Rechtsontologie: Eine Untersuchung über Entstehung, Existenz und Begründung von Recht [1. Aufl.] 9783658308667, 9783658308674

Das Buch bietet eine Analyse der Ontologie des Rechts in Auseinandersetzung mit den wichtigsten realistischen, konstrukt

331 36 2MB

German Pages XII, 288 [299] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Einleitung (André Ferreira Leite de Paula)....Pages 1-28
Ontologie des Naturrechts (André Ferreira Leite de Paula)....Pages 29-152
Ontologie des positiven Rechts (André Ferreira Leite de Paula)....Pages 153-268
Back Matter ....Pages 269-288
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Rechtsontologie: Eine Untersuchung über Entstehung, Existenz und Begründung von Recht [1. Aufl.]
 9783658308667, 9783658308674

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Juridicum – Schriften zur Rechtsphilosophie

André Ferreira Leite de Paula

Rechtsontologie Eine Untersuchung über Entstehung, Existenz und Begründung von Recht

Juridicum – Schriften zur Rechtsphilosophie Reihe herausgegeben von Alexander Aichele, Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie, Martin-Luther-Univ Halle-Wittenberg, Halle, Sachsen-Anhalt, Deutschland Stephan Kirste, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich Matthias Mahlmann, Rechtswissenschaftliches Institut, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Joachim Renzikowski, Juristischer Bereich, Martin-Luther-Univ Halle-Wittenberg, Halle, Sachsen-Anhalt, Deutschland

Die Schriftenreihe will eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit theoretischen, methodischen und politischen Grundfragen des Rechts bieten, um der Verständigung über die Grundlagen moderner Rechtsordnungen zu dienen. Angesichts einer gesteigerten gesellschaftlichen und rechtlichen Dynamik und der durch Globalisierung und Technisierung immer komplexer werdenden sozialen Umwelt des Rechts ist die Beschäftigung mit eben diesen Grundlagen besonders wichtig. Zentrale Anliegen der Rechtsreflexion der Gegenwart wie Versuche zur Begründung der Menschenrechte, von Verfassungsstaat und internationaler Rechtsordnung oder der Beantwortung der unterschiedlichsten Fragestellungen der Medizinethik kommen ohne eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Rechts nicht aus. Dies ist die klassische Aufgabe der Rechtsphilosophie, die gleichermaßen eine Teildisziplin der Praktischen Philosophie wie der Rechtswissenschaft ist und in ihrer ganzen Vielfalt in der Schriftenreihe gepflegt werden soll.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15788

André Ferreira Leite de Paula

Rechtsontologie Eine Untersuchung über Entstehung, Existenz und Begründung von Recht

André Ferreira Leite de Paula Fachbereich Rechtswissenschaft ­Goethe-Universität Frankfurt am Main Frankfurt am Main, Deutschland Dissertation Goethe-Universität Frankfurt am Main D30

Juridicum – Schriften zur Rechtsphilosophie ISBN 978-3-658-30866-7 ISBN 978-3-658-30867-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30867-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Carina Reibold Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Meinen Eltern

V

Vorwort

Der vorliegende Text ist die überarbeitete und ergänzte Fassung meiner dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main im September 2018 vorgelegten Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades. Prof. Dr. Dres. h.c. Ulfrid Neumann danke ich für die Betreuung im authentisch liberalen Geiste der Forschungsfreiheit und für die freundliche Einladung zum Postgraduiertenseminar, im Rahmen dessen mehrere Thesen entwickelt und diskutiert wurden. Die Forschung wurde vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und Nationalrat für Wissenschaftliche und Technologische Entwicklung (CNPq Brasil) finanziell unterstützt. Frankfurt am Main Mai 2020

André Ferreira Leite de Paula

VII

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Erforderlichkeit einer Rechtsontologie überhaupt. . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts . . . . . . . . . . . 4 1.2.1 Überwindung der Politisierung des Rechts mit formalistischen Mitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2.2 Überwindung des Dualismus von interner und externer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2 Ontologie des Naturrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.1 Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.2 Herkömmliche Behandlungsweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.1.3 Die logotemporalistische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.1 Die Teleologie inzestvermeidenden Verhaltens. . . . . . . . . . . 40 2.2.2 Die Wirklichkeit der Teleologie der Natur. . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2.3 Zur Entstehungserklärung kultureller Normen . . . . . . . . . . . 59 2.2.4 Berechtigung und Rechtfertigung des Inzestverbotes. . . . . . 63 2.2.4.1 Unterscheidung von Berechtigung und Rechtfertigung überhaupt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.2.4.2 Zugehörigkeit des Inzestverbotes zu diversen normativen Ordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.2.4.3 Rechtfertigung des Inzestverbotes . . . . . . . . . . . . . 65 2.2.4.4 Einwände gegen das Inzestverbot. . . . . . . . . . . . . . 66 2.2.4.5 Berechtigung des Inzestverbotes. . . . . . . . . . . . . . . 69

IX

X

Inhaltsverzeichnis

2.3 Über Grund und Berechtigung überhaupt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.3.1 Berechtigung als Eigenschaft von Normen und Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.3.2 Die Wirklichkeit von Gründen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.3.2.1 Der Bedingungskonstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . 79 2.3.2.2 Der Sprachkonstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.3.2.3 Das sozialistische Denkregime als evolutionäre Strategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.3.2.4 Unmöglichkeit des Wissens als Folge des Sozialkonstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.3.2.5 Realismus als Alternative zum Konstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.4 Der naturrechtliche Grundzusammenhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.5 Zu der teleologischen Vernunft der Natur und ihrer Entdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2.6 Umgangsformen mit vergangener Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2.6.1 Der Aktualismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2.6.1.1 Beispiel: Recht als vernünftige Einsehbarkeit . . . . 116 2.6.1.2 mplizites Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.6.2 Der Kontextualismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2.6.2.1 Recht als soziale Konstruktion. . . . . . . . . . . . . . . . 118 2.6.2.2 Implizite Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2.6.3 Zur Wirklichkeit von Begriffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2.6.3.1 Nominalismus und Konzeptualismus als Modalitäten des Begriffskonstruktivismus. . . . . . . 128 2.6.3.2 Begriff als Individuationsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . 133 2.6.3.3 Begriffssetzung als ontologische Tätigkeit. . . . . . . 138 2.6.3.4 Zum Begriffsrealismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.6.4 Autonomie, Uchronie und Protonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2.6.5 Zur Änderbarkeit des Naturrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2.7 Selbstbewusste Wiederaufnahme der Naturteleologie. . . . . . . . . . . . 148 3 Ontologie des positiven Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.1 Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.2 Die Hypothese einer realistischen Rechtsontologie. . . . . . . . . . . . . . 154 3.3 Zu den außerrechtlichen Komponenten rechtlicher Sachverhalte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.3.1 Zu den natürlichen Komponenten rechtlicher Sachverhalte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Inhaltsverzeichnis

3.4

3.5

3.6 3.7

XI

3.3.2 Außerrechtliche Korrelate rechtlicher Sachverhalte . . . . . . . 158 3.3.3 Zur Irreduktibilität rechtlicher Sachverhalte auf ihre natürlichen Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.3.3.1 Zur semantischen Komponente des positiven Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.3.3.2 Zur Naturhaftigkeit ideeller Eigenschaften. . . . . . . 168 3.3.3.3 Zur Wirklichkeit normativer Eigenschaften . . . . . . 174 3.3.4 Korrelationsfindung als Voraussetzung für umfassende Sachverhaltserklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.3.4.1 Möglichkeit der Erklärung eines Sachverhaltes aus rechtlichen und außerrechtlichen Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.3.4.2 Sachverhalt als Semantik versus Sachverhalt als Referenz. Der mehrschichtige Sachverhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3.4.1 Das rein phänomenologische Verständnis des Rechts. Norminzidenz versus Normbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3.4.2 Das rein normative Verständnis des Rechts. . . . . . . . . . . . . . 209 3.4.3 Die reine Rechtsontologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3.4.4 Zur Wirklichkeit von Gründen. Unterscheidung von Ursache, Grund, Motiv und Argument. . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 3.4.5 Folgen für die Unterscheidung von Tat- und Rechtsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.4.6 Wahrheit versus Begründung. Zur Gnoseologie der Sachverhaltsontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Gerechtigkeit und Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3.5.1 Juridische Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3.5.2 Billigkeit versus Aktualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Zu der Ontologie der Ungerechtigkeit und der Ungeeignetheit des Relativismus für ihre Bekämpfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Unterscheidung und Zusammenhang von Entstehung und Begründung juristischer Entscheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.7.1 Ontologie juristischen Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.7.2 Die epistemische Dichotomie juristischen Begründens. . . . . 246

XII

Inhaltsverzeichnis

3.7.3 Zur Notwendigkeit der epistemischen Dichotomie zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung. . . . . . . . . . . . . 251 3.7.4 Möglichkeit und Entlarvung von Scheinbegründungen im Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 3.8 Zur kulturellen und rechtlichen Bedeutung des Realismus. . . . . . . . 261 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

1

Einleitung

1.1 Erforderlichkeit einer Rechtsontologie überhaupt Die Moderne vollzog eine Wende des philosophischen Denkens von der Transzendenz zur Immanenz, indem Grund, Sinn, Zweck und Begriff ausschließlich als Erzeugnisse des Menschen angesehen werden und ebenso vergänglich seien wie er. Was auch immer Recht sei und wie es sich auch immer begründen lasse, dürfe nicht von der Natur abhängen, weil das Recht begründungsbezogen und die Natur an sich grundlos sei. Vehement lautet die gelehrte Maxime des modernen Rechtsdenkens, „kein Sollen ist aus einem Sein ableitbar!“ Unter dermaßen anthropozentrischen Prämissen büßt vor allem die Metaphysik an Relevanz ein: Wie der Rechtsbegriff oder nur die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens auch immer begründet werden, dürfe es nicht von metaphysischen Voraussetzungen abhängen, denn wer könnte wissen, was sich im metaphysischen Grenzverkehr abspielt, um aus der Transzendenz den Sinn des Immanenten zu erkennen? Doch das rein immanente Rechtsdenken erreicht nicht das Minimum an Kohärenz, das für die Verständlichkeit des Rechts notwendig ist. Denn was ist Recht für einen reinen Immanentisten? Zunächst das, was als solches konstruiert wird. Ein Blick auf die in der Gesellschaft vorhandenen Rechtskonstruktionsansprüche verrät jedoch, dass es widersprüchliche Auffassungen über das Recht gibt. Um eine Rechtskonzeption widerspruchsfrei erarbeiten zu können, sieht sich der Immanentist angesichts dieses Befundes gezwungen, eine Auswahl vorzunehmen, also immanente Quellen festzulegen, aus denen allein der Rechtsbegriff (und folglich die Zugehörigkeit einer Norm zu einer Rechtsordnung ebenso wie die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens) gewonnen werden kann. Immanent könnte das Recht als das definiert werden, (1) was aus dem Willen eines politischen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Ferreira Leite de Paula, Rechtsontologie, Juridicum – Schriften zur Rechtsphilosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30867-4_1

1

2

1 Einleitung

Gesetzgebers hervorgeht, (2) als die Entscheidungen von Richtern und Beamten, (3) als sozial instituierte Praxen und wertende Ansichten, (4) als mit Sanktionen ausgestattete soziale Normen, (5) als eine besondere Art von Sitte, also als das konvergente normative Verhalten einer großen Zahl von Menschen, die gewisse Regeln aus diversen Gründen befolgen und ihnen einen höheren Durchsetzungswert als anderen zuschreiben, oder (6) als die kritische Wertung von Bürgern über die Art und Weise, wie ihr Zusammenleben gestaltet werden soll, auch wenn es über herrschende Verhältnisse hinausgeht. Kurz, der rein immanente Rechtsbegriff entspricht in jedem Fall dem, was alle Menschen oder eine ausgewählte Gruppe von Menschen als das Recht ansehen oder praktizieren. Was das Recht ist, fällt mit dem tatsächlich oder potenziell als Recht Erachteten zusammen. Das Phänomen des Rechts, also das, was diesem, jenem oder allen als Recht erscheint, wird mit der Wirklichkeit des Rechts gleichgesetzt, nicht aber weil diese im Ganzen erscheine, sondern weil jenes diese im Ganzen ausmache. Die Rechtsontologie gleicht dabei der -epistemologie oder wird zugunsten dieser annuliert. Was begründet aber eine solche Begriffsfestlegung? Nicht das, was dieselben Menschen als Recht ansehen oder praktizieren, denn das wäre vitiös zirkulär: Das Recht wäre das, was alle oder einige Menschen als Recht ansehen, und zwar aus dem Grund, dass sie es sind, die es so tun. Wenn die Auswahl derjenigen, die für die Festlegung des Rechtsbegriffs fähig oder zuständig sind, zum Rechtsbegriff gehört und nicht durch den Rückverweis auf das durch die ausgewählte Gruppe für Recht Gehaltene begründet werden kann, muss sie durch jemand anderes getroffen werden, damit der Rechtsbegriff seine Immanenz bewahrt, das heißt, keine Erkenntnis einer dem Menschen gegebenen Begriffsnatur ist. So fällt die Auswahlzuständigkeit auf dasjenige Individuum, das den Rechtsbegriff so denkt, etwa einen kritischen Bürger oder einen Rechtstheoretiker. Es stellt sich heraus, dass er es war, der sich eine Gruppe von Menschen aussuchte, die X als Recht ansieht, und sagte, dass Recht X ist, weil diese Gruppe es so sieht. Der Begriff selbst war eigentlich seine eigene Leistung. Nun begegnet dieses Individuum vielen anderen, die selbst von einem anderen Rechtsbegriff ausgehen und deswegen eine andere Gruppe auswählen, die allein für den Rechtsbegriff zuständig sein soll. Um Kohärenz ohne Transzendenz zu bewahren, muss folglich eine Auswahl von Individuen stattfinden, die allein für die Auswahl der Gruppe zuständig sind, die wiederum für die Festlegung des Rechtsbegriffs zuständig ist. Was diese Auswahl begründet, kann ebensowenig aus dem Inhalt der Meinung des jeweiligen Individuums abgeleitet werden, denn das wäre vitiös zirkulär. Folglich muss die Auswahl durch jemand anderes getroffen werden. Wenn man aber von allen Individuen und Kollektiven absieht, bleibt in der reinen Immanenz der Konstruktionsbefugten niemand mehr übrig. Die reine Immanenz ermöglicht

1.1  Erforderlichkeit einer Rechtsontologie überhaupt

3

somit gar keinen Rechtsbegriff und setzt eigentlich in impliziter Weise einen transzendenten Rechtsbegriff voraus. Deswegen kann eine minimal kohärente Rechtsphilosophie nicht von einem rein immanenten Rechtsverständnis ausgehen. Sie kann auf ein Verständnis der dem Menschen gegebenen Wirklichkeit, seiner eigenen und der ihn umgebenden Natur einschließlich begrifflicher Art nicht verzichten. Es muss untersucht werden, was aus der Unausweichlichkeit der Transzendenz folgt. Diese sind alte und bewährte Weisheiten. Sie entsprechen der Rechtslehre der meisten Philosophien der Vormoderne. Rechtswissen wurde vor der modernen Radikalisierung des Hiatus von theoretischer und praktischer Philosophie immer als Konsequenz der Beschaffenheit der Wirklichkeit gewonnen,1 einschließlich der logischen und hierarchischen Strukturierung der Wirklichkeit, in der der Mensch und das Recht Ursachen, Gründe und Zwecke haben, die über dessen Schöpfungskraft hinausgehen und die allerdings dessen Erkenntniskraft zugänglich sind. Der Gegenstand der Rechtserkenntnis ist dabei der Wirklichkeit immanent, wohl aber dem Menschen zum Teil transzendent. Das Phänomen gleicht dabei nicht der Wirklichkeit, da diese jenes übertrifft; die Rechtsontologie gleicht nicht der -epistemologie. Die vorliegende Untersuchung stellt die Wirklichkeit des Rechts begrifflich und systematisch aus seinen eigenen Ursachen, Gründen und Zwecken dar und ist deswegen eine Rechtsontologie. Rechtsontologie im terminologischen Sinn einer Disziplin ist die Lehre des Seins des Rechts. Da das Recht normativ ist, das heißt, Rechte, Pflichten und Erlaubnisse enthält, die auch dann gelten, wenn sie nicht beachtet werden, schließt das Sein des Rechts trivialerweise seine Normativität ein. Denn auch das Sollen ist. Ein Sollen kann etwa positiviert oder nicht positiviert, alt oder neu usw. sein. Wenn das Recht zu dem, was ist, gehört, gehört es zur Wirklichkeit. Die Bezugnahme eines Subjektes auf das Recht ist folglich ein Bezug auf einen Teil der Wirklichkeit. Da das Recht sich von anderen Dingen unterscheidet, soll ein Subjekt, das anstrebt, das Recht gesondert vom Nichtrecht, vor allem vom Unrecht, zu erkennen, das heißt ein Subjekt, das nur das Recht als Referenz seines Denkens haben will, nicht an sich widersprüchliche Urteile fällen, sonst bezieht es sich auf nichts oder zumindest auf etwas zugleich, was nicht Recht ist. Die Absonderung des Rechts vom Unrecht und sonst von allem, was nicht Recht ist, samt der Darstellung seiner Seinsverhältnisse mit Sachen,

1Siehe

René Guénon, La crise du monde moderne, Paris: Gallimard, 1946 (Neufassung 1973), S. 43–52.

4

1 Einleitung

Tatsachen und Bewusstsein ist die Aufgabe der Rechtsontologie. Insofern die Rechtsontologie Begriff, Grund, Existenz, Ursache und Zweck des Rechts mit Bezug auf die Transzendenz behandelt, also bezüglich auf das, was vor menschlicher Schöpfung und Erkenntnis der Fall ist und nach menschlicher Setzung ebenso logische Form und ontologische Beharrlichkeit besitzt, ist sie eine Rechtsmetaphysik. Insofern die Rechtsontologie ein substanzielles Sollen des nicht von Menschen konstruierten Rechts darstellt und es aus des Rechts eigenen Gründen feststellt, ist sie eine Naturrechtslehre. Insofern sie die Wirklichkeit des menschlich gesetzten Rechts darstellt, ist sie eine Ontologie des positiven Rechts. Insofern sie das Recht kontemplativ, weder in konstruktiver noch in destruktiver Absicht betrachtet, ist sie eine Rechtstheorie.

1.2 Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts 1.2.1 Überwindung der Politisierung des Rechts mit formalistischen Mitteln In der Geschichte des Abendlandes ist die Rechtsphilosophie zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden, die über die bloße Darstellung der Rechtswirklichkeit hinausgingen, weil die Theorien das Ziel anstrebten, das Recht erst zu konstruieren oder zu dekonstruieren, anstatt es bloß zu betrachten. Sie bedienten sich des Formalismus von juristischen Kategorien und wissenschaftlicher Methodologie, um substanzielle Ziele moralischer oder politischer Art zu erreichen, ohne sie immer als solche auszuweisen. Es seien einige Beispiele erwähnt. Als die Franziskaner im 14. Jahrhundert die Gestaltung des Eigentumsbegriffs der ausschließlichen gesetzgeberischen Kompetenz eines irdischen Souveräns zusprachen und das Eigentum dabei nicht als eine theologische, sondern als eine juristische Angelegenheit deklarierten, beanspruchten sie u. a. die Erfüllung des politischen Zwecks, die Autorität des Papstes einzuschränken. Während der Gebrauch von Konsumgütern wie Lebensmitteln (usus facti) dem Papst zufolge von deren Eigentum (usus iuris, dominium, proprietas2) untrennbar war,3 nahmen

2Shogimen

Takashi, Ockham and Political Discourse in the Late Middle Ages, Cambridge: Cambridge UP, 2007, S. 58 f. 3Takashi, Ockham and Political Discourse in the Late Middle Ages, S. 47 f.

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

5

Mitglieder des Franziskanerordens diverse juristische Differenzierungen unter Entlehnungen aus dem kanonischen Recht vor, um die Bereiche weltlicher und päpstlicher Autorität abzugrenzen. Dem Orden zufolge erwarben Adam und Eva von Gott die rein theologisch verstandene potestas utendi4, nicht aber das dominium mundanorum5, da es im Garten niemanden außer ihnen gab, dem der relationale Eigentumsbegriff entgegengesetzt werden könnte. Der Ursprung des Eigentums sei vielmehr die Ursünde, und zwar als Kain und Abel einander vom Gebrauch gewisser Sachen ausschlossen. Das Eigentum sei also eine Ableitung aus der menschlichen sündhaften Vernunft und daher aus einer weltlichen Autorität, die zwar unter göttlicher Möglichkeitszulassung agiere, aber deren Entscheidungen nicht unmittelbar aus göttlichem Willen abgeleitet seien.6 Dementsprechend bezichtigten Franziskaner den Papst Johannes XXII, der das Eigentum theologisch begründet haben wollte, der theologischen Irrtümer hinsichtlich der Bibelinterpretation und letztlich der Ketzerei.7 Die franziskanische Rechtstheorie war ein starker Stoß gegen die päpstliche Autorität zum Einen wegen der Annahme eines theologischen Rechts, dem sich jegliche weltliche Autorität einschließlich des Papstes beugen müsste, zum Anderen aufgrund der Ermächtigung des Kaisers, der allein für juristische Angelegenheiten zuständig war.8 Die Rechtstheorie erfüllte in diesem Kontext im Ergebnis u. a. die praktische Funktion der Verteidigung des Kaisers gegen den Papst.9

4„potestas

utendi omnibus temporalibus uno modo vel alio“, Takashi, Ockham and Political Discourse in the Late Middle Ages, S. 61. 5„dominium omnium temporalium datum primis parentibus fuit potestas rationabiliter regendi et gubernandi temporalia absque eorum resistentia violenta“, Takashi, Ockham and Political Discourse in the Late Middle Ages, S. 61. 6Miller, Fred D./Biondi, Carrie-Ann (Hrsg.), A Treatise of Legal Philosophy and General Jurisprudence, Bd. 6. A History of the Philosophy of Law from the Ancient Greeks to the Scholastics, 2. Aufl., Dordrecht: Imprint Springer, 2015, Aufsatz von Anthony J. Lisska und Brian Tierney, S. 327. 7Siehe beispielsweise Wilhelm von Ockhams Ausführungen zu der theologischen Möglichkeit der Ketzerei durch einen Papst in Wilhelm von Ockham, I Dialogus V, cc. 1–5. in: Texte zur politischen Theorie, Stuttgart: Reclam, 1995, S. 19–63. 8Louis Dumont, Essais sur l'individualisme. Une perspective anthropologique sur l'idéologie moderne: Éditions du Seuil, 1983, S. 87. 9„Ockham introduced the idea of a natural right into his work essentially as a debating tactic to respond to an argument of John XXII. But, as his work broadened into a more general critique of papal power, he evidently realized that the idea could have much

6

1 Einleitung

Eine ähnliche praktisch-konstruktive Funktion von Rechtstheorie kann im deutschen Positivismus des 19. Jahrhunderts gefunden werden. Die deutsche Staatsrechtswissenschaft zeichnete sich im 19. Jahrhundert durch die Herausbildung eines besonders hohen Differenzierungs- und Abstraktionsniveaus von Rechtssätzen aus. Sie war eine dem Anspruch nach rein wissenschaftliche Auffassung des Rechtsstoffes, eine Dogmatik, die Philosophie, Geschichte und Politik weitgehend verdrängte.10 Hintergrund war der Ansatz, ein gemeinsames deutsches Staatsrecht zu etablieren.11 Ein bar ausdrücklicher geschichtlicher Grundlage erarbeitetes System abstrakter Rechtssätze bot sich aufgrund der noch nicht ganz ausgebildeten gemeinsamen Rechtsordnung des aufkommenden Kaiserreiches an.12 Aufgabe der Staatszwecklehre war es, Hoheitsrechte der Landesherren durch eine vereinheitlichte Staatsgewalt, einen selbständigen Organismus eigener Persönlichkeit,13 zu ersetzen.14 So leistete der deutsche

broader implications. In his later works Ockham, like John Locke (1632–1704) in a later age, persistently used the idea of natural rights to attack the doctrine of divine right absolutism, though in Ockham’s case it was papal absolutism rather than royal absolutism that was combated“ (Miller/Biondi, A Treatise of Legal Philosophy and General Jurisprudence, Bd. 6, S. 328). 10Walter Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, Frankfurt am Main: Klostermann, 1958, S. 135. 11Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 129. 12Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 131–133. 13Auch die Herausbildung des Staates als juristischer Person geschah im Kontext der Übertragung der politischen Macht des Adels an das nationale Bürgertum. „Der Hauptertrag der « Erfindung » der juristischen Person des Staates besteht darin, dass sie im Rahmen der postrevolutionären Auseinandersetzungen um die Staatsgewalt einen dritten Weg zwischen Herrschersouveränität und Volkssouveränität wies, den der Staatssouveränität. … Die Personifikation des Staates war die Voraussetzung dafür, dass die höchste Gewalt ­verlagert, nämlich der Person des Monarchen wie auch der personifizierten Nation entzogen und beim Staat angesiedelt werden konnte. … Die Staatsperson hat somit den von ihren « Erfindern » sicherlich bedachten Effekt, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf die Errichtung einer Konstitution hinzuwirken“ (A. Koschorke/S. Lüdemann/T. Frank/E. Matala de Mazza, Der Staat als juristische Person. in: dies., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main: Fischer, 2007, S. 349). 14Klaus Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Köln u. a.: Grote, 1964, S. 74; Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 135 f.

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

7

Positivismus einen Beitrag zur Vereinheitlichung des Staates gegen feudale Verhältnisse.15 Formeln und Postulate der traditionellen Rechtslehre wie Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes wurden im Kontext der Aufwertung des Gesetzesbegriffes im Sinne des sich etablierenden Nationalstaates entwickelt.16 In diesem Zusammenhang wurde auch eine formale Lehre der objektiven „Rechtstatsachen“ erarbeitet. Die dadurch und durch die Spezialisierung des Vokabulars ermöglichte „Ökonomie der Rechtsprache“ oder „Kurzsprache“17, die in ihrer Ausdrücklichkeit nur Juristisches enthielt, trug zur Distanzierung der staatlichen Rechtsprechung von einer großangelegten Substanzialität aus Ethik und Politik bei, die noch feudalen Verhältnissen verhaftet waren.18 Die b­ürokratisch-spezialisierte Darstellung, wie Rechtstatsachen und -wesenheiten wie „Eigentum“ und „Rechtsgeschäft“ entstehen, sich umwandeln und vergehen, ermöglichte den praktischen Betrieb eines Systems, ohne dass die moralischen und politischen Prämissen der juristischen Argumentation zum Ausdruck kommen mussten. „So würden wohl die wenigsten Juristen in der Lage sein, auf Befragen auch nur einigermaßen exakt anzugeben, wie Forderungsabtretungen, Verträge zwischen juristischen Personen, Eigentumsverschiebungen oder ähnliche von ihnen täglich wahrgenommene Geschäfte bei Abstreifung jener Bildersprache denn eigentlich als

15Hespe,

Zur Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatswissenschaft des 19. Jahrhunderts, S. 75. 16Ausführliche Analyse und Kritik bei Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Berlin: Duncker & Humblot, 2012 (Nachdruck der Ausgabe 1932), S. 19–28. 17Fritz von Hippel, Zur Gesetzmässigkeit juristischer Systembildung, Berlin: Junker u. Dünnhaupt, 1930, S. 34 f. 18„In dieser Begriffswelt [der Theorie der juristischen Tatsache], ihrer Schau, Darstellung und Entwicklung, sichte und fand der Positivismus des 19. Jahrhunderts den Ersatz für die eigene rechtskritische Wertung der zu ordnenden Lebensverhältnisse, zu welcher er mangels einer hierzu fruchtbaren weltanschaulichen Basis unfähig war. Unter Verzicht auch nur auf Ansätze zu selbständiger rechtspolitischer Begründung der einzelnen positiven Rechtssätze sieht sich der Positivist gezwungen, diese im Hinblick auf die Kategorien von Ursache und ‚Rechtswirkung‘, von ‚Rechtsgrund‘ und ‚Rechtsfolge‘ zu zerlegen und zu vereinen“ (Josef Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen. Kritisches zur Technik der Gesetzgebung und zur bisherigen Dogmatik des Privatrechts, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1940, S. 132). „Die vermeintliche Wertfreiheit des juristischen Denkens ist notwendig ideologieanfälliger als die Freiheit des Richters zur Wertung“ (Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, Frankfurt am Main: Fischer, 1972, S. 119).

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1 Einleitung

konkrete Gesellschaftsregelung aussehen“19. Im Ergebnis wurden mit alledem moralische Wertungen und substanziell politische Ansichten in die Rechtsontologie vorgezogen, indem Rechtstatsachen dargestellt und begründet wurden, ohne die erhöhte Begründungslast von politischen Argumenten zu übernehmen, da es meistens keines politischen oder moralischen Argumentes bedarf, um die objektive Existenz oder Nichtexistenz einer Entität zu begründen. Der Positivismus leistete mit alledem eine Überobjektivierung des Rechts um der Legitimierung einer noch nicht etablierten politischen Ordnung willen. Eine gegensätzliche, diesmal delegitimierende Tendenz war in der Rechtstheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten. Die herrschende politische Programmatik wurde damals umgekehrt: Sie bestand in der Bekämpfung der nationalstaatlichen Ordnungsmacht. Unter Umständen, in denen das Recht durch die bekämpfte Seite erlassen wird, wäre aber das Bestehen auf seine Objektivität ein ungeeignetes Kampfmittel. Deswegen sammelte die Rechtstheorie im Laufe der Jahrhunderthälfte eine vorher nie dagewesene Vielfalt an relativistischen Motiven, die die Objektivität des Rechts unterminieren sollten. Die im Recht angewandte philosophische Hermeneutik zum Beispiel enthüllte „Vorurteile“ bzw. „Vorverständnisse“ des juristischen Entscheiders, die aus einem kulturellen Sinnhorizont bestehen, jegliche Fragestellung und Entscheidung als Möglichkeitsbedingung prägen und die weit über die bewusste Reflektion des Individuums hinausreichen.20 Die Hermeneutik vollzog eine

19Hippel, Zur Gesetzmässigkeit juristischer Systembildung, S. 35. „Dieser Glaube an die Existenz und Möglichkeit ‚j u r i s t i s c h e r T a t s a c h e n‘ (der in einer Zeit fehlender staatlicher Gesetzgebung zugleich das Lückenproblem ausräumt und bei äußerem Formenwandel der Rechtsdogmatik ein Festhalten an der bisherigen naturrechtlichen Entscheidungsweise ermöglicht), scheint mir nun die eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts zu bilden“ (ders., S. 26). 20Siehe das einflussreiche Beispiel der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, der die Rechtsanwendung als einen Akt des Verstehens ansieht, dessen Sinn erst im Moment der Anwendung vollständig erreicht wird: „Wir können … als das wahrhaft Gemeinsame aller Formen der Hermeneutik herausheben, daß sich in der Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet, daß aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält. Weder der Jurist noch der Theologe sieht in der Aufgabe der Applikation eine Freiheit gegenüber dem Text“ (HansGeorg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen: Mohr, 1990, S. 338). Sich an den Sinn eines Textes zu

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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Wende von textnaher, noch zum Teil normativer Interpretationslehre hin zu einer soziokulturellen Analyse des Zustandekommens von Interpretation.21 Eine Folge ist es, dass jegliche Interpretation von Rechtstexten im Ergebnis viel mehr Inhalt hat, als das, was ausdrücklich im Gesetz steht. Folglich könne das Recht im Einzelfall nicht aus dem Gesetz abgeleitet werden, und dies nicht auf Basis einer substanziellen moralischen oder politikphilosophischen Begründung, die aus substanziellen Gründen erklärte, warum vom Gesetz gegebenenfalls abgewichen werden sollte, sondern bereits aus der unverrückbaren Notwendigkeit der Ontologie des Verstehens. Die darauffolgende Methodenlehre knüpfte an hermeneutische Deutungskategorien an und behauptete vor allem im Rahmen der verfassungsrechtlichen Methodik, der Normtext sei noch nicht die Rechtsnorm, sondern diese müsse erst aus einem sozialen, über das schriftliche Gesetz hinausgehenden „Normbereich“ durch den „Rechtsarbeiter“ erschlossen werden, um eine „Fallnorm“ zu ergeben, die letztlich eine Konstruktion des Rechtsanwenders im Einzelfall sei.22 Die angestrebte substanziellpolitische Berechtigung einer

„halten“ bedeutet hermeneutisch keineswegs eine Wiedergabe des Textinhaltes oder eine Subsumtion aus dem Gesetzestext, wie das Selbstverständnis der klassischen juristischen Methodenlehre annimmt, sondern eine kreative Tätigkeit, die den Sinn des anzuwendenden Textes anhand der kulturellen und zugleich subjektiven Vorverständnisse des Interpreten erst konstituiert. 21Analyse und Kritik bei Jacques Bouveresse, Hermeneutique et linguistique suivi de Wittgenstein et la philosophie du langage, Combas: Éditions de l’éclat, 1991, S. 21–25. Die hermeneutisch-kritische Kontextualisierung führt das Zustandekommen einer normativen These auf Umstände ihrer konkreten Äußerung zurück, die sie jedoch nicht rechtfertigen. Es wird dadurch nachträglich die Einbettung eines theoretischen Bewusstseins in ein über das Individuum hinausgehendes, ihm nur zum Teil zugängliches Narrativ, geleistet. Siehe Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg: Junius, 2002, S. 146 f. Vattimo zufolge hat die Hermeneutik eine „nihilistische Berufung“, die darin besteht, die „Auflösung der Wahrheit als endgültiger und ‚objektiver‘ Evidenz“ in Gang zu setzen. Siehe Gianni Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag, 1997, S. 13–31. Siehe auch das Erfordernis einer „Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen“ u. a. unter Rezeption von zentralen Thesen der philosophischen Hermeneutik Gadamers bei Thomas Vesting, Rechtstheorie. Ein Studienbuch, 2. Aufl., München: C. H. Beck, 2015, Rn. 213, 243. 22Siehe Friedrich Müller, Syntagma. Verfasstes Recht, verfasste Gesellschaft, verfasste Sprache im Horizont von Zeit, Berlin: Duncker & Humblot, 2012, S. 37. „Es erscheint einleuchtender, erst die lex in casu ‚Rechtsnorm‘ zu nennen: hinreichend konkret, um den Ausgang des Verfahrens normativ zu steuern. Recht ist alles, was der (entschiedene)

10

1 Einleitung

eventuellen Abweichung von Gesetzestexten wird somit unter Rückgriff auf vermeintliche epistemische Notwendigkeiten begründet. Es verbreiteten sich zudem zur selben Zeit insbesondere in Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika Theorien der „Verfassungswandlung“, die einen Interpretationsrelativismus zum Zweck der liberalen Anpassung der Verfassungsinterpretation auf geänderte gesellschaftliche Umstände vornahmen.23 So

Fall ist“, (Friedrich Müller, Juristische Methodik. Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, Bd. I, 11. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2013, Rn. 471). Die Strukturierende Rechtslehre erweiterte die Bedeutung der Rechtsnorm, indem diverse soziale Komponenten des Sachverhaltes (der „Normbereich“) zum „Strukturbestandteil der Rechtsvorschrift selbst“ erhoben wurde (vgl. dens., Rn. 235a). „Die Argumente der ontologischen Hermeneutik kehren in der Strukturierenden Rechtslehre Friedrich Müllers wieder, allerdings in sprachphilosophischer Gestalt“ (Matthias Klatt, Die Wortlautgrenze, in: Recht verhandeln, Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, hrsg. von K. D. Lerch, Berlin u. a.: de Gruyter, 2005, 343–368, S. 348). Der Strukturierenden Rechtslehre zufolge scheitert das auf die Legislative zentrierte Rechtstaatsverständnis bereits aus sprachtheoretischen Gründen (vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik. Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, Bd. II Europarecht, 3. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2012, Rn. 622 ff.). „Die überwiegende Aktivität der Sinngebung liegt auf der Seite des Rechtsarbeiters“, der allerdings „an die politischen Ziele des Gesetzgebers gekoppelt“ bleibt (ders., Rn. 626) – eine Spannung zwischen Rechtsanwendung und -erzeugung, die zugunsten der letzteren gelöst wird. Zu dieser Spannung in der Strukturierenden Rechtslehre kritisch André Ferreira Leite de Paula, Herausforderungen rechtlichen Begründungstätigkeit unter den Bedingungen skeptischer Epistemologie, in: Vorbedingungen des Rechts, Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie, hrsg. von M. Abraham/T. Zimmermann/S. Zucca-Soest, Stuttgart: Franz Steiner, ARSP Beiheft 150, 2016, 155–169. Die Strukturierende Rechtslehre ist ein Beispiel der weit verbreiteten Tendenz, Entscheidungskriterien außerhalb des Gesetzestextes zu finden, sei es im „Vorverständnis“ (Josef Esser), im „Normbereich“ (Friedrich Müller), im „Rechtsethos“ (Reinhold Zippelius) oder in der juristischen Schulung (Karl Larenz). Zu einem systematischen Überblick hierzu siehe Ulfrid Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, in: Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, hrsg. von D. Simon, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, 145–187, S. 160–164. 23Die theoretischen Vorarbeiten für die in der zweiten Jahrhunderthälfte häufig vertretene Position einer flexiblen Verfassungsinterpretation wurden von Rudolf Smend als Verfassungslehre der „Integration“ geleistet. Für die Anwendung der Verfassung bedeutete es, „dass sie in hohem Maße elastisch und dynamisch, in vielfältiger Weise zur Wirklichkeit und ihren Veränderungen hin offen wird: Das rechtsschöpferische, konstruktive Element der Interpretation kann als ihr selbstverständlicher Bestandteil anerkannt werden; die Norm selber wird dadurch nicht als etwas der Interpretation Vorausliegendes begriffen, sondern

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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wurde die Anwendung der schriftlichen Verfassung ohne ausdrückliche Änderung des Verfassungstextes geändert.24 Ein „desire of freedom from the text“25 drängte sich der Rechtswissenschaft insgesamt auf, die am Gesetzestext nur noch einen

bildet sich immer erst in der Interpretation. … Dementsprechend wird auch die Methode der Interpretation einer grundlegenden Revision unterzogen und immer weiter von einem Modell strikter Rechtsbindung entfernt“ (Uwe Volkmann, Rechts-Produktion oder: wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, Der Staat 54, 2015, 35–62, S. 52). Siehe auch die Bewegung des living constitutionalism in den Vereinigten Staaten von Amerika: „Living constitutionalism … is primarily a theory of constitutional construction. Living constitutionalists believe that the legal content of constitutional doctrine must change with changing circumstances and values“ (Lawrence B. Solum, The Interpretation-Construction Distinction, Constitutional Commentary 27, 2010, 95–118, S. 117). 24Ausführliche Analyse und Kritik der „Entformalisierung der Verfassung“ und der damit einhergehenden „Entfaltung des Justizstaates“ bei Ernst Forsthoff: „Die Überwindung des Positivismus ist nicht die Preisgabe der Positivität des Rechts überhaupt. … es werden Bestrebungen an der Verfassung legitimiert – ein von der Interpretation durchaus zu unterscheidender Vorgang. Solche Legitimierung bedeutet, daß diese Bestrebungen in den Vorrang der Verfassungsmäßigkeit erhoben werden … Die geisteswissenschaftlich-werthierarchische Methode verunsichert das Verfassungsrecht, indem sie das Verfassungsgesetz (in den oben bezeichneten Grenzen) in Kasuistik auflöst. … Das Verfassungsrecht ist ‚offen‘ geworden. Was als Verfassungsrecht zu gelten hat, ergibt sich jeweils im konkreten Falle. … Das Verfassungsgesetz befindet sich in einem Zustand partieller Auflösung“ (Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt, zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Barion/E. Forsthoff/W. Weber, Berlin: Duncker & Humblot, 1959, 35–62, S. 39, 48, 52, 55, 59). Zu einer kritischen Analyse der politischen Funktionen der Rezeption der philosophischen Hermeneutik in der Verfassungstheorie vgl. auch David Kennedy, The Turn to Interpretation, Southern California Law Review 58, 1985, 251–275. 25Antonin Scalia/Bryan A. Garner, Reading Law. The Interpretation of Legal Texts, St. Paul (MN): Thomson/West, 2012, S. 9. Mit besonderer Hervorhebung und auf Basis sprachtheoretischer Überlegungen relativierte die Strukturierende Rechtslehre Friedrich Müllers den Stellenwert des Gesetzeswortlautes: „Es gibt Rechtsnormen – aber an anderen Orten als im Gesetzbuch, zu anderen Zeitpunkten als bei der Veröffentlichung im Gesetzblatt, von anderen hervorgebracht als vom parlamentarischen ‚Legis‘lator“ (Müller, Syntagma, S. 47). Das „desire of freedom from the text“ kann auch als ein „desire of freedom from the state“ aufgefasst werden, denn auch die Staatstheorie wurde zum Teil von ontologischem Objektivismus hinsichtlich der Existenz des Staates auf Antirealismus oder zumindest Skepsis umgestellt. Siehe das Beispiel der These, der Staat selbst sei eine Fiktion, die „Staatsperson“ sei eine Metapher, die im Gegensatz zum „realen Geschehen“

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unter vielen möglichen Gesichtspunkten oder Topoi sah, die für die Fallentscheidung nur noch einer Erwägung Wert sind. Dabei wurde die Abweichung vom Verfassungstext oft nicht als politische Option dargestellt, für die gute Gründe sprechen mögen, sondern als eine faktische Notwendigkeit, die bereits epistemologisch zwingend sei.26 Das angestrebte Gute und das normative Sollen wurden als ein theoretisches Müssen formuliert.

stehe (Koschorke/Lüdemann/Frank/Mazza, Der Staat als juristische Person, S. 354). Ebenso wie Theoretiker des 19. Jahrhunderts die objektive Existenz des Staates als Person von einer politischen Interessenlage heraus behaupteten, bedienten sich Staatstheoretiker seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts des ontologischen Antirealismus hinsichtlich der Existenz des Staates, um die globalistische Politik zugunsten einer „postkolonialen Weltordnung“ (dies., S. 384) zu begünstigen. So wurde jeweils die Existenz und die Nichtexistenz des Staates aus politischen Interessen heraus behauptet und wiederum als Basis für politische Schlussfolgerungen verwendet. Im Ergebnis wurde dabei Ontologie politisch betrieben. 26Siehe

beispielsweise die Konzeption der Verfassung als jene „Verständigung“, die jede Verfassungsinterpretation als konstruktive Leistung des Interpreten durch die Wahl einer zugrundeliegenden Verfassungstheorie ansieht: „In der Tat kann kein Text darüber entscheiden, wie er verstanden werden soll und es ist ja umgekehrt der Text selber, der von einer bestimmten Theorie aus gelesen wird.“ Es geht dabei „um einen Vorgang der Verständigung, an dem alle diejenigen beteiligt sind, die an der Anwendung der Verfassung in der Vergangenheit mitgewirkt haben und bis heute mitwirken. Dieser stellt sich damit seinerseits zuletzt nur als Ausschnitt jener Rechts-Produktion dar, wie sie für die Anwendung der Verfassung insgesamt kennzeichnend ist, nur dass sie sich nicht auf die konkreten und für die Falllösung unmittelbar relevanten Aussagen der Verfassung bezieht, sondern auf die allgemeineren Prämissen, die dann ihrerseits das Verständnis oder überhaupt erst die Gewinnung dieser einzelnen Aussagen anleiten. So oder so ist sie aber etwas Gemachtes, ein soziales und epistemisches Konstrukt, das Resultat von Kommunikationen, die über die Verfassung geführt worden sind und nun mitbestimmen, was die Verfassung heute ist. Die Verfassung selbst sagt zu alledem, wenn man ehrlich ist: nichts“ (Volkmann, Rechts-Produktion oder: wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, S. 59 f.). Zur Relativierung der semantischen Bedeutung von Gesetzestexten schon aus „strukturaler Notwendigkeit“ siehe auch Ino Augsberg, Rechtslektionen. Zur Textualität des juristischen Verfahrens, Rechtstheorie 40, 2009, 71–97, S. 73, 81–85.

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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Diese und viele andere Ansätze aus Topik27, Rhetorik28 und selbsternannten „postmodernen“ Rechtstheorien29 führten gemeinsam eine historisch einzigartige Relativierung der Bedeutung von Gesetzestexten und letztlich eine

27Zur

Topik siehe Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 5. Aufl., München: Beck, 1974. Analyse und Diskussion in Ulfrid Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986, S. 54–69. 28Die Rechtsrhetorik ist einer unter vielen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen theoretischen Ansätzen, die die Rationalität, Wahrheitsfähigkeit und Wissenschaftlichkeit juristischer Interpretation und Entscheidung unter Angabe außerrationaler oder sogar irrationaler Ursprünge von Überzeugungen über Recht kritisieren. Die Rechtsrhetorik entwirft ein pessimistisches Bild der conditio humana bezüglich auf die Möglichkeit der Erkenntnis (siehe Rolf Gröschner, Jurisprudenz und Enthymem. Eine leidenschaftliche Liaison, Rechtstheorie 42, 2011, 515–535). Sie thematisiert „Triebe zur Metapherbildung“ und „außerwissenschaftliche Kräfte, die bei der Produktion wissenschaftlichen Wissens am Werk sind“ und will somit „Diskursbedingungen in der modernen Welt“ darstellen (John Bender/David E. Wellbery, Die Entschränkung der Rhetorik, in: Texte und Lektüren, Perspektiven in der Literaturwissenschaft, hrsg. von A. Assmann/J. B. Bender, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1996, 79–104, S. 87, 90). In diesem Sinne auch Kye Il Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, S. 472 f.). Im Vordergrund stehen also die situativen Produktionsbedingungen rechtlicher Rede. Die Rhetorik ist in diesem Sinne eine Weiterführung des Gedankens der Topik, „alle Gedankenprodukte in ihren situativen Urprung zurückzunehmen“ (Viehweg, Topik und Jurisprudenz, S. 115). Die Rhetorik ist zwar eine sehr alte Kunst (Dieter Simon, Recht als Rhetorik – Rhetorik als Recht, in: Gerüchte vom Recht. Vorträge und Diskussionen aus dem Berliner Seminar Recht im Kontext, Bd. 1, hrsg. von D. Grimm/A. Kemmerer/C. Möllers, BadenBaden: Nomos, 2015, 201–225), aber erst seit dem 20. Jahrhundert wurde sie zu einem spezialisierten Feld juristischer Expertise (H. Hohman, Juristische Rhetorik. in: Ueding, Gert (hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen: Niemeyer, 1998). 29Siehe beispielsweise die Forderungen nach einer „neuen Form der gesellschaftlichen Selbstkoordination“ für eine „liberale Rechtsgesellschaft“ „durch eine stärkere Öffnung für Elemente der Selbstregulierung und Prozeduralisierung, durch Anreize zur längerfristig angelegten systematischen Selbstbeobachtung, zur Bindung von Ungewißheit durch mehr Flexibilität und durch Anreize zur Erzeugung von Wissen“. Diese „Veränderung der Wissensbasis“ knüpft sich an die Hermeneutik an und lässt sich in Ladeurs Lesart charakterisieren als „eine Umstellung von der vertikalen Autorität des Gesetzes und der Erfahrung auf ein horizontal-situatives « dialogisches » Verhältnis zwischen Recht und Rechtspraxis“ (Karl-Heinz Ladeur, Methodendiskussion und gesellschaftlicher Wandel, RabelZ 64, 2000, 60–103, S. 66–68). Zur postmodernen Rechtstheorie siehe auch KarlHeinz Ladeur, Die Evolution des Rechts und die Möglichkeit eines „globalen Rechts“

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Unterobjektivierung des positiven Rechts herbei.30 Dies geschah im Zuge einer Wende zum Sozialen31, einer zugleich sprachpragmatischen Wende32, im Rahmen derer das Recht nicht einmal als „Rechtssystem“, sondern oft als „soziales

jenseits des Staates – zugleich eine Kritik der „Selbstkonstitutionalisierungsthese“, Ancilla Iuris, 2012, 220–255. Auch die Paradoxiepflege der postmodernen Literatur (beispielsweise Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts. Texttheoretische Lektionen für eine postmoderne juristische Methodologie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2009, S. 52: „Dass die schweigsamen Gesetze gelesen werden müssen, besagt demnach noch nichts darüber, ob sie auch gelesen werden können. Die Lesbarkeit der Gesetze ist vielmehr nicht zu trennen von ihrer Unlesbarkeit“) bewirkt eine politisch motivierte Herabsetzung der praktischen Bedeutung von Gesetzestexten. Politisch nicht zuletzt deshalb, weil die Relativierung des Begriffs und semantischen Sinns des Gesetzes anhand epistemologischer und ontologischer Thesen vorgenommen werden, die einer u. a. linksliberalen Programmatik folgen, wie z. B. „Vorrang der Pluralität“ (ders., S. 116), „Vorrang der Säkularisierung“ (S. 117), Diversität statt Universalität und Totalität (S. 119), „Verabschiedung der herrschaftsorientierten Hermeneutik“ (S. 121) und Umstellung von Identität auf Diversität (S. 183). 30„Many scholars argue that legal argumentation was not ruled by law. According to this view, it is rather ruled by what we could call the five I-s of legal reasoning: legal argumentation is said to be intuitive, incidental, indeterminate, ideological, and irrational. A core argument for this rather sceptical view, inspired by sociological research, is the lack of a clear hierarchy among the various canons of interpretation. Due to this absence of hierarchy, it seems to be impossible to justify the free choice of one or the other judgement, particularly in hard cases“ (Matthias Klatt, The Rule of Dual-Natured Law, in: Legal argumentation and the rule of law., hrsg. von E. T. Feteris, H. Kloosterhuis, H. J. Plug und C. E. Smith, Den Haag: Eleven International Publishing, 2016, 27–46, S. 27). Zu weiteren Kritikpunkten an der Objektivität des Gesetzeswortlautes und Diskussion aus sprachphilosophischer Sicht siehe Klatt, Die Wortlautgrenze. 31Siehe beispielsweise Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 135. 32„Akzeptiert man die Einsichten des neueren Sprachdenkens und insbesondere die pragmatische Wende des linguistic turn, muss die Rechtstheorie ihre Festlegung auf ein normatives Regelverständnis überdenken, d. h. die Festlegung auf ein Regelverständnis, in dem dem Sinn einer Regel unabhängig von ihrem praktischen Gebrauch und den sie ermöglichenden Medien Normativität und Bindungskraft zugeschrieben wird. … Es wäre also zu erwägen, den juristischen Normbegriff aus der Tradition des abstrakt normativen Regelverständnisses herauszulösen und in einem post-normativen, ‚praxeologische(n) Regelverständnis‘ [Krämer] neu zu verankern. … Rechtsnormen bilden sich in der modernen (liberalen) Gesellschaft, die auf dauernden Wandel angelegt ist, aber erst im Vollzug eines ‚Sprachspiels‘, also erst durch eine erfolgreiche Rechtspraxis, ‚in der Handlungen und Urteile erprobt und in ihrem Zusammenhang beobachtet werden‘ [Ladeur]“ (Vesting, Rechtstheorie, Rn. 60 f., mit wörtlichen Zitaten von den in eckigen Klammern genannten Autoren).

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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System des Rechts“33 oder als „normative Praxis“34 verstanden wurde. Somit verschiebt sich der Inhalt des Rechts erheblich, denn das Recht fängt an, nicht mehr in sich stabil und nicht einmal das Produkt der Entscheidung eines politischen Gesetzgebers zu sein, sondern in einer pluralen sozialen Praxis zu bestehen, von der die ausdrücklichen politischen Bestimmungen einer nationalen Bevölkerung oder Elite nur einen kleinen Teil ausmachen. Auch hier wird eine solche Wende meistens nicht durch die Anführung eines ausführlichen substanziellpolitischen Argumentes geleistet, das begründete, warum es gut sei, dass die nationalstaatlichen Regelungen eine geringere Rolle im gesellschaftlichen Leben spielen als einst, sondern aufgrund ontologischer oder epistemologischer Notwendigkeiten, wie beispielsweise der Art und Weise, wie die Anerkennungspraxis notwendigerweise begrifflich geschieht35 oder, systemtheoretisch, wie die internen

33Im

Sinne der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Siehe Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995. Der systemtheoretische Ansatz löst die Perspektive des Handelnden auf und behandelt Subjekte und Institutionen als Erzeugnisse eines sozialen Systems, dem die subjekttypischen Fähigkeiten etwa des Denkens, Wissens und Sehens zugeschrieben wird. Siehe kritisch Hubert Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt am Main: Fischer, 1973, S. 123. Das soziale System erhält dabei „epistemische Autorität“ und „entscheidet“ autonom über eigene Operationen: „in konstruktivistischer Sicht gibt es keine Möglichkeit, die epistemische Autorität des Rechts in Frage zu stellen“ (Gunther Teubner, Die Episteme des Rechts. Zu erkenntnistheoretischen Grundlagen des reflexiven Rechts, in: Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, hrsg. von D. Grimm, BadenBaden: Nomos, 1990, 114–155, S. 132).

34Siehe

die sogenannten Anerkennungstheorien, die die Existenz eines Rechtssystems von der verbreiteten „Akzeptanz“ oder „Anerkennung“ von Bürgern abhängig machen, wie zum Beispiel H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl., Oxford: Clarendon Press, 1994; John R. Searle, Making the social world. The structure of human civilization, New York: Oxford University Press, 2010 und in Anschluss u. a. an Hart und Searle Luka Burazin, Can There Be an Artifact Theory of Law?, Ratio Juris 29, 3/2016, 385–401. Analyse und Kritik des damit etablierten Sozialpositivismus unten, Abschn. 2.6.2, F.II und in André Ferreira Leite de Paula, On the Unity of Law, Practical Reason and Right. Foundations of the Unity of Reason beyond the Plurality of Knowledge and of Normative Orders, in: Law and Morals, hrsg. von A. Ferreira Leite de Paula/A. Santacoloma Santacoloma, Stuttgart: Franz Steiner, ARSP Beiheft 158, 2019, 15–116, S. 72–79, 101 f. Analyse und Kritik von Anerkennungstheorien des Rechts unten, Abschn. 3.4.1, D.I. 35In Anschluss an die sehr einflussreiche Anerkennungstheorie H. L. A. Harts und wegen der Deutlichkeit besonders erwähnenswert: „In the case of legal systems, a we-mode collective recognition which involves sharing a we-attitude is (conceptually) necessary for several reasons. … Furthermore, it intuitively seems impossible that each member of a group acting as a private person separately recognizes a legal system as an institution and

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1 Einleitung

Operationen von sozialen Systemen funktionieren müssen: Es gebe dabei nichts, was den ständigen Wechsel des Rechtsinhaltes durch den sozialen Wandel aufhalten könnte. Was heute in der sozialen Praxis als Recht angesehen wird, sei demnach eben alles, was es an Recht gebe; ändern sich demnächst die normativen Erwartungen und Anerkennungen in der sozialen Praxis sogar zum Gegenteil der bisherigen, so ändere sich auch das Recht. In all den letztgenannten Theorien werden epistemologische und ontologische Thesen über das Recht vertreten, die explizit oder implizit der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschenden politischen Programmatik folgten und die eine Unterobjektivierung des positiven Rechts herbeiführten: Das politische Motiv der Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft durch Verringerung der Macht des Nationalstaates breitete sich in der Rechtstheorie als Verringerung der Systematizität und Objektivität des Rechts aus. Eine ganz bestimmte Politik wurde anhand ontologischer und epistemologischer Begründungsstandards betrieben. Der Überobjektivierung des 19. Jahrhunderts in Richtung Herausbildung des Nationalstaates folgte eine Unterobjektivierung in der zweiten Hälfte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts im Sinne der Bekämpfung des Nationalstaates hin zur Herausbildung einer globalen Weltordnung. Wenn nun eine globale politische Ordnung sich eventuell durchsetzt und ausreichende Unterstützung seitens der juristischen Zunft und des akademischen Establishments findet, ist es zu erwarten, dass sich die Rechtstheorie wieder

that this purported legal system exists as an institution on the basis of the sum of individual I-mode attitudes of the same content. … In fact, there is no conceptual possibility that members of a community recognize the existence of a legal system without, at the same time, having the belief that the other members to which this legal system should relate recognize the system as well, and without there existing the mutual belief within the community that their members recognize the existence of their legal system. … So, basically, the existence of a legal system is (indirectly) supported by citizens’ collective recognition of a social norm of recognition (i.e., that certain people should be counted as officials), since citizens, by their collective recognition, impose the status of officials to certain people, and thus also attach to them the corresponding powers of identifying, creating, and applying law, i.e., that in regard to which they have the corresponding duty to comply with. … One can, thus, say that social validation, consisting in carrying out and maintaining a shared we-attitude from collective recognition, is the realization of or the bringing about of the institutional artifact in question. … it is necessary that citizens use the norms of their legal system in order for the system to exist“ (Luka Burazin, Legal Systems as Abstract Institutional Artifacts, in: Law as an Artifact, hrsg. von L. Burazin/K. E. Himma/C. Roversi, Oxford: Oxford UP, 2018, 112–135, S. 116–118, 121, 130, 132).

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

17

auf Objektivismus in Bezug auf dieses neue positive Recht umstellt und hierbei viele der heute herrschenden Relativismen ablehnt, jedoch nur bis die übernächste politische Umwälzung kommt und sich ebenso theoretischer Mittel für die Relativierung des globalen Rechts bedient usf. Die wahre Rechtsontologie ist aber kein politisches Unterfangen. Im Gegensatz zu Überobjektivierungsansätzen und zum Naturrecht kann die Ontologie des positiven Rechts keine Objektivität höherer Ordnung anbieten, die die substanzielle Legitimation eines bestehenden oder eines nicht mehr oder noch nicht legitimen politischen Regimes ersetzen könnte. Bei einer Rechtsontologie geht es vielmehr darum, das Recht darzustellen, wie es in Wirklichkeit ist. Die Ontologie des positiven Rechts bietet primär keine politische Philosophie über eine gerechte Gesellschaft und auch keine Moralphilosophie über das richtige Verhalten von Individuen, obwohl sie sekundär moralische und politische Folgen haben kann, ja sogar muss, wenn Tatsachen Folgen haben und das Recht mit Moral und Politik verbunden ist. Die letztliche Einschätzung der Gerechtigkeit des positiven Rechts muss aber immer zusätzlich zu seiner eigenen Ontologie, nicht durch sie geleistet werden. Die Ontologie des positiven Rechts ist per se weder Apologie noch Kritik einer spezifischen politischen Ordnung. Das bedeutet noch nicht, dass das positive Recht reine Form wäre und keinen Gerechtigkeitswert hätte. Es gibt nämlich keine Form ohne Substanz. Das positive Recht vollzieht die einzigartige juridische Gerechtigkeit, die im Wesentlichen in Rechtssicherheit, friedlicher und prozeduraler Konfliktlösung besteht. Aber dieser Wert ist nicht absolut. Er kann in bestimmten Fällen der moralischen oder der politischen Gerechtigkeit weichen müssen, wenn diese die gerechteste Falllösung bieten. Das bedeutet: Auch wenn alles positive Recht teilweise mit Politik und Moral verbunden ist, ist es nicht schlichtweg Synonym für Politik und Moral. Denn die normativen Ordnungen können auch auf ihren jeweils ideellen Ebenen begrifflich unterschieden werden: Während die spezifisch juridische Gerechtigkeit, die seit dem altrömischen Recht von anderen Gerechtigkeitsarten ausdifferenziert ist,36 innerlich mit Rechtsform, -prozeduren und

36Aldo

Schiavone, Ius. L’invention du droit en Occident, übers. Geneviève and Jean Bouffartigue, Paris: Belin, 2008. „C’est à Rome seulement que le travail d’ordonnancement inévitablement présent dans toute communauté fut très tôt réservé, et de façon rigoureuse, à un grupe de spécialistes, puis se transforma en une technologie sociale au statut fort, qui, pour la première fois et pour toujours, allait isoler la fonction juridique et ses experts, les «juristes» (un mot inconnu des langues anciennes, à l’exception du latin), la

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1 Einleitung

-sicherheit verbunden ist, betrifft die moralische Gerechtigkeit eher die Tugendhaftigkeit, Anständigkeit usw. eines individuellen Verhaltens, wohingegen die politische Gerechtigkeit die distributiven Kriterien für Ehre, Güter und Macht ebenso wie kollektives Handeln umfasst. Gerechtigkeit ist keine ausschließlich moralische Frage, sondern sie hat auch juridische und politische Komponenten, die weder aufeinander noch auf Moral reduzierbar sind.37 Die Rechtsontologie stellt weder zu viel noch zu wenig, sondern das genaue Maß an Wirklichkeit dar, die das positive Recht von sich aus besitzt. Sie liefert den Maßstab, anhand dessen Über- und Unterobjektivierungen des positiven Rechts überhaupt als solche identifiziert werden können. Sie hat aber auch eine rein ethische Auswirkung, die ihr praktisches Motiv ausmacht, nämlich die Wahrung der Objektivität des Rechts vor unbegründeten Relativierungen in der Anwendungspraxis. Dies richtet sich insbesondere gegen Relativierungsansätze von Oppositionsbewegungen aller Zeiten, die die geringere Überzeugungsfähigkeit substanziellpolitischer Ansichten durch vermeintliche Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten epistemologischer Art kompensieren wollen. Gerechten Regimen bietet eine ausgewogene Rechtsontologie die Basis für die Legitimation rechtlicher Entscheidungen durch volle und authentische Wahrheit. Der Opposition eines ungerechten Regimes wird dagegen belehrend darauf hingewiesen, dass auch Ungerechtigkeit eine Ontologie haben kann, die sich nicht durch bloße Forderungen und Interpretationsrelativismen beseitigen lässt.

détachant de toute autre production culturelle ou centre institutionnel – de la religion, de la morale, de la politique même – pour en permettre une identification autonome, nette et définitive… La grande invention de la pensée romaine se révélait dans la capacité qu’elle avait eue d’associer dans um circuit unique la recherche d’um ordre juridique rigoreux et la découverte d’une métaphysique qui le justifiât d’un point de vue non pas étique ou de pouvoir, mais ontologique“ (ders., S. 14, 280). Vgl. auch Roland Maspetiol, Le droit et la politique: deux visions partielles et fragmentaires d’une même réalité sociale, Le Droit investi par la politique, Archives de Philosophie du Droit 16, 1971, 37–62; Michel Villey, Le droit et les droits de l'homme, Paris: Presses Universitaires de France, 1983, Neudruck 2016, S. 33–35 und Joaquim Carlos Salgado, A Idéia de Justiça no Mundo Contemporâneo. Fundamentação e aplicação do direito como maximum ético, Belo Horizonte: Del Rey, 2006, S. 42. 37Über die möglichen und notwendigen Verbindungen, Unterscheidungen und Überlappungen von Recht, Moral und Politik siehe ausführlich Ferreira Leite de Paula, On the Unity of Law, Practical Reason and Right.

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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1.2.2 Überwindung des Dualismus von interner und externer Perspektive Eine weitere Konsequenz der Rechtsontologie ist die Identifizierung und Korrektur von Über- und Unterrationalisierungsansprüchen, die die Rechtswissenschaft im jeweiligen sozialen Kontext ihrer Produktion erheben kann. Auch hier bietet erst der soziale Kontext den Anlass für eine Untersuchung kontextübergreifender Geltung. Die herrschende politische Programmatik der Entschärfung der nationalstaatlichen Ordnung zugunsten einer internationalen Weltordnung spiegelte sich in der oft irrtümlicherweise so genannten Rechts-„Theorie“ des 20. Jahrhunderts auch in der Analyse und Kritik richterlichen Entscheidens wider, manchmal im Modus einer dem Anspruch nach „realistischen“ Beschreibung dessen, was hinter dem Anschein der Vernünftigkeit und Normbefolgung wirklich geschieht, wenn ein richterliches Organ eine Entscheidung trifft und sie begründet, manchmal durch die Erstellung alternativer Entscheidungsmodelle, die die Entscheidungspraxis anleiten sollten. Diese Spaltung befolgend und fördernd unterschied die Analytische Rechtstheorie zwischen externer, deskriptiver oder BeobachterPerspektive einerseits und interner, normativer oder ­ Teilnehmer-Perspektive andererseits.38 „Die Teilnehmerperspektive nimmt ein, wer in einem ­Rechtssystem an einer Argumentation darüber teilnimmt, was in diesem Rechtssystem

38Sehr

einflussreiche Unterscheidung bei H. L. A. Hart: „When a social group has certain rules of conduct, this fact affords an opportunity for many closely related yet different kinds of assertion; for it is possible to be concerned with the rules, either merely as an observer who does not himself accept them, or as a member of the group which accepts and uses them as guides to conduct. We may call these respectively the ‚external‘ and the ‚internal points of view‘. Statements made from the external point of view may themselves be of different kinds. For the observer may, without accepting the rules himself, assert that the group accepts the rules, and thus may from outside refer to the way in which they are concerned with them from the internal point of view. But whatever the rules are, whether they are those of games, like chess or cricket, or moral or legal rules, we can if we choose occupy the position of an observer who does not even refer in this way to the internal point of view of the group. Such an observer is content merely to record the regularities of observable behaviour in which conformity with the rules partly consists and those further regularities, in the form of the hostile reaction, reproofs, or punishments, with which deviations from the rules are met“ (Hart, The Concept of Law, S. 89). Soziologisch unter der Bezeichnung „Betrachtungsweisen“ aber bereits Max Weber: „wenn von ‚Recht‘, ‚Rechtsordnung‘, ‚Rechtssatz‘ die Rede ist, so muß besonders streng auf

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1 Einleitung

geboten, verboten und erlaubt ist und zu was es ermächtigt … die Beobachterperspektive nimmt ein, wer nicht fragt, was in einem bestimmten Rechtssystem die richtige Entscheidung ist, sondern wie in einem bestimmten Rechtssystem tatsächlich entschieden wird“.39 Im deutschsprachigen Schrifttum ist auch die

die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden. Die erstere fragt: was als Recht ideell gilt. Das will sagen: welche Bedeutung, und dies wiederum heißt: welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtiger Weise zukommen sollte. Die letztere dagegen fragt: was innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen, darunter insbesondere solche, in deren Händen ein sozial relevantes Maß von faktischem Einfluß auf dieses Gemeinschaftshandeln liegt, bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Sozialökonomik. III. Abteilung, Tübingen: J.C.B. Mohr/Paul Siebeck, 1922, S. 368). Rechts- und moralphilosophisch auch Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, München: Karl Alber, 1992, S. 47. Über die Ursprünge und Verhältnisse von internem und externem Standpunkt in der Rechtstheorie siehe ausführlich Pedro Múrias, Weber e Hart sobre as perspectivas externa e interna. Uma releitura, in: Estudos em Homenagem ao Prof. Doutor Sérvulo Correia, Vol. I, hrsg. von J. Miranda, Coimbra: Coimbra Editora, 2011, 105–121. Zu einer ausführlichen Typologie von interner und externer Perspektive nach diversen Unterscheidungskriterien siehe Michel van de Kerchove/François Ost, Jalons pour une théorie critique du droit, Brüssel: Facultés universitaires Saint-Louis, 1987, S. 27–51. Für die angelsächsische Problematik siehe analytisch Scott Shapiro, What is the Internal Point of View?, Fordham Law Review 75, 2006, 1157–1170; John Ferejohn, Positive theory and the internal view of law, Journal of Constitutional Law 10, 2/2008, 273–303; Stephen Perry, Hart on Social Rules and the Foundations of Law. Liberating the Internal Point of View, Fordham Law Review 75, 3/2006, 1171–1209. 39Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 47. Auf Basis dieser Definitionen ist Alexy zufolge jemand, der die folgende Frage stellt: „A ist nach den in Deutschland geltenden Kriterien ordnungsgemäß ausgebürgert, und die Ausbürgerung ist auch sozial wirksam, aber ist sie Recht?“, kein Beobachter, sondern ein Kritiker (aaO., S. 55). Ihm Zufolge kann ein Individuum also nicht die Rolle des Kritikers übernehmen, ohne die Beobachterqualität zu verlieren, denn „der Ausdruck ‚Recht‘ erhält bei diesem Perspektivenwechsel eine andere Bedeutung“ (aaO). Wenn Teilnehmer und Beobachter streiten, wenn auch unter Gebrauch desselben Terminus „Recht“, reden sie eigentlich aneinander vorbei: „Eine Erklärung für die Ergebnislosigkeit dieses Streites dürfte sein, daß seine Teilnehmer oft nicht erkennen, daß die These, die sie verteidigen, von ganz anderer Art ist als die, die sie angreifen, so daß sie aneinander vorbeireden“ (aaO., S. 50). Siehe auch Klaus Günther: „Aus der Perspektive der Teilnehmer bilden diese geteilten sozialen und gemeinsamen symbolischen Räume ein Reservoir von mehr oder weniger autoritativen und Legitimität beanspruchenden Gründen, mit denen sie ihre eigenen Handlungen, Äußerungen und Normen rechtfertigen und von anderen Rechtfertigungen für deren Handlungen,

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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Unterscheidung „Herstellung“ und „Darstellung“ der richterlichen Entscheidung gebräuchlich, die eine nicht deckungsgleiche, aber durchaus vergleichbare Entgegensetzung empirischer und normativer Betrachtungsweisen enthält.40 Der globalistischen Programmatik folgen die beiden Lager implizit oder explizit und

Äußerungen und Normen fordern. … Insgesamt setzen sie eine von H. L. A. Hart als „kritisch-reflektierend“ charakterisierte Einstellung (critical-reflective attitude) gegenüber den eigenen Handlungen, Äußerungen, Normen und denen der anderen voraus. Dies ist der von Hart, Winch, Strawson und anderen so bezeichnete interne oder Teilnehmer-Standpunkt gegenüber Normen, im Unterschied zum externen Beobachterstandpunkt“ (Klaus Günther, Normativer Rechtspluralismus – Eine Kritik, in: Das Recht im Blick der Anderen, Zu Ehren von Prof. Dr. Dres. h. c. Eberhard Schmidt-Aßmann, hrsg. von T. Moos/M. Schlette/H. Diefenbacher, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016, 43–61, S. 52). Zum Teilnehmerstandpunkt und weiteren Spezifizierungen hierzu siehe auch Veronica Rodriguez-Blanco, Peter Winch and H. L. A. Hart. Two Concepts of the Internal Point of View, Canadian Journal of Law and Jurisprudence XX, 2/2007, 453–473, S. 472. 40Ausführliche Diskussion unten, Abschn. 3.7, G. Für die deutsche Rechtstheorie zu dieser Thematik vgl. Ulfrid Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, hrsg. von W. Brugger/U. Neumann/S. Kirste, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, 233–260; Ulfrid Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der Juristischen Argumentation, Rechtstheorie 32, 2001, 239–255; Katharina Gräfin von Schlieffen, Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen, Frankfurt am Main u. a.: Lang, 1990; Katharina Gräfin von Schlieffen, Subsumtion als Darstellung der Herstellung juristischer Urteile, in: Subsumtion. Schlüsselbegriff der juristischen Methodenlehre, hrsg. von G. Gabriel/R. Gröschner, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 379–419; Niklas Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung, Berlin: Duncker & Humblot, 1966; mit anderer Terminologie bereits Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Aalen: Scientia-Verl., 1970 (Nachdruck der Ausgabe 1929), insbes. S. 60–62, 78, 146, 174, 177; in rechtshistorischer Perspektive Cordes, Albrecht (Hrsg.), Juristische Argumentation, Argumente der Juristen, Köln u. a.: Böhlau, 2006. In der angelsächsischen Rechtstheorie (bzgl. „context of discovery“ und „context of justification“) vgl. Bruce Anderson, ‘Discovery’ in Legal ­Decision-Making, Berlin: Springer, 2010; terminologische Klärungen bei Luiz Silveira, Discovery and Justification of Judicial Decisions: Towards More Precise Distinctions in Legal Decision-Making, in: Law and Method 2014/9, https://www.bjutijdschriften.nl/ tijdschrift/lawandmethod/2014/09/RENM-D-14-00003 (zuletzt geprüft am 05.05.2020); ausführliche Diskussion bei André Ferreira Leite de Paula, Discovery and Justification in Law, in: Truth and Objectivity in Law and Morals. Vol. 2, hrsg. von A. Ferreira Leite de Paula/A. Santacoloma Santacoloma/G. Villa Rosas, Stuttgart: Franz Steiner, ARSP Beiheft 151, 2016, 81–114. Zu dieser Problematik unter dem Gesichtspunkt des Richtigkeitsanspruchs richterlicher Entscheidungen Philipp Siedenburg, Sprachliche Präsentation und institutionelle Struktur juristischer Entscheidungen. Zur Angemessenheit binärer Begründungen im Recht, ARSP 105, 2/2019, 143–170.

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1 Einleitung

in ihrer jeweiligen eigentümlichen Weise, einerseits als nie zu stillende normative Forderung an die „Vernünftigkeit“ juristischer Entscheidungen, die meistens in den politischen Ansichten von Gleichheit, Sozialdemokratie und Multikulturalismus bestehen, andererseits durch die Hervorhebung von Faktoren, die richterliche Entscheidungen bedingen, aber nicht per se rechtfertigen, wie bespielsweise die ökonomische Schicht des Richters, kulturelle Vorverständnisse, Geschlecht, politische Präferenzen und kulturelle Vorurteile, was einen prinzipiellen Irrationalitätsverdacht gegenüber jeglichem judikativen Handeln erweckt. Schon daraus erhellt, dass interne und externe Perspektiven keineswegs nur epistemologische Standpunkte, sondern immer mit substanziellpolitischen und -moralischen Ansichten im jeweiligen sozialen Kontext ihrer Praktizierung verbunden sind. „Rechtstheorie“ wird im Rahmen dieser Spaltung so betrieben, dass auf dem Vorrang des internen oder des externen Standpunktes beharrt wird, denen unterschiedliche Methoden und Rechtsbegriffe korrespondieren,41 indem Normativität dem internen und Kausalität dem externen Standpunkt zugerechnet werden. So tendiert das normative, den internen Standpunkt bevorzugende Lager zu einer Auffassung des Rechts als normativer Praxis, die prinzipiell ungebunden an natürliche und soziale Faktoren sei, da Normativität kontrafaktisch ist und daher ohnehin nicht der Wirklichkeit angehöre. Durch die Betonung der Vorwärtsgewandtheit normativer Vorstellungen und eine Fokussierung auf Begründung42 entfernt es sich oft ausdrücklich von Realismen verschiedener Art und will aufzeigen, wie Rechtsinstitutionen und -normen angesehen und gestaltet werden sollen, nicht wie sie sind, und zwar schon deshalb, weil das Sein einer Institution oder einer Rechtsnorm, wenn von einem solchen überhaupt die Rede sein kann, keine „rohe Tatsache“, sondern stets das Ergebnis einer normativen Deutung

41„Unterschiedlichen

Standpunkten können verschiedene Rechtsbegriffe korrespondieren“ (Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 56).

42Siehe

beispielsweise Christoph Möllers Kritik an „philosophischen Theorien der Normativität“, die auf Begründung „fixiert“ sind und gerade deswegen das eigentlich Normative an der Rechtspraxis verfehlen, da Normen ihm Zufolge sich in Zeit und Raum „entäußern“ und nicht einmal begründbar sein müssen, um Normen zu sein. Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp Verlag, 2015, S. 67, 127.

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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oder Zurechnung von Subjekten sei.43 Rechtstheorie und -wissenschaft in eigentlichem Sinne seien nur aus einem internen Standpunkt möglich, und zwar schon deswegen, weil sogar derjenige Ausländer oder Soziologe, der eine von ihm unabhängige normative Praxis, etwa eine fremde Rechtsordnung, beschreiben will, den internen Standpunkt derjenigen, die an dieser Praxis teilnehmen, epistemisch zwingend einnehmen und dabei schon deswegen die Rolle eines wertenden Teilnehmers übernommen haben müsse, andernfalls wäre die Praxis nicht einmal verständlich und die Normen überhaupt nicht erfassbar.44 Eine Überrationalisierung des Rechtsverständnisses stellt das normative Lager insofern dar, als dass vor allem Natur und Tradition tendenziell oder sogar prinzipiell als nicht maßgeblich für die Begründung einer normativen Ansicht angesehen werden: Was sein soll, dürfe nicht von dem, was ist, abhängen, denn dies sei ein „naturalistischer Fehlschluss“; die Vernunft sei stets kritisch, progressiv und universalistisch.

43Ronald

Dworkins Rechtsheorie kann als eine ausführliche Ausarbeitung und Verteidigung des internen Standpunktes gelten. Ihmzufolge nehmen Bürger immer interpretierend und konstruktiv an der Rechtspraxis teil; das Recht sei kein „plain fact“: „A participant proposes value for the practice by describing some scheme of interests or goals or principles the practice can be taken to serve or express or exemplify“ (Ronald Dworkin, Law’s Empire, Cambridge u. a.: Harvard University Press, 1986, S. 52). Moralphilosophisch über die Unmöglichkeit eines „externen Skeptizismus“ über moralische Wahrheit auch Ronald Dworkin, Objectivity and Truth: You'd Better Believe It, Philosophy and Public Affairs 25, 2/1996, 87–139. Dem internen Standpunkt ist dementsprechend auch ein kritisches Vokabular eigen. Siehe hierzu Shapiro, What is the Internal Point of View?, S. 1163. Hervorhebung des internen normativen Standpunktes im Kontext des Rechtspluralismus bei Klaus Günther: „Wir fordern Normkonformität und üben Kritik an Normabweichungen also nicht nur mit Bezug auf irgendeine vorgegebene Norm, sondern praktizieren als verantwortliche Personen diskursive Kritik auch an diesen Normen selbst“ (Günther, Normativer Rechtspluralismus – Eine Kritik, S. 53). Einer der Hintergründe für die Hervorhebung des internen Standpunktes ist der Umstand, dass nicht einmal „Hypothesen zur Erklärung und Voraussage richterlichen Handelns … unabhängig von der Gesetzesinterpretation und der intentionalen Konstitution des Sachverhaltes (des Untersatzes) aufgestellt werden können“ (Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 45). 44In der angelsächsischen Analytischen Rechtstheorie beispielsweise wird der interne Standpunkt (internal point of view) in Anschluss an H. L. A. Harts „The Concept of Law“ oft als Existenzbedingung einer Rechtsordnung angesehen: „Since the internal point of view is just the perspective of those who accept the rule, it follows that, as a conceptual matter, a social rule does not even exist unless a sufficiently large number of people

24

1 Einleitung

Das deskriptive Lager will dagegen realistisch sein und genau diese Besonderheiten, wenn auch nicht nur auf das Rechtssubjekt zentriert, sondern auch gesamtgesellschaftlich denkend, thematisieren, indem Normativität letztlich als ein Epiphänomen von realen Vorgängen natürlicher und sozialer Art, wie etwa Emotionen, kulturellen Vorurteilen, hermeneutischen Vorverständnissen und strukturellen sozialen Bedingungen, angesehen wird.45 Anhand von Fragen der Art „woher stammt bzw. welche soziale Funktion erfüllt eine bestimmte Wertung?“ will der Realist dem Teilnehmer einer normativen Praxis ständig an die Seinsherkunft und soziale Einbettung von Normen erinnern und in der Lage sein, bürgerliche, richterliche und professorische normative Vorstellungen psychologisch, naturalistisch oder soziologisch zurückverfolgen zu können. Nach der Entdeckung von natürlichen und sozialen Bedingungen, unter denen normative Ansprüche erst entstehen und einen Sinn haben, erscheint das Recht nur durch epistemische Einstellungen wie „Erklärung“, „Vorhersage“46,

within the requisite group adopt the internal point of view with respect to some regular pattern of behavior. … Since the rule of recognition, like other social rules, cannot exist unless a sufficiently large number of people in the requisite group adopt the internal point of view, and since, for Hart, the requisite group is a society’s officials, it follows that a legal system cannot exist unless most – if not all – of its officials adopt the internal point of view“ (Perry, Hart on Social Rules and the Foundations of Law, S. 1172). Der interne Standpunkt wird nach H. L. A. Hart u. a. dann eingenommen, wenn regelkonformes Verhalten vorgenommen und das regelwidrige Verhalten der anderen kritisiert wird (Hart, The Concept of Law, S. 255). Nach Aarnio bedarf ein angemessenes Verständnis der rechtlichen Normativität eines „genuinen internen Standpunktes“: „Although the social scientist is, in the Winchian sense, “inside” of the (social) system, he does not have this kind of interest in interpretation. Hence, compared with the social scientist the legal dogmatician sees the problem from a genuine internal point of view“ (Aulis Aarnio, The Rational as Reasonable. A Treatise on Legal Justification, Dordrecht: Springer Netherlands, 1986, S. 13). 45So etwa die Auffassung, die Beobachterperspektive habe einen kognitiven Privileg, weil sie nicht idealisierend vorginge, sondern das Recht nur beschreibe, wie es ist, und zeige, was „wirklich“ geschieht. So leiste sie „Aufklärungsarbeit“, indem die „wirklichen“ Faktoren, die eine Entscheidung bedingen, entdeckt werden. Siehe Christian Bumke, Einführung in das Forschungsgespräch über die richterliche Rechtsarbeit, in: Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, hrsg. von C. Bumke, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 1–32, S. 14 f. 46Für „Vorhersage“ steht klassischerweise der externe Standpunkt des Rechtsunterworfenen, der das geltende Recht realistisch als das wahrscheinliche Auftreten einer Sanktion oder als das definieren will, was Gerichte wahrscheinlich entscheiden werden: „Some theorists, Austin among them, seeing perhaps the general irrelevance of the person’s beliefs, fears, and motives to the question whether he had an obligation to do something,

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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„Verstehen“47 und „Kontextualität“48, die dem externen Standpunkt zugerechnet werden (auch wenn der jeweilige Ansatz diese analytische Unterscheidung nicht ausdrücklich verwendet oder sie sogar ablehnt), zugänglich zu sein, da Normen

have defined this notion not in terms of these subjective facts, but in terms of the chance or likelihood that the person having the obligation will suffer a punishment or ‚evil‘ at the hands of others in the event of disobedience. This, in effect, treats statements of obligation not as psychological statements but as predictions or assessments of chances of incurring punishment or ‘evil’“ (Hart, The Concept of Law, S. 83). Es ist immerhin eine der Aufgaben von Rechtssoziologie Rechtssicherheit dadurch zu fördern, dass den Parteien zuverlässige Voraussagen über den Ausgang eines gerichtlichen Verfahrens (oder auch nur die Höhe des Strafmaßes) geliefert werden, nicht zuletzt deshalb, weil Gesetze und Präjudizien zu vage sind, um eine sichere Basis für Prognosen zu liefern. Vgl. dazu Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 172. 47Durch die Hervorhebung des Verstehens will die philosophische Hermeneutik auf die Kontext- und Erfahrungsabhängigkeit des Wissens hindeuten und somit das Ideal der vernünftigen Erkenntnis vorgegebener Gegenstände überwinden. „Die Hermeneutik will nicht das subjektive Meinungswissen des Interpreten hinterfragen, sie ist keine Richtersoziologie, sondern unterstellt sehr viel radikaler und grundsätzlicher die Erschütterung der stabilen Wahrheitsvorstellungen, von denen noch der Rechtspositivismus ausgegangen war. Weil Wahrheit, Erschlossenheit von Sein, in der Hermeneutik von Sprache und damit vor allem von Schrifttexten abhängig wird, existiert die Erfahrung von Wahrheit überhaupt nur im Medium von Sprache und Schrift, als sich in der Welt, in Gesprächen und Texten (und nicht im Bewusstsein oder im Geist) artikulierendes Wissen. Die Hermeneutik hat daher weitreichende erkenntnistheoretische Konsequenzen. Sie ist kritisch gegen die abstrakten Vernunftkonstruktionen der Aufklärung gerichtet, auf denen letztlich auch das rechtspositivistische Systemdenken beruht, die Vorstellung einer Einheit der Vernunft, des Gesetzes und der Rechtsordnung“ (Vesting, Rechtstheorie, Rn. 231). 48Exemplarisch: „Im Unterschied zur analytischen Rechtstheorie geht die vorliegende Rechtstheorie allerdings davon aus, dass man diese Themen nicht losgelöst von ihrem historischen Kontext behandeln kann und dass Kontextualität nicht nur ein ‚Argument‘ ist. Im Gegenteil: Die Geschichte und Evolution des Rechts ist eng mit der Geschichte und Evolution von Formen gemeinsamen Wissens verklammert, eines ständigen Flusses geteilter praktischer Bedeutungszusammenhänge wie etwa Sprache, Sitten, Gebräuchen und Konventionen. Das gilt auch für die Rechtstheorie“ (Vesting, Rechtstheorie, Vorwort zur 2. Auflage). Siehe auch die vielen Forderungen nach einer „Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen“ in der Rechtsinterpretation aus soziologischer und phänomenologischer Sicht. Exemplarisch: „Es geht bei der Rechtsinterpretation, insbesondere bei Gerichtsentscheidungen, um die Plausibilität von Begründungen, um bounded rationality im Sinne von Herbert A. Simon, nicht aber um ‚Erkenntnis‘ des richtigen (gerechten) Rechts. Darin unterscheidet sich der hier eingeschlagene Weg nicht nur vom Vernunftideal des Rechtspositivismus, sondern auch von der juristischen Hermeneutik, die mit dem Übergang zur Konkretisierung noch die Aussicht auf eine Erhöhung von Rationalitätsansprüchen verbunden hatte. Entscheidungsgründe können im Recht nicht freischwebend entwickelt werden“ (Vesting, Rechtstheorie, Rn. 243).

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1 Einleitung

und Urteile wiederum immer auf solche Faktoren zurückgeführt werden könnten. Unter so gefassten realistischen Prämissen erscheint jeglicher Erkenntnisanspruch des Rechtens und Guten als plump und naiv, der Bedingungen des eigenen Tuns nicht bewusst. Eine Unterrationalisierung des Rechtsverständnisses stellt die Ausschließlichkeit des externen Standpunktes insofern dar, als dass die Vernunft derer, die Entscheidungen treffen, die soziale Institutionen überhaupt erst für bestimmte Zwecke und nach kontrafaktischen Prinzipien zustandebringen und aufrechterhalten, tendenziell oder sogar prinzipiell außerhalb von Verständnisund Kausalverhältnissen stünde. Die normative Vernunft als solche könne nicht unmittelbar thematisiert und hin auf ihre realen Wirkungen in der Rechtspraxis untersucht werden, sondern höchstens die triviale empirische Tatsache, was Individuen, Gerichte, soziale Gruppierungen oder eine Gesellschaft für vernünftig hält – schließlich „description may still be description, even if what is described is an evaluation“49. Erst die Verbannung von Vernunft und Normativität aus der Wirklichkeit könne ein realistisches und nicht zuletzt wissenschaftliches Weltbild ermöglichen.50

49Hart,

The Concept of Law, S. 244. So können beispielsweise rechtspositivistische Konzeptionen verstanden werden, die das Recht als empirische Tatsache ansehen und die interne Perspektive der anderen aus einer externen Perspektive beschreiben. H. L. A. Harts Standpunkt selbst als Theoretiker zum Beispiel ist ihm zufolge extern, deskriptiv, moralisch neutral und frei von Rechtfertigungsansprüchen („My account is descriptive in that it is morally neutral and has no justificatory aims“, Hart, The Concept of Law, Postscript, S. 240). Das lässt sich dem Anspruch nach als ein „moderater externer Standpunkt“ oder „milder Externalismus“ bezeichnen (Ferejohn, Positive theory and the internal view of law, S. 274, 277).

50Für

eine ausführliche Kritik an der spätmodernen Tendenz der Geisteswissenschaften, Werturteile und das entsprechende normative Vokabular aus wissenschaftlichen Verständnissen der Praxis auszuschließen, siehe Leo Strauss, Natural right and history. A cogent examination of one of the most significant issues in modern political and social philosophy (1953), 5. Aufl., Chicago: Univ. of Chicago Press, 1965, S. 9–80. „According to our social science, we can be or become wise in all matters of secondary importance, but we have to be resigned to utter ignorance in the most important respect: we cannot have any knowledge regarding the ultimate principles of our choices, i. e., regarding their soundness or unsoundness; our ultimate principles have no other support than our arbitrary and hence blind preferences. … The prohibition against value judgments in social science would lead to the consequence that we are permitted to give a strictly factual description of the overt acts that can be observed in concentration camps and perhaps an equally factual analysis of the motivation of the actors concerned: we would not be permitted to speak of cruelty. Every reader of such a description who is not completely stupid would, of course, see that the actions described are cruel. The factual description would, in truth, be a bitter satire.

1.2  Erforderlichkeit einer Ontologie des positiven Rechts

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Kann aber das Recht von der Perspektive abhängen? Dass es überhaupt Betrachtungsweisen gibt, die bestimmte Faktoren thematisieren und andere nicht, ist eine elementare Tatsache, die nicht mit dem Anspruch auf Ausschluss der jeweils anderen verbunden sein muss. Es gibt nämlich keinen Einwand gegen die bloße Einnahme einer Perspektive. Auch Perspektiven sind Teile der Wirklichkeit. Wenn aber das Recht eine Ontologie hat, konstituiert die Methode nicht den Gegenstand, sondern dieser bestimmt erst die Geeignetheit jener. Obwohl Perspektiven der Wirklichkeit angehören, ist die Wirklichkeit selbst keine Perspektive. Es muss untersucht werden, was aus der Verbindung von Kausalität und Normativität in einer einzigen Wirklichkeit folgt. Die Rechtsontologie stellt weder zu viel noch zu wenig, sondern das genaue Maß an Wirklichkeit dar, die den rechtlichen Normen und Gründen im juristischen Entscheiden tatsächlich zukommt. Als Disziplin liefert sie den Maßstab, anhand dessen Über- und Unterrationalisierungen überhaupt als solche identifiziert werden können. Als Sein ist sie jene überindividuelle Entität, woran sich ein Teilnehmer orientiert, wenn er eine rechtskonforme Entscheidung treffen will, und die trivialerweise nicht seinem internen Räsonnement entspringen kann, sondern mit der über ihn hinausgehenden natürlichen und sozialen Wirklichkeit verknüpft und deswegen auch den anderen prinzipiell zugänglich ist. Die Rechtsontologie als Sein enthält auch dasjenige überempirische Individuationsprinzip, das einem Beobachter erst ermöglicht, die Rechtspraxis und die Teilnehmer überhaupt als Praxis und Teilnehmer des Rechts – und nicht von etwas anderem wie etwa des Spiels, des Sports oder der Kunst – zu erkennen und empirisch zu beschreiben. So stellt die Rechtsontologie die Naivität desjenigen bloß, der radikal realistisch zu sein gedenkt, aber wegen empiristischen Methodenmonismus und daher zum Nihilismus neigender Weltanschauung den kausalen Anteil von Vernunft und Norm in der Rechtspraxis systematisch versäumt, ebenso wie die

What claimed to be a straightforward report would be an unusually circumlocutory report. The writer would deliberately suppress his better knowledge, or, to use Weber’s favorite term, he would commit an act of intellectual dishonesty. Or, not to waste any moral ammunition on things that are not worthy of it, the whole procedure reminds one of a childish game in which you lose if you pronounce certain words, to the use of which you are constantly incited by your playmates. … To put the terms designating such things in quotation marks is a childish trick which enables one to talk of important subjects while denying the principles with out which there cannot be important subjects – a trick which is meant to allow one to combine the advantages of common sense with the denial of common sense“ (Strauss, Natural right and history, S. 4, 52).

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1 Einleitung

Haltung des vermeintlich aufklärerischen Rationalisten, der bei gegebener Entscheidung aufgrund von Natur und Tradition immer eines Besseren wissen will, da die empirische Wirklichkeit sowieso kein Argument und das Recht sowieso nur ein Konstrukt der Subjektivität wertender Individuen sei. Eine ausgewogene Rechtsontologie zeigt dagegen, dass die Teilung der Betrachtungsweisen in interner und externer Perspektive nicht holistisch genug ist und das Sein und Sollen tendenziell und tendenziös verfehlt. Kontextübergreifend tut sie dies, weil sie zeigt, wie die Ontologie jeglichen Rechts auf die Entscheidungspraxis auswirkt. Daher sagt sie nicht, wie Entscheidungsorgane konkrete Fälle in spezifischen Rechtsordnungen entscheiden sollen, sondern welche Art von Einwänden gegen das juristische Entscheiden prinzipiell nicht zutreffen können. Für Realisten der genannten Art ist die Rechtsontologie zu rationalistisch, weil sie die Wirklichkeit der Vernunft darstellt; für herkömmliche Rationalisten dagegen ist sie zu realistisch, weil sie eben die Wirklichkeit der Vernunft darstellt. Weil beide Perspektiven aufgrund ihrer kopernikanischen Richtung dasselbe aus verschiedenen Blickwinkeln verfehlen, ergäbe deren bloße Summe immer noch keine Rechtsontologie.

2

Ontologie des Naturrechts

2.1 Einführung 2.1.1 Fragestellungen Das vorliegende Kapitel behandelt (1) die Wirklichkeit des nicht von Menschen (oder von sonstigen raumzeitliche Positionen beziehenden Lebewesen) gesetzten Rechts einschließlich seines Begriffs, seiner Normen, Ursachen, Gründe und Zwecke, (2) die ontologischen und gnoseologischen Verhältnisse dieser Faktoren zum Bewusstsein von Individuen und Kollektiven und (3) die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den praktischen Umgang mit gegenwärtigen und vergangenen Normen und Verhalten. Obwohl der praktische Umgang mit Normativität im Rahmen einer intellektuell ehrlichen Bemühung eine Folge der Erkenntnis der Beschaffenheit der Wirklichkeit ist, stellt erst die Praxis den Anlass für Probleme und Fragestellungen dar. Diese lauten im Zusammenhang der Rechtsontologie beispielsweise: Ist ein Verhalten (oder eine Norm) nur dann berechtigt (oder richtig), wenn es durch jemanden konkret tatsächlich gerechtfertigt wird oder reicht es, wenn es nur rechtfertigbar ist, ohne dass aber eine tatsächliche Rechtfertigung jemals eintritt? Oder kann ein Verhalten vielmehr unabhängig sogar von der Möglichkeit von Rechtfertigungen überhaupt berechtigt sein? Konkreter: Kann ein Verhalten auch dann richtig sein, wenn es aufgrund Wissensmangels des Handelnden oder der Gesellschaft erst zu einem späteren Zeitpunkt gerechtfertigt werden kann, das heißt, selbst wenn es zum Zeitpunkt seiner Begehung von niemandem hätte gerechtfertigt werden können? Inwiefern kann die Erklärung der Begehung eines Verhaltens etwa unter Rückführung auf natürliche und soziokulturelle Faktoren prinzipiell zu seiner Rechtfertigung oder Kritik beitragen? Kurz, kann © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Ferreira Leite de Paula, Rechtsontologie, Juridicum – Schriften zur Rechtsphilosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30867-4_2

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2  Ontologie des Naturrechts

die Erklärung eines Verhaltens bereits kritische oder rechtfertigende Elemente enthalten? Kann es überhaupt unbekannte Rechtstatsachen und -gründe geben? Damit angesprochen sind die Verhältnisse von Berechtigung, Rechtfertigung und Erklärung von Verhalten und Normen im Laufe der Zeit.

2.1.2 Herkömmliche Behandlungsweise Die genannten Fragen betreffen die Normativität überhaupt und werden hier deswegen allgemein gestellt, ohne die normativen Ordnungen von Recht, Moral, Politik, Religion usw. zu trennen. Obwohl hiermit verwandte Fragen schon längst auf diversen Abstraktionsebenen im Rahmen der analytischen Moral- und Rechtsphilosophie behandelt wurden,1 wohnen herkömmlichen Auseinandersetzungen über Normativität entscheidende Probleme inne. Oft will man aus spezifisch rechtlichen oder moralphilosophischen Überlegungen allgemeine Schlüsse für die Normativität überhaupt ziehen. So wird manchmal die Normativität überhaupt mit Moralität nahezu identifiziert, wobei das Recht notwendigerweise als ein Sonderfall moralischer Normativität erscheint.2 Manchmal wird umgekehrt

1In

der Moral- und politischen Philosophie Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001; Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. In der Rechtsphilosophie vor allem Neumann, Juristische Argumentationslehre; Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. Siehe auch Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Für einen systematischen Überblick dieser Fragestellungen in der Rechtstheorie siehe Ferreira Leite de Paula, Discovery and Justification in Law, S. 87–89. 2Dies ist der Fall bei Robert Alexys Theorie der Doppelnatur des Rechts. Ihmzufolge ist der Rechtsdiskurs ein Sonderfall des allgemein praktischen Diskurses, in dem ein moralischer Anspruch auf Richtigkeit erhoben wird (vgl. Robert Alexy, The Special Case Thesis, Ratio Juris 12, 4/1999, 374–384). Der Anspruch auf Richtigkeit wird als Anspruch auf Gerechtigkeit verstanden, die wiederum als eine moralische Frage definiert wird (vgl. Robert Alexy, Legal Certainty and Correctness, Ratio Juris 28, 4/2015, 441– 451, S. 441), sodass die inhaltliche Richtigkeit von Rechtsnormen nicht nur, aber notwendigerweise durch moralische Rechtfertigung geschehen müsse (vgl. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 141 f. „The claim to correctness, necessarily raised by law, adds to … [its] real dimension an ideal or critical dimension. This ideal dimension necessarily connects law with morality, first and foremost with justice“, Robert Alexy, The Special Case Thesis and the Dual Nature of Law, Ratio Juris 31, 3/2018, 254–259, S. 255). Siehe dazu auch Matthias Klatt, Integrative Rechtswissenschaft. Methodologische und

2.1 Einführung

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Normativität überhaupt am Leitfaden der spezifisch rechtlichen Normativität untersucht und auf die Moral bar ausführlicher moralphilosophischer Begründung erstreckt.3 Moralphilosophische Antworten gelten aber nicht notwendigerweise für das Recht; ebenso wenig können rechtstheoretische Lösungen die gesamte Reichweite des Normativen erfassen, wenn sie die spezifische Normativität der Moral ausschließen. Die Behandlung der Verhältnisse von Berechtigung, Erklärung und Rechtfertigung verlangt vielmehr einen angemessenen Abstraktionsgrad, der zunächst die Normativität überhaupt erfasst. Was für die Normativität überhaupt gilt, gilt logischerweise für jede normative Ordnung. Die Erschließung dieser Thematik auf der allgemeinen Ebene der Normativität verlangt selbstverständlich u. a. rechtliches, moralisches und politisches Wissen, kann jedoch nicht schlichtweg verallgemeinernd aus dem einen Wissensgebiet in das nachbarschaftlich andere überführt werden. Das Recht ist ein Unterfall von Normativität überhaupt, nicht aber ein Sonderfall politischer oder moralischer Normativitäten. Ein zweites Problem herkömmlicher Untersuchungen über Normativität ist die manchmal gänzlich ausbleibende, manchmal mangelhafte Berücksichtigung des Zeitfaktors. Rechtfertigungsprobleme werden gewöhnlich so behandelt, dass auf die Praxis, Institutionen und herrschenden Ansichten in der jeweiligen Gesellschaft verwiesen wird und eine ihnen transzendierende, kontextübergreifende Idee des Richtigen für hoffnungslos unrealistisch, anachronistisch oder sogar epistemisch naiv gehalten wird. Dies ist eine implizite Hypostasierung des Zeitfaktors, eine Überschätzung seiner Bedeutung für das Problem der Normativität: Kontextualistische Lösungen dieser Art lehnen die Möglichkeit kontextübergreifender Wahrheit über Normatives apodiktisch ab, indem die einem Kontext

­ issenschaftstheoretische Implikationen der Doppelnatur des Rechts, Der Staat 54, 2015, w 469–499, S. 473. Im Rahmen von moralischen Überlegungen gewinnt ebenso Immanuel Kant „das « allgemeine Prinzip des Rechts » aus der Anwendung des Moralprinzips auf «äußere Verhältnisse»“. Siehe Habermas, Faktizität und Geltung, S. 130 f. 3In der Theorie der Normen von Christoph Möllers geht es zwar um das Normative als solches; moralische Normen sind dabei aber überraschenderweise nur sekundär gemeint (Möllers, Die Möglichkeit der Normen, S. 12), weil sie ihmzufolge die Innenseite von Subjekten ausmachen (ders., S. 12) und sich somit nicht ausreichend „entäußern“ (ders., S. 127). So wird Normativität überhaupt am Leitfaden der spezifisch rechtlichen Normativität untersucht. Siehe die Kritik am „Hyper-Juridismus“ in Möllers Theorie der Normen nach Andreas Fischer-Lescano, Wozu Rechtsphilosophie? Kritik des HyperJuridismus bei Christoph Möllers und Rainer Forst, Juristenzeitung 73, 4/2018, 161–170.

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2  Ontologie des Naturrechts

zeitlich vorherig oder nachträglich formulierten normativen Ansichten auf ihn nicht mit Wahrheitsanspruch appliziert werden könnten. Jedes Sollurteil über ein in einem vergangenen Kontext stattgefundenes Verhalten wäre eine fehlerhafte Hineinlegungsoperation gegenwärtiger Subjekte in die vergangene Praxis, eine Missachtung der baren Faktizität des Vergangenen. Im Ergebnis könne nichts gesollt worden sein, was nicht tatsächlich getan oder zumindest gedacht wurde. Die Differenz zwischen Normativität und Faktizität wird im Kontextualismus zugunsten der letzten annuliert. Das Ergebnis ist entweder die Legitimation des Geschehenen qua Geschehenen oder die skeptische Urteilsenthaltung über seine normative Berechtigung. Eine solche Hypostasierung des Zeitfaktors ist eine Reaktion auf die gegensätzliche Tendenz, die seine Bedeutung für die Normativität dermaßen unterschätzt, dass die in der jeweiligen Gegenwart herrschenden Ansichten – wie beispielsweise die im 20. Jahrhundert im Westen herrschenden Ansichten über Gleichheit und Sozialdemokratie – für die eigentlich richtigen gehalten und Normen und Verhalten der Vergangenheit, die etwa auf Hierarchie und Herrschaft basierten, rückwirkend und ebenso apodiktisch verurteilt werden. Die Beurteilung der Vergangenheit aus bloß gegenwärtigen Ansichten hypostasiert aber diese zur atemporalen Gültigkeit. Die Differenz zwischen Normativität und Faktizität wird in einem so gefassten Aktualismus4 zugunsten jener annuliert. Das Ergebnis ist eine moralistische Kritik der vergangenen Praxis, die sich jeglicher zeitlichen Grenze enthoben weiß und von Praxismitgliedern früherer Gesellschaften die Beachtung nachträglich entstandener Werte als Bedingung für die Richtigkeit ihres Verhaltens verlangt. So wird die gesamte Vergangenheit, insofern und solange sie nicht die aktuellen Werte gebar, als vermeintlich voraufklärerisch rückwirkend verurteilt. Der Aktualismus ist somit dem Standpunkt vergleichbar, „welcher da, wo die Realität einer bestimmten Stufe gesetzt ist, eine höhere ­verlangt“.5

4Terminus

von Peter Sloterdijk, Was geschah im 20. Jahrhundert?, Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 131. 5Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. In: Frühe politische Systeme, Frankfurt am Main u. a.: Ullstein, 1974, Originalpaginierung vom Kritischen Journal der Philosophie, Bd. 2, Hefte 2–3, Tübingen 1802/03, S. 24.

2.1 Einführung

33

Die Extreme von Kontextualismus und Aktualismus kennen die verschiedensten Ausprägungen in hochdifferenzierter theoretischer Sprache;6 sie sind unterschiedliche Umgangsweisen mit vergangener Normativität. Während der Kontextualismus die interne Perspektive der beobachteten Gesellschaft für maßgeblich hält und sich von der Perspektive des Beobachters entfernt, der ein kontextübergreifendes normatives Urteil über die vergangene Gesellschaft treffen zu können beansprucht, hält der Aktualismus die interne Perspektive des Urteilenden für maßgeblich, und zwar trotz durchschlagenden Widerspruchs mit den herrschenden Verhältnissen und normativen Maßstäben der beobachteten Gesellschaft. Beiden Positionen liegen rechtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit konkreten juristischen Problemen zugrunde. Der Zeitfaktor, sei er durch lange oder kurze Strecken gekennzeichnet, nimmt dabei eine zentrale Stellung ein. Kann die Gerechtigkeit einer fern in der Vergangenheit liegenden Bestrafung eines Stammmitglieds, der ein damals mythologisch begründetes Tabu brach, von nachträglich entstandenen Erkenntnissen über die Falschheit des Mythos abhängen? Kann eine auf falschen Rechtfertigungen basierte Handlung trotzdem an sich richtig sein? Kann eine Handlung nach einer Interpretation des Gesetzes strafbar sein, die die Judikative erst nach der Tatbegehung formuliert?7 Darf ein Angeklagter, der unter der Geltung einer vergangenen Rechtsordnung eine Straftat beging, nach den normativen Maßstäben der gegenwärtigen Rechtsordnung oder eines nachträglich aufgestellten Gerichts verfolgt und eventuell verurteilt werden? – eine Frage, die sich regelmäßig im Falle der Bewältigung von v­ ermittelst einer petitio principii bereits so genannten „Unrechtsregimen“ stellt.8 Kann die Begründung

6Darstellung

und Diskussion von hierzu verwandten Fragen (wenn auch nicht mit dieser Terminologie) bei Stephan Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins. Momente der Ideengeschichte und Grundzüge einer systematischen Begründung, Berlin: Duncker & Humblot, 1998, insbes. S. 386–435. 7Zu Analyse und Auswirkungen von Rechtsprechungsänderungen vgl. Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 70–72. Zu dieser Problematik im Strafrecht vgl. Ulfrid Neumann, Die Rechtsprechung im Kontext des verfassungsrechtlichen Prüfungsprogramms zu Art. 103 Abs. 2 GG, in: Ein menschengerechtes Strafrecht als Lebensaufgabe, Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, hrsg. von C. Fahl/E. Müller/H. Satzger/S. Swoboda, Heidelberg: C. F. Müller, 2015, 197–211. 8Vgl. etwa die Beiträge in Neumann, Ulfrid/Prittwitz, Cornelius/Abrão, Paulo/Joppert Swensson Jr, Lauro/D. Torelly, Marcelo (Hrsg.), Transitional justice. Das Problem gerechter strafrechtlicher Vergangenheitsbewältigung, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 2013.

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2  Ontologie des Naturrechts

eines ­ richterlichen Urteils auch dann methodenehrlich sein, wenn Argumente in die Urteilsgründe in einem Zeitpunkt nach der tatsächlichen (psychischen) Entscheidung des Richters hinzugefügt werden, das heißt, wenn es eine zeitliche Spanne zwischen Entscheidungsfindung und -begründung gibt? Ein noch konkreteres Problem wäre: Wenn „die Väter der amerikanischen Verfassung die Sklaverei nicht als unerträglich empfunden haben“ und wenn man dazu sagt, man könne „ihnen nicht vorwerfen, daß sie die Sklaverei befürworteten, aber falsch war es doch“9, so tritt der Widerspruch zwischen Kontextualismus und Aktualismus in voller Deutlichkeit auf: Wenn die Sklaverei falsch ist, wieso kann man es ihnen nicht vorwerfen? Und wenn man es ihnen nicht vorwerfen kann, wieso ist es falsch? Die auf der allgemeinen Normativitätsebene behandelten Verhältnisse von Berechtigung, Rechtfertigung und Erklärung von Verhalten und Normen haben Auswirkungen auf all diese Fragestellungen von historischer, theoretischer und praktischer Relevanz. Einfache Antworten auf die genannten Fragen unter bloßem Verweis auf die herrschenden Lösungen „der Praxis“, sei es der jeweiligen vergangenen Praxis (= Kontextualismus), sei es der heutigen Praxis (= Aktualismus), wie sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach der sogenannten sprachpragmatischen Wende in akademischen Schriften häufig geworden sind, wären eine petitio principii zugunsten der früher oder der heute herrschenden Verhältnisse. Daher beansprucht der vorliegende Beitrag dagegen, die Verhältnisse von Erklärung, Rechtfertigung und Berechtigung von Verhalten und Normen zunächst in Bezug auf die Normativität überhaupt, zugleich bezüglich auf Normen, Gründe und Urteile in der Zeit darzustellen, um eine philosophische Basis für die Beantwortung dieser Fragen zu liefern.

2.1.3 Die logotemporalistische Methode Die differenzierteste Form von Normativität findet in der Kultur statt. Normen haben aber eine lange Entstehungsgeschichte, die nicht in der Kultur, sondern in der Natur beginnt. Die vorliegenden Ausführungen beginnen mit der möglichst externen Perspektive auf die Normativität, nämlich mit einer Perspektive auf nicht nur nichtnormative, sondern auch nichtkulturelle Tatsachen, um ihre kausale und rechtfertigende Wirkung zunächst auf Kultur, dann auf sittliche Normen, dann auf spezifisch rechtliche Normen zu betrachten.

9Heinrich

Geddert, Recht und Moral. Zum Sinn eines alten Problems, Berlin: Duncker & Humblot, 1984, S. 2013.

2.1 Einführung

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Diese Tatsachen sind aber in der Gegenwart mit kulturellen und normativen Tatsachen vermischt, das heißt, sie bestehen alle zugleich und wirken aufeinander. Natur wirkt auf Kultur ebenso wie umgekehrt; rechtliche Normen werden von der Natur, einschließlich der Natur des Menschen, beeinflusst und entfalten zugleich Wirkungen auf die Umwelt und nicht zuletzt auf die menschliche körperliche und geistige Beschaffenheit. Es gibt aber eine Methode, die die studierte Gruppe und die Kontrollgruppe am Beispiel der Naturwissenschaften so auseinanderhalten kann, dass die gegenseitigen Wirkungen von Natur, Kultur und Normativität destilliert werden können, nämlich die logotemporalistische Methode. Sie besteht in der Berücksichtigung der Entstehung von Verhalten und Normen und der im Laufe der Zeit gegebenen Rechtfertigungen, um die Norm- und Verhaltensberechtigung zu untersuchen. Sie blickt auf vorkulturelle Tatsachen und Prozesse, die erst zur Entstehung von Kultur und Normen führten. Nachdem diese Faktoren identifiziert werden, kann ihre Wirkung in der Gegenwart von Kulturtatsachen abgesondert und bewertet werden. Die logotemporalistische Methode ermöglicht insbesondere die Differenzierung von soziokulturell konstruierten und naturgegebenen Teilen des Rechts und setzt sich somit bloß sozialwissenschaftlichen, kulturellen und rein normativen Betrachtungen entgegen. Sie beruht auf dem einfachen, aber folgenreichen Gesetz der Unumkehrbarkeit der in der Raumzeit wirkenden Kausalität: Das, was nachher geschieht, kann das Vorherige nicht beeinflussen. Dass dieser sich dem Truismus annäherende Satz überhaupt zum Ausdruck gebracht und zu den entlegensten Konsequenzen geführt werden muss, ergibt sich aus der jüngsten, insbesondere neuzeitlichen Geschichte der Geisteswissenschaften. Spätestens nach der sogenannten kopernikanischen Wende der Philosophie wurde die herrschende Meinung über Natur, Kultur und Normen konstruktivistisch: Jegliche Tatsachen, auch natürliche und geschichtliche, sind nach der in der Moderne herrschenden Auffassung der Wissenschaft und Philosophie durch Subjektivität (18. Jahrhundert), Bewusstsein und Kultur (19. Jahrhundert) und/oder Sprache (20. Jahrhundert) in irgendeiner Weise mit­ konstituiert – eine Vorstellung, die man auch Korrelationismus nennen kann.10

10Arthur

Schopenhauers Ontologie ist ein Beispiel eines in diversen modernen philosophischen Systemen vorhandenen Korrelationismus: „keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig als diese, daß alles, was für die Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung. … Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtsein durch das Subjekt behaftet und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, nach der 3. Aufl. 1859,

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2  Ontologie des Naturrechts

Um aber die Berechtigung, die Rechtfertigung und die Erklärung von Normen und Verhalten zu verstehen, müssen diese in ihren möglichst reinen Formen betrachtet werden, und zwar durch die Erkenntnis ihres Zustandekommens in der Zeit ohne die rückwirkende Beeinflussung von Erkenntnissubjekten und ihren „Kodizillen“ wie Bewusstsein, Kulturen und Sprachen.

Hamburg: Nikol Verlag, 2014, Buch 1, § 1, S. 32). Ein einflussreiches und besonders ausdrückliches Beispiel von Korrelationismus bietet die Phänomenologie Edmund Husserls, der „alles Seiende jeden Sinnes und jeder Region als Index eines subjektiven Korrelationssystems“ verstand: „Die naive Selbstverständlichkeit, daß ein jeder die Dinge und die Welt überhaupt so sieht, wie sie für ihn aussehen, verdeckte, wie wir erkennen, einen großen Horizont von merkwürdigen Wahrheiten … Nie erregte … die Korrelation von Welt … und subjektiven Gegebenheitsweisen von ihr das philosophische Staunen … Man blieb in der Selbstverständlichkeit verhaftet, daß jedes Ding für jedermann jeweils verschiedentlich aussieht. Aber sobald wir anfangen, das Wie des Aussehens eines Dinges in seinem wirklichen und möglichen Wandel genauer zu verfolgen und konsequent auf die in ihm selbst liegende Korrelation von A u s s e h e n u n d A u s s e h e n d e m a l s s o l c h e n zu achten, sowie wir dabei den Wandel auch als Geltungswandel er in den Ichsubjekten und in ihrer Vergemeinschaftung verlaufenden Intentionalität betrachten, drängt sich uns eine feste, sich immer mehr verzweigende Typik auf, und nicht nur für das Wahrnehmen und nicht nur für Körper und für die erforschbaren Tiefen der aktuellen Sinnlichkeit sondern für alles und jedes in der raumzeitlichen Welt beschlossene Seiende und seine subjektiven Gegebenheitsweisen. Alles steht in solcher Korrelation zu seinen ihm zugehörigen und keineswegs bloß sinnlichen Gegebenheitsweisen in einer möglichen Erfahrung, und alles hat seine Geltungsmodi und seine besonderen Weisen der Synthesis“ (Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. in: Husserliana, hrsg. Walter Biemel, Bd. VI, 2. Aufl., Haag: Martinus Nijhoff, 1976, § 48). Darstellung und Kritik von Husserls Korrelationismus (wenn auch nicht mit diesem Terminus) im Bezug auf das Recht bei Werner Maihofer, Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1954, insbes. S. 60–64: „Aber bei Husserl blieb der Blick noch ganz auf die s u b j e k t i v e Bedeutung dieser E i n s t e l l u n g z u beschränkt. Es lag die Mißdeutung nahe, daß diese bestimmte Intentionalität die entsprechende Seinsregion überhaupt im eigentlichen Sinn erst ‚konstituiere‘, während im Gegenteil diese Einstellung nicht anders denn als E i n s t e l l u n g – a u f ein schon außerhalb meines Bewußtseins Zu-Stande-gekommenes verstanden werden muß, durch die mir die subjektive Einsicht in einen o b j e k t i v schon vorgegenen Sinnzusammenhang erschlossen wird“. Darstellung und Kritik einiger Formen von Korrelationismus unter der Bezeichnung „korrelationistishes Vorurteil“ bei Nicolai Harmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 4. Aufl., Berlin: Walter de Gruyter, 1965, S. 77–79. Über den Korrelationismus im Allgemeinen siehe auch Quentin Meillassoux: „Par «corrélation» nous entendons l'idée suivant l’aquelle nous n’avons accès qu’à la corrélation de la pensée et de l’être, et jamais à l’un de ces termes pris isolément. Nous appellerons donc désormais corrélalionisme tout courant de pensée qui soutiendra le

2.1 Einführung

37

Das Kodizil ist ein Mitgesagtes oder Dazugesagtes (in Analogie mit den altrömischen codicilli), das man Sätzen hinzufügt, die sich auf einen Sachverhalt beziehen. Es ist eine Modulation der Bedeutung eines Satzes, mit der behauptet wird, den in Referenz genommenen Sachverhalt gebe es als solchen nur irgendwie in Korrelation mit dem Erkenntnisapparat von Subjekten. So beansprucht das korrelationistische Denken zwei Bedeutungsebenen desselben Satzes auseinanderzuhalten, nämlich einmal die vorkulturelle Referenz, einmal den kulturell konstruierten Sinn, indem die Referenz zwar an sich gemeint ist, aber mit dem Vorbehalt, dem Erkenntnissubjekt angepasst oder mit ihm in irgendeiner Weise korreliert zu sein. Subjektivität, Bewusstsein und Sprache sind die wichtigsten konstruktivistischen Kategorien, die das moderne Denken als allen Tatsachen irgendwie angehörend versteht.11 Nach dieser Ansicht existieren etwa Steine,

caractère indépassable de la corrélation ainsi entendue. Dès lors, il devient possible de dire que toute philosophie qui ne se veut pas un réalisme naïf est devenue une variante du corrélationisme. … Le corrélationisme consiste à disqualifier toute prétention à considérer les sphères de la subjectivité et de l’objectivité indépendamment l’une de l’autre“ (Quentin Meillassoux, Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris: Seuil, 2006, S. 18 f.). Der Korrelationismus hypostasiert den Bezug des Erkenntnissubjektes als Teil der Sache selbst, worauf bezogen wird (ders., S. 51) und mündet in den Konstruktivismus der Moderne ein, also in den „primat de l’inseparé“, der darin besteht, „rien ne saurait être qui ne soit pas un certain type de rapport-au-monde“ (ders., S. 52). Siehe auch das Beispiel der korrelationistischen Ontologie Slavoj Žižeks: „Alle Realität ist transzendental konstituiert, sie ist immer « korrelativ » zu einer subjektiven Position und der Ausweg aus diesem « korrelationistischen » Kreislauf liegt nicht im Versuch, das Ansich direkt zu erreichen, sondern darin, diese transzendentale Korrelation in das Ding an sich einzuschreiben“ (Slavoj Žižek, Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, übers. Frank Born, Berlin: Suhrkamp, 2014, S. 1231). 11„Soit

l'énoncé ancestral suivant: «L’événement x s’est produit tant d’années avant l’émergence de l’homme.» Le philosophe corrélationiste n’interviendra en rien sur le contenu de l’énoncé: il ne contestera pas que c’est bien l’événement x qui s’est produit, ni ne contestera la date de cet événement. Non: il se contentera d’ajouter – mentalement peut-être, mais il l'ajoutera – quelque chose comme un simple codicille, toujour le même, discrètement placé en bout de phrase. A savoir: l’événement x s’est produit tant d’années avant l’émergence de l’homme – pour l’homme (et même pour l’homme de science). Ce codicille, c’est le codicille de la modernité: le codicille par lequel le philosophe moderne se garde (ou du moins le croit-il) d’intervenir en rien dans le contenu de la science, tout en préservant un régime du sens extérieur à celui de la science, et plus originaire que lui. Donc, le postulat du corrélationisme, face à un énoncé ancestral, c’est qu’il y a au moins deux niveaus de sens dans un tel énoncé: le sens immédiat, réaliste; et un sens plus originel, corrélationnel, amorcé par le codicille“ (Meillassoux, Après la finitude, S. 30 f.).

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2  Ontologie des Naturrechts

Pflanzen, Tiere, vergangene Menschengruppen und ihre Normen als solche nur insofern, als dass Erkenntnissubjekte (oder Denkkollektive) sich ihnen referenziell zuwenden oder zumindest zuwenden könnten, und zwar schon deswegen, weil „Stein“, „Pflanze“, „Tier“, „Mensch“ und „Norm“ Begriffe sind, deren Bedeutung erst im Kontext von individuell oder kollektiv konstruierten Sinnzusammenhängen vorkommen könnte. Ding und Subjekt seien demnach stets miteinander korreliert. Die Berechtigung einer korrelationsüberwindenden Unternehmung ergibt sich aus der Wirklichkeit der Zeit, innerhalb derer Erkenntnissubjekte, Bewusstsein, Kultur, Sprache und Praxis aus Nichtsubjekt, Nichtbewusstsein, Nichtkultur, Nichtsprache und Nichtpraxis entstanden. In der Zeitdimension gilt: Das, was auch immer vor diesen Größen geschah, kann nicht durch sie beeinflusst worden sein. Eine solche Entstehung ist linear, weil sie unumkehrbar ist; sie ist nicht dialektisch, weil es reziproke Beeinflussungen zwischen Vorherigem und Nachträglichem nicht gibt; sie ist allerdings nicht zufällig, weil sie nach Kausalprinzipien geschieht. Die logotemporalistische Methode rechtfertigt sich somit durch den Verweis auf die Wirklichkeit der Zeit und ist nichts anderes als die stringente Anwendung des Zeitprinzips auf einen Problembereich. Metaphorisch kann die Methode in Anlehnung an das philosophisch bekannte „Rasiermesser“12 Zeitmesser benannt werden, nämlich der Messer, der rückblickende Bezugnahmen auf Sachverhalte im Laufe der Zeit scharf misst und zugleich dasjenige Messer, das jeglichen rückwirkenden Konstruktionsansatz des Subjektes schon am Ursprung ebenso scharf abschneidet.

2.2 Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung Zur konkreten Erforschung dieser Verhältnisse bietet das Verhalten der Inzestvermeidung die größte Einschlägigkeit. Denn die Vermeidung des Inzestes ist eine Verhaltenskonstante in allen menschlichen Gruppierungen seit den Uranfängen der menschlichen Spezies. Die anthropologische Universalität

12Das

auf Wilhelm von Ockham zurückgeführte Ökonomieprinzip („Rasiermesser“, „Ockham’s razor“) besagt, dass Vielheiten (Universalien) nicht ohne Bedarf angenommen werden sollen („pluralitas non est ponenda sine necessitate“). Vgl. Oswald Schwemmer, Ockham, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Jürgen Mittelstraß (hrsg.), Mannheim u. a.: B. I. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, Bd. 2.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

39

i­nzestvermeidenden Verhaltens und -verbietender Regeln ist mit den geschichtlich beobachtbaren spärlichen Ausnahmen vereinbar. Denn Universalität bedeutet nicht Ausnahmslosigkeit, sondern weitgehend praktiziertes Verhalten und – je nach dem Entwicklungsstand der jeweiligen Menschengruppe – explizit vorhandene und breit anerkannte normative Standards, und zwar in welcher normativen Ordnung (Recht, Moral, Religion usw.) auch immer. Ein fehlendes explizites Inzestverbot in einer Gesellschaft, wie beispielsweise in Persien vermutlich und eingeschränkt der Fall gewesen sein könnte,13 bedeutet noch lange keine fehlende Inzesthemmung in der Bevölkerung, geschweige denn die Existenz einer weit verbreiteten Inzestpraxis.14 Jedenfalls gilt, es „ist keine Gesellschaft gefunden worden, in der die Inzesterlaubnis in unvordenkliche Zeit zurückreicht und so als ursprünglich bestehender Zustand deutbar wäre.“15 Die Inzestvermeidung durchlief die gesamte Geschichte der Menschheit in verschiedenen natürlichen und sittlichen Ausprägungen. Sie behält in der Gegenwart trotz des verminderten akademischen Forschungsinteresses seit der Jahrtausendwende eine implizite gesellschaftliche Relevanz. Biologische und anthropologische Untersuchungen über die Inzestvermeidung liefern eine solide Basis für das Verständnis des Wechselspiels von Natur, Normativität und Vernunft. Sie erschließen die Zusammenhänge von Genetik, Familie und Gesellschaft und zeigen in klarer Weise die Entwicklung von Kultur und Normen aus der Natur. Die Allgegenwart des inzestvermeidenden Verhaltens zeigt eine im Menschen, aber auch im Tier- und Pflanzenreich natürliche Tendenz;16 die universelle

13Vgl.

Nikolaus Sidler, Zur Universalität des Inzesttabu. Eine kritische Untersuchung der These und der Einwände, Stuttgart: Ferdinand Enke, 1971, S. 86–122. 14Entgegen Sidler, Zur Universalität des Inzesttabu, S. 117. Siehe dazu Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Inzest. Anthropologisch. in: Lexikon der Bioethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1998, S. 322. 15Sidler, Zur Universalität des Inzesttabu, S. 153. 16Zum inzestvermeidenden Verhalten bei Vögeln und Säugetieren vgl. David F. Aberle/et al., The Incest Taboo and the Mating Patterns of Animals, American Anthropologist 92, 1990, 253–265, S. 257 ff. Überblick und Diskussion bei Jörg Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, Opladen: Westdt. Verl., 1991, S. 76–84 und Jonathan H. Turner/Alexandra Maryanski, Incest. Origins of the taboo, Boulder, Colo. u. a.: Paradigm Publishers, 2005, S. 115–120. Zur Inzesthemmung bei Tieren vgl. auch Irenäus EiblEibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie, 7. Aufl., München u. a.: Piper, 1987, S. 593 f. und Edward O. Wilson, Sociobiology. The New Synthesis, Cambridge u. a.: Harvard UP, 2000, S. 79. Zur Inzesthemmung und anderen sittlichen Ordnungsaspekten bei Schimpansen siehe Jane Goodall, Ordnung ohne formelles Recht,

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2  Ontologie des Naturrechts

Präsenz eines Inzestverbotes zeigt die normative Seite des Problems;17 die allmählich und abwechselnd entstandenen Rechtfertigungen des Inzestverbotes zeigen die kulturelle Seite; geistes- und naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Inzestvermeidung bieten rechtliche, moralische und religiöse Gründe für die Beibehaltung eines Inzestverbotes, wodurch ebenso die normative Komponente des Problems zum Ausdruck kommt. Die Verhältnisse von Erklärung, Rechtfertigung und Berechtigung sollen daher im Folgenden nicht bloß analytisch behandelt werden, sondern anhand der konkreten Problematik der Inzestvermeidung in Natur, Kultur und Geschichte, was für eine große Zahl von weiteren Normenkomplexen verallgemeinerbar ist.

2.2.1 Die Teleologie inzestvermeidenden Verhaltens Das inzestvermeidende Verhalten entwickelte sich in menschlichen und vormenschlichen Spezien lange bevor Sprache und Kultur entstanden, ja sogar bevor das hominide Gehirn groß und komplex genug war, um überhaupt kulturträglich sein zu können.18 Eine mögliche Definition von Inzest bzw. Endogamie ist der heterosexuelle Geschlechtsverkehr zwischen blutsverwandten Individuen,

in: Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, hrsg. von M. Gruter/M. Rehbinder, Berlin: Duncker & Humblot, 1983, 129–141. Einige Pflanzen vermeiden den Inzest durch eine Anlage, das genetisch identischen Pollen identifiziert und ablehnt, was in der Botanik „self-incompatibility system“ heißt: „Genetically determined selfincompatibility (SI) systems ensure high rates of out-crossing because they allow the pistil to recognise and reject genetically identical pollen. As such, SI systems are thought to be advantageous because populations with high levels of polymorphism have the genetic variability required for withstanding a wide range of environmental challenges“ (S. Sherman-Broyles/J. B. Nasrallah, Self-Incompatibility and Evolution of Mating Systems in the Brassicaceae, in: Self-Incompatibility in Flowering Plants, Evolution, Diversity, and Mechanisms, hrsg. von V. E. Franklin-Tong, Berlin, Heidelberg: Springer, 2008, 123–141, S. 123). 17Zur

Einschätzung der Relevanz der Inzestproblematik für das Verhältnis von Natur und Kultur vgl. Claude Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, 2. Aufl., Paris: Mouton & Co, 1967, S. 3–60 und R. König, Familie und Familiensoziologie, in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. von W. Bernsdorf, Stuttgart: Ferdinand Enke, 1969, S. 252 f. 18Vgl.

Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 27 f., 39, 170, 173.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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die „25 % oder mehr übereinstimmende Gene aufweisen (Mutter/Sohn, Vater/ Tochter, Geschwister, Halbgeschwister, Onkel/Nichte, Tante/Neffe)“19. Die Inzest­ hemmung ermöglicht einen äußerst wirksamen evolutionären Vorteil. Unter den Bedingungen von gemeinschaftlich überwiegend praktizierter Exogamie, d. h. von Paarung außerhalb der nahen Verwandtenlinie, entsteht bei Endogamie nach einer Wahrscheinlichkeit von über 50 % Nachwuchs mit schädlicher Homozygositie. Dies führt zu schweren phänotypischen Schäden schon bei der ersten Generation. Inzestnachwüchse werden nach der genannten Wahrscheinlichkeit mit Erbschäden wie geistiger Behinderung, unterdurchschnittlicher Intelligenz und

19Hans-Jörg

Albrecht, Kriminologischer Teil, in: Stellungnahme zu dem Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 392/07 zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB – Beischlaf zwischen Geschwistern (Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht vom 19.11.2007), S. 112 ff. Im Wesentlichen übereinstimmend Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, S. 10. Vgl. auch Aberle/et al., The Incest Taboo and the Mating Patterns of Animals, S. 254. Damit werden die in der Ethnologie häufig vorkommenden rein kulturellen Definitionen von Verwandtschaft und des Inzestes als Bruchs eines kulturell bedingten Inzestverbotes (vgl. Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, S. 11) zugunsten biologischer Exaktheit und historischer Präzision ausgeräumt. Das Inzestverbot an sich enthält zwar noch keine positive Bestimmung des Umfanges des Exogamiegebotes; das heißt, eine Population bedarf zusätzlicher sozialer Verwandtschaftsnormen, die den Umfang exogamischer Möglichkeiten zwischen Familien, Stämmen usw. näher bestimmen („Or, la prohibition de l’inceste … apparaît tellement chargée de modalités positives que cette surdétermination pose immédiatement un problème. En effet, les règles du mariage ne font pas toujours qu’interdire un cercle de parenté. … Deux cas sont à distinguer ici: d’une part l’endogamie, d’autre part l’union préférentielle“, Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, S. 52 f.). Da das Inzestverbot aber ein kulturelles Element ist, das erst zur Vermeidung des biotischen Inzestes überhaupt entstand, setzen Kulturen – im Gegensatz zu rein kulturellen Erklärungsansätzen – die biotische Verwandtschaft vielmehr zeitlich und logisch voraus als dass sie sie vollständig kreieren oder ändern könnten. So erweiterten beispielsweise die Ureinwohner Australiens den Verwandtschaftsbegriff, worauf der Totem basierte, zwar über die Blutsverwandtschaft hinaus; die natürliche Verwandtschaft war jedoch stets miteinbezogen (vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu (1913). in: Gesammelte Werke, Köln: Anaconda, 2014, S. 607–757, S. 617). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass ein zu weites Exogamiegebot, das Populationen höchstens divers vermischt, nach einem Prinzip der Soziobiologie zu vermindertem Altruismus führt (Wilson, Sociobiology, S. 79 f.) und unter Umständen zu genetischer Inkompatibilität (Richard Dawkins, The Selfish Gene, 40. Aufl., Oxford: Oxford UP, 2016, S. 390), das heißt, auch eine zu weitgehende Exogamie ist gesundheitlich und evolutionär von Nachteil.

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2  Ontologie des Naturrechts

­ pilepsie geboren,20 was soziobiologisch „inbreeding depression“21 heißt. Der E mit geschädigtem Erbgut überlebende Nachwuchs hat daher erheblich geringere Fortpflanzungsmöglichkeiten. Nach einigen Generationen ist das Gen, das zum inzestuösem Verhalten führt, in dem gene pool der jeweiligen Gruppierung kaum

20Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 35. Zu Erbschäden beim Inzestnachwuchs vgl. auch R. D. Murray, The Evolution and Functional Significance of Incest Avoidance, Journal of Human Evolution 9, 1980, 173–178, S. 174; Aberle/et al., The Incest Taboo and the Mating Patterns of Animals, S. 256; und Korff/Beck/Mikat, Inzest. Anthropologisch, S. 322. Weitere Statistiken und Literaturangaben bei Karl Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, München: Vahlen, 1995, S. 102 f. Vgl. auch die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates: „Unbestreitbar ist, dass der Inzest dazu führen kann, dass rezessive Erbanlagen, das heißt solche, die sich bei den Eltern nicht als Krankheit ausgeprägt haben, bei den Nachkommen aufeinandertreffen und sich dann als Krankheit oder Behinderung des Kindes auswirken. Die genetischen Risiken für Kinder aus Inzestbeziehungen sind daher erhöht.“ „Dabei handelt es sich nicht nur um bekannte rezessiv bedingte genetische Erkrankungen, sondern auch um nicht eindeutig genetisch bedingte Fehlbildungen und Intelligenzminderungen. Nur 46 Prozent der untersuchten Inzestkinder waren ohne Befund“ (Deutscher Ethikrat, Inzestverbot. Stellungnahme, Berlin: Deutscher Ethikrat, 2014, S. 57 f.). Trotz dieses Befundes stimmte der Deutsche Ethikrat mit mehrheitlicher Stellungnahme gegen ein strafrechtliches Verbot von einvernehmlichen Inzesthandlungen unter volljährigen Geschwistern aus politischen Gründen ab (aaO., S. 72). Dabei wurden die medizinischen und eugenischen Vorteile der Inzuchtvermeidung, die historisch zu erheblichen volksgesundheitlichen Verbesserungen führten, zugunsten einer überwiegend politischen Argumentation nicht genügend berücksichtigt. Für die historischen volksgesundheitlichen Vorteile eugenischer Praxis im Allgemeinen siehe etwa K. Saller, Einführung in die menschliche Erblichkeitslehre und Eugenik, Berlin: Verlag von Julius Springer, 1932, S. 274–288 und Richard Lynn, Eugenics. A reassessment, Westport (Conn.) u. a.: Praeger, 2001, S. 3–43. Für die gesellschaftlichen Nachteile der zumindest seit der Industriellen Revolution zunehmenden Dysgenik in abendländischen Bevölkerungen siehe Richard Lynn, Dysgenics. Genetic Deterioration in Modern Populations, London: Praeger, 1996. 21Wilson, Sociobiology, S. 79. „If some trait, such as size, intelligence, motor skill, sociability, or whatever, possesses a degree of heritability, and if some of the loci display either dominance of superior heterozygote performance, or both, inbreeding will cause a decline of the trait within the population. The decline will affect not only the trait averaged over the population as a whole, but also the performance of an increasing number of individuals“ (ders., S. 78). Siehe auch Albrecht, Kriminologischer Teil, in: Stellungnahme zu dem Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 392/07 zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB – Beischlaf zwischen Geschwistern (Gutachten des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht vom 19.11.2007), S. 112 ff.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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mehr aktiv, das heißt, es wird zum großen Teil durch natürliche Auslese aussortiert.22 Die Inzestvermeidung ist jedoch kein bloßes Ergebnis einer evolutionären Entwicklung, sondern sie ist auch eine aktive, vorwärtsgerichtete Tätigkeit organischer Wesen zum Zweck der gesunden Art- und Lebenserhaltung. Denn jede Bewegung eines Lebewesens vollzieht sich hin zu bestimmten Zielen (τέλος, finis, end, purpose, goal, Zweck).23 Organische Wesen haben im Gegensatz zu unorganischen einen eigenen zielgerichteten Bewegungsanfang bzw. -prinzip, das Entelechie (ἐντελέχεια) genannt wird.24 In modernem Vokabular

22Vgl. Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 34 f. Die mit der Exogamie herbeigeführte Heterozygotie ermöglicht zudem eine größere genetische Vielfalt und somit größere Anpassungsfähigkeit an eine sich verändernde Umwelt. Siehe dazu etwa Murray, The Evolution and Functional Significance of Incest Avoidance, S. 175. Zu weiteren evolutionären Vorteilen der Inzestvermeidung vgl. Aberle/et al., The Incest Taboo and the Mating Patterns of Animals, S. 262 f.; Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, S. 85–96. „The loss of heterozygosity reduces the ability to buffer the development of structures against fluctuations in the environment. Hence less heterosigosity increases the chance of producing less adaptive variants such as phenodeviants. It further reduces the genetic diversity of offspring, a loss that can result in the loss of entire blood lines, or even social groups, when the environment changes“ (Wilson, Sociobiology, S. 79). 23„Omni quod agit, non agit nisi intendendo aliquid, oportet esse aliud quartum, id scilicet quod intenditur ab operante: et hoc dicitur finis“ (Thomas von Aquin, De principiis naturae, § 16, in: Joseph Bobik, Aquinas on matter and form and the elements. A translation and interpretation of the De principiis naturae and the De mixtione elementorum of St. Thomas Aquinas, Notre Dame, Ind: University of Notre Dame Press, 1998, S. 36). Siehe auch James McEvoy, The Teleological Perspective upon Nature, in: Finalité et Intentionnalité: doctrine thomiste et perspectives modernes, Actes du Colloque de Louvain-la-Neuve et Louvain 21–23 mai 1990, hrsg. von S. J. Follon/J. McEvoy, Paris u. a: Éditions de l’Institut Supérieur de Philosophie Louvain-la-Neuve, 1992, 1–8. Für einen Überblick und Diskussion über zielgerichtete individuelle und überindividuelle Selbsterhaltung in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie der Biologie („Cross-Generation Functions“ bzgl. der Kooperation und Fortpflanzung von Lebewesen) vgl. Alvaro Moreno/Matteo Mossio, Biological Autonomy. A Philosophical and Theoretical Enquiry, Dordrecht: Springer, 2015, S. 75 ff. 24Vgl. Aristoteles, 1050b, in: Aristoteles, Metaphysik, 6. Aufl., Hamburg: Rowohlt, 2010, 9. Buch, S. 246; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 174–181; Hans Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth, 1905, S. 228 ff.; Aloys Wenzl, Drieschs Neuvitalismus und der philosophische Stand des Lebensproblems heute, in: Hans Driesch. Persönlichkeit und Bedeutung für Biologie und Philosophie von heute, hrsg. von A. Wenzl, Basel: Ernst Reinhardt Verlag München, 1951,

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2  Ontologie des Naturrechts

heißt die innere Teleologie des Organischen das selbstherstellende und selbsterhaltende „System“, das aktiv für die eigene Ordnung in Wechselwirkung von Energie und Stoffzufuhr mit der Umwelt sorgt.25 Die teleologische Bewegung organischer Wesen besteht in dem Verhältnis „um … zu“ der Bewegung ihrer Zellen, Organe und ihrer selbst (nexus finalis). Teleologisches Verhalten findet in bewusster wie in unbewusster Form statt als Instinkt, Emotion, Neigung usw. Mit anderen Worten, die Funktion „um … zu“, der Handlungszweck, ist trotz eventuell fehlender Kenntnisnahme des organischen Wesens in ihm als Bewegungsprinzip vorhanden.26 Es handelt sich also um nicht unbedingt bewusst gesetzte Zwecke; sie bedürfen keiner spezifisch bewussten Verarbeitung, um zu

65–178. Zur inneren Teleologie des Organischen vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 195–197. Der Entelechie nahe ist die Seele als immaterielle Wirklichkeit: „Die materialistische Ansicht gab dem Körper das Vorrecht und versetzte die Seele in den Rang einer zweitklassigen, abgeleiteten Erscheinung und erkannte ihr nicht mehr Wesenhaftigkeit zu als diejenige eines sogenannten « Epiphänomens ». Was an sich eine gute Arbeitshypothese ist, nämlich die Annahme, dass seelische Erscheinung von körperlichen Vorgängen bedingt sei, wird im Materialismus zum philosophischen Übergriff“ (Carl Gustav Jung, Psychologische Typologie (1936), in: Typologie, München: DTV, 2014, S. 14). 25Vgl.

Gerhard Roth, Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 2010, S. 42 f.; Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, S. 619). 26„Et sciendum, quod omne agens tam naturale quam voluntarium intendit finem, non tamen sequitur quod omne agens cognoscat finem, vel deliberet de fine. … Intendere nihil aliud erat quam habere naturalem inclinationem ad aliquiud“ (Thomas von Aquin, De principiis naturae, § 16, in: Bobik, Aquinas on matter and form and the elements. A translation and interpretation of the De principiis naturae and the De mixtione elementorum of St. Thomas Aquinas, S. 36). Zur Handlungsfähigkeit (agency) von einzelligen Organismen in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie der Biologie vgl. Moreno/Mossio, Biological Autonomy, S. 90 f.: „the relationship between a biological organization and its environment is asymmetrical: the organization acts on the environment to promote its own maintenance, while perturbations generated by the environment on the system are monitored in accordance with its own needs. The interaction is asymmetrical because it is guided by one side only, which imposes its own norms and aims on the other“; „We will refer to this interactive dimension as agency. A system that realizes constitutive closure (metabolism) and agency, even in a minimal form, is an autonomous system, and therefore a biological organism“ (aaO., S. 89).

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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wirken.27 Im Falle der Inzestvermeidung handelt es sich um ein zielgerichtetes Verhalten mit oder ohne „clairvoyance eugénique“28, das heißt, auch ohne das Wissen der erblichen Vorteile der Exogamie. Der teleologische Charakter des inzestvermeidenden Verhaltens im Gegensatz zur rein mechanischen Kausalität ist auch dadurch ersichtlich, dass der Inzest auch nach der natürlichen Auslese eines erheblichen Anteils inzestvermeidender Gene immer noch möglich ist. Die Fortpflanzungsmöglichkeit besteht auch bei inzestuöser Paarung. Dieselbe Muskelkraft und Lust, die vorhanden sein müssen, damit exogamer Beischlaf stattfindet, reichen für das Herbeiführen von endogamem Beischlaf vollkommen aus. Dies wird durch die Tatsache dokumentiert, dass inzestuöse Verhältnisse trotz evolutionärer Selektion doch in den meisten menschlichen Gruppierungen, wenn auch nur ausnahmsweise, stattfanden29 und in der Gegenwart immer noch

27Zur

Nichterforderlichkeit von Bewusstsein für teleologisches Handeln siehe z. B. Ota Weinberger, Teleologie und Zeitablauf, Rechtstheorie, 13/1982, 285–302, S. 287–289. 28Die „clairvoyance eugénique“, das Wissen über die erblichen Nachteile des Inzestes, ist eine späte Bewusstseinsentwicklung und war daher nicht die Ursache der ersten Entstehungen von Inzestverboten (Überblick bei Jürg-Christian Hürlimann, Die Eheschließungsverbote zwischen Verwandten und Verschwägerten, Bern u. a: Peter Lang, 1987, S. 25 ff.). Claude Lévi-Strauss ordnet die ersten Entwicklungen einer „clairvoyance eugénique“ dem 16. Jahrhundert zu: „le privilège sensationnel de la révélation des prétendues conséquences des unions engogames. Or, cette justification de la prohibition de l’inceste est d’origine récente; elle n’apparaît nulle part, dans notre société, avant le XVIe siècle“ (Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, S. 15). Es sind jedoch deutlich frühere historische Dokumente zu finden, die das Bewusstsein über Erbschäden unbezweifelbar belegen. Siehe beispielsweise die Kapitularien von Benedictus Levita aus dem 11. Jahrhundert: „Ex his autem procreari solent coeci, claudi, gibbi et lippi, sive aliis turpibus maculis aspersi. Et hoc ne ne deinceps fiat omnibus cavendum est. Sed prius conveniendus est sacerdos, in cuius parochia nuptiae fieri debent, in ecclesia coram populo. Et ibi inquirere una cum populo ipse sacerdos debet, si eius propinqua sit an non, aut alterius uxor vel sponsa vel adultera“ (zit. nach Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100), Berlin u .a: Walter de Gruyter, 2008, S. 330). Benedikts Kapitularien wurden zu authentischem Kirchenrecht erhoben, obwohl sie der gegenwärtigen historischen Forschung zufolge eigentlich verfälschte Quellen enthielten (aaO., S. 323–336) – eine Feststellung, die ihnen das Bewusstsein über Inzestschäden allerdings nicht absprechen kann. Zur bewusstseinsunabhängigen Inzesthemmung siehe auch Aberle/et al., The Incest Taboo and the Mating Patterns of Animals, S. 257. 29Vgl.

Norbert Bischof, Die biologischen Grundlagen des Inzesttabus, in: Bericht über den 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel 1970, hrsg. von G. Reinert, Göttingen: Verlag für Psychologie, 1973, 115–142), S. 137 f.; Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 3 f. Die bedeutendsten Ausnahmen bilden der sogenannte

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2  Ontologie des Naturrechts

stattfinden.30 Die Inzestvermeidung ist daher kein mechanisches Naturgesetz.31 Wenn diverse Pflanzen, die meisten Vögel und Säugetiere einschließlich des Menschen trotz stets vorhandener Möglichkeit von Endogamie doch Exogamie

„dynastische Inzest“ und der ritualmäßige Inzest (vgl. dazu Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, S. 101 ff.). Zu einem Überblick über die Inzestpraxis der Ptolämäer-Dynastie im alten Ägypten vgl. Herbert Maisch, Inzest, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1968, S. 56; aus mythologischer Perspektive Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, erste Hälfte, 3. Aufl., Basel: Benno Schwabe, 1948, S. 283). Zum Inzest als Ritual vgl. auch Aberle/et al., The Incest Taboo and the Mating Patterns of Animals, S. 253. Weitere Ausnahmen bei Gregory C. Leavitt, Sociobiological Explanations of Incest Avoidance: A Critical Review of Evidential Claims, American Anthropologist 92, 1990, 971–993, S. 973. Die wichtigste historische Funktion endogamer Ehen liegt bei politischen und ökonomischen Faktoren: „Preferential consanguineous marriage is mainly explained in social and economic terms, and the reasons given include the strengthening of family relationships and the maintenance of family property, including landholdings. Prenuptial arrangements also are greatly simplified, and the security of marrying a partner whose entire family background is known is perceived as a major benefit in ensuring the success and stability of the union, with lower divorce rates among consanguineous couples“ (Alan H. Bittles, Genetic Aspects of Inbreeding and Incest, in: Inbreeding, Incest, and the Incest Taboo. The state of knowledge at the turn of the century, hrsg. von W. H. Durham/A. P. Wolf, Stanford: Stanford UP, 2005, 38–60, S. 43). 30Für

Statistik über inzestuösen Kindermissbrauch vgl. Matthias Hirsch, Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie, 2. Aufl., Berlin u. a: Springer, 1990, S. 18 ff. Journalistisch siehe etwa Julia Jüttner, „Das ist das Schlimmste, das ich je gesehen habe“. in: Spiegel Online, Spiegel Online, 26.11.2008, http://www.spiegel.de/ panorama/justiz/inzestfall-in-grossbritannien-das-ist-das-schlimmste-was-ich-je-gesehenhabe-a-592976.html (zuletzt geprüft am 30.04.2020); Sonja Kastilan, Das bleibt in der Familie. in: FAZ Online, FAZ Online, 29.09.2014, http://www.faz.net/aktuell/wissen/lebengene/inzest-und-das-genetische-risiko-das-bleibt-in-der-familie-13177139.html (zuletzt geprüft am 30.04.2020). 31Dies schon deshalb, weil es sich um ein Verhalten handelt. Zur teleologischen Kennzeichnung des organischen Verhaltens im Allgemeinen im Gegensatz zum mechanischen Naturgesetz vgl. Hegel: „Allein wie vorhin das Organische bestimmt worden, ist es in der Tat der reale Zweck selbst; denn indem es sich in der Beziehung auf Anderes selbst erhält, ist es eben dasjenige natürliche Wesen, in welchem die Natur sich in den Begriff reflektiert, und die an der Notwendigkeit auseinandergelegten Momente einer Ursache und einer Wirkung, eines Tätigen und eines Leidenden in eins zusammengenommen, so daß hier etwas nicht nur als Resultat der Notwendigkeit auftritt; sondern weil es in sich zurückgegangen ist, ist das Letzte oder das Resultat ebensowohl das Erste, welches die Bewegung anfängt, und sich der Zweck, den es verwirklicht. Das Organische bringt nicht etwas hervor, sondern erhält sich nur, oder das, was hervorgebracht wird, ist ebenso schon vorhanden, als es hervorgebracht wird“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 198).

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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betreiben, geschieht dies aufgrund der erhöhten Zweckmäßigkeit von Exogamie für die Arterhaltung insbesondere und für die Lebenserhaltung insgesamt. Individuelle Selbsterhaltung kommt als Ziel inzestvermeidenden Verhaltens kaum in Betracht, u. a. weil es sich um eine Fortpflanzungsfunktion handelt:32 Das inzestvermeidende Verhalten findet auch dann statt, wenn es kein Verbot gibt, dessen Übertretung durch die Gruppe sanktioniert würde, und auch unter Umständen, in denen es kein Wissen über die erblichen Vorteile der Exogamie gibt, das irgendwie als egoistisches Motiv für die Bevorzugung exogamer Beziehungen dienen könnte.

2.2.2 Die Wirklichkeit der Teleologie der Natur Die Inzestvermeidung erfüllt die Funktion der gesunden Art- und Lebenserhaltung. Der in den Naturwissenschaften bis in die Soziologie des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Terminus Funktion ist eine nominalistische Umschreibung für teleologische Vorwärtsbewegungen, die sich weder als Mechanismus noch als

32Zur

überindividuellen Funktion der Reproduktion von Lebewesen siehe beispielsweise Henri Bergson: „En particulier, dans le cas de l’individualité, on peut dire que, si la tendance à s’individuer est partout présent dans le monde organisé, elle est partout combattue par la tendance à se reproduier. Pour que l’individualité fût parfaite, il faudrait qu’aucune partie détachée de l’organisme ne pût vivre séparément. Mais la reproduction deviendrait alors impossible. Qu’est-elle, en effet, sinon la reconstitution d’un organisme nouveau avec un fragment détaché de l’ancien? L’individualité loge donc son ennemi chez elle“ (Henri Bergson, L'évolution créatrice, 24. Aufl., Paris: Félix Alcan, 1921, S. 14). Die Tatsache, dass die meisten komplexen Individuen viel mehr genetische Information tragen, als dass es für ihre Selbsterhaltung, also für die Steuerung ihrer eigenen vitalen Funktionen, erforderlich ist, ist eines der vielen starken Indizien für eine individuumsübergreifende Grundeinheit der Evolution von Lebewesen. Siehe Dawkins, The Selfish Gene, S. 8, 54–58. Die natürliche Auslese findet auf zumindest drei Ebenen statt: Individuum, Gen und Gruppe, was „multilevel selection“ heißt: „… for a social group to function as an adaptive unit, its members must do things for each other. Yet, these groupadvantageous behaviors seldom maximize relative fitness within the social group. The solution, according to Darwin, is that natural selection takes place at more than one level of the biological hierarchy. Selfish individuals might out-compete altruists within groups, but internally altruistic groups out-compete selfish groups. This is the essential logic of what has become known as multilevel selection theory“ (David Sloan Wilson/Edward O. Wilson, Rethinking the theoretical foundation of sociobiology, The Quarterly Review of Biology 82, 4/2007, 327–348, S. 328).

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2  Ontologie des Naturrechts

Zufall fassen lassen,33 weil sie die Verwirklichung einer unter mehreren Möglichkeiten nach einem Prinzip darstellen. Häufige terminologische Umschreibungen für Teleologie sind neben Funktion „Leistung“, „Steuerung“, „Passung“, „Anpassung“, „Neigung“, „Tendenz“, „propensity“, „Vorteil“, „Nutzen“, „genetische Information“ (Genom), „Kampf ums Dasein“ und „Ermöglichung höherer Komplexität“. Obwohl jeder dieser Begriffe Nuancen hat, die unterschiedliche Aspekte natürlichen, individuellen und sozialen Geschehens verdeutlichen, ist ihnen die teleologische Komponente unzertrennlich gemeinsam. Deren Verwendung beseitigt daher keineswegs die Teleologie der Natur, sondern setzt sie durch Einsetzung anderer Terminologie nur voraus. Obwohl die herrschende Meinung in Geistes- und Naturwissenschaften seit der Moderne die Teleologie der Natur als „Vitalismus“34, naiven Realismus und Ähnliches abtut35 – „man ist jetzt

33„Der

Zufall, oder allgemeine mechanische Gesetze, können solche Zusammenpassungen nicht hervorbringen. Daher müssen wir dergleichen gelegentlichen Auswickelungen als v o r g e b i l d e t ansehn. … Denn äußere Dinge können wohl Gelegenheits- aber nicht hervorbringende Ursachen von demjenigen sein, was notwendig anerbet und nachartet. So wenig, als der Zufall oder physisch-mechanische Ursachen einen organischen Körper hervorbringen können, so wenig werden sie zu seiner Zeugungskraft etwas hinzusetzen, d. i. etwas bewirken, was sich selbst fortpflanzt, wenn es eine besondere Gestalt oder Verhältnis der Teile ist“ (Immanuel Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen. Zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im Sommerhalbenjahre 1775, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, 11–30, S. 18, AA 02: 7). Die Zweckmäßigkeit der Natur enthält eine „Zufälligkeit … bei allen empirischen Naturgesetzen in Beziehung auf die Vernunft“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. in: Die drei Kritiken, Köln: Jokers, 2011, S. 1167, AA 05: 370). Zur Vereinbarkeit von teleologischen und modernen nichtteleologischen Erklärungsmustern nach der Denktradition des angelsächsischen Empirismus siehe Ernest Nagel, The Structure of Teleological Explanations, in: The Philosophy of Science, hrsg. von P. H. Nidditch, Oxford: Oxford UP, 1968, 80–96, insbes. S. 93. 34Exemplarisch für diese weit verbreitete, tendenziell abwertende Begrifflichkeit siehe Georg Henrik von Wright, Explanation and Understanding, New York: Cornell UP, 1971, S. 157. 35Die Annahme der Teleologie der Natur wird im modernen philosophischen Denken häufig als eine Naivität dargestellt. Vgl. beispielsweise György Lukács, der der kantischen Position der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ folgt (György Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Darmstadt: Luchterhand, 1984, S. 22 f.). Zum Antiteleologismus schon in der Antike vgl. Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Berlin: Mittler & Sohn, 1927, S. 677. Die moderne Wende zur Negation der natürlichen Teleologie und ihre Umschreibung mit anderen Termini vollzog sich im späten 17. Jahrhundert im Zuge der zunehmenden Ablehnung der aristotelischen Philosophie (vgl. hierzu

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

49

spröde (modernes Sträuben) gegen den Zweck“36 –, lassen sich Zell- und Organfunktionen37 sowie evolutionäre Entwicklungen nicht abgesehen vom Zweckbegriff beschreiben. Nicht einmal Evolutionstheorien können ohne die Annahme arterhaltender Ziele des organischen Verhaltens auskommen, da das rückwärtsgewandte Erklärungspotenzial evolutionärer Mechanismen allein die gegenwärtige und vorwärtsgewandte Funktion von Organen und Zellen von Lebewesen nicht erfassen kann.38 Die evolutionäre Kausalität kann höchstens und nur zum Teil erklären, warum gewisse Organismen gewisse Organe haben, nicht aber warum die Organe sich in der Gegenwart so und so hin zu bestimmten Ergebnissen verhalten.

Marco Solinas, From Aristotle’s teleology to Darwin’s genealogy. The stamp of inutility, Houndsmill, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2015, S. 4, 83–94; Robert Spaemann/Reinhard Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München u. a: Piper, 1981). Danach wurden Teleologie und Kausalität entgegengesetzt, statt Teleologie als eine Form von Kausalität anzuerkennen; es hieß überwiegend, „in allen teleologischen Akten des Stoffwechsels der Gesellschaft mit der Natur setzen diese von ihnen unabhängig vorhandene, wenn auch in vielen, in sich mit der Entwicklung vermehrenden Fällen, in ihrer Vorbereitung entdeckte Naturgesetzlichkeiten in Bewegung; sie können ihnen eine neue, in der Natur nicht vorhandene Gegenständlichkeitsform aufprägen (man denke wieder an das Rad), aber all dies ändert an der Grundtatsache, daß durch die teleologische Setzung eben Kausalreihen in Bewegung gesetzt werden, nichts; denn eigene teleologische Zusammenhänge, Prozesse etc. existieren an sich überhaupt nicht. … Schon die rein gedankliche Ausdehnung der teleologischen Setzung zu einem teleologischen Bewegungsprozeß zeigt ihre eigene Unmöglichkeit auf“ (Lukács, aaO., S. 21). 36Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 178. 37Das Regulationsvermögen von Lebewesen ist ihre teleologische Fähigkeit, „trotz abnormaler auf sie einwirkender Umstände ihre Norm, in Hinsicht auf Gestalt unf Funktion, zu wahren,“ wie beispielsweise Atmung, Ernährung, Stoffwechsel, osmotischer Druck, Immunisierung, Regeneration und Reflex. Siehe Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, S. 177–181. 38Zur Unersetzlichkeit des Funktionsbegriffs in der Biologie vgl. Moreno/Mossio, Biological Autonomy, S. 63 ff.; Zur Unersetzlichkeit teleologischen Denkens für die Naturwissenschaft aus kantischer Perspektive vgl. Otfried Höffe, Immanuel Kant, 2. Aufl., München: Beck, 1988, S. 273 f., 279. Zur Unersetzlichkeit der Teleologie als „Arbeitshypothese“ für die Naturforschung vgl. Konrad Lorenz, Induktive und teleologische Psychologie (1942). in: Über tierisches und menschlichens Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, Bd. I, München: Piper, 1966, S. 387 f. Zu einer Wiederaufnahme der Teleologie mit scharfer Kritik am sogenannten „Antiteleologismus“ vgl. Spaemann/Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens.

50

2  Ontologie des Naturrechts

„Gen“ ist ein irreduktibel teleologischer Begriff: Es ist als evolutionsbiologische Kategorie eine individuumsübergreifende Einheit, die nicht mit materiellen Entitäten wie dem Chromosom gleichzusetzen ist.39 Evolution und Naturteleologie sind keineswegs gegensätzlich.40

39„Ein

Gen ist eine abstrakte mathematische Rechnungseinheit, deren materielle Realisierung nicht spezifiziert wird. … Als eine von einem Individuum auf seine Nachkommen weitergegebene Einheit bleibt ein Gen über die Generationen hinweg erhalten und kann die Fitnessdifferenzen von Individuen verschiedener Typen erklären. … Weil ein (funktionales) Gen jedenfalls nicht als physische Einheit im Genom vorliegt, wird der Begriff des informationalen Gens (»informational gene«) vorgeschlagen“ (Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Stuttgart: Metzler, 2011, Stichwort Funktion, S. 650–652). Siehe dazu auch Dawkins, The Selfish Gene, S. 45 f. Das Gen ist neben der Art eine der Grundeinheiten der Evolution von Lebewesen: „It is its potential immortality that makes a gene a good candidade as the basic unity of natural selection. … A gene can live for million of years, but many new genes do not even make it past their first generation“ (ders., S. 45). Zum Gen als einer Grundeinheit der natürlichen Auslese im Laufe der Geschichte siehe Charles Crawford/Catherine Salmon, Evolutionary Psychology: The Historical Context, in: Foundations of Evolutionary Psychology, hrsg. von C. Crawford/D. Krebs, New York u. a.: Lawrence Erlbaum Associates, 2008, 1–21, S. 5 f. Ferner ist auch die DNA ein teleologischer Begriff, der als solcher in der Biologie meistens nicht anerkannt wird. Seine Teleologie ergibt sich aus dem Umstand, dass sie ein Programm mit genetischen Informationen u. a. für die Herausbildung von Protein enthält. 40Selbst im kritischen System Kants ist die Zweckmäßigkeit der Natur mit der empirischen Erklärung biotischer Vorgänge vereinbar, ergänzend, forschungsanleitend und sogar denknotwendig. Sie wird bei ihm allerdings irrtümlicherweise von Naturwirklichkeit in bloße menschliche Beurteilung, von Kausalitätsform in Analogie umgedeutet: „Gleichwohl wird die teleologische Beurteilung, wenigstens problematisch, mit Recht zur Naturforschung gezogen; aber nur um sie nach der Analogie mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien der Beobachtung und Naturforschung zu bringen, ohne sich anzumaßen sie danach zu erklären. Sie gehört also zur reflektierenden, nicht zur bestimmenden Urteilskraft. … Der Begriff von Verbindungen und Formen der Natur nach Zwecken ist doch wenigstens ein Prinzip mehr, die Erscheinungen derselben unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanismus derselben nicht zulangen“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 1156, AA 05: 360). Zur kantischen Position vgl. Höffe, Immanuel Kant, S. 278 f. und Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 679 f. Ferner ist die mechanistische Ursache im Modus der „hinreichenden und notwendigen Bedingungen“ der teleologischen Ursache nicht gegensätzlich. Siehe dazu Jacques Follon, Le finalisme chez Aristote et S. Thomas, in: Finalité et Intentionnalité: doctrine thomiste et perspectives modernes, Actes du Colloque de Louvain-la-Neuve et Louvain 21–23 mai 1990, hrsg. von S. J. Follon/J. McEvoy, Paris u. a.: Éditions de l’Institut Supérieur de Philosophie Louvain-la-Neuve, 1992, 11–39, S. 19 f. Siehe auch Friedrich Nietzsches

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

51

Die Möglichkeit teleologischer Deutungen natürlichen Geschehens ist in Geistes- und Naturwissenschaften unumstritten. Strittig ist nur ihr philosophischer Status, der in grundsätzlich zwei Weisen verstanden werden kann, nämlich entweder (1) als ein in der Wirklichkeit natürlich wirkendes Prinzip oder (2) rein gnoseologisch als eine normative Denknotwendigkeit für Erkenntnissubjekte ohne Anspruch auf Korrespondenz mit der Wirklichkeit, also als bloßes Prinzip der Beurteilung oder Betrachtungsweise zur sinnvollen Ordnung und Darstellung der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Untersuchungen41 bzw. als Heuristik oder

­Hervorhebung der Aktivität im biotischen und historischen Geschehen im Gegensatz zu den bloßen Anpassungsbewegungen von Lebewesen an ihrer Umwelt (ohne jedoch die Naturteleologie ausdrücklich anzunehmen): „Die demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will, der moderne M i s a r c h i s m u s (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bilden) hat sich allmählich dermaassen in’s Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, dass er heute Schritt für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivisten Wissenschaften eindringt, eindringen d a r f; ja er scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen A k t i v i t ä t, eskamotirt hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die ‚Anpassung‘ in den Vordergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität, ja man hat das Leben selbst als eine immer zweckmässigere innere Anpassung an äussere Umstände definirt (Herbert Sencer). Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein W i l l e z u r M a c h t ; damit ist der prinzipielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die ‚Anpassung‘ folgt“ (Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. in: Kritische Studienausgabe, hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München: DTV, 1999, 2. Abhandlung, § 12, S. 315 f.). 41Diese Position wird am deutlichsten und ausführlichsten von Immanuel Kant vertreten. Kant erkennt zwar die Teleologie von Organismen an; ihmzufolge entspringt sie allerdings nicht den Organismen selbst, sondern der betrachtenden subjektiven Urteilskraft. Für die Biologie könne die Teleologie nur regulative Bedeutung haben. Teleologie werde stets mithilfe der reflektierenden Urteilskraft – wenn auch allgemein und notwendig – nur „hinzugedacht“ und stehe nicht auf der Seite der beobachteten Natur, sondern des beobachtenden Subjektes. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 1175–1177, AA 05: 376– 378. „Dieses Prinzip, zugleich die Definition derselben, heißt: ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanismus zuzuschreiben. Dieses Prinzip … kann nicht bloß auf Erfahrungsgründen beruhen, sondern muß irgendein Prinzip a priori, wenn es gleich bloß regulativ wäre, und jene Zwecke allein in der Idee des Beurteilenden und nirgend in einer wirkenden Ursache lägen, zum Grunde haben. Man kann daher obgenanntes Prinzip eine Maxime der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit organisierter Wesen nennen“ (ders., S. 1175). Vgl. dazu Höffe, Immanuel Kant, S. 277.

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2  Ontologie des Naturrechts

pragmatische Nützlichkeit für die wissenschaftliche Forschung und technologische Verwertung.42

Zu einer ausführlichen Rezeption und Analyse des kantischen Antirealismus über Teleologie siehe Josef Simon, Teleologisches Reflektieren und kausales Bestimmen, Zeitschrift für philosophische Forschung 30, 3/1976, 369–388, S. 373–388. So erscheint die Teleologie bei Kant als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (siehe Interpretation von Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, S. 19 ff.). In früheren Schriften jedoch vertrat Kant eine diesbezüglich nicht skeptische Position, die teleologieähnliche „Keime,“ „natürliche Anlagen“ und „Fürsorge der Natur“ als die in der Natur eines organischen Körpers liegenden Gründe ansah (Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen. Zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im Sommerhalbenjahre 1775, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, S. 17, 20, AA 02: B139–140), die nicht durch Zufall oder „mechanische Gesetze“ hervorgebracht werden können (ders., S. 18). Kritisch gegenüber Kant aber auf seinen erkenntniskritischen Konstruktivismus aufbauend ist der Neovitalismus von Hans Driesch, der die Teleologie von Lebewesen (Entelechie) annimmt, jedoch (gegen Aristoteles) ausschließlich als Zuschreibung im Rahmen von Begriffsbildungen und Urteilsfällungen von Erkenntnissubjekten. Entelechie sei dementsprechend die „Eigengesetzlichkeit lebender Körper“ und zugleich widersprüchlicherweise „meine Leistung“. Siehe Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, S. 228–230, 238–240, 242. Als Fortentwicklung der kantischen Position kann auch Nicolai Hartmanns Position erwähnt werden. Ihmzufolge bleibt Teleologie zwar „ewig berechtigt“; sie sei jedoch bloße Denkform (Diskussion bei Ingo Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis. Wissenschaftstheoretische und geistesgeschichtliche Grundlagen einer zweckorientierten Rechtswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 55–58). Kantianisch ist auch Niklas Luhmanns Lösung, der den Zweckbegriff für unentbehrlich für die Systemtheorie hält (Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 166), aber ihn letztlich als eine konstruktivistische Als-ob-Vorstellung „fragwürdigen theoretischen Status“ abtut (aaO.). Eine unkonkludente Lage hinsichtlich der natürlichen Existenz von Teleologie ist in Henkes Evolutionstheorie des Rechts zu finden, der auf Basis des Ockhamschen Rasiermesserprinzips einerseits behauptet, dass die Evolution der Arten und des Rechts ohne Teleologie auskäme, aber andererseits einräumt, dass die Teleologie der Natur keineswegs widerlegt oder widerlegbar sei (Christoph Henke, Über die Evolution des Rechts. Warum ändert sich das Recht?, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, S. 123 f.). Antirealistisch hinsichtlich der Teleologie der Natur schon René Descartes, Meditationes de prima philosophia. Méditations métaphysiques, 4. Aufl., Paris: J. Vrin, 1953, S. 82, Rn. 67 f./84 f., der die teleologische Bewegung der „Maschine des menschlichen Körpers“ (machinamentum humani corporis) als bloß subjektive Denkweise (denominatio a cogitatione meâ) betrachtete. 42Wie

beispielsweise bei Lorenz, Induktive und teleologische Psychologie (1942), S. 387: „Die finale Bedeutung der menschlichen Kausalforschung liegt somit darin, daß sie uns als wichtigster Regulationsfaktor die Mittel in die Hand gibt, Naturvorgänge zu beherrschen“.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

53

Die zweite Möglichkeit ist konstruktivistisch. Am allgemeinsten sind diejenigen philosophischen Positionen konstruktivistisch, die besagen, dass der Erkenntnisakt den erkannten Sachverhalt in irgendeiner Weise beeinflusst, sei es durch Konstruktion,43 Korrelation,44 Beweis,45 Interpretation46 oder Wertung. Der Konstruktivismus wird häufig sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie vertreten.47 Alle Varianten des Konstruktivismus lassen 43So

die „konstruktivistische Grundannahme“, derzufolge der Gegenstand sei „eine Beziehungsschaffung seiner Wahrnehmung zu vorhandenen Typen innerhalb des eigenen Wissensvorrats. Es geht klar um eine Gegenstands-Konstruktion, nicht um die Erkenntnis des Gegenstandes als solchen“ (Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 341). Nach Nelson Goodman beispielsweise erzeugen wir Welten, „indem wir Weltversionen erzeugen“ (Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 118), wobei eine Weltversion als eine Menge von Weltbeschreibungen bezeichnet wird (siehe kritisch Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus, Berlin: Suhrkamp, 2006, S. 34). 44Zur Kennzeichnung des Korrelationismus siehe oben, Abschn. 2.1.3. 45Exemplarisch: „According to logical constructivism, a sentence is a logical truth if and only if it can be, or has been, proven from the axioms of the system. … a theorem is only a theorem if, and because, it is the conclusion of such an argument. … The function of arguments under logical constructivism is not merely to show that a sentence is a theorem of the logical system; they make sentences into theorems“ (Jaap Hage, Construction or Reconstruction? On the Function of Argumentation in the Law, in: Legal argumentation theory. Cross-disciplinary perspectives, hrsg. von C. Dahlman/E. T. Feteris, Dordrecht, New York: Springer, 2013, 125–144, S. 134). 46Siehe beispielsweise den interpretativen Ansatz marxistischer Prägung von Csaba Varga: „Any one (apparently single) human behavior is the (relative) end result of a total process. And the progress embodied by the process in question can only develop step by step, move by move, gaining an attributable meaning posteriorly only. For the contextual position of a given step within the process (that is, its systemic relation to the prospected, or idealized, whole in formation) will only get defined posteriorly. Or, formulated differently, the relative end result of the total process at any given time will make any step, or move, the antecedent of that what the whole process will eventually conclude on to later on“ (Csaba Varga, The ­Non-cognitive Character of the Judicial Establishment of Facts, in: Praktische Vernunft und Rechtsanwendung. Legal System and Practical Reason, hrsg. von H.-J. Koch/U. Neumann, Stuttgart: Franz Steiner, ARSP-Beiheft 53, 1994, 230–239, S. 233). 47Für eine Übersicht über Konstruktivismen in der praktischen Philosophie und Philosophie des Rechts vgl. Vittorio Villa, Constructicvismo y teorias del derecho, Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, 2014, S. 54 ff. Der Konstruktivismus verbreitete sich in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts vor allem im Zusammenhang mit der Wissenschaftssoziologie. Zu diesem Punkt vgl. Boghossian, Angst vor der Wahrheit, S. 117 f. Zu einer umfassenden Verteidigung des Konstruktivismus in der Rechtsheorie siehe Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, insbes. S. 430–508.

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2  Ontologie des Naturrechts

sich auf zwei fundamentale, explizit oder implizit gehaltene Arten zurückführen: Sie können Tatsachen- und/oder Begriffskonstruktivismen48 sein. Am weitesten verbreitet ist der Tatsachenkonstruktivismus, der auf die These zurückgeführt werden kann, Menschen gäben der Natur Gesetze. Das heißt, jenseits der menschlichen Gesetzgebung gäbe es höchstens unverknüpfte Dinge, nicht aber die sie verknüpfenden Gesetze. Alle Formen der Kausalität und Begründung wären demnach eine menschliche Art und Weise, Dinge gedanklich zu verknüpfen, nicht aber ein Abbild wirklichen natürlichen Geschehens. Da eine Tatsache eine denkende Verbindung von Subjekt und Prädikat ist und da dem Konstruktivismus gemäß die außermenschliche Natur kein Denken enthält, bedürfe es der Denkkraft eines Menschen, der diese Denkoperation erst hervorbringen könnte. Wenn – so der Konstruktivismus – Zusammenhänge zwischen Dingen ausschließlich eine Denkoperation von Erkenntnissubjekten sind, gibt es in der Wirklichkeit an sich unabhängig von Erkenntnissubjekten keine Tatsachen, sondern höchstens Sachen. Denn eine Tatsache ist mehr als die Sachen, die zueinander verhalten, weil die Tatsache auch das Verhalten der Sachen zueinander enthält. Ebenso wie die Summe zweier Zahlen mehr als das bloße Resultat ihrer Addition ist, weil die Zahlen einander nicht selbst addieren, sondern einer Additionskraft bedürfen, um verknüpft zu werden, so müssen zwei Dinge bzw. Subjekt und Prädikat erst verbunden werden, um eine Tatsache zu ergeben.49 Wenn behauptet wird, dass diese Verknüpfungen nicht in der von Menschen unabhängigen Wirklichkeit vorkommen, sondern nur von Positionen in der Raumzeit einbeziehenden Menschen (oder sonstigen Erkenntniswesen) vorgenommen werden können, so handelt es sich um einen Tatsachenkonstruktivismus: Unabhängig vom menschlichen Denken gäbe es demnach in der Natur keine Tatsachen.50 Tatsachen würden mit

48Näheres

zum Begriffskonstruktivismus unten, Abschn. 2.6.3. Herbert Schnädelbach, Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung, 3. Aufl., Dresden: Junius, 2007, S. 14 f. 50Ähnliche Definition und Kritik bei Paul Boghossian: „Tatsachenkonstruktivismus: Die Welt, die wir verstehen und erkennen wollen, ist so, wie sie ist, nicht unabhängig von uns und unserem sozialem Kontext; vielmehr sind alle Tatsachen sozial konstruiert, und zwar so, dass sich darin unsere kontingenten Bedürfnisse und Interessen widerspiegeln“ (Boghossian, Angst vor der Wahrheit, S. 29). Der Tatsachenkonstruktivismus kann auch als „Beschreibungsabhängigkeit von Tatsachen“ gefasst werden, eine Variante der Auffassung, dass alle Tatsachen bewusstseinsabhängig sind (ders., S. 34). 49Vgl.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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Urteilen oder sprachlichen Propositionen gleichgesetzt.51 Auf diese einfache und fundamentale Fassung gebracht, erscheint der Tatsachenkonstruktivismus eine äußerst unplausible Position, denn intuitiv gilt, „die Welt beginnt nicht mit uns Menschen; viele Tatsachen über die Welt bestanden, bevor es uns gab. Wie sollten wir sie also konstruiert haben?“52 Doch der Tatsachenkonstruktivismus wurzelt tief im westlichen philosophischen Denken zumindest seit der Neuzeit. Er liegt zahlreichen philosophischen Systemen und den meisten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertretenen Theorien insbesondere über juristische Interpretation und Entscheidungsfindung zugrunde. In Bezug auf vergangene Sachverhalte verfallen Konstruktivismen aber in einen Grundwiderspruch mit der Wirklichkeit der Zeit, der darin besteht, dass ein gewisser Sachverhalt zugleich als dem Erkenntnis-, Verstehens-, Denk- oder Benennungsakt vorherig und doch als durch ihn in irgendeiner Weise beeinflusst sei. Die konstruktivistische Verbindung von Erkenntnisakt und erkanntem Sachverhalt aus vorkulturellen Zeiten führt zum sogenannten „paradoxe de l‘ancestralité“, einer „donation d’un être antérieur à la donation“53: Ein Ereignis im Zeitpunkt τ2 (Erkenntnis-, Willens-, Bewusstseins-, Benennungs-, Zurechnungs-, Wertungs- oder Interpretationsakt) könnte eine (Rück-)Wirkung auf ein Ereignis im Zeitpunkt τ1 (Natursachverhalt) entfalten; das Ereignis im τ1 fänge erst an, genau so der Fall gewesen zu sein, wenn ein weiteres Ereignis (Erkenntnisakt) im τ2 stattfindet. Bezüglich auf die Naturteleologie hieße es: Das Verhalten von Lebewesen im Zeitpunkt τ1 finge erst an, im Zeitpunkt τ1 hin zu einem Ziel im Zeitpunkt τ2 teleologisch orientiert zu sein, wenn ein Erkenntnissubjekt sich im Zeitpunkt τ3 diesem Sachverhalt deutend zuwandte. Aufgrund der Unmöglichkeit der rückwirkenden Kausalität in der Zeit ist aber diese konstruktivistische Deutung teleologischen Verhaltens inkompatibel mit dem Bezug auf vergangene Sachverhalte, also inkompatibel mit Geschichte, insbesondere mit der Naturgeschichte, denn jeglicher Bezug wäre eben kein Bezug auf vergangene Sachverhalte, sondern eine nachträglich konstruierte Fiktion oder heuristische Denkweise als-ob. Gibt man beispielsweise zu, ein Vogel baut sich

51Siehe

zur Illustrierung die kantische Position Hans Drieschs: „Das Wirkliche hat zwei Quellen: eine Seite desselben ist ‚gegeben‘, in Form sogenannter Sinnesempfindungen; die andere Seite ist ‚meine Leistung‘. Meine Leistung besteht zum Teil in Begriffsbildung, zum Teil in Urteilsfällung“ (Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, S. 228). 52Boghossian, Angst vor der Wahrheit, S. 33. Dies führt zum Problem der rückwirkenden Kausalität von Tatsachen durch die Konstruktion von Erkenntnissubjekten (ders., S. 44). 53Meillassoux, Après la finitude, S. 32, 34–36.

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2  Ontologie des Naturrechts

ein Nest, damit die Eier nicht fortrollen, so kann nicht zugleich die erkenntnistheoretische reservatio mentalis gelten, es fände keine teleologische Bewegung in der Natur statt54, denn dann wäre die teleologische Kopula damit/um … zu nur als-ob gemeint und daher mit dem ersten Satz in Widerspruch. Der chronologische Widerspruch des Konstruktivismus lässt sich ausschließlich darin auflösen, dass entweder gesagt wird, (1) dass der Sachverhalt dem Erkenntnisakt vorherig ist und daher nicht durch ihn beeinflusst werden kann oder (2) dass der Erkenntnisakt den Sachverhalt beeinflussen kann, woraus folgt, dass der Sachverhalt nicht vorher bestand. Tertium non datur. Die erste Position ist realistisch. Die zweite Option leugnet die Existenz der Sache bzw. der Tatsache an sich oder der Zeit und ist daher antirealistisch oder rein atemporalistisch. Nur der Realismus ist mit der Möglichkeit von Naturgeschichte in einer wirklichen, auch jenseits von raumzeitlichen Erkenntnissubjekten, Kulturen und Gesellschaften bestehenden Zeit vereinbar. Dass die Zeit jenseits von Subjekten, Kulturen und Gesellschaften besteht, bedeutet, dass diese selbst in der Zeit sind und nicht die Zeit in ihnen, dass sie eine Entstehungsgeschichte haben und die Zeit daher nur erkennen, nicht aber konstruieren können. Vor allem ihre eigene Geschichte können Individuen und Kollektive nicht konstruieren, sondern nur erkennen oder verkennen, denn eine Konstruktion verfiele in die widerspruchsvolle Rückwirkung von Gegenwartsereignissen auf Vergangenheitsereignisse. Obwohl zeitliche Messkonventionen voneinander abweichen und für unterschiedliche Regelungszwecke nützlich sein mögen, ist alles Recht trotz eventueller konventionell eingerichteter Zeitmaßstäbe letztlich an die natürliche, lineare Zeit gebunden.55

54So

aber die antirealistische Position Kants: „Denn wir führen einen teleologischen Grund an, wo wir einem Begriffe vom Objekte, als ob er in der Natur (nicht in uns) befindlich wäre, Kausalität in Ansehung eines Objekts zueignen, oder vielmehr nach der Analogie einer solchen Kausalität (dergleichen wir in uns antreffen) uns die Möglichkeit des Gegenstandes vorstellen, mithin die Natur als durch eignes Vermögen technisch denken; wogegen, wenn wir ihr nicht eine solche Wirkungsart beilegen, ihre Kausalität als blinder Mechanismus vorgestellt werden müßte“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 1156 f., AA 05: 360). Zu einer systematischen Diskussion über die Möglichkeit naturhistorischer Urteile, deren Gültigkeit unabhängig vom urteilenden Subjekt besteht, siehe (aristotelisch und in Anschluss an Michael Thompson) Christina Pinsdorf, Lebensformen und Anerkennungsverhältnisse. Zur Ethik der belebten Natur, Berlin u. a.: Walter de Gruyter, 2016, S. 85–123. 55„Die rechtliche Ordnung der schematisierten Zeitmaße für die natürliche Zeit ist statisch angelegt. Sie ist daher nach wie vor dem Dilemma der Diskrepanz zwischen den Hervorbringungen menschlichen Denkens und Wirkens und der Eigengesetzlichkeit der Natur verhaftet. Dieses Dilemma der rechtlichen Schematisierung der natürlichen Zeit zeigt

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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Dasselbe betrifft die erkenntniskritische Position, derzufolge die Ordnung der Natur durch die Urteilskraft des Subjektes gegeben wird, und zwar in Form von Gesetzen, die das Subjekt sich selbst für sein Denken über die Natur vorschreibt56 und eventuell anderen Subjekten vorschlägt, die sie ebenso für ihr Denken frei übernehmen mögen oder nicht. Dieser heautonome Vorgang der Spezifikation

sich in der immer wieder auftretenden Abweichung der terrestrischen Zeit nach den rechtlich schematisierten Zeitmaßen von den veränderlichen realen Bedingungen der erlebbaren natürlichen Zeit. Letztes Regulativ für die Messung der natürlichen Zeit auf der Erde ist daher, trotz aller Korrekturen und Verbesserungen, nicht das verbesserte rechtliche Gefüge von Maßsystemen für die Zeit, sondern die natürliche Ordnung des Kosmos. Die natürliche Zeit auf Erde bleibt einer endgültigen exakten Vorschreibung durch rechtliche Anordnungen offensichtlich entzogen“ (Günther Winkler, Zeit und Recht. Kritische Anmerkungen zur Zeitgebundenheit des Rechts und des Rechtsdenkens, Wien u. a.: Springer, 1995, S. 373). Kritisch dazu Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, insbes. S. 177–181, der zurecht die Unvereinbarkeit der von Winkler vertretenen „kosmischen“ Zeit mit der kantischen Grundlage der Zeit als reiner Form sinnlicher Anschauung hervorhebt. Stephan Kirste vertritt (der Sache nach) einen Bewusstseinskonstruktivismus, der Gegenstand des Kapitels 2, Teil D.I. sein wird. Ferner sei auf die in der Geschichte mehrfach vorgenommenen Kalenderkorrekturen hingewiesen, die rechtliche Anpassungen an die natürliche Zeit waren und als Korrekturen nur unter der ontologischen und epistemischen Voraussetzung stattfinden konnten, dass die rechtliche Zeit die wirkliche Zeit wiedergeben oder verfehlen kann. Siehe die Nachteile einer falschen rechtlichen Zeitwiedergabe für die Landwirtschaft und sonstigen Rechtsverkehr, wenn die rechtliche Zeit nicht mit der astronomischen übereinstimmt, etwa wenn das Kalenderjahr kürzer ist als das astronomische, wie es der Fall des julianischen Kalenders war, der im Jahr 1582 unter Verordnung des Papstes Gregor XIII zum Teil korrigiert wurde. Siehe dazu Herfried Münkler, Der dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648, Berlin: Rowohlt, 2019, S. 75 f. 56Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 941, AA 05: 186. Die These, dass der Gegenstand naturwissenschaftlichen Wissens nicht Dinge und ihre kausalen Abläufe an sich sind, sondern die Begriffs- und Gesetzesbildung des Beobachters über sie, war vor Kant schon Bestandteil des Nominalismus Ockhams: „Nunc autem ita est, quod complexa, quae sciuntur per scientiam naturalem, non componuntur ex rebus sensibilibis nec ex substantiis, sed componuntur ex intentionibus seu conceptibus animae communibus talibus rebus. Et ideo proprie loquendo scientia naturalis non est de rebus corruptibilibus et generabilibus nec de substantiis naturalibus nec de rebus mobilius, quia tales res in nulla conclusione scita per scientiam naturalem subiiciuntur vel praedicantur. Sed proprie loquendo scientia naturalis est de intentionibus animae communibus talibus rebus et supponentibus praecise pro talibus rebus in multis propositionibus, quamvis in aliquibus propositionibus, sicut in prosequendo patebit, supponant tales conceptus pro seipsis“ (Wilhelm von Ockham, Physikkommentar. in: Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft. Lateinisch/Deutsch, hrsg. und übers. von Ruedi Imbach, Stuttgart: Reclam, 1984, S. 30).

58

2  Ontologie des Naturrechts

der Natur57 ist eine erkenntnisskeptische Position, weil nicht gemeint wird, die Natur sei oder sei nicht an sich nach gewissen Prinzipien etwa der Kausalität oder Teleologie geordnet, sondern das Subjekt schreibe sich selbst heautonom vor, wie es über die Natur reflektieren solle. Solange damit ausschließlich das A-priori-Subjekt, das atemporale „ich denke“, gemeint ist, verbleibt die Position rein atemporalistisch, daher metaphysisch, zugleich erkenntnisskeptisch, aber kohärent, denn alle Bewegungen des Subjekts, die es nach seinen eigenen Gesetzen vollzöge, wären ausschließlich atemporale Denkbewegungen und befänden sich in der reinen Logik. Die sogenannte „kritische“ Philosophie ist somit zwar realistisch hinsichtlich der Existenz individueller Konstruktionen, ja hinsichtlich der Möglichkeit der subjektiven Selbstgesetzgebung, aber entweder agnostisch oder antirealistisch über die der subjektunabhängigen Wirklichkeit innewohnenden Gesetze. Eine solche Vorwärtsreduktion der Bedeutung von Gesetzen aber, die für zukünftige oder zeitlich nacheinander stattfindende Bewegungen des Subjekts gesetzt und darauf reduziert werden, kann jedoch nicht mehr innerhalb des rein atemporalen A-priori gelten. Dafür müsste das Subjekt zumindest zum Teil detranszendentalisiert werden: Ein Subjekt, das hic et nunc über die Natur urteilt und gedankliche Maximen für das eigene Handeln herstellt, lebt in der Zeit. Denn Konstruktionen sind zeitlich. Für solch ein Subjekt kann kohärenterweise kein selektiver Realismus für seine eigenen Konstruktionen gelten, der zugleich einen Realismus für ihn selbst als Konstruktion einer von ihm verschiedenen Ordnung ausschlösse. Will sich aber ein nicht-atemporaler Vorwärtsreduktionist trotzdem auf die Natur beziehen, so verfällt auch er in den chronologischen Grundwiderspruch des Konstruktivismus, da die Ordnung der Natur seinem Anspruch nach erst zu einem gewissen Zeitpunkt entstünde, nämlich in dem Zeitpunkt seines Urteils, das einen Präteritumssatz über sie enthält, wobei das Urteil sich auf ein dem Subjekt vergangenes Ereignis bezöge, das zu seiner eigenen Entstehung überhaupt erst kausal führte und daher unter einer dem Urteilenden fremden Ordnung gewesen sein müsste. Dasselbe betrifft eventuell heautonom denkende Kollektive wie Völker, Staaten, Kulturen, die scientific community, die Öffentlichkeit oder die Gesellschaft: Aus ihrer raumzeitlichen Position folgt die Unmöglichkeit ihrer ursprünglichen Selbstkonstruktion. Nur der vollständige Verzicht auf Präteritumsbezüge überhaupt verbliebe eine kohärente, aber für Wissenschaft, Recht und praktisches Handeln irrelevante Position.

57Kant,

Kritik der Urteilskraft, S. 941, AA 05: 186.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

59

Realistisch betrachtet sind die Naturgeschichte und die Teleologie der Natur keine Produkte jedweder menschlicher Tätigkeiten. Sie bestehen nicht als-ob, sondern wirklich. Biologie ist keine nützliche Fiktion, Soziobiologie ist nicht Heuristik; die Naturphilosophie wurde nicht durch empirische Naturwissenschaften oder gar humanistische Geisteswissenschaften überwunden, sondern höchstens ergänzt. Die Teleologie der Natur ist kein Konstrukt irgendwelcher Epoche oder philosophischen Systems; sie ist keine Hineinlegungsoperation von Erkenntnissubjekten, Theorien oder sozialen Systemen in die Natur, d. h. sie ist keine Wertung, Projektion,58 Zurechnung, Kommunikation oder Interpretation, kein kulturelles oder sprachliches Konstrukt, obwohl sie inhaltlich Gegenstand all dieser Akte sein kann. Wertung, Projektion, Zurechnung, Kommunikation und Interpretation sind die wichtigsten Kategorien, die die subjektive und kollektive Abhängigkeit natürlichen Geschehens voraussetzen und deswegen in den genannten Grundwiderspruch des Konstruktivismus hineinfallen, wenn mit ihnen ein konstruktivistischer Anspruch für Bezüge auf die vorkulturelle Natur erhoben wird. Erwähnenswert ist außerdem die Tatsache, dass Teleologie ebenso wenig ein asylum ignorantiae ist, das heißt, sie ist kein Wahrscheinlichkeitsurteil, kein unvollständiger, auf Unwissen gegründeter Erklärungsansatz natürlicher Phänomene, der später eventuell durch eine detailliertere Erklärung unter Rückgriff auf einen Kausalmechanismus ersetzt werden könnte. Teleologie ist nicht auf Notwendigkeit reduzierbar; sie findet immer im Rahmen des Möglichen statt, das nicht zugleich ein Notwendiges ist.59

2.2.3 Zur Entstehungserklärung kultureller Normen Aus der Wirklichkeit der Naturgeschichte folgt die Entstehung von Kultursachverhalten aus nicht kulturell oder sonst von Menschen konstruierten Natursachverhalten. Am Beispiel des Inzestes: Entwickelte sich die Inzestvermeidung in

58Der

Naturbegriff wurde in der Soziologie des 20. Jahrhunderts oft als ein Symbol angesehen, dass der Projektion menschlicher Bedürfnisse zu verdanken sei. Siehe repräesentativ für diese Tendenz Norbert Elias, Über die Natur, in: Die Botschaft des Merkur, hrsg. von K. H. Bohrer/K. Scheel, Stuttgart: Klett-Cotta, 1997, 379–391. 59Über das Mögliche, das nicht zugleich ein Notwendiges ist, vgl. Aristoteles, Lehre vom Satz, Hamburg: Felix Meiner, 1958, Kap. 9, S. 104 (19a); Aristoteles, Metaphysik, 5. und 9. Buch, S. 147, 231, insbes. 236 f. (1045b, 1046a, 1047b).

60

2  Ontologie des Naturrechts

vorkulturellen Zeiten durch bloße Naturkraft, so fand sie später ein funktionales Korrelat innerhalb der vielen Kulturen.60 Was bereits längst Normalität war, fand Ausdruck in der Praxis der Normativität und Sanktionierung.61 Die Naturkraft in Richtung Gruppen- und Arterhaltung führte kausal zur Entstehung von Kulturelementen. Diese stellen sich dar als die universelle Norm des Inzestverbotes. Verbote können beispielsweise Tabus sein – ein Wort polynesischen Ursprunges, das ein in einer Gemeinschaft weitgehend verinnerlichtes und befolgtes Prohibitiv bezeichnet,62 dessen Übertretung besonders scharf sanktioniert wird,63 dessen Grund meist unbekannt ist und, wenn bekannt, eine aus der Sicht der Gemeinschaftsmitglieder nicht auf Rechtfertigung angewiesene Berechtigung besitzt.64

60Vgl. Bischof, Die biologischen Grundlagen des Inzesttabus, S. 136–138; Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 23 f., 28, 172. „The primary function of incest avoidance is rooted in the origins of biparental reproduction in that it serves to maximize genetic variability necessary for adaptation. In accord, the human incest taboo is likely an extension of this biological predisposition, which does not exclude its incorporation in a multitude of additional social functions that have been addressed previously by several authors … While these earlier suggestions have adequately substantiated the widespread occurrence of exogamy for human groups today, we must understand their inadequacy for revealing the basis of the panmammalian tendency to outbreed and the universal existence of the human incest taboo as a product of the same basis“ (Murray, The Evolution and Functional Significance of Incest Avoidance, S. 177). Vgl. auch Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, S. 10–29, insbes. S. 14: „Cette règle, social par sa nature de règle, est en même temps présocial à un double titre: d’abord, par son universalité, ensuite, par le type de relations auxquelles elle impose sa norme.“ Soziobiologisch: „a science of sociobiology, if coupled with neuropsychology, might transform the insights of ancient religions into a precise account of the evolutionary origin of ethics and hence explain the reasons why we make certain moral choices instead of others at particular times“ (Wilson, Sociobiology, S. 129). 61Allgemeiner:

„quod initium iuris est a natura profectum; deinde quaedam in consuetudinem ex utilitate rationis venerunt; postea res et a natura profectas et a consuetudine probatas legum metus et religio sanxit“ (Marcus Tullius Cicero, De Invent. Rhet., II, zit. nach Thomas von Aquin, Summa theologiae, prima secondae, Lander (Wyoming): The Aquinas Institute for the Study of the Sacred Doctrine, 2012, question 91, article 3). 62Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Stichwort Tabu, S. 206; W. Marschall, Tabu, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, 1955. 63Marschall, Tabu, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 64„Die Tabubeschränkungen sind etwas anderes als die religiösen oder moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern verbieten sich eigentlich von selbst; von den Moralverboten scheidet sie die Einreihung in ein System … Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft“ (Freud, Totem und Tabu (1913), S. 629).

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

61

Das Inzestverbot und viele Inzesttabus fanden die verschiedensten Ausdrücke in Sammler- und Jägerkulturen,65 in segmentären Gesellschaften,66 bei den Ureinwohnern Australiens,67 im alten Griechenland, in Rom68 und auch auf deutschem Gebiet zumindest seit dem 6. Jahrhundert.69 Kulturelle Korrelate der Inzestvermeidung wie Inzestverbote sind komplexere Strategien zur Arterhaltung im Vergleich zu anderen im Tierreich vorkommenden Strategien70 und werden erst durch Eigenschaften des menschlichen Gehirns ermöglicht.71 Rein kulturelle und soziale Funktionen wie die Vermeidung von Konflikten innerhalb der Familie72 oder die familienübergreifende Verbündelungsfunktion, indem die Pflicht zur Exogamie Verbindungen mit anderen Sippen erzwingt,73 können nicht die

65Uwe

Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München: C. H. Beck, 2006, Rn. 11, 16. 66Wesel, Geschichte des Rechts, Rn. 29. 67Freud, Totem und Tabu (1913), S. 613–628. 68Siehe Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 3; Maisch, Inzest, S. 46 f. Zum Inzestverbot im christlichen Mittelalter nach den Regeln von Konzilien und Kapitularien vgl. Ines Weber, Ein Gesetz für Männer und Frauen. Die frühmittelalterliche Ehe zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur, Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2008, S. 210–233. Hierzu auch Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100). 69Siehe Sami Bdeiwi, Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB). Reform und Gesetzgebung seit 1870, Berlin u. a.: de Gruyter, 2014, S. 253. 70Andere natürlichen Strategien der Inzestvermeidung sind beispielsweise (1) die breite Verteilung des Nachwuchses in der Umwelt, sodass die Wahrscheinlichkeit einer endogamen Paarung sinkt, wie es bei einigen Fischarten der Fall ist; (2) Vertreibung des Nachwuchses vom Familienkern bei Erreichen der Paarungsreife; (3) angeborenes Unattraktivitätsempfinden gegenüber Verwandten. Vgl. Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 28–30; Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, S. 78–87; Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, S. 594. Bei Primaten kann „die halbgeschlossene Struktur von Gruppen, die ein selektives Überwechseln des Individuums zu anderen Gruppen erlauben, … auch als Vermeidung von Inzest interpretiert werden“ (Junichiro Itani, Die Tötung von Artgenossen bei nichtmenschlichen Primaten, in: Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, hrsg. von M. Gruter/M. Rehbinder, Berlin: Duncker & Humblot, 1983, 143–157, S. 145). 71Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 40 f. 72Vgl. Freuds und Malinowskis Erklärungsansätze. Übersicht bei Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 5, 41 f. 73Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 5. Vgl. auch Wesel, Geschichte des Rechts, Rn. 11.

62

2  Ontologie des Naturrechts

­ ntstehung des Inzestverbotes erklären, sondern höchstens und nur teilweise E seine Beibehaltung74 oder Erweiterung. Im christlichen Mittelalter beispielsweise erfüllte die extreme Ausdehnung des Inzestverbotes bis zum 12. Verwandtschaftsgrad die soziale Funktion der Verbündelung des Adels der vielen auseinanderdividierten Regionen.75 Kurzum: Die natürliche Arterhaltungsteleologie, die das Verhalten von Lebewesen in vorkulturellen Zeiten anleitete, leitete das menschliche Verhalten in kulturellen Zeiten ständig weiter an und führte kausal zur Entstehung von Normen. Die natürliche Erklärung für die Entstehung des Inzestverbotes in den vielen Kulturen ist daher seine unentbehrliche Zweckmäßigkeit für die Arterhaltung und fernteleologisch für die Lebenserhaltung insgesamt.76 Kurz, das Inzestverbot ist eine Wirkungsweise der Teleologie der Natur unter kulturellen Umständen. Die zeitliche Ereignisabfolge der Entstehung des Inzestverbotes kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Inzestvermeidung entstand zunächst als evolutionäres, naturteleologisches und vorkulturelles Verhalten. Aus der Natur ist die Kultur mit dem funktionellen Korrelat des Inzestverbotes entstanden. Verschiedene Kulturen leisteten unterschiedliche Rechtfertigungen für das natürlich bedingte Verhalten und die natürlich entstandene Norm. Die Rechtfertigungen variierten von mythologischen Elementen bis hin zum

74Die Erklärung des Ursprunges und der Beibehaltung eines Kulturelementes sind unterschiedliche Fragestellungen. Vgl. Aberle/et al., The Incest Taboo and the Mating Patterns of Animals, S. 254. 75„Gesetze zur Ausdehnung von Exogamie wurden nicht in Gesellschaften erlassen, die von Tribalisierung erfasst wurden; sie standen vielmehr dort im Mittelpunkt der Gesetzgebung, wo Großreiche nach dem Zerfall antiker Staatlichkeit an der Intensivierung überregionaler Kommunikation innerhalb des Adels interessiert waren und auf den Fundus römischer Rechtstradition zurückgreifen konnten. … Der hohe Stellenwert der Inzestgesetzgebung in der abendländischen byzantinischen Gesellschaft des frühen Mittelalters entsprang dem Bedürfnis nach der Herstellung einer öffentlichen Ordnung in einem Zeitalter ihrer zunehmenden Erosion. Dieses Bedürfnis war deswegen besonders stark, weil Ehe und Familie unter den Bedingungen der Entdifferenzierung des Rechtswesens in höherem Maße als Grundlagen der sozialen Integration angesehen wurden und infolgedessen einer höheren Aufmerksamkeit und Regulierung in moralischer, theologischer und auch juristischer Hinsicht für nötig befunden wurden“ (Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100), S. 497 f.). 76Bekanntlich lehnte die Soziologie des 20. Jahrhunderts Erklärungen aus natürlichen Gegebenheiten weitgehend ab. Dies ist eher ihren liberalpolitischen Tendenzen zuzurechnen als der Kraft des besseren Argumentes. Vgl. dazu Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, S. 8 f., 27, 172 und Crawford/Salmon, Evolutionary Psychology: The Historical Context, S. 7 f.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

63

erfahrungsbedingten Wissen über die erbschädlichen Folgen des Inzestes. Es ist zwar ungewiss, seit wann die verschiedenen Kulturen das in ihrem Rahmen schon längst vorhandene Inzestverbot unter expliziten Rückgriff auf Erbschäden rechtfertigten. Historisch sicher ist, dass dieses Wissen nicht schon immer besteht. Die Menschheit lebte einen langen, möglicherweise den längsten Zeitraum ihrer Existenz ohne ein solches Wissen.

2.2.4 Berechtigung und Rechtfertigung des Inzestverbotes 2.2.4.1 Unterscheidung von Berechtigung und Rechtfertigung überhaupt Normen haben aber nicht nur ein erklärbares Zustandekommen, sondern sie können auch gerechtfertigt werden.77 Die Rechtfertigung einer Norm ist eine Denkoperation, die die Ermittlung ihrer Berechtigung (oder Richtigkeit) zum Gegenstand hat. Schon daraus erhellt, dass Berechtigung und Rechtfertigung zweierlei sind. Berechtigung ist ein Prädikat oder Oberbegriff, das sich in verschiedenen normativen Ordnungen mit verschiedener Terminologie niederschlagen kann. Im Recht kann es sich allgemein um die Rechtmäßigkeit einer Handlung, je nach Rechtsgebiet kann es sich um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, um die Ordnungsgemäßheit eines Verwaltungsaktes, die Gültigkeit eines Rechtsaktes, die verfahrensrechtliche Unanfechtbarkeit eines richterlichen Urteils usw. handeln. In der Moral kann die Berechtigung eines Verhaltens seine Tugendhaftigkeit, Anständigkeit oder schlichtweg seine moralische Richtigkeit ausmachen. In der Politik kann das allgemeine Berechtigungsprädikat Gerechtigkeit, Erforderlichkeit, Zweckmäßigkeit usw. bedeuten. In keinem ­

77Einleitend

zur Unterscheidung von Erklärung und Rechtfertigung kann gesagt werden, „eine Erklärung unterscheidet sich insbesondere von einer Rechtfertigung. Wenn wir etwas erklären, geben wir eine Ursache und bestenfalls auch noch ein Naturgesetz an, das den Kontext der Ursache bestimmt. Wenn wir hingegen eine Überzeugung rechtfertigen, geben wir andere Überzeugungen an, welche diese Überzeugung stützen. Wir können etwa die Überzeugung, daß wir einen farbigen Würfel vor uns sehen, durch den Hinweis rechtfertigen, daß wir einen blauen Würfel sehen. Daraus, daß wir einen blauen Würfel sehen, folgt, daß wir einen farbigen Würfel sehen. Allerdings haben wir damit nicht erklärt, warum wir einen »blauen« Würfel sehen“ (Markus Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, 4. Aufl., München: Karl Alber, 2013, S. 318 f., Markierungen im Original).

64

2  Ontologie des Naturrechts

dieser Gebiete kann Berechtigung mit Rechtfertigung gleichgesetzt werden. Die Berechtigung ist der Schluss einer Rechtfertigung; sie ist das, worauf die Rechtfertigung hinfällt oder hinausgeht.

2.2.4.2 Zugehörigkeit des Inzestverbotes zu diversen normativen Ordnungen Normen inzestvermeidender Teleologie und ihre Rechtfertigungen sind in den verschiedenen normativen Ordnungen von Recht, Moral, Religion und Politik breit verteilt. Wesentlich ist dabei der Norminhalt, nicht seine Zugehörigkeit zu einer spezifischen normativen Ordnung.78 In der Gegenwart finden sie Ausdruck nicht nur unmittelbar in strafrechtlichen Tatbeständen (in Deutschland im § 173 StGB), sondern auch indirekt in privatrechtlichen Eheverboten zwischen nahen Verwandten (§ 1307 BGB) und nicht zuletzt in diversen moralischen Maßstäben. Normen, die indirekte inzestvermeidende Wirkungen entfalten, sind beispielsweise das christliche Verbot der Polygamie79 sowie rechtliche und politische Ansichten zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Minderjährigen.80 In der Rechtswissenschaft sind Schutz von Ehe und Familie, Schutz einer gesunden Sexualmoral sowie Schutz vor Kindesmissbrauch in diesem Zusammenhang stehende Rechtsgüter.81

78„Le

fait de la règle, envisagé de façon entièrement indépendante de ses modalités, constitue, en effet, l’essence même de la prohibition de l’inceste“ (Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, S. 37). 79Dieser indirekte Zusammenhang besteht darin, dass durch das Polygamieverbot sexuelle Beziehungen auch innerhalb des Familienkerns vermieden werden. Es handelt sich allerdings um einen relativ spät etablierten Glaubensinhalt des Christentums. Die thomistische Lehre beispielsweise ließ polygame Verhältnisse unter Umständen noch zu. Vgl. Hans Meyer, Thomas von Aquin. Sein System und seine geistesgeschichtliche Stellung, Bonn: Peter Hanstein, 1938, S. 526. Ferner, zu den populationsgesundheitlichen Verbesserungen (= eugenischen) Wirkungen von Polygamie vgl. Wilson, Sociobiology, S. 314–335. 80Soziologische Übersicht bei Klein, Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, S. 159. 81Rechtswissenschaftliche Übersicht und kritische Diskussion bei Sandra Karst, Die Entkriminalisierung des § 173 StGB, Frankfurt am Main u. a.: Lang, 2009, S. 80–82; 111 ff. und Bdeiwi, Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB). Reform und Gesetzgebung seit 1870, S. 243–245. Die gesundheitsschädlichen Wirkungen des Inzestes werden durch die deutsche Judikative seit Langem erkannt. Nach dem Strafsenat des deutschen Reichsgerichtes (1879–1945) in einer Entscheidung des 21.09.1880 bestand die gedankliche

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

65

2.2.4.3 Rechtfertigung des Inzestverbotes Die Beibehaltung des Inzestverbotes in der Gegenwart ist aufgrund der folgenden Gesichtspunkte gerechtfertigt: (1) Eugenik: das Zeugen von Kindern unter endogamen Bedingungen bringt mit einer Wahrscheinlichkeit von über 50 % Fehlgeburten und Behinderungen verschiedener Art hervor.82 Die Qualität der menschlichen Genetik wird durch Generierung erbkranken Nachwuchses verringert. Zudem stellt die frühe Mortalität von Individuen im Kindes- und Erwachsenenalter im Vergleich zur Mortalität gleich vor oder bei der Geburt eine Konstellation erhöhten Ressourcenverbrauchs und emotionaler Erschütterung dar und ist daher evolutionär von noch größerem Nachteil.83 Die Verringerung der Gesundheit und Vitalität einer Bevölkerung behindert die Meisterung von Herausforderungen, die dieser Bevölkerung durch die Umwelt einschließlich anderer

Grundlage des § 173 StGB zunächst in sittlichen, religiösen und politischen Gründen der Blutsgemeinschaft (RG 2, 240); später änderte sich die Rechtsprechung zur Anerkennung des Gesundheitsschutzes als ratio legis (RG 57, 140). Vgl. dazu Herbert Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten. Eine kriminalsoziologische Untersuchung, Stuttgart: Ferdinand Enke, 1957, S. 57. Die Eugenik ist auch eine Grundlage des Eheverbotes zwischen Verwandten im § 1307 BGB (vgl. Thomas Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl., Heidelberg: C. F. Müller, 2008, § 10, Rn. 167). Das deutsche Bundesverfassungsgericht prüfte im Beschluss vom 26.2.2008 (2 BvR 392/07) die Verfassungsmäßigkeit des § 173 StGB und führte dabei unter anderen die „Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen“ als Entscheidungsgrund für die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde an: „Der Gesetzgeber verfolgt mit der angegriffenen Norm Zwecke, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind und jedenfalls in ihrer Gesamtheit die Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts legitimieren. Der Gesetzgeber hat seinen Entscheidungsspielraum nicht überschritten, indem er die Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests, den Schutz der in einer Inzestbeziehung ‚unterlegenen‘ Partner sowie ergänzend die Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen als ausreichend erachtet hat, das in der Gesellschaft verankerte Inzesttabu weiterhin strafrechtlich zu sanktionieren. … Vielmehr rechtfertigt sich die angegriffene Strafnorm in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzests“ (BverfG NStZ 2008, 614, 616). 82Für 83Zu

zahlreiche Belege siehe oben, Abschn. 2.2.1, insbes. Fn. 20. diesem letzten Punkt vgl. evolutionsbiologisch Dawkins, The Selfish Gene, S. 390.

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2  Ontologie des Naturrechts

Bevölkerungen gestellt werden können. Volksgesundheit ist vorzugswürdig gegenüber Volkskrankheit. (2) Individuelle Lebensqualität und Gesundheit: Inzestabkömmlinge werden – wenn überhaupt – mit Behinderungen geboren, die Hindernisse für ein erfülltes Leben darstellen, individuelle Frustration erzeugen, Abhängigkeitsverhältnisse und besondere Sorgfaltspflichten veranlassen. (3) Schutz von Kindern, Ehe und Familie:84 die innerfamiliäre Geschlechtskonkurrenz verwischt die familiären Positionen, führt zu Depressionen, Suizidgedanken, Essstörungen und sämtlichen psychischen Belastungen von minder- und volljährigen Familienmitgliedern,85 insbesondere von Vater und Tochter.

2.2.4.4 Einwände gegen das Inzestverbot Trotz seiner historisch und volksgesundheitlich umfangreich begründeten und gesellschaftlich breit anerkannten Berechtigung wurde gegen das Inzestverbot seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielerlei Einwand erbracht. Dieselbe Liberalisierung des akademischen Diskurses, die im Rahmen der Soziologie und Anthropologie mehr politisch als sachlich zur Leugnung des natürlichen

84In

der deutschen Rechtsordnung stellt das Eheverbot zwischen Verwandten (§ 1307 BGB) einen Unterfall des besonderen Schutzes der Familie durch die staatliche Ordnung dar (Art. 6 Abs. 1 GG). Eheverbote können deshalb „nicht mit Art. 6 GG kollidieren, der gerade die Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt“ (Hoffmann-Stephan, Kommentar über § 4 des damaligen deutschen Ehegesetzes in: Hoffmann, Edgar/Stephan, Walter (Hrsg.), Ehegesetz nebst Durchführungsverordnungen. Kommentar, 2. Aufl., München: C. H. Beck, 1968). Über den Familienschutz als Grundlage des § 1307 BGB siehe auch Palandt, Otto/Brudermüller, Gerd/Ellenberger, Jürgen/ Götz, Isabell/Grüneberg, Christian (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch, 76. Aufl., München: C.H. Beck, 2017, § 1307, Rn. 1 (Brudermüller). Der Familienschutz ist auch das im § 173 geschützte Rechtsgut, und zwar unabhängig vom nachprüfbaren individuellen Interesse von Familienmitgliedern (siehe Monika Frommel, § 173, Rn. 11, in: Kindhäuser, U./Neumann, U./Paeffgen, H.-J. (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 2013). 85Dazu und zu weiteren Belegen in diesem Sinne siehe Michael Kubiciel, Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR. Die Entscheidung und ihre Folgen für die strafrechtswissenschaftliche Debatte, ZIS 6, 2012, 282–289, 287 f.; Edward Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht. Eine strafrechtsdogmatische Untersuchung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, S. 424–426; Hirsch, Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie, S. 181 ff.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

67

Ursprunges der Inzestvermeidung führte, veranlasste auch Juristen zu scharfem Kritizismus am Inzestverbot. Zum Teil wurden die erbschädlichen Wirkungen des Inzestes skeptisch in Frage gestellt. In dieser Hinsicht sind Juristen und Gerichte bedauerlicherweise oft desinformiert – Zweifel über die erblichen Schäden durch Inzest sind im juristischen Schrifttum immer noch weit verbreitet.86 Aber selbst bei Zugeständnis der erbschädlichen Wirkungen wurde das Inzestverbot durch Bezweiflung der Höherwertigkeit von Gesundheit gegenüber Behinderung kritisiert.87 Manchmal wird der Ehe und einem gesunden zukünftigen Leben

86Siehe

beispielsweise Panagiotis Karkatsoulis, Inzest und Strafrecht. Die Bedeutung des Strafrechts am Beispiel des Inzesttatbestandes (§ 173 StGB), Pfaffenweiler: CentaurusVerlagsgesellschaft, 1987, S. 10; Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 103; Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, S. 6–66; Tatjana Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2005, S. 455; EGMR, Urteil vom 12.4.2012 – 43547/08, Stübing v. Deutschland, S. 8, Nr. 36; Klaus Ellbogen, Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verwandten. Ein Relikt aus der Vergangenheit, ZRP, 2006, 190–192, S. 191; Benno Zabel, Die Grenzen des Tabuschutzes im Strafrecht. Zur Vereinbarkeit von § 173 Abs. 2 S. 2 StGB mit dem Grundgesetz – zugleich Besprechung des Beschlusses des BVerfG v. 26.2.2008, Juristische Rundschau, 11/2008, 453–457, S. 456. 87Exemplarisch: „Die Begründung für die « Notwendigkeit » der Inzestverbote wird in der Biologie darin gesehen, daß aus sexuellen Verbindungen unter nahen Angehörigen verschiedenen Geschlechts – wissenschaftlich gesichert – häufig behinderte Abkömmlinge hervorgehen. … Also Inzestverbot! Für viele, an moderner Wissenschaftlichkeit geschulter Aufnahmegewohnheiten ist das ganz überzeugend. Aber man übernimmt eine ganze, möglicherweise nicht einmal sorgfältig durchdachte Weltsicht, wenn man solche Ableitungen für wissenschaftlich gesichert hält. Damit ein Ergebnis « Inzestverbot biologisch notwendig » richtig (verbindlich) werden kann, muß vorausgesetzt werden: Behinderungen bei Nachkommen sollen nicht sein. Die Biologie geht davon aus, daß dies völlig geklärt ist. Doch ist das sehr schwierig zu klären, und nur zu klären, wenn man ein wenig Metaphysik zu treiben bereit ist. Warum sollen Nachkommen nicht behindert sein? Darauf gibt es zahlreiche Antworten, deren Verbindlichkeit unterschiedlich mühsam zu rechtfertigen ist. … Über das Inzestverbot mit Anspruch auf rechtliche Richtigkeit ist nur in einer Metaphysik des Rechts zu entscheiden“ (Wolfgang Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 3. Aufl., Neuwied u. a.: Luchterhand, 1996, Rn. 216), wobei implizit und irrtümlicherweise suggeriert wird, dass der Bedarf an Metaphysik für eine Begründung bereits ein Scheitern dieser Begründung impliziere. Zweifel an dem Interesse der Allgemeinheit, Erbkrankheiten zu vermeiden, werden auch geäußert von Tatjana Hörnle, Das Verbot des Geschwisterinzests. Verfassungsgerichtliche Bestätigung und verfassungsrechtliche Kritik, NJW, 2008, 2085–2088, S. 2087.

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2  Ontologie des Naturrechts

die Qualität eines Rechtsguts im Strafrecht überhaupt aberkannt.88 Nicht selten wird es reduktionistisch als ein vornehmlich auf den ideologischen Schutz einer illiberalen Sexualmoral abzielendes Verbot gedeutet.89 In Deutschland wird die historische Konnotation des eugenischen Denkens als Mahnung an die Gegenwart insistierend zum Ausdruck gebracht und als Schuldkultur gegen Deutsche aufgrund des Nationalsozialismus gepflegt.90 Am häufigsten aber wird die Legitimität des Inzestverbotes unter Anfechtung der Zuständigkeit des Staates für den „Schutz von Moralvorstellungen“91 und für die Regelung von vermeintlich ausschließlich privaten Angelegenheiten der sich inzüchtig fortpflanzenden Individuen verneint.92

88Zur Ehe vgl. Zabel, Die Grenzen des Tabuschutzes im Strafrecht, S. 455; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 452 f. und Hörnle, Das Verbot des Geschwisterinzests, S. 2086. Zum zukünftigen Leben vgl. Karkatsoulis, Inzest und Strafrecht, S. 47 f., Claus Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests. Zur verfassungsrechtlichen Überprüfung materiellrechtlicher Strafvorschriften, StV, 9/2009, 544–557, „drittens“; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 456; John Philipp Thurn, Eugenik und Moralschutz durch Strafrecht? Verfassungsrechtliche Anmerkungen zur Inzestverbotsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Kritische Justiz 42, 1/2009, 74–83, S. 76–78. 89Karkatsoulis,

Inzest und Strafrecht, S. 47–62; Zabel, Die Grenzen des Tabuschutzes im Strafrecht, S. 455–456. 90Siehe beispielsweise die Position von Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 442 f. 91Luís Greco, Was lässt das Bundesverfassungsgericht von der Rechtsgutslehre übrig? Gedanken anlässlich der Inzestentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ZIS, 5/2008, 234–238, S. 234. Zum Inzestverbot als einem „rein gesinnungsethisch begründeten“ Straftatbestand vgl. Thurn, Eugenik und Moralschutz durch Strafrecht?, S. 78–82. 92Für Claus Roxin beispielsweise ist die Strafdrohung gegen den Inzest ein unzulässiger Eingriff des Staates in den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“. Vgl. Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, S. 548. Nach Klöpper sollte der Staat die Beteiligten nicht „vor sich selbst“ schützen (Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 108–114, 131). Für Luís Greco in demselben Sinne ist es ein unzulässiger Verstoß gegen den „strafrechtlichen Liberalismus“ (Greco, Was lässt das Bundesverfassungsgericht von der Rechtsgutslehre übrig?, S. 238). Monika Frommel zufolge ist die Weite der Anknüpfungstatsache zwischen verbotener Handlung und zu vermeidenden Ergebnissen das eigentliche Problem eines strafrechtlichen Inzestverbotes nach der modernen Rechtsgutslehre (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, § 173, Rn. 12). Benno Zabel sieht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die Verfassungsmäßigkeit des § 173 StGB bestätigte, als einen „Ausdruck paternalistischer Ordnungsgewalt“ an (Zabel, Die Grenzen des Tabuschutzes im Strafrecht, S. 455). Für Klaus Ellbogen schützt der § 173 StGB weder individuelle noch universelle Rechtsgüter, sondern „nur moralische Vorstellungen“ und somit „keinen vernünftigen Zweck“; der Paragraph sei deswegen „unverhältnismäßig“ im verfassungsrechtlichen Sinne. Vgl. Ellbogen, Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verwandten, S. 192.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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2.2.4.5 Berechtigung des Inzestverbotes Die Einwände treffen aus folgenden Gründen nicht zu. Erstens sind Zweifel über die erblichen Nachteile der Endogamie nach kulturübergreifender Erfahrung und nach heutigen wissenschaftlichen Standards, wie bereits ausführlich dargelegt,93 nicht gerechtfertigt. Zweitens ist die Tatsache, dass ein vergangenes politisches Regime Missbräuche beging, kein Argument für die gegenwärtige Unterlassung einer ethisch korrekten Maßnahme. Linkspolitische Vorbehalte gegen qualitative Erneuerung, ja sogar gegen die qualitative Beurteilung natürlicher menschlicher Eigenschaften können einer Verbesserung der conditio humana ebenso hinderlich sein wie die ungeschickte Politik vergangener unliberaler Regimes. Drittens machen sowohl individuelle Güter des Nachwuchses als auch kollektive Güter die Rechtfertigung des Inzestverbotes aus. Der im liberalpolitischen Schrifttum oft vertretene „Kernbereich privater Lebensgestaltung“94 als Argument gegen den staatlichen Eingriff in private Verhältnisse ist daher nicht einschlägig. Es scheint dem Großteil des Schrifttums immer noch weitgehend entgangen zu sein, dass eine eventuelle Aufhebung der in der Rechtsordnung erteilten Inzestverbote (einschließlich strafrechtlicher Tatbestände) eine gleichermaßen moralische Einstellung darstellt, nur im entgegengesetzten Regelungssinne. Das liberale Recht wird oft so vertreten, als ob die Grundsätze des politischen Liberalismus u. a. aufgrund des methodologischen Individualismus,95 des Gleichheitsgedankens und der sogenannten „Autonomie“ des Rechts

93Siehe

oben, Abschn. 2.2.1 und 2.2.3. Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, S. 548 f. Soziologisch Karl Mannheim, Essays on the Sociology of Culture. Collected Works of Karl Mannheim, Bd. 7, New York: Routledge, 1956, S. 188. 95Im Kontext des politischen Liberalismus kann der methodologische Individualismus vielerlei bedeuten, wie z. B., dass der Ursprung aller Werte in Individuen liegt: „justice can be meaningfully attributed only to human action and not to any state of affairs as such without reference to the question whether it has been, or could have been, deliberately brought about by somebody … value ‘to society’ is in a free order as illegitimate an anthropomorphic term […]“ (Friedrich August von Hayek, Studies in Philosophy, Politics and Economics, London: Routledge & Kegan Paul, 1967, S. 166, 172), oder dass nur diejenigen Individuen, die von einer gewissen politischen Maßnahme möglicherweise betroffen werden, über ihre Berechtigung wissen könnten (Habermas, Faktizität und Geltung, S. 506), sodass politische Rechte allein aus individuellen Freiheitsrechten abgeleitet werden könnten (Ronald Dworkin, Justice for Hedgehogs, Cambridge Mass. u. a.: Harvard UP, 2011, S. 327, 330). 94Roxin,

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2  Ontologie des Naturrechts

gegenüber anderen normativen Ordnungen keine „substanzielle“ Moral96 darstellten, ja wertneutral97 oder außerpolitisch wären, so dass liberalrechtlichen Regeln gerade wegen ihrer vermeintlichen Apolitizität und Amoralität ein höherer Legitimitätsstatus zukäme als gewöhnlichen moralischen und politischen Überzeugungen. Aber auch der substanziell-politische und -moralische Charakter liberaler Grundsätze ist schon längst hinreichend dargelegt worden und bedarf hier keiner ausführlichen Darlegung.98 Das egalitäre Prinzip „gleiche Rechte für alle“ und die liberale Betonung der Öffentlichkeit als notwendiges Medium für die Legitimität normativer Entscheidungen, ja die Versehung des Guten und Gerechten „mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit“ sind zugleich j­üdisch-christliche Doktrinen und können nicht einmal für

96So

etwa die „comprehensive doctrine“ bei John Rawls (John Rawls, Political Liberalism, New York: Columbia UP, 1993, S. 174). „In justice as fairness the priority of right means that the principles of political justice impose limits on permissible ways of life … accepting the political conception does not presuppose accepting any particular comprehensive religious, philosophical, or moral doctrine“ (Rawls, Political Liberalism, S. 174 f.). Weiter auch Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 82 und George Sher, Beyond Neutrality. Perfectionism and Politics, Cambridge: Cambridge UP, 1997, S. 33 ff. 97Z. B. Wertneutralität als ­ „purpose-independent (‚formal‘) rules of just conduct to the relations with other men who did not pursue the same concrete ends or hold the same values except those abstract rules“ (Hayek, Studies in Philosophy, Politics and Economics, S. 165) oder als „Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“ (Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138), die zwar trotz des normativen Gehaltes gegenüber Recht und Moral „noch neutral“ sein könnten (aaO.). Zum Anspruch auf Zweck- und Begründungsneutralität von Normen siehe auch Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, S. 78–82. 98Zu Analyse und Kritik gescheiterter Entpolitisierungen durch den Liberalismus siehe Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, München u. a.: Duncker & Humblot, 1932. „In Wahrheit ist es … eine typische und besonders intensive Art und Weise, Politik zu treiben, daß man den Gegner als politisch, sich selbst als unpolitisch (d. h. hier: wissenschaftlich, gerecht, objektiv, unparteiisch usw.) hinstellt“ (ders., S. 8). Siehe auch Chantal Mouffe, The Return of the Political, London: Verso, 1993. Zum Teil verzichtet die politische Philosophie des Liberalismus auf einen Anspruch auf Neutralität des Liberalismus selbst, während eine gewisse Neutralität für andere Regeln beansprucht wird. Siehe dazu Patrick Zoll, Perfektionistischer Liberalismus. Warum Neutralität ein falsches Ideal in der Politikbegründung ist, München: Karl Alber, 2016.

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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v­ ollständig areligiös gehalten werden.99 Das Inzestverbot kann nicht aufgrund der Tatsache seiner Moralhaftigkeit angefochten werden, da das Gegenteil, die Inzesterlaubnis, eine gleichermaßen moralische Position darstellt, der übrigens die ebenso unliberale Bestrebung zugrundeliegt, sich des institutionell organisierten Staatsapparates bedienen zu wollen, um sich gegenüber allen anderen Gesellschaftsmitgliedern trotz der faktischen und potenziellen Meinungsverschiedenheiten einiger durchzusetzen und ihnen somit vorhersehbare und steuerbare soziale Wirkungen auf Basis substanzieller Moralvorstellungen aufzuzwingen. Kurz, amoralische und apolitische Lösungen stehen nicht zur Wahl. Aufgrund der deontischen und sozialen Unvereinbarkeit zweier Positionen, die gleichermaßen den Bereichen des Rechtlichen, Religiösen, Moralischen und Politischen angehören, nämlich, dass der Inzest verboten werden soll oder nicht verboten werden darf, kann, wird und soll im Großen und Ganzen einer Gesellschaft nur eine Position umgesetzt werden. Folglich muss die Frage substanziell behandelt werden, nicht aber durch bloße fehlschlüssige Zuständigkeitszuschreibungen etwa ad populum (nur das Volk oder die Öffentlichkeit dürften es entscheiden), ad legislatorum (nur der Gesetzgeber oder verfassungsgebende Gewalt dürfe es entscheiden), ad auctoritas (der Richter, der Staat dürfen oder dürfen es nicht entscheiden), ad scientiam (nur Wissenschaftler seien für die kompetente Behandlung der Frage zuständig oder – umgekehrt – Wissenschaftler seien für eine Entscheidung nicht legitimiert) oder ad hominem (nur die Betroffenen wären für die Entscheidung legitimerweise zuständig, was im Falle der Entscheidung über die Berechtigung gewisser Fortpflanzungsarten zusätzliche Schwierigkeiten mit sich brächte, da weder Neugeborene noch Nichtgeborene zustimmen

99Diese

sind tiefliegende jüdisch-christliche Grundsätze nach Darlegung und Kritik von Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. in: Kritische Studienausgabe, hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München: DTV, 2008, §§ 11, 15, 21, 27, 30, 34. Als Beispiel der Akzeptabilität durch die Öffentlichkeit als Bedingung von Gerechtigkeit kann auch die Öffentlichkeitslehre Kants erwähnt werden: „Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht“ (Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1796). in: Schriften zur Anthropologie Geschichtsphilosophie und Pädagogik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, S. 245, B100, 101). Zur Unpersönlichkeit von Regeln als Charakteristikum des liberalen Staates siehe Roberto Mangabeira Unger, Knowledge and Politics, London: The free press, 1984, S. 167–170.

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2  Ontologie des Naturrechts

können). Die substanzielle Richtigkeit unabhängig von institutionellen und epistemischen Autoritäten ist der alleinige Maßstab für die Lösung einer normativen Fragestellung. Deswegen musste in dieser Untersuchung über Rechtsontologie auf die Berechtigung des Inzestverbotes, wenn auch nur kurz, auch substanziell eingegangen werden. Entscheidungsberechtigte und die Gestaltung von Prozeduren richten sich nach der substanziellen Richtigkeit einer Ansicht aus vielmehr als das Umgekehrte. Zudem könnte die vermeintliche Weltanschauungsneutralität des Staates in Bezug auf die Regelung des individuellen Lebens nicht dadurch gefördert werden, dass eugenische durch dysgenische Weltanschauungen ersetzt würden. Der Glaube an die Gleichwertigkeit des genetischen Materials aller Menschen, die Leugnung der statistischen erbschädlichen Wirkungen der Endogamie und die Verteidigung der individuellen Freiheit endogamer Paare, sich beliebig fortzupflanzen, sind aber Bestandteile einer dysgenischen Weltanschauung. Weltanschauungen, die die erbschädlichen Wirkungen des Inzestes leugnen oder die eine Relativierung von Krankheit und Gesundheit um der individuellen Gleichberechtigung und Freiheit willen vertreten, legitimieren die fahrlässige und vorsätzliche Herbeiführung krankheitshervorrufender Handlungen, bewirken somit mittelbar dysgenische soziale Effekte und stellen deswegen eine Umwertung100 dar. Diese Umwertung geschieht häufig unter der Voraussetzung von u. a. protestantischer Prägung101, dass die Natur insgesamt und die natürlichen Bestimmtheiten von Individuen insbesondere, die liberal gedeutete „natural

100I.

S. v. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, § 7. und Kritik der protestantischen Abneigung gegen die Natur als ethisch relevanten Faktor bei Theodor Herr: „Der vollkommenen Singularität der Offenbarung sucht evangelische Theologie unter anderem gerecht zu werden in dem sola-scripturaund sola-fide-Standpunkt, der jeden anderen Ansatz als den theologischen von vornherein ausschließt. Natürliche Theologie, Schöpfungsordnungen, Naturrecht erscheinen von dorther als unerlaubte Wege oder vergebliche Versuche des Menschen, sich dem Absoluten zu nähern. … In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, daß das Interesse der evangelischen Theologie seit der Reformation fast ausschließlich personalistisch und voluntaristisch orientiert ist, wobei die ontologischen und intellektualistischen Aussagen über den Menschen nur wenig oder gar keine Beachtung finden. Daraus ergibt sich eine allgemein verbreitete Abneigung gegen die Ontologie“ (Theodor Herr, Zur Frage nach dem Naturrecht im deutschen Protestantismus der Gegenwart, München: Ferdinand Schöningh, 1972, S. 210 f.). 101Analyse

2.2  Zum Verhältnis von Natur und Norm am Beispiel der Inzestvermeidung

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lottery“102, für die Ethik nicht maßgeblich sein könnten, sondern allein das, was aus individuellen Absichten hervorgeht.103 Es ist aber für Staaten und für sonst mächtige gesellschaftliche Akteure soziologisch unmöglich, das kollektive (und folglich das individuelle) Leben weder eugenisch noch dysgenisch voranzutreiben. Eine Inzesterlaubnis wäre eine ebenso politische Lösung wie ein Inzestverbot, nur im entgegengesetzten Regelungssinne, nämlich in dem Sinne einer Instrumentalisierung des Rechts für eine dysgenische Politik. Es gibt nämlich keine Wirkungsneutralität privater Handlungen und öffentlicher Regelungen.104 Ob gesellschaftlich relevante private Handlungen und öffentliche Standardsetzungen insbesondere des Straf-, Zivil-, Steuer- und Sozialversicherungsrechts direkt oder indirekt entweder eugenisch oder dysgenisch unabhängig von Begründungen wirken, ist eine sozialgesetzliche Notwendigkeit, die keine unkontrollierbare Nebenwirkung darstellt und daher nicht dem Zufall überlassen werden muss. Die Förderung der Gesund-

102John Rawls, A Theory of Justice. Revised Edition, Cambridge Mass: Harvard UP, 1999, S. 64 f., 89. 103Siehe nur das ideengeschichtlich äußerst einflussreiche Beispiel der protestantischen Ethik Immanuel Kants: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein g u t e r W i l l e. … Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut, und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen, als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja, wenn man will, der Summe aller Neigungen, nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Absicht durchzusetzen … so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in Gesammelte Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1963, 9–102, S. 18 f., BA 1, 2). 104Da die Wirkungsneutralität politischer Maßnahmen schlichtweg unmöglich ist, konzentrieren sich manche Vertreter des politischen Liberalismus auf andere Arten vermeintlicher Wertneutralität wie der Begründungsneutralität. „Neutrality of effect or influence political liberalism abandons as impracticable, and since this idea is strongly suggested by the term itself, this is a reason for avoiding it“ (Rawls, Political Liberalism, S. 193 f.). Die Möglichkeit von Wirkungsneutralität wird beispielsweise abgelehnt in den liberalen politischen Theorien von Rawls, Political Liberalism, S. 191–194, Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, S. 82 und Sher, Beyond Neutrality. Perfeccionism and Politics, S. 22 f.

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heit und anderer positiver Eigenschaften einer Bevölkerung durch Verhinderung von Verfallserscheinungen und Verbesserung ihrer genetischen Qualität kennt viele Möglichkeiten, die in der Vergangenheit – auch längst vor dem Nationalsozialismus in Deutschland – vielerorts umfassend wissenschaftlich analysiert, ethisch begründet und politisch umgesetzt wurden.105 Da Eugenik in jedem nichtnihilistischen ethischen System gegenüber Dysgenik vorzuziehen ist, stellt sie eine berechtigte normative Vorstellung für die Anleitung der staatlichen Aktivität und nichtstaatlicher Akteure dar.106 Ethisch korrekte Verhalten und Normen, die bereits durch bloße naturteleologische Kraft entstanden und sich kulturell bewährten, können so durch zusätzlichen Intelligenz- und Technologiegebrauch befördert werden.

2.3 Über Grund und Berechtigung überhaupt 2.3.1 Berechtigung als Eigenschaft von Normen und Verhalten Die oben genannten Gesichtspunkte stellen einen Teil der Rechtfertigung dar, warum das in den verschiedenen Normenordnungen von Recht, Moral, Politik und Religion erteilte Inzestverbot letztlich berechtigt ist. Die genannten Gründe, die vor allem auf der Gesundheitsförderung und Lebenserhaltung basieren, betreffen nicht nur gegenwärtige Inzestverbote, sondern auch vergangene. Wie können aber heutige Erkenntnisse und Rechtfertigungen auf die Berechtigung von vorhergegangenen, natürlich bedingten Verhaltensweisen und Normen schlussfolgern ? Ist es nicht ein Anachronismus wie die anfangs genannte Hypostasierung einer bloß gegenwärtigen Ansicht, die zu einem auch in der Vergangenheit gültigen Satz gemacht wird ? Die Lösung muss zunächst

105Siehe ausführlich Lynn, Eugenics, S. 3–43. Zu älteren und neuen Ergebnissen der Sozialbiologie und Einsatzmöglichkeiten von Eugenik siehe Andreas Vonderach, Sozialbiologie. Geschichte und Ergebnisse, Schnellroda: Institut für Staatspolitik, 2012, S. 20–35, 85–136. Politische Analyse über die Eugenik im Kontext der Globalisierung Jason Reza Jorjani, World State of Emergency, London: Arktos, 2017, S. 69–105. 106Dementsprechend verzweigt sich das im Laufe der letzten Jahrhunderte akkumulierte Eugenikwissen u. a. in private und öffentliche Eugenik. Siehe Saller, Einführung in die menschliche Erblichkeitslehre und Eugenik, S. 274–292.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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logische, ontologische, psychologische und gnoseologische107 Vorherigkeit differenzieren. Um auf begründete Weise zu wissen, ob eine Norm (oder Verhalten) berechtigt ist, ist es trivial, dass ihre Berechtigung aus den Gründen folgen, ja mit ihnen durch eine Denktätigkeit widerspruchsfrei verknüpft werden muss. Das heißt, Gründe sind gegenüber der Berechtigung gnoseologisch vorherig. Die Berechtigung von Normen und Verhalten ist zudem nicht nur in Bezug auf irgendjemandes Wissen, sondern auch an sich von Gründen abhängig, um tatsächliche Berechtigung zu sein. Berechtigung ist nicht grundlos. Die Berechtigungsgründe hängen aber nicht wiederum von der Berechtigung ab, um an sich wahr zu sein. Das bedeutet, es gibt eine logische Vorherigkeit von Gründen gegenüber der Normberechtigung. Zum Beispiel: u. a. daraus, dass Gesundheit gut ist und befördert werden soll, lässt sich ableiten, dass der Inzest vermieden werden soll. Gesundheit ist aber nicht deswegen gut und deren Erhaltung ist nicht deswegen gesollt, weil der Inzest vermieden wird oder werden soll. Die logische Vorherigkeit des Grundes gegenüber der Berechtigung bedeutet die Unumkehrbarkeit der Begründungsrelation zwischen beiden. Aber die logische und die gnoseologische Vorherigkeit von Gründen gegenüber der Berechtigung implizieren noch lange keine psychologische Vorherigkeit: Die Gründe müssen nicht zeitlich zuerst im Intellekt des Subjektes verarbeitet worden sein, damit die Norm berechtigt ist und damit sie von dem Subjekt für berechtigt gehalten werden kann. Denn (1) die Norm könnte zeitlich vor jeglichem Urteil eines bestimmten Subjektes berechtigt gewesen sein und (2) vom Subjekt für berechtigt gehalten worden sein, ohne dass es über die Gründe nachdachte. Letzteres heißt, dass eine vorherige psychische Verarbeitung von Gründen nicht einmal dafür notwendig ist, dass das Subjekt selbst von der Berechtigung einer Norm oder eines Verhaltens überzeugt ist oder zutreffend

107Die Gnoseologie (sciencia cognitionis) beschäftigt sich mit dem Gebietsumfang, der durch Überschreitung der ontologischen Grenze des Erkenntnissubjektes erfasst wird (Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Stichwort Gnoseologie, S. 579 f.), indem der Erkenntnisprozess in Bezug auf das analysiert wird, was dem Erkenntnissubjekt vorgeht (ders., S. 582 f.). Daher ist der Terminus Gnoseologie (vom Altgriechischen γνῶσις, Wissen – vgl. Aristoteles, Metaphysik, 9. Buch, 1048b, S. 240) für die vorliegende Untersuchung angemessener als der Terminus Erkenntnistheorie, der an die an Kant angelehnte kritische Tradition anknüpft, die das A-priori dem Erkenntnissubjekt selbst und nicht auch der jenseits vor ihm bestehenden Wirklichkeit zurechnet.

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2  Ontologie des Naturrechts

weiß. Das Subjekt könnte ja von der Norm ohne das Nachdenken über ihre Gründe Kenntnis genommen, sie ebenso unreflektiert für berechtigt gehalten haben und die Ermittlung der Gründe, die diese Überzeugung bestätigen, erst nachträglich, etwa durch Reflexion, Bildung usw., vornehmen. Das evidenzmäßige Wissen einer Tatsache erfasst also nicht unbedingt ihre Gründe, sondern ist die bloße Korrespondenz zwischen der subjektiven Überzeugung und der Tatsache. Sie entbehrt die Begründungsleistung durch den Wissenden selbst. Die Vernunft, die die Korrespondenz und daher den authentischen Wissensstatus seiner Überzeugung gewährleistet, ist nicht seine eigene. Im positiven Fall aber können die Berechtigungsgründe auch im Wissenden aufgrund seiner intellektuellen Denktätigkeit existieren. Das ist die psychische Existenz von Gründen. Die gnoseologische Vorherigkeit und die psychische Existenz von Gründen sind keine Voraussetzungen des Wissens überhaupt, sondern nur des begründeten Wissens. Die Inzestnormen und -verhalten vergangener Stämme existierten aber zeitlich bereits vor unserer gegenwärtigen psychischen Betrachtung. Aus logischer Notwendigkeit sind Normen und Verhalten entweder berechtigt oder nicht berechtigt. Die Basis hierfür ist das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs (principium contradictionis), das besagt, dass es nicht der Fall ist, dass etwas ist und zugleich nicht ist und dass etwas eine Eigenschaft zugleich zukommt und nicht zukommt. So wird alles, was es gibt, durch einen bestimmten Begriff entweder umfasst oder nicht umfasst: Wenn ein Ding durch den Begriff A umfasst wird, ist es ein A; wenn das Ding irgendetwas ist, was nicht ein A ist, ist es ein Nicht-A. Deswegen kann ein Ding nicht sowohl innerhalb als auch außerhalb eines bestimmten Begriffes sein, das heißt, es gibt keine Mitte zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Etwassein und Etwasnichtsein. Diese Umformulierung des Nichtwiderspruchprinzips wird auch Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) genannt. Da es sich bei beiden letztlich um dasselbe logische Prinzip handelt, das nur unterschiedlich ausgedrückt wird, hat das eine keine geringere Gültigkeit als das andere. Ein logisches System, das die Geltung etwa des Nichtwiderspruchsprinzips annähme und die des ausgeschlossenen Dritten ablehnte, wenn auch nur in Bezug auf Zukünftiges, wäre deswegen fehlerhaft, was allerdings nicht impliziert, dass die ganze Zukunft bereits prädeterminiert wäre, denn die Tatsache, dass etwas entweder stattfinden wird oder nicht, impliziert nicht die Prädetermination einer der zwei Alternativen. So steht die gegenwärtige Nicht-Determinierung der Zukunft nicht in Widerspruch mit der Geltung des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten auch für die Zukunft und, gnoseologisch gewendet, auch für Aussagen über zukünftige Ereignisse.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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Das Wissen über die Offenheit der Zukunft ist kein Grund für die Annahme einer dreiwertigen Logik.108 Eine Folge aus der Notwendigkeit, dass Normen und Verhalten entweder berechtigt oder nicht berechtigt sind, ist die Tatsache, dass Normen und Verhalten in jedem Zeitpunkt und Umstand ihrer Existenz entweder berechtigt oder nicht berechtigt sind, das heißt: Auch diejenigen Normen und Verhalten, die vor dem Zeitpunkt einer nachträglichen Rechtfertigung bestanden, waren bereits in ihrem Zeitraum entweder berechtigt oder nicht berechtigt. Wenn Normen und Verhalten in ihrem Zeitpunkt oder nachträglich falsch gerechtfertigt werden, sind sie immer noch aufgrund logischer Notwendigkeit entweder berechtigt oder nicht berechtigt. Die eventuelle Vornahme einer falschen Begründung besagt noch nichts über die Berechtigung des Begründeten. Das Auftreten falscher Begründungen ist beim Inzestverbot in der Tat der Fall gewesen: Viele vergangene Stämme begründeten es fälschlicherweise anhand von Mythen

108Bei

Aristoteles wird die Geltung des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten – entgegen weit verbreiteter Meinung – für zukünftige Aussagen, wie etwa für eine mögliche Seeschlacht, zutreffenderweise nicht ausgenommen: „Auch der Inhalt etwa von Prognosen (wie im Aristotelischen Beispiel einer vorhergesagten Seeschlacht) kann so klar bestimmt sein, daß er genau zwei mögliche Fälle unterscheidet, so daß wir heute schon wissen, daß sich von zwei kontradiktorischen Vorhersagen eine als richtig (wahr) herausstellen wird. Dies verführte manche, etwa auch einige Stoiker, zur Ansicht, das, was mögliche Prognosen p vorhersagen, sei schon ‘prädeterminiert’, da p ‘jetzt schon’ wahr oder falsch sei. Aristoteles richtet sich daher gegen diese irrige Meinung… Daher erklärt Aristoteles futuristische Aussagen als (noch) unbestimmt, ohne daß er damit – wie später J. Łukasiewicz in vermeintlicher Berufung auf Aristoteles’ Beispiel von der Seeschlacht – für eine Aufhebung des S. v. a. D. bzw. für eine dreiwertige Logik plädierte“ (P. Stekeler-Weithofer, Satz vom ausgeschlossenen Dritten, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, 1955, S. 1198). Siehe auch Ockhams Position zum Problem der „future contingents“ in Auseinandersetzung mit Aristoteles: „Ockham points out, however, that to deny both that a singular future contingent proposition – ‘x will be A’ – is determinately true and that it is determinately false is not to deny that it is ­either-true-or-false. To deny that it is either-true-or-false is to claim that when the future time in question comes it neither will be the case that x is A, nor will it not be the case that x is A, which is impossible. Thus the disjunction of the two parts of a contradiction involving singular future contingents – ‘either it is the case that x will be A or it is not the case that x will be A’ – is necessarily true, even though neither disjunct taken separately is determinately true and neither is determinately false“ (Marilyn McCord Adams/ Norman Kretzmann, William Ockham: Predestination, God's Foreknowledge, and Future Contingents, New York: Appleton-Century-Crofts, 1969, S. 9 f.).

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2  Ontologie des Naturrechts

und Totems109; mancher Liberaler der 20. und 21. Jahrhunderte lehnte seine Berechtigung und Begründbarkeit überhaupt ab. Zeitgleich oder nachträglich tatsächlich geleistete Rechtfertigungen können aber die notwendigerweise bestehende Berechtigung (oder Nichtberechtigung) nicht beeinflussen. Dies trifft am deutlichsten für vergangene Berechtigungen zu: Wenn die Berechtigung von individuell oder kollektiv nachträglich geleisteten Rechtfertigungen abhinge, träte ein Fall rückwirkender Konstitution ein. Könnten Individuen oder Kollektive die Berechtigung von Normen und Verhalten zeitlich nach dem Zeitpunkt dieser Normen und Verhalten beeinflussen, wäre es möglich, dass eine zum Zeitpunkt τ1 berechtigte Norm (oder Verhalten) im Zeitpunkt τ2 aufhörte, im Zeitpunkt τ1 berechtigt gewesen zu sein, was einen chronologischen Widerspruch darstellt. Das heißt, etwas im τ1 würde erst im τ2 zu etwas, was im τ1 der Fall ist. Die Berechtigung einer Norm oder eines Verhaltens ist also kein Erzeugnis nachträglicher Beobachter oder Kritiker. Aus logischer Notwendigkeit und aufgrund der Unumkehrbarkeit der Zeit ist sie unabänderlich. Die Berechtigung ist somit eine Eigenschaft von Normen und Verhalten. Die Berechtigung von Verhalten ist ihre Eigenschaft, vorgenommen werden zu sollen, also gesollt zu sein. Die Berechtigung von hypothetischen, noch in überlegender Verarbeitung befindlichen Normen, die ja bereits ein hypothetisches Sollen sind, ist ihre Eigenschaft, gesetzt werden zu sollen.110 Die Berechtigung von geltenden Normen, die ebenso bereits ein Sollen sind, ist ihre Eigenschaft, befolgt werden zu sollen. Wenn Norm und Verhalten also vor unserer Betrachtung existierten und bereits zu ihrem Zeitpunkt entweder berechtigt oder nicht berechtigt waren, kann eine nachträgliche Rechtfertigungsoperation entweder mit einem bejahenden oder mit einem verneinenden Ergebnis abschließen. Schließt die nachträgliche Rechtfertigungsoperation mit einem bejahenden Ergebnis ab, so bezieht sich das über die Vergangenheit räsonnierende Individuum oder Kollektiv auf Norm und Berechtigung als etwas ihm Vorgegebenes.111 Schließt die gnoseologische

109Totem

ist „in der Regel ein Tier, ein eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft (Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht. Der Totem ist erstens der Stammvater der Sippe, dann aber auch ihr Schutzgeist und Helfer, der ihnen Orakel sendet, und wenn er sonst gefährlich ist, seine Kinder kennt und verschont“ (Freud, Totem und Tabu (1913), S. 614). 110So der Begriff „leges legales“ etwa bei Thomas von Aquin, Summa theologiae, prima secondae, Frage 96, Artikel 4, S. 250. 111Dass man im Bezug genommene Normen als Vorgegebenheiten erlebt, ist ohne Weiteres klar. Siehe Geddert, Recht und Moral, S. 216 f. Dass sie tatsächlich vorgegeben sind, wird im Weiteren gezeigt.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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Denkoperation mit einem verneinenden Ergebnis ab, so wird ebenso eine vorexistierende Norm in Bezug genommen, die aber für unberechtigt gehalten wird. Dann bezieht sich die Rechtfertigungsoperation ebenso auf Vorgegebenes, nämlich auf eine vorgegebene Norm, die der Ansicht des Räsonnierenden nach nicht hätte gesetzt werden sollen und die, falls sie gegenwärtig noch gilt, eventuell für die Zukunft geändert werden kann, nicht aber rückwirkend oder gegenwärtig qua bloße Erkenntnis einer ihrer Eigenschaften. Dies ist so zunächst deswegen, weil der Normbegriff „an sich kein Rechtfertigungselement [enthält], da er nicht nur gerechtfertigte, sondern auch Normen enthält, die nicht tatsächlich gerechtfertigt werden und die sich nicht einmal rechtfertigen lassen“112. Kurzum, der gnoseologische und psychologische Vorgang einer nachträglichen Rechtfertigung per se kann Normen und ihre Berechtigung weder schaffen noch abschaffen. Dass die Berechtigung eine Eigenschaft von Normen und Verhalten ist, heißt auch, dass sie Norm und Verhalten zeitlich und unabhängig von rechtfertigenden Ereignissen begleitet. Das heißt, nicht nur Normen, sondern auch ihre Berechtigung können einem Individuum oder Kollektiv ontologisch vorherig sein. Die genannten Verhältnisse können folgendermaßen systematisiert werden: Die Berechtigung vergangener Normen und Verhalten ist den Normen und Verhalten logisch und ontologisch gleichzeitig; Subjekten, die sich ihr nachträglich zuwenden, ist die Berechtigung ontologisch vorherig, aber dem Inhalt nach psychologisch gleichzeitig.

2.3.2 Die Wirklichkeit von Gründen 2.3.2.1 Der Bedingungskonstruktivismus 2.3.2.1.1 Kennzeichnung Es gibt, wie gesagt, nicht nur ein gnoseologisches, sondern auch ein logisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen Berechtigung und ihrem Grund: Normen und Verhalten sind immer aus bestimmten Gründen berechtigt, das heißt, sie sind

112Möllers, Die Möglichkeit der Normen, S. 395. Die Vergegenwärtigung einer Norm verweist auf ihren Bestand, „ohne dass der Anspruch erhoben wird, sie zu verwirklichen“ (ders., S. 400). Auch deontisch-logisch gilt: Die bloße Kenntnisnahme einer Norm ist noch keine Wertung (Georges Kalinowski, Einführung in die Normenlogik, Frankfurt am Main: Athenäum, 1973, S. 9).

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nicht schlichtweg berechtigt und nicht aus miteinander unvereinbaren Gründen berechtigt. Umgekehrt und tautologisch heißt es: Liegen die Gründe, aus denen die Norm (oder das Verhalten) berechtigt ist, zum Zeitpunkt ihrer Existenz nicht vor, so ist die Norm nicht berechtigt. Da die Berechtigung nicht grundlos ist, sondern immer aus einigen Gründen besteht, muss nicht nur sie zum Zeitpunkt der Norm, deren Eigenschaft sie ist, bestehen, sondern die Gründe müssen zum Zeitpunkt der Berechtigung ebenso bestehen, sonst hinge die Tatsache, dass Normen und Verhalten aus bestimmten Gründen im Zeitpunkt τ1 berechtigt waren, von Ereignissen im Zeitpunkt τ2 wie Erkenntnisakten, Werturteilen, Rechtfertigungen, Theoriekonstruktionen, Interpretation oder Anerkennung ab. Dies wäre ein Bedingungskonstruktivismus, da die Bedingungen eines Sachverhaltes im Zeitpunkt τ1 wiederum von Bedingungen abhingen, die erst im Zeitpunkt τ2 zu existieren anfangen, ja überhaupt implementiert werden. Tatsachen im τ1 würden erst im τ2 zu Tatsachen im τ1. Der Bedingungskonstruktivismus ist typischerweise, aber nicht nur, eine phänomenologische Interpretation von Tatsachen und kommt dementsprechend in den bedeutendsten phänomenologischen Philosophien vor.113 Er wird meist impliziterweise dadurch begangen, 113Paradigmatisch G. W. F. Hegel: „Wir sehen, daß im Innern der Erscheinung der Verstand in Wahrheit nicht etwas anderes als die Erscheinung selbst, aber nicht wie sie als Spiel der Kräfte ist, sondern dasselbe in seinen absolut-allgemeinen Momenten und deren Bewegung, und in der Tat nur sich selbst erfährt. Erhoben über die Wahrnehmung stellt sich das Bewußtsein mit dem Übersinnlichen durch die Mitte der Erscheinung zusammengeschlossen dar, durch welche es in diesen Hintergrund schaut. Die beiden Extreme, das eine des reinen Innern, das andere des in dies reine Innere schauenden Innern, sind nun zusammengefallen, und wie sie als Extreme, so ist auch die Mitte, als etwas anderes als sie, verschwunden. Dieser Vorhang ist also vor dem Innern weggezogen und das Schauen des Innern in das Innere vorhanden; das Schauen des ununterschiedenen Gleichnamigen, welches sich selbst abstößt, als unterschiedenes Inneres setzt, aber für welches ebenso unmittelbar die Ununterschiedenheit beider ist, das Selbstbewußtsein. Es zeigt sich, daß hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innere verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sei, das gesehen werden kann“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 135 f.). Hegels Phänomenologie ist bedingungskonstruktivistisch insofern, als dass das Subjekt, das die Erscheinung mit Inhalt füllt und somit auch „die andere Seite“ der Erfahrung konstituiert, nicht das rein abstrakte Subjekt, nicht das abstrakte Ganze, nicht das absolute Selbstbewusstsein oder Gott ist, sondern ein begrifflich abgegrenzter Teil des ganzen Bewusstseins, das zum Teil überzeitlich und übersinnlich, zum Teil sinnlich und zeitlich ist, dessen Zusammensetzung deswegen überhaupt eine Mehrzahl ergibt („wir“) und das daher sowohl als körperliches, aber zugleich beseeltes Individuum als auch, auf kollektiver Ebene, als geographisch und geschichtlich positioniertes Volk zu verstehen ist. Insofern Individuen und Völker aber dem atemporalen Begriff angehören, ja wirklich und daher

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dass die Wirklichkeit von Sachen und Sachverhalten in einem Zeitpunkt abhängig gemacht wird von ihrer Bewusstwerdung (oder geistigem Bezug, Erkenntnis, Erfahrung, Wertung usw.) oder zumindest von der Möglichkeit ihrer Bewusstwerdung, wenn auch nur in einem nachträglichen Zeitpunkt.114

Hegel zufolge Begriff sind, können sie den Inhalt der Erfahrung nicht konstruieren, da Konstruktionen nur im Laufe der Zeit stattfinden können. Aus demselben Grund könnten sie als rein atemporale Entitäten ja auch überhaupt nichts erfahren, da ebenso Erfahrung nur im Laufe der Zeit stattfindet. Dass der Verstand und das Bewusstsein nur sich selbst erfahren, wenn etwas von ihnen Unterschiedliches erscheint, muss daher allein für die Zeitdimension gemeint sein. Dann entstehen die Bedingungen, unter denen etwas der Fall sein kann, am frühesten wenn es erscheint oder erscheinen kann (Bedingungskonstruktivismus). Insofern Subjekt und Bewusstsein aber eine zeitliche Position einbeziehen, können sie das, was zeitlich vor ihnen existierte und das die Ursache ihrer Erfahrung ausmacht, nicht konstruieren, denn eine Konstruktion bedeutete rückwirkende Kausalität in der Zeit. Hegels Bewusstseinsphilosophie stellt somit eine außerordentlich tiefe und umfangreiche Darstellung der Bewegungen des natürlichen, theoretischen und praktischen Bewusstseins in der Zeit und ihrer Verhältnisse mit der Atemporalität dar; das raumzeitlich stattfindende, endliche und unvollkommene Bewusstsein eines Individuums oder eines Volkes kann jedoch nicht zur Ontologie schlechthin hypostasiert werden. Zu einer kurzen Diskussion über eine ähnliche Problematik in der heideggerschen Phänomenologie siehe Meillassoux, Après la finitude, S. 22 f. Zu einer Diskussion über den Korrelationismus im Rahmen der Phänomenologie und in Anschluss an Meillassoux siehe Tom Sparrow, The End of Phenomenology. Metaphysics and the New Realism, Edinburgh: Edinburgh UP, 2014, S. 86 ff. 114Eine erneute Verteidigung der Möglichkeit der Erkenntnis als Bedingung der Wirklichkeit der Sache (auf Basis der Phänomenologie Edmund Husserls und in Erwiderung auf Quentin Meillassouxs Argumente gegen den Korrelationismus) lautet: „because phenomenology ties the rational character of judgments about things to the possibility of these things becoming present in appropriate intentional acts, a tension between science and phenomenology indeed arises. … Phenomenologists do not make the absurdly strong claim that an assertion about an object is rational in character if and only if the object is present in appropriate intentional acts. All that is required for the rational character of an assertion is that it is possible for the object to become present in appropriate intentional acts. … Phenomenologically construed, judgments about objects are rational in character if and only if it is possible in principle that these objects could become present in appropriate intentional acts. Applied to the discourse of the physical sciences, this principle suggests, then, that a judgment about a physical thing has a rational character if and only if the thing is a ‘possible object of a straightforward percept’[Husserl], if it is in principle ‘capable of being perceived’ [Husserl]“ (Harald A. Wiltsche, Science, Realism and Correlationism. A Phenomenological Critique of Meillassoux’ Argument from Ancestrality, European Journal of Philosophy 25, 3/2017, 808–832, S. 818–820). Zurecht zieht Wiltsche den Schluss der Unvereinbarkeit von Realismus und Phänomenologie und schlägt für Phänomenologen daher eine Form von Antirealismus vor als einzig möglichen Ausweg aus dem

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2.3.2.1.2 Akzidenz und Potenz als verschiedene Arten von Möglichkeit Die Gründe für die Wirklichkeit einer Sache bzw. die Gründe eines Sachverhaltes, die ein Ding zum Zeitpunkt seiner Existenz (ebenso wie einen Sachverhalt zum Zeitpunkt seines Bestehens) bestimmen, können aber nicht wiederum in einer bloßen Möglichkeit bestehen,115 wie beispielsweise in der Möglichkeit der Erkenntnis116 des Dinges oder des Sachverhaltes, denn sonst hinge die Notwendigkeit (die Existenz des Dinges oder das Bestehen des Sachverhaltes) von der Kontingenz ab; das factum wäre bloße possibilitas.117 Denn es gibt immer ­ rundwiderspruch der Phänomenologie mit den erscheinungsunabhängigen Tatsachen, G wovon in Naturwissenschaften die Rede ist (ders., S. 828). Für einen Vereinbarungsversuch von Realismus und Phänomenologie im Recht siehe Gerhart Husserl, Recht und Zeit. Fünf rechtsphilosophische Essays, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1955, S. 92–99, der einerseits behauptet, der Rechtssachverhalt (etwa ein Diebstahl), wovon in einem gerichtlichen Verfahren die Rede ist, „real“ besteht und zwar vorherig und unabhängig von tatsächlichen Urteilen über ihn (ders., S. 97), aber andererseits nicht unabhängig von seiner Erfahrung oder zumindest von der Möglichkeit seiner Erfahrung besteht (ders. S. 93, 97 f.). 115Zu einem Beispiel einer (medientheoretischen) These der Möglichkeit der Erkenntnis als Bedingung der Wirklichkeit der Sache siehe Martin Seel: „Ein moderater Konstruktivismus besagt, dass Wirklichsein bedeutet, als Wirklichkeit zugänglich sein zu können – zugänglich im Gebrauch von Medien, in denen bestimmte Formen des Wirklichen unterscheidbar werden. … Realität ist nicht als mediale Konstruktion, sondern allein vermöge medialer Konstruktion gegeben“ (Martin Seel, Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 133). 116Diese und die folgenden Überlegungen gelten nicht nur die Erkenntnismöglichkeit, sondern auch für die vielen vermittelnden Begriffe der Subjektphilosophie und der Phänomenologie wie beispielsweise Bezug, Evidenz, Bewusstsein, Erfahrung, Phänomen, Erscheinung, Anschauung, Urteil, Wertung und Interpretation. 117Siehe z. B. die antirealistischen Überlegungen von Michael Dummett, The Reality of the Past, Proceedings of the Aristotelian Society, New Series 69, 1968–1969, 239–258. Dagegen gilt vielmehr: „Es ist offensichtlich absurd, die Frage, ob es an diesem Ort vor einer Million Jahren geregnet hat, davon abhängig zu machen, ob wir heute einen Beleg dafür finden können oder nicht. Dies ist absurd, weil auf diese Weise nicht nur die Wahrheit der entsprechenden Überzeugung, sondern die Wirklichkeit selbst von unseren Erkenntnismöglichkeiten abhängig würde. … Solange es noch Zeugen oder andere Zeugnisse des Ereignisses gab, wäre es entweder der Fall, daß es regnete oder nicht. Sobald die letzten Zeugnisse vergangen sind, wäre es weder das eine der Fall noch das andere“ (Marcus Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Tittorio Klostermann, 2015, S. 252, in Bezug auf Dummetts Antirealismus). Auch der Satz, „die Welt, so müsse es folglich heißen, ist alles, wovon der Fall sein könnte“ (Seel, Sich bestimmen lassen, S. 129 f.), und nicht was der Fall ist, überträgt die Kontingenz der Erkennbarkeit der Welt durch Subjekte auf die Welt selbst, die letztlich daher im Ganzen kontingent wäre, was in einen hypothetischen Antirealismus oder Nihilismus einmündet (es könnte sein, dass es nichts gibt).

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Tatsachen, deren Erkenntnis genau in dem Zeitpunkt ihres Bestehens und innerhalb eines nachfolgenden Zeitraumes nicht einmal möglich ist, etwa (1) weil es sich um einen Zeitpunkt handelt, in dem es noch keine Erkenntnissubjekte gibt; (2) weil es sich um einen Zeitpunkt handelt, in dem Wissenschaft, Technologie und Philosophie nicht ausreichend entwickelt sind, oder (3) weil es sich um Fakten des Bewusstseins selbst handelt, die während des Räsonnierens bestehen und daher nicht zugleich Gegenstand desselben oder irgendeines menschlichen Denkens sein können. Postuliert man jedoch trotzdem die Erkenntnismöglichkeit als Existenzbedingung, dann tritt der Bedingungskonstruktivismus in den chronologischen Grundwiderspruch ein, eine Tatsache im τ1 hinge von einer Möglichkeit ab, die im τ2 überhaupt erst entsteht.118 Schon aus diesen Gründen ist die These der Erkenntnis- oder nur Erkennbarkeitsabhängigkeit von Tatsachen und Gründen unvereinbar mit dem Realismus nicht nur über unorganische und organische Tatsachen, sondern über jegliche vergangene Tatsachen einschließlich sozialer und normativer Art. Zudem wäre es ein Fehler anzunehmen, dass eine Möglichkeit, die in einem bestimmten Zeitpunkt besteht, notwendigerweise bereits auch in allen vorherigen Zeitpunkten bestanden haben muss. Eine solche These könnte zur Verteidigung der These der Erkennbarkeitsabhängigkeit von Tatsachen angeführt werden, denn, wenn das Bestehen von Tatsachen und ihren Gründen von der Möglichkeit ihrer Erkenntnis oder Formulierung abhinge und diese Möglichkeit prinzipiell und ausnahmslos zu allen (auch früheren) Zeitpunkten bestünde, beginge man keine rückwirkende Kausalität oder rückwirkende Bedingungssetzung in der Zeit, wenn man die Erkennbarkeitsabhängigkeit von Sachen als Existenzbedingung behauptete. Die bedingungskonstruktivistische These wird aber dadurch nicht wahr. Wenn es keine Erkenntnissubjekte in einem Zeitraum τ1–2 gibt, ist es auch schlichtweg unmöglich, dass etwas in diesem Zeitraum erkannt würde. Die Möglichkeit der Kenntnisnahme entsteht erst im τ3–4, wenn ausreichend entwickelte Erkenntnissubjekte, Wissenschaft usw. vorhanden sind. Somit ist die logische Möglichkeit

118„Daraus, dass Existierendes erkennbar ist, sobald erkennende Wesen existieren, die es erkennen, folgt nicht, dass Existierendes unter allen Umständen erkennbar ist oder dass Existenz mit Erkennbarkeit identisch ist. Die modale Endung „-bar“ in „erkennbar“ ist ein ontologischer Fallstrick, da sie uns nahelegt, dass die erst mit uns existierenden Bedingungen der Bezugnahme schon vollständig artikuliert vorliegen müssen, wenn überhaupt etwas existiert“ (Markus Gabriel, Existenz, realistisch gedacht, in: Der Neue Realismus, hrsg. von M. Gabriel, Berlin: Suhrkamp, 2014, 171–199, S. 187).

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(= Akzidenz), die bereits im τ1–2 besteht, von der raumzeitlichen Möglichkeit (= Potenz), die erst im τ3–4 entsteht, zu unterscheiden.119 Etwas ist logisch möglich, wenn das Gegenteil kontradiktorisch ist. So kann der Mensch Wissen erwerben, ohne aufzuhören, Mensch zu sein, da der Wissenserwerb die Qualität des Menschseins selbstverständlich nicht ausschließt: Ein „wissender Mensch“ ist kein Widerspruch. Folglich haben alle Menschen als Menschen diese logische Möglichkeit. Es kann aber unter konkreten Umständen unmöglich sein, dass ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Zeitraum ein bestimmtes Wissen erlangt, zum Beispiel weil ihm Intelligenz oder Bildung fehlt oder weil jemand ihm den Zugang zu einer empirischen Information verunmöglicht. Dann ist ihm qua Menschsein die Wissenserlangung zwar logisch möglich, d. h. ­begrifflich-akzidentell vorhanden, aber raumzeitlich unmöglich, d. h. der Potenz nach ausgeschlossen. So sind Akzidenz und Potenz Arten der Gattung Möglichkeit, wobei potenziell möglich nur das sein kann, was auch akzidentell möglich ist, was nichts anderes bedeutet, als dass die raumzeitlichen Möglichkeiten den logischen Möglichkeiten unterworfen sind und nur zusätzliche Bestimmtheiten enthalten. Mit anderen Worten, damit etwas in letzter Instanz möglich ist, müssen sowohl die akzidentelle als auch die potenzielle Möglichkeit bestehen. Logotemporalistisch ausgedrückt: Essenz und Akzidenz gehen Existenz und Potenz logisch vor; wenn Existenz und Potenz aber bestehen, sind sie der Essenz und der Akzidenz gleichzeitig. Alle logischen Möglichkeiten bestehen zugleich und zu allen Zeiten (Panakzidentalismus), da die logische Möglichkeit ihre eigene Instanziierung

119Die Unterscheidung von logischer und raumzeitlicher Möglichkeit wird in erweiternder Anlehnung an Leibniz‘ Unterscheidung von Sicherem (certain) und Notwendigem (necessaire) vorgenommen: „Je dis que la connexion ou consecution est de deux sortes, l’une est absolutement necessaire, dont le contraire implique contradiction, et cette deduction a lieu dans les verités éternelles, comme sont celles de geometrie; l’autre n’est necessaire qu’ex hypothesi, et, pour ainsi dire, par accident, mais elle est contingente en elle même, lors que le contraire n’implique point“ (G. W. Leibniz, Discours de Métaphysique, 2. Aufl., Paris: Libraire Philosophique J. Vrin, 1952, S. 43). Die Begriffe der Potenz und Akzidenz haben eine Grundlage schon in der Antike, allerdings häufig ohne hinreichende oder klare Unterscheidung voneinander. Akzidenz im hier verwendeten Sinne kommt etwa bei Porphyrius vor: „Akzidenz ist, was demselben Subjekt in gleicher Weise beiwohnen und nicht beiwohnen kann, oder: was weder Gattung ist, noch Differenz, noch Art, noch Proprium, aber immer in einem Träger subsistiert“ (Porphyrius, Einleitung in die Kategorien, in: Aristoteles. Kategorien / Lehre vom Satz, Hamburg: Felix von Meiner, 1958, 4a, Kap. 5, S. 23).

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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in einem bestimmten Zeitraum nicht impliziert. Nicht alle logischen Möglichkeiten können zugleich und im selben Raum realisiert werden. Die Entwicklung von raumzeitlichen Möglichkeiten (= Potenzen) vollzieht sich im Laufe der Zeit und braucht sukzessive Verwirklichungen, das heißt Möglichkeitenbestätigungen und -ausschließungen, damit die jeweils weiteren Möglichkeiten erst entstehen. Bestimmte Wirklichkeiten (d. h., Verwirklichungen von einigen und Ausschließungen von anderen Möglichkeiten) generieren bestimmte Potenzen für die jeweils nächste Zeit und in einem bestimmten Raum. Mit anderen Worten: Bestimmte Realisierungen müssen sich bereits ereignet haben, damit die mit ihnen verknüpften Möglichkeiten überhaupt erst für den jeweils nächsten Zeitraum entstehen. Handelt es sich um das Beispiel der Möglichkeit der Erkenntnis, so lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Erkenntnis im τ2 über eine im τ1 stattgefundene Tatsache schlichtweg unmöglich ist, wenn nur die logische, nicht aber die potenzielle Möglichkeit dieser Erkenntnis im τ2 besteht, etwa weil diese Potenz erst im τ3 entsteht. Die bereits im τ1–n bestehende logische Möglichkeit impliziert nicht, dass die Erkenntnis im τ2 auch potenziell möglich ist. Selbstverständlich können einige Phasen antizipiert werden, wenn die in jedem Zeitraum vorhandenen Möglichkeiten früher und nicht später realisiert werden. Dies würde aber immer noch nicht dazu führen, dass alle Potenzen zugleich bestünden und daher dasselbe wie Akzidenzien wären. Der Panpotenzialismus ist abzulehnen. Schon daraus geht klar hervor, dass Potenz und Akzidenz keine epistemologischen Kategorien sind, das heißt, sie sind keine (1) nach dem augenblicklichen Kenntnisstand von Erkenntnissubjekten annehmbaren Denkmöglichkeiten und kein (2) heuristisches Ersatzdenkmittel für vermeintliche mechanische Notwendigkeiten, aufgrund deren Nichtwissen Erkenntnissubjekte auf Wahrscheinlichkeitsurteile angewiesen wären (asylum ignorantiae). Kurz, Potenz und Akzidenz sind nicht räsonnierenden Erkenntnissubjekten zu verdanken, sondern Teil der erkenntnisunabhängigen, aber zum Teil erkenntnisfähigen Wirklichkeit. Akzidenz ist rein logisch, Potenz ist ontologisch (und daher auch logisch). Dementsprechend können sich Erkenntnissubjekte über eine wirklich bestehende Potenz irren. In diesem Fall entspricht ihr Möglichkeitsurteil nicht mit der ontologisch bestehenden Möglichkeit, das heißt, es wird etwas für möglich gehalten, ohne dass es wirklich möglich ist, oder es wird etwas für unmöglich gehalten, obwohl es eigentlich möglich ist. Für die spezifische Problematik der Wirklichkeit von Gründen bedeutet dies Folgendes: Da nicht nur die Erkenntnis, sondern auch deren Möglichkeit raumzeitlich entstehen kann, verfällt die These der Erkennbarkeitsabhängigkeit von Tatsachen in die These, Tatsachen könnten zum Zeitpunkt ihres Bestehens an

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sich grundlos sein, solange die Möglichkeit ihrer Begründung durch nachträgliche Subjekte nicht entsteht. So ist der Bedingungskonstruktivismus auch einer der Ursprünge des modernen Nihilismus, denn er impliziert, dass die Wirklichkeit an sich grundlos ist und dass aller Grund von Sachen, Tatsachen, Natur und Welt durch Menschen als Sinnzuschreibung oder durch andere konstruktivistische Modalität erst hergestellt, ja in die Welt hineingelegt werden müsste. Da aber, wie gesagt, (1) nicht nur Sachen, sondern auch Möglichkeiten raumzeitlich entstehen und vergehen können; da (2) vor der Entstehung und nach der Vergehung von bestimmten Möglichkeiten einige Sachen und Tatsachen bestehen; und da (3) die Erkenntnis eine nur innerhalb eines Zeitraumes stattfindende Tatsache oder Möglichkeit ist, kann die Erkenntnismöglichkeit keine Bedingung für das Bestehen aller Sachen und Tatsachen sein. Wenn es beispielsweise im Zeitpunkt τ6 keine Erkenntnissubjekte mehr gibt, etwa weil ein Atomkrieg im τ5 stattfand und die Menschheit samt aller Lebewesen zerstörte, korrumpiert sich die Möglichkeit, dass eine im τ1 bestehende Tatsache weiterhin erkannt wird. Nach dem Bedingungskonstruktivismus würde aber die Tatsache des τ1 ab dem τ6 nicht nur nicht erkannt werden können, sondern ad absurdum auch nicht mehr im τ1 bestanden haben, da die Möglichkeit der Erkenntnis im τ6-n erloschen ist. Ab dem τ6 würde sich nichts ereignet haben, nicht einmal der Atomkrieg selbst.120 Der Grundwiderspruch des Bedingungskonstruktivismus kann in der folgenden Formel zusammengefasst werden: Es könnte sein, dass das, was im τ1 der Fall war und daher im τ2 eine vergangene Tatsache ist, im τ3 aufhört, eine vergangene Tatsache zu sein, oder gleichfalls: Im τ2 könnte es sein, dass das, was im τ1 der Fall war, eigentlich nicht der Fall war, also dass eine vergangene Tatsache aufhört, eine vergangene Tatsache zu sein. Der Bedingungskonstruktivismus scheitert also aufgrund des Verstoßes gegen das Nichtwiderspruchsprinzip unter zeitlichen Bedingungen.

120Für eine solche Position steht beispielsweise Friedrich Nietzsches Nominalismus. In seiner bildlichen Sprache heißt es: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. … Es gab Ewigkeiten, in denen er [der menschliche Intellekt] nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben“ (Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. in: Kritische Studienausgabe, hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München [u. a.]: DTV, 1988, S. 875).

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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2.3.2.2 Der Sprachkonstruktivismus 2.3.2.2.1 Kennzeichnung Die These der Bewusstseins- oder Erkenntnisabhängigkeit von Normen, Berechtigung und Gründen könnte auch dadurch vertreten werden, dass all diese Elemente als sprachliche Zusammenhänge verstanden würden, sodass ihre Existenz notwendigerweise von Subjekten abhinge, die die jeweiligen sprachlichen Formulierungen vornehmen. Ein so gefasster Sprachkonstruktivismus besteht im Allgemeinen in der ontologischen These, dass alle Tatsachen zumindest zum Teil durch Sprache als Tatsachen mitkonstituiert werden121 und/ oder in der epistemologischen These, dass nur sprachliche Tatsachen erkannt werden können. Damit ist meistens nicht ein grammatisch anspruchsvoller, geistig höherer oder sachlich berechtigter Sprachgebrauch gemeint, wie einst die Erarbeitung einer Gelehrtensprache, die Wissenschaft und Philosophie in lateinischer Sprache auf dem Niveau der Altgriechen erst möglich machte,122

121Exemplarisch: „Wir können unsere Sätze nicht direkt mit einer Wirklichkeit konfrontieren, die nicht selber schon sprachlich imprägniert ist“ (Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, S. 315). Ein ausführliches Beispiel der These der Sprachabhängigkeit von Tatsachen, die in den genannten Bedingungskonstruktivismus einmündet, wäre Folgendes: „‚Tatsache‘ ist also nicht ein allgemeiner Ausdruck für Ereignisse, Vorgänge, Stimmungen, Bauformen usw., insofern diese von wahren Sätzen dargestellt werden. … Der Begriff der ‚Tatsache‘ fällt deutlich aus dieser Gruppe heraus, weil Tatsachen von der Art der Darstellung im Satz abhängig sind … Der Satz ‚x ist eine Tatsache‘ ist, nach dem Erörterten, genau dann wahr, wenn einen Satz p einer Sprache S gibt, derart, daß x eine Erfüllung der Wahrheitsbedingungen von p in S ist“ … Diese Wahrheitsbedingungen für einen Satz p können (müssen nicht) schon bestehen, bevor der Satz jemals ausgesprochen, der zugehörige Gedanke jemals konzipiert wurde. Sie können aber nicht als Tatsachen aufgefaßt werden, ohne daß der Satz, dessen Wahrheitsbedingungen sie sind, vorgelegt und formuliert wird“ (Günther Patzig, Satz und Tatsache. in: Gesammelte Schriften IV. Theoretische Philosophie, Göttingen: Wallstein, 1996, S. 24, 36, 40). Patzigs Position legt die Idee nahe, dass die Formulierung eines sprachlichen Satzes eine Bedingung für das Bestehen einer Tatsache darstellen könnte. Sollte diese Interpretation seiner Ausführungen stimmen, wäre es dann möglich, dass zum Zeitpunkt τ1 die Wahrheitsbedingungen für einen Satz bestünden, ohne dass die jeweilige Tatsache zum selben Zeitpunkt bestünde, da diese erst zum Zeitpunkt ihrer sprachlichen Formulierung, also im τ2, anfinge, eine Tatsache im τ1 (gewesen) zu sein. So entstünde zwar nicht die Wahrheitsbedingung nachträglich, aber die Tatsache selbst entstünde nachträglich-retrospektiv, was ein Fall rückwirkender Kausalität darstellt. 122Erst die Distanzierung vom vulgären Latein durch die Erarbeitung einer dem Griechischen ebenbürtigen Sprache durch Ennius, Lucilius, Lukrez, Vergil und Cicero konnte das Latinum zur Wissenschafts- und Philosophiesprache („goldenen Latinität“) erheben. Siehe Richard von Kienle, Einleitung, in: ders. und Hans Haas, Lateinischdeutsches Wörterbuch, Wiesbaden: Fourier Verlag, § 3.

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2  Ontologie des Naturrechts

sondern der durchschnittliche und mittelmäßige Sprachgebrauch der Meisten, in den Geisteswissenschaften oft auch die der diskursiven Hegemonie der angelsächsischen Denktradition verpflichtete Orientierung an der ordinary language.

2.3.2.2.2 Vor- und nichtsprachliche Tatsachen Das Verständnis aller Tatsachen und Begründungszusammenhänge als sprachlich – die sogenannte „innere Doppelheit des Tatsachenbegriffs“123 – verfehlt aber in gröblicher Weise die Wirklichkeit der Zeit. Ihre Konsequenz gleicht der des Bedingungskonstruktivismus: Tatsachen im τ1 werden erst im τ2 (auf Anlass der Entstehung einer Sprache oder einer sprachlichen Formulierung) zu Tatsachen im τ1. Aus der einfachen Tatsache aber, dass jegliche Sprache erst in einem bestimmten Moment der Geschichte entstand, folgt, dass die vorherigen Tatsachen nicht sprachlich waren und in keiner Weise durch Sprache konstruiert werden können, andernfalls handelte es sich um rückwirkende Kausalität in der Zeit. Kurzum, vorsprachliche Tatsachen sind trivialerweise nichtsprachlich. Der Verweis auf die Wirklichkeit der Zeit und auf die Historizität von Sprachen widerlegt die ontologische These der Sprachbedingtheit aller Tatsachen. In derselben Weise sind alle physischen, chemischen und biotischen Tatsachen, die bereits vor der Entstehung von Sprachen bestanden und in der Gegenwart fortbestehen, ebenso wenig sprachlich. Handelt es sich um spezifische Sprachen wie das Deutsche oder das Englische, ihre Nomen, Laute und Zeichen, so folgt aus der Wirklichkeit der Zeit der einfache Befund, dass vordeutsche, vorenglische (usw.) Tatsachen welcher Art auch immer (ob natürlich, kulturell oder normativ) niemals durch diese jeweiligen Sprachgemeinschaften konstruiert, geändert oder abgeschafft, sondern höchstens in Referenz genommen, das heißt, erkannt werden können. Kurz, die Wirklichkeit von Sachen, Tatsachen, Normen und Gründen ist weder von der Möglichkeit ihrer Erkenntnis noch von der Möglichkeit ihrer sprachlichen Formulierung in irgendwelchem Zeitpunkt abhängig.

2.3.2.2.3 Vor- und nichtmediale Tatsachen Wird aber der Sprachkonstruktivismus auf die epistemologische These beschränkt, nach der nur aus Sprache bestehende Tatsachen erkannt werden könnten, würde der Umfang der Erkenntnismöglichkeiten dermaßen eingeschränkt, dass die Gesamtheit der Natur- und Geisteswissenschaften, insoweit sie sich auf unorganische, organische und soziale Tatsachen beziehen, die vor

123Patzig,

Satz und Tatsache, S. 38.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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der Entstehung der jeweiligen Sprache, um die es sich jeweils handelt, oder vor allen Sprachen der Fall waren, aus dem Bereich des Erkennbaren ausgeschlossen. So wären die die Kodizille124 enthüllenden Wissensbereiche wie Bewusstseinsphilosophie und Sprachphilosophie erstaunlicherweise objektiver als jegliche Naturwissenschaft, da die allersicherste Erkenntnis – wenn überhaupt eine – in dem Wissen sprachlicher Tatsachen bestünde. So würde die Sprache oder das „ich spreche“ selbst zu einem atemporalen A-priori oder Absoluten erhoben, das keinerlei Geschichte hätte, denn jegliche geschichtliche Tatsache begäbe sich innerhalb des Sprachlichen, während eine Geschichte der Sprache selbst notwendigerweise in vorsprachlichen Zeitpunkten angefangen haben müsste, wobei die Existenz vorsprachlicher und daher nichtsprachlicher Tatsachen widersprüchlicherweise impliziert wäre. Die vermeintlich aufklärerische und „deflationäre“ Bestrebung, die Wirklichkeit von Gründen, die Teleologie der Natur, das Ding an sich, das Absolute oder Gott dadurch auszuschließen, dass allesvermittelnde Medien wie Sprache, Subjektivität, Bewusstsein, ferner auch Theorie, Praxis, soziales System125, Hirnprozesse, Instinkt, Emotion und dergleichen entdeckt werden, vermittelst derer die gesamte Wirklichkeit letztlich durch irgendeine Form menschlicher Wahrnehmung oder Schöpfungskraft mitkonstituiert würde, scheitert aufgrund der impliziten Hypostasierung eines Nichtabsoluten zum Absoluten.126 Dies geschieht durch Verneinung der Atemporalität bei gleichzeitiger Annahme der

124Zum

Begriff des Kodizils siehe oben, Abschn. 2.1.3.

125Niklas

Luhmann versteht die Autopoiesis, die Selbstkonstitution des sozialen Systems, als zeitlich invariant: „Sie ist bei allen Arten von Leben, bei allen Arten von Kommunikationen stets dieselbe“ (Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 45). Zu einer Kritik der Autopoiesis als eines „transzendentalen Restes“ der Systemtheorie siehe Vesting, Rechtstheorie, Rn. 271 ff. 126In diese Verlegenheit gerät jede Philosophie, die Sache oder Tatsache und Erkenntnisakt als gegenseitig abhängig verstehen. Sie begehen somit eine Verabsolutierung des Korrelationsverhältnisses (Meillassoux, Après la finitude, S. 51), also die Erstellung einer Dauerkorrelation zwischen Tatsachen und Erkenntnis, indem sie einander bedingen (so die Stichwörter „corrélat pérenne“, „pérennisation du corrélat“, „l’absolutisation des déterminations supposées primordiales de la subjectivité“ bei Meillassoux. Siehe dens., S. 82; 169). Dies kann auch im Zuge einer Kritik der Metaphysik und der modernen Philosophie des Subjektes geschehen: „Même si les hypostases vitalistes du Corrélat (Nietzsche, Deleuze) sont volontiers identifiées à des critiques du «sujet», voire de la «métaphysique», elles ont en commun avec l’idéalisme spéculatif la même double décision qui leur garantit à elles aussi de ne pas être confondues avec un réalisme naïf, ou avec une variante de l’idéalisme transcendental“ (Meillassoux, Après la finitude, S. 51 f.). Siehe auch den

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2  Ontologie des Naturrechts

Allgegenwart und Unabänderlichkeit des die Wirklichkeit mitkonstruierenden Kodizils: Die Verabsolutierung der Vermittlungsfunktion menschlicher Erzeugnisse analog zur a-priori Kategorisierung der Wirklichkeit durch das Subjekt führt wie das A-priori des Subjekts zum A-priori des jeweiligen Mediums. Nach dem Sprachkonstruktivismus müsste kohärenterweise die These, dass die Sprache alle Tatsachen konstituiert, als ein unabänderliches und ahistorisches Faktum angesehen werden, das die ganze Wirklichkeit enthält, also als ein Absolutes. Dieses Denkmuster der Verabsolutierung eines Mediums ist der Fundamentalismus des Konstruktivismus.127 Die modernen Detranszendentalisierungsbeweg ungen begingen eine weltanschauliche Selbstvergötterung des Menschen, indem Medien menschlicher Provenienz ein impliziter Absolutheitsstatus zugesprochen wurde.

2.3.2.3 Das sozialistische Denkregime als evolutionäre Strategie Auch die These der Sprachabhängigkeit von Sachen und Tatsachen ist ein Bedingungskonstruktivismus; sie ist der spezifische Konstruktivismus der Sprachphilosophie. Dieser ist der Korrelationismus des 20. Jahrhunderts par excellence.128

impliziten Absolutheitsstatus von Thesen des historischen Relativismus: „By asserting that all human thought, or at least all relevant human thought, is historical, historicism admits that human thought is capable of acquiring a most important insight that is universally valid and that will in no way be affected by any future surprises. The historicist thesis is not an isolated assertion; it is inseparable from a view of the essential structure of human life. This view has the same trans-historical character or pretension as any natural right doctrine“ (Strauss, Natural right and history, S. 24). 127Bekanntlich bezeichnet der englische Terminus foundationalism (Fundamentalismus, Fundationalismus) ontologische und kognitivistische Thesen, während konstruktivistische und erkenntnisskeptische Thesen, die insbesondere auf die Nichtexistenz abstrakter Entitäten bestehen, als die aufgeklärten und „deflationären“ Positionen erscheinen. Die konstruktivistische Verabsolutierung der Vermittlungsfunktion menschlicher Erzeugnisse führt jedoch zum A-priori des jeweiligen Mediums, also zu einem Absoluten. Durch den damit implizierten weltanschaulichen Anthropozentrismus, in dem der Mensch oder ein menschlich erzeugtes Medium als der Ursprung aller Wirklichkeit erscheint, erhält die Bezeichnung „konstruktivistischer Fundamentalismus“ eine Berechtigung. 128„La conscience et le langage ont été les deux «milieux» principaux de la corrélation au xxe siècle – supportant respectivement la phénoménologie et les divers courants de la philosophie analytique“ (Meillassoux, Après la finitude, S. 20). Zum Korrelationismusbegriff siehe dens., aaO.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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Er setzte die anthroponomistische129 Denktradition der Moderne dadurch fort, dass dem Kodizil130 des 19. Jahrhunderts, dem Bewusstsein, das den phänomenologischen Konstruktivismus veranlasste, ein weiteres hinzugefügt wurde, das die gesellschaftliche (Sprach)Praxis zu dem Ursprung aller in der Wirklichkeit und in der Geschichte vorkommenden Tatsachen erhob. Große Teile der Geisteswissenschaften verkamen im 20. Jahrhundert und Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer Schmeichelsoziologie131 der sozialdemokratischen Gesellschaft durch eine theoretisch verarbeitete Apologie der Praxis. Dies entspricht der spätmodernen Aktualisierung des modernen sozialpsychischen Motivs der Entfaltung der Masse als Subjekts, der Erhebung der „Menge als ganzen auf den Standpunkt der Vernunft oder der logischen Mündigkeit“132, der Hervorhebung des „juste milieu-Denkens“,133 der epistemischen Autorität der größten Zahl134, so

129„Die ungenügende Erkennbarkeit der positiven theonomen Gesetzgebung hat schließlich indirekt zu einem sehr viel gefährlicheren anthroponomismus geführt, der immer stärkere Verbreitung gefunden hat. Man sah keinen jenseitigen Gesetzgeber der ethischen Gesetze mehr. Da man aber daran festhielt, daß ein Gesetz einen Gesetzgeber haben müsse, so suchte man ihn nun auf der diesseitigen Ebene und glaubte ihn bald im souveränen Staat, bald in der Gesellschaft, bald in der Klasse, dem Willen des Vorfahren oder ähnlichem zu finden. … Schließlich führte man das ethische Gesetz auf die Gesetzgebung des einzelnen Subjekts zurück und endete in einem mehr oder weniger groben Autonomismus des Einzelindividuums. Meist wurde dabei nicht klar, ob das reale individuelle Subjekt bzw. eine reale Instanz in ihm (etwa der Wille) der Gesetzgeber ist oder nur ein überindividuelles ideales Subjekt, ein ‚Bewusstsein überhaupt‘; ein solches könnte indessen niemals wirkliche Gesetze geben. Es bedarf kaum des Hinweises, daß auch damit das Ethische völlig entwurzelt ist und ein neues Tor für den Relativismus und Subjektivismus geöffnet wird“ (Herbert Spiegelberg, Gesetz und Sittengesetz. Strukturanalytische und historische Vorstudien zu einer gesetzesfreien Ethik, Zürich u. a.: Max Niehans, 1935, S. 19). 130Zum Begriff des Kodizils siehe oben, Abschn. 2.1.3. 131Terminus nach Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 9–17. 132Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, S. 43. 133Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, S. 15. 134Vgl. Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Übereinstimmend mit einer Beobachtung von Quentin Meillassoux über das herrschende philosophische Denken nach Kant: „l’intersubjectivité, le consensus d’une communauté. était destinée à se substituer à l’adéquation des représentations d’un sujet solitaire à la chose même, à titre de critère authentique de l’objectivité, et plus spécialement de l’objectivité scientifique. La vérité scientifique n’est plus ce qui se confonne à un en-soi supposé indifférent à sa donation, mais ce qui est susceptible d’être donné en partage à une conununauté savante“ (Meillassoux, Après la finitude, S. 18).

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„daß alle Macht und alle gültigen Ausdrucksformen von den Vielen ausgehen“135. Kurz, der Konstruktivismus nahm im 20. Jahrhundert die spezifische Form eines linguistisch gefärbten Sozialkonstruktivismus oder, psychopolitisch gefasst, eines sozialistischen Denkregimes, wonach die Wahrheit das ist, was die Gattung bestimmt, sei es durch Konvention, Konsens, Praxis, Kultur, Sprache oder Massenkommunikation. Den Durchschnitt der vielen Meinungen und Verhalten als Maßstab für Wahrheit anzusehen, ist eine natürliche Tendenz von Großstadtbevölkerungen aller Zeiten.136 Im Gegensatz zum Land, in dem eine Kultur entstehen und unwidersprochen herrschen kann, haben Großstadtbevölkerungen die Möglichkeit und den Bedarf, die Meinungen der vielen in dem engen städtischen Raum verkehrenden und ihre jeweiligen verschiedenen Kulturen mitbringenden Gesellschaftsmitglieder zu vergleichen, um mit ihnen handeln zu können und um sich selbst zu orientieren. Dieser zivilisierte Zustand führt zu einer Senkung des kulturellen Niveaus im Vergleich zum kulturellen Niveau des Landadels und -priestertums, unter deren politischem, wirtschaftlichem und intellektuellem Einfluss sich die sich in der Großstadt treffenden Kulturen in der Regel ursprünglich entwickelten. Das Zusammentreffen vieler Individuen und Gruppen verschiedenster biotischer Verfassung, sozialer Gewohnheiten und Religionen in einem einzigen Raum veranlasst somit eine spezifisch sozialpsychische Überlebensstrategie: Damit das Überleben vieler in einem begrenzten Raum möglich wird, müssen Handlungen trivialiter koordiniert und miteinander kompatibilisiert werden; für die diskursive Handlungskoordinierung einer heterogenen Menge sind aber traditionelle Symbole, theologische Grundsätze und hoher intellektueller Anspruch nicht geeignet, denn sie werden von vielen entweder nicht als legitim angesehen oder schlichtweg nicht verstanden, nicht zuletzt aufgrund der nur durchschnittlichen Intelligenz der Menge. Einerseits muss es aus Organisationsgründen einen öffentlichen Diskurs geben, der sich an die meisten richtet; andererseits darf der öffentliche Diskurs keine hohen Ansprüche an partikulärem Wissen, an Geistigkeit, Intelligenz und Bildung voraussetzen, andernfalls erfüllt er seinen Zweck nicht. Menschenmischung führt zur Aufwertung des Gemeinsamen. Die Gattungskommunikation kann die Komplexität

135Sloterdijk,

Die Verachtung der Massen, S. 9. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 3. Aufl., München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1972, Nachdruck der Beck-Ausgabe von 1923, S. 460, in Anschluss an P. Wendland. 136Vgl.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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der Welt nicht wiedergeben, denn dies bedarf Zeit, langer, tiefer und schwieriger Betrachtungen. Das Ergebnis ist die Etablierung einer spezifischen Form von Öffentlichkeit mittelmäßigen Anspruchs, deren terminus technicus Diatribe137 heißt. Im 20. Jahrhundert fand die Diatribe Ausdruck vor allem im Journalismus, in der massenmedialen Kommunikation und in der Pop-„Kultur“; später, mit der Universalisierung des Hochschulzuganges, zunehmend auch in akademischen Einrichtungen. Im Politischen entspricht sie dem Diskurs der „Mitte“ der jeweiligen Epoche.138 Eine großstadtideologisch basierte Zivilisation unterliegt damit schon aufgrund anthropologischer Konstanten einem Standardisierungsdruck und wird im Großen und Ganzen trotz der Vielfalt und des ursprünglichen Reichtums der sich treffenden Völker kulturell verarmt.139 Seit der zweiten Hälfte

137Vom

Altgriechischen δττᾰτρτβή (Zeitvertreib). „Dem entspricht eine charakteristische Form der öffentlichen Wirksamkeit, die Diatribe. Zuerst als hellenistische Erscheinung beobachtet, gehört sie zu den Wirkungsformen jeder Zivilisation. Durch und durch dialektisch, praktisch, plebejisch, ersetzt sie die bedeutsame, weithin wirkende Gestalt großer Menschen durch schrankenlose Agitation der Kleinen, aber Klugen, Ideen durch Zwecke, Symbole durch Programme. … die Quantität ersetzt die Qualität, die Verbreitung die Vertiefung. … Sie erscheint als indische Predigt, als antike Rhetorik, als abendländischer Journalismus. Sie wendet sich an die Meisten, nicht an die Besten. Sie wertet ihr Mittel nach der Zahl der Erfolge. Sie setzt an Stelle des Denkertums früher Zeiten die intellektuelle männliche Prostitution in Rede und Schrift …“ (Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, S. 460 f.). 138„Es sind … nur kurze Zeitperspektiven, die in den Ordnungsvorstellungen der Mitte entwickelt werden, und vor allem sind sie darauf angewiesen, große und grundsätzliche Entscheidungen zu vermeiden. … Aber womöglich hat diese Resistenz gegenüber dem « ganz Anderen » eschatologischer Zukunftsentwürfe einen Preis, der in der Durchsetzung eines « Normalismus » besteht, bei dem das Normale zur Norm erhoben und die Menschen auf statistisch ermittelte oder konventionelle Normalwerte festlegt werden. Normalismus – der stumme Zwang, möglichst so zu sein wie alle anderen auch – schützt jedoch nicht vor den Einflüsterungen apokalyptischer Propheten, sondern führt auch zu einer Abneigung gegen alle Formen des Riskanten. Die von dem « ganz Anderen » einer möglichen Zukunft ausgehende Faszination wird durch die normative Aufwertung des Normalen eingegrenzt, und in Verbindung damit, so die Befürchtung, mache sich eine Behäbigkeit breit, die die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft auf Dauer reduziere“ (Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2012, S. 25, 37). 139So die Spannung zwischen Kultur und Zivilisation bei Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, S. 460–462. Siehe auch die Folgen der Unpersönlichkeit in großstädtischen sozialen Beziehungen ebenso wie die Erweiterung der spezifischen Marktmoral auf die Sozialmoral, also die Ökonomisierung sozialer Verhältnisse, die mit der Etablierung des Geldes als Tauschmittels einhergeht: „once money is introduced in cooperative relationships, potential social norms of punctuality, honour or communitarian

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2  Ontologie des Naturrechts

des 20. Jahrhunderts ist die großstädtische kulturelle Armseligkeit an dem überall gleichmachenden „Multikulturalismus“ großflächig zu beobachten. Die Erhebung der Vielen als maßgebliches epistemisches Subjekt wurde ideologisch entwickelt im Rahmen von jüdischen und frühchristlichen Doktrinen, die die „Moral des gemeinen Mannes“140 im Gegensatz zur Führung aus höherem Anspruch und eigenem Recht legitimierten und somit Widerstand gegen esoterische Wahrheiten141 leisteten. Das esoterische Wissen ist dasjenige, das

self-sacrifice are deinternalized and can entirely vanish. This particularly affects agents of security (military, police), who can be more easily motivated to endanger their lives for moral causes than by a simple increase in wages; after all, a rational analysis may conclude that one’s life has no pecuniary price. … Because most restrictions on social behaviour are traditionally made in the name of the common good of a given group identity (e.g. religious, ethnic), when market morality becomes the metamorality, preferences that are group fitness minimizers can be satisfied without political punishment. … Moreover, the widespread tendency for imitation and conformity strengthens the importance of political and moral framers“ (Filipe Nobre Faria, Is market liberalism adaptive? Rethinking F. A. Hayek on moral evolution, Journal of Bioeconomics 19, 3/2017, 307–326, S. 316 f.). 140Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, § 9. 141Siehe dazu Nietzsche, Der Antichrist, §§ 11, 15, 21, 27, 30, 34. Zu vielen Entgegensetzungen von Esoterik und Exoterik auch in Bezug auf die Neuzeit siehe lehrreich René Guénon, Introduction générale à l'étude des doctrines hindoues, Paris: Guy Trédaniel, 1921 (Druck 1987), S. 133–42. Verbis: „Nous avons signalé occasionnellement, au cours de nos considérations préliminaires, la distinction, d'ailleurs assez généralement connue, qui existait, dans certaines écoles philosophiques de la Grèce antique, sinon dans toutes, c'est-à-dire entre deux aspects d'une même doctrine, l'un plus intérieur et l'autre plus extérieur: c'est là toute la signification littérale de ces deux termes. L'exotérisme, comprenant ce qui était plus élémentaire, plus facilement compréhensible, et par conséquent susceptible d'être mis plus largement à la portée de tous, s'exprime seul dans l'enseignement écrit, tel qu'il nous est parvenu plus ou moins complètement; l'ésotérisme, plus approfondi et d'un ordre plus élevé, et s'adressant comme tel aux seuls disciples réguliers de l'école, préparés tout spécialement à le comprendre, n'était l'objet que d'un enseignement purement oral, sur la nature duquel il n'a évidemment pas pu être conservé de données bien précises. D'ailleurs, il doit être bien entendu que, puisqu'il ne s'agissait là que de la même doctrine sous deux aspects différents, et comme à deux degrés d'enseignement, ces aspects ne pouvaient aucunement être opposés ou contradictoires, mais devaient bien plutôt être complémentaires: l'ésotérisme développait et complétait, en lui donnant un sens plus profond qui n'y était contenu que comme virtuellement, ce que l'exotérisme exposait sous une forme trop vague, trop simplifiée, et parfois plus ou moins symbolique, encore que le symbole eût trop souvent, chez les Grecs, cette allure toute littéraire et poétique qui le fait dégénérer en simple allégorie. Il va de soi, d'autre part, que l'ésotérisme pouvait, dans l'école même, se subdiviser à son tour en plusieurs degrés d'enseignement plus ou moins profonds, les disciples passant successivement de l'un

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von einem Individuum oder kleinem Kreis von Individuen erreicht, von den meisten Gesellschaftsmitgliedern aber nicht verstanden wird und von ihnen deswegen oft als Nichtwissen, Obskurantismus oder – noch pejorativer – als Elitismus angesehen wird. Es setzt sich dem exoterischen Wissen entgegen, das den meisten aktuell bewusst, an sie gerichtet oder ihnen zumindest lehrbar ist. Das Exoterikprinzip besagt im Wesentlichen, dass eine These öffentlich begründbar sein muss, um wahr zu sein. Seit der Neuzeit ist die implizite Anwendung dieses demokratischen Prinzips auf die Epistemologie ein häufig wiederkehrendes Motiv,142 das letztlich die epistemische Autorität der größten Zahl

à l'autre suivant leur état de préparation, et pouvant d'ailleurs aller plus ou moins loin selon l'étendue de leurs aptitudes intellectuelles; mais c'est là à peu près tout ce que l'on peut en dire sûrement. Cette distinction de l'ésotérisme et de l'exotérisme ne s'est aucunement maintenue dans la philosophie moderne, qui n'est véritablement rien de plus au fond que ce qu'elle est extérieurement, et qui, pour ce qu'elle a à enseigner, n'a certes pas besoin d'un ésotérisme quelconque, puisque tout ce qui est vraiment profond échappe totalement à son point de vue borné“ (ders., S. 133 f.). 142„The democratic mind rejects all alleged knowledge that must be gained through special channels, open to a chosen few only. It accepts as truth only that which can be ascertained by everybody in ordinary experience, or that which can be cogently proved by steps that everybody can reproduce“ (Mannheim, Essays on the Sociology of Culture, S. 184). Das ist ein zentraler Grundsatz des demokratischen Denkens und findet Ausdruck beispielsweise in der neuzeitlichen Konzeption der Lehre: „modern education … starts from the postulate that anything that is transmitted in the process of teaching can be reduced to ­crystal-clear simplicity, with no ‘higher’ obscurities left to admire without comprehension. As we see, the democratic mind puts its trust a priori in that which is transparent and clear, whereas aristocratic cultures prize the recondite and the obscure, e.g. in the shape of the overrefinement and overspecialization of scholasticism“ (Mannheim, aaO.). Das moderne Exoterikprinzip ist in Kants protestantischer Ethik in mehrfacher Weise, zum Beispiel als Publizitätsprinzip des Rechts, vorhanden: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht. Dieses Prinzip ist nicht bloß als ethisch (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als juridisch (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten“ (Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1796), S. 245, B 100, 101). Das moderne Exoterikprinzip ist auch bei Hegels Kritik der Eitelkeit des räsonnierenden Abweichlers zu finden. Die Wahrheit im Bereich des Normativen ist Hegel zufolge stets öffentlich und bekannt; das öffentliche Gesetz sei gegen individuelle, oft protestantische Interessenvertretungen und kritische Begründungsverlangen zu verteidigen: „Ohnehin über Recht, Sittlichkeit, Staat ist die Wahrheit ebensosehr alt, als in den öffentlichen Gesetzen, der öffentlichen Moral

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2  Ontologie des Naturrechts

einführt,143 somit überlebensstrategischen Interessen von breiten Bevölkerungsteilen durch epistemische Mittel gerecht werden will und eine Version des Primates der praktischen gegenüber der theoretischen Philosophie etabliert. Die These der Sprachabhängigkeit von Tatsachen ist somit eine spätmoderne Fortsetzung der jüdisch-christlichen und großstädtischen Bestrebungen, die Wahrheit zu demokratisieren, indem die sprachliche Praxis der Meisten samt der vielen individuellen Anteile an der Konstruktion von Kultur zur Bedingung des Bestehens jeglicher Tatsachen erhoben wird. So behält die Menge, seit einigen Jahrhunderten: die Masse, wer sie öffentlich wirksam deutet oder erheblich beeinflusst die Kontrolle über die Tatsachen, was ein wertvolles M ­ achtmittel

und Religion offen dargelegt und bekannt“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Aufl., Hamburg: Meiner, 1955, Vorrede, VII, S. 5). Der Moderne folgend vertritt auch Jürgen Habermas einen innerlichen Zusammenhang zwischen öffentlicher Begründbarkeit und Kritisierbarkeit einerseits und Wahrheit andererseits: „Objektiv kann eine Beurteilung dann sein, wenn sie anhand eines transsubjektiven Geltungsanspruches vorgenommen wird, der für beliebige Beobachter und Adressaten dieselbe Bedeutung hat wie für das jeweils handelnde Subjekt selbst“ (Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, Bd. I, S. 25 f.). Gegen das esoterische Wissen tritt in moderner Weise auch Quentin Meillassoux auf, indem er die Forderung stellt, ein bisschen Absolutes („en peu d’absolu“) anzunehmen, um gegen die von ihm als fideistisch bezeichneten „dépositaires exclusifs“ der Wahrheit auf gleicher Augenhöhe vorzugehen (Meillassoux, Après la finitude, S. 68). Für eine Verteidigung der Einsichtsfähigkeit durch „jedermann“ als Wahrheitskriterium von Sätzen und Urteilen im Recht siehe Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 99–103, der dieses Wahrheitskriterium ebenso mit egalitaristischen Voraussetzungen verbindet, die das Gemeinsame in zwischenmenschlichen Beziehungen hervorheben, wie etwa die Notwendigkeit der „Überwindung von Vorurteilen gegenüber Menschen anderer Rasse, anderen Glaubens, anderer Nationalität“ (ders., S. 111). 143„Unsere höchsten Einsichten müssen – und sollen! – wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern, kurz überall, wo man eine Rangordnung und n i c h t an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte, – das hebt sich nicht sowohl dadurch von einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt: das Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, – der Esoteriker aber v o n O b e n h e r a b !“ (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 30).

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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darstellt.144 Wenn alle Tatsachen zumindest die implizite oder potenzielle Akzeptanz der Meisten brauchen, um zu bestehen, wird die große Zahl von Menschen zum ontologischen Schöpfer aller Wirklichkeit oder mindestens zu einer unhintergehbaren epistemischen Autorität erhoben. Der Sozialkonstruktivismus ist somit eine Projizierung der sozialistischen Moral auf die theoretische Philosophie, ein bewusst oder unbewusst eingesetztes Machtmittel mit epistemologischen Waffen.

2.3.2.4 Unmöglichkeit des Wissens als Folge des Sozialkonstruktivismus Die Folge des Sozialkonstruktivismus für die Methodologie ist es, dass alle Wissenschaft und Philosophie letztlich psychologisch, soziologisch oder historisch werden müssten. Stichwortartig: Soziologie wird zur Psychologie der Gesellschaft; Historie zur Psychologie vergangener Gesellschaften; Wissenschaft und Philosophie zur Sozialpsychologie oder Sprachsoziologie. Wenn alle Tatsachen durch die Subjektivität, Bewusstsein oder Sprache vieler vermittelt werden, erhält ein Individuum die epistemische Berechtigung nicht, direkt zur Sache oder Tatsache zu reden und sie eigenständig zu erkennen, denn diese würden durch die Subjektivitäten, Bewusstsein und Sprachpraxen der anderen Individuen mitkonstituiert. Will man über einen Begriff reden, so müsse nicht er selbst, sondern das Bewusstsein über ihn, einschließlich des kollektiven und historischen Bewusstseins, untersucht werden; will man über Normen reden, so

144So die zutreffende Bezeichnung des „ethischen Sozialismus“ als „Wille zur Macht“ bei Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, S. 463. Siehe auch Sloterdijk: „Das Projekt, die Masse als Subjekt zu entwickeln, erreicht sein kritisches Stadium, sobald wir die Regel aussprechen, daß alle Unterscheidungen als Unterscheidungen der Masse vollzogen werden sollen. Es versteht sich von selbst, daß die Masse keine Unterscheidungen vornimmt oder gelten läßt, durch die sie auf die schlechte Seite fiele – sie unterscheidet, sobald sie die Vollmacht zu unterscheiden hat, immer und ohne Scheu zu ihren Gunsten. Sie setzt alle Vokabulare und Kriterien außer Kraft, bei deren Gebrauch ihre Beschränkungen ausgesprochen werden könnten; sie delegitimiert alle Sprachspiele, die sie nicht gewinnt. Sie zerschlägt alle Spiegel, die ihr nicht versichern, sie sei die schönste im ganzen Land. Ihr normaler Zustand ist der einer permanenten Urabstimmung über die Verlängerung des Generalstreiks gegen den höheren Anspruch“ (Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, S. 85).

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2  Ontologie des Naturrechts

lässt es die horizontale, demokratische Epistemologie des sozialistischen Denkregimes nicht zu, sich unmittelbar auf die Normen selbst zu beziehen, sondern man müsse die Subjektivität, das Bewusstsein oder die Sprachpraxis betrachten, deren Verdinglichung die Norm sei, das heißt in dem Fall, man müsse die gesellschaftliche Praxis sozialpsychologisch betrachten, um zu erschließen, was in ihr als Norm angesehen wird, und das sei alles, was die Norm ist. Die einzig kohärente Methode verbleibe es, die Konstruktionsbeiträge aller für die jeweilige Zeit und den jeweiligen Raum konstruktionsbefugten Individuen und Kollektive mit in die Reflexion einzubeziehen, um einen Blick in die Tatsachen zu erlangen, der allerdings immer unvollständig und doch inkohärent verbleiben muss, denn diese rein empiristisch-quantitative, induktive Methode, wie alle empirischen Erhebungen, bringt es mit sich, dass es immer sein könnte, dass jemandes Begriffs- oder Tatsachenansprüche bzw. -konstruktionen nicht berücksichtigt oder viele bloß mutmaßlich einbezogen werden und dass Viele widersprüchliche Auffassungen haben. So kann die untersuchende Vernunft prinzipiell keine Erkenntnis gewinnen. In einem so gefassten Sozialkonstruktivismus gibt Qualität Quantität Platz; Essenz gibt Emergenz Platz. Die Erhebung der Vielen zur ontologischen Schöpfungsinstanz und epistemischen Autorität resultiert in der absoluten Ohnmacht der untersuchenden Vernunft, was den Namen Relativismus trägt.

2.3.2.5 Realismus als Alternative zum Konstruktivismus Eine praktische Folge der Überwindung konstruktivistischer Fundamentalismen ist die Legitimierung des realistischen sensus communis.145 Denn einen solchen gibt es immer noch. Der sensus communis ist tendenziell realistisch hinsichtlich der selbständigen Existenz von alltäglichen Einzeldingen wie Steinen, Pflanzen und Häusern samt ihren Eigenschaften ebenso wie hinsichtlich der Objektivität von Rechtsnormen,146 auch wenn er keine philosophischen Fragestellungen nach der selbständigen Existenzweise von Begriffen, Gründen und Eigenschaften

145Für eine ausführliche Untersuchung über die expliziten und impliziten Ansichten des ­Common-Sense-Realismus siehe Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, S. 39–76. Zur Infragestellung des Realismus über Einzeldinge als zeitgeistliche Tendenz der Neuzeit vgl. auch dens., S. 91–124. 146Über die realistischen Ansichten des sensus communis von Bürgern und praktischen Juristen über die Objektivität von Rechtsnormen siehe unten, Abschn. 3.4.3.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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in expliziter Weise enthält. Die oben genannten Bestrebungen großstädtischer, jüdisch-christlicher und moderner Bevölkerungen zur Demokratisierung der Wahrheit gehören als explizit philosophische Thesen des Konstruktivismus eher akademischen, sich als progressiv bezeichnenden Bildungseliten als dem unteren Volk. Insoweit allerdings auch ein Volk konstruktivistische Ansichten annehmen kann, was mit der Universalisierung des Hochschulzuganges und der darin institutionalisierten Mehrheitsansichten allmählich und zunehmend der Fall sein könnte, ist anzumerken, dass der sensus communis als soziales Faktum auch in sich selbst widersprüchliche Sichtweisen enthalten kann – etwa konstruktivistische und realistische zugleich –, ohne aufzuhören, der wirkliche sensus communis eines Volkes zu sein, weswegen ebenso wenig die bloße Tatsache, dass eine Ansicht dem sensus communis angehört, ein Argument für ihre Wahrheit oder Unwahrheit sein kann. Immerhin kann ein Ding, wie nahezu jeder nach dem gesunden Menschenverstand Räsonnierende, der dem Einfluss des gelehrten Kodizildenkens der Moderne und insbesondere des akademischen Konstruktivismus seit dem 20. Jahrhundert nicht ausgesetzt wurde, ohnehin schon richtigerweise ahnt, von jemandem intentional und als solches konstruiert worden sein und auch als solches bewusstseinsunabhängig weiter existieren. Wenn ein Haus im Wald zum Zeitpunkt τ1 gebaut, im τ2 verlassen und im τ3 vergessen aber nicht zerstört wird, existierte es im Zeitraum τ2–3 ohne Bewusstseinsbezug. Auch Sachen (und Tatsachen), für deren Entstehung ein menschliches intentionales Zutun eine der raumzeitlichen Ursachen sein muss, entbehren die Kontinuität dieses Zutuns für ihre weitere Existenz. Sie werden vollständig, nicht nur materiell, durch die Natur in Existenz gehalten. Wenn ein Waldwanderer im τ4 „es“ zufällig findet, findet er nicht etwas, was vorher nichts war, und auch nicht nur irgendwelche Kombination von Materie, sondern ein Haus. Selbst wenn man nur eine Kombination von Materie vorfände, fände man auch ein begrifflich abgegrenztes Ding, das sich zu anderen ebenso begrifflich abgegrenzten Dingen verhält und somit eine begriffliche Tatsache ergibt, nämlich das Vorhandensein einer bestimmten Kombination, einer bestimmten Menge von Materie, die sich von anderen Kombinationen und Mengen unterscheidet, wobei verschiedene Kombinationen und verschiedene Mengen etwas Gemeinsames hätten, nämlich jeweils Kombinationen und Mengen zu sein. Und selbst wenn man in dem Fall keine Kombination von Materie, sondern nur Materie oder nur ein Kontinuum vorfände, würde man auch begrifflich abgegrenzte Dinge finden, denn Materie und Kontinuum wären selber ein Ding und nicht schlichtweg gleich Geist, und

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2  Ontologie des Naturrechts

somit von etwas anderem durch eine bestimmte Negation147 begrifflich unterschiedlich. So wäre selbst das Vorfinden von ausschließlich Materie aufgrund des damit implizierten Materiebegriffs (oder das Vorfinden von ausschließlich einem Kontinuum aufgrund des damit implizierten Kontinuumbegriffs) kein Ausweg aus der begrifflich-ontologischen Bestimmtheit. Ferner, begegnete ein Bär diesem Es im Zeitraum τ2–3, so begegnete er ebenso nichts weniger als einem Haus, ohne jedoch das sprachliche Zeichen und die u. a. kulturellen Entstehungsursachen des ihm gegenüberliegenden Gegenstandes zu kennen. Das Haus existierte im Zeitraum τ2–3 nämlich stets als Haus, da es widersprüchlich wäre anzunehmen, dass etwas zu irgendwelchem Zeitpunkt existiert, ohne es zu sein, was es ist.148 Es gibt kein Mittel zwischen zwei Kontradiktorischen wie z. B. Haus und Nichthaus und letztlich zwischen Sein und Nichtsein.149 Dementsprechend gibt es keinen ontologischen Unterschied zwischen Haus und Haus als Haus, da ein

147„ … der Skeptizismus, der in dem Resultate nur immer das reine Nichts sieht und davon abstrahiert, daß dies Nichts bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultiert. Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkommt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt. Der Skeptizismus, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter fortgehen, sondern muß es erwarten, ob und was ihm etwa Neues sich darbietet, um es in denselben leeren Abgrund zu werfen. Indem dagegen das Resultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen und in der Negation der Übergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt“, Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 73 f. Siehe auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, S. 35 f. 148Entgegen etwa den Existenzialismus von Jean-Paul Sartre, der behauptet: „Das „Etwas“ ist zum Beispiel ein Baum. Dieser Baum, der noch Nicht-gesehenes ist, der dem Sehen vorausgeht und es konstruiert, ist als Baum ein Nicht-Sein. … Überzeugt, daß das Etwas ein Baum ist, erzeuge ich den Baum auf dem Etwas, so wie für Kant eine Linie wahrnehmen sie ziehen heißt“ (Jean-Paul Sartre, Wahrheit und Existenz, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, 1998, S. 45 f.). Der kantische Konstruktivismus führt zu einem ähnlichen Ergebnis: „Es ist einfach so, dass unsere Begriffe Konsequenzen haben, die sich nur zusammen mit dem ergeben können, wofür sie aufschlussreiche Begriffe sind. Ein Objekt wie die Erde ist rund unabhängig davon, ob irgendjemand irgendwann merkt, dass es so ist. Aber dass ein solches Objekt die Bestimmtheit des Runden hat, ist nicht unabhängig davon, dass irgendwer über das Prädikat «rund» verfügt, mit dem Rundes vom Eckigen, Ovalen, Platten und Zerdellten usf. unterschieden werden kann. Rundheit existiert nicht unabhängig von der Möglichkeit der Prädizierung von etwas als «rund»“ (Seel, Sich bestimmen lassen, S. 107). 149Erörterung hierzu oben, Abschn. 2.3.1.

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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Haus als Nichthaus, also ein Haus als ausschließlich etwas anderes als Haus, logisch und folglich ontologisch unmöglich ist und ein Haus als nichts der reine, nichtinstanziierte Hausbegriff wäre und daher ebenso wenig ein existierendes Haus. Da die Ontologie der Logik folgt, bestehen auch die Gründe, warum das Haus im Zeitraum τ2–3 ein Haus war, zur selben Zeit des Hauses. Wird das Haus im τ5 zerstört, so wird es im τ6–n auch nach der Ausrottung aller Erkenntnissubjekte als Haus des τ1–4 ewig existiert haben. Auch die Tatsache und die Gründe des Gewesenseins einer Sache werden in der Natur logisch und raumzeitlich in jedem (auch zukünftigen) Zeitpunkt erhalten. So wird deutlich, dass die Postulierung der Erkennbarkeitsabhängigkeit von Sachen und Sachverhalten (einschließlich Gründen) welcher Art auch immer Ontologie mit Epistemologie verwechselt, indem die tatsächliche Unwissenheit oder die Wissensunmöglichkeit einiger oder aller Erkenntnissubjekte für die Nichtexistenz der Sache und die neu entstandene Erkenntnismöglichkeit oder die erfolgreiche Erkenntnistätigkeit für eine rückwirkende Verwirklichung der Sache gehalten werden. Die These des (subjektiven, bewussten, sprachlichen, kulturellen, wertenden) Bezuges auf Sachen oder Sachverhalte als Bedingung des Sachverhaltes oder als Existenzbedingung der Sache ist daher nur mit dem Antirealismus vereinbar und muss der Kohärenz wegen auf jeglichen Präteritumbezug verzichten. Dasselbe gilt für Bezüge auf vergangene Tatsachen des Bewusstseins und, mutatis mutandis, für aktuelle sprachliche Bezüge auf vergangene sprachliche Tatsachen, aktuelle urteilende Bezüge auf vergangene Urteile usw. Denn man könnte meinen, der bewusste Bezug auf das vergangene Bewusstsein impliziere keine rückwirkende Konstitution einer Tatsache und sei zugleich mit der These kompatibel, alle Tatsachen seien Bewusstseinstatsachen. Dies trifft aber nicht zu. Zum Einen reicht diese Strategie selbstverständlich nur, solange man sich auf Tatsachen bezieht, die erst seitdem es intelligente und bewusste Wesen auf Erden gibt, bestehen. Der größte Teil der Naturgeschichte wäre damit ausgeschlossen, wolle man kein göttliches Bewusstsein annehmen, das für die Bewusstseinsabhängigkeit vormenschlicher Tatsachen sorgte – eine Alternative, die ­selbstverständlich keine Detranszendentalisierung darstellte. Zum Anderen unterscheidet sich die Tatsache, dass etwas im Bewusstsein eines Individuums oder Kollektivs ist, von dem Tatsacheninhalt, der in ihrem Bewusstsein ist. Jene besteht im Faktum eines bestimmten Bewusstseins über etwas, während dieser im bewussten Bezug auf etwas: Derjenige, der über die Existenz eines Hauses weiß, weiß nicht unbedingt Bewusstseinsphilosophie, um seinen bewussten Zustand als solchen definieren zu können. Beide Tatsachen (Bewusstseinstatsache und Bezug auf das Haus) bestehen aber notwendigerweise zugleich und

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2  Ontologie des Naturrechts

unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Bewusstwerdung durch den Teilnehmer der Tatsache. Derjenige, der sich auf die vergangene Bewusstseinstatsache dieses Teilnehmers bezieht, bezieht sich folglich auf etwas, was im Bewusstsein des Teilnehmers als Bewusstseinsinhalt nicht vorkam. Wird dieser Bezug auf eine vergangene Bewusstseinstatsache mit der These kombiniert, alle Tatsachen seien durch Bewusstsein „vermittelt“, dann erfüllt der Bewusstseinskonstruktivist die Bedingungen, unter denen die Tatsache im τ1 der Fall ist, erst im τ2 und impliziert dadurch rückwirkende Kausalität in der Zeit. Das Studium des Wie der Erfahrung und der Erkenntnis, das den Fokus der psychologischen Epistemologie, Phänomenologie und sonst des anthropozentrischen philosophischen Denkens des Westens seit der Neuzeit ausmacht,150 ist zwar an sich als methodologische Untersuchung durchaus berechtigt; es darf nur nicht zur Ontologie schlechthin hypostasiert werden, da Erfahrung und Erkenntnisakte als zusätzliche Tatsachen nur einen Teil der Wirklichkeit ausmachen.151 Dasselbe gilt für die sogenannte „Sozialepistemologie“152, die das

150Ideengeschichtlich und der Sache nach wurde in der Moderne die Psychologie zum Fundament der Erkenntniskritik erhoben. Analyse in diesem Sinne bei Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1932, S. 139 f. 151An dieser Stelle sei an die klaren Worte György Lukács‘ über die Desanthropomorphisierung als Grundmethode der Wissenschaft und Philosophie erinnert, die unabhängig von seinem hegelschen und marxschen Konstruktivismus Gültigkeit hat: „Bei dieser Frage gilt es, sich darauf zu besinnen, daß die Desanthropomorphisierung eine der allerwichtigsten, der unentbehrlichsten Mittel für die Erkenntnis des Seins, wie es wirklich, wie es an sich ist, war, ist und bleiben wird. Alles, was mit der unmittelbaren Beziehung des jeweiligen Gegenstands der Erkenntnis zum wahrnehmenden wirklichen Menschen untrennbar verbunden scheint, was aber nicht nur dessen echte, objektive Eigenschaften, sondern zugleich bloß die Eigenart der menschlichen Aufnahmeorgane (das unmittelbare Denken miteinbegriffen) bestimmt, muß in diesem Prozeß der Desanthropomorphisierung als Erscheinung (oder eventuell sogar als bloßer Schein) in den Hintergrund treten, um seine Stelle den wirklich an sich seienden Momenten zu überlassen, um den Menschen dazu zu befähigen, die Welt so aufzunehmen, wie sie an sich, unabhängig von ihm ist. Eine solche von der Arbeit ausgehende Bewältigung der Wirklichkeit durch die menschliche Praxis wäre nie real zustande gekommen ohne dieses Abstrahieren des Menschen von seiner eigenen Unmittelbarkeit“ (Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, S. 28). 152Die Basis der Sozialepistemologie ist das „Denkkollektiv“ als „die Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ (Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 54). Das Denkkollektiv ist „der Träger geschichtlicher Entwicklung

2.3  Über Grund und Berechtigung überhaupt

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individuelle cogito durch ein kollektives cogitamus ergänzt153 und die Erfahrung machende Entität sowie die Konstruktionszuständigkeit vom Individuum auf Denkkollektive154 verschiebt, sei es auf den Proletariat, das Volk, den Staat, die scientific community, die Sprachgemeinschaft, die Gesellschaft oder die Öffentlichkeit. Was im Bewusstsein von Kollektiven vorkommt, ja in ihrem „solipsisme communautaire“155 erscheint oder erscheinen kann, erschöpft die Gesamtheit der Tatsachen nicht. Die Erhebung der sozialpsychologischen

eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles“ (ders., S. 54 f.). Ihm wird häufig eine konstruktive Zuständigkeit sogar für natürliche Tatsachen zuerkannt: „Was wir als Unmöglichkeit empfinden, ist nur Inkongruenz mit dem gewohnten Denkstil“ (ders., S. 66). Die Sozialepistemologie verortet das Recht in der Kultur und untersucht die Bedingungen der Wissensproduktion über Recht ebenso wie die Einflüsse von Religion, Philosophie und Anthropologie auf das Recht und des Rechts auf sie (exemplarisch Clifford Geertz, Off Echoes: Some Comments on Anthropology and Law, Political and Legal Anthropology Review 19, 2/1996, 33–37; Clifford Geertz, Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology: Basic Books, 1983, S. 167 ff.) und hat deswegen zwar eine unbestreitbare Berechtigung, solange die Gesamtheit der Wirklichkeit und des Rechts nicht auf Sozialproduktion reduziert wird. Zu einer rechtstheoretischen Anknüpfung an die Idee einer sozialen Epistemologie bzw. „Epistemologie der Netzwerke“ vgl. Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Sprache, 1. Aufl., Weilerswist: Velbrück Wiss, 2011, S. 12–30. 153„Ce n'est pas un cogito solipsiste au sens strict, mais plutôt un «cogitamus», car il fonde la vérité objective de la science sur l'accord intersubjectif des consciences. Le cogito corré1ationnel, pourtant, institue lui aussi un certaîn type de solipsisme qu'on pourrait dire «de l'espèce», ou «de la communauté»: car il consacre l'impossibilité de penser une réalité antérieure, ou même postérieure, à la communauté des êtres pensants. Cette communauté n’a plus affaire qu'à elle-même, et au monde qui lui est contemporain“ (Meillassoux, Après la finitude, S. 69). 154Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, S. 15. Zeitgeistlich weiter ders. in freierer Ausführung: „Alles schwarz von Menschen – diese Redefigur gehört zu dem Zeitalter der Auflaufmassen, oder, wie man auch sagen könnte, der Versammlungs- und der Präsenzmassen, deren Charakteristikum darin besteht, daß große Zahlen von Menschen, Tausende, Zehntausende, Hunderttausende, im äußersten Fall Millionen, sich selbst als eine versammlungsfähige Größe erleben, indem sie an einem Ort, der sie alle faßt, zusammenströmen und in diesem massiven Konvent eine ungeheure Selbsterfahrung als wollendes, forderndes, wortergreifendes, gewalt-emanierendes Kollektiv gewinnen. … Die aktuellen Massen haben im wesentlichen aufgehört, Versammlungs- und Auflaufmassen zu sein; sie sind in ein Regime eingetreten, in dem der Massencharakter nicht mehr im phyischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien zum Ausdruck kommt. … In ihr ist man als Individuum Masse“ (ders., S. 15–17). 155Meillassoux, Après la finitude, S. 70.

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2  Ontologie des Naturrechts

Methode zur Methode der Geisteswissenschaften par excellence, indem Sachverhalte nicht unmittelbar als solche untersucht werden, sondern, ausgehend von der Voraussetzung, dass es sie sowieso nur in der Subjektivität, Bewusstsein, Sprache oder Kultur aller oder einer ausgewählten Zahl von Menschen gebe, nur als Konstruktionen dieser betrachtet werden, blendet die Faktoren aus, die überhaupt zu solchen Konstruktionen führten und die selbstverständlich keine Konstruktion derselben Art gewesen sein können, beansprucht irrtümlicherweise, Qualitäten durch quantitative Methoden zu messen und überschätzt dabei naiverweise die Intelligenz und Vernünftigkeit der Meisten.156

2.4 Der naturrechtliche Grundzusammenhang Die These der Möglichkeit des Wissens bestimmter Gründe als Existenzbedingung dieser Gründe ergibt im Falle des Inzestverbotes einen chronologischen Widerspruch: Die gesundheitsförderlichen Vorteile der Exogamie, die einen der Gründe für die Berechtigung der Inzestvermeidung ausmachen, würden erst dadurch zu einem Teil der Natur im Zeitraum τ1, dass Menschen im Zeitraum τ2 diese Gründe in ihrer Praxis formulieren oder formulieren könnten.

156Für grundlegende und nach wie vor aktuelle anthropologische Analysen über die beschränkte Rationalität von Kollektiven siehe Gustave Le Bon: „quel que soient les individus qui la composent [la foule psychologique], quelque semblables ou dissemblables que soient leur genre de vie, leurs occupations, leur caractère ou leur intelligence, par le fait seul qu’ils sont transformés en foule, ils possèdent une sorte d’âme collective qui les fait sentir, penser, et agir d’une façon tout à fait différent de celle don’t sentirait, penserait et agirait chacun d’eux isolément“ (Gustave Le Bon, Psychologie des foules, Paris: Félix Alcan, 1895, S. 15). Zur beschränkten Rationalität des Verhaltens von gesammelten, aber nicht physisch in Kontakt stehenden Menschen siehe Gabriel Tarde: „malgré les divergences et la multiplicité des publics coexistants et entremêlés dans une societé, ils semblent former ensemble un seul et même public, par leur accord partiel sur quelques points importants; et c’est ce qu’on appelle l’Opinion, don’t la prépondérance politique grandit toujours“ (Gabriel Tarde, L'Opinion et la foule, Paris: Félix Alcan, 1910, S. 26). Siehe dazu auch Sloterdijk, Die Verachtung der Massen und Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main: Fischer, 1992. Über natürliche IQ-Unterschiede zwischen und innerhalb von Bevölkerungen und ihre Folgen für ihr gesellschaftliches Verhalten siehe Richard Flynn/Tatu Vanhanen, Intelligence. A Unifying Construct for the Social Sciences, London: Ulster Institute for Social Research, 2012; Tatu Vanhanen, Ethnic Conflicts. Their Biological Roots in Ethnic Nepotism, London: Ulster Institute for Social Research, 2012 und Lynn, Dysgenics.

2.4  Der naturrechtliche Grundzusammenhang

105

Die Gründe, warum das Inzestverbot in der frühen Geschichte der Menschheit bereits berechtigt war, wurden aber nicht erst in späteren Zeitpunkten erfunden oder geschaffen, als diese gesundheitlichen Faktoren entdeckt wurden. Denn der Bedarf nach dem Schutz vor Dysgenik, nach Gesundheitsförderung und Familienschutz zum Zweck der Lebenserhaltung trifft für heutige Menschengruppen evolutionär und teleologisch ebenso zu wie für frühere. Diese Gründe wurden durch spätere Mediziner, Wissenschaftler, Gerichte usw. entdeckt und explizit erstmalig vorgeführt, dem Inhalt nach aber erkannt. Jegliches nachträglich erbrachte und zutreffende Rechtfertigungsereignis stellt eine Wiederholung der zum Zeitpunkt der Norm, des Verhaltens und der Berechtigung bereits vorhandenen Gründe dar. Die vernünftige Verknüpfung dieser Faktoren als Gründe für die Berechtigung der Inzestvermeidung wurde von uns zum einen spontan und subjektiv anhand unseres Intellektes in und unter uns nachträglich hergestellt, zum anderen rezeptiv und objektiv in Korrespondenz mit der vorgegebenen Wirklichkeit erkannt. Diese Überlegungen führen zur Richtigkeit der in der Vormoderne herrschenden Korrespondenztheorie der Wahrheit (adequatio rei et intellectus) auch in Bezug auf Gründe. Rechtfertigung heißt folglich jene in der Raumzeit geleistete Denkoperation, die eine bereits bestehende logische Verknüpfung von Grund und Berechtigung wiederzugeben beansprucht. Dabei gibt es, wie gesagt, keine zeitliche Vorherigkeit oder Nachträglichkeit zwischen Grund und Berechtigung an sich. Das Verhältnis zwischen Grund und Berechtigung ist nicht zeitlich; der Grund besteht immer zur selben Zeit der Berechtigung, die Berechtigung immer zur selben Zeit ihres Grundes. Wie ist nun das Verhalten von Individuen zu beurteilen, die in der Lage des Nichtwissens und Nichtwissenkönnens der eigentlichen Ursachen und Gründe der Inzestvermeidung eine Sanktion gegen ein Gruppenmitglied wegen seiner Übertretung eines mythisch oder totemistisch begründeten Inzestverbotes verhängen? Ist die Strafe ungerecht aufgrund der Falschheit der für sie tatsächlich angeführten Gründe oder kann sie trotz dieser Rechtfertigungsschwäche gerecht gewesen sein? Die Gründe sind inhaltlich falsch, weil die Mythen und Totems zum großen Teil nicht zutreffen und somit nicht zur eigentlichen Rechtfertigung des Inzestverbotes gehören. Das heißt, die Individuen irrten sich hinsichtlich des richtigen Rechtfertigungsgrundes ihres sanktionierenden Verhaltens. Die Entscheidung war ehrlich und bemüht, weil die Individuen aufgrund ihres technologischen Zustandes das Wissen über die eigentlichen Rechtfertigungsgründe nicht hatten und nicht einmal hätten erlangen können. Sie handelten nicht wider mögliches besseres Wissen. Sie wussten nicht und hätten nicht wissen können, dass die Vermeidung des Inzestes hauptsächlich der gesunden Arterhaltung und fernteleologisch der Lebenserhaltung insgesamt dient.

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Der sanktionsverhängende Entschluss war aber trotz der inhaltlichen Falschheit der tatsächlich angeführten Gründe berechtigt, weil die Entscheidung samt ihrer Begründung und die Sanktionsverhängung angemessene Mittel für die Erfüllung von guten Zwecken waren, nämlich Gesundheits- und Lebenserhaltung. E contrario impliziert die Richtigkeit des normsetzenden und sanktionierenden Verhaltens die Falschheit des Verhaltens des die Norm verletzenden Individuums. Der Verbrecher hätte die Norm befolgen sollen, und zwar aus den besten zurzeit vorhandenen oder möglich zu erreichenden Gründen, also eventuell auch aus inhaltlich an sich eigentlich falschen Gründen. Und dies nicht nur, um Sanktionen seitens seiner Gruppe zu vermeiden, sondern weil es das Richtige gewesen wäre. Dass Urteile an sich trotz der Falschheit der für sie tatsächlich angeführten Gründe prinzipiell richtig sein können, ist eine sowohl logische als auch ethische Möglichkeit. Es ist formallogisch möglich, wahre Schlüsse aus falschen Prämissen zu ziehen, ohne jeglichen Inferenzfehler zu begehen. Ein formallogisches Beispiel wäre: Wenn alle Vögel vierfüßig sind (Obersatz) und Wölfe Vögel sind (Untersatz), folgt, dass Wölfe vierfüßig sind (wahrer Schlusssatz). In totemistischer Ausführung: Individuen desselben Schutzgeistes dürfen einander nicht heiraten (kultureller Obersatz); Die Individuen A und B gehören zum Schutzgeist Affe (totemistischer Untersatz); folglich dürfen A und B nicht heiraten (wahrer normativer Schlusssatz). Jenseits eines „totemistischen Syllogismus“ ist es sonst generell ethisch möglich, ein richtiges Verhalten aus schlechten Motiven vorzunehmen, wie beispielsweise jemandem, der tatsächlich Hilfe braucht, aus ausschließlich selbstsüchtigen Motiven zu helfen. Es ist sogar juristisch möglich, einen rechtmäßigen Urteilsspruch aus falschen Motiven zu treffen. Damit angesprochen ist die Spannung zwischen Herstellung und Darstellung, Entdeckung und Rechtfertigung juristischer Entscheidungen. Dieser Zusammenhang ergibt sich zusammenfassend daraus, dass für die inhaltliche Richtigkeit juristischer Entscheidungen die psychologischen Motive, aus denen sie getroffen werden, nicht maßgeblich sind, sondern allein die präsentierten oder zumindest einschlägigen Rechtsgründe.157 157Diese

Problematik ist Gegenstand des Teils G im Abschn. 3.7, unten.

2.4  Der naturrechtliche Grundzusammenhang

107

Der Verbrecher hätte die in der Gruppe herrschenden, wenn auch inhaltlich falschen Gründe befolgen sollen, weil sie ein angemessenes und notwendiges Mittel zur Verwirklichung berechtigter gesundheitlicher Ziele waren. Die totemistischen und sonstigen falschen Gründe waren ein notwendiges Mittel, weil die Menschen bereits einen Entwicklungsstand erreichten, in dem sie – anders als untere Tiere – meist nur aus den Gründen handelten, die sie einsehen konnten, sodass die Gründe realistischerweise nicht aus der Gesamtdeutung der Handlungssituation und Handlungsanforderungen weggelassen werden dürfen.158 Somit wird von dem Normübertreter ein Verhalten aus Gründen verlangt, die er hätte einsehen können. Seiner Vernunft in seinem Entwicklungsstand wird man dadurch gerecht. Für ihn wäre ein anhand mystischer Gründe vorgenommener Beweis apodiktisch gewesen. Es wird daher nicht verlangt, aus unmöglich zu erreichenden Gründen zu handeln oder etwas zu tun, dessen Sprache er gar nicht hätte verstehen und dessen Richtigkeit er überhaupt aus Gründen nicht hätte einsehen können.159 Weil dies das normativ Richtige und Zumutbare war,

158„Schon die Jäger und Sammler verfügen über ein komplexes Regelwerk, das den Mitgliedern der Horde eine innere Verpflichtung auferlegt und das Sanktionieren für den Fall der Übertretung vorsieht. Der Verflichtungscharakter der Normen ergibt sich aus der engen Verflechtung von sozialer Ordnung und Religion. Die Jäger fürchten Gott, aber seine Gebote weisen auch den ‚richtigen‘, den ‚geraden‘ Weg. Daran zeigt sich, daß das regelmäßige Handeln der Menschen in Jägergesellschaften niemals bloße Gewohnheit oder gar nur reaktive Antwort auf die gegebene Umwelt war. … Wenn wir diese normative Ordnung in den frühen Gesellschaften der Sphäre des Rechts zuordnen, … wird damit zugleich die begriffliche Verknüpfung von Recht und Staat, von Recht und institutionalisierter Gewalt aufgelöst“ (Walter Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht. Grundlagen einer kognitiven Handlungs- und Straftheorie, Berlin: Duncker & Humblot, 1991, S. 475 f.). 159Ein möglicher Gegensatz zu dieser These ist die hegelsche Konzeption von Normativität, derzufolge eine Pflicht nur dann eine solche ist, wenn das Bewusstsein sie tatsächlich anerkennt und willens ist, sie durchzusetzen: „Die Pflicht ist nicht mehr das dem Selbst gegenübertretende Allgemeine, sondern ist gewußt, in dieser Getrenntheit kein Gelten zu haben; es ist jetzt das Gesetz, das um des Selbsts willen, nicht um dessen willen das Selbst ist. … Der seiner selbst gewisse Geist ruht als Gewissen in sich, und seine reale Allgemeinheit oder seine Pflicht liegt in seiner reinen Überzeugung von der Pflicht. … Was als Pflicht gelten und anerkannt werden soll, ist es allein durch das Wissen und die Überzeugung davon als von der Pflicht, durch das Wissen seiner selbst in der Tat. … Das Bewußtsein spricht seine Überzeugung aus; diese Überzeugung ist es, worin allein die Handlung Pflicht ist; sie gilt auch allein dadurch als Pflicht, daß die Überzeugung ausgesprochen wird“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 469, 472, 478 f.).

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ist es zudem aus der Perspektive eines jeglichen ihm zukünftigen Menschen, der eventuell Zugang zu den eigentlichen Gründen des Inzestverbotes durch Intelligenz und Bildung erlangt, auch das richtige Urteil über die vergangene Praxis, mag es eventuell auch den gegenwärtigen Wertvorstellungen widersprechen, das heißt, mag heute etwas anderes oder dasselbe aus anderen Gründen gesollt sein. Wären aber nachträgliche Subjekte überhaupt nicht entstanden, um solcherlei Urteil treffen zu können, wären die Sanktionen aus den hier genannten, aber damals nicht anerkannten Gründen trotzdem richtig und die Normübertretung trotzdem falsch gewesen. Beim Inzestverbot handelt sich somit um einen Fall von Berechtigung aus Gründen ohne das Wissen jeglichen damaligen Individuums oder Kollektivs über diese Gründe. Das Wissen der richtigen Gründe war ihnen nicht einmal möglich, da die Wissenschaft und Technologie zu der Zeit nicht ausreichend entwickelt waren und auch nicht hätten ausreichend entwickelt werden können. Dass das gesollte Verhalten der Inzestvermeidung meistens und am längsten in der Menschheitsgeschichte aus falschen Gründen geschah, ändert nichts an der Berechtigung des Verhaltens. Die Inzestvermeidung war zudem nicht nur gut im Sinne des Guten des bloßen Seins, also dass es besser ist, dass etwas ist und nicht vielmehr nichts, sondern gut im Sinne des Prinzips der organischen Naturteleologie, da sie nicht mechanistisch gezwungen, also kein bloßes Resultat mechanischer Kausalität und kein bloßes Resultat zufälliger Vorgänge, wie etwa sich zum Teil die Evolution der Arten abspielt, war, sondern eine unter möglichen vorwärtsgewandten Bewegungen nach einem vernünftigen Prinzip. Zusätzlich war sie auch berechtigt im eigentlichen Sinne der Normativität: eine Handlung aus bewusster und freier Regelbefolgung. Das Verhalten entsprach dem Guten also nicht schlichtweg, sondern es entsprach dem Guten trotz der Möglichkeit des Andershandelnkönnens und -wollens, aus teleologischen Handlungsprinzipien und normativen Gründen. Die Berechtigung von Normen und Verhalten hängt also zusammenfassend (1) nicht von in der normativen Praxis einer Menschengruppe tatsächlich gedachten Rechtfertigungen; (2) nicht ausschließlich von denjenigen Gründen, die unter den jeweils empirischen Umständen möglich zu erreichen sind und auch nicht (3) von nachträglichen tatsächlichen und möglichen Rechtfertigungsereignissen ab. Normen, Verhalten, ihre Berechtigung und Gründe bestehen alle gleichzeitig und unabhängig von der Kenntnisnahme dieser Berechtigung und Gründe. Da der Zusammenhang zwischen Verhalten, der Berechtigung des Verhaltens und dem Grund der Berechtigung gegeben, teleologisch und normativ ist, kann er als naturrechtlich bezeichnet werden.

2.4  Der naturrechtliche Grundzusammenhang

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Zudem ist auch das spezifische Sollen: aus diesen bestimmten, an sich inhaltlich falschen Gründen (Mythen usw.) zu handeln (das heißt, dieser Grund des in der Kultur herrschenden und zu befolgenden Grundes), auch ein notwendigerweise zur selben Zeit der Handlung existierender Berechtigungsgrund, andernfalls handelte es sich ebenso um eine rückwirkende Festlegung eines Sollens, um eine nachträgliche Implementierung der Berechtigungsbedingungen, also um einen Bedingungskonstruktivismus. Das heißt, auch dieser Metagrund galt, obwohl er in der Gemeinschaft nicht hätte erkannt werden können. Er war ebenso Teil des Naturrechts und nicht einer hic et nunc hinzugedachten Wertung, weil vergangene Rechte, Pflichten und ihre Gründe welcher Komplexität und Abstraktionsebene auch immer nicht je nach dem Entwicklungsstand zukünftiger Kulturen rückwirkend konstruiert oder geändert werden können. Kurz, sowenig wie die Berechtigung einer Norm während ihrer Geltung grundlos sein kann, können die weiteren Gründe des Berechtigungsgrundes erst nachträglich geschaffen werden. Aber auch Inzucht ist ein naturteleologisches Verhalten. Es ist ein organisches Verhalten, das eine unter mehreren Handlungsmöglichkeiten nach einem Prinzip ergreift. Das Handlungsprinzip ist in dem Fall der natürliche Zweck der Befriedigung der Wollust. Wie könnte aber das Naturrecht etwas gegen die Naturteleologie gebieten? Die Frage ist trügerisch. Ein Wesen höherer Intelligenz wie der Mensch hat die Potenz, sich seinen eigenen organischen Prozessen zu unterwerfen, indem er auf den Intellektgebrauch teilweise verzichtet, oder seine volle Intelligenz für das Gute einzusetzen. Beides, Intelligenzverzicht wie ­-einsetzung, ist gleicherweise eine natürliche Tendenz und somit teleologisch. Während aber das Leben eine Bedingung der Befriedigung der Wollust ist, ist die Befriedigung der Wollust keine Bedingung für das Leben. Die Wollust entstand ­historisch-kausal-teleologisch um der Fortpflanzung und Lebenserhaltung willen; das Leben, der Fortpflanzungs- und Lebenserhaltungszweck entstanden aber nicht um der Wollust willen. Diese Eschatologie (Hierarchie der Zwecke) verdeutlicht, dass Wollust ein Mittel ist, das um höherer Zwecke willen existiert. Deswegen ist sie zwar Teil der Teleologie, aber schon gemäß ihrer Natur anderen Zwecken unterlegen. Die Differenz zwischen der organischen natürlichen Tendenz und der potenziell besseren Handlung auf Basis einer vorhandenen Intelligenzanlage ist die begriffliche Differenz zwischen Teleologie und Normativität und letztlich zwischen Naturteleologie und Naturrecht. Das Naturrecht besagt: Setzt euren ganzen Verstand für das Gute ein. So verfolgt das Naturrecht dasselbe Ziel wie die Naturteleologie; es ist der spezifisch normative Teil dieser. Das Naturrecht ist teleologisch, weil es letztlich nach dem Guten gerichtet ist; die Teleologie ist normativ, weil das Gute getan werden soll. I­ntelligenzgebrauch,

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­ egelbewusstsein und Handlungskoordination durch kulturell gesetzte Normen R wie Tabus und Rechtsordnungen sind besser geeignete Mittel für die Erfüllung von Zwecken als das geringere Maß an Vernunft, das in bloß organischen Anlagen wie der Wollust vorhanden ist. Erst eine höhervernünftige Anlage, die Sitte, Kultur und positives Recht hervorbringt, kann die hinreichende gesellschaftliche Koordination erreichen, die notwendig ist, um etwa Medizin und Weltraumschiffe zu entwickeln, die wiederum Mittel für die Art- und Lebenserhaltung insgesamt sind. Das Naturrecht gebietet also nichts gegen die Naturteleologie, sondern es gebietet die Einsetzung des bestmöglichen Mittels für die Erreichung des höchstmöglichen Zweckes nach den Potenzen des jeweiligen Individuums und Kollektivs. Immerhin enthält die teleologische Erklärung des Zustandekommens eines Verhaltens einen Teil seiner Rechtfertigung. Wenn das inzestvermeidende Verhalten historisch und kausal entstand, um die Gesundheits- und Lebenserhaltung zu befördern und diese auch teilweise die Gründe ausmachen, warum das Verhalten berechtigt ist, hat die Erklärung unter diesen Umständen denselben Inhalt der Rechtfertigung, obwohl die begriffliche Unterscheidung zwischen beiden bestehen bleibt, weil sie immer noch unterschiedliche gnoseologische Denkoperationen sind. Die Erklärung kann sogar im Ganzen denselben Inhalt wie die Rechtfertigung haben, wenn ein Individuum ein Verhalten bewusst aus den richtigen normativen Gründen vornimmt, denn dann gehört die Berücksichtigung dieser Gründe zum Kausalzusammenhang, aus dem allein erklärt werden kann, warum der Mensch so und nicht anders handelte – tatsächlich berücksichtigte Gründe sind zugleich normative Ursachen mit Erklärungs- und Rechtfertigungselementen. Erfüllt jemand aber seine besten Potenzen hinsichtlich des Verstandesgebrauchs nicht und handelt er widerrechtlich, so enthält die Erklärung seines Verhaltens nur die Rechtfertigungselemente der spezifisch organischen Teleologie, nicht aber die des Naturrechts. Eine eventuelle, im Bezug auf sein Verhalten nachträglich geleistete Rechtfertigung ist dann negativ, also eigentlich eine Kritik, und basiert auf der Kontrafaktizität des Naturrechts. Ihr Ergebnis lautet schlichtweg: Der Mensch hätte anders handeln können und sollen; die Ursachen seines Verhaltens rechtfertigen es letztendlich nicht. Die Differenz zwischen Naturteleologie und Naturrecht liegt aber nicht am Kontrafaktizitätsmerkmal des Letzteren. Das Herz schlägt für den Zweck der Blutversorgung des Körpers, auch wenn das Blut aufgrund bestimmter Umstände ein gewisses Organ nicht erreichen kann; ein Vogel baut sich ein Nest, damit die Eier nicht fortrollen, auch wenn die Eier aufgrund eines Sturms tatsächlich

2.4  Der naturrechtliche Grundzusammenhang

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f­ ortrollen.160 Sowohl Normen als auch Zweckbeziehungen (ebenso wie Deontologie und Teleologie) sind vorwärtsgewandt; das heißt, sie sind unterschiedliche Arten des Bezuges der Position eines Lebewesens in einem Zeitpunkt auf einen Sachverhalt in einem zukünftigen Zeitpunkt. Sie stellen eine logische Verbindung der jeweiligen Gegenwart mit der jeweiligen Zukunft her. Die Verbindung ist logisch, weil sie ein begrifflicher Zusammenhang ist: Die Zweckbeziehung besteht in einer begrifflichen Bestimmung eines zukünftigen Sachverhaltes (Zweck), wohinein ein ebenso begrifflich bestimmter Organismus, ein System oder eine Institution sich zu bewegen neigt (und es eventuell auch will und soll). Die Norm besteht in der Bestimmung von Handelnden und eines zukünftigen Sachverhaltes (das deontologisch Gesollte), der durch den Handelnden realisiert werden soll (oder darf, oder nicht darf). Sowohl Normen als auch Zweckbeziehungen bestehen also in einem Zeitpunkt τ1 und beziehen sich auf einen ihnen zukünftigen Sachverhalt (im Zeitpunkt τ2), gleichgültig ob dieser eintreten wird oder nicht. Tritt er nicht ein, so bestanden Norm und Zweckbeziehung im Zeitpunkt τ1 hin zum Zeitpunkt τ2 trotzdem. Es handelt sich dann um nichterfüllte Normen und Zwecke. Kontrafaktizität im Sinne der Enttäuschungsfähigkeit eines Bewegungsprinzips ist also kein Unterscheidungsmerkmal von Teleologie und Normativität, von Teleologie und Deontologie, von Naturteleologie und Naturrecht. Selbst wenn die Natur allein dem Sein und die Pflichten allein dem Sollen zugerechnet werden könnten, wäre die Kontrafaktizität aus denselben Gründen kein Unterscheidungsmerkmal von Sein und Sollen. Da die Kontrafaktizität (wie die Teleologie) zumindest so alt ist wie das Leben selbst, entsteht sie nicht erst dadurch, dass intelligente Wesen wie der Mensch Zwecke setzen, Werturteile und Normen formulieren und die Wirklichkeit auf Entsprechung und Nichtentsprechung mit diesen Zwecken, Urteilen und Normen hin kritisieren und gestalten. Kurz, auch die vergangene Kontrafaktizität ist kein Erzeugnis eines in der Gegenwart über die Vergangenheit räsonnierenden Menschen. Für unsere gegenwärtige Normativität bedeutet dies Folgendes: Auch wenn die Erklärung des Zustandekommens einer Norm wie des Inzestverbotes erfolgreich geleistet wird, bleibt der evolutionäre Mechanismus der Selektion gesünderer Lebewesen sowie der naturgegebene Zweck der Lebenserhaltung in der Gegenwart wirksam. Das heißt, die Entdeckung natürlicher Zusammenhänge, die individuelles und gruppenmäßiges Handeln anleiten und Kulturelemente erst

160Zur

Wirklichkeit der Naturteleologie siehe oben, Abschn. 2.2.2.

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2  Ontologie des Naturrechts

hervorbringen, bewirkt nicht per se die Beseitigung der Naturkräfte. Die Natur lässt sich durch die bloße Kenntnisnahme ihrer Funktionsweise nicht ändern. Der Naturzustand kann nicht verlassen werden. In der Tat bestehen dieselben Neigungen zur Gesundheits- und Lebenserhaltung durch kulturelle Inzestvermeidungsstrategien in der Gegenwart trotz ihrer vernünftigen Kenntnis, Rechtfertigung und Kritik fort.161 Das heißt auch, dass die natürlichen Ursachen des Zustandekommens von Inzestverboten immer noch wirksam für gegenwärtige Institutionen sind. Das bedeutet für den Zusammenhang von Natur und Normativität, dass der natürliche Zweck sowohl individuell als auch kollektiv, diesmal aber durch unseren Verstandesgebrauch und Institutionen, normativ wiederholt werden kann, wenn wir es wollen, und meistens auch wiederholt wird. In diesem Fall wird ein natürlicher Zweck durch expliziten Verstandesgebrauch übernommen. Mit anderen Worten, es wird gegenwärtig etwas auch aus selbstbewusster Vernunft getan, was früher nur als natürliche Neigung geschah. Die längst vorhandene Vernunft der Natur, die das tierische Handeln in vorkulturellen Zeiten und das menschliche Handeln in früheren Zeiten hin zum Guten anleitete, wird somit durch menschlichen Verstandesgebrauch erkannt und normativ bestätigt. Andererseits können Individuen und Gruppen hierarchisch niedrigere Zwecke setzen, als dass ihre Potenz maximal ermöglicht. In dem Fall hieße es, gesundheitsschädliche und dysgenische Normen und Zwecke zu setzen, indem die Erzeugung krankhaften Nachkommens durch Endogamie erlaubt und praktiziert würde. Die Erfüllung dieser Möglichkeit, die streng genommen schon seit archaisch-kulturellen Entwicklungsphasen bestand, wird durch die wissenschaftliche Entstehungserklärung von Inzestverboten sogar angereizt, denn dann entsteht die dem modern denkenden Menschen typische emanzipatorische Versuchung, sich endlich von natürlichen Gegebenheiten zu lösen, ja sie sogar zu verleugnen, indem gegen ihre Eschatologie bloß aus Widerspruchslust oder Freiheitsstreben verstoßen wird.

161Vgl. Turner/Maryanski, Incest. Origins of the taboo, S. 173: „In fact, if we think about how the incest taboo operates in modern culture, we can see some of what may have transpired in the distant past. Rarely does a parent take a child and instruct him about the dangers of incest and about the importance of not violating the taboo. There are no pictures of deformed children who are the victims of inbreeding depression. There are no public alert anouncements.“ Vgl. auch Norbert Bischof, Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie, 4. Aufl., München: Piper, 1994, S. 544–547.

2.5  Zu der teleologischen Vernunft der Natur und ihrer Entdeckung

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2.5 Zu der teleologischen Vernunft der Natur und ihrer Entdeckung Gegenwärtige und vergangene Gesellschaften haben die Tendenz gemeinsam, Narrative über den eigenen Ursprung zu formulieren, die ihre normative Praxis anleiten und Autoritäten legitimieren. Ethnologisch etablierte sich dafür die Bezeichnung „mythe fondateur“ (Gründungsmythos).162 Mythologische Narrative, Gründungsmythen, Totems, Tabus und das Gewohnheitsrecht erfüllen Funktionen wie beispielsweise die Stabilität des Lebens in der sozialen Gruppe,163 den Rekurs auf einen Anfang des praktischen Wissens164 oder schlichtweg die Reduktion der Kontingenz der unzähligen Handlungsmöglichkeiten um der Koordination und letztlich um des Überlebens der menschlichen Gruppe willen. Die Erlassung einer schriftlichen Verfassung, die hypothetische oder historische Verortung eines Gesellschaftsvertrages ebenso wie Revolutionserzählungen sind Beispiele moderner Gründungsnarrative, die ebenso solche Funktionen erfüllen.165 Die soziale Funktion von Narrativen kann unabhängig von ihrer eventuellen historischen Wahrheit erfüllt werden. Insofern ist die Enthüllung der sozialen Funktionen von Kulturelementen ein häufiges Analysemuster für die soziologische Analyse von Gesellschaften, was durch die Ethnologie, die Anthropologie und die Soziologie des 20. Jahrhunderts exemplifiziert wird.

162Siehe Michel van de Kerchove/François Ost, Le système juridique entre ordre et désordre, Paris: Presses Universitaires de France, 1988, S. 205–211, 225–229. In primitiven Gesellschaften in Schwarzafrika beispielsweise war der Rückgriff auf Gründungsmythen ein ausgeprägtes Charakteristikum des Gewohnheitsrechts, das die Funktion der kohärenten Gruppenerhaltung erfüllt: „L’important dans l’esprit de la coutume n’est en effet pas tant le contenu, qui manque de précision et s’avère variable, que le contenant, un mode particulier d’approche des problèmes et de résolution des conflits, qui tien dans la transmission et la reproduction, par la palabre et la conciliation, des attitudes et valeurs indispensables à la survie du groupe et à la cohésion de la communauté“ (van de Kerchove/Ost, Le système juridique entre ordre et désordre, S. 209, in Anschluss an die Afrikaforschung E. Leroys). 163Vesting, Die Medien des Rechts: Sprache, S. 136. 164ders., aaO. 165van de Kerchove/Ost, Le système juridique entre ordre et désordre, S. 225 f. „Ce temps des fondations est, par excellence, le temps des constitutions qui tentent d’enraciner les fondements des régimes politiques dans un socle inébranlable et les droits intangibles des individus dans un registre intemporel, naturel ou sacré“ (dies., S. 226).

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2  Ontologie des Naturrechts

Was in modernen Gesellschaftswissenschaften allerdings nicht ausdrücklich vorkommt, ja zum Teil ausdrücklich abgelehnt wird, ist der naturphilosophische Status ihrer Befunde. Denn die von ihnen entdeckten Funktionen sind eine Wirkungsweise der Teleologie der Natur. Funktion ist Teleologie, also ein Bewegungsprinzip hin zur tendenziellen Erfüllung einer unter mehreren Möglichkeiten. Unbewusste und durch die beobachteten Gesellschaftsmitglieder nicht gesetzte, aber sozial wirksame Funktion ist nichts anderes als Naturteleologie. So leisteten die Ethnologie, Anthropologie und Soziologie des 20. Jahrhunderts unter modernen Bezeichnungen wie „sozialer Funktion“, „Leistung“ oder „erhaltender Wirkung“166 und wider ihre Entnaturalisierungs- und Detranszende ntalisierungsprogramme die Erkenntnis diverser Wirkungsweisen der Naturteleologie auf die Kultur, indem Kulturelemente, die zum Teil falsche Annahmen über die Natur und über den Menschen enthielten,167 hin auf ihre Zweckmäßigkeit für die studierte Gesellschaft untersucht wurden. Das wissenschaftlich entdeckte Telos von Kulturelementen mag von Arterhaltung, „Passung“, „Anpassung“ bis

166Häufige terminologische Umschreibungen von Teleologie in der Soziologie sind: „Funktion“ als Beitrag zur Erhaltung eines ­gesunden-normalen Zustandes einer Gesellschaft (Durkheim); „Leistung“ einer sozialen Institution in Bezug auf ein menschliches Bedürfnis oder bedürfnisbefriedigende Wirkung (Malinowski); die die gesellschaftliche Struktur „erhaltende Wirkung“ ­ (Radcliffe-Brown) und nicht zuletzt die „Leistung“ sozialer Elemente für den Stabilitätszustand des Systems (Luhmann). Vgl. hierzu Peter Bringewat, Funktionales Denken im Strafrecht. Programmatische Vorüberlegungen zu einer funktionalen Methode der Strafrechtswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 1974, S. 114 f. Der emanzipatorische Versuch der Geisteswissenschaften, die natürliche Teleologie zu beseitigen, misslingt häufig durch (1) die Beibehaltung der Rede von „Funktion“, „Steuerung“, „Normalität“, „Störung“ oder „Teleonomie“ (vgl. dazu Robert Spaemann, Die Unvollendbarkeit der Entfinalisierung, in: Finalité et Intentionnalité: doctrine thomiste et perspectives modernes, Actes du Colloque de Louvain-la-Neuve et Louvain 21–23 mai 1990, hrsg. von S. J. Follon/J. McEvoy, Paris u. a.: Éditions de l’Institut Supérieur de Philosophie ­Louvain-la-Neuve, 1992, 305–324) und (2) durch eine bloß nominalistische Ersetzung der in der essentialistischen Philosophie der Scholastik bis Marx vorhandenen guten oder fortschrittlichen Ziele durch modernere Ziele wie „Erhöhung von Komplexität“, „Nuzenmaximierung“, „Vorteil“ oder „Problemlösung“. All diese sind irreduktibel teleologische Begriffe. 167Die Bezeichnung einer Gründungserzählung als Mythos setzt ihre Falschheit begrifflich voraus. Für viele Erzählungen dürfte dieses anthropologische Vokabular aber eine unangemessene Deutung des Selbstwissens älterer Gesellschaften darstellen, das keineswegs alleine in falschen oder naiven Sätzen bestand. Mythologien liefern zu einem erheblichen Teil wahres Wissen über die Welt und die Menschheit. Siehe nur das grandiöse Werk Bachofen, Das Mutterrecht.

2.5  Zu der teleologischen Vernunft der Natur und ihrer Entdeckung

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zu „Erhöhung von Komplexität“ im Einzelfall variieren, ohne jedoch den teleologischen Charakter der Deutung und des gedeuteten Sachverhaltes zu ändern. Die historische Entstehung und tausendjährige Aufrechterhaltung eines kohärenten sittlichen Systems wie der Inzestvermeidung sind vernünftige Leistungen, die das Schöpfungsvermögen (nicht aber das Erkenntnisvermögen) des Menschen weit überschreiten. Sie können nur durch die gezielte Mitwirkung der Vernunft der Natur herbeigeführt werden. Wenn die gesunde Aufrechterhaltung des Lebens gut ist – was in nur ausgeprägt nihilistischen ethischen Systemen verneint wird – und seine Entstehung durch die Natur kausalteleologisch herbeigeführt wurde, enthält die Natur das Gute. Ist Gesundheit ein Zweck, der zur Entstehung ganzer Normenkomplexe überhaupt kausal führte und um dessentwillen diverse Normenkomplexe auch gegenwärtig erhalten werden, so handelt es sich um ein natürliches τέλος. Ist Gesundheitspflege kein grundloses Sollen und bestanden ihre Gründe vor der jeweiligen Entdeckung dieser Gründe, so enthält die Natur bereits dieses begründete Sollen. Daraus ergeben sich Verbindungen von Recht und Ontologie, Sein und Sollen, Teleologie und Deontologie, theoretischer und praktischer Philosophie. Die Leugnung dieser Verknüpfungen impliziert die Leugnung der Wirklichkeit der Zeit und der Naturgeschichte. Die Wirklichkeit der Teleologie der Natur zwingt also – im Gegensatz zur These, nach der die historischen und soziologischen Faktoren des Rechts aus dem Aufgabengebiet der Rechtsontologie ausgeschlossen werden müssten168 – zur Einbeziehung von Ursachen und Zwecken in die rechtsontologische Überlegung. Die Ursachen des Rechts könnten nur dann aus einer Rechtsontologie ausgeschlossen werden, wenn sie bloß zufällige Ereignisse bar jeglicher Logik und ethischer Vernünftigkeit wären. In moderner Terminologie hat der hier verwendete weite Ontologiebegriff zur Folge, dass Rechtsontologie sowohl das Sein als auch das „Seiende“ des Rechts zum Gegenstand haben muss. Somit erübrigt sich eine Trennung von Ontologie einerseits (i. S. der Lehre des Seins des Rechts) und „Ontik“ andererseits (i. S. der Lehre des Rechts als Seiendes).169 168Siehe in Anschluss an die Phänomenologie von Edmund Husserl und Werner Maihofer Yunho Seo, Rechtsontologie und Hegels Rechtsbegriff. Zur Rekonstruktion der Rechtsontologie im Hegelschen Rechtsverständnis als Anerkennung, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 2004, S. 64. 169Eine solche Trennung beibehaltend und in Anschluss an die phänomenologische Denktradition Seo, Rechtsontologie und Hegels Rechtsbegriff, S. 64–69, 85–88, 91–94. In Anschluss an Heidegger auch Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur des Rechts (1962). in: Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt am Main: Athenäum-Verlag, 1972, S. 115 ff.

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2  Ontologie des Naturrechts

2.6 Umgangsformen mit vergangener Normativität 2.6.1 Der Aktualismus 2.6.1.1 Beispiel: Recht als vernünftige Einsehbarkeit Man könnte einwenden, dass die Annahme vielfacher konstruktionsunabhängiger normativer Zusammenhänge und nichtmaterieller Entitäten einen groben Verstoß gegen das „moderne wissenschaftliche Weltbild“ darstellt, deswegen erkenntnistheoretisch bedenklich ist und praktisch-philosophisch sich nicht auf der Höhe eines „postmetaphysischen Begründungsniveaus“170 befindet. Unter modernwissenschaftlichen und postmetaphysischen Prämissen seien Abstraktionen wie Recht und Grund nicht als an sich seiende Entitäten plausibel, sondern nur als menschliche Konstrukte. Für die Beurteilung der vergangenen normativen Lage müsse nicht ein Naturrecht angenommen werden. Denkbar wäre, dass auch die angemessenen Gründe des Inzestverbotes, wenn sie überhaupt angemessen sind, von den damaligen Teilnehmern der Rechtspraxis aufgrund unserer (vergangenen und heutigen) gemeinsamen vernünftigen Natur eigentlich hätten eingesehen werden können, wenn sie in Anspruch genommen worden wären, und dass eine solche normative, kontrafaktische Unterstellung es ist, die den eigentlichen Kern der Normativität ausmacht und zugleich eine ausreichende und nichtnaturrechtliche Begründung des Inzestverbotes oder womöglich einer Inzesterlaubnis liefern könnte, die nicht wiederum in die Legitimierung von offensichtlich falschen totemistischen Gründen einmündete. Dann wäre eine Lösung der Inzestproblematik samt einer plausiblen Begründung erkenntnistheoretisch plausibel und nichtmetaphysisch begründet, und zwar als Möglichkeit der Einsicht aller Betroffenen oder als eine Norm, die etwa in einer angemessen informierten

170Zur näheren Kennzeichnung des dem Anspruch nach „postmetaphysischen“, „posttraditionalen“ und „postkonventionellen“ Begründungsniveaus siehe Jürgen Habermas: „Auf der Höhe des posttraditionalen Begründungsniveaus bildet der Einzelne ein prinzipiengeleitetes Moralbewußtsein aus und orientiert sein Handeln an der Idee der Selbstbestimmung. … Ohne Rückendeckung durch kritikfeste religiöse oder metaphysische Weltbilder sind praktische Orientierungen letzlich nur noch aus Argumentationen, d. h. aus den Reflexionsformen kommunikativen Handelns selber zu gewinnen“ (Habermas, Faktizität und Geltung, S. 127; siehe auch 135, 145). Vgl. auch Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 337.

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

117

„idealen Sprechsituation“171 hätte Zustimmung erlangen können. Sowohl das Inzestverbot als auch die Gesundheitserhaltung vergangener Stämme als Normgrund wären dann weder dem Sein des Naturrechts noch dem Sein ihres positiven Rechts zu verdanken, ja nicht einmal der tatsächlichen Einsicht der Teilnehmer der normativen Praxis, sondern als Ergebnis ihrer potenziellen Einsichtsfähigkeit oder der „rationalen Akzeptabilität“172 der Gründe.

2.6.1.2 Implizites Naturrecht Aber wie wäre eine solche Möglichkeit zu verstehen? Die raumzeitliche Potenz könnte es nicht sein, denn, wie bereits ausgeführt, die Praxisteilnehmer hätten die gesundheitlichen Vorteile des Inzestverbotes aufgrund ihres rückständigen Wissenschaftsniveaus nicht einmal kennen können. Die diskursive Erhebung eines Geltungsanspruches in diesem Sinne wäre raumzeitlich nicht möglich gewesen. Die Möglichkeit der Akzeptanz der richtigen Gründe war folglich rein logisch-akzidentell und somit nicht potenziell. Dass zwar die logische Möglichkeit der Akzeptanz dieser Gründe, also die Akzidenz, in der Tat bestand und besteht, beweist nichts anderes als die Wirklichkeit ihrer Inanspruchnahme in nicht so alten, aber vergangenen und auch in gegenwärtigen Gesellschaften. Aus dem Bestehen von Akzidenzien folgt jedoch nicht die Möglichkeit ihrer Verwirklichung durch bestimmte Menschen und unter bestimmten Umständen (Potenz).173 Die Möglichkeit des spezifischen Wissens über die gesundheitlichen Nachteile der Endogamie gehört ja nicht zum Wesen des Menschen qua Menschen: Sie ist nicht wesentlich, sondern akzidentell. Jedenfalls hätte sogar ein idealer Konsens im Rahmen der gegebenen raumzeitlichen Möglichkeiten vielmehr die Berechtigung des Inzestverbotes aus totemistischen Gründen als Ergebnis gehabt, denn diese war die einzig tatsächlich akzeptierte und potenziell akzeptierbare Ansicht. Somit hätte selbst der Versuch eines detranszendentalisierenden Ausschlusses des metaphysisch gegebenen Berechtigungsgrundes eher zur Legitimierung des Totems als richtigen Rechts geführt.

171Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, hrsg. von H. Fahrenbach, Pfullingen: Neske, 1973, 211–265; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 155 ff. 172Habermas, Faktizität und Geltung, S. 133. Demnach wären gültig „genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“ (ders., S. 138). 173Über den Unterschied von Akzidenz und Potenz siehe oben, Abschn. 2.3.2.1.2.

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2  Ontologie des Naturrechts

Woher stammen die Ideen der rationalen Akzeptabilität, der ideellen Einsichtsfähigkeit aller betroffenen Individuen als Legitimationskriterium für verbindliches Recht? Jedenfalls nicht aus der altmythologischen und totemistischen Praxis. Sie wurden historisch u. a. im Kontext des westlichen politischen Liberalismus formuliert und sind der betrachteten Praxis zeitlich nachträglich. Um den Widerspruch des Bedingungskonstruktivismus zu vermeiden, der in der rückwirkenden Konstruktion von Verhaltensnormen, ihrer Berechtigung und ihren Gründen bestünde, müssten die Berechtigungsgründe aber als viel ältere Kriterien angesehen werden, die bereits vor ihrer modernen Verlautbarung und trotz der Nichtanerkennung und des Nichtanerkennenkönnens in der früheren Gesellschaft galten. Dies wäre aber nichts anderes als ein Naturrecht. Die vermeintlich postmetaphysische Kritik, die die Geltung dieser Kriterien in der vergangenen Gesellschaft annimmt, begeht somit einen Aktualismus, also den Anspruch, die vergangene Normativität durch die heutige anhand kontrafaktischer und kontrapotenzieller Unterstellungen ersetzen zu wollen. Im Denkregime des Aktualismus wird die logische Möglichkeit, die Akzidenz, für die einzig bestehende Möglichkeit gehalten. Es hypostasiert die Akzidenz zur Potenz oder ignoriert diese. Moderne (etwa methodenindividualistische und liberalpolitische) Ansichten sind aber keine Alternativen zum Naturrecht, wenn sie für die Kritik vergangener Rechtspraxen kontrafaktisch und kontrapotenziell angeführt werden. Kohärenterweise lassen sich naturrechtsverneinende Rechtskonzeptionen nur unter Verzicht auf kontrafaktische und kontrapotenzielle Vergangenheitsanalysen vertreten.

2.6.2 Der Kontextualismus 2.6.2.1 Recht als soziale Konstruktion Man könnte die Inkohärenzen und Anachronismen des Aktualismus dadurch zu vermeiden trachten, dass auf kontrafaktische Unterstellungen in Bezug auf die Geltung von Normen in vergangenen Gesellschaften überhaupt verzichtet und als Recht nur das angesehen würde, was die jeweilige Menschengruppe als Recht und aus den jeweils anerkannten Gründen ansah. Nach dieser häufig angestrebten Detranszendentalisierungsmöglichkeit stünde die Berechtigung von Verhalten und Normen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft nicht für die nachträgliche Kritik in Frage, sondern höchstens die Berechtigung ihrer Übernahme in der nachträglichen Rechtspraxis. So könnte die Analyse einer vergangenen Rechtsordnung zwar Wertungen beinhalten, die im Modus einer Seinsaussage formuliert werden

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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(etwa „die Sklaverei war ungerecht“), aber diese Wertungen wären ausschließlich als Handlungsanweisungen bzw. Vorschläge für den weiteren Verlauf der gegenwärtigen Praxis zu verstehen. Denn die Vergangenheit kann, wie jedes physische, organische oder soziale Faktum, als gut oder schlecht, erhaltenswert oder verwerflich bewertet werden, ohne dass damit Verhaltensregeln formuliert oder impliziert würden.174 Jedenfalls würde ein Satz wie beispielsweise „die Sklaverei war ungerecht“ höchstens soviel bedeuten wie „wir sollen von nun an Sklaverei nicht betreiben“. Die so umrissene Alternative entspricht der These des Rechts als ausschließlich sozialer Tatsache, einem Sozialpositivismus. Die vergangene soziale Praxis würde demnach sowohl den Rechtscharakter ihrer Normen als auch den Rechtsbegriff überhaupt von sich heraus und für sich selbst schaffen, und zwar unabhängig von den normativen Meinungen nachträglicher Subjekte. Das in der vergangenen Gesellschaft geltende Recht wäre etwa nicht unbedingt als eine ausdifferenzierte normative Ordnung nach modernem demokratischem, rechtstaatlichem und grundrechtsbasiertem Vorbild zu verstehen,175 sondern die Bestimmung des Rechtsbegriffs selbst wäre eine soziale Konstruktion der jeweiligen Menschengruppe, für die das Recht gilt. Dies müsste kohärenterweise nicht nur für fern in der Vergangenheit liegenden Gesellschaften gelten, sondern auch für moderne und komplexe vergangene Rechtsordnungen des 20. Jahrhunderts, die etwa militärisch oder sozialistisch organisiert waren: Wenn das Recht ein ausschließlich soziales Konstrukt derjenigen Gesellschaft ist, für die es gilt, kann der Rechtscharakter der jeweils geltenden Normen nicht auf Basis nachträglicher Wertungen und Begriffskonstruktionen geschehen, denn dies verfiele unvermeidlich entweder in einen Anachronismus oder in ein Naturrecht. Die

174Damit geschieht aber eine Reduktion der Bedeutung von Präteritumssätzen, was oben (Abschn. 2.2.2) und unten (Abschn.  3.4.2) als „Vorwärtsreduktion“ bezeichnet und kritisiert wird. Siehe beispielsweise die Idee der „Persuasivdefinition“ bei Stevenson. Vgl. dazu Ulfrid Neumann, Die Rolle von Recht, Gesellschaft und Politik bei der Verarbeitung von ‚Unrechtssystemen‘, in: Transitional justice, Das Problem gerechter strafrechtlicher Vergangenheitsbewältigung, hrsg. von U. Neumann/C. Prittwitz/P. Abrão/L. Joppert Swensson Jr/M. D. Torelly, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 2013, 39–52, S. 49–51; Ulfrid Neumann, Das Problem der Rechtsgeltung (2007). in: Recht als Struktur und Argumentation. Beiträge zur Theorie des Rechts und zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, Baden-Baden: Nomos, 2008, 224–240, S. 239. 175So z. B. der Kontextualismus („Rechtsrealismus“ in uneigentlichem Sinne – siehe dazu unten, Abschn. 3.8) von Brian Z. Tamanaha, A Realistic Theory of Law, Cambridge: Cambridge UP, 2017, S. 82–117.

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2  Ontologie des Naturrechts

Größe der Zeitentfernung spielt dabei keine Rolle.176 Kontextualistisch gesehen ist es also am wichtigsten, dass für die Herausbildung des Rechtscharakters einzelner Normen und des Rechtsbegriffs insgesamt, der für eine Gesellschaft gilt, nicht hypothetische oder ideale, sondern nur tatsächlich stattgefundene Anerkennungen zählen, woraus folgt, dass es keine universellen Wahrheiten über das Recht gäbe, die durch die Teilnehmer dieser Praxis oder nachträglich entdeckt werden könnten.177 Für die spezifische Inzestproblematik hieße es: Wir können den Inzest für gegenwärtige und zukünftige Fälle verbieten oder erlauben; dass der Inzest aber in den vergangenen Menschengruppen verboten war, dem Recht für sie aus ihren Gründen entsprach und bereits deswegen das geltende Recht war, gehöre zu vergangenen sozialen Tatsachen und stehe dementsprechend nicht zur Verfügung heutigen Konstruierens.

2.6.2.2 Implizite Rechtsnatur Ein so gefasster Kontextualismus wäre jedoch eigentlich keine Detrans­ zendentalisierung des Rechts. Das den inzestuösen Beischlaf begangene Individuum könnte ja unterschiedliche Interpretationen des in der Gesellschaft

176Zurecht Neumann, Die Rolle von Recht, Gesellschaft und Politik bei der Verarbeitung von ‚Unrechtssystemen‘, S. 50. 177Exemplarisch: „Law is neither mind-independent nor fixed by the laws of nature, but rather is socially constructed through the meaningful actions of humans. Law is a folk concept that comes in several variations tied to institutions that have changed over time“ (Brian Z. Tamanaha, Necessary and Universal Truths about Law?, Ratio Juris 30, 1/2017, 3–24, S. 5). „Law (and translations thereof) is whatever social groups conventionally attach the label ‚law‘ to“ (Tamanaha, A Realistic Theory of Law, S. 194). „So, wie Zeit aber nur wirklich ist in konkreten, qualitativ unterschiedlichen zeitlichen Ereignissen, so gilt Recht nur in rechtlichen Ereignissen und d. h. in der konkreten Anerkennung in einer konkreten Rechtsordnung. … Nicht weniger als die Abstraktheit der Zeit ist die Zeitlosigkeit des Naturrechts ein zeitlich auftretendes Produkt der Ideengeschichte“ (Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, S. 389). Kritisch über den dadurch implizierten Historizismus siehe Leo Strauss: „The thesis that right and justice are conventional meant that right and justice have no basis in nature, that they are ultimately against nature, and that they have their ground in arbitrary decisions, explicit or implicit, of communities: they have no basis but some kind of agreement, and agreement may produce peace but it cannot produce truth. … History teaches us that a given view has been abandoned in favor of another view by all men, or by all competent men, or perhaps only by the most vocal men; it does not teach us whether the change was sound or whether the rejected view deserved to be rejected“ (Strauss, Natural right and history, S. 11, 19).

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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herrschenden Totems haben und daher der Meinung sein, dass der Inzest in seinem konkreten Fall trotz mehrheitlicher Anerkennung und Anordnung des Gegenteils zulässig ist. Es könnte zudem eine Sekte innerhalb des Stammes geben, die eine Mindermeinung vertritt. Angesichts der widersprüchlichen Anerkennungen von Regeln seitens verschiedener Praxisteilnehmer muss der Kontextualismus ein Kriterium voraussetzen, wonach die einen Überzeugungen für die Ausgestaltung des Rechtsbegriffs gegenüber den anderen überwiegen, also dass die eine Gruppe es ist, die allein für die Ausgestaltung des Rechtsbegriffs zuständig ist, während die anderen Individuen und Gruppen, die gegensätzliche Auffassungen über das Recht vertreten, nicht für die Ausgestaltung des eigentlich geltenden Rechtsbegriffs zählen. Eine Möglichkeit wäre es, Autoritäten wie Orakel, Geistlichen, Stammväter, Richter oder Beamte zu identifizieren, deren Ansichten bzw. Anerkennungen maßgeblich für die Ausgestaltung des in der Gesellschaft geltenden Rechtbegriffs sind. Weitere Kriterien wären denkbar; sie würden aber auf dieselbe Problematik hinauslaufen: Die Feststellung der gesellschaftlichen Anerkennung von Normen als Rechtsnormen durch das Mittel der Sprachgebrauchsanalyse, etwa indem eine empirische Forschung über den Sprachgebrauch des Wortes Recht vorgenommen würde, könnte ebenso wenig auf ein praxistranszendierendes Kriterium verzichten, denn selbst mit einer solchen Methode wäre die Bestimmung des Rechtsbegriffs keine bloße Sprachsoziologie, die etwa die Verwendungsweise des Lautes oder Zeichens Recht in einer Sprachgemeinschaft rein statistisch mäße und dadurch auf das Recht schlösse, sondern es müssten zusätzliche Kriterien wie angemessene Sprachverwendung, ordinary language,178 nichtspielerische Sprachverwendung usw. festgelegt werden, die allein für die Gestaltung des Begriffs zählen.179 All diese

178„A conceptialisation of law according to ordinary language could hardly suffice to delineate the concept of law for a legal system. For this purpose, one needs to know more than what is simply called “law”. … It might, quite by accident, turn out that the established meaning of “law” in ordinary language accords with the proper concept of law. But this would be a lucky conicidence. The established usage of the word ‚law‘ could also be too narrow on certain occasions, when it overlooks certain phenomena that belong to the law, or too broad, when it includes some instances in which the concept “law” is used misleadingly“ (Lorenz Kähler, What Constitutes the Concept of Law? Potentialism as a Position Beyond Positivism and Natural Law Theory, in: Law and Morals, hrsg. von A. Ferreira Leite de Paula/A. Santacoloma Santacoloma, Stuttgart: Franz Steiner, ARSP Beiheft 158, 2019, 195–217, S. 201). 179„Jurisprudence, like other social sciences, aspires to be more than a conjunction of lexicography with local history, or even than a juxtaposition of all lexicographies conjoined with all local histories“ (John Finnis, Natural law and natural rights, Oxford: Clarendon Press, 1989, S. 4). „To have translated ‘law’ as ‘droit’ or ‘Recht’ or anything else, one

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2  Ontologie des Naturrechts

Kriterien, die für die Bestimmung des in der beobachteten Gesellschaft geltenden Rechts maßgeblich sind, stammen aber nicht aus ihr selbst. Selbst wenn man einen radikal pluralistischen Rechtsbegriff formulierte, nach dem mehrere gegensätzliche normative Überzeugungen dem Recht entsprechen könnten, verschöbe man das Problem nur um eine Abstraktionsebene weiter, denn das damit gebildete Rechtsbegriffsmerkmal (das Recht sei eine Menge gegensätzlicher Ansichten) wäre ebenso wenig in der jeweiligen Rechtspraxis als solches anerkannt gewesen, sondern jede Gruppierung hätte Absolutheitsansprüche auf die Richtigkeit der eigenen Ansicht. Eigentlich stammen die genannten Rechtsbegriffsmerkmale überwiegend aus der westlichen Philosophie seit dem 19. Jahrhundert und wären auf die vergangenen Rechtspraxen rückwirkend angewandt. Solche Kriterien sind zwar kein Naturrecht, aber deuten auf eine Rechtsnatur hin, nämlich auf das, was in einer Gemeinschaft unabhängig von ihrer Anerkennung der Fall sein muss, damit sie eine Normenordnung rechtlichen Typus haben kann.180

must already have mapped word to idea; one must already know that there is a common something to which these diverse words and their cognates refer“ (John Gardner, Law as a Leap of Faith, Oxford: Oxford UP, 2012, S. 298). Rechtspositivistisch: „Daß der Rechtspositivist durch seinen Rechtsbegriff nicht das Sozialverhalten der Bürger beeinflussen möchte, bedeutet allerdings nicht, daß er mit diesem Rechtsbegriff lediglich das Ziel verfolge, einen unter den Bürgern faktisch herrschenden Sprachgebrauch kritiklos wiederzugeben“ (Norbert Hoerster, Die rechtsphilosophische Lehre vom Rechtsbegriff, JuS, 3/1987, 181–188, S. 187). „Il faudra en effet d’abord déterminer la référence de droit dans le discours des acteurs car autrement il ne sera pas possible de déterminer les occurrences pertinentes du discours. Ces critères ne pourront pas être purement phonétiques (quelqu’un prononce les sons droit), car il s’agit bien de savoir s’il y a usage du concept (la référence de droit pourrait être une direction, une vertu morale ou autre chose encore) » (Otto Pfersmann, Contre le néo-réalisme juridique. Pour un débat sur l’interprétation, Revue française de droit constitutionnel 52, 4/2002, 789–836, S. 821). 180In Auseinandersetzung mit H. L. A. Harts „internal point of view“ ausführlich Bebhinn Donnelly: „Yet to answer the question ‘which community/sub-community counts for the purposes of my explanation of law?’ takes the theorist outside the linguistic community, into a consideration of: ‘Which community’s perspective is the right one?’; ‘Which has the better interpretation of the concept of law?; ‘Who counts as an expert?’; or imperialistically: ‘Which community does have access to law itself?’ To answer these questions requires an existing concept of law independent of the communities’ respective

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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So kann der Kontextualismus, dessen Sinn eben in der Vermeidung von Anachronismen liegt, das Naturrecht doch nur vermittelst einer anachronischen Anwendung des Rechtsbegriffs ausschließen. Denn: Woher stammt die Definition, Recht sei ausschließlich das, was die jeweilige Gesellschaft als

concepts; if I decide that the view of group Y is to count, I must have an idea of law in mind in order to determine that it is indeed law that this group’s view is a view of and not ‘law’ that other groups’ views are views of. At a more basic level, the criterial explanation thesis reveals commitment to the claim that the beliefs of a given community do in fact determine the matter of what counts as a concept. In reality, the fact that beliefs may be shared of itself discloses nothing about the relationship between those shared beliefs and the nature of concepts. Rather, from faith in the view that ‘law’ is law as a social practice, the internality of officials is established, and, reflexively from commitment to the view that officials in the system, therefore, occupy an epistemologically privileged position the field of inquiry of law as a social practice inevitably gains supremacy. Even if it is granted to be demonstrably true that the internal point of view is superior to any other, it may be asked: ‘in virtue of what is the view of officials in the system the internal (or most internal) viewpoint to law?’ At this point circular reasoning appears unavoidable, for the answer seems irresistibly: ‘it is law that this point of view is a point of view of.’ To know that this is law is to identify law already. The ‘prior’ identification will be evidence of pretheoretical conceptual commitment (or choices made in respect of what is important about law) and ought merely to be acknowledged rather than avoided. The problem with the passage is not the prominence given to the practical point of view but the suggestion that the relevant practical point of view is identifiable by reference to those whose decisions constitute the subject matter of law when that subject matter is to be itself identified from the point of view. In other words, to know that it is law that is the subject matter of this practical point of view and to know that these ‘decisions’ and ‘activities’ create or constitute law is to know and to identify law prior to the identification of viewpoint“ (Bebhinn Donnelly, A Natural Law Approach to Normativity, Hampshire: Ashgate, 2007, S. 150 f.). Für eine Kritik der Anerkennung durch Autoritäten als Kriterium für das Bestehen eines rechtlichen Sollens siehe auch Hans Kelsen: „Nur scheinbar ein Kriterium liefert, wer als Erkenntnisgrund dafür, daß etwas g e s o l l t ist, angibt, es stamme von der kompetenten Autorität. Denn dann ist die Frage zu beantworten, woran die Autorität zu erkennen sei; und die Antwort darauf kann nicht anders lauten, als: an der Fähigkeit, zu verpflichten, Normen zu setzen, ein Sollen zu statuieren. Damit ist aber der circulus vitiosus geschlossen“ (Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Aalen: Scientia Aalen, 1923 (Neudruck 1960), S. 71). Für eine Kritik der Anerkennung durch Experten als Kriterium für die Festlegung des Rechtsbegriffs siehe Lorenz Kähler: „Once again, it is, at this point, not important to decide what precisely legal experts define as law of whether they agree at all. It is already, from the start, questionable that such an approach could deliver a proper concept of law. For, first of all, one would have to define who is to count as an expert in this regard. … The reference to experts in law p­ re-supposes an answer to the question of what the law actually is“, Kähler, What Constitutes the Concept of Law?, S. 203.

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2  Ontologie des Naturrechts

Recht konstruiert oder anerkennt? Jedenfalls nicht aus der altmythologischen Praxis, denn ältere Menschengruppen hatten womöglich überhaupt keine Rechtsdefinition im Bewusstsein und, wenn ja, eine ganz andere, meistens naturrechtliche. Wie ist die These zu verstehen, Recht sei das, was die jeweilige Gesellschaft als Recht konstituiert, wenn diese ausdrücklich besagt und weit und breit anerkennt, das Recht sei für alle Menschen (einschließlich zukünftiger) das, was Gott oder die Natur alle Lebewesen lehrt181? Dann stehen die Rechtsbegriffe vergangener Gesellschaften mit dem Rechtsbegriff von Rechtstheoretikern des 20. Jahrhunderts in einem chronologischen Widerspruch. Sie stellen einander gegensätzliche begriffliche Geltungsansprüche über Epochen hinweg. Beide Thesen beziehen sich auf die eigenen und die jeweils anderen Zeiträume und können für dieselben Zeiträume nicht wahr sein. Der kontextualistische Lösungsversuch, die Rechtskonstruktionszuständigkeiten egalitaristisch zu verteilen, indem für sie das Naturrecht und für uns das Recht als soziales Konstrukt gälte, scheitert aufgrund des unverrückbaren chronologischen Widerspruches der naturrechtlichen mit der kontextualistischen These. Das Naturrecht ist eben dasjenige, das überhaupt nicht sozial konstruiert ist; das Recht als soziales Konstrukt ist das, was nicht durch Gott oder die Natur gegeben ist. Denselben Widerspruch, nur mit anderem Vokabular, beginge der Lösungsansatz, demzufolge es unterschiedliche Rechtsbegriffe je nach Perspektive geben könne:182 die „interne Perspektive“ einer Gesellschaft könne ein naturrechtliches Geltungskriterium haben, während ein Beobachter aus einer „externen

181Siehe klassisch den Corpus Iuris Civilis: „Naturrecht ist das, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat. Denn dieses Recht ist nicht allein dem Menschengeschlecht eigen, sondern allen Lebewesen, die es in der Luft, auf dem Lande und im Wasser gibt. Hieraus leitet sich die Verbindung des männlichen Geschlechts mit dem weiblichen ab, die wir Menschen Ehe nennen, ebenso die Erzeugung und Erziehung der Kinder; wir sehen ja, daß auch die übrigen Lebewesen nach diesem danach eingeordnet werden, ob sie sich nach diesem recht verhalten“ (Institutionen, erstes Buch, zweiter Teil, caput, in: Behrends, Okko/Knütel, Rolf/Kupisch, Berthold/Seiler, Hans H. (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen. Text und Übersetzung, 3. Aufl., Heidelberg u. a.: C. F. Müller, 2007, S. 2). Damit soll nicht die unhistorische Verallgemeinerung angedeutet werden, dass alle vormoderne Gesellschaften das Naturrecht mit universeller und ewiger Geltung gedacht hätten. Dass es auch zyklisches Naturrechtsdenken wie etwa in der Antike gab, zeigt Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, S. 34–36 und 389. 182Exemplarisch Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 56. Einleitende Diskussion hierzu oben, Abschn. 1.2.2.

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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Perspektive“ das Recht als soziales Konstrukt der anderen beschreibe. Da der eine Rechtsbegriff dem anderen zumindest zum Teil in der eben genannten Weise widerspricht, können nicht beide Perspektiven wahr sein. Der chronologische Begriffswiderspruch betrifft schließlich jeglichen Versuch, den Rechtsbegriff als zugleich universell (d. h. in allen Zeiten geltend) und partikularistisch (als jeder Gesellschaft Konstrukt) zu verstehen. Derselbe chronologische Widerspruch wiederholt sich, obgleich innerhalb eines erheblich engeren Zeitraumes, wenn gesagt wird, Rechtsnormen oder das Recht überhaupt seien das, was die Judikative oder, allgemeiner, was legal officials aller oder einer bestimmten Art entscheiden, und zwar ab dem Zeitpunkt der Entscheidung, während der ausdrückliche Entscheidungsinhalt in vielen Fällen darin besteht, dass das vom Rechtsorgan für Recht Gehaltene erkannt wurde, dass es dementsprechend bereits vor dem Zeitpunkt der Entscheidung Recht war und dass etwa der Angeklagte bereits zum Zeitpunkt seiner strafrechtlich relevanten Tat – also vor der Eröffnung eines gerichtlichen Verfahrens und viel früher als die Entscheidung des Rechtsorgans – hätte anders handeln können und sollen, wobei vorausgesetzt und oft auch explizit gesagt wird, dass das Recht bereits vor dem Anerkennungsakt galt. Dann besagt die Anerkennungstheorie aus einer Beobachterperspektive, Recht sei das, was die Rechtsorgane als Recht anerkennen, während die Rechtsorgane aus einer Teilnehmerperspektive sagen, Recht sei existent und geltend auch vorher und ohne meine Anerkennung.183 Auch hier widersprechen die Perspektiven einander auf derselben begrifflichen Ebene und können nicht für dasselbe Recht in derselben Gesellschaft zutreffen. In all diesen Konstellationen wird auf gewisse Gesellschaften oder Sachverhalte ein Rechtsbegriff angewandt, der in ihnen sozial oder irgendwie anerkennend nicht vorkam: Das Recht sei dem Anspruch des Kontextualisten nach das, was die Gesellschaft als solches konstruiert, während das Recht dem Anspruch der beobachteten Gesellschaft nach überhaupt nicht konstruiert wird, sondern in der Vergangenheit und eventuell sogar in der Zukunft ohne ihre oder irgendjemandes Konstruktion gilt. Wessen Rechtsbegriff überwiegt? Das Problem der Richtigkeit oder Falschheit konkurrierender Rechtsbegriffe ist nur durch Widerlegung des Naturrechts oder des Kontextualismus zu lösen. Wenn die These des Naturrechts richtig ist, gilt ein das Naturrecht einschließender Rechtsbegriff für alle Gesellschaften aller Zeiten; wenn der Kontextualismus richtig ist, gilt ein das Naturrecht ausschließender Rechtsbegriff gleichfalls für alle Gesellschaften

183Für eine ausführliche Analyse und Kritik von Anerkennungstheorien im Recht siehe unten, Abschn. 3.4.1.

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aller Zeiten. Welcher Rechtsbegriff auch immer zutrifft, ist folglich eine Frage unausweichlicher Transzendenz, eine Frage der Entdeckung der Begriffsnatur des Rechts und somit der Rechtsnatur selbst. Der Kontextualismus ist also letztlich entweder (1) ein Aktualismus, nämlich ein Aktualismus des Rechtsbegriffs, der eine nachträglich entstandene Rechtskonzeption auf eine frühere Gesellschaft anachronisch anwendet, oder (2) er basiert – seiner Detranszendentalisierungsprogrammatik zuwider – auf der Annahme einer Rechtsnatur, die bereits zur Zeit früherer Gesellschaften galt, aber erst nachträglich entdeckt wird und daher mit der These der Sozialkonstruiertheit des Rechtsbegriffs unvereinbar ist. Im ersten Fall (1) fällt der Kontextualismus in den chronologischen Grundwiderspruch des Konstruktivismus, der diesbezüglich darin besteht, eine vergangene Gesellschaft im τ1 hätte ein ausschließlich sozial konstruiertes Recht, dessen Begriff allerdings im τ2 als Produkt der modernen westlichen Rechtsphilosophie entsteht. So finge etwas im τ1 erst im τ2 an, im τ1 der Fall zu sein. Im zweiten Fall (2) ist der Kontextualismus in sich selbst widersprüchlich, weil er einen Rechtsbegriff voraussetzt, der zugleich partikularistisch und universell ist: Der Rechtsbegriff selbst (und nicht nur das Recht) und seine Eigenschaften seien einerseits jeder Gesellschaft Konstrukt, andererseits sei für alle Gesellschaften aller Zeiten wahr, sie hätten einen Rechtsbegriff mit der universellen und unabänderlichen Eigenschaft, gesellschaftlich konstruiert zu sein.184 184Dieses Problem wurde zwar in der rechtstheoretischen Literatur identifiziert, aber nicht zur letzten Konsequenz geführt. Wenn beispielsweise einerseits gesagt wird, „the general theory of law is universal for it consists of claims about the nature of all law, and of all legal systems, and about the nature of adjudication, legislation, and legal reasoning, wherever they may be, and whatever they might be. Moreover, its claims, if true, are necessarily true. … the truth of the theses of the general theory of law is not contingent on existing political, social, economic or cultural conditions, institutions or practices“ (Joseph Raz, On the Nature of Law, ARSP 82, 1/1996, 1–25, S. 2), andererseits aber „the concept of law like all concepts is parochial in being the product of a specific culture“ (ders., S. 5), entsteht der oben genannte, unabweisbare chronologische Widerspruch. Siehe z. B. Tamanahas Erörterung: „parochial origin and conceptual and institutional change give rise to a paradox when combined with a claim of universal truth. Imagine a legal philosopher a millennium hence, whom we call Raz 3000. Let us assume that the prevailing concept of law evolves in the course of the intervening 1,000 years to gain a new essential feature. To offer one concrete possibility: Assume that, unlike today, in year 3000 the prevailing concept sees law as inherently morally right (label this “D”). Like Raz today, let us assume, Raz 3000 devises a general theory of law using the cultural concept of law prevailing at his time and place, correctly identifying law’s essential and necessary features. Raz today says the essential features of law are A, B, and C; whereas, Raz 3000 says the essential features of law are A, B, C, and D. Although both theories are necessarily and universally true (per Raz’s argument), when evaluated by the criteria of the other, each theory provides an incorrect account of the nature of law. Each theory of the nature of law is universally

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So wird explizit Immanenz vertreten, aber implizit und performativ Transzendenz vollzogen. true on its own terms and yet false according to the other“ (Tamanaha, Necessary and Universal Truths about Law?, S. 11). Ein ähnlicher chronologischer Widerspruch wird begangen, wenn Begriffe zweien „Dimensionen“, einer ideellen und einer konventionellen, zugerechnet werden, indem Begriffe als zugleich sozial konstruiert und als universell anwendbar angesehen werden. Eine solche Position wird beispielsweise von Robert Alexy (in Anschluss an Joseph Raz) vertreten, der einerseits behauptet, „to be sure, the genesis of concepts depends on culture. As products of a culture, concepts are socially established rules that concern the meaning of words. To this extent, concepts have a conventional character“, andererseits aber, „they are intrinsically related to the correctness or truth of the propositions constructed by means of them. This claim to adequacy necessarily connects the concept of a thing with its nature. … This is the non-conventional or ideal dimension of concepts“ (Robert Alexy, On the Concept and the Nature of Law, Ratio Juris 21, 3/2008, 281–299, S. 291). Eine solche Doppeldimension des Rechtsbegriffs ermöglicht keine widerspruchsfreie Antwort auf die Frage, ob eine achaische Gesellschaft eine Rechtsordnung schlichtweg besaß oder nicht, wenn sie zur Zeit ihrer Existenz keinen oder einen abweichenden Rechtsbegriff in ihrer sozialen Praxis entwickelte. Wenn ein Rechtsbegriff erst nachträglich als kulturelles Konstrukt einer zukünftigen Gesellschaft entsteht und rückwirkend angewandt wird, besaß die achaische Gesellschaft zur Zeit ihrer Existenz kein Recht; ihre normative Ordnung erhielte erst den Charakter des Rechts, wenn die zukünftige Gesellschaft diesen Begriff erfindet und sich auf die frühere Gesellschaft begrifflich bezieht oder beziehen könnte (Bedingungskonstruktivismus). Hätte die zukünftige Gesellschaft den Rechtsbegriff nie erfunden, so hätte die ältere Gesellschaft keine Rechtsordnung gehabt. Insoweit aber, als gesagt wird, der Rechtsbegriff hat eine universelle Natur (so die nicht konventionelle Dimension des Rechtsbegriffs nach Alexy) und diese bereits in der achaischen Gesellschaft der Fall war, besaß die Gesellschaft allerdings eine Rechtsordnung, die nachträglich nur begrifflich erkannt würde. So vermag die Theorie der Doppeldimension des Rechtsbegriffs keine einheitliche Antwort über das Vorhandensein des Rechts in einer Gesellschaft zu geben. Ob Recht vorkommt, hängt von der Dimension des Rechtsbegriffs ab, wobei die eine Dimension im konkreten Fall der anderen widersprechen kann. Im Gegensatz dazu muss gesagt werden: Es ist logisch notwendig, dass jede Gesellschaft eine Rechtsordnung schlichtweg entweder besitzt oder nicht besitzt; da die Tatsache, dass in einer Gesellschaft Recht vorkommt (oder nicht vorkommt), den Rechtsbegriff enthält, kann dieser kein der Gesellschaft nachträgliches soziales Konstrukt sein und von keiner Bedingung und keinem Grund abhängen, die erst nachträglich erfüllt werden. So setzen Naturrechtstheorie und Rechtspositivismus gleichermaßen eine unabänderliche Essenz des Rechts voraus (zurecht Kähler, What Constitutes the Concept of Law?, S. 214), denn die These der Änderbarkeit des Rechtsbegriffs im Laufe der Zeit (etwa: „the concept of law, and not just the law of the various legal systems, is subject to change“, ders., S. 215) fällt in die genannten Widersprüche des Kontextualismus. Wenn die Universalität des Rechtsbegriffs auf die normativen Gründe, die den Rechtsbegriff ausmachen, verlagert wird (so Kähler: „it is important to note that the normative reasons do not change, but merely their weight“, ders., S. 216), so ist die unabänderliche Essenz des Rechts impliziterweise durch andere Mittel behauptet.

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2.6.3 Zur Wirklichkeit von Begriffen 2.6.3.1 Nominalismus und Konzeptualismus als Modalitäten des Begriffskonstruktivismus Transzendenz als geistiger Bezug auf die atemporale Begriffsnatur wird im Rahmen der Problematik des Rechtsbegriffs nur exemplifiziert; sie ist darüber hinaus selbst allgemeiner Natur und betrifft gleichermaßen jeglichen Begriff, gleichgültig welchen Wissensgebietes, gleichgültig ob materielle oder immaterielle Dinge oder Eigenschaften betreffend. Siehe das Beispiel der in Verhalten, Normen und Gründen vorkommenden Begriffe: Vergangene Normen und Verhalten wie die Inzestvermeidung waren bereits in ihrem Zeitpunkt entweder berechtigt oder nicht berechtigt; die Berechtigung oder Nichtberechtigung hatte schon zu ihrer Zeit bestimmte Gründe; nicht nur die Normen und Verhalten selbst, sondern auch deren Gründe bestehen u. a. aus Begriffen. Wenn aber die in der Vergangenheit bestehenden Verhalten, Normen und Gründe nicht nachträglich konstruiert werden können, können die sie ausmachenden Begriffe ebenso wenig erst nachträglich konstruiert werden. Anders gewendet: Wenn nicht nur Normen, Verhalten und Berechtigungen, sondern auch Gründe einem nachträglichen Betrachter gegeben sind, müssen die sie ausmachenden Begriffe dem Betrachter auch vorherig sein. Wenn diese Gründe und die sie ausmachenden Begriffe aber nicht von den damaligen Menschen gedacht wurden, wie es bei den Gründen des Inzestverbotes der Fall ist, bestanden sowohl Gründe als auch die jeweiligen Begriffe vor ihrer Setzung durch Menschen. Wie könnten aber Begriffe vor ihrer menschlichen Konzeption gegeben sein? Ist der damit implizierte Begriffsrealismus nicht eine naive Projizierung der menschlichen Denkweise auf die Natur, eine Verdinglichung mentaler Prozesse ohne Korrespondenz mit der Wirklichkeit? Liegt ihm doch nicht ein Aktualismus zugrunde? Doch aus der Wirklichkeit der Zeit folgt auch die Wirklichkeit von Begriffen. Die gegenteilige Position, nämlich dass Begriffe ausschließlich menschliche (oder höherer Tiere) Konstrukte seien, wäre ein Begriffskonstruktivismus. Dieser kann zum einen besagen, dass die von menschlicher (individueller und kollektiver) Konstruktion unabhängige Wirklichkeit keine Dinge enthält, denn das wäre bereits eine begriffliche Abgrenzung zwischen etwas und etwas anderem, die nur von Menschen und ähnlichen denkenden Wesen wie einigen höheren Tieren

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v­orgenommen werden könnte.185 Wenn der menschlichen „Vernunft die reine Wesenheit der Dinge, wie ihr Unterschied, angehört, so könnte eigentlich überhaupt nicht mehr von Dingen die Rede sein.“186 Die Wirklichkeit wäre dann vor begrifflichen Konstruktionen und Bezügen entweder nur ein undifferenziertes Kontinuum, innerhalb dessen Menschen begriffliche Differenzierungen vornehmen187 oder ­vornehmen könnten188 (Kontinuumnominalismus), oder eine endliche oder 185Siehe beispielsweise den in der Rechtstheorie vertretenen radikalen Konstruktivismus auf Basis von Ernst von Glasersfelds und Alfred Schütz‘ Ansätzen: „Aus konstruktivistischer Sicht wäre das Verständnis eines Gegenstandes als eine Beziehungsbeschaffung seiner Wahrnehmung zu vorhandenen Typen innerhalb des eigenen Wissensvorrats anzusehen … Es geht klar um eine Gegenstands-Konstruktion, nicht um die Erkenntnis des Gegenstandes als solche. Denn von Typen werden nur bestimmte Aspekte des Gegenstandes eingefangen. Eine derartige Wahrnenhmung aufgrund von Typen führt zugleich zur Veränderung der vorhandenen Typen, somit des diesen zugrunde liegenden Interpretationsschemas des Subjektes“ (Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 341). Dies ist eine „konstruktivistische Grundannahme“ (aaO.). Versteht man Typen als Begriffe (ders., S. 373), so handelt es sich dabei um einen Begriffskonstruktivismus: Begriffe gibt es im Anschluss am radikalen Konstruktivismus nur als typisierende Konstruktionen des Subjektes und der Gesellschaft (aaO.); sie werden im Moment der Erkenntnis konstruiert und/oder geändert. 186So die hegelsche kritische Rekonstruktion des kantischen Idealismus, in dem das Ding an sich rein empiristisch verstanden, von Vernunft dualistisch getrennt wird und der somit Hegel zufolge in einen „absoluten Empirismus“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 182–185) bzw. „psychologischen Idealismus“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, S. 260) fällt. So auch der Skeptizismus aus bewusstseinsphilosophischer Sicht: „Die Unterschiede, welche im reinen Denken seiner selbst nur die Abstraktion der Unterschiede sind, werden hier [im Skeptizismus] zu allen Unterschieden und alles unterschiedene Sein zu einem Unterschiede des Selbstbewußtseins. Hierdurch hat sich das Tun des Skeptizismus überhaupt und die Weise desselben bestimmt“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 160). 187Zum Beispiel bei Friedrich Nietzsche: „Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie – in Wahrheit steht ein Kontinuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren“ (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Köln: Anaconda, 2009, § 112). „Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X“ (Nietzsche, in: Sarah Schreibenberger, Kommentar zu Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, Berlin: de Gruyter, 2016, S. 69 f.). 188Exemplarisch für diese Position: „Haltlos ist daher auch die Annahme einer ursprünglichen Verfassung von Objekten, wie sie unabhängig von unseren oder anderen erkennenden Zugängen wären. Denn diese Verfassung ist selbst eine Bestimmtheit, die nur aus der Möglichkeit von Bestimmungen gedacht werden kann. Hinter den Dingen und Prozessen, wie wir sie im Alltag und in der Wissenschaft mit Hilfe vielfältiger

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unendliche Menge von Atomen, also von unteilbaren Teilchen, mögen sie welche auch immer sein,189 die erst durch menschliche Vernunft zur Herausbildung einer von anderen abgegrenzten Sache verknüpft werden könnten (atomistischer Nominalismus).190 Zum anderen kann der Begriffskonstruktivismus besagen, dass die Wirklichkeit bereits zwar an sich individualisierte Dinge enthält, die allerdings untereinander nichts gemeinsam haben und daher keinen Begriff jenseits menschlicher Namenssetzung ergeben (Individuations- oder Einzeldingnominalismus). Nach dem Individuationsnominalismus existiert der Begriff als Terminus im Intellekt191 und zwar nur im Intellekt;192 es wird physisch anhand

Konstruktionen kennen, ist überhaupt nichts. An und von ihnen aber lässt – oder ließe – sich vieles Weitere erkennen; das ist alles“ (Seel, Sich bestimmen lassen, S. 122). 189Gemeint sind die kleinsten materiellen Entitäten, die vermutlich die physische Welt konstituieren, wenn es diese Partikeln überhaupt gibt. Vgl. John Dupré, The Disorder of Things. Metaphysical Foundations of the Disunity of Science, Cambridge, London: Harvard UP, 1993, S. 88. 190Zum Atomismus vgl. Demokrits Position: „Denn was behauptet Demokrit? [Er sagt,] in dem Leeren zerstreut bewegten sich Substanzen, der Zahl nach unendlich wie auch unteilbar und unterschiedslos und ohne Qualität und für Einwirkung unempfänglich; wenn sie sich einander näherten oder zusammenstießen oder verflöchten, so träten einige dieser Anhäufungen als Wasser, andere als Feuer, andere als Pflanze und wieder andere als Mensch in Erscheinung. Alles sei Atome (von ihm Gestalten genannt), und weiter [sei] nichts“ (Mansfeld, Jaap (Hrsg.), Die Vorsokratiker II. Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit. Griechisch/Deutsch, Stuttgart: Reclam, 1993, S. 281, zit. nach Plutarch). Die ontologische Position des Atomismus führt zur epistemologischen Position des Nominalismus: „Demokrit, der einen konventionellen Ursprung der Wörter behauptet, hat diesen mit vier Beweisen untermauert: (1) Aus der Gleichnamigkeit; denn verschiedene Sachen werden mit demselben Namen bezeichnet, also hat der Name keinen natürlichen Ursprung; (2) Aus der Vielnamigkeit; denn wenn verschiedene Namen sich auf denselben Gegenstand beziehen, sie sich auch aufeinander, das ausgeschlossen ist; (3) Aus der Namensänderung … (4) Aus dem Fehlen des Gleichen … Die Namen verdanken ihr Entstehen dem Zufall, nicht der Natur“ (ders., zit. nach Pasquali, aaO., S. 341). Zu einer starken Kritik am Atomismus vgl. David S. Oderberg, Real Essentialism, New York: Routledge, 2007, S. 64–66 und 269. 191„… quod est una forma, existens realiter in intellectu, dicitur singularis“ (Wilhelm von Ockham, Physikkommentar, SL I, 14, 5; S. 64). 192„Et tale universale non est nisi intentio animae ita, quod nulla substantia extra animam nec aliquod accidens extra animam est tale universale“ (Wilhelm von Ockham, Physikkommentar, SL I, 14, 6; S. 66).

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eines konventionell eingesetzten Zeichens193 repräsentiert, das nicht dem Abbild der Sache, sondern dem Verweis auf sie dient.194 Individuationsnominalistisch könnten beispielsweise auch soziale Tatsachen erfasst werden. Dann wären sie an sich individuiert (etwa ein „historisches Individuum“195) und müssten von Menschen der Verständlichkeit halber unter einen methodologisch konstruierten „Idealtypus“ gebracht werden, der allerdings nur erkenntnistheoretisch nützlich oder denknotwendig wäre, aber aufgrund seiner Allgemeinheit nichts in der an sich seienden Wirklichkeit entspräche und daher als ständige Fälschung der Wirklichkeit bezeichnet werden müsste.196 Eine letzte Möglichkeit wäre es, nichts über 193Wilhelm

von Ockham, Physikkommentar, SL I, 15, 13; S. 72. Wilhelm von Ockham verweist ein Terminus nicht auf etwas Gemeinsames zwischen Dingen, sondern es „supponiert“ für konkrete Dinge (Wilhelm von Ockham, Physikkommentar, SL I, 64; S. 90) und nicht für Universalien. Das bedeutet noch keinen Relativismus, denn Sätze könnten ihre Wahrheitsfähigkeit noch dadurch behalten, dass Subjekt und Prädikat für dasselbe Ding „supponierten“, das heißt, auf dasselbe verwiesen (ders., SL II, 2, 2; S. 98). Ockham bietet somit eine Version des Nominalismus, der zugleich ein erkenntnistheoretisch optimistischer Realismus ist und der die Individuation des Dinges voraussetzt; das heißt, das Ding wird nicht dadurch erst zu einem individuierten, von anderem abgegrenztem Ding dadurch, dass es in Bezug genommen wird, sondern es existiert und besitzt die Individuation auch ohne menschlichen Bezug oder Benennung. Durch die Namensgebung wird daher nicht das Ding konstruiert, sondern die Gemeinsamkeit bzw. Identität in gewisser Hinsicht zwischen verschiedenen Dingen, die unter denselben Terminus fallen, also der Begriff. Insofern ist Ockhams Nominalismus ein Begriffskonstruktivismus. Eine ältere Form eines solchen Begriffskonstruktivismus kann in der voluntaristischen Philosophie von Duns Scotus gesehen werden. Siehe Michel Villey, La formation de la pensée juridique moderne, 2. Aufl., Paris: Presses Universitaires de France, 2013, S. 202–219. 195Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. in: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, 5. Aufl., Stuttgart: Alfred Kröner, 1973, S. 220, 239. 196So z. B. Max Webers neukantianische Typenlehre: „Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem »Stoff selbst entnommen« werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt. … Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich … Er [der Idealtypus] wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und sinkret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends 194Bei

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Individualitäten und Universalien in der außermenschlichen Wirklichkeit auszusagen, das heißt, keine ontologische These über die den Menschen hinausgehende Wirklichkeit aufzustellen, sondern sich allein auf die menschliche Denktätigkeit im Bezug auf die vorgestellte Wirklichkeit zu beziehen. Demnach wären Begriffe nicht oder nicht nur sprachliche Entitäten, wie es im Nominalismus der Fall ist, sondern verdinglichte mentale Prozesse des Intellektes ohne oder mit ungewusster

in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie …“ (Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, S. 224, 234 f.). Philosophisch in diesem Sinne schon Wilhelm von Ockham. Dazu siehe Villeys Erörterung: „Mais alors ces « universels » – l’homme, le franciscain, le père? Pour Ockham, ils ne sont que des signes, des termes du langage, des noms, mais qui tiennent dans notre logique une fonction particulière: ils nous servent à « connoter » (c’est-à-dire à noter ensemble) plusieurs phénomènnes singuliers; … et donc les termes généraux ne signifient rien en eux-mêmes, rien qu’une connaissance imparfaite et partielle des individus“, Villey, La formation de la pensée juridique moderne, S. 226. So auch Friedrich Nietzsche: „die Natur des tierischen Bewusstseins bringt es mit sich, daß die Welt, deren wir bewußt werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt – daß alles, was bewußt wird, eben damit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Herden-Merkzeichen wird, daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist“ (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 354). In der Rechtstheorie und in Anschluss an Max Weber João Maurício Adeodato, Retórica realista e decisão jurídica, Revista de Direitos e Garantias Fundamentais 18, 1/2017, 15–40, S. 17: „Die Wissensfähigkeit als eine der der menschlichen ‚Vernunft‘ zugeschriebenen Bedeutungen hat in der Umwelt mit Generalisierungen zu tun, die sich in Bedeutendem und Bedeutetem unterteilen lassen. Die realen Ereignisse sind individuell und daher durch die Vernunft des Menschen unerkennbar, da sein Wissensakt notwendigerweise eine Abstraktion von den das reale Ereignis ausmachenden (und individualisierenden) kontingenten Elementen impliziert, das heißt, es ist eine Konstruktion der ‚Gattungen‘ oder ‚Klassen‘ von Individuen, die – in Ehrung Platons – als ‚ideal‘ bezeichnet werden können; dies allerdings ohne die von ihm vorgeschlagene ontologische Konnotation des Ausdruckes ‚Idee‘ (ίδέαι, idéai), nachträglich auch Form (εϊδη, eídê) bei Aristoteles“ (Übersetzung aus dem Original auf Portugiesisch: „A ‘faculdade de conhecer’, um dos sentidos atribuídos à ‘razão’ humana, enfrenta o mundo real circundante por meio de generalizações linguísticas que se dividem em significantes e significados. Os eventos reais são individuais e, por isso, inapreensíveis por essa razão do ser humano, vez que seu ato de conhecimento implica necessariamente uma abstração dos elementos contingentes que compõem (e individualizam) cada evento real, isto é, uma construção de ‘gêneros’ ou ‘classes’ de indivíduos, os quais, em homenagem a Platão, pode-se chamar de ‘ideais’; isso sem a conotação ontológica proposta por ele por meio da expressão ‘ideia’ (ίδέαι, idéai) e depois também por Aristóteles com o termo ‘forma’ (εϊδη, eídê).“

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Korrespondenz mit der Wirklichkeit (Konzeptualismus).197 Was die vier Versionen des Begriffskonstruktivismus vereint, ist die Idee, dass Begriffe den Setzungsakten intelligenter, raumzeitliche Positionen einbeziehender Wesen oder der Möglichkeit einer Setzung nicht vorherig sind, sondern erst dadurch Wirklichkeit erlangen, wenn überhaupt.

2.6.3.2 Begriff als Individuationsprinzip Aber Tatsachen enthalten Begriffe.198 Tatsache ist selbst ein Begriff; Tatsachen sind selbst individuiert und nicht anderen Tatsachen identisch. Jede Tatsache im Besonderen wie etwa „ein Dinosaurier trank Regenwasser“ ist zudem ein Zusammenhang. Zusammenhänge sind ebenso Begriffsverknüpfungen wie beispielsweise „x ist y“, „x verursachte y“ oder „x ereignete sich im Zeitraum y“, wobei x, y, „sein“, „verursachen“ usw. Begriffe sind. Wenn alle Tatsachen Begriffe enthalten, enthalten auch vergangene Tatsachen Begriffe. Folglich enthalten auch vergangene, vor der menschlichen Existenz und Erkenntnis bestehenden Tatsachen Begriffe. Wenn vergangene Tatsachen nicht konstruiert werden können, können die in ihnen enthaltenen Begriffe nicht konstruiert werden, denn eine nachträgliche Begriffskonstruktion führte zur rückwirkenden Konstruktion der Tatsachen. Angenommen sei eine Tatsache A, die die Begriffe x, y und z umfasst. Wenn in diesem Zeitpunkt kein Mensch existierte oder kein existierender Mensch die jeweiligen Begriffe jemals kannte oder dachte, können die in der Tatsache enthaltenen Begriffe nicht von Menschen konstruiert worden sein.199 Begriffe (oder

197Siehe

Dietmar von der Pfordtens Erörterung: „Akzeptiert man ein konzeptualistisches Verständnis von Begriffen, so muss man sie nicht als selbständige Dinge oder Tatsachen auffassen. Es genügt, geistige Prozesse mit differenzierender Qualität als begriffliche Leistungen anzusehen. Begriffe sind lediglich Verdinglichungen dieser geistigen Prozesse. In der gleichen Weise wie der Begriff Glück eine Verdinglichung der Beschreibung, glücklich zu sein, ist, ist ein Begriff im Allgemeinen eine Verdinglichung der Eigenschaft, repräsentierend zu verstehen. Das bedeutet: kein Begriff ohne repräsentierendes Verstehen“ (Dietmar von der Pfordten, Über Begriffe im Recht, ARSP 98, 4/2012, 439–456, S. 446). 198Erörterung hierzu im Weiteren und auch oben, Abschn. 2.3.2.5. 199Beispielsweise: „Man nimmt ein Wesen, zum Beispiel den Tyrannosaurus Rex (verstanden als biologischer Organismus), als einen linguistischen oder zoologischen Begriff, und man schließt, dass – da es in der Abwesenheit von Menschen das Wort « Tyrannosaurus Rex » nicht gäbe – der Tyrannosaurus Rex also « repräsentational » von den Menschen abhinge. … Es würde nämlich bedeuten, dass das Sein des Tyrannosaurus Rex von uns abhängt: als es den Tyrannosaurus Rex gab, gab es uns nicht, also gab es den Tyrannosaurus Rex nicht, als es den Tyrannosaurus Rex gab“ (Maurizio Ferraris, Was ist

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Formen200) unterliegen dem Werden nicht, da sie keine raumzeitlichen Dinge sind, die entstehen und vergehen, sondern Individuationsprinzipien, die vor, nach und zur gleichen Zeit der individualisierten Dinge bestehen müssen. Dies ist aus dem Folgenden ersichtlich: Die Entstehung eines Dinges im τ2 ist bereits im τ1 möglich (wobei selbst Notwendigkeit Möglichkeit impliziert: Was notwendig ist, ist auch möglich, denn es ist nicht unmöglich). Dass die Entstehung eines Dinges im τ2 bereits im τ1 möglich ist, ist eine Tatsache des τ1. Die Tatsache des τ1 enthält folglich bereits den Begriff des jeweiligen Dinges, woraus verallgemeinernd folgt, dass der Begriff eines jeglichen Dinges vor der Entstehung des Dinges bestehen muss.201 Wenn ein Ding zu gewissen Zeitpunkten

der neue Realismus?, in: Der Neue Realismus, hrsg. von M. Gabriel, Berlin: Suhrkamp, 2014, 52–75, S. 57). Ferraris (hier nur als Beispiel für viele anderen Ansätze ähnlicher Art) zieht allerdings aus dieser zutreffenden Kritik am Konstruktivismus den voreiligen Schluss, dass die erkenntnisunabhängige Welt, die von ihm genannte „Außenwelt“ oder „ω-Wirklichkeit“, außerhalb oder unabhängig von Begriffen überhaupt liege (ders., S. 60, 62f.; auch Maurizio Ferraris, Il Mondo esterno, Mailand: Bompiani, 2001, S. 140–143; in diesem Sinne auch Markus Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, 2. Aufl., Freiburg u. a.: Karl Alber, 2014, S. 77 f.), was letztlich zu einer Version des Nominalismus oder zumindest des Konzeptualismus führt, da die Welt an sich vor jeglicher subjektiven Begriffskonstruktion nicht schon begrifflich strukturiert wäre. Dies führt aber zu den vielen chronologischen Widersprüchen des Begriffskonstruktivismus, da „Tyrannosaurus Rex“, ferner auch „Fakten“, „Ereignisse“, „Dasein“, „Weltzustände“ (Gabriel, aaO., S. 78) und was auch immer vor menschlichen begrifflichen Bezügen besteht selbst begriffliche Abgrenzungen sind, die in vergangenen Tatsachen enthalten sind, was mit der These der Unbegrifflichkeit der menschenunabhängigen Wirklichkeit unvereinbar ist. Wenn schon zugegeben wird, dass die Natur an sich „strukturiert“ ist (Ferraris, aaO., S. 63) oder dass Tatsachen auch dann einen „Sinn“ haben, wenn sie von niemandem erkannt werden (Gabriel, Die Erkenntnis der Welt, S. 321–323), wäre zu fragen, wie eine vollkommen unbegriffliche Strukturierung, ein vollkommen unbegrifflicher Sinn oder unbegriffliches „Sinnfeld“ existieren könnten. 200In Anschluss an die aristotelische Formenlehre. Siehe Aristoteles, Metaphysik, 1033a–1034a, 1043b (Aristoteles, Metaphysik, Buch VIII, S. 192–194, 223). 201Das ist einer der Gründe, warum Aristoteles die Begriffe Begriff (εἶδος, μορϕή), Energie und Wirklichkeit (ἐνέργειᾰ) in nähester Verbindung miteinander, ja zum Teil als Synonyme behandelt. Siehe beispielsweise Aristoteles, Metaphysik, S. ­220-222, Buch VIII, 1042b–1043a; siehe auch S. 239 f., Buch IX, 1048a.

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vor seiner Existenz nicht möglich ist, etwa weil seine Entstehung menschliches Zutun verlangt und Menschen noch nicht oder nicht mehr existieren, besteht in den jeweiligen Zeitpunkten die Tatsache, dass das Ding nicht möglich ist, was ebenso eine Tatsache darstellt, die den Dingbegriff enthält. Möglichkeiten sind immer bestimmt (= Möglichkeiten von etwas Bestimmtem und nicht von etwas anderem [= bestimmte Negation202]) und daher begrifflich. Wenn das Ding im τ3 zu existieren aufhört, wird es im Zeitraum τ4–n ewig existiert haben. Das heißt, es wird in jedem Zeitpunkt nach τ3 die Tatsache bestehen, dass das Ding im τ3 bestand – eine geschichtliche Tatsache, die ebenso den Dingbegriff enthält. Dies nicht zuletzt deshalb, weil das Ding im τ3 kausal zur Existenz oder Eigenschaft irgendeines weiteren Dinges im τ4 beitrug, das wiederum kausal zu einem Ding im τ5 beitrug usw., wobei es zu jeder Zeit nach der Existenz des Dinges des τ3 die Tatsache bestehen wird, dass irgendetwas eine bestimmte Eigenschaft aufgrund der kausalen Wirkung des Dinges des τ3 besitzt, was ebenso eine Tatsache mit dem Dingbegriff des τ3 darstellt. Dies ist die Aktualität des Vergangenen. Folglich besteht der Begriff immer vor, nach und während der Existenz des Dinges, das ihn instanziiert. Die Beziehungen der Begriffe untereinander, die Tatsachen auf nichtwidersprüchliche Weise ergeben und sich in der Zeit als Bewegung entfalten, sind die Wirklichkeit des Denkens (νοῦς). Das Bestehen von Begriffen und logischen Verhältnissen im Menschen und auch unabhängig von menschlicher Setzung ist die Wirklichkeit der Logik (λόγος). Die vielen atomistischen und kontinuumnominalistischen Thesen der Begriffskonstruktion basieren auf einer Trennung von Logik, Begriff und Denken einerseits und Wirklichkeit andererseits, wobei die Wirklichkeit als Materie, Einzelding oder Kontinuum, jedenfalls als bloßer Inhalt ohne Denken verstanden wird, dem Form durch menschliches Denken zusätzlich zukommen mag oder nicht, je nachdem, ob ein Denkakt vollzogen wird, der den Inhalt zu einer begrifflichen Wirklichkeit macht. So erscheint einerseits der Inhalt als notwendig und gegeben, der Wirklichkeit angehörig, die Form andererseits entweder als kontingent oder als denknotwendig, jedenfalls aber als bloß ­hinzugedacht,

202Hegel,

Wissenschaft der Logik, Bd. I, Einleitung, S. 49 f.; Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 73 f.

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das heißt, der Wirklichkeit durch ein denkendes Wesen hinzugefügt (= transzendentale Asymmetrie203). So wären Sachen und Tatsachen, die zeitlich vor subjektiven Erfahrungen oder Bezügen der Fall sind, „vorbegrifflich“ oder „außerbegrifflich“204, bar jeglicher Form. Aber der Versuch, der Wirklichkeit an sich Begriffe (und damit auch Logik und Denken) abzusprechen, scheitert auch hier aufgrund eines internen Widerspruches: Der Atomismus und der Kontinuumnominalismus setzen zumindest den Materie- und den Kontinuumsbegriff jeweils voraus, um die vermeintlich vor- oder außerbegriffliche Wirklichkeit zu beschreiben oder als das zu denken, was ohne jegliches Denken oder Beschreibung überhaupt der Fall wäre. Der Individuationsnominalismus setzt zusätzlich den Dingbegriff voraus. Alle Nominalismen setzen noch den Wirklichkeitsbegriff voraus usw., woraus folgt, dass auch Nominalisten wider ihr Programm Begriffe voraussetzen, die der an sich seienden Wirklichkeit unabhängig von menschlicher Setzung gehören. Aus der zutreffenden Feststellung einerseits, dass die Wirklichkeit an sich begrifflich ist, das heißt, dass kein Inhalt ohne Form existieren kann und aus der allerdings falschen Annahme andererseits, dass Begriffe nur als menschliche Setzung existieren könnten, wuchs in der modernen Philosophie des Abendlandes die Vorstellung, dass alles, was existiert, in irgendeiner Korrelation mit menschlichen Bezugnahmen oder deren Möglichkeit existieren müsste (= Korrelationismus205). Dies entspricht dem subjektiven A-priori vieler moderner

203Terminus in erweiternder Anlehnung an Markus Gabriel, Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie, Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 175. „Kant hat in der Tat dafür argumentiert, dass unsere Bezugnahmen auf Gegenstände selbst kein Gegenstand der Bezugnahme (derselben Art) ist. Bezeichnen wir diese Annahme als transzendentale Asymmetrie. Der transzendentalen Asymmetrie zufolge hat die Bezugnahme auf die Welt einen Entzugscharakter: Die Welt entwischt jedem Versuch, sie neben objektstufigen Gegenständen anzuschauen“ (ders., S. 175 f.). In diesem Sinne schon die Kritik Hegels an Konzeptionen über die formale Logik, die Denken und Inhalt trennen, indem nur dem Inhalt und nicht dem Denken Wirklichkeit zugesprochen wird: „Der bisherige Begriff der Logik beruht auf der im gewöhnlichen Bewußtsein ein für allemal vorausgesetzten Trennung des Inhalts der Erkenntnis und der Form derselben, oder der Wahrheit und der Gewißheit. Es wird erstens vorausgesetzt, daß der Stoff des Erkennens als eine fertige Welt außerhalb des Denkens an und für sich vorhanden, daß das Denken für sich leer sei, als eine Form äußerlich zu jener Materie hinzutrete, sich damit erfülle, erst daran einen Inhalt gewinne und dadurch ein reales Erkennen werde“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Einleitung, S. 36). 204Z.

B. bei Ferraris, Il Mondo esterno, S. 100–102, in Anlehnung an Kant. eine eingehende Kennzeichnung des Korrelationismus siehe oben, Abschn. 2.1.3.

205Für

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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Philosophien.206 Der Korrelationismus scheitert aber u. a. aufgrund eines chronologischen Widerspruches: Wenn Gruppierungen von unteilbaren Teilchen (atomistischer Nominalismus) oder Abgrenzungen innerhalb eines Kontinuums (Kontinuumnominalismus) erst von Menschen vorgenommen würden, könnte es Atome und gruppierte Atome oder überhaupt Kontinuumsregionen zeitlich vor dem menschlichen Denkakt nicht geben. Folglich wäre jeglicher Bezug auf im τ1 bestehende Dinge widersprüchlich, denn Dinge würden als solche erst durch die menschliche begriffliche Bestimmung im τ2 konstituiert:207 Dinge des τ1 fängen erst im τ2 an, Dinge im τ1 zu sein. Wenn Dinge bereits individuiert sind und nur ihre Individuation (Begriff) nachträglich hergestellt würde (Individuationsnominalismus), hätten sie die Individuation zur Zeit ihrer Existenz nicht und wären daher widersprüchlicherweise nicht einmal Dinge zur Zeit ihrer Existenz. Die vielen Versionen des Nominalismus laufen daher zwangsläufig auf einen die Zeit brechenden Tatsachenkonstruktivismus hinaus: Wenn die Begriffe, die eine Tatsache ergeben, zeitlich nach den in der Tatsache involvierten Dingen geschaffen werden, gab es die Tatsache zur Zeit der Dinge nicht: Dinge der Vergangenheit, die im Zeitpunkt τ1 nicht zueinander verhielten, fangen im Zeitpunkt τ2 an, im τ1 zueinander zu verhalten.

206Paradigmatisch Kant: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner, 1956, S. 162a, A 111). Korrelationen von Ding und erfahrendem Subjekt, von cogito und cogitatum als „apriorische Wahrheiten“ exemplarisch auch bei und Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Buch 1, § 1, S. 32 und Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, § 48. 207In dem Konstruktivismus bzw. „pluralistischen, robusten Realismus“ von Hubert Dreyfus und Charles Taylor werden die wesentlichen Eigenschaften eines Dinges für kulturabhängig gehalten. Ihnenzufolge ist „das, was Gold wirklich ist, von den Praktiken der betreffenden Kultur abhängig“ (Hubert Dreyfus/Charles Taylor, Die Wiedergewinnung des Realismus, Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 281), was in einen widerspruchsvollen Wesenskonstruktivismus einmündet, denn (1) verschiedene Kulturen definieren die wesentlichen Eigenschaften des Goldes in unterschiedlicher, untereinander widersprüchlicher Weise; (2) dies führt zur paradoxen Behauptung, dass ein bestimmtes Ding Gold ist oder war und zugleich nicht ist oder nicht war; und zur Konsequenz, (3) natürliche (etwa geologische) Tatsachen, die vor dem Zustandekommen der jeweils verschiedenen Kulturen stattgefunden haben, enthielten Gold und enthielten Gold nicht. So setzt der pluralistische Realismus die konstruktive Leistung der Kultur über Logik und Verständlichkeit überhaupt.

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2  Ontologie des Naturrechts

2.6.3.3 Begriffssetzung als ontologische Tätigkeit Alle genannten Modalitäten des Nominalismus sind Epistemologien, die eine ganz bestimmte Ontologie voraussetzen, denn sie enthalten Thesen über die Beschaffenheit der unabhängig von menschlicher Begriffssetzung an sich seienden Wirklichkeit. Die unabhängig von Begriffssetzungen bestehende Ontologie besteht ihnen gemäß, wie bereits erläutert, (1) aus Materie, (2) aus einem Kontinuum oder (3) aus individualisierten Dingen. Der Konzeptualismus dagegen will keine ontologische These über die an sich seiende Wirklichkeit aufstellen. Durch den Verzicht auf Behauptungen über die jenseits menschlicher Begriffsgebung bestehende Wirklichkeit, das heißt, durch den Verzicht auf Behauptungen darüber, ob die Wirklichkeit aus Materie, Kontinuum, Einzeldingen oder was auch immer besteht, will die konzeptualistische Position keine ontologische These aufstellen, aber auch keine Widerlegung der ontologischen Thesen der Nominalismen und Realismen darstellen. Insofern ist der Konzeptualismus ein Agnostizismus, der sich des Urteils über die Beschaffenheit der an sich seienden Wirklichkeit enthalten will. Der Konzeptualismus scheitert jedoch an etwas anderem, nämlich daran, dass Thesen über Begriffssetzungen durch Subjekte auch ontologisch sind, das heißt, auch sie sind Thesen über die an sich seiende Wirklichkeit: Da die Begriffssetzung durch ein Ich eine Tätigkeit ist, gehört auch sie zur Wirklichkeit,208 denn Tätigkeit ist Wirklichkeit.209 Auch Subjekte sind wirklich. Somit geht auch der Konzeptualismus wider sein Programm von ontologischen Thesen aus. Diese ontologischen Thesen bezeichnen Tatsachen, nämlich die Tatsachen der vielen Vorgänge subjektiver Erfahrung und subjektiver Begriffssetzung. Tatsachen bestehen aber, wie bereits erörtert, aus Begriffen. Folglich enthalten die Tatsachen einer Begriffssetzung auch Begriffe, und zwar viele, wie zum Beispiel den Tatsachen- und den Seinsbegriff, den Quantitätsbegriff (denn durch die Begriffssetzung wird ein Begriff oder werden zwei oder drei oder vier usw. Begriffe gesetzt, folglich wird auch der Eins-, Zwei- … n-Begriff vorausgesetzt; da eins, zwei, drei usw. Zahlen sind, wird auch der Zahlbegriff vorausgesetzt), den Qualitätsbegriff (denn das eine Ich unterscheidet sich von anderen Ichs, das Ich unterscheidet sich von seiner Tätigkeit usw., wobei Unterschiede überhaupt die Verschiedenheit von Qualitäten sind), den Ichbegriff (denn es ist jemand, der Begriffe setzt), folglich auch den Jemandbegriff usw. Folglich könnten all diese

208Siehe 209Siehe

Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 292–294. Aristoteles, Metaphysik, S. 240, Buch IX, 1048a, 1048b.

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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Begriffe nicht durch eine sie denkende menschliche Tätigkeit entstehen und das ist der notwendige Widerspruch des Konzeptualismus, der seine Fehlerhaftigkeit darstellt. Daraus erhellt auch, dass das A-priori der Begriffe, das heißt, ihre atemporale Wirklichkeit, kein bloß subjektives A-priori ist, das heißt, Begriffe sind nicht nur Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung (= aprioristischer Konzeptualismus), sondern auch der Existenz aller Sachen und des Bestehens aller Tatsachen in der Raumzeit vor und nach tatsächlichen und möglichen Erfahrungen und folglich vor und nach Erkenntnissen und deren Möglichkeit. Denn Bedingungen sind das, ohne das etwas nicht besteht; die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind dementsprechend das, ohne das die Möglichkeit der Erfahrung nicht besteht. Die Möglichkeit der Erfahrung besteht aber nicht schon immer. Vor der Existenz von Lebewesen, insbesondere von ausreichend entwickelten Erkenntnissubjekten, später auch von Wissenschaft und Philosophie, bestand nicht nur keine tatsächliche Erfahrung, sondern auch nicht die Möglichkeit bestimmter Erfahrungen. Zu den Zeitpunkten vor dem Bestehen der Möglichkeit der Erfahrung gab es allerdings bereits Sachen und Tatsachen, wofür Begriffe, also Individuationsprinzipien, notwendige Bedingungen sind. Wenn Begriff also als die Möglichkeitsbedingung von Erfahrung definiert werden könnte, folgte aus der Definition nicht notwendig, dass die Bedingungen auch zu allen Zeitpunkten vor und nach der Möglichkeit der Erfahrung bestünden. Wenn A eine Bedingung für B ist und B der Fall ist, folgt, dass A auch der Fall ist oder war. Das heißt, die Bedingung für B ist oder war erfüllt. Es folgt daraus aber nicht, dass A bereits zu allen Zeitpunkten vor B der Fall war und nach B der Fall sein wird. Begriffe waren aber schon zu allen Zeiten Bedingungen von Sachen und Tatsachen überhaupt, ja logische Teile von Sachen und Tatsachen. Die Definition von Begriffen als Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung enthält folglich zu wenig; sie umfasst nicht die gesamte Wirklichkeit von Begriffen. Begriffe können deswegen nicht als Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung definiert werden, weil die Bedingung erfahrungsabhängiger und -unabhängiger Sachen, Tatsachen und Möglichkeiten grundsätzlicher ist als die Bedingung von Erfahrung. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Erfahrung selbst nur eine Sache, Tatsache oder Möglichkeit unter anderen ist. Begriffe könnten nur dann als ein spezifisch subjektives A-priori der Erfahrung definiert werden, wenn damit die allgegenwärtige göttliche Erfahrung gemeint wäre, denn dann würden alle Sachen und Tatsachen zu allen Zeiten erfahren, nämlich durch das absolute, sich selbst bewusste, göttliche Subjekt, weshalb Erfahrung überhaupt mit Wirklichkeit zusammenfiele.

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2  Ontologie des Naturrechts

2.6.3.4 Zum Begriffsrealismus Deswegen können Sprachgemeinschaften und Individuen zwar Wörter, das heißt, Laute (ϕωναί), Nomen (ὀνόματα), Termini (ὅροι) und Zeichen (σήματα) festlegen, z. B. Baum, tree, arbre, nicht aber den ihnen zugrundeliegenden Begriff (εἶδος, μορϕή, idea, forma). Die nominalistische Gleichsetzung von Name und Begriff ebenso wie die konzeptualistische Gleichsetzung von Begriff und „Verdinglichung [menschlicher und eventuell höherer Tiere] geistiger Prozesse“210 bzw. von Tatsachen und menschlichem Urteil („esse = concipi“211), die unterschiedliche Varianten des Konstruktivismus ausmachen, führen ebenso unter Betrachtung des Zeitfaktors zum widersprüchlichen, die Zeitdimension und folglich die Geschichte leugnenden Schluss, dass auch vormenschliche natürliche Tatsachen von menschlicher Begriffs- und Namensbildung abhängen bzw. dass natürliche und soziale Tatsachen als solche von nachträglichen Ereignissen beeinflusst werden könnten. Demnach gäbe es z. B. Bäume und jegliche natürlichen Tatsachen als solche erst, seitdem es Menschen oder andere intelligenten Wesen gibt, die den Begriff Baum erfanden bzw. Urteile mit diesem Begriff bildeten212 oder bilden könnten. Es wäre demnach ebenso möglich, dass eine soziale Tatsache wie die Rezession in einem Geldsystem erst durch einen ihr nachträglichen Erkenntnis- oder Benennungsakt oder -möglichkeit anfinge, der Fall zu sein213 oder dass ein Inzestverhalten erst dann zu einem normativ falschen (oder richtigen, erlaubten usw.) Verhalten würde, wenn nachträgliche Subjekte oder Kulturen die jeweiligen Verhalten-, Inzest-, Richtigkeitsund Normativitätsbegriffe erfinden. Der durch den Konstruktivismus notwendig implizierte Umkehrschluss im Modus der hypothetischen Kausalität würde lauten: Hätten sich bestimmte Denk-, Erkenntnis-, Benennungs- oder Wertungsakte zum Zeitpunkt τ2 nicht ereignet oder ereignen können, wären einige Tatsachen zum Zeitpunkt τ1 nicht der Fall gewesen (Bedingungskonstruktivismus). Die Unterscheidung von Wort einerseits und Begriff andererseits ist deswegen notwendig. Im Gegensatz

210Pfordten,

Über Begriffe im Recht, S. 446. die Position von Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, S. 229. 212So eine mögliche Konsequenz des kantischen Konstruktivismus, nach dem Existenz letztlich in einem Zusammenhang mit Erfahrbarkeit steht (percipi vel percipi posse) und in die irrtümliche Bedingung einmündet, „hätte es keine epistemischen Subjekte eines bestimmten Typs gegeben, wäre nichts wirklich gewesen“ oder „wenn es keine epistemischen Systeme gegeben hätte, hätte nichts existiert“ (Gabriel, Existenz, realistisch gedacht, S. 181, 187). 213In Anschluss an ein Beispiel von Searle, Making the social world, S. 117. 211So

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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zu jenem gehört dieser zur Wirklichkeit unabhängig von individueller und sozialer Bedingtheit. Kurz, aus der Wirklichkeit der Zeit folgt gnoseologisch die Wirklichkeit von Begriffen. Da Individuen und Kollektive anhand unterschiedlicher Sprachen auch Begriffen Namen geben (z. B. Baum, tree, arbre), ist der einzig wahre Nominalismus zugleich ein Begriffsrealismus. Die Tätigkeit der „Begriffssetzung“ heißt folglich, ein bereits vorhandenes Individuationsprinzip im eigenen Intellekt präsent zu machen, das heißt, Bewusstwerdung. Begriffe gehören somit zur Wirklichkeit von Sachen und Tatsachen an sich. Der häufige Versuch, Sachen und Tatsachen an sich Begrifflichkeit abzusprechen, zum Beispiel indem die Existenz von etwas an sich Seiendem in der „Außenwelt“ zugegeben wird, aber nicht „als solchem“, beruht u. a. auf einer missverständlichen Doppeldeutigkeit im Zeichen- oder Lautgebrauch von „als solches“. Eine Trennung von „Sache“ und „Sache als solcher“ wäre korrekt, wenn die Bestimmung bzw. Abgrenzung dessen, was die Sache ist, ein konstruktivistischer Akt eines Erkenntnissubjektes oder -kollektivs wäre. Das wäre ein positivistisches Verständnis von Wirklichkeit (= die Wirklichkeit wird uns gegeben) bei gleichzeitigem konstruktivistischem Verständnis von Bestimmungen der Wirklichkeit (= Bestimmungen innerhalb der Wirklichkeit werden von uns vorgenommen). So gäbe es ohne jegliches Erkenntnissubjekt zwar einen Baum (d. h. dieses Einzelding, diese Kontinuumsregion oder diese Kombination von Atomen), aber nicht einen Baum als Baum. Insofern das erste Zeichen „Baum“ im Ausdruck „Baum als Baum“ das Ding Baum bezeichnet und das zweite Zeichen „Baum“ das Wort Baum samt seiner vielen kulturellen Konnotationen bezeichnet, ist der Satz wahr: In der Tat gibt es kein Wort zeitlich vor denjenigen Menschen, die Wörter erfinden. Daher gab es auch keinen Baum (Ding) als Baum (Wort), solange Bäume nicht mit diesem deutschen Wort bezeichnet wurden. Bäume (Dinge) gab es allerdings bereits vor der Entstehung der deutschen Sprache. Dasselbe gilt für alle anderen Sprachen. Jeder Baum (Ding) ist zu allen Zeitpunkten seiner Existenz von anderen Dingen (anderen Lebewesen, unorganischen Dingen usw.) unterschiedlich. Ein Baum (Ding) besitzt daher zu allen Zeitpunkten seiner Existenz die Individuation oder Bestimmung, ein Baum (Begriff) und nicht etwas anderes zu sein wie ein Löwe, Luft, oder eine Schallwelle – eine Bestimmung, die nicht erst nachträglich auf Anlass eines begrifflichen Bezuges im Zuge eines Denkaktes von Subjekten oder einer Interpretation von einer Gesellschaft entsteht. In derselben Weise hat jeder Baum schon zum Zeitpunkt seiner Existenz Gemeinsamkeiten mit anderen existierenden oder möglichen Dingen derselben Art, etwa mit anderen Bäumen. Die genannten Beispiele verdeutlichen zur Genüge, dass die Unterscheidung von Ding und Ding als Ding bloß gnoseologisch ist, das heißt, sie betrifft Wörter

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2  Ontologie des Naturrechts

und Sprache als Möglichkeitsbedingungen vieler Erkenntnisse, nicht aber die Begriffe als Bedingungen, Bestimmungen und Individuationsprinzipien der Sachen an sich. Wenn die These, „ein Baum existierte, aber nicht als Baum“, genau dasselbe mit dem zwei Mal verwendeten Zeichen „Baum“ bezeichnet, handelt es sich um einen Widerspruch. Es würde bedeuten, etwas (= ein von anderen Dingen unterschiedliches Ding) existiere nicht als solches (= als ein von anderen Dingen unterschiedliches Ding), oder ein Baum (Ding, Begriff) existiere nicht als Baum (Ding, Begriff), sondern als ausschließlich etwas anderes als Baum. Denn das „etwas“ ebenso wie das „das“ oder „dieses“ sind bereits begriffliche Abgrenzungen. Ein Etwas (Wort), das auf einen Baum (Ding) verweist, setzt den Baumbegriff voraus. Das Gegenteil des genannten Widerspruchs wäre die Tautologie und folglich der wahre Satz, dass alles, was existiert, als solches existiert. Dieser Satz entspricht dem logischen Prinzip der Identität und ist ein logisches Fundament der Wirklichkeit; es ist Teil ihres Denkens. Die einzig korrekte Unterscheidung zwischen „Ding“ und „Ding als Ding“ beruht daher auf dem angedeuteten und manchmal irreführenden Sprachgebrauch, dass man sich auf zumindest fünf unterschiedliche Gegenstände anhand desselben Lautes, Zeichens und Wortes beziehen kann, nämlich auf den Laut, das Zeichen und das Wort selbst, auf den ihnen zugrundeliegenden Begriff und auf das begrifflich individuierte Ding.

2.6.4 Autonomie, Uchronie und Protonomie Deswegen muss die Beurteilung des Verhaltens des Individuums, das das mythologisch begründete Inzestverbot brach, die erörterten Inkohärenzen und Anachronismen des Kontextualismus, Aktualismus und Konstruktivismus vermeiden. Dies sind aber keine zu hohen Anforderungen. Die richtige Lösung entspricht letztlich und sozialbiologisch nicht zufällig dem gesunden Menschenverstand: Der Verbrecher hätte das Inzestverbot beachten sollen, weil die Norm berechtigt war, nicht aber schlichtweg weil sie sozial gesetzt wurde oder sozial anerkannt war. Die Norm war berechtigt u. a. aufgrund ihrer Geeignetheit zur Gesundheitsförderung. Somit war sie aus in der damaligen Gesellschaft nicht einsehbaren Gründen berechtigt, die aber bereits damals bestanden, ja galten. Die in der Gesellschaft formulierten mythischen und folglich zum Teil falschen Rechtfertigungen erfüllten immerhin das natürliche Telos der Gesundheitserhaltung und waren aus diesem Metagrund trotz der inhaltlichen Falschheit der Mythen berechtigt – ein Grund, der ebenfalls damals bestand. Zusammenfassend: die Verhaltensnorm des Inzestverbotes samt ihrer Berechtigung und

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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­ erechtigungsgründe, warum die Sanktionen berechtigt waren, ebenso wie die B Metanormen und Metagründe, warum die in der Kultur herrschenden Gründe trotz ihrer inhaltlichen Falschheit hätten befolgt werden sollen, machen das auf den Einzelfall bezogene Naturrecht aus. Bis auf die Verhaltensnormen waren sie kein Produkt individueller oder kollektiver Selbstgesetzgebung. Sie können in der heute auf sie zurückblickenden Gesellschaft höchstens erkannt, das heißt, dem Inhalt nach gedanklich wiederholt und für sich übernommen oder nicht übernommen werden. Während ein Teil des Naturrechts, nämlich die Verhaltensnorm des Inzestverbotes, durch die meisten Rechtsgemeinschaften in der Geschichte erkannt wurde, das heißt, in ihrer Kultur anhand ihrer jeweiligen Sprachen und Sitten als gesunder Menschenverstand gedacht, deklariert und/oder praktiziert und sanktioniert, wurden die eigentlichen Gründe der Inzestvermeidung erst in späteren Kulturen erkannt; die genannten Metanormen und -gründe wurden sogar erst im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse des Naturrechts erkannt. Die Autonomie von Individuen und Kollektiven wird trotz des Naturrechts bewahrt, denn Autonomie bedeutet die selbstgesetzgeberische Formulierung der Maxime des eigenen Handelns und das faktische Handelnkönnen nach dieser Maxime. Der genannte Verbrecher bewies seine Autonomie dadurch, dass er für sich eine rechtswidrige Handlungsmaxime trotz Kenntnis des Rechts und trotz der Möglichkeit der Rechtsbefolgung setzte und auch faktisch danach handelte. Das ihn bestrafende Kollektiv wiederum bewies seine Autonomie dadurch, dass es das Naturrecht – wenn auch aus falschen Gründen – erkannte und als Kulturelement trotz der Möglichkeit des Anderssetzenkönnens setzte und durchsetzte. Freiheit ist Voraussetzung von Wahrheit und Irrtum214 und daher auch Voraussetzung der einsichtigen Befolgung und Verletzung des Naturrechts. Individuen und Kollektive mögen machen, was sie wollen; die Rechtseigenschaft der Maxime aber, das heißt, ob es sich um eine Maxime des Rechts handelt, ist nicht Bestandteil der Autonomie und steht dem Rechtssubjekt dementsprechend nicht schöpfend zur Verfügung. Ein bestimmtes Individuum oder Kollektiv mag eine Norm positivieren oder nicht; ist sie aber im Zeitraum τ1 noch nicht positiviert, dann kann das Kollektiv im τ2 nur darüber schöpfend entscheiden, ob sie im Zeitpunkt τ3 positiviert wird, nicht aber ob sie bereits im τ1 (und im τ2 während der Überlegung) positiv war und ist. Die Rechtseigenschaft einer (potenziellen oder

214Übereinstimmend Thomas von Aquin, Summa theologiae, prima pars, Lander (Wyoming): The Aquinas Institute for the Study of the Sacred Doctrine, 2012, questio 17, articulum 1 und Descartes, Meditationes de prima philosophia, Rn. 47 f./59 f.

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2  Ontologie des Naturrechts

aktuellen) Norm oder eines Verhaltens steht ebenso wenig zur schöpfenden Verfügung des Denkens oder Tuns eines Subjektes wie die Bedeutung eines bereits geschriebenen Gedichts unter der interpretativen Autorität seines Urhebers.215 Wenn und nachdem die Norm im τ3 positiviert wurde, kann sich das Kollektiv ebenso im τ4 entscheiden, ob sie aufgehoben oder praktisch angewandt wird, nicht aber ob sie im τ3 positiviert war oder nicht. Wenn einem Gesellschaftsmitglied die Teilnahme am Gesetzgebungsverfahren verweigert oder eine Normverletzung etwa durch Überwachungstechnologie verunmöglicht wird, wird seine Autonomie zwar erheblich eingeschränkt, denn dann kann er seine Handlungsmaxime höchstens gedanklich formulieren und eventuell diskursiv zum Ausdruck bringen, nicht aber ausführen. Das besagt aber nichts über die Rechtseigenschaft seiner Maxime. Denn sie könnte eine Maxime für eine verbrecherische Handlung sein, deren Ausführung unbedingt vermieden werden soll. Ob sie aber in der Tat vermieden wird, ist nicht Bestandteil des Rechts und der Norm- und Verhaltensberechtigung als Eigenschaft, sondern der autonomen Entscheidung anderer Gesellschaftsmitglieder. In all diesen Konstellationen ist die Rechtseigenschaft von Handlungen und Maximen zwar kein Produkt der Autonomie des Handelnden, aber zugleich kein Hindernis für seine Autonomie. Das Naturrecht ist nicht aktualistisch, da gegenwärtige Wertvorstellungen nicht rückwirkend auf vergangene Gesellschaften angewandt werden. Vielmehr waren die zu befolgende Norm, ihre Berechtigung und (mytischen) Gründe bereits in der damaligen Kultur vorhanden. Deren Befolgung war nicht nur akzidentell möglich und nicht nur aus heutiger Sicht denkmöglich, sondern möglich im Sinne einer damals tatsächlich bestehenden Möglichkeit (= Potenz). Das korrekte aktuelle Urteil über ein vergangenes Verhalten darf daher nicht anachronisch, sondern es muss entweder chronisch sein, wenn es ein tatsächlich vorgenommenes und gesolltes Verhalten für berechtigt hält und die Berechtigung somit erkennt und gedanklich-begrifflich wiederholt, oder uchronisch216, wenn

215Damit angedeutet ist die Tatsache der Verselbständigung der Bedeutung eines künstlerischen Werkes nach seiner Hinwerfung in die Kultur. Der Urheber kann nicht autoritativ bestimmen, was sein bereits hingeworfenes Werk bedeutet. Siehe Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 300–311. 216Weiteres zum Begriff vgl. Grande Enciclopédia Portuguesa e Brasileira, Lissabon und Rio de Janeiro, 1960, Stichwort ucronia. In Bezug auf die Problematik der Kausalität im Strafrecht siehe Paulo de Sousa Mendes, Causalidade complexa e prova penal, Coimbra: Almedina, 2018, S. 205.

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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es sich auf ein Verhalten bezieht, das zwar nicht wirklich stattfand, aber hätte stattfinden können und sollen. Die naturrechtliche Lösung ist andererseits nicht kontextualistisch, weil sie nicht agnostisch oder schlichtweg legitimatorisch des tatsächlich Geschehenen und Geglaubten ist. Vielmehr hätte der Tabubrecher wirklich anders handeln sollen und nicht nur, weil es den damals von ihm und anderen gedachten oder anerkannten Gründen entsprach, sondern weil es das konkret und absolut Richtige war. Zudem waren die damals geglaubten mystischen Gründe trotz der Überzeugung der Sippe und trotz der damaligen Unmöglichkeit der Erkenntnis der richtigen Gründe nicht richtig. Sie wären auch dann nicht richtig gewesen, wenn ihnen zukünftige Erkenntnissubjekte oder -kollektive wie wir, die diese Falschheit einsehen, schlichtweg nicht entstanden wären, um solcherlei Urteil zu treffen. Die Gründe hierfür sind das Naturrecht, das aus den chronologischen Widersprüchen und anderen bereits vorgelegten Falschheiten des Aktualismus, Kontextualismus und Konstruktivismus als positives Ergebnis logisch folgt, uns Heutigen zeitlich und ontologisch vorherig, aber psychologisch und gnoseologisch gegenwärtig ist. Die nichtaktualistische und nichtkontextualistische Erkenntnis der vergangenen Normativität sei hier protonomisch genannt (von πρώτος + νόμος). Die Protonomie ist die Erkenntnis des vergangenen normativ Richtigen, das keine rückwirkende Projektion des nachträglich für richtig Erachteten darstellt und dessen Grund über die damalige gesellschaftliche Anerkennung hinausgehen kann.

2.6.5 Zur Änderbarkeit des Naturrechts Die teleologische Erklärung liefert Einsicht in das Zweck-Mittel-Verhältnis zwischen Natur und Normen. Sie zeigt auf, was für ein Zweck anhand eines kulturell-normativen Elementes verfolgt wird. Genauer: Das kulturelle Element, etwa eine Rechtsnorm, ist das Mittel in einer durch teleologische Erklärung enthüllten Zweck-Mittel-Rationalität. Es wird durch die externe Erklärung klar, dass die Rechtsnorm zwar ein Sollen darstellt und somit unabhängig vom eventuellen Ergebnis ihrer Zweckerfüllung gilt, aber zugleich nicht nur Wert an sich, sondern auch ein Mittel zu höheren Zwecken, etwa der Gesundheitserhaltung, ist. Am Beispiel des Inzestes konnte gezeigt werden, dass die Norm, „Inzestbeziehungen sollen nicht gepflegt werden,“ das Mittel zur Erreichung des Zweckes, „krankhafte Nachkommen sollen nicht erzeugt werden,“ ist. In positiver Wendung heißt es: Die Norm, „Fortpflanzung soll exogamisch stattfinden,“ ist ein Mittel zum

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2  Ontologie des Naturrechts

Zweck der „Generierung gesunder Nachkommen.“ Dieser Zweck ist wiederum ein Mittel zum Zweck der Arterhaltung, der womöglich ein Mittel zu höheren Zwecken ist usf. Normen und Verhalten können aber angesichts der Änderung der sozialen Umstände an einer bestimmten Zweckmäßigkeit verlieren. Unter gewissen Umständen ist ein Inzestverbot ein geeignetes Mittel für die Vermeidung krankhafter Nachkommen, etwa wenn Schwangerschaftsverhütungsmethoden nicht bekannt oder nicht ausreichend verbreitet sind. Unter anderen Umständen aber, wie es zumindest seit dem 20. Jahrhundert der Fall ist, ist die Technologie der Schwangerschaftsverhütung dermaßen entwickelt und weit verbreitet, dass endogame Beziehungen, die bereits aus natürlichen Gründen nur ausnahmsweise praktiziert werden, von ihren typischen Folgen (Schwangerschaft) abgekoppelt werden.217 Durch diese Erklärung wird die Norm, „Inzestbeziehungen sollen nicht gepflegt werden,“ zwar weder natürlich entbehrlich noch normativ widerlegt – die Nachwuchsproduktion bleibt auch nach der Verbreitung von Schwangerschaftsverhütungsmethoden und entsprechender Senkung der Geburtenrate eine gesellschaftlich verbreitete Folge der Eheschließung und des inzestuösen Beischlafs. Es wird jedoch erkannt, dass sie nicht mehr im alleinigen Zweck-Mittel-Verhältnis mit dem ursprünglichen Zweck der Generierung gesunder Nachkommen steht, da zum Teil überhaupt keine Nachkommen generiert werden. Dies entspricht der sozialen Tatsache der Schwächung des Inzestverbotes in gegenwärtigen Rechtsordnungen.218 Da die natürliche Arterhaltungsteleologie immer noch fortbesteht und -wirkt, verbreitet sich ihre kulturellnormative Korrelation auf andere, gegebenenfalls neue Handlungen, die die Produktion krankhafter Nachkommen zur Folge haben könnten, wie etwa das

217Siehe

Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 99 f., 131. die englischen ekklesiastischen Gerichtshöfe verzichteten zunehmend auf die Ausübung ihrer Prozess- und Sanktionskompetenzen in Inzestfällen zumindest seit dem Anfang des zwangzigsten Jahrhunderts (Jowitt, Earl (Hrsg.), The Dicitionary of English Law, London: Sweet & Maxwell, 1959, Stichwort Incest). Auch in der deutschen Rechtsordnung verliert das Inzestverbot des § 173 StGB an gesellschaftlicher Wirksamkeit: 1998 wurden 5, 2002 10 und 2006 12 Personen verurteilt (vgl. Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen, Strafgesetzbuch, Bd. 2, § 173, Rn. 10 (Monika Frommel). Mancher Strafrechtler befürwortet sogar die Abschaffung des § 173 StGB. Vgl. dazu Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests und Albrecht, Kriminologischer Teil, in: Stellungnahme zu dem Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 392/07 zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB – Beischlaf zwischen Geschwistern (Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht vom 19.11.2007), S. 118. 218Schon

2.6  Umgangsformen mit vergangener Normativität

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Heiratsverbot zwischen Eispenderin und Samenspender und deren Nachkommen.219 Die neuen Technologien der Genmanipulation und künstlichen Befruchtung sollen selbstverständlich nicht für die vorsätzliche Generierung krankhafter Nachkommen verwendet werden, etwa indem der Mediziner, das Paar, ein Unternehmen oder der Staat absichtlich krankheitsauslösende Gene für das zu erzeugende Kind auswählen. Die Selbstverständlichkeit der Berechtigung einer solchen Norm ist so groß, dass sie kaum Begründung verlangt, obwohl sie ebenso welcher fähig ist, nämlich durch die bereits genannten und jeweils einschlägigen Rechtfertigungselemente, die für das Inzestverbot sprachen und sprechen. Dies ist u. a. deswegen so, weil die Norm ein direktes Mittel für den gegenwärtig wirksamen natürlichen Zweck der Gesundheitserhaltung darstellt. So wird die ursprünglich nur für die Einhaltung des Inzestverbotes aufgebrachte soziale Kraft allmählich durch Inzestverbot und Verbote der Art schädlicher Genmanipulation dividiert. Im hypothetischen Fall einer großen technologischen Entwicklung, die die menschliche Genetik dermaßen ändern oder zumindest die pränatale Diagnostik dermaßen präzise machen und gesellschaftlich weit verbreiten könnte, dass nahe Verwandte Nachwuchs auch ohne beträchtliches Gesundheitsrisiko haben könnten, verlöre das normative Mittel des Inzestverbots dermaßen an Zweckmäßigkeit für die gesunde Lebenserhaltung, dass die für dessen Erfüllung angewandten biotischen und sozialen Kräfte sich entbehrten.220 Dann wäre das eugenische Denken selbst die Rechtfertigung einer Inzesterlaubnis, ja sogar einer Inzestempfehlung, wenn zwei Verwandte besonders gute Gene besitzen. Kämen noch erhebliche Änderungen der sozialen Struktur hinzu, die auch die anderen, nicht unmittelbar mit genetischen Aspekten der Gesundheit verbundenen

219Exemplarisch kann die ratio legis des Heiratsverbots des § 1307 BGB genannt werden. Relevant für die deutsche Regelung ist die blutmäßige Abstammung, das heißt, auch Eispenderin und Samenspender dürfen ihre Kinder nicht heiraten, und zwar auch dann nicht, wenn das Kind als Kind des anderen Ehepartners nach § 1592 anerkannt wurde (Palandt/Brudermüller/Ellenberger/Götz/Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, §  1307, 3; Rauscher, Familienrecht, Rn. 167) und auch wenn die Verwandtschaftsbeziehung durch Adoption (§ 1755) erloschen ist (§ 1307, Satz 2). 220Ähnlicher Gedankengang aus einer biologisch-rechtlicher Perspektive (wenn auch ohne die Berücksichtigung der Naturteleologie) bei Hendrik Gommer, The Ressurection of Natural Law Theory, Rechtstheorie 42, 2011, 249–272, S. 258: „New circumstances can lead to new rules, for example: 1. Contra conception will prevent the issue of defective offspring. 2. Biologically, sibling marriage need no longer be deemed wrong. 3. The ban on sibling marriage can be lifted.“

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2  Ontologie des Naturrechts

­ echtfertigungsgründe entfallen ließen, so entfiele nicht nur die soziale WirksamR keit des positivrechtlichen Inzestverbotes, sondern ex nunc auch der naturrechtliche Begründungszusammenhang. Durch Intelligenz und Technologie würden so die Gesundheits- und Lebenserhaltungszwecke in noch effizienterer Weise erfüllt als dass es der Fall wäre, wenn das menschliche konstruktive Zutun nicht stattfände und die Zweckerfüllung allein n­ ichtnormativen-teleologischen Naturkräften überlassen würde. Die Entstehung neuer technologischer Möglichkeiten kann die raumzeitliche Natur und folglich auch das darauf bezogene Naturrecht ändern. Ebenso wie der Mensch durch Technologie ein Flussbett versetzen und so den Fluss der Natur ändern kann, können die empirischen Umstände so gestaltet werden, dass alternative Handlungsmöglichkeiten und folglich ein anderes Recht erst dadurch entstehen. Logotemporalistisch gilt selbstverständlich aber, dass das Naturrecht nicht rückwirkend, ex tunc, geändert werden kann. Die vorwärtsgewandte Änderung des Naturrechts ist nichts anderes als das logische Ergebnis der Änderung raumzeitlicher Umstände: Wenn ein naturrechtlicher Begründungszusammenhang ergibt, dass die Gesundheit erhalten werden soll und eine neue gesundheitliche Bedrohung wie ein neuer Krankheitserreger entsteht, so besagt das Naturrecht in concreto, dass dieser Erreger bekämpft werden soll. Gibt es den Erreger nicht mehr und ist seine Neuentstehung unmöglich, so besteht kein Naturrecht mehr in diesem konkreten Sinne. So würde die Änderung eines konkreten Naturrechtssatzes durch empirische, wenn auch nicht allein auf den Menschen zurückzuführende Ereignisse und auch nicht durch bloßes menschliches Wollen und Urteilen bewirkt. Die bloße Möglichkeit einer zukünftigen Änderung des Naturrechts ist aber kein Einwand gegen sein vergangenes und gegenwärtiges Bestehen, ja gegen seine unbedingte Geltung in einem bestimmten Zeitraum.

2.7 Selbstbewusste Wiederaufnahme der Naturteleologie Die hier gezeigten Verhältnisse von Erklärung, Berechtigung und Rechtfertigung gelten keineswegs nur für das Beispiel der Inzestvermeidung. Sie lassen sich an diversen Rechtsnormen und -praxen wiedererkennen und für einen erheblichen Teil der Rechtsgeschichte verallgemeinern. Die Strafe beispielsweise war lange Zeit eine nicht explizit gerechtfertigte und doch zweckmäßig lebenserhaltende

2.7  Selbstbewusste Wiederaufnahme der Naturteleologie

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Praxis, wie sie auch im Tierreich vorzufinden ist.221 Sie wurde zunächst instinktiv praktiziert. „Die Strafe ist ursprünglich, d. h. in jenen primitiven Formen, welche wir im Uranfange der menschlichen Kulturgeschichte zu erkennen vermögen, b l i n d e, i n s t i n k t m ä ß i g e, t r i e b a r t i g e, d u r c h d i e Z w e c k v o r s t e l l u n g n i c h t b e s t i m m t e Reaktion der Gesellschaft gegen äußere Störungen der Lebensbedingungen des einzelnen wie der vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen.“222 Dass die Strafe oft nicht mit bewussten Präventionszwecken praktiziert wurde, bedeutet, dass der bereits vorhandene Gruppenerhaltungszweck durch Bestrafung nur nicht bekannt war.223 Daher ist die Bezeichnung

221Vgl. C. Lombrosos Ausführungen zu dem, „was als Strafe beim Menschen und bei Thieren gilt“ (Cesare Lombroso, Der Verbrecher (homo delinquens). In anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Bd. I, Hamburg: Königliche Hofbuchhandlung, 1894, S. 30 ff.). Dem entspricht sachlich eine von der Franz von Liszts Lehre beeinflusste Mitteilung der 1927 gegründeten Kriminalbiologischen Gesellschaft, nach der die „erschöpfende Betrachtung des kriminellen Menschen“ nur „durch das Zusammenarbeiten aller Forschungsmethoden gelöst werden“ könnte (nach Therese Stäcker, Die Franz-vonLiszt-Schule und ihre Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtsentwicklung, 1. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 2012, S. 118). Das hieß damals, Kriminologie mit medizinischem und psychologischem Wissen zu verknüpfen, also „Kriminalbiologie“ zu betreiben. Siehe Stäcker, Die Franz-von-Liszt-Schule und ihre Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtsentwicklung, S. 118 ff. Siehe auch Djacir Menezes: „A moral, conjunto de crenças coletivas (mores) traçando normas à atividade dos indivíduos, l­imita-lhes a luta pela vida dentro de certas esferas de ação. Como necessidade de defender o meio social contra os desajustamentos de certos indivíduos, exprime reação biológica de defesa que, com a evolução social da mentalidade, tende a socializar-se, exercer-se por meio de órgãos, de funções sociais: tais são as primeiras organizações do direito penal. Tais normas, porém, começam a diferir das normas puramente morais, porque implicam certo conteúdo (jus cogens). Mas as leis tendem sempre a traduzir certa média do critério moral dominante na comunidade“ (Djacir Menezes, Introdução à ciência do direito, 4. Aufl., Rio de Janeiro u. a.: Livraria Freitas Bastos, 1964, S. 53). 222Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Klostermann, 1948, S. 4; siehe auch S. 7 f. 223Franz von Liszts Ausführungen zur „Blindheit“ der Strafhandlung in vergangenen Zeiten sind daher eng zu interpretieren. Die instinktmäßige Bestrafung war in Urzeiten in der Tat nicht durch Zweckvorstellungen bzw. -gedanken angeleitet, sondern von unbewusster, instinktiver Zweckmäßigkeit. Die angesprochene „Blindheit“ betrifft folglich nicht das gesamte Handlungsgeschehen, sondern das mangelnde Bewusstsein der Akteure. Problematisch an v. Liszts Position ist daher, dass ihmzufolge die „Entwicklungstendenzen“ bzw. der „von menschlicher Willkür unabhängige Entwicklungsgang“ (Franz von Liszt, Das „richtige" Recht in der Strafgesetzgebung, ZStW 26, 1906, 553–578, S. 556) vom Zweckverhältnis getrennt sind und Zwecke nur menschlichen bewussten Ursprunges

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2  Ontologie des Naturrechts

der primitiven Strafe als blind oder zweckfrei nur in Bezug auf das Nichtwissen ihres Zweckes akkurat, nicht aber bezüglich auf die Wirklichkeit einer Teleologie überhaupt. Durch rückblickende Betrachtung der bis zu einem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte praktizierten Strafen gewinnt man Einblick in die biotischen und anthropologischen Bedingtheiten, ja in die Naturteleologie, die zu einer bestimmten Strafpraxis führte. Obwohl – und gerade weil – der Naturzustand niemals verlassen werden kann, ist es ein Kennzeichen von Zivilisation, dass der höhere Zweck instinktiver Handlungen identifiziert wird, damit er durch Verstandesgebrauch durch effizientere Mittel erfüllt werden kann.224 Die Rechtsgeschichte ist nicht nur Kulturgeschichte, nicht nur die Geschichte eines sozialen Systems in einer gesellschaftlichen Umwelt, von subjektiven Wertungen über Richtiges und Falsches oder die Geschichte der legislativen Normsetzung, sondern auch die Geschichte einer Unterart von Normativität, die Teil des gesamten Naturgeschehens ist und die die jeglicher Kultur zeitlich vorherige und

sein könnten. v. Liszt betrachtete die Handlung als zweckfreies Ganze ohne teleologische Kausalität (vgl. Eckhart von Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, Heidelberg: Winter, 1966, S. 135). Er trennte dementsprechend „Entwicklungstendenz“ von Teleologie: Ihmzufolge sind Triebhandlung und Zweckgedanke „begrifflich unabhängig“ (Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, S. 12). Eine Trennung von Handlung und Zielgerichtetheit ist aber nicht einmal naturalistisch begründbar, wie die obigen Ausführungen zeigten. Immerhin ist v. Liszt zuzustimmen, dass die natürlichen „Entwicklungstendenzen“ zutreffend „Aufschluß“ über das Sollen geben können (Liszt, Das "richtige" Recht in der Strafgesetzgebung, S. 556), was allerdings nicht zu einer begrifflichen Gleichsetzung von Sein und Sollen führen muss, sondern ihre gemeinsame Zielgerichtetheit verdeutlicht. 224Dies entspricht einem Gedanken des sogenannten „Marburger Programms“ der finalistischen Schule v. Liszts im Strafrecht. Vehement stellte der Schulgründer fest, „aller Fortschritt in der geistigen Entwicklung des Einzelindividuums wie der Menschheit besteht darin, d a ß d i e T r i e b h a n d l u n g i n d i e W i l l e n s h a n d l u n g s i c h u m s e t z t, d. h. daß die Zweckmäßigkeit der Triebhandlung erkannt und die Vorstellung des Zweckes zum Motive des Handelns wird“ (Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, S. 13). Liszts Teleologiedenken ist allerdings inkompatibel mit der „Hegel-Verachtung“ seines Programms (zur Diskussion von v. Liszts Position im Kontext der Rechtswissenschaft im 19. Jh. vgl. Michael Pawlik, v. Liszt im Kontext zeitgenössischer philosophischer Strömungen, in: Die Schule Franz von Liszts. Sozialpräventive Kriminalpolitik und die Entstehung des modernen Strafrechts, hrsg. von A. Koch/M. Löhnig, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016, 57–86, S. 59 f.).

2.7  Selbstbewusste Wiederaufnahme der Naturteleologie

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vorwärtsgewandte Teleologie implizit oder explizit annimmt und vollzieht. Der prominent gewordene Satz deutscher Jurisprudenz, „der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts,“225 betrifft zurecht nicht nur menschlich gesetzte Zwecke, sondern auch die Teleologie der Natur.226 Die historische Kontinuität von Natur und Recht ebenso wie die gegenwärtige Kontinuität von Naturteleologie und rechtlicher Normativität werden durch die Berechtigung von Verhalten vermittelt, also durch eine bewusstseins-, sanktionsund rechtfertigungsunabhängige Eigenschaft menschlichen Verhaltens. Es ist die Fragestellung nach der Berechtigung eines Verhaltens oder einer Norm, die die wissenschaftliche Erklärung ihres Zustandekommens in Natur und Kultur erst veranlasst. Es ist die Berechtigung von Normen und Verhalten, die den Gegenstand rechtfertigender Überlegungen ausmacht; es ist auch die Berechtigung eines Verhaltens, die überhaupt zur kulturellen Setzung eines es gebietenden Normgefüges führt. Für die Feststellung der Berechtigung eines Verhaltens ist daher eine Erweiterung des Blicks herkömmlicher Rechtsphilosophie nötig, und zwar in zeitlicher wie in logischer Hinsicht. Die drei abgegrenzten langen Zeiträume der Geschichte der Inzestvermeidung, nämlich: Zeitraum τ1:  P  raktizierung des Verhaltens ohne Rechtfertigung; Zeitraum τ2:   Praktizierung desselben Verhaltens mit irrtümlicher Rechtfertigung; Zeitraum τ3:  Praktizierung desselben Verhaltens mit richtiger Rechtfertigung oder Verhaltensänderung aufgrund der Änderung der empirischen Umstände dienen hierfür als immer weiter differenzierbare Vorlage für Rechtfertigungsund Erklärungsansätze, die in Bezug auf kontinuierliche Verhaltensweisen vorgenommen werden können. Als natürliche Kandidaten für eine solche Unternehmung kommen Rechtselemente in Betracht, die über eine gewisse Abstraktionsebene verfügen und – wie die Inzestvermeidung und die Strafe – Existenz und praktische Wirksamkeit unabhängig von bewusst, sprachlich und

225Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, 4. Aufl., Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1970 (Nachdruck der Auflage Leipzig 1904), Titelblatt. 226Zur natürlichen Zwecktätigkeit von Lebewesen nach R. v. Jhering vgl. Jhering, Der Zweck im Recht, S. 3 ff.

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2  Ontologie des Naturrechts

kulturell gesetzten Rechtsnormen aufweisen könnten. Besitz227, Eigentum228, Autorität, Erbschaft, Ehe, Arbeit, Verbrechen, Strafe229, Mord, Kindesmord230, Täuschung u. a. haben auch eine Naturgeschichte eigener Teleologie, die erst zur Entstehung der jeweiligen sie annehmenden oder ablehnenden Normativität in den verschiedenen Kulturen führte und deren Berechtigung von der Kenntnisnahme ihrer Geschichte gnoseologisch abhängt.

227„Die

entwicklungsgeschichtlich älteste Art von Besitz ist zweifellos das Innehaben bestimmter Gebiete oder Territorien. Einige Arten haben bestimmte Territorien, die von einzelnen den anderen gegenüber verteidigt werden, auch gegen ein Mitglied des anderen Geschlechts (die Paarungszeit ausgenommen); andere halten ein gemeinsames Territorium für die Familie oder für eine größere soziale Gruppe. … Ein Individuum kann ‚Besitzverhalten‘ gegenüber einem anderen Individuum oder Individuen derselben Gattung zeigen. Ein Männchen kann einen männlichen Rivalen bekämpfen und besiegen, um in den Besitz eines Weibchens zu gelangen. … Schließlich gibt es Besitzobjekte, die gefunden, gesammelt oder angefertigt werden. Der Wintervorrat einer Maus, ein Nest, das zum Schlafen oder Brüten gebaut wird, ein Gegenstand, der als Werkzeug benutzt wird, Kleidung, eine Viehherde oder ein Hund“ (Goodall, Ordnung ohne formelles Recht, S. 136). Zum Besitz aus soziobiologischer Sicht vgl. auch Margaret Gruter, Die Bedeutung der biologisch orientierten Verhaltensforschung für die Suche nach den Rechtstatsachen, in: Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, hrsg. von M. Gruter/M. Rehbinder, Berlin: Duncker & Humblot, 1983, 225–241, S. 236–238. 228Frühe Formen von Eigentum als abstraktem Recht an einer Sache im Gegensatz zur tatsächlichen Herrschaft über die Sache (= Besitz) sind schon bei Schimpansen zu finden: „Es ist interessant zu sehen, daß ein Schimpanse erkennt, ob ein Gegenstand ihm oder einem anderen gehört, auch wenn der Gegenstand räumlich von seinem ‚Besitzer‘ getrennt ist. Das zeigt sich sehr deutlich während des Termitenfressens (wenn die Schimpansen Grashalme in die Gänge der Termitennester schieben, um dann die sich daran anklammernden Insekten mit ihