nicht mehr spüren muss, was wirklich passiert ist, weil es ihn sonst umbringen würde, so löscht eine traumatisierte Gesellschaft die Wahrnehmung ihres eigentlichen Problems. Wüssten wir, wir sehr wir alle gegenseitig unsere Seinsfähigkeit zerstören, die wir mit allen anderen Wesen teilen und die uns so leicht und angeboren ist, wenn sie sich entfalten darf, müssten wir vor Entsetzen zusammenbrechen. Wir hängen als Gesellschaft also dem an, was Seelenforscher eine »Überlebensstrategie« nennen: dem destruktiven Umgang mit Schäden, der nicht zu deren Heilung führt, sondern lediglich in ihrer Leugnung besteht. Der Kapitalismus ist eine destruktive Trauma-Überlebensstrategie. Sie ist toxisch wie der Charakterpanzer des Narzissten, wie der vergrabene Hass des Soziopathen, wie das ausgelöschte Fühlen eines Menschen, der, statt sein Selbst zu empfinden, sich im ganzen Körper wie von Eis umschlossen fühlt, und, um nicht zusammenzubrechen, in hektische Geschäftigkeit verfällt. Die Überlebensstrategie untergräbt die Impulse zu ihrer eigenen Heilung und zieht diejenigen, deren

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Lebenskraft nach Verbindung strebt, in den Strudel von Nichtsein und Zerstörung.

Selbst die Lebenskraft sein Wenn wir in die Kindheit blicken, sehen wir ein Wesen, das uns den Prototyp des Selbstseins durch Verbundenheit vorführt. Wir sehen ein Wesen, das instinktiv weiß, wie Beziehungen funktionieren. Es hat in diesem Wissen (das ein Fühlen ist, also ein Wissen ohne Worte) nicht nur ein Mittel, sich gesund zu entfalten. In seinem Ausdruck liegt auch der Schlüssel, um zu sehen, wie die Wirklichkeit als Ganzes funktioniert. Denn jedes gesunde Wachstum ist immer Ausdruck der Prinzipien, nach denen sich Wirklichkeit organisiert, es ist Sein, das sich ausdrückt und sich dadurch selbst erfährt. Es rührt mich immer wieder, dass ein kleines Kind in vollkommener Naivität in der Lage ist, das Höchste zu vollziehen, dem die Wirklichkeit zustrebt, nämlich es selbst zu sein, indem es sich verbindet und sich so verwandelt. Das Kind, jedes Kind, gleich wie seine Talente beschaffen sind, ist somit fundamental schöpferisch. Das Kind ist das Paradigma des Schöpferischen, das immer die Verwandlung des Fremden in die Sehnsucht nach dem Eigenen umfasst. Welt-in-Individuation zu sein ist der Inbegriff des Schöpferischen. Er ist zugleich der Inbegriff der Liebesfähigkeit. Der Drang des Säuglings, er selbst zu sein dadurch, dass er in Kontakt tritt, ist ein primordiales Liebenkönnen. Es ist Liebenkönnen, das mit Seinkönnen in eins fällt, so wie wahres Seinkönnen, das schlichte Ich-wie-ich-bin-in-Verbindung, bereits Lieben ist. Sein Kind zu lieben bedeutet also nichts anderes, als es zu belassen. Lieben heißt das Liebenkönnen des anderen zu stützen, es nicht zurückzuweisen. Das Leiden, nicht selbst sein zu können, das sich dann als jene doppelte Unmöglichkeit, selbst und in Verbindung zu sein, manifestiert, ist also nichts anderes als zurückgewiesenes Liebenkönnen, weil Seinkönnen Liebenkönnen ist. Das Seinkönnen, das Sich-selbst-das-Ganze-sein-Zutrauen, ist das primäre

Kapitel 4 – Lieben

menschliche Genie, wie es zugleich die basale Fähigkeit aller Wesen ist. Es ist das Geheimnis der Welt, das sich in jedem Moment in aller Offenheit realisieren will. Kinder besitzen von Anfang an die Fähigkeit, an der Allmende der Wirklichkeit teilzunehmen. Kinder wollen sein, indem sie teilen, sie wollen sich mit dem anderen verbinden, indem sie sich mitteilen, und sie laden ihre Eltern ein, durch Teilen mehr zu sein. Kinder wollen das und sie können das, wenn man ihnen nur erlaubt, es zu tun. Sind Eltern aber selbst zur Verbindung nicht in der Lage, vernichten sie diese Fähigkeit auch in ihren Kindern. Sie zerstören dann die angeborene Fähigkeit, durch die Äußerung des eigenen Seins selbst zur Brücke zu werden, welche die Widersprüche des Existierens überspannt. Das kindliche Streben nach Verbindung ist ein Überlebensdrang. Wird es angenommen, wird dem Sein des Kindes Raum zur Entfaltung gegeben dadurch, dass es sich verbinden darf, dass es gesehen wird, zärtlich gehalten, dass seine Freude, seine Lust an der Verbindung geteilt werden (das Teilen ist ja die Verbindung), dann ist der künftige Erwachsene in der Lage, zugleich sein eigenes Sein und das der Welt in sich zu halten. Er wird sich die Erlaubnis geben können, zu sein, weil er selbst für sich Welt sein kann. Psychologen nennen diese Fähigkeit Erwachsenen-Ich: Es ist jener integrative Teil der eigenen Lebenskraft, dem es weder allein darum geht, das schreiende Kleinkind in einem selbst zu seinem Recht kommen zu lassen noch darum, den Befehlen der Kontrolle und Effizienz der anderen Folge zu leisten und so gut zu funktionieren, dass sie einen nicht im Stich lassen. Es ist jener Teil, der lebendig werden durfte, weil er gesehen wurde, jenes Ich, das zugleich Welt sein kann. Dem Erwachsenen-Ich zu folgen ist kein krisenfreier Prozess. Es heißt, die Kommunikation zwischen dem Drängen des eigenen Selbst und der Großzügigkeit des Ganzen in sich hinein zu nehmen. Es heißt, verinnerlicht zu haben, einer Welt anzugehören, die in der Tiefe nach Verbindung drängt. Es heißt, sich selbst weniger als Ort der unerfüllten Bedürfnisse wahrzunehmen, für die der andere gebraucht wird, sondern mehr als Agenten der Sehnsucht des Seins nach sich selbst.

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Das Erwachsenen-Ich lebendig werden zu lassen heißt, sein Urvertrauen in die Wirklichkeit aus der Milde des eigenen Leibes zu beziehen, daraus, sich selbst als fühlend zu erleben und dieses Fühlen als adäquat und stimmig. Es beruht darauf, sich in den feinsten Verästelungen selbst zu vertrauen und damit sowohl seine eigene Sterblichkeit anzuerkennen als auch seine eigene Kraft. Das Urvertrauen, das Kinder aus dem Mutterleib mitbringen und ihren Eltern in den Schoß legen (wo es oft genug zerbrochen wird), kann sich, wenn die Eltern es nicht enttäuschen, in ein Vertrauen entwickeln, das den eigenen fühlenden, denkenden, schöpferischen Leib zum Agenten der Wirklichkeit macht. Der Leib wird selbst die Welt, der man vertraut. Durch diesen Leib finden wir die umgebende Welt in ihrer ganzen Sinnlichkeit wieder. Plötzlich enthüllt sie sich als der eigene Körper, dessen Lust man sich zuversichtlich anvertrauen kann, im gloriosen Blätterfall des späten Oktobers, im Treiben der Schneeglöckchen in einem frühen März, angesichts des unter Windstößen erschauernden Körpers der See. Das Gefühl dieses Vertrauens beschreibt der Psychologe und Mediziner Wilhelm Reich als die eigentliche, fundamentale Verbindung zur Wirklichkeit. Es ist der Anteil der Wirklichkeit in uns selbst, und deshalb ist es unsterblich: »Das schweigende, sanfte Strahlen lebendigen Lebens kann mit keinem Mittel je zerstört werden. Denn dieses Strahlen ist die Energie selbst, die das Universum seine Bahn nehmen lässt. Ihr Leuchten zeigt sich im dunklen Nachthimmel, und es liegt in den Augen eines vertrauenden Kindes.«40 Das Erwachsenen-Ich zu stützen heißt, innere Kraft entwickelt zu haben, die sich in den Dienst des Lebens stellt, nicht allein der eigenen Existenz. Es heißt, nicht nach der Devise: »Ich will!« zu agieren, sondern nach dem Ideal: »Leben sei!«. Dem Erwachsenen-Ich zu folgen heißt zu wissen, dass die eigene Kraft Teil jener Energie ist, die das Universum in seiner Bahn hält. Das Erwachsenen-Ich ermöglicht die Entscheidung, diese eigene Kraft in den Dienst des Universums zu stellen, damit es seine Bahn nehmen kann. Aber diese Bahn ist keine andere Bahn als der eigene produktive Lebensweg.

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Sich im Urvertrauen selbst als das sich entfaltende Universum zu erfahren ist im Kern schon eine schöpferische Haltung. Diese schöpferische Haltung liegt im kindlichen Streben nach Verbindung. Verbindung heißt ja immer Verwandlung. Verbindung bedeutet, einen Teil des Selbst loszulassen, um dem anderen den Eingang zu ermöglichen. Verbindung heißt Öffnung, und Warten, dass der andere durch diese Öffnung eintritt. Jedes Selbst, das sich klar zu sich bekennt und für sich sorgt, ist die Einladung zur Verbindung. Auch das ist nicht bloß eine psychologische Idee, sondern lässt sich daran nachvollziehen, wie Lebewesen ihre Körper organisieren. Das Seelische ist ja die Empfindung, das Innerliche dieser Organisation. So ist auch die Außenwand eines Lebewesens nur in einer Hinsicht ein Schutzwall, der den Organismus abgrenzt, in anderer Hinsicht aber eine Tür. Pflanzen etwa sind auf der Oberfläche von einer Wachsschicht geschützt. Zugleich aber haben sie Öffnungen, durch die Luft einströmt und Wasser austritt. Unsere Haut hat Poren, die einzelnen Zellmembranen Kanäle, durch die Stoffe aufgenommen werden. Was von außen wie eine geschlossene Figur aussieht, entpuppt sich bei näherer Hinsicht als eine Einladung an die Welt, einzutreten und sich in den eigenen Leib verwandeln zu lassen.

Lieben als Tätigkeit Es dürfte klar geworden sein: Wenn ich von Liebe spreche, meine ich zunächst nicht ein Gefühl, sondern ein Handeln. Wir denken, dass Liebe ein Gefühl sei, wie Hunger oder Durst. Wir glauben, dass uns dieses Gefühl automatisch die richtige Nahrung finden lässt und das richtige Maß, in dem wir sie zu uns nehmen sollten. Nach diesem Bild ist Lieben so todsicher wie Essen – nur dass die Objekte, die man verspeisen will, immer davonlaufen oder sich sonst widerspenstig zeigen. Das hat bereits Erich Fromm beobachtet: »Diese Haltung, dass nichts leichter sei als zu lieben, ist die dominante Vorstellung von der Liebe geblieben, der überwältigenden Evidenz des Gegenteils zum Trotz.«41 Der erste Schritt, so Fromm, müsste darin bestehen, sich bewusst zu machen, dass Liebe eine Kunst ist, genauso wie Leben

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selbst eine Kunst sei. Natürlich ist diese Kunst mit Fühlen verbunden  – aber sie ist selbst kein Gefühl, sondern eine Praxis. Werden wir geliebt, also gesehen, erleben wir unser Selbstsein im Glück. Gelingt es uns zu lieben, fühlen wir uns lebendig. Wenn wir es schaffen könnten, dem Bedürfnis zu folgen, das sich in diesen Gefühlen ausdrückt, gelänge uns die Kunst des Liebens ein wenig leichter. Das Glück der Liebe, die in einer solchen Lebenspraxis wohnende Lebendigkeit, ist das Glück der Allmende. Wie diese wächst die Liebe, wenn es uns gelingt, im Dienste des Ganzen größer zu werden. So meint Fromm: »Liebe beinhaltet immer ein aktives Interesse am Wachstum und an der Lebendigkeit dessen, was wir lieben. Das kann auch gar nicht anders sein, denn Leben ist ein Prozess des Werdens, des Einswerdens und des Ganzwerdens. Die Liebe zu allem, was lebendig ist, drückt sich in dem leidenschaftlichen Wunsch aus, dieses Wachstum zu fördern.«42 Lieben ist somit eine Aktivität, kein emotionales Schaumbad. Sie ist auch kein »unordentliches Gefühl«. Liebe ist überhaupt kein Gefühl. Lieben ruft Gefühle hervor  – aber diese Gefühle selbst sind nicht die Liebe. Für Marshall Rosenberg ist Liebe ein Bedürfnis: das Bedürfnis, so behandelt zu werden, dass man die sein darf, die man ist. Liebe ist ein Begehren, das sich danach richtet, dass sowohl dem anderen als auch mir selbst meine Lebendigkeit zugestanden wird. Lieben heißt, die Welt lebendiger zu wollen. Lieben ist also eine Praxis, kein emotionaler Zustand. Gefühle begleiten diese Praxis – Glück und Leichtigkeit, wenn sie gelingt, Enge und Trauer, wenn sie scheitert. Lieben heißt, mit etwas oder jemand anderem so in Verbindung zu sein, dass ich durch diese Verbindung selbst größer werde, und zwar indem der andere größer wird. Lieben heißt also selbst sein durch den anderen – und dem anderen Raum geben durch sich selbst. Erich Fromm hat die Haltung einer Praxis des Liebens in unvergleichlicher Weise als das Interesse an Wachstum und Lebendigkeit bezeichnet. Der Gegenstand einer Praxis des Liebens ist ein Mehr an Lebendigkeit. Diese ist nicht teilbar, und darum kann sich, liebt man

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wirklich, also produktiv, mit der Erhöhung echter Lebendigkeit des anderen die eigene nur erhöhen. Es gibt einen simplen Maßstab, zu verstehen, ob man geliebt wird. Es genügt, die Beteuerungen (ich liebe dich, ich brauche dich, hab Geduld mit mir, lass mich aus meinem Schneckenhaus kommen) vorübergehend auszublenden und sich zu fragen, wie lebendig man gerade ist, wie frei dazu, sich in der Verbindung zu zeigen, wie sehr man Selbst sein darf. Der britische Philosoph Raimond Gaita sagt: »Überall unterscheidet sich Liebe von ihrem falschen Schein durch die Art, in der jemand die unabhängige Wirklichkeit dessen respektiert, den sie liebt.«43 Liebe ist das, was einen anderen wirklicher macht, und das ist zu spüren, auf beiden Seiten. Unser Problem ist freilich, dass wir oft wissen, was gespielt wird, aber dass wir unserem Wissen entgegen handeln, weil es genau das ist, was wir als Kinder gelernt haben, um weiter existieren zu können. »Du sollst nicht merken« nannte Alice Miller die elterliche Botschaft, die das eigentliche Urteil verbirgt, welches lautet: »Wenn du sein willst, darfst du nicht sein.«44 Im Schatten dieser Botschaft aber lässt sich keine Identität herstellen. Und auch keine Verbindung. Denn wenn man nicht ist, kann man sich auch nicht verbinden. Man kann nur sein Leben lang hoffen, endlich von jemandem ins Leben hinein gesehen zu werden. Und dann unter diesem Blick fliehen, weil man fürchtet, als das Nichts entdeckt zu werden, als das man sich zu früh einzig erfahren durfte. Wie jene Freundin.

Sein heißt Lieben Selbstsein und In-Verbindung-Sein sind kein Widerspruch. Sie scheinen es nur zu sein. Sie erscheinen unserer Überlebensstrategie als unvereinbar, aber nicht der schöpferischen Welt. Sie scheinen unvereinbar, weil die Überlebensstrategie die Krankheit ist und nicht das, wovor sie zu schützen vorgibt. Das, wovon unsere pathologische Art des Selbstschutzes uns trennt, ist unsere eigene Lebendigkeit.

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Wir glauben oft, dass sich dieses Leben nur meistern lässt, wenn wir erkennen, dass wir gegen seinen Grundwiderspruch zwischen Vereinzelung und Totalität nichts ausrichten können und ihn irgendwie aushalten lernen: »to live with pain«, wie es der Schriftsteller Ernest Hemingway ausdrückte.45 Unser ewiges Draußensein ertragen. Oder wie Sigmund Freud gesagt hätte: unsere destruktiven Triebe in der Kultur sublimieren. Ich war lange der Meinung, dass sich aufgrund der unauflösbaren Widersprüche jede Bezogenheit nur leben ließe, wenn wir den Tod in sie einschließen, wenn wir also so handeln, dass leben immer auch sterben heißt: verzichten, Abschied nehmen. Aber das Ganze sein zu können heißt nicht Sterben, sondern Sein.46 Der Glaube, Tode sterben zu müssen, um frei sein zu können, hat eher etwas mit den Traumata zu tun, an die der Versuch, frei zu sein, in der Kindheit gekettet war. Wie groß ist die Gefahr, dass wir die Verzerrungen unserer eigenen Seele als die Eckpfeiler der Wirklichkeit identifizieren – wie gerade etwa Freud, der zwar die unbewusste Kraft des Fühlens entdeckte, aber weiter daran glaubte, das freie Kind in ihm selbst durch Disziplinierung und »Sublimation« unterdrücken zu müssen. Frei zu sein, indem man sterben kann, heißt nicht, andauernd zu sterben. Es heißt aber, dem Seinkönnen die erste Bedeutung einzuräumen, jenem Seinkönnen nämlich, nach dem die Wirklichkeit strebt, und das sich so auch in mir manifestiert. Es heißt, dieses Durch-mich-sein-Wollen zu fördern. Dabei geht es aber um das Seinkönnen der Wirklichkeit, nicht zuerst um meines. Wir können beobachten, dass jedes Kind, wie alle anderen Wesen und wie die einzelnen Zellen, aus denen sein Körper besteht, weiß, wie lebendige Individualität zu verwirklichen ist. Es gibt einen Weg zu ihr, und er ist nicht esoterisch und abgelegen, sondern der, den wir auf natürliche Weise einschlagen. Und dieser Weg besteht darin, Selbstsein nicht gegen den anderen, sondern durch innige Verbindung mit ihm zu realisieren. Er besteht im Atem, im Schmecken, im Kuss, im Lächeln, im Dialog. Er besteht darin, Sein ursprünglich zu teilen, und das Teilen dazu zu benutzen, Sein zuzulassen.

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Das aktive Interesse des anderen ist essentiell, um einem Kind seine Lebendigkeit zu lassen und deren Kraft so zu stärken, dass sie selbst zu einem Zentrum des aktiven Interesses werden kann. Traumata der Kindheit sind Ausbleiben des aktiven Interesses, des Interesses überhaupt, des Interesses am anderen. Es sind Gesten, die statt »Sei!« ein »Sei nicht!« aussprechen. Liebe ist die Tätigkeit, die den biologischen Entwicklungsbestrebungen eines anderen Raum gibt. Liebe ist die Tätigkeit, die Lebendigkeit ihren Platz einräumt. Lieben heißt, Lebendigkeit zu fördern und den Bedürfnissen entsprechend der Lebendigkeit Rechnung zu tragen, und das gilt nicht nur altruistisch für die der anderen, sondern ebenso für die eigene. Wer seiner Lebendigkeit Rechnung tragen kann, liebt bereits. Er hat die Fähigkeit, leben zu wollen, der Lebendigkeit mit der Haltung »Sei!« entgegenzukommen. Aus dieser Sicht besteht kein Unterschied zwischen der Selbstliebe und der Liebe für andere, so wie es auch keinen Unterschied zwischen dem Anteil der Lebendigkeit gibt, der mir gehört, und dem, der einem anderen zusteht. Wer Lebendigkeit will, will echte Verbindung und wirkliches Wachstum, die aus sich selbst immer allen zuteilwerden. Somit besteht kein Widerspruch darin, sich selbst und einen anderen zu lieben. Beides ist aktives Interesse an der Lebendigkeit dessen, der geliebt wird. Diese Lebendigkeit ist Eigenheit-in-Teilnahme. Beides bedeutet, die Notwendigkeit der Individuation-in-Verbindung zu fördern, sie zu empfinden, sie zu verkörpern, sie zu nähren. Beide verstehen die Grenzen des Gebens, die dort liegen, wo Leben für den einen für den anderen Sterben heißt.

Lieben heißt Selbstakzeptanz Lieben heißt, die natürliche Fähigkeit eines anderen zu unterstützen, in Verbindung zu treten, indem er sich ganz zeigt. Sie zu wollen. Der Liebe zu bedürfen heißt umgekehrt, sich in seiner ganzen Realität dem anderen zeigen zu wollen, um selbst sein zu können. Die US-Psychologin Brené Brown drückt es so aus:

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»Wir kultivieren Liebe, wenn wir unserem verwundbarsten und mächtigsten Selbst erlauben in der Tiefe gesehen und erkannt zu werden. Wirkliche Zugehörigkeit findet nur statt, wenn wir unser echtes, unvollkommenes Selbst der Welt zeigen. Unsere Zugehörigkeit kann daher nie größer sein als das Niveau unserer Selbstakzeptanz.«47 Mit dem anderen verbunden zu sein ist damit gleichbedeutend, mit sich selbst verbunden zu sein. Wer nicht selbst sein kann, kann auch nicht in Beziehung sein. In einer Gesellschaft wie der unseren zu leben, in der jeder für sich selbst sorgt, heißt darum, nur unter Schwierigkeiten mit dem anderen verbunden sein zu können. Und das bedeutet, auch nur fragmentarisch selbst sein zu können. Wir Sphinxe der Effizienz und Distanz, wir erfolgreichen Einzelkämpfer sind in der Mitte leer. Lieben heißt, das Geheimnis dieses Kosmos durch unser eigenes Handeln einzulösen, nämlich selbst Individuum und das Ganze zu sein. Das Glück der Liebe ist dann vielleicht in der Tiefe das: das Glück des Ganzen, Selbst sein zu können. Vielleicht ist das die tiefste Sehnsucht der Wirklichkeit? Und so regt sich das, was alles antreibt, eine Sehnsucht nach sich selbst. Ein Verlangen danach, sich selbst in Zärtlichkeit zu erfahren, die nur vom anderen gespendet werden kann. Ein Begehren, auf dem Weg durch die unendlichen Zersplitterungen sich ganz in Individuation zu erleben, und so als alles, in der Konzentration einer einzigen ­Blüte. Wir ignorieren allzu oft, dass wir Lebewesen sind, und dass Lebewesen das Bedürfnis haben, in der Erfahrung von Verbundenheit sie selbst zu werden. Es ist diese Erfahrung, die sich einem persönlich als das Gefühl von Stimmigkeit und Sinn zeigt. Wir sind Lebewesen wie alle anderen Lebewesen. Als Lebewesen haben wir den angeborenen Drang, ja das Lebensbedürfnis, unsere Eigenheit durch Verbindung mit anderen zu entfalten. Wir können nicht anders. Jedes Lebewesen ist unmittelbar liebesfähig, weil es unmittelbar seinsfähig ist und weil zu diesem Sein gehört, den anderen aufzunehmen, zu durchdringen, und mit seinem eigenen Körper zu nähren. Entsprechend meinen Heller und La Pierre: »Die spontane Bewegung in allen von uns strebt nach Verbindung, Gesundheit

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und Lebendigkeit. Ganz gleich, wie zurückgezogen und isoliert wir sind, oder wie schwer das Trauma ist, das wir erfahren haben, auf der tiefsten Ebene gibt es in uns einen Impuls, der uns zu Verbindung und Heilung drängt, genau wie eine Pflanze spontan zum Sonnenlicht strebt.«48 So lange wir sind, haben wir Sehnsucht nach Verbindung. Und Verbindung ermöglicht Sein. Liebesfähigkeit ist Seinsfähigkeit.

Lieben heißt die Wahrheit wollen Das erfahren wir in der Gegenwart anderer Wesen, die selbst sein können, weil ihnen nichts anderes übrigbleibt. Wir erleben ihr Seinkönnen als Liebenkönnen, und damit als Geliebtwerden. Wir sind geliebt durch das Seinkönnen der anderen, das immer zugleich ein Seinlassenkönnen ist. Wir dürfen sein im Angesicht der Wellen, im Angesicht der Pinien, im Angesicht der Möwen und ihrer rauen Schreie. Uns ist gestattet, sowohl als Genius unserer Einzigartigkeit wie auch als Welt im Ganzen zu existieren, die sich durch diese Einzigartigkeit hindurch manifestiert. Was uns an Natur  – der Gegenwart nichtmenschlicher ­Wesen – fasziniert, ist gerade, dass etwas aus sich selbst heraus sich so verwandelt und durchdringt, dass entsteht, was man vorher nicht ahnen konnte, weil es eine neue Imagination des Alten ist. Das ist es, was uns berauscht, und das ist es, was uns angeht. Es ist das, was wir auch wollen. Erich Fromm meint, in der Liebe liege die Antwort auf das »Problem der menschlichen Existenz«49. Wirklich zu lieben heißt, sich selbst als aktiven Teil des Ganzen zu erfahren. Die Antwort auf das »Problem der menschlichen Existenz« ist das: sich selbst als das Ganze zu erfassen. Die Berliner Philosophin und Künstlerin Hildegard Kurt bezeichnet das als »Blühphänomen«. Wirklichsein heißt Blühen.50 Wir können Blume sein auf menschliche Art und Weise, wenn wir uns erlauben, echt zu werden, wenn wir uns erlauben, unsere Gefühle zu fühlen, welche die Stimme unserer Existenz in einem verwundbaren Körper sind. Wir aber haben Angst vor dem Himmelreich auf Erden, denn darin wären wir nackt.

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Kapitel 5 – Tauschen »Menschen sagen einzig und allein zwei Dinge: ›Ich bitte dich‹ und ›Danke‹.« M arshall R osenberg 51

Die indische Anthropologin Neera Singh, die in Toronto lehrt, studiert seit langer Zeit eine Dorfgemeinschaft im indischen Staat Odisha an der Bucht von Bengalen. Die Menschen dort sind Kleinbauern. Sie leben von den Produkten der Wälder, von der Jagd, aber auch vom Anbau von Gemüse und Früchten zwischen den Bäumen. Sie sind arm, aber sie müssen nicht hungern. Sie betreiben Subsistenzlandwirtschaft: Sie produzieren keinen Überfluss, sondern haben gerade so viel, dass sie leben können. Was sie nicht verbrauchen, gehört dem Wald. Wie die Menschen, mit denen Singh arbeitet, leben noch Milliarden. Sie setzen nicht Agrotechnik ein, sondern pflegen den Austausch mit der Natur. Auch wenn dort ebenfalls die gewachsene Bevölkerungszahl zu immer mehr Druck auf die nichtmenschlichen Lebewesen führt, überdauern in den Subsistenzkulturen dieser Erde Reste eines ursprünglichen Austauschs zwischen Mensch und den anderen Organismen, mit denen er das Ökosystem teilt. Zudem wird in diesen Kulturen der Hauptteil aller Lebensmittel weltweit produziert.52 Die Hirtenvölker der Prärien Asiens und Afrikas gehören zu diesem Teil der Weltbevölkerung, ebenso die Kleinbauern der tropischen Wälder Afrikas und Südamerikas. Wo Menschen auf Subsistenzniveau leben, haben Tiere und Pflanzen häufig ein besseres Auskommen als dort, wo industrielle Landwirtschaft das Ruder übernimmt. Für

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den Träger des Alternativen Nobelpreises, den Ökologen Michael Succow, liegt darum ein Schlüssel ökologischen Handelns darin, vor allem die Hirtenvölker der großen Prärien weltweit zu unterstützen. Ihre Lebensweise ist der Haushalt der Allmende. Singh hat in den Jahrzehnten ihrer Arbeit einiges über das Wirtschaften in der ökologischen Allmende herausgefunden. Diese ist weniger ein Haushalten, beobachtet Singh, als eine Seinsweise. Mit der Natur in einer Allmende verbunden zu sein heißt nicht, Ressourcen zu schonen. Es heißt, eine lebende Landschaft zu sein. Es heißt, ein Naturgebiet so zu nutzen, dass seine Nutzer ihre Identität aus der Landschaft beziehen, die sie ernährt. Diese Pflege heißt umgekehrt, die Arbeit an dieser Allmende nicht als Investition in ein Kapital zu verstehen, sondern als Gabe, die Leben spendet. Die Pflege einer Allmende ist ein Geschenk an die Wirklichkeit, aus der man wieder zurückbeschenkt wird.

Selbst Wald sein Der Haushalt der Allmende ist kein Wirtschaften wie der Neoliberalismus. Er heißt nicht, zu extrahieren, sondern einen Metabolismus zu nähren, in dem der eigene Körper mit dem umgebenden Land zusammenhängt, und durch den die eigene Seinserfahrung erst ermöglicht wird. Die vorsichtigen Eingriffe der Dorf bewohner entnehmen dem Wald nicht nur Produkte, sondern machen ihn auch fruchtbarer, sodass er mehr Erträge hervorbringt, von denen die Menschen leben können. Behutsame Eingriffe steigern die Diversität des Waldes. Weil ihn sich Menschen mit anderen Arten teilen, entstehen mehr Nischen und Randbereiche, in denen sich neue Lebensentwürfe ausprägen können. Aber nicht nur die Vielfalt der Beziehungen und der Lebensarten schwillt in der ökologischen Allmende an. Auch die Diversität der Emotionen. Singh betont, dass die Dorf bewohner die Commons-Arbeit in den Wäldern nicht so auffassen, dass sie einen »Rohstoff produktiver« machen. Vielmehr engagieren sie sich in etwas, das für sie von existentieller Notwendigkeit ist. Die Arbeit für den Unterhalt des Waldes stillt nicht nur den Hunger, sondern auch emotionale Bedürfnisse der Bewohner. Sie können

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im gefühlsmäßigen Erleben, im Kontakt mit den anderen Wesen, aus denen der Wald besteht, ihre »individuelle und kollektive Subjektivität verändern«.53 Nicht anders ging es bis vor wenigen Jahrzehnten auch vielerorts in Europa zu. Die Allmende war lange Zeit auch hier zentrale Wirtschaftsform. Bis ins 20. Jahrhundert trieben arme Bauern ihr Vieh zur Weide in Wälder, auch wenn die großen Allmenden seit der Reformationszeit zu verschwinden begannen. Es mag heute ungewöhnlich erscheinen, dass der Wald einst auch Viehweide war. Alte »Hutewälder« mit knorrigen Eichen in Deutschland, in denen teils bis in die 1960er Jahre Tiere gehütet wurden, die spanischen Dehesas oder die »waldigen Weiden« Estlands erinnern an solche Wirtschaftsformen. Dass die meisten Menschen heute Wald und Offenland als getrennt ansehen, ist ein Ergebnis der Forstpolitik der letzten 200 Jahre. Hier legten es private und staatliche Forstverwaltungen darauf an, die Subsistenzbauern aus den Wäldern zu vertreiben, um mehr Bäume zu ernten. Die Verwandlung des Waldes in einen Holzacker unter der Ägide der militärisch straff organisierten Forstverwaltung war somit ein Ausschluss der Menschen aus der Allmende. »Einhegung« ist der Begriff für diesen Akt, der eigentlich eine mutwillige Aneignung darstellt. Die Erfahrung, an einer geteilten Fruchtbarkeit im Herzen der Natur teilzuhaben, ist also kein Privileg exotischer Kulturen. Im Blühen der Dorfwiese unter der Mailinde ist ein Echo davon noch in unserer Kultur zu vernehmen. Die Normalform der menschlichen Gesellschaft ist seit hunderttausenden von Jahren die Allmende, nicht der Markt. In der prähistorischen Allmende waren die Menschen mit allem versorgt, obwohl das wirtschaftliche Gesamtniveau unterhalb dessen lag, was wir heute als Armutsgrenze definieren würden. Zeit war ohne Mangel vorhanden. Der Anthropologe Marshall Sahlins zeigte in seinem berühmt gewordenen Buch »Steinzeit-Ökonomie«, dass Menschen in Jäger- und Sammlerkulturen, der »ursprünglichen Überfluss-Gesellschaft«, nur etwa vier Stunden am Tag arbeiten.54 Diese Arbeit besteht nicht in Tauschgeschäften, sondern in einem Austausch des Lebensnotwendigen mit der Umgebung. Zu

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diesem Austausch gehört explizit auch die emotionale Erfahrung: das Gefühl, angenommen zu sein, ernährt zu sein, eine Identität zu haben. Der Mythos vom Menschen als Händler und Schacherer, den Kinder heute schon in der Grundschule lernen, ist falsch. Menschen fällt es nicht als erstes ein zu tauschen, um »Knappheit« zu überwinden. Die früheste Kulturhandlung war nicht: Ich habe Muscheln, gib du mir Kokosnüsse. Der Markt, wie wir ihn heute kennen, existierte in historischer Zeit nicht. Sein Konzept wurde vor 300 Jahren insbesondere vom angelsächsischen Nationalökonomen Adam Smith erfunden, mit der Idee, dass die freie Balance von Angebot und Nachfrage am effizientesten die Verteilung der Güter regeln könne. Inzwischen ist uns dieses Denken so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir den Glauben, dass jeder Ureinwohner Krämer sei, kaum hinterfragen. In der Schule bildet dieser Mythos häufig immer noch die Einführung in das Fach Sozialkunde. Gewiss gab es in der Vorzeit Tauschhandel. Aber dieser bildete nicht das Grundgerüst der Verteilung von Gütern, sondern fand am Rand statt. So wurden unter benachbarten Völkern im neolithischen Europa etwa besonders zum Werkzeuggebrauch geeignete Steine getauscht. Aber die Versorgung mit dem Notwendigen folgt in archaischen Gemeinschaften meist festgelegten Verteilungsregeln. Ein erfolgreicher Jäger verteilt seine Beute nicht, sondern ist zum Teilen verpflichtet. Das kann so weit gehen, dass er von seiner Jagd nichts übrig behält und darauf angewiesen ist, dass ihm die anderen etwas zurückschenken. Seine eigene Beute zu essen, verletzt den Kreislauf der Gabe und ist häufig mit einem Tabu belegt.55 Wir sehen: Tausch dient hier nicht dem Profit, sondern ist als Schenken Ritual, das die Gemeinschaft festigt, und Gabe, die Überleben ermöglicht, zugleich.56 Das Geschenk macht aus dieser Perspektive ein Gegengeschenk nötig – aber nicht, um den Wert der Gabe abzuzahlen, sondern um den lebensspendenden Kreislauf der Gabe aufrechtzuerhalten. Auch die Struktur der mittelalterlichen Lehensgesellschaft, in der die Vasallen dem Herren im Kriegsfall beistehen mussten (und dafür von ihm beschützt wurden), oder die Organisation des Handwerks durch Zünfte waren

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Regelwerke, welche Verteilung außerhalb des Marktes organisierten, und die auf Umverteilung und Gegenseitigkeit beruhten  – und damit Prinzipien der Allmende folgten. All das hat vor allem Karl Polanyi in seinem Buch »The Great Transformation« (1944) herausgearbeitet, in dem er darstellt, dass die im Titel angesprochene »große Transformation« stattfand, als ab etwa 1700 mehr und mehr Bereiche des Lebens nicht mehr Regeln und Gebräuchen unterlagen, sondern Angebot und Nachfrage  –  und das oft zugunsten des jeweils stärkeren. Besonders dramatisch verlief dieser Prozess in Großbritannien, wo er als Enclosure of the Commons bezeichnet wurde. So wurden die uralten Regeln der Allmende und etwa das Recht der Bauern, den Wald als Weide nutzen zu dürfen, unter Gesichtspunkten des Marktes ausgehebelt. Die lokalen Adligen, die sich von der Einhegung der Allmende etwas versprachen, wollten Geld verdienen (durch Verkauf von Holz oder von Schafen, die auf ehemaligem Gemeinland gehalten wurden). Ein außerhalb jeden Marktes existierendes Regelwerk wurde gegen das Regulativ des größten Profits getauscht.57

»Gefühlsarbeit« stiftet Sinn Vielleicht könnte man in Anbetracht der humanen Tiefengeschichte von mindestens einer Million Jahren seit der Ankunft des Homo erectus sogar so weit gehen und sagen: Allmende ist der Standard, nach dem menschliche Kultur existiert. Er blieb es bis zum Beginn von Karl Polanyis »Großer Transformation«. Diese bestand darin, dass den meisten Menschen ihr Recht aberkannt wurde, Teil des natürlichen Stoffwechsels zu sein. Gleichzeitig spricht die Große Transformation daher neben den realen Verboten auch ein Urteil aus, in welchem Maße die von ihr Betroffenen noch wirklichkeitsfähig sind. Der Ausschluss aus der Allmende markierte nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen metaphysischen Umbruch. Niemand war mehr automatisch Teil einer nährenden Natur. Das hatte aber nicht nur Folgen für die persönliche Freiheit, sondern auch für den Zustand der Seele: Aus dem Verlust der Gewissheit, ohne Grund geborgen zu sein,

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wurde in der Folge die Unmöglichkeit, seinen Gefühlen und Bedürfnissen als ein Körperwesen trauen zu dürfen. Singhs indische Studien können uns daher über unsere traditionelle und seit Jahrmillionen dominierende Weise, mit der Welt in Austausch zu treten, Aufschluss geben. Sie sind so etwas wie die Erforschung ökologischer Respiration unter Einschluss des Menschen. An Singhs Ergebnissen sind mehrere Dinge bemerkenswert: Die Anrainer halten es für erforderlich, dass sie dem Wald etwas geben, damit er gesund bleibt und wächst. Sie behandeln den Wald nicht als Ressource, sondern als Partner in einem gegenseitigen Wechsel von Gaben. Das Verhältnis, das sie zum Wald haben, ist nichts rein Äußerliches oder Materielles. Diesen mit der Teilhabe verbundenen emotionalen Prozess nennt Singh »Gefühlsarbeit«58. Sich um den Wald zu kümmern ist eine anstrengende körperliche Tätigkeit, fühlt sich zugleich aber gut an, weil es mit der Fruchtbarkeit auch das Gewebe von Sinn nährt. Vom Wald etwas zu erhalten und dem Wald durch Pflege etwas zurückzugeben erzeugt Freude. Das Glück darüber, Teil eines lebendigen Austauschs zu sein, bringt die Identität der Menschen hervor, die den Wald nutzen und von ihm beschenkt werden. Sie fühlen sich im Wald zuhause. Der Wald ist Teil von ihnen. Erst das Zugehörigkeitsgefühl lässt sie ein festes Selbst haben. In der Allmende-Arbeit trennen die indischen Dorf bewohner nicht zwischen Natur und Gesellschaft. Es gibt für sie nicht »den Wald« und »die Menschen«, genauso wenig wie es »die Freude« gibt und »die Arbeit«. Das Handeln der Menschen schlägt sich im sinnlich spürbaren und emotional erfüllenden Gedeihen des Waldes und des sozialen Zusammenhaltes nieder. Schaut man sich um, wird klar, dass Allmendekulturen die Unterscheidung zwischen »belebt« und »unbelebt« bzw. »Natur« und »Kultur«, die immer noch im Zentrum des abendländischen Selbstverständnisses stehen, nicht machen.59 Sie praktizieren ein Kontinuum mit dem, was sich schöpferisch entfaltet, ein Kontinuum der Wesen und der Dinge, der Tätigkeiten und Gefühle, welches in Wahrheit ein Stoffwechsel zwischen den individuellen Körpern und dem Körper des Ökosystems ist. Sie respektieren keine

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Glaubenssätze moderner Wissenschaft. Ihre Teilnehmer arbeiten nicht mit toter Materie, sondern fühlen sich in einer lebendigen Welt zuhause. Die Bereiche, die im modernen Denken voneinander getrennt sind, werden hier vermischt. Das gilt für unsere Vorstellung vom wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen Rohstoff und seinem Nutzen wie für den kulturellen Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Den Stoffwechsel mit der Wirklichkeit zu erfahren ist für die Teilnehmer der Allmende unmittelbar sinnstiftend. Sie sind nicht draußen, sondern beteiligt. Ihre Tätigkeit besteht darin, dass sie sich schöpferisch entfalten, indem sie ihre lebendige Umgebung pflegen. Diese lebende Integration erfahren sie als sinnvoll – als existentielle Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen, das sie nährt und das sie im Gegenzug pflegen. Um sich als Teil dieses lebendigen Austausches zu fühlen, ist es nötig, die von Singh so genannte »Gefühlsarbeit« zu verrichten. Und diese Arbeit heißt eben nicht nur, sich nett zu fühlen, durch die Haine zu flanieren und ästhetische Gefühle zu haben, sondern sie heißt, mittels schwerer Arbeit den Wald, das andere, zu fördern. Das bedeutet, sich zu veräußern, um intensiv in Verbindung zu sein und um durch diese Verbindung erst wirklich zu werden. »Gefühlsarbeit« im Sinne Singhs heißt, durch aktives Tun die Interessen des Waldes zu befördern und sich, obwohl körperlich angestrengt, darin stimmig zu fühlen.

Kapitalismus als Verbot, zu sein Diese Tendenz zur Selbstveräußerung des lebendigen Aktes macht sich der Kapitalismus zunutze. Die Lebendigkeit spielt ihm dabei gutgläubig in die Hände. Sein Ziel ist, sich ihre Energie als Profit einzuverleiben – so wie das Handeln toxischer Bezugspersonen die Lebendigkeit der Bindungspartner annektiert, weil sie sich nicht ihr eigenes Sein gestatten können. Diese Verbindung sah bereits der frühe Marx. Kapitalismus – oder Neoliberalismus, wie wir heute sagen  – schöpft nicht Ressourcen ab, weil in einer Allmendewirtschaft keine Ressourcen existieren, sondern vereinnahmt das Leben selbst. Kapitalismus

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zehrt an Körpern. Er versklavt vitale Energie. Ausbeutung heißt, sich die Lebendigkeit eines anderen einzuverleiben. Es ist heute zu wenig bekannt, dass Marx mit seiner ursprünglichen Idee des Kommunismus menschliche Authentizität und menschliches Seinkönnen verteidigen wollte. Er versuchte, sie vor ihrer Entfremdung zur Dingwelt im Besitz weniger Einzelner zu schützen. Was Marx auf den Namen »Kommunismus« taufte, war in Wahrheit »Commonismus«, ein Bild der Gesellschaft als Teilhaberin einer fruchtbaren Allmende, die den Bedürfnissen unserer verletzlichen Körper gerecht werden sollte. Marx schreibt in seinen Manuskripten von 1844: »Der Arbeiter kann nichts schaffen ohne die Natur, ohne die sinnliche Außenwelt.«60 Marx wird dort klar, dass es nicht allein die Arbeitskraft (als Ware) ist, die eine Rolle spielt, sondern der ganze Lebenszusammenhang, in den eingebunden der Arbeiter überhaupt erst existieren kann, und zu dem die Liebe seiner Eltern ebenso gehört wie ihre Sorge um ihn, die Früchte, die er nur essen konnte, weil Hummeln sie bestäubt haben, das Wasser, das er nur trinken kann, weil es regnet, weil die Vegetation mit der Atmosphäre im Austausch steht. Der Arbeiter besitzt seine Kraft gar nicht, denn sie ist ihm geschenkt. Dieses Geschenk muss er aber im Neoliberalismus verkaufen, statt es dem produktiven Leben weiter zu stiften. Was er damit mitverkauft, ohne dass es im Preis auch nur annähernd auftaucht, ist das Seinkönnen, ist die Lebenskraft selbst – nicht nur die eigene, sondern die der Wirklichkeit. Die Ökonomin, Schriftstellerin und Commons-Aktivistin Friederike Habermann weist darauf hin, dass diese Idee des jungen Marx später Rosa Luxemburg beschäftigt hat, die klarer als ihre männlichen Mitstreiter begriff, dass die Industrielle Revolution mehr als die Verelendung des Industriearbeiters bewirkt, nämlich zum Generalangriff auf die Lebendigkeit geblasen hatte.61 Der Neoliberalismus kann nur deshalb existieren, weil er aufsaugt und versklavt, was ein Geschenk ist, dessen Körper alle gemeinsam bilden, und was nur wächst, wenn es weitergegeben wird. Der Kapitalismus kann nur gedeihen, so lange noch lebende Natur (die Seele des Menschen eingeschlossen) vorhanden ist, die

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er als Ressource vermarkten kann. Er kann nur existieren, solange Familien ihm lebensfähige Kinder zur Verfügung stellen, wofür auch heute in der Welt vor allem Frauen sorgen. Demzufolge meint die Ökonomin und Philosophin Friederike Habermann: Der Neoliberalismus zehre vor allem auf, was weiblichen Charakter habe, was fruchtbar sei, fraglos gegeben, und was zur Gabe fähig sei.62 Er parasitiert das Sein. Allein ist der Neoliberalismus zu keiner produktiven Tat fähig. Er kann nur verbrauchen. Solange aber das Verbrauchte von der Lebenskraft nachgeliefert wird, hat es den Anschein, als vermöge der Neoliberalismus quasi aus der Luft Mehrwert schaffen. Und je weiter der jeweilige Beobachter von den Armen des globalen Südens und den Ruinen der verfallenen Industriegürtel entfernt ist, desto eher mag er dieses Märchen glauben.

Emotionaler Kapitalismus Unsere Wirtschaftsform, die Marx mit »Nationalökonomie« bezeichnet, und die heute mehr denn je unsere Welt beherrscht, leitet den Fluss der Produktivität so um, dass sich die Lebendigkeit immer schwerer selbst erneuern kann und stattdessen die Taschen Einzelner füllt. Was allen geschenkt ist, wird nun von einigen wenigen verkauft. Darin liegt nicht allein eine materielle Ausbeutung. Es ist vielmehr eine Umkehrung der Prinzipien, nach denen Wirklichkeit Verbindung stiftet und Sein ermöglicht. Der Kapitalismus schöpft lebendige Produktivität ab, die nicht nur darauf drängt, sich selbst zu erhalten, sondern die das als Lebendigkeit tut, das heißt, durch die Erlebnisse von Individuen, die sich in ihrer Identität erfahren. Kapitalismus bedeutet daher nicht nur, anderen etwas wegzunehmen, sondern vor allem, Identität zu vernichten. Identität, die daraus Kraft bezieht, sich durch eigenes Handeln so zu entfalten, dass dadurch die anderen mitentfaltet werden, Identität, die sich aus dem innersten Kern meines Selbst speist, das ich nur nähren kann, indem ich die Äußerungen dieses Selbst verschenke. Die elterliche Weigerung, das Kind in seinem Sosein anzuerkennen, ist strukturell das Gleiche wie die Gewalt, mit der die

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einst Herrschenden die Bauern aus der Natur vertrieben. Sie kommt jener Zwangslage, in der wir an die rationale Erklärbarkeit und Lösbarkeit durch Konsum glauben, gleich. Sie bedient sich deren scheinbar objektiver, in Wahrheit aber kolonialisierender Sprache: »Sei rational«, »das ist unvernünftig«,»es ist zu deinem Besten«. Die Sprache der wissenschaftlichen Rationalität und dessen, was Psychologen das »negativ fürsorgliche Eltern-Ich« nennen, sind identisch. Es ist die Sprache, mit der uns jemand, der herrschen will, von der Welt abschneidet, die wir selbst sind. Es ist eine Sprache, mit der er oder sie uns die Erfahrung streitig machen will, wirklich zu sein. Das ist auch heute noch das Problem unserer auf Effizienz, Steigerung, Gewinn schielenden Gesellschaft. In ihr ist es verboten zu lieben, weil Lieben Seinkönnen heißt und weil jemand, der sein kann, unbeherrschbar ist. Seinkönnen muss eliminiert werden. Danach wird es durch seinen Anschein ersetzt, und dieser Anschein lautet Besitz. Das verwundbare Begehren der Welt, als Individuum ganz Selbst zu sein, wird gepanzert. Dadurch wird es für die einen zur Ressource, die sie extrahieren wollen, für die anderen zum wunden Punkt, weil sie nie genug haben. Wer so lebt, ist nicht länger essbar, legt Reserven an, zieht sich in seinen Bau zurück. Der Gepanzerte bringt mit der Aufkündigung seiner Hingabe an die eigene Essbarkeit die Gabe zum Versiegen, die ihn ernährt. Die Vertreibung der Menschen aus der Allmende der Natur, die am Beginn des modernen Kapitalismus steht, war nicht nur die Deportation menschlicher Körper aus der belebten Welt. Es war eine Kolonialisierung der Identität, eine Vernichtung des Seinkönnens. Sie musste das Wissen diffamieren, dass ich ein Selbst werde, indem ich mich mit anderen verbinde. Sie musste den Wunsch, Leben zu spenden, für naiv erklären. Die Einhegung musste das Fühlen aus unserem Herzen verdrängen. Sie musste den Menschen nicht nur die ökonomische Teilhabe streitig machen, sondern ihnen ihr sich von selbst entfaltendes Sein aberkennen. Und das hatte auf so fundamentale Weise zu geschehen, dass die Menschen sich von allein vorwarfen,

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sentimental und irrational zu sein, sobald sie spürten, dass sie fühlten. Die Kolonialisierung der Natur, die allen gehört, beginnt immer als Kolonialisierung der Seele. Sie muss zerstören, was das Kind unverbrüchlich kann: aus der Lust an sich selbst in Verbindung mit anderen treten. Die Lust an diesem unverdienten Selbst, am bloßen, fühlenden Sein, musste gebrochen werden. Dies geschah dadurch, dass es geistige Mode wurde, die Welt als rational und effizient zu beschreiben, nur durch den Verstand und das Kalkül beherrschbar. In der Lebensrealität der Menschen äußerte sich diese Sicht durch entfremdende Arbeitsweisen, die Durchwirkung des Alltags von Maschinen, das von der Stechuhr verordnete Stakkato.

Der Pakt mit dem Teufel Es ist aus dieser Perspektive klar, dass die Zerstörung sich selbst erhaltender Ökosysteme und die Vernichtung der menschlichen Fähigkeit, unmittelbar selbst zu sein, zwei Seiten des gleichen Verhängnisses sind. Natur, die Welt der anderen Wesen, ist Körper gewordenes Selbstseinkönnen. Genau das aber wird der Wirklichkeit als solcher abgesprochen. Die eigentliche, allem zugrunde liegende Wirklichkeit wird in ihrer Realität verneint. Bereits die (notfalls mit Ordnungskräften, aber oft genug auch nur im Hörsaal) durchgesetzte Meinung, dass diese Welt eine rational zu erfassende Maschine sei, die nach den Gesetzen des Krieges, der Optimierung und der Effizienz funktioniere, ist eine Unterjochung des Seins. Sie übernimmt die Herrschaft über unsere Gefühle, die uns sagen, dass es ganz anders ist. Sie sät Trennung, wo Teilen durch Verbindung Ganzheit schafft. Der Neoliberalismus kolonialisiert das Fühlen, das mit der Stimme der ganzen Welt aus jedem Individuum spricht. Er redet uns ein, dass wir an Nützlichkeit denken müssen, wenn es uns um das emotionale Erlebnis von Teilhabe zu tun ist – wie der liberale Ökonom John Maynard Keynes, der in den 1930er Jahren meinte, wir müssten noch 100 Jahre so tun, als wäre schlecht

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gut und hässlich schön, um endlich im ökonomischen Paradies anzulangen. Aber behaupten zu dürfen, Schlechtes sei gut, und dafür auch noch belohnt zu werden, ist die Definition des Pakts mit dem Teufel. Jeder Pakt mit dem Teufel heißt, der Kolonialisierung zuzustimmen. Wie jeder (Selbst-)Verrat fängt die Kolonialisierung im Herzen an, nicht im Raum. Der von dieser Besitzergreifung zuerst errichtete Zaun trennt die Erfahrung, ein fühlendes Selbst zu sein, von dieser Welt. Er macht das Fühlen zur Privatsache, die wir zum Funktionieren nicht brauchen, und die Berechnung zum Herzen der Welt. Der Pakt mit dem Teufel ersetzt Seinkönnen, das von sich aus in Verbindung tritt und so immer wieder neu Identität erschafft, durch Kontrolle von Identität. Die tiefste Wirkebene des Kapitalismus liegt hier. Er verbietet das Sein. Er verbietet es, weil das, was sein und fühlen kann, Treibstoff für die Mehrwertsteigerung liefern muss. Diese Geschichte lässt sich anhand konkreter Leidensstationen erzählen. Jede reale Vereinnahmung der wilden und emotional ungebändigten Realität, sei es die Abzäunung des Gemeinlandes im sechzehnten Jahrhundert oder die Patentierung von Genomen im Rahmen der Synthetischen Biologie im einundzwanzigsten, geht auf die Abspaltung des Lebendigen vom Zusammenhang der Gemeingüter zurück, dessen Teil es ist und den es hervorbringt. Schon die Bauernkriege im sechzehnten Jahrhundert entstanden aufgrund solcher Verbote, an der Gemeinschaft des Lebenden teilzuhaben. Nicht schlechtes Klima und Missernten ließen die einstigen Allmendenutzer verelenden, sondern ihr Ausschluss von der Quelle des Lebens. In der vor-­ forstamtlichen Zeit waren Wälder und Weiden nicht getrennt, Offenland war oft kostbares Ackerland, der Wald war lichter als in den späteren Stangenforsten (Rotkäppchen verirrt sich in den Wald zum Blumenpflücken!), weil er als das hauptsächliche Weideland genutzt wurde. Später wurden die Allmendebauern durch die zunehmend militärisch organisierte Forstwirtschaft ausgegrenzt, deren Ideal »Nachhaltigkeit« war: Es ging darum, Monokulturen von Nadelbäumen anzulegen, die in kurzer Zeit Geld brachten und dann ersetzt werden konnten.

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Solche schmerzhaften Trennungen sind die Spuren, in denen sich das Denken des Dualismus in der Welt manifestiert. Dieser Dualismus ist keine gutartige Abstraktion, sondern eine Kraft, die unsere Vorstellungen dominiert und uns von der Erfahrung schöpferischer Realität abschneidet. Dieser Dualismus liegt dem Ethos der Aufklärung zugrunde, das besagt, dass die Welt mit Hilfe der rationalen Vernunft ein bewohnbarer Ort werden könne. Derselbe Dualismus ist Basis für die Logik des Marktes. All diese Phänomene beruhen auf der Isolation menschlicher Erfahrung von der schöpferischen Lebendigkeit. Sie haben die gleiche Wurzel, denn sie sind Folge einer zunächst imaginativen Einhegung. Auch das Denken, das zwischen Ressourcen (mit denen gehandelt wird) und Subjekten (die handeln bzw. die versorgt werden wollen) trennt, ist ein Produkt dieses Dualismus. Er stellt eine Methode zur Verfügung, Kontrolle herzustellen, indem er die Welt zweiteilt: in eine unbelebte, zu beherrschende Sphäre und eine des Wissens »über die Welt«, von der aus und für die Kontrolle hergestellt werden soll. Unter diesem Blickpunkt besteht kein Unterschied zwischen Einhegung, Kommodifizierung und Kolonialisierung. Jeder dieser Begriffe bezeichnet nicht nur einen Angriff auf Ressourcen, die allen gehören, sondern zugleich auf die seelische Identität, die mit diesen Ressourcen in Verbindung steht und auf sie angewiesen ist. Es ist ein Angriff auf unverfügbare und unverstehbare Lebendigkeit – und damit auf die Wirklichkeit selbst. So beobachtet der Philosoph David Johns: »Kolonialismus gedeiht nirgendwo besser und ist nirgendwo klarer zu sehen als in der Beziehung zwischen der Menschheit und dem Rest der Erde.«63

Kolonialisierung schafft ein leeres Selbst Die Praktiken der Einhegung verneinen die Existenz eines anderen. Sie verhindern Sein, weil Sein nur als Sein-im-Teilen denkbar ist. Sie können es kolonialisieren, weil sie seine Existenz bereits zuvor negiert haben. Das andere, das sie unterjochen, ist nicht allein die Natur oder der Mensch fremder Kulturen. Es ist unser aller Erfahrung, dass es eine Dimension gibt, die nur gelebt

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werden kann und die sich nicht in rationaler Begrifflichkeit auflöst. Dieses andere ist die leiblich erlebte Wirklichkeit, die aller Konzeptualisierung und Kolonialisierung vorausgeht, das Glück beim Anblick der aufgehenden Sonne, eines jungen Hundes, eines geliebten Partners, die Dimension des Sinns bei einer Arbeit, die nicht allein mir, sondern allem zugutekommt. Es ist das, was Manfred Max-Neef als »Human needs« bezeichnet.64 Einhegend ist ein Denken, dass die Unverfügbarkeit schöpferischer Prozesse und den Sinn des mit dem Körper verbundenen Fühlens aufgibt und sie der »Rationalität«, dem »Stewardship«, der Empirie, Diskursivität und Kontrolle unterordnet. Seinen Gipfel findet dieses Denken in der heute von vielen Intellektuellen vertretenen Position, es gebe keine Natur und auch keinen Körper. Die eigene auch leibliche Erfahrung wird von manchen Denkern als Konstruktion oder Projektion abgetan, beobachtet der britische Soziologe Ian Hacking65. Das, was wir intuitiv als authentisches Gefühl erkennen, so wird oft behauptet, sei kulturell erzeugt. Erst recht dann, wenn es sich bei der Begegnung mit anderen Wesen zeigt, also in der Natur. Wir hätten zu viele Bilder von Caspar David Friedrich gesehen, heißt es dann. Das stellt eine Machtübernahme dar, die keinen Fluchtraum lässt. Sie ist Gewalttätigkeit, mentale und spirituelle Einhegung. Wie jede Vernichtung eines Seinkönnens muss diese Kolonialisierung unserer innersten Essenz zu einem »leeren Selbst« führen, wie es der Biophilosoph David Kidner prophezeit.66 Tatsächlich wird das »leere Selbst« von vielen als die psychopathologische Diagnose unserer Zeit des »zivilisatorischen Narzissmus« diagnostiziert. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, ist das leere Selbst die Folge, wenn einem Menschen das Sein aberkannt wird. Der US-amerikanische Philosoph und Commons-Aktivist David Bollier beobachtet: »Einhegung ist das Mittel, mit dem das Kollektive ins Private verwandelt wird, das Subjektive ins Objektive, und das Örtliche und Besondere ins Globale und Universale.«67 Der Turiner Philosoph Ugo Mattei sagt es noch radikaler: Bereits die konzeptuelle Aufteilung der Welt in Subjekte und Objekte führe dazu, dass beide Seiten nur noch abstrakte Ideen

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sind, und die lebendige Erfahrung, wie es ist, ein Individuum aus Fleisch und Blut zu sein, und damit ein Subjekt und ein Objekt zugleich, erstirbt.68 Die zerstörerische Kraft des Neoliberalismus, die lebende Subjekte von einer Teilhabe an der Allmende der Wirklichkeit und ihrer Mischung aus Praktiken und Gefühlen, Objekten und Sinnmomenten abzuschneiden, geht so weit, dass sie uns vergessen macht, was fehlt. Wie die Psychologen Miguel Benasayag und Gérard Schmit beobachten, ist die traditionell mit der Aufklärung verbundene Ideologie der Emanzipation in Wahrheit eine der Beziehungslosigkeit, der Kontrolle, der Dominanz.69 Sie ist nicht nur ungerecht und gefährlich, sie ist der Wirklichkeit wesensfremd. Diese Kommodifizierung im Geiste schlägt sich auf einer politischen Ebene nieder. Die Natur wird aus der menschlichen Welt vertrieben, obwohl sie uns immer noch nährt und erhält, obwohl sie alles produziert, was wir essen, und obwohl sie der Ursprung schöpferischer Energie bleibt. Jede Subjekt-Objekt-Spaltung teilt die Welt in Ressourcen und Profiteure. Die wahre Grenze zieht sich nicht zwischen Sachen und Menschen (oder Materie und Geschöpfen), sondern zwischen dem oder denen, die verbraucht werden, und denen, die von diesem Verbrauch profitieren. Wir leiden nicht nur an der Kommodifizierung der natürlichen und sozialen Welt. Wir leiden an einer Kommodifizerung der Begrifflichkeit. Wir leiden unter der Einhegung des Seelischen mit ihren Fiktionen von Trennung und Beherrschung, Außen (Ressource) und Innen (Akteur). Gegensätze wie die zwischen Ursache und Wirkung, Leib und Seele, Geist und Materie, allesamt Grundgedanken der Aufklärung, nehmen die Wirklichkeit als Geisel. Jede echte Erfahrung, die dieser Einhegung widerspricht, muss von ihr unschädlich gemacht werden. Dabei ist die Tragweite des Verbots einer Imagination unseres Selbst kaum klar. Sie ist versteckt wie die seelischen Mechanismen, die uns vorgaukeln, wir hätten alles im Griff, während wir emotional taub sind. Diese Taubheit aber ist den Überlebensmechanismen geschuldet, die nach einem Trauma zum Tragen kommen. Denn die

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Kolonialisation unserer Seele, unserer Fähigkeit zu sein, ist ein Trauma. Ein Landwirt, dem nichts anderes übrig bleibt, als sich das Leben damit zu verdienen, dass er durch Gifteinsatz, Niederhalten von Grünstreifen und Flurbereinigung eine Landschaft hervorbringt, die so ihren eigenen Tod inszeniert, kann darin nicht lebendig werden. Psychologen nennen das eine Double-Bind-Botschaft: Sie vermittelt unterschwellig das Gegenteil von dem, was sie äußerlich besagt. Wie ein mit Hass in den Augen gesprochenes »Ich liebe dich«. Der Double Bind ist das Kennzeichen totalitärer Herrschaft. Er heißt lächelnd zu lügen, empört seine Unschuld zu beteuern, während doch alle wissen, wer es war. Die Topographie des Nichtseinkönnens, in die wir unsere Landschaften durch die Landwirte verwandeln lassen, die verzweifelt ein Auskommen suchen, um leben zu können, ist selbst totalitär. Der totalitäre Herrscher verschuldet Tod, spielt sich aber als Retter des Lebens auf. Wie eine Landschaft, die für den Körper Nahrung produziert, indem sie die Seele verhungern lässt. Wir machen uns kein Bild davon, in welchem Maß unsere Sicht auf die Wirklichkeit durch die traumatische seelische Einhegung deformiert wird. Die Einhegung reicht vom Verschwinden sich selbst organisierender Natur aus unserem Alltag (ein Abschied in einer Radikalität, wie ihn sich die aus der Allmende ausgesperrten Dorf bewohner und Waldbauern vor ein paar hundert Jahren nicht hätten vorstellen können) über die Konzeption des eigenen Selbst als Biomaschine und der Deklassierung des Empfindens als »bloße Chemie«. All das sind Verbote des Seinkönnens. Das Nichtseinkönnen ist das verdeckte Zentralthema des Neoliberalismus. Es ist darum kein Wunder, wenn seine Herrschaft das Sein so vieler Wesen auslöscht – und wenn er sich in den Seelen vieler Menschen als die Unfähigkeit, so zu leben, wie sie es sich wirklich wünschen, ausdrückt. Der härteste Widerstand gegen den Kapitalismus muss also heißen, sich selbst das Recht zuzugestehen, Wirklichkeit zu sein.

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Die Gabe weiter schenken Ein Wirtschaftszweig, der heute besonders schnell Allmende vernichtet, ist die Fischerei. Dass wir die Ozeane von Leben entleeren zeigt, wie sehr wir vergessen, dass nicht Nehmen, sondern Geben die grundsätzliche Lebenshandlung ist. Denn das Meer ist der Ort des Geschenkes. Schon die ständige Annäherung der Wogen an die Felsen erscheint als Geben. Die Fähigkeit der See, das Sonnenlicht in schwellendes Leben zu verwandeln, hat etwas von der Magie, Geschenke auszuteilen, wo andere nur Knappheit sehen. Erinnern wir uns: Die Freiheit ist eine Gabe des Meeres. Das Meer ist nicht etwa schon selbst die Freiheit, sondern bietet sie uns an. Sie wird uns verliehen, wenn wir ihre Bedingungen verstehen und uns auf das einlassen, was notwendig ist, um sie zu erlangen. Eine Gabe zu empfangen heißt nicht, Wertvolles zu extrahieren, sondern glücklich zu sein. Wir können das verstehen, wenn wir uns nicht nur mit unserem analytischen Geist, sondern mit Haut und Haaren dem transparenten Fleisch der See überlassen, die ihre türkisen Muskeln spielen lässt. Wir wissen immer schon, was es ist, Wirklichkeit zu sein. Denn wir sind Wirklichkeit. Unser Gefühl, das Seinkönnen von innen ist, zeigt es uns. Das »Selbst-die-Welt-Sein« besteht weniger darin, ihre Materie zu sein, als darin, sich selbst zu verschenken, so wie wir uns selbst als Welt geschenkt wurden. Das aber ist keine materielle Leistung, keine Lieferung, sondern eine Geste, die Leben spendet, so wie auch uns Leben gespendet ist. Es ist eine Geste, die sich auf rein materiellem Wege fortpflanzen kann, wie die Sonnenenergie, die der Beginn jeder Gabe auf der Erde ist, aber ebenso in rein symbolischer Weise, solange sie mehr Leben ermöglicht. Selbst-die-Welt-sein ist eine Aktivität und keine Ressource. So wie auch Lieben eine Aktivität ist und kein Platz an der emotionalen Wärmelampe. Das Zentrum jeder Aktivität aber ist Geben, nicht Nehmen. Nehmen heißt Horten, Lagern, Überwintern, Einmotten, sich für schlechte Zeiten verbarrikadieren. Geben heißt,

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sich zu zeigen und sich zu verbinden, heißt, sich der Welt auszusetzen, weil diese Welt bereits durch mich hindurch spricht und nur sein kann, indem ich ihr diese Stimme verleihe. Der US-Philosoph und Schriftsteller Lewis Hyde hat das ursprüngliche Verhältnis der Menschen zu dem, was die Wirklichkeit gratis hervorbringt, in einem der wichtigsten Bücher über die Lebendigkeit, die im 20. Jahrhundert erschienen sind, beschrieben.70 Hyde meint, dass wir alle zentralen Kräfte, die Leben ermöglichen, als Gaben verstehen sollten. Es sind Geschenke – und nicht knappe Ressourcen. Die Sonne, die ihr Licht gratis verstrahlt, ist das Geschenk, auf dem die Vielfalt der Biosphäre beruht. Für jeden Einzelnen ist sein Leben primär Geschenk, mit dem alles beginnt. Gesellschaften, die in Subsistenzwirtschaft leben, haben das nicht vergessen. Um der Gabe gerecht zu werden, die man erhalten hat, so die Einsicht Hydes, gibt es nur eine Möglichkeit: sie weiter schenken. Nur wenn ein Geschenk nicht aufgespart wird, kann die Welt fruchtbar bleiben. Nur wenn man das, was einem verliehen wird, weitergibt, wird nicht unterbrochen, was Hyde den »Kreis der Gabe« nennt: das Wechselspiel aus dem Erhalt eines Geschenks, das aus der Fülle der Welt stammt, und dem Drang, selbst zur Fülle der Welt beizutragen. Es ist dieser Drang, den Singhs indische Dorf bewohner als Glück, den Wald aufleben zu lassen, erfahren. Es ist dieser Drang, der uns an die Brandung des Ozeans trägt, dessen Freiheit eine Gabe ist, ohne dass wir wissen, warum. Dieser Drang, dem anderen Raum zum Sein zu geben, nachdem man selbst mit dem Feuer der Gabe angesteckt wurde, ist nichts anderes als eine Praxis der Liebe. Das aktive Interesse, als das Fromm das Lieben identifiziert, ist ein Geben, das aus der Erfahrung der eigenen Fülle folgt. Aktivität heißt freilich Arbeit. Gabe meint gerade nicht Freibier. Und auch nicht unbedingt Gabentisch. Die Freiheit, welche die Gabe des Meeres ist, müssen wir uns erwerben. Der Wald will gepflegt werden. Gabe heißt somit, das Äußerste zu riskieren: nämlich die Wirklichkeit, das, was mir gegeben wurde, anzunehmen.

Kapitel 5 – Tauschen

Die Gabe ist das, was ich erhalten habe, ohne danach zu fragen, ohne dass ich es mir verdienen musste. Gabe heißt mehr als Begabung, mehr als Geschenk. Sie ist das, was »gegeben ist«, wie es in der Philosophie heißt  – das, was da ist, womit wir zu leben haben. Die Gabe schließt den Umstand ein, dass jeder mit einer bestimmten Realität auf die Welt kommt und einzigartigen Ereignissen begegnet. Die Gabe ist das Selbstsein, das in mir schlummert, auf dass ich es wecke. Dieses Wecken – und damit das Annehmen der Gabe – kostet Mühe. Es ist Arbeit, so wie auch die Entwicklung einer Begabung Arbeit ist. Dieses Handeln, das die Mühe des Existierens verkörpert, nennt Hyde die »Arbeit der Dankbarkeit«.71 Die Gabe sehnt sich danach, entfaltet zu werden, aber dafür will sie von uns Veränderung, Hingabe, Demut. »Ein Gedicht zu schreiben, ein Kind aufzuziehen, eine neue Infinitesimalrechnung zu entwickeln, eine Neurose aufzulösen, Erfindung in allen ihren Arten – all das ist Arbeit.« 72 Dankbarkeit zeigt sich aus dieser Perspektive nicht darin, einem Wohltäter mit einem Geschenk zu antworten, sondern die Mühe der Verwandlung auf sich zu nehmen, die es braucht, damit das ganz Eigene den anderen zuteilwerden kann. Damit das Echo auf die Gnade, sein zu dürfen, ebenfalls eine Einladung ins Sein ist.

Selbst Gabe sein Die Bewohner der Wälder im indischen Orisha, die Neera Singh begleitet, betreiben eine Ökonomie der Gabe. Diese erfüllt sich in der Diversität und Stabilität des Ökosystems und im Glück seiner Bewohner. Deren Handeln beschränkt sich nicht nur auf Nehmen, sondern drückt sich vor allem im Geben aus. Aus ihrer Perspektive gewähren sie mehr, als sie erhalten. Was sie dadurch erwerben, ist das Glück, am Leben teilzuhaben. Zu geben heißt, selbst zu einer Kraft der die Welt beseelenden Lebendigkeit zu werden. Hyde weist darauf hin, dass die zirkulierende Gabe eine lebendige Gemeinschaft erhalten kann, gerade weil sie nicht den Effizienzgesetzen des trennenden Kapitals, das ohne die Dimension

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der inneren Erfahrung auskommt, unterliegt. Die uralten Traditionen des Gabentausches, so Hyde, »bezeugen gesellschaftliches Leben, das durch Fühlen motiviert ist, und das gleichwohl durch Struktur, Dauer und Zusammenhalt geprägt ist.« 73 Was ist diese Gabe? In ihr geht es nie um das Haben, sondern darum, im Zentrum des Kosmos etwas auf blitzen zu lassen, was mein Handeln in diesem Moment als das Geschehen der Welt transparent macht. Das klingt wie schwerfällige Philosophie. Aber wir kennen diese Erfahrung. Sie ist das, was Psychologen mit »Kohärenz« oder Stimmigkeit bezeichnen. Wenn wir selbst Welt sind, fühlen wir uns richtig. Hyde betont, dass es im Inneren der Gabe nicht um ein Objekt geht, sondern um die Fruchtbarkeit selbst. Wer grundlos ein Geschenk erhält und groß genug ist, darauf mit Lebendigkeit zu reagieren, der verspürt nicht die Verpflichtung, etwas zurückzuzahlen, sondern der brennt darauf, Glück zu schenken, so wie er es selbst erfahren hat. Wer sein darf, der will sein lassen. Das ist die Erfahrung, Teil des Kreises der Gabe zu sein. Die Struktur der Wirklichkeit offenbart sich selbst. Dieses Drängen in die Offenbarung ist die primäre Gabe. Wem Sein zuteilwird, der brennt darauf, Sein zu gestatten, nicht als Abtrag einer Schuld, sondern als Antwort der Lust, sich im Zentrum der Wirklichkeit zu fühlen. Das ist, so merkt Hyde an, der Unterschied zwischen der Gabe und dem Kapital: Während dieses Profit verdient, schenkt jene Fruchtbarkeit.74 Das Erlebnis, fruchtbar zu sein, ist nichts anderes als das Gefühl, lebendig zu sein. Haushalten hat also in Wahrheit nichts mit der Befriedigung »materieller Bedürfnisse« zu tun. Bereits die Formulierung macht uns zur Maschine. Sie zieht den Zaun der Trennung durch uns selbst und suggeriert, es gebe wichtigere Bedürfnisse – einen vollen Magen etwa – und weniger wichtige – die eigenen Interessen, das geistige Leben, das mit der Materie nichts zu tun habe. Das geistige Leben aber ist die Verkörperung unseres Leibes im Austausch mit der Welt und deren Imagination durch diesen Austausch. Je nachdem, wie wir diesen Austausch organisieren, fällt auch das geistige Leben aus: Halten wir diesen Austausch

Kapitel 5 – Tauschen

für einen Ölwechsel, ist das geistige Leben entsprechend zweidimensional.

Liebe ist Allmende Aus dieser Perspektive können wir erkennen, wie weit Allmende reicht. Sie umfasst jede Form lebensspendender Bezüge. Auch die Familie ist eine Allmende und kein Wirtschaftsunternehmen. Sie wird durch den Tausch von Gaben zusammengehalten. Eine Familie ist ein Leben spendender Ort, weil sich die einzelnen Mitglieder in den anderen erkennen, sich helfen, zugunsten der anderen verzichten. Wenn die Wirklichkeit einer Familie produktiv ist und nicht toxisch, besteht sie nicht aus den Konsumenten einer Ressource, sondern wird gemeinsam durch die Bedürfnisse ihrer Mitglieder erzeugt. Darum ist sie ein Ort, der Leben hervorbringt, nicht nur die Kinder einer neuen Generation. Gelingt Familie, verkörpert sie das Vertrauen darauf, lebendig sein zu können, und das Glück über die Regungen dieser Lebendigkeit. Jede Beziehung ist Allmende. Damit eine Beziehung lebensspendend ist, darf es nicht darum gehen, dass jeder der Partner möglichst viel Nutzen aus ihr zieht. Beide müssen sich bemühen, das Gemeinsame der Bindung aus ihrer jeweils eigenen Verantwortung hervorzubringen. Dieses Gemeinsame umgreift und trägt wiederum beide. Wer hat Beziehung schon einmal unter diesem Aspekt erfahren? Wer hat versucht, zuerst zum gemeinsamen Guten beizutragen, und nicht knurrend dem anderen ein Stück Feld überlassen? Schwierigkeiten führt diese Sichtweise nicht sofort auf das persönliche Versagen eines der Beteiligten zurück. Es sind notwendige Komplikationen, wenn Ganzes entstehen will, das sich in Individualitäten entfaltet. Betrachten wir also unsere Partnerbeziehung als Allmende. Betrachten wir die Beziehung zu unserem Kind als Allmende. Ja, vielleicht sollten wir verstehen, dass ­ iebe als solche in Wahrheit eine Allmende ist. Lieben heißt, die L sich dem Kreislauf der Gabe ganz zu überlassen. Umgekehrt heißt nicht zu lieben, sein Gegenüber aus der Allmende auszuschließen.

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Dieser Ausschluss verwandelt das, was gemeinsam entstand, in eine Ressource, die zur Ausbeutung freigegeben ist. Die Grundbedingung für produktive Gegenseitigkeit besteht darin, nichts zu besitzen. Schon mein Körper gehört nicht mir. Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, bringt sich jedes Lebewesen als Stoffwechsel hervor. Die in der Biosphäre kursierende Materie ist mir so lange verliehen, wie ich sie als Teil meiner selbst nutze. Danach wird sie Teil eines anderen Wesens. Ein Körper zu sein bedeutet, seinen eigenen Körper nicht zu haben. Es heißt, sein zu können, indem ich besitzlos bin, indem ich über meinen Stoff nicht befehlige, sondern dieser Stoff jeweils nur zu einem bestimmten Moment bin. Würde ich die Materie, aus der ich bestehe, festhalten, würde ich also den Stoffwechsel mit den anderen beenden, würde ich aufhören zu teilen, wäre ich tot. Besitzlosigkeit folgt aus dem Umstand, dass wir unsere Materie nicht haben, sondern dass wir Station einer schöpferischen Kette von Verwandlungen sind. Der junge Marx hat diesen Zusammenhang erkannt. In seinen frühen Werken hat er Bausteine zu einem Weltbild der gegenseitigen Verkörperung gefunden. Marx geht es um das Leben, das wir lebendiger machen müssen, um wirklich zu sein und um es wirklich zu machen. Darin ist er nicht »Materialist« oder ab­ strakter Theoretiker. Er ist zutiefst Humanist.75 Dieser Humanismus stellt sich nicht gegen die Natur, wie es unter der Devise »Im Zweifel für den Menschen« üblich ist. Vielmehr sieht er, dass der Mensch nur mit Natur, nur als Natur gedeihen kann. So meint Marx: »Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben. Dass das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammen hängt, hat keinen anderen Sinn, als dass die Natur mit sich selbst zusammen hängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.« 76 Besitzlosigkeit ist somit eine Weise, wie wir erfahren können, selbst Natur zu sein. Besitzlosigkeit ermöglicht uns, am Stoffwechsel der Wirklichkeit teilzunehmen. Besitzlosigkeit gestattet uns zu fühlen. Sie erlaubt uns zu lieben.

Kapitel 6 – Schöpfen »Künstler haben keine Wahl, als ihr Leben auszudrücken.« A nne Truit t77

Im Spätsommer 2016 besuchte ich eine Ausstellung im Kunstmuseum von Rovereto, einem Städtchen unweit des Gardasees. Die Schau hieß »Die Maler des Lichts« und zeigte Arbeiten italienischer Künstler seit dem 19. Jahrhundert, die dem Licht eine besondere Rolle zuwiesen. Licht, das die Bilder verdüsterte oder strahlen ließ und ihnen oft ein unbegreifliches Eigenleben verlieh. Besonders froh war ich, dass ein paar Werke von Giovanni Segantini an den Wänden hingen. Segantini, 1858 ebenfalls nahe dem Gardasee in Arco geboren, früh mutterlos, vom Vater ungeliebt, bis zu seinem Tod unstet durch Norditalien und die südliche Schweiz wandernd, hat wie wenige andere dem Licht das Zentrum seiner Kunst eingeräumt. Seine Bilder sind Licht. Segantini prägte eine ganze italienische Kunstepoche. Der »Divisionismo« erinnert an den französischen Spätimpressionismus und hier besonders an den so genannten Pointillismus. Die Maler zerlegen in ihren Bildern die Gegenstände so in ihre Spektralfarben, dass der Eindruck eines durchleuchteten Flirrens entsteht, eines Strahlens, das sich von allein aus dem Bild hebt. Segantini verbrachte seine letzten Lebensjahre im Engadin. Hier malte er seine legendären Alpenbilder. Die »Natur« oder das »Alpen-Tryptichon« zeigen die Berge aufgelöst in Leuchten, ihre von Schnee bedeckten Kämme bereits ein Teil des Himmels. Die Farben zeigen kaum noch Dinge, sondern wirken als schwer zu erklärende Kraft. Wenn ich Segantinis Werke sehe, habe ich

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immer das Gefühl, von seinen Farben fragend angeblickt zu werden. Immer löst sein Licht bei mir eine Form von Sehnsucht aus. Eine Sehnsucht wonach? Vielleicht danach, Antwort zu geben. Sagen, wie es ist, gesehen zu sein. Ist diese Sehnsucht überhaupt ein Gefühl? Oder ist sie das Licht selbst, das aus Segantinis Bildern fällt? Die Farbe, die Segantini angemischt hat, um sie auf der Leinwand in winzigen Punkten anzuordnen? Plötzlich hatte ich die Idee, dass es in einem Kunstwerk nicht um den Inhalt geht, nicht darum, eine Botschaft zu vermitteln oder eine Einsicht. Diese Rolle hat es auch, mal mehr und mal weniger, aber sie bildet nicht das Zentrum. Das Zentrum besteht darin, dass etwas weitergegeben wird, ein Funke, der einen trifft wie der Blitz, eine überwältigende Süße oder ein Schmerz, vehement wie ein elektrischer Schlag. Das Kunstwerk ist da, diesen Funken weiterzugeben. Ihn zu verschenken.

Schöpfen heißt geben Warum malte Segantini seine Bilder? Warum setzt sich ein Dichter nieder und versucht, etwas zu sagen? Weil er mit dem, das ihn berührt, erregt und erfüllt, nur verbunden sein kann, indem er es weitergibt. Mit jemandem oder mit etwas verbunden zu sein, heißt, dieses als eigenes Sein zu erfahren und sich zugleich dessen unabhängiges Sein zum Anliegen zu machen. Segantini konnte dem Geschenk nur gerecht werden, indem er ein Vehikel fand, das zum Geschenk wird, das bei anderen, die es beobachten, den gleichen ekstatischen Blitz auslöst, den der ursprüngliche Funke entzündet hat. Segantini malte, um weiterzugeben, was ihn in den Alpen getroffen und getragen hatte. Im Schenken dieses emotionalen Funkens liegt ein Echo jenes ersten und wirklichen Funkens, des Lichts, das die Schneefelder der Höhen gleißen lässt, das sich der Pflanze schenkt, damit diese wächst, damit diese Blätter und Wurzeln und Zucker und Stärke produziert und die so etwas weitergeben kann, was andere zur Ekstase anspornt. Segantini malte nicht Gegenstände (die Berge, die Wiesen, den Schnee, die alten Frauen), sondern er nutzte das Licht als Echo, um in eine

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Dimension vorzustoßen, die zwar keinen Körper hat, aber nur durch den Körper zu erfassen ist, weil wir selbst Körper sind und nur als Körper wahrnehmen können. Segantinis Bilder verdeutlichen, dass das Geben im Zentrum des Schöpferischen steht. Das Geheimnis besteht darin, dass die eigene Identität erwacht, wenn ich meine Gaben so entfalte, dass ich sie weitergeben kann. Das, was in mir wirklich ist, möchte genährt werden. Das Produkt dieser Nahrung – ein Talent, eine Haltung zum Sein – bringt dann wieder Gaben hervor. Ein Schriftsteller nährt seine Gabe zunächst dadurch, dass er sein Begehren erfüllt: Er liest, was andere geschrieben haben, und sehnt sich danach, so wie sie mit dem, was er sagt, anstecken zu können. Oft, so beobachtet Hyde, entsteht der Wunsch, Kunst zu produzieren, durch den Kontakt mit Kunst: Ein Kunstwerk beschenkt mich mit Lebendigkeit und ich möchte mich ihr adäquat zeigen. Weil ich von Dichtung angerührt bin wie vom Tau, in dem der Morgen glitzert, will ich dichten. Der Schriftsteller beginnt, alles Geschriebene aufzusaugen, beginnt zu üben, ist frustriert, überlegt aufzugeben, übt weiter, bis eines Tages etwas da ist, was zur Gabe taugt. Etwas, das er verschenken kann, damit es andere mit Leben infiziert. Indem ich darauf vertraue, mein eigenes Sein zu entfalten, bin ich in der Lage, anderen etwas zu geben. Dafür muss ich die Gabe an mich selbst angenommen haben. Ich muss mich meiner Individualität, ihren Bedürfnissen und ihren Talenten, annehmen und ihre Eigenart nähren. Ich muss mir erlauben, zu sein. Dann wird mich dieses Sein automatisch dazu führen, dass ich Sein spenden möchte, weil echtes Sein immer fruchtbar ist. Vielleicht ist das der zentrale Satz jeder Heilung: Echtes Sein ist fruchtbar. So teilt es sich anderen mit, auch ohne dass diese explizit darin gedacht sind. Um teilen zu können, muss ich sein wollen. Wenn ich sein kann, will ich teilen. Im Kunstmuseum von Rovereto mit seinen weißen Wänden, an denen die ausgestellten Bilder hingen, kam es mir vor, als ginge es in Wahrheit ausschließlich um diese Dimension. Vielleicht ist ein Bild nur die Erinnerung, dass diese Dimension existiert und uns trägt. »Ich war darin, ich möchte, dass auch du darin

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sein kannst«, diesen Zweck erfüllt das Bild. Oder das Musikstück. Oder das Gedicht. Oder der Wald im indischen Orisha, dem Fülle zugetraut wird. All das ist Lebensrealität, Subsistenz. All das ist Allmende, die einlädt, an ihr teilzunehmen.

Der Liebe gerecht werden Der Dichter René Char, enger Freund des Philosophen und Schriftstellers Albert Camus, sagt: »Das Gedicht ist die Liebe, verwirklicht durch die Sehnsucht gebliebene Sehnsucht.« 78 Was im Kunstwerk weitergegeben wird, ist Liebe. Sie wird dadurch weitergegeben, dass die Sehnsucht sich gerade nicht erfüllt, sondern dass sie Ausdruck bleibt, der wiederum Sehnsucht hervorruft. Sie erlischt nicht in einer Handlung und damit in einem Gegenstand, sondern sie wird als solche ein Gegenstand. Dieser Gegenstand ist das Kunstwerk. Der Umstand, dass er zugleich Material ist und durch dieses Material etwas werden kann, was keinen Körper hat, eine Erfahrung in ihrer Reinheit, macht den Moment der Poesie aus, den Moment des Schöpferischen. Dieses existiert als Schwere und Greif barkeit und ist doch zugleich dieser Schwere ganz enthoben, um etwas über die Verfasstheit von Schwere und Greif barkeit zu zeigen. Es ist ein Außen, das nur weitergegeben werden kann, weil es wirkt, indem es ein Innen zeigt. Das Leuchten der Bilder Segantinis im Museum von Rovereto brachte mein Herz zum Klopfen. Es erweckte in mir Verlangen, nicht danach, in Schönheit zu baden, sondern selbst dieser Schönheit, dieser produktiven Energie gerecht zu werden. Vor vielen Jahren habe ich notiert, dass man verliebt sein müsste, um der Fülle zu antworten. Es war an einem Juniabend in den Hügeln oberhalb von Arezzo, in der lauen Luft zwischen Ölbäumen, den Blüten von wilder Möhre und den Glühwürmchen, die im Blau blinkten. Ich spürte das Verlangen, Sein zu stiften. So auch jetzt: Was mir im Licht Segantinis leuchtete, war mein Verlangen danach, zu geben. Nicht irgendeine Gabe, sondern die, mit Leben angesteckt zu sein. Die Sehnsucht, von der Char spricht, ist die, selbst lebendig zu werden, ansteckend vor Leben.

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Im Zentrum der Erfahrung des Schöpferischen steht, dass sich etwas mit einem leisen Ziehen meiner bemächtigt. Darin drückt sich das Begehren aus, der Erfahrung durch Schöpfung gerecht zu werden. Es geht darum, dass etwas weitergegeben wird, und nicht was. Das Zentrum des Kunstwerks, das Zentrum der Kreation liegt im Umstand des Gegebenseins selbst, im Faktum, dass Gabe ist. Das ist seine Energie. Und allein das kann es weitergeben: das Leuchten der Tatsache, dass Gabe ist. Das ist das Prinzip des Schöpferischen: dass ich mir in der Gabe des Lichts selbst als Welt geschenkt werde. Schöpferisch sein heißt, sich als Welt zu erfahren, aus der Sehnsucht dieser Erfahrung sich selbst als Welt zu betätigen, sich selbst zu Welt werden zu lassen, und dieses Weltsein auch anderen zu ermöglichen. Schöpferisch sein, auf diese generelle Weise ausgedrückt, ist die allgemeine Regel, die sich unter anderem im Spezialfall der Eltern realisiert, die ihrem Kind den Raum zu sein einräumen. Es ist das Gesetz der Wirklichkeit. Es verwirklicht sich in der Regel, dass Körper sich einander zur Verfügung stellen, um Individuen sein zu können.

Schöpfen heißt Empfangen Lewis Hyde hat den Zusammenhang von Kreation und Gabe als Arbeit beschrieben. Echte Dankbarkeit ist für Hyde aktives Tun. So schreibt er: »Ich möchte Dankbarkeit als jene Arbeit betrachten, welche die Seele unternimmt, um die Verwandlung zu ermöglichen, nachdem eine Gabe empfangen wurde.« 79 Sie ist aktives Interesse, das sich im schöpferischen Handeln ausdrückt. Folgen wir Hyde, ist jede Gabe Produkt seelischer Arbeit. Etwas wird empfangen, ein Funke Begeisterung springt über, angesichts eines unerfüllten Stückchens Schönheit beginnt das Ziehen im Herzen. Die Schönheit ist eine Leerstelle, die sich danach sehnt, mit meiner Lebendigkeit ausgefüllt zu werden. Die Schönheit einer ins Brautweiß der Gischt zerspringenden Welle verzehrt sich in mir nach einer Antwort, die diese Erfahrung birgt und transportiert. Dieses Sehnen ist für Hyde die erste Stufe des »Kreises der Gabe«.80

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Das Quicklebendige des Schaumatems kitzelt meine Lebensgier. Werde ich lebendiger, das heißt produktiv, suche ich Verbindung, lasse ich Berührung zu, gebe ich Erlaubnis zum Sein, dann werde ich ein Stück weit der Atem, der durch die Welle spricht. Dieses Entfalten meiner Lebendigkeit ist freilich Arbeit. Denn ich muss dieser Lebendigkeit eine Form erfinden, ich muss anderen Raum geben, ich muss Verbindungen knüpfen und ausbauen. Nehme ich die Herausforderung an, gebe ich mich also der Arbeit und ihrer Mühe hin, dann entsteht die nächste Stufe des Gabenkreislaufs. Es ist die Gabe des Gärtners, des Vaters, des Pflegers, des Handwerkers, der nicht locker lässt, auch wenn er zum Umfallen müde ist. Für Hyde heißt, eine Gabe wirklich zu empfangen, die Arbeit auf sich zu nehmen, die mit der Verwandlung durch das, mit dem ich beschenkt wurde, angestoßen wird. Dabei entsteht die dritte Stufe der Gabe. Sie ist vielleicht ein Werk, vielleicht eine Konstruktion, vielleicht ein Garten, der von selbst wachsen kann, vielleicht ein Mensch, der in der Lage ist, sich Lebensrecht einzuräumen. Die dritte Stufe im Kreislauf der Gabe besteht in der Einladung in die Wirklichkeit, welche jeder Akt der Schöpfung ausspricht. Das ist das Wesenhafte, die Steigerung des Grades, in dem die Gabe Leben spendet, während sie zirkuliert. »Die Fruchtbarkeit ist der Kern der Gabe, ihr Zentrum«, sagt Hyde.81 Es ist die Fruchtbarkeit des Gebens selbst, das Wirklichwerden der Wirklichkeit-als-Ich. Unser Körper spannt uns mitten in dieser Wirklichkeit auf, er ist diese höhere, größere Ordnung, indem er von sich selbst aus ganz ein Ich sein möchte und darin Verbindung mit der Totalität schafft. Dieses ursprüngliche Wissen, das Kinder noch haben, ist uns Erwachsenen verboten. Das Wissen lautet, dass ich selbst die Wirklichkeit bin, dass mein fühlendes Herz in einem verwundbaren Körper bereits die Totale ist, dass ich in dem Maße wirklich bin, wie ich lebendig bin. Im Licht der Bilder Segantinis wird nichts als dieses simple Vertrauen ausgetauscht. Mir hat das Licht Segantinis aus dem Meer entgegengeleuchtet, aus dem Silberspiegel unter einer hohen Sonne, aus dem Türkis der angespannten Wellenrücken, bevor sie auf dem Fels

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zerspringen und sich in einem Weiß entladen, das keinen Makel hat. Ich bin, als der Wind am stärksten war, den schmalen Küstenweg nach Nervi hinausgegangen und habe im Dunkeln still gejauchzt, wie die schwarzen Wogen am Küstengebirge ihre Hände gerungen haben und dabei in sämige Gischt zerplatzt sind. Ich habe die Lust am Splittern und Fließen, am Rühren und Gurgeln des Meeresschaums in meinem Körper gespürt, bis mir klar geworden ist, dass das die Lust ist, wirklich zu sein. Ich habe die Lust der Brandung als das Glück verspürt, zu sein, was ich bin: Mineral und Wasser. In diesem Moment packte mich ein großes Vertrauen. Was wollte ich noch, dass mein Geist, so oft zerquält, überlebe, wenn ich doch jederzeit der Geist dieser Welt sein konnte, nämlich ihr Stoff in seiner ganzen Lust. Ich atmete mit den Wellen ein und aus. Ich war, was geschenkt ist und nur geschenkt, was das gleiche Ding ist in allen Formen, innen und außen, und nur ein einziges Ding, welches danach begehrt, dass ihm Lebendigkeit geschenkt werde durch jedes und jede, die lebendig werden, also begierig zu schenken. Ich war das, was Hyde als »das flüssige Licht, den Nous, den Weltatem, die Fruchtbarkeit der Natur, das Gefühl, dass die Seele aufgeht« beschreibt.82 Diese Formulierung, dass die Seele aufgehe, das ich mich als »the soul in ascent«, als die Seele im Aufstieg erlebe, hat Hyde bei Ezra Pound gefunden. Der US-amerikanische Dichter, der lange in Italien gelebt hat, meinte: »Ich bin an Kunst und Ekstase interessiert, Ekstase, die ich definieren würde als die Empfindung der Seele im Aufstieg, und Kunst als der Ausdruck dieser Ekstase und deren einziges Mittel, sie an andere weiter zu geben.«83 Diese Ekstase ist nicht allein meine. Ich erfasse durch meine Seele, meine Lebendigkeit die Ekstase des Ganzen, die in mir zu sich kommt.

Die Wahrheit sagen Es geht darum, der Lebendigkeit, die sich zu erfahren wünscht, Möglichkeit zu spenden. Und dieses Schenken macht mich, der sie gibt, lebendig, stiftet mir seine Lebensgabe, um der Lebendigkeit als solcher ihren Platz einzuräumen.

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Hier braucht Kunst den Gegenstand nicht mehr. Sie kann abstrakter Ausdruck sein, absoluter Ausdruck, so wie er es bei den Malern Wassilij Kandinsky und Paul Klee wurde, deren Werke nicht durch bewegende Darstellung Ekstase zu transportieren suchen, sondern bereits selbst an ihr teilhaben, selbst Instanzen des Seins sind. Sie sind, wie Klee sagen würde, nicht tote Enden der Gestaltung, sondern Gestalten, in denen sich die schöpferische Potenz ausdrückt, urwüchsig wie Wesen der Natur. Im Schöpferischen zeigt sich, was Wahrheit ist. Die Dimension des Selbstseinkönnens ist ihre Voraussetzung. Das Selbstseinkönnen ist bereits das genuin Schöpferische. Denn Selbstseinkönnen heißt, die Gabe, die in der rasenden Individualität des eigenen Selbst liegt, anzunehmen, ohne sich ihrer zu schämen, ohne sie zu verstecken. Sie aber anzunehmen heißt unweigerlich, sie weiterzugeben. Was man nicht verbirgt, zeigt sich und drückt sich aus. Selbstsein heißt somit bereits Geben. Ich bin voll und ganz ich selbst, und das ist mein Geschenk an die anderen: Ich zeige mich und gestatte, ganz gesehen zu werden. In diesem Ganz-gesehen-werden mache ich zugleich mir selbst und dem anderen das Geschenk, sein zu können. Wird die Existenz angenommen, liegt in ihr bereits eine fundamentale Wechselseitigkeit. Diese ist eine Einladung an den anderen, zu sein, dadurch, dass ich selbst das eigene Sein annehme. Echtsein verlockt zum Echtsein. Die Erfahrung des Schöpferischen kann einen kathartischen Prozess einleiten, in dem die Seele Heilung findet. Seinkönnen steckt an. Echtheit steckt an. Darum steckt Kunst an. Wer sein kann, und wer als Künstler sich in diesem Seinkönnen durch sein Werk oder seinen Auftritt ganz zeigt, gibt seine Verwundbarkeit als Geschenk. Dadurch, dass wir in unserem inneren, wirklichen Selbst berührt werden, werden wir dort gesehen. Wir selbst dürfen sein. In uns wächst der Wunsch, dieses Sein zu zeigen und mit ihm andere zu berühren. Für den Musiker Peter Elkus ist es »keine Überraschung, dass Ausdruck ein wichtiger Weg zur Heilung ist. Er liegt der Psychoanalyse, der Psychotherapie und vielen anderen Heilungsformen zugrunde.«84 Elkus hilft Sängern, sich in ihrer Kunst als sie selbst zu zeigen. Gelingt das, kommt es zum »Wendepunkt«: Die

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Selbsterfahrung schlägt vom Nehmen ins Geben um. Elkus sagt: »Das bewusste Verlangen danach, den Ausdruck unserer innersten Gedanken und Gefühle voran zu treiben, ist die Essenz des Wendepunktes. Es funktioniert künstlerisch, und es funktioniert im Leben.«85 Das Selbst ist schöpferisch. Das Schöpferische ist die Kunst, sich zu zeigen. Hier sehen wir, wie sich der Kreis der Gabe ein Stück weitergedreht hat: Es ist nicht allein so, dass das Geschenk, die Einladung an einen Menschen, ganz zu sein, dessen Selbstausdruck und individuelle Erfahrung als Sein ermöglicht. Umgekehrt ist es das Seinkönnen von jemand anderem, das selbst zu einer Gabe wird, die dazu einlädt, sich ganz anzunehmen. Auf dieser Ebene wirkt das Schöpferische, wirkt das Kunstwerk als Traumatherapie. Es ist eine Befreiung des gesunden Wunsches, gesehen zu werden. Für Elkus liegt große Kunst darin, »[d]ass jemand eine tiefe Wahrheit transportiert, eine Wahrheit, die aus seinem Selbst kommt und die er durch dieses Selbst ausdrückt«.86 Nur wenn der Künstler mit seiner Wahrheit in Berührung ist, erlaube er den Menschen im Publikum, mit ihren eigenen Wahrheiten in Kontakt zu kommen. Das, so meint Elkus, sei Meisterschaft. Die Wahrheit, die am tiefsten in unserem Selbst bzw. unserer Seele liege, so glaubt der Musiker, sei unser fundamentales Bedürfnis, Liebe zu geben und zu empfangen.87 Es ist die Sehnsucht nach dem Sein-in-Verbindung selbst.

Poesie stiftet Welt Im letzten Jahrhundert betonten manche Philosophen, allen voran Martin Buber und Emmanuel Levinas, dass unser eigenes Sein uns allein durch die Gegenwart des anderen ermöglicht wird. Über seine Wirklichkeit verfügen wir nicht. Wir können sie nur als Gabe erhalten. Welt, so Martin Buber, erfahren wir nur in der Begegnung. Das Dialogische, das In-Beziehung-sein geht nach der Meinung dieser Philosophen dem Selbstseinkönnen voraus. Es verantwortet sich vor dem radikal anderen. Wir können an dieser Stelle hinzufügen: Seinen letzten Grund hat dieses Gegenüber darin, dass Wirklichkeit Allmende ist. Schöpferisch sein

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heißt, diese Allmende sichtbar zu machen, uns stärker in ihr zu verwickeln, sie durch unsere Teilnahme zu intensivieren, ihre Inklusionsmöglichkeiten zu vergrößern. Es heißt, das Fleisch der Welt im Schwellen des eigenen Fleisches zu erfahren und zu feiern. »Rühmen«, hat Rilke das genannt, der Poet, der über sich selbst schrieb, »ein zum Rühmen Bestellter« zu sein. Rühmen aber heißt, das Licht weiterzugeben, weil es geschenkt wurde. Es bedeutet schöpfen, und schöpfen heißt, Fleisch der Welt zu sein, es zu wissen und es zu zeigen. Es heißt, Welt als Außenseite und Materie zu sein, so die Lust an ihrem Körper zu sein, dass an diesem Körper ihr Innen aufgeht, ihre Sehnsucht, sich als Materie zu erfahren und somit wirklicher zu werden. Das In-Verbindung-Sein erschafft eine Innenseite. Ja, In-Verbindung-selbst-Sein ist das Kriterium, das »Innensein« ermöglicht. Damit meine ich das Betroffensein, den Umstand, Subjekt einer Erfahrung zu sein, die sich nicht in der Materie und ihren kausalen Beziehungen erschöpft, sondern sich als Materie erfährt, der es um sich geht, der es auf sich ankommt. Erst dadurch, dass Sein geteilt ist, und somit unvollkommen, wird diese Sehnsucht möglich. Nur indem Selbstsein gelingt, kann diese Sehnsucht sich zeigen. Sein, das sich durch die Verbindung mit dem anderen als Individualität erfahren und zeigen kann, ist Sein nicht als Körper und Ausdehnung, sondern Sein als Betroffenheit, als Standpunkt, als Selbst. Das Schöpferische, das Selbstsein verschenkt, erweitert somit auch die Möglichkeiten dieses Innerlichen. Jedes Kunstwerk transportiert es. Jedes Kunstwerk ist eine Tür in diesen Raum. Es ist die Bestätigung, dass ich durch sie hindurchschreiten kann.

Der poetische Raum Ich bezeichne diese Innenseite als »poetischen Raum«.88 »Poetisch« darum, weil etwas Erstaunliches passiert, wenn ich mir eigenes Sein durch die Verbindung mit einem anderen ermögliche: Ich verliere mich zu einem Stück, während ich mich durch etwas

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Fremdes neu gewinne. Die Beziehungen sind nicht kausal, berechenbar, festgelegt, sondern in jedem Moment weltstiftend. Ein poetisches Verhältnis ist das einzig mögliche Verhältnis, den anderen durch das eigene Selbst zu verstehen–und das eigene Selbst durch den anderen. Es ist die Möglichkeit, den Mohn, die wirkliche Pflanze, durch den Klang des deutschen Wortes M-o-h-n zu verstehen, und ihn bereits wieder ganz zu verwandeln, wenn ich, italienisch, p-a-p-a-v-e-r-o sage. Ich äußere eine von den Lippen gebildete Tonfolge, und darin ist die Blume, in der das Leben ist, das ich in mir erfahre. Nur indem ich den anderen in etwas von mir Geäußertes verwandle, kann ich mich mit ihm verbinden. Edouard Glissant beharrte darauf, dass in unserer Welt der Beziehungen Poesie die einzige Logik sei. Poesie drückt etwas durch das aus, was es nicht ist, zeigt Sein durch radikales Fremdsein. Im Schöpferischen erfährt sich Selbstsein, indem es sein eigenes Fremdsein imaginiert. Es wird seiner selbst inne, indem es sich in dem, was es nicht ist, zum Ausdruck bringt. Anders ist Verbindung nicht möglich, als dass sich das eine durch das andere verwandelt. Das Gefühl, in Verbindung zu sein, ist dann das Erlebnis, diese Verwandlung selbst zu sein. Auch das ist ein Aspekt des Seinkönnens: Verwandlung zu sein. Sich verwandeln zu können. Die poetische Erfahrung ist also die Erfahrung des Ganzen, verwandelt durch das je individuelle Sein. Sie ist die Erfahrung, alles zu sein, indem ich die einzigartige Ausnahme bin. Ganzes Sein durch radikales Teilen. Hier zeigt sich eine Reihe von Erfahrungsweisen des Schöpferischen. Sie alle enthüllen die Erfahrung einer Verwandlung des Ganzen in den Kern des eigenen Ich. Schöpferische Erfahrung, die Erfahrung von Schönheit oder Poesie zeigt somit –– –– –– –– ––

das Ganze in individueller Verwandlung, das Innere, gesehen durch ein Außen, eine Form, die ein Gefühl übermittelt, die Übersetzung des Körpers in subjektive Bedeutung, ein Ding, das physisch denselben Effekt hat wie das, was es bedeutet,

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–– den Ausdruck von etwas durch das, was es nicht ist, mit dem es aber in inniger Verbindung steht, –– das Ganze in einem beliebig kleinen Fragment, –– etwas, das sich dadurch bestätigt, dass es nicht es selbst bleibt, –– die gleichzeitige Verwandlung eines Einzelnen und des ­Ganzen, –– einen individuellen Geschmack der Unendlichkeit.89 Schöpferisch sein heißt, ein anderer so zu werden, dass man neu der Alte ist. Es heißt, jemandem so zu helfen, dass einem selbst geholfen ist. Jemanden so größer machen, dass man selbst wächst. Auf eine solche Weise fremd werden, dass man ganz selbst wird. Im Abschnitt über das Atmen haben wir gesehen, dass diese Dimensionen schöpferischer Erfahrung nicht der menschlichen Phantasie allein entspringen. Es sind keine künstlerischen Metaphern, sondern existentielle Existenzvollzüge. Der Körper ist bereits Sein im Teilen, kontinuierliche Verwandlung, die Erfahrung, Selbst zu sein, indem ich das andere werde. All diese Aspekte stehen im Zentrum des Stoffwechsels. Existenz als solche, als Körper, ist darum bereits genuin poetisch. Seinkönnen ist poetische Existenz, im Umfassenden des Fleisches, nicht in der Wahl des Intellekts. Und darum zeigen uns Körper den poetischen Raum. Es sind die Körper der anderen Wesen, die für uns den Zutritt verbürgen. Es sind die fremden Leiber, die einen fleischlich berührbaren Weg in den poetischen Raum eröffnen. Die Singammer, die ihre Melodie vom schwankenden Stiel einer Küstenblume im späten März flötet, in einer Schlucht im Norden Kaliforniens, die zum Meer führt, während der böige Wind ihr Lied forttreibt und wieder heranträgt, weiß nicht. Sie teilt nichts mit. Sie singt nicht über die Wirklichkeit. Sie singt als die Wirklichkeit, als eine Kraft, in welcher sich die schöpferische Dimension ausdrückt, welche unser wahrer Ort ist, die Körper und Ideen umgreift und die Energie liefert, durch die beides einander befruchtet. Sie singt als das Ökosystem, das Allmende ist, das uns darum enthält und hervorbringt.90

Kapitel 6 – Schöpfen

Allmende als Poesie Die Allmende ist dieser poetische Raum. Sie enthält die Beziehungen, aus denen Innerlichkeit hervorgeht, indem in ihnen Sein geteilt ist. Wir können fühlen, was es heißt, Teil des poetischen Raums zu sein. Dieses Gefühl zeigt sich uns als Stimmigkeit und Richtigkeit. Das Gefühl von Wirklichkeit heißt, uns als poe­ tischen Raum zu erfahren. Wirklich sein ist eine Emotion. Die Allmende spannt einen Innenraum auf, den wir kennen, weil wir ihn bewohnen. Allmende ist Sein durch Teilen, und darum ist sie Außen als Innen, die Welt der Körper und der materiellen Bezüge als Welt der erlebten Bedeutungen und des Gefühls. Ein Kunstwerk legt das offen, es verbürgt, dass Außen Innen ist. Es kommt darauf an, dass es selbst diesen Umschlag vollzieht, um so zu garantieren, dass dieser Umschlag möglich ist, dass die Wirklichkeit ein Innen ist und wir darin enthalten sind, indem wir auf ihre Gaben mit Sein antworten. Das Schöpferische heißt, durch den Kreis der Gabe die Sehnsucht der Wirklichkeit nachzuvollziehen, sich als Sehnsucht zu zeigen. Es geht darum, dass diese Innerlichkeit sich zeigen kann, nicht von welcher Beschaffenheit sie ist. So wie es darauf ankommt, dass man einem Kind Raum zu sein schenkt und nicht darauf, womit es ihn füllt. Wie sehr sich dieses Innere verwirklichen kann, wird von allen Körpern verstanden. Darin, wie sich in jedem Moment Lebendigsein verwirklicht, besteht das universelle Esperanto, das jedes Wesen versteht, die Sprache, die in Körpern geschrieben ist und die aus Kunstwerken spricht. Aus diesem Grunde kann der Pariser Künstler, Schriftsteller und Buddhist Fabrice Midal über das Selbstverständnis der antiken griechischen Dichterin Sappho schreiben: »Sie singt, sie dichtet, das heißt, sie liebt.«91 In vollem Maße lebendig zu sein ist gleichbedeutend mit einer Praxis des Liebens. Ganz leben ist immer lieben. Diese Liebe ist zugleich immer schöpferisch. Dass sie schöpferisch ist, bedeutet, dass sie sich mitteilt, dass sie ansteckt.

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Die Gabe als Einladung Die Momente, in denen ich ein Gedicht schreiben möchte oder in denen ich einen für mich wichtigen Eindruck notiere, sind Augenblicke der intensiven Liebe für eine Situation, für ein Ding, für einen Menschen. Zum Wesen der Liebe gehört, dass ich mich in dieser Liebe zeigen möchte. Ich möchte mich einem anderen Menschen, der mir etwas bedeutet, in meinem Lieben zeigen. Und dieses Zeigen sagt: »Sieh, das liebe ich!« Es sagt auch: »Sieh, dich liebe ich!« Denn auch das Glück des eigenen Liebenkönnens teilen zu wollen, ist ein Akt der Liebe. Ohne ihn gibt es keine Intimität. Der Paarforscher John Gottman hat festgestellt, dass Bindungen abreißen, wenn die Partner dem anderen ihr Glück nicht zeigen. Nach Gottman ist es weniger wichtig, sich in schwierigen Situationen zu trösten, als seine Freude miteinander zu teilen. Lieben hat zum Kern, dass sich in ihm offenbaren darf, was die Seele aufgehen lässt. Auch Erich Fromm beobachtet als »eines der tiefsten Erlebnisse menschlichen Glücks geteilte Freude«.92 Das gilt für Paare, aber das gilt auch für die Bindung zwischen Eltern und Kind. Geteilte Freude heißt, sein Sein teilen zu dürfen: heißt, ein Geschenk zu machen, es angenommen zu wissen, und darum zu sein. Es heißt, in seiner Fähigkeit, Leben spenden zu können, gesehen zu werden. Nicht mit einer nützlichen oder bewundernswerten Leistung. Nicht mit einem wie, sondern mit einem dass. Als Welt. Wenn das Kind sich zeigen möchte, dann weil seine Seele aufgeht, und dieses Aufgehen Verbindung ersehnt. Denn das Aufgehen der Seele ist das Seinkönnen. Was zwischen Menschen an Wichtigem kommuniziert wird, ist erstaunlich wenig. Dieses Wenige ist in seinem Kern auf die Einladung ins Sein konzentriert. Auch im Kunstwerk geht es darum, diese Einladung weiterzugeben. Was übermittelt wird, ist im Grunde nichts weiter als die Erfahrung, dass diese Einladung unzerstörbar ist wie die Röte des beginnenden Morgens, die sich über die Silberbäuche der Wellen legt und den Tag einlädt. Sie zeigt sich als unzerstörbar, indem sie hier und jetzt an mein Inneres ergeht. Nur das Kunstwerk erfasst

Kapitel 6 – Schöpfen

das bedingungslose Zentrum: dessen Charakter, Einladung zu sein  – nämlich dazu, wiederum selbst ein Willkommen auszusprechen. Selbst noch in einer verstrahlten und vergifteten Welt der Gewalt wird die Röte weiter das Morgen einladen, das eines Tages neuen Beginn schenken kann. Nicht das, was auf sie folgt, ist unzerstörbar, sondern die Einladung als solche. Diese Einladung ist die Innenseite der Welt. Wiederum mit einer Einladung zu antworten ist die einzig adäquate Weise, sich ihrer würdig zu erweisen. Mit einer Einladung zu antworten heißt, sich selbst als Innenseite der Welt zu vertrauen.

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Kapitel 7 – Sein »Gott liebt, nicht wie ich liebe, sondern wie ein Smaragd grün ist. Er ist ›Ich liebe‹.« S imone W eil

Ich hatte zugeschaut, wie die Brandung mit den Felsen spielte und die Felsen mit der Brandung. Als ich zurückkam, traf ich eine Bewohnerin des Hauses am Meer. Sie stand am Geländer und betrachtete ebenfalls die See, die über den Stein schäumte. »Es macht mich so lebendig, ich hätte die Wellen anfeuern können«, sagte sie versonnen. »Los, auf geht’s, ja, das war super! So schön ist es, das anzusehen.« Sie drückte aus, was ich gefühlt hatte. Und doch brachte es mich zum Nachdenken. Unser Körper ist vom Ozean kaum verschieden. Wir selbst bestehen aus dem »inneren Meer«, aus den Gezeiten von Kommen und Gehen, aus winzigen Strudeln und berstenden Strömen. Warum gelingt es uns nicht, einfach nur hier zu sein, uns anschwellen und abebben zu spüren, den Glanz wahrzunehmen, der von uns ausgeht, und uns zuzujubeln, »Ja, los, auf geht’s, gut gemacht!«, nur dafür, dass wir sind? Stattdessen brauchen die meisten von uns einen ganzen Ozean, um sich selbst willkommen zu heißen.

Vertrauen ist Schöpfung Auf diesen letzten Seiten möchte ich zeigen, dass Sein für uns heißen muss, dieser ganze Ozean zu sein – die Welt zu sein, indem wir selbst sind. Ich möchte zeigen, dass wir selbst die Brücke

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sind  – die Brücke zwischen den Ansprüchen der Individualität und den Bedürfnissen der Welt. Unser Handeln kann uns zur Wirklichkeit machen, indem es uns zu uns selbst macht. Wir sind geboren, um Wirklichkeit nach deren Regeln, aber mit den Mitteln unserer ganz eigenen Individualität neu erstehen zu lassen. Uns Menschen wird das zur Aufgabe, weil wir nicht wie die meisten anderen Lebewesen unmittelbar Sein-durch-Teilen sind. Wir müssen uns vielmehr im Sein-durch-Teilen erschaffen. Das zeigt sich darin, dass ein Kind nur dann gesund heranwächst und fähig wird, Seinkönnen zu erleben und zu schenken, wenn seine Bezugspersonen die Struktur der Wirklichkeit – Sein durch Teilen – aktiv ins Werk setzen. Eine Schirmpinie kann nicht anders, als durch ihren Körper Fortexistenz zu begehren, und handelt so schöpferisch. Jede Krümmung des Stammes, jede Biegung der Nadeln ist individueller Ausdruck dieses Begehrens. Für einen Menschen aber bedeutet schöpferisches Sein, sich für das zu entscheiden, was dem Sinn seines Begehrens entspricht. Er muss dafür aktives Interesse entwickeln. Für einen nichtmenschlichen Organismus ist dieses Interesse seine Borke, sein Fleisch, sein Instinkt. Wir Menschen hingegen haben es zu erschaffen, um Menschen zu sein. Ich will damit nicht sagen, dass wir nicht auch ein Gefühl dafür hätten wie die Pinie. Natürlich haben wir das. Wir sind vor allem das »weiche Tier unseres Körpers«, das es zu »lassen« gilt.93 Dieses Buch ist ein Plädoyer für dieses Lassen, das ein Geben ist, ein Plädoyer dafür, dem Gefühl zu trauen. Aber dieses Lassen ist eine Aktivität, die wir wählen oder die wir ablehnen können. Es ist eine Aktivität wie die Elternliebe, die dem Kind Seinkönnen zugesteht. Wir müssen dem weichen Tier unseres Körpers an seinem eigenen Ort ein Willkommen bereiten. Wir müssen uns selbst zum Sein einladen. Der letzte Teil meines Plädoyers lautet, dass dieses Vertrauen der ultimative schöpferische Akt ist. Das »weiche Tier« zu »lassen« ist das Prinzip, nach dem sich unsere Haltung zu uns selbst, zu anderen, ja zum Sein im Ganzen bestimmen sollte. Lassen heißt Vertrauen. Lassen ist das Zentrum des Schöpferischen, weil es die Zirkulation der Gabe in Bewegung setzt. Lassen, zulassen,

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für das Sein, wie es ist, offen sein, das ist Akzeptanz und Veräußerung, und damit ist es aus den Grundkräften des Schöpferischen gemacht. Wirklichsein heißt, den Charakter der Wirklichkeit als Allmende dadurch zu bestätigen, dass man diesen Charakter auf je eigene Weise neu hervorbringt. Es heißt Selbstsein-durch-dieWelt-sein, sich selbst durch die innige Verbindung mit dem anderen zu realisieren. Das ist produktive Existenz, weil immer in schöpferischer Verwandlung begriffen. Es ist zugleich jeweils die Realisierung des poetischen Moments: was etwas im Inneren ist, dadurch zeigen, dass man so wie dieses wird, aber auf unerhörte Weise. Das Höchste heißt also, als Welt zu agieren. Als Welt, die weiß, was einem ihrer Subjekte zusammen mit den anderen Subjekten gut tut. Das gilt für das Kind-Ich, wenn es spielend die Schöpfung nachvollzieht. Es gilt für das Erwachsenen-Ich, wenn es zu seinen eigenen Gefühlen in Beziehung tritt, aber nicht, indem es sie nicht mehr fühlt, sondern indem es diese Gefühle sieht, ohne sie zu bewerten, und dann eine Entscheidung trifft. Dieses Höchste folgt nicht dem Maßstab des Erfolges, sondern dem der schöpferischen Fülle. Es erlaubt dem Ganzen, sein eigenes Wahrnehmungsorgan zu werden, ein Organ der verwandelnden Übersetzung von Selbst in Welt und von Fremdem in Eigenes.

Wahr sein heißt Gott sein Ganz echt zu sein heißt, ganz verwundbar zu sein und ganz verwundbar zu sein heißt, sich ganz der Teilhabe hinzugeben. Ganz verwundbar zu sein heißt ganz Selbst zu sein, denn individuelles Sein ist verwundbar. Nur indem ich mich verwundbar zeige, kann ich Verbindungen eingehen. Der mittelalterliche Mystiker Johannes Scotus sagte: »Gott ist Sein.«94 Sich selbst Lebendigkeit zu gestatten heißt, das Göttliche zu retten. Von hier aus können wir besser verstehen, was manche der historischen (und heroischen) Gestalten erlebt haben, deren unmittelbare Erfahrung darin bestand, die Göttlichkeit der Welt am eigenen Leib und durch die eigene Wahrnehmung zu erfahren und so fühlend zu wissen.

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Aus dieser Perspektive zeigt sich das Göttliche an Christus im Umstand, dass er unverhohlen echt war, dass er seine eigene Wahrheit nicht verbarg oder verstellte. Er trug keinen Panzer. Der englische Romantiker William Blake begriff diese Fähigkeit, seine Teilhabe am Ganzen erfassen und umzusetzen, als er schrieb: »Jesus war ganz Tugend und handelte aus dem Impuls und nicht gemäß Regeln.«95 Der Psychologe Wilhelm Reich meint entsprechend: »Die gottgleiche Eigenart Christi ist seine Humanität. Es ist die Eigenart aller Geschöpfe, die Geschöpfe des Lebens und der Liebe geblieben sind.«96 Christus ist Gott, und damit die sich nach Geben verzehrende Kraft im Inneren der Wirklichkeit, weil er sich ganz vertraut. Er weiß, dass die Impulse seines Fleisches die schöpferischen Impulse des Ganzen sind, und dass wahr zu sein heißt, alle seine Bedürfnisse zu fühlen. Das Göttliche ist die Radikalität, mit der Christus sich der Lebendigkeit hingegeben hat. Das Göttliche wachsen zu lassen heißt demnach, sich selbst die Lebendigkeit zu erlauben. Es heißt, uns in die Lebendigkeit der Welt zu verwandeln, welche die ultimative Gabe ist und die folglich auch das letzte Opfer verlangen kann. Dieser schöpferische Akt ersehnt von uns Menschen, vom Einzelnen und von unserer gemeinsamen Kultur, das Gleiche wie das Universum von sich. Er verlangt, sich ganz ins Sein zu werfen, den Sprung zu tun und sich zu veräußern. Die Lösung besteht also darin, das Meer zu sein, und zwar auf menschliche und darin auf ganz individuelle Weise.

Entfremdung als Nichtseinkönnen Die Geschichte der menschlichen Zivilisationen, die wir das historische Zeitalter nennen, ist aber nicht die Geschichte des Seinkönnens, sondern der Entfremdung. Es ist die Geschichte des menschlichen Scheiterns, Natur zu sein, und damit ganz. Es ist die Chronik unserer Weigerung, dadurch wirklich zu sein, dass wir die Verantwortung dafür übernehmen, in unserem Handeln die schöpferische Wirklichkeit neu entstehen zu lassen. Diese Geschichte der menschlichen Zivilisation, die historische Zeit, ist

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die Epoche, durch die hindurch der Mensch nicht mehr verstehen wollte, dass es an ihm ist zu lieben, um sein Existieren wirklich zu machen. Die aktuelle Gegenwart zeigt uns immer schärfer, dass unsere Weigerung, das Trauma zu heilen und wirklich zu werden, lebensgefährlich ist. Weil wir uns nicht zu einem Teil der schöpferischen Wirklichkeit machen, haben wir eine Krise der Lebendigkeit herauf beschworen. Diese stellt als »Sechste Aussterbewelle« längst die Folgen prähistorischer Meteoriteneinschläge und Klimazusammenbrüche in den Schatten. Das Beklemmende dieses Niedergangs liegt ebenso in seiner unheilvollen Geste wie im faktischen Verschwinden. Noch mehr als im Tod Einzelner zeigt sich die ganze Tragik in der Weigerung, am Kreis der Gabe teilzuhaben. Am schlimmsten ist das Ausscheren aus der schöpferischen Wirklichkeit, das die Hoffnung brüsk zurückweist und eingeschnappt sagt: »Es gibt keine Fülle! Intimität ist unmöglich! Verbindung ist Illusion!« Diese Geste schlägt das Geschenk der Lebenskraft aus. Darum ist sie die Haltung, die sich nicht überleben lässt. Die geschichtliche Zeit der Zivilisation, in der es den Menschen nicht gelungen ist, sich als schöpferisches Prinzip der Wirklichkeit zu verkörpern, bezeichnet Marx als die Epoche der Entfremdung. Dieses Wort, das zum zentralen Begriff seiner Philosophie wurde, ist selten so verstanden worden, wie Marx es gemeint hat. Für Marx heißt Entfremdung Nichtseinkönnen. Entfremdung bedeutet, sein Leben nicht zum Sein, zum eigenen Zweck zu machen, sondern das Selbst dadurch zu deformieren, dass dessen Lebendigkeit zum Mittel für jemand anderen wird. Dieser andere, der Lebendigkeit zum Mittel macht, ist für Marx der »Kapitalist«. Für ihn gibt der Ausgebeutete das Seinkönnen auf. Kapitalismus  – oder heute Neoliberalismus  – ist für Marx mehr als eine wirtschaftliche Struktur. Kapitalismus bezeichnet eine Organisationsform von Beziehungen, die Seinkönnen verhindert. Das Nichtseinkönnen, das Nichtseinlassen ist das heimliche Gravitationszentrum des Neoliberalismus. Seine Devise lautet: »Sei nicht! Handle, als ob es keine Wirklichkeit gebe!«  Der

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Kapitalismus ist jene Ideologie, welche die Kräfte der Liebe aus der Wirklichkeit verbannt. Er macht die Trennung, und damit das Nichtseinkönnen, zur Schlüsselfrage des Schöpferischen und somit des Glücks. Dieses Schöpferische jedoch ist aus der Perspektive der Trennung allein Prosperität – und Glück nichts als Besitz. Besitz ist hier die Freiheit, das nicht sein zu müssen, was man ist. Man kann sich ja etwas anderes kaufen. Besitz ist damit zugleich die Unfreiheit, die darin liegt, nicht das sein zu müssen, was man ist, und dieses Sein schöpferisch verwandeln zu dürfen. Der frühe Marx hat eine der radikalsten Ideen des Seinkönnens in der Geschichte der Philosophie formuliert. Im Kommunismus, wie ihn Marx sich vorstellte, ging es um nichts anderes, als dem Menschen seine Wahrheit zu gestatten. Diese ist die innere Wahrheit, die ein Künstler ausdrücken muss, um andere zu einem kathartischen Kontakt mit ihren Wahrheiten zu bringen. Gegen die Entfremdung setzt Marx die Aktivität, an der Wirklichkeit durch die Entfaltung seiner individuellsten Eigenarten teilzuhaben. Der Marx der ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 ist darin radikal modern. Er begreift das Verhältnis des Menschen zur Natur nicht als Dualität (Körper oder Geist, Natur oder Kultur), aber auch nicht als Identität (alles ist »bloß« Materie, »Weltgeist« wie bei Hegel oder »Diskurs«). Unser Verhältnis zur Wirklichkeit ist für Marx eine gegenseitige Transformation. Es ist bereits inniglich Sein durch Teilen. So sagt Marx: »Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist.«97 Anders aber als das Tier (welches für Marx »unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit« ist) »macht der Mensch seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewusstseins«.98 Er kann nur sein, indem er sich das Sein gewährt. Der Akt dieses Gewährens und die aktive Mühe, die darin liegt, ist das Sein. Es zu gewähren erfordert immer Gegenseitigkeit. Für den Menschen heißt Natur zu sein die Lebendigkeit aus freien Stücken, durch eigene Imagination und in eigener Tätigkeit hervorzubringen. Allein das ist für Marx die eigentliche, nicht entfremdete Arbeit. Von hier kann man sehen, warum für

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Marx Arbeit im Dienste eines anderen mit dem Zweck, ein Produkt herzustellen, mit dem man nichts zu tun hat und das mit Profit verkauft wird, als entfremdet gilt. Sie hat nichts mit Sein zu tun. Sie entfremdet vom eigenen Seinkönnen, und damit zugleich vom eigenen Naturseinkönnen. Weil aber nur der dem anderen Raum einräumen kann und beziehungsfähig ist, der selbst zu sein vermag, vernichtet die entfremdete Existenz jede echte Bindung und damit die Lebendigkeit, wie Marx beobachtet: »Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung […]. Das produktive Leben aber ist [...] das Leben erzeugende Leben.«99

Kultur heißt, sich selbst zur Welt zu machen Um lebendig zu sein, um real zu sein, macht der Mensch die Produktivität der Wirklichkeit als solche zu seinem Anliegen. Der Mensch lebt nicht nur, sondern es ist seine Natur, die Welt lebendiger machen zu wollen. Darin besteht das, was Marx als sein »Gattungswesen« bezeichnet, gewissermaßen die »tiefe Wahrheit« unserer Art zu sein. Es drängt den Menschen danach, die Lebendigkeit als solche zu seiner Sache zu machen. Erst dann fühlt er sich nicht entfremdet. Erst dann ist er wirklich. Mit einem solchen Standpunkt schlägt der frühe Marx eine poetische Lösung für die Frage vor, was das Leben ist und was darin der Mensch. Wir müssen das hervorbringen, wonach wir uns sehnen, das, was sich stimmig anfühlt. Dieses Stimmige ist das Sein als das Ganze in seiner je eigenen Individuation. Natur sein heißt für uns, ganz Mensch zu sein. Wir können diese Existenz aber nur in Verbindung zu allem Übrigen der Wirklichkeit bringen, wenn wir uns darin authentisch zeigen, nämlich Verbindung suchend, Verwandlung stiftend, stets der eigenen Affirmation bedürftig, tätig schöpferisch. So wie andere Wesen sich materiell erschaffen, indem sie das zum Leben Notwendige tun, müssen wir uns seelisch erschaffen, um sein zu können. Nach Erich Fromm ist für Marx »der

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Mensch nur soweit lebendig, als er produktiv ist, nur insoweit, als er die Welt außerhalb seiner selbst ergreift, indem er seine eigenen, spezifisch menschlichen Kräfte ausdrückt und sich die Welt mit ihrer Hilfe anverwandelt. Durch diesen produktiven Prozess verwirklicht der Mensch sein eigenes Wesen, er kehrt zu seinem eigenen Wesen zurück, was in theologischer Sprache nichts anderes ist als die Rückkehr zu Gott.«100 Liebe als aktives Interesse ist diese Rückkehr zu Gott. Es heißt, sich der Sache Gottes anzunehmen, dadurch dass der Einzelne akzeptiert, wirklich er selbst zu sein. Und nur diese Echtheit verbürgt, wirklich das Ganze als Individualität zu sein. So sagt Marx: »Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und förderlich auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d.h., wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.«101 Marx lehrte das Gegenteil der Befreiung durch die Erfüllung aller Wünsche. Seine Haltung war nicht die der materialistischen Utopiker, seien es die (Neo-)Liberalisten mit ihrer Idee vom freien Markt, gegen die Marx seine Philosophie entwarf, oder seien es seine Gefolgsleute, die den »neuen Menschen« sozialistischer Prägung am Reißbrett des Kollektivs schaffen wollten. Was Marx zu umreißen versuchte, nannte er selbst im selben Atemzug »Humanismus« und »Naturalismus«. Er verstand darunter »die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des

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Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung«.102 In dieser Überbrückung der Widersprüche liegt die Haltung, das zu sein, was man ist, dadurch dass man die Freiheit hat, zu dem zu werden, der zu sein man sich sehnt. Sie ist eine Mischung aus vollkommener Erdverbundenheit und gänzlich eigenverantwortlicher Freiheit. Ihr Geheimnis liegt darin, dass der Mensch das Selbstsein durch Teilen, wie es bereits die Arbeit des biologischen Stoffwechsels ist, als bewusste Kulturleistung erschafft. Im Zentrum dieser Haltung steht das Teilen als Atem, »der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch«.103 Was wir heute als den Marxschen Materialismus kennen (und mit Recht fürchten), wurde somit ursprünglich als Verkörperungstheorie geboren. Sie sollte uns die Bedingungen zeigen, unter denen wir frei sein können. Und frei zu sein heißt aus dieser Perspektive, das Ganze in seiner eigenen Individualität zu sein. Es ist eine alte Illusion zu glauben, dadurch dass wir alles haben könnten, wären wir frei. Es ist eine tödliche Illusion, aus der die sozialistischen Versorgungsgesellschaften und die kapitalistischen Konsumgesellschaften auf je eigene Weise ihren tragischen Irrtum machten und die Menschen noch enger an Süchte und Begierden ketteten. Frei ist nur, wer seine spezifische Eigenheit so entfaltet, dass er dadurch dem Ganzen, in dem er existiert, zu mehr Tiefe verhilft, oder von diesem Ganzen begehrt wird. Jeder Mensch ist ja schon dadurch, dass er ein Körper ist, gebunden und auch verbunden. Stillen wir nicht dessen Bedürfnisse, werden wir krank. Weil wir Körper sind, also Teil der Welt, sind unsere Bedürfnisse an die der Welt gekoppelt. Die totale Befreiung ist ein aufklärerisches Denkrelikt, das den Körper vergisst, und mit dem Körper die ganze Biosphäre. Freiheit, so würde Friedrich Schiller sagen, ist aber immer die Einsicht in die Notwendigkeit, mit dem, was wir haben, so umzugehen, dass es lebendig wird.

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Lieben heißt Sein Wenn ich lieben will, so muss ich als ich selbst lieben. Wenn ich aber wirklich liebe, das heißt mich in der Äußerung meines wirklichen Seins dem anderen zuwende, mich für ihn interessiere aus der Mitte meines Interesses für mich selbst, für das Lebendige, dann ist das ein Lieben, das Gegenliebe erzeugen wird, auf die gleiche Weise, wie Einatmen Ausatmen zur Folge hat oder wie die Mohnblüten im Mai meine Seele aufgehen lassen. Es ist Liebe, die Gegenliebe hervorruft, weil sie des anderen Seinkönnen will. Das ist eine unmittelbare Erfahrung. Es ist eine Erfahrung der Sinne, der Haut, der Lippen. Es ist eine Erfahrung nicht weit entfernt von den Liebkosungen, mit denen mich die Respiration der Wellen liebt, die weiche Nadel der Pinien, der Stein, vollgesogen mit Sonne. Nur dass ich diese Erfahrung, wiewohl ich mich nach ihr sehne, nicht leicht verstehe. Die Liebe der Dinge ist umfassender, ihre Einladung zu sein vollständiger, weil sie mich als Materie liebt. Welt sein heißt Materie sein. Materie sein heißt Lust sein, die Lust der Materie. Wir selbst sind die Allmende der Wirklichkeit. Uns zu entfalten heißt, sie zu bewahren. Sie zu bewahren heißt, sie fruchtbarer zu machen. Sie fruchtbarer zu machen heißt, sich selbst das Sein zu gestatten, zu einer Einladung an den anderen zu werden und dadurch zum Selbst zu werden. Die Welt erfüllt in letzter Wahrheit nicht Sehnsucht, geliebt zu werden, auch wenn wir Menschen das glauben. Wir glauben es darum, weil wir nicht gelernt haben, wie Seinkönnen sich anfühlt und welche Kräfte es uns verleiht. Wir sehnen uns danach, Welt zu sein, und warten immer noch auf die Erlaubnis dazu, die uns von denen, die es auch nicht konnten, nicht gegeben wurde. Welt sein aber heißt Sehnsucht, sich zu verschenken. Das Innerste der Welt ist die Sehnsucht, sich ganz zu geben, ist das Nicht-anders-können, als sich zu geben, und darin ganz zu sein. Die Welt verzehrt sich in der Sehnsucht zu lieben. Das Innerste der Welt, ihre Ganzheit oder »Oneness«, ist das Begehren, Sein zu schenken.104

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Ganz Meer, ganz Mensch Die grundsätzliche Produktivität der Wirklichkeit ist niemals neutral. Sie manifestiert sich als Sehnsucht nach Verbindung durch das Sich-ganz-Zeigen. Das ist die innerste Wahrheit. Diese innerste Wahrheit ist nicht verborgen, sondern manifest auf der Haut, in der Körperhaltung, im Gesicht, im Vibrato der Stimme, in den Gezeiten des Atems. In der Materie. Unsere Fähigkeit, ganz zu sein, besteht in letzter Konsequenz darin, vollständig Materie sein zu können, indem man vollständig Mensch ist. Dadurch intensiver Mensch zu sein, dass man intensiver Materie ist. Wie soll das gehen?, werden Sie jetzt vielleicht fragen. Es kann nur so gehen, ist meine Antwort. In der Imagination des Unvereinbaren. Wie diese Imagination gelingen kann, ist sowohl das Geheimnis künstlerischer Schöpfung als auch die Grundhaltung jeder produktiven Ethik. Es ist die Frage, die sich eine wache Kultur jeden Morgen neu stellen muss. Gerade dass wir diese Frage nicht rundheraus beantworten können, macht sie zu einem kreativen Schlüsselimpuls. Imagination heißt, Wirklichkeit in einer Konstellation zu erfinden, die unmöglich ist. Wie das ausführbar sein kann, ist die unlösbare Frage, die sich in der täglichen Wirklichkeit stellt. Wie kann das Unvereinbare in Einklang gebracht werden? Wie kann ich Mensch sein, dadurch, dass ich Materie bin? Und ganz Materie, indem ich ganz Mensch bin? In der Devise »Willst du ganz Mensch sein, so sei ganz Materie!« haben wir ein buddhistisches Koan gefunden. Wie bei einem solchen paradoxen Lehrsatz üblich, entspringt aus dessen innerem Widerstreit der Blitz der Wahrheit. Diese Wahrheit erscheint nicht in der widerspruchsfreien Logik westlicher Rationalität, sondern als Aufforderung zum schöpferischen Handeln. »Sei ganz Meer, indem du ganz Mensch bist!« – das ist eine Aufgabe, das ist eine Ethik, und das ist bereits ein Gedicht. Zugleich ist es der konkrete Anspruch an eine Kultur der Zukunft. Diese wäre eine Kultur, in welcher der Mensch nicht von sich selbst entfremdet ist  – und darin, weil der Mensch Körper

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ist, also Erde, auch nicht mehr von der Natur. Diese Kultur ist ein poetischer Akt, so wie jeder Lebensvollzug ein poetischer Akt ist. Sie heißt, uns selbst als das Ganze lebendig zu machen. Das Ganze zu sein in Totalität, sodass man ganz das Eigene ist, lässt sich übersetzen in Handlungen. Es heißt, dem Glück meines Kindes durch Lächeln einen Platz in der Welt einzuräumen, auch wenn dieses Glück nicht meines ist. Es heißt, den Mohn in der Pflasterspalte so zu begrüßen, als wäre ich ein warmer Regen, weil er niemand anderes ist als er selbst. Es verlangt, dem Ebben und Schwellen, dem Wirbeln und Schäumen in mir mit derselben Willkommen heißenden Begeisterung zu applaudieren wie dem berauschenden Glück der grünen, weißen, grauen Wellen außerhalb meiner selbst, die unterhalb von Ölbaum und Pinie den Fels bestürmen. Ganz zu sein heißt, darauf zu vertrauen, dass die Stimme der Welt in meinem Innen bereits Welt ist. Und darauf, dass sie mir Weltsein schenkt, wenn sie mir zuruft: »Liebe, nähre dein Glück!« Götzis/Vorarlberg und Bogliasco/Ligurien September 2015 – Dezember 2016

Dank

Dieses Buch ist entstanden, weil Karin Werner vom transcript Verlag es sich gewünscht hat. Ich danke ihr, dass sie damit auch mir einen Wunsch erfüllt hat – und dafür, dass sie mir für diese Wunscherfüllung viel Geduld gewährte. Ohne die Fürsorge von Christa Müller und der anstiftung & Ertomis, die mir die finanziellen Bedingungen dafür ermöglicht haben, hätte ich das Buch gleichwohl nicht schreiben können. Meine Freude, dass es schließlich gelingen konnte, gehört ihr. Das Buch wäre ohne eine andere Gabe nicht denkbar: die Inspiration, die Ermutigung und der Blick der Menschen, in deren Freude ich mich gesehen fühle. Was ich gefunden habe, sei ihnen zurück gegeben. Ich danke Manuela Rösel für das Vertrauen in die Lebendigkeit, Hildegard Kurt für die gemeinsame Reise, Luciano Marcello für alles, was auf keinen Fall heute getan werden darf, Heike Löschmann für die Familienessen, David Bollier für seine klarsichtige Freundschaft, Fernanda Alfieri für den Mohn, Friederike Habermann für die Erinnerung an Rosa Luxemburg, Nick Dyer-Witheford für die Erinnerung an Marx, Elizabeth Ferguson und Jeremy Lent für die offenen Herzen und den Blick über die San Francisco Bay, Calla Rose Ostrander für den Spaziergang mit »beauty in front of us«, Sofia Nordmann für die unsichtbaren Fäden, Denise Iris für die Lust an den Wellen, Nurete Brenner für das »shadow work«, Gavin van Horn für das »self-ablazement«, Susan Tillett und dem Mesa Refuge, Point Reyes, CA für die Geborgenheit, Stuart Kauffman und Katherine Peil für ihre Unterstützung in Freundschaft, die mir so vieles möglich gemacht hat.

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Bei einem Arbeitsaufenthalt in der Begegnungsstätte St. Arbogast in Vorarlberg nahm die Idee dieses Buches Form an. Dafür bin ich Josef Kittinger, der mich einlud, und Christian Hörl, der hinter den Kulissen die Fäden zog, dankbar. Die Bogliasco Foundation, New York sorgte dafür, dass ich dieses Werk zu großen Teilen in ihrer Villa in Ligurien verfassen konnte. Ohne die Hilfe von Silvia Badino hätte ich diesen Ort nie gefunden. Der Aufenthalt am winterlichen Mittelmeer hat mir erlaubt, das Buch zu vollenden. Ich danke meinen Studierenden an der Leuphana Universität Lüneburg und der Universität der Künste Berlin für ihre Energie, gemeinsam mit mir nach dem zu suchen, was wirklicher macht. Ich danke meiner Tochter Emma für ihr lebendes Vertrauen ins »law of attraction«, meinem Sohn Max für seine Unbeirrtheit, das zu tun, was sich richtig anfühlt, und meiner Pudelfreundin mit den vielen Namen dafür, dass sie ist. Und ich danke der Liebe des Lebens zu sich selbst dafür, dass ich sein darf.

Anmerkungen

1 | Michael Marder, »Lispector and the Seeds of Time«, The Philosopher’s Plant, LA Review of Books, 16. Januar 2015, http://philosoplant.lareviewofbooks.org/?p=89 2 | Italo Calvino, Le città invisibili, Segrate: Mondadori, 2016, Übersetzung von mir, A.W. 3 | Zitiert nach dem Film von Franz Reichle, Monte Grande, TLC-Film, 2004, Übersetzung von mir, A.W. 4 | Geseko von Lüpke, »Ich bin, weil wir sind«, in: OYA 38, 2016. 5 | Selbst mathematisch, so glaubt der Physiker und Philosoph Philip Franses, muss diese Tendenz – oder Sehnsucht – unserer Wirklichkeit zur Intensivierung berücksichtigt werden, um sinnvoll darstellen zu können, warum sich das Universum in eine höchst unregelmäßige Topographie aufgeteilt hat (Philip Franses, Time, Light and the Dice of Creation. Through Paradox in Physics to a New Order. Edinburgh: Floris Books, 2015). 6 | John Berger, And Our Faces, my Heart, Brief as Photos, London: Bloomsbury, 2005, Übers. von mir, A.W. 7 | Zu diesen Ausnahmen gehört etwa Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München: dtv, 1979. 8 | Thich Nhat Han, How to Love, Berkeley: Parallax Press, 2014, zitiert nach Maria Popova, »How to Love: Legendary Zen Buddhist Teacher Thich Nhat Hanh on Mastering the Art of ›Interbeing‹«, https://www.brainpickings.org/2015/03/31/how-to-love-thich-nhat-hanh/, Übers. von mir, A.W. 9 | Erich Fromm, »Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben«, in ders., Liebe, Sexualität, Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage, München: dtv, 1994, S. 211-224.

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10 | Pierre-Joseph Proudhon, Du principe de l’art et sa destination sociale, Paris: Lacroix, 1875, Übers. von mir, A.W. 11 | Sofia Nordmann, persönliche Mitteilung vom 26. November 2016. 12 | Im Original lautet der Textausschnitt: »L’amore che strappa i capelli / è perduto ormai, / non resta che qualche svogliata carezza / e un po’ di tenerezza.« 13 | Laurence Heller & Alina La Pierre, Healing Developmental Trauma: How Early Trauma Affects Self-Regulation, Self-Image, and the Capacity for Relationship, Berkeley: North Atlantic Books, 2012, S. 8, Übersetzung von mir, A.W. 14 | s. etwa David Bollier, Think Like a Commoner. A Short Introduction to the Life of the Commons, Gabriola Island: New Society Publishers, 2013; Silke Helfrich, David Bollier, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Die Welt der Commons: Muster gemeinsamen Handelns. Bielefeld: transcript, 2015; Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Bielefeld: transcript, 2012; Elinor Ostrom, Future of the Commons: Beyond Market Failure & Government Regulations, London: Institute of Economic Affairs, 2012. 
 15 | Lewis Hyde, The Gift. Creativity and the Artist in the Modern World, New York: Vintage, 1979, S. 12 (Deutsch als: Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert, Frankfurt am Main: Fischer, 2008), Übersetzung von mir, A.W. 16 | Hans Jonas, Das Prinzip Leben, Frankfurt am Main: Insel, 1995. Zuerst erschienen als Organismus und Freiheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973. Englische Originalausgabe: The Phenomenon of Life. New York: Harper, 1966. Für eine eingehende Betrachtung von Jonas’ Position s. Andreas Weber, Natur als Bedeutung. Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen, Würzburg: Königshausen & Matthes, 2003; sowie Andreas Weber & Francisco Varela, »Life after Kant. Natural purposes and the autopoietic foundations of biological individuality«, Phenomenology and the Cognitive Sciences 1, S. 97–125, 2002. 17 | Jonas, Organismus und Freiheit, a.a.O. 18 | Reichle, Monte Grande, a.a.O. 19 | Über diesen Gesichtspunkt denke ich ausführlich in Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän, Berlin: Matthes & Seitz, 2016, nach.

Anmerkungen

20 | Jane Bryan, »Microbial Life: Origin and Discovery«, http://images. slideplayer.com/20/6228473/slides/slide_14.jpg 21 | David Relman, zitiert nach https://www.sciencenews.org/sites/ default/files/6774 22 | Sarah O’Malley, »Microbiome Part 8: Human Symbionts«. The World Around Us, Podcast, http://theworldaroundusradio.blogspot. it/2012/11/microbiome-part-8-human-symbionts.html 23 | Andreas Weber, Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie, München: Kösel, 2014 (englisch als Matter and Desire. An Erotic Ecology, White River Junction: Chelsea Green, 2017); Weber, Enlivenment, a.a.O. 24 | Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Band 1, München: Carl Hanser Verlag, 1962, S. 243, S. 247. 25 | Weber, Lebendigkeit, a.a.O. 26 | Virginia Satir, John Banmen, Jane Gerber, Maria Gomori, Satir Model: Family Therapy and Beyond, Los Angeles: Science and Behaviour Books, 1991. 27 | s. besonders Andreas Weber, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Berlin, 2006 (in englischsprachiger Neufassung als Biology of Wonder. Feeling, Aliveness, and the Metamorphosis of Science, Gabriola Island: New Society Publishers, 2016) und Biopoetics. Towards and Existential Ecology, Amsterdam & New York, 2016. 28 | Robert Harlen King, Thomas Merton and Thich Nhat Han: Engaged Spirituality in an Age of Globalization, London: Bloomsbury, 2001; zur Idee des »Interbeing« s. auch Evan Thompson, Mind and Life, Cambridge, MA: Harvard University Press, 2007. 29 | Marshall Rosenberg, »San Francisco Workshop – Full Lenth English Subtitles Transcription,« aus »The Basics of Nonviolent Communication: A 1-Day Introductory Workshop«, San Francisco, 2000, veröffentlicht von 
Centrum Nadania, 27. Oktober 2015, https://www.youtube.com/ watch?v=l7TONauJGfc 30 | Ernest Becker, The Denial of Death, New York: The Free Press, 1973, S. 157. 31 | Salman Akhtar, Good Feelings: Psychoanalytic Reflections on Positive Emotions and Attitudes, London: IPA Psychoanalytical Ideas and Applications, 2009,S. 128.

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32 | Im Grunde geht es darum, ob kindliche Traumata darauf beruhen, dass durch das mangelnde Gesehensein eine »natürliche« Stufe der Verschmelzung nicht überwunden werden und nötiges Wachstum zu einer vollständigen Subjektivität dadurch nicht zustande kommen konnte, oder dass ein eigentlich gesundes Wesen und schon vollständiges Subjekt traumatisiert und damit bereits geschaffene und gespürte Weltfähigkeit vernichtet wurde. Für das Ergebnis ist das freilich zweitrangig, und auch das Erfordernis ist unstrittig: Der andere, die Bezugsperson, muss das Kind sehen, dass heißt, ihm das Sein erlauben, es ins Sein einladen, ihm in Stellvertretung der Welt die Botschaft überbringen: »Sei!« 33 | Heller & La Pierre, Healing Developmental Trauma, a.a.O., S. 126. 34 | Gregory Bateson, zitiert nach Stephen Nachmanovitch, Free Play: Improvisation in Life and Art: Power of Improvisation in Life and the Arts, New York: Tarcher Perigee, 1991, S. 94. 35 | Fabrice Midal, Et si de l’amour on ne savait rien?, Paris: Albin Michel, 2010.
 36 | Erich Fromm, The Art of Loving, New York: Harper, 1956, S. 122, Übers. von mir, A.W. 37 | Albert Camus, L’homme révolté, Paris: Gallimard, 1951, S. 381, Übers. von mir, A.W. 38 | Heller & La Pierre, Healing Developmental Trauma, a.a.O. 39 | Heller & La Pierre, a.a.O., S. 3. 40 | Wilhelm Reich, The Murder of Christ: The Emotional Plague of Mankind, London: Souvenir Press, 1975, S. 146, Übersetzung von mir, A.W. 41 | Fromm, The Art of Loving, a.a.O., S. 4f, Übers. von mir, A.W. 42 | Fromm, »Die Faszination der Gewalt«, a.a.O. 43 | Raimond Gaita, The Philosopher’s Dog, London: Routledge, 2004, Übers. von mir, A.W. 44 | Alice Miller, Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema, Frankfurt am Main: Insel, 1983. 45 | Nina Baym et al., The Norton Anthology of American Literature, New York & London: Norton, S. 2036. 46 | Ich bin Wolfgang Peham, Gründer der Wildnisschule Wildniswissen, dafür dankbar, dass er nicht locker ließ, bis ich meine Sichtweise geändert hatte. Ich hegte ziemlich lange die existentialistisch inspirierte Empfindung, dass für uns Menschen die Existenz tragisch sei, weil wir nie

Anmerkungen

unvermittelt mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen können, weil so in allem immer ein Geschmack der Trennung enthalten ist. Aber inzwischen glaube ich, diese Trennung ist exakt das kulturell-traumatische Artefakt, das uns zurück hält, obwohl wir wie alle anderen Tiere und Pflanzen zu Verbindung in der Lage sind. Auch ich hatte aus einer Überlebensstrategie eine Weltanschauung gemacht – wenn auch mit naturromantischem Erlösungshorizont (was ja auch nichts Neues ist). Andere Versionen einer solchen Haltung folgen der Idee, der Mensch sei das Tier, das wisse, dass es sterben müsse – und daher sei alles mit einem Schimmer von Schmerz überzogen. Aber auch das glaube ich nicht mehr: Viele Tiere wissen, dass sie zumindest sterben können (das Wissen um die eigene Verletzlichkeit ist sogar Grundvoraussetzung biologischer Identität). Und sterblich zu sein ist zwar schmerzlich, kann aber statt Tragik auch eine Dimension der Verbundenheit beinhalten. Wolfgang hat damals darauf bestanden, dass ich ein Buch lese, das inzwischen Legende ist, weil es die kulturelle Hybris als Beschädigung entlarvt: Daniel Quinn, Ismael, München: Goldmann, 2009. Wenn ich es mir recht überlege, hat mich das Buch aber nicht allein überzeugt. Ich habe auch während der ganzen Zeit dieser geistigen Entwicklung graduell mein Leben geändert, bin manche Tode gestorben, vor denen ich mich jahrzehntelang gefürchtet hatte, und habe mit dem eigenen Leib den Schmerz der Tragik in die Erfahrung der Akzeptanz verwandelt – auch wenn diese immer wieder eine spirituelle Herausforderung ist. 47 | Brené Brown, The Gifts of Imperfection, Minnesota: Hazelden, 2010, S. 26. 48 | Heller & La Pierre, Healing Developmental Trauma, a.a.O., S. 28. 49 | Fromm, »Die Faszination der Gewalt«, a.a.O. 50 | Hildegard Kurt, Die neue Muse. Versuch über die Zukunftsfähigkeit, Klein Jasedow: thinkOYA, 2017. 51 | Rosenberg, »San Francisco Workshop«, a.a.O. 52 | »Hungry for Land: Small Farmers Feed the World with less than a quarter of all farmland«. GRAIN, 28. Mai 2014, https://www.grain.org/ ar ticle/entries/4929-hungr y-for-land-small-farmers-feed-the-worldwith-less-than-a-quarter-of-all-farmland. 53 | Neera M. Singh, »The affective labor of growing forests and the becoming of environmental subjects: Rethinking environmentality in Odisha, India«, Geoforum 47, 2013, S. 189–198.

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54 | Marshall Sahlins, »The Original Affluent Society«, in: ders., Stone Age Economics. New York: Hawthorn, 1972, S. 1ff. 55 | S. etwa Karen Bescherer Metheny, Mary C. Beaudry (eds.), Archaeology of Food: An Encyclopedia, Lanham, MD: Altamira Press, 2015, S. 215. 56 | S. etwa Chris Hann & Keith Hart, Economic Anthropology, Boston: Wiley, 2011, S. 57. 57 | Karl Polanyi, The Great Transformation. The Political and Economical Origins of our Time, Boston: Beacon, 2001. 58 | Wörtlich spricht Singh (a.a.O.), vermutlich angelehnt an Hydes (a.a.O.) Begriff des »labor of gratitude« von »emotional labor«. Das heißt zugleich »Arbeit« und »Mühe« (labor heißt im Englischen auch Geburtswehen). Die Arbeit besteht nicht nur in einem Tun, sondern in einem intensiven, und oft auch mühevollen, emotionalen Involviertsein. 59 | S. dazu Philippe Descola, Par delà nature et culture, Paris: Gallimard, 2005. 60 | Karl Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, Berlin: Hofenberg, 2014, S. 44. 61 | Friederike Habermann, Ecommony. UmCARE zum Miteinander. Sulzbach, Ts.: Ulrike Helmer Verlag, 2016. 62 | Friederike Habermann, persönliche Mitteilung, 7. September 2016. 63 | David Johns, »With Friends Like These, Wilderness and Biodiversity Do Not Need Enemies«, in George Wuerthner, Eileen Crist, Tom Butler (Hg.), Keeping the Wild. Against the Domestication of the Earth. Washington et al.: Island Press, 2014, S. 42, übers. von mir, A.W. 64 | Manfred Max-Neef, »Development and Human Needs«, in: Paul Ekins, Manfred Max-Neef (Hg.), Real-Life Economics. London und New York, 1992, S. 206f. 65 | Ian Hacking, The Social Construction of What?, Cambridge, MA: Harvard Univ. Press, 1999. 66 | David Kidner, »The Conceptual Assassination of Wilderness«, in: Wuerthner, Crist, Butler (Hg.): Keeping the Wild. Against the Domestication of the Earth, a.a.O., S. 10. 67 | David Bollier, »The Quiet Realization of Ivan Illich’s Ideas in the Contemporary Commons Movement«. Blogbeitrag auf David Bollier: News and Perspectives on the Commons, 8. März 2013, http://bollier.org/blog/ quiet-realization-ivan-illichs-ideas-contemporary-commons-movement

Anmerkungen

68 | Zitiert nach Bollier, Think Like a Commoner, a.a.O. 69 | Miguel Benasayag und Gérard Schmit, L’epoca delle passioni tristi, Milano: Feltrinelli, 2007, S. 101f. 70 | Hyde, The Gift, a.a.O. 71 | Hyde, The Gift, a.a.O, S. 60. 72 | Hyde, The Gift, a.a.O, S. 64. 73 | Hyde, The Gift, a.a.O, S. 120. 74 | Hyde, The Gift, a.a.O, S. 46ff. 75 | Marx, Manuskripte, a.a.O, S. 65. 76 | Marx, Manuskripte, a.a.O, S. 47. 77 | Anne Truitt, Daybook: The Journal of an Artist, New York: Scribner, 2013. 78 | »Le poème est l’amour réalisé du désir demeuré désir.« Zitiert nach Midal, Et si de l’amour, a.a.O., S. 77, Übers. von mir, A.W. 79 | Hyde, The Gift, a.a.O., S. 60. 80 | Hyde, The Gift, a.a.O., S. 60ff. 81 | Hyde, The Gift, a.a.O., S. 46. 82 | Hyde, The Gift, a.a.O., S. 287. 83 | Hyde, The Gift, a.a.O., S. 287. 84 | Peter Elkus, The Telling of Our Truths: The Magic in Great Musical Performance, Verl. unbek., 2009, S. 68. 85 | Elkus, Truths, a.a.O., S. 69. 86 | Elkus, Truths, a.a.O., S. 87. 87 | Elkus, Truths, a.a.O., S. 88. 88 | Weber, Biopoetics, a.a.O., S. 125ff. 89 | Nach Weber, Biopoetics, a.a.O., S. 132. 90 | Nach Weber, Biopoetics, a.a.O., S. 125. 91 | Midal, Et si de l’amour, a.a.O. 92 | Fromm, Haben oder Sein, a.a.O., S. 142. 93 | Mary Oliver, Dream Work, Boston: Atlantic Monthly Press, 1994. 94 | John Duns Scotus nach Richard Rohr, The Naked Now, New York: Crossroads, S. 130. 95 | William Blake, The Marriage of Heaven and Hell, 1793, zit. nach Stephan Nachmanovitch, Free Play, New York: Penguin Putnam, 1990, S. 29, Übers. von mir, AW. 96 | Wilhelm Reich, The Murder of Christ, a.a.O., S. 120. 97 | Marx, Manuskripte, a.a.O., S. 47.

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98 | Marx, Manuskripte, a.a.O., S. 48. 99 | Marx Manuskripte, a.a.O., S. 47. 100 | Erich Fromm, Das Menschenbild bei Marx, Edition Erich Fromm, kindle-Version, Position 516. 101 | Marx, Manuskripte, a.a.O., S. 93. 102 | Marx, Manuskripte, a.a.O., S. 65. 103 | Marx, Manuskripte, a.a.O., S. 102. 104 | Kein derzeitiger Denker hat das konsequenter verstanden und entfaltet als Llewellyn Vaughan Lee, The Bond with the Beloved: The Inner Relationship of the Lover and the Beloved, The Golden Sufi Center, 1993.

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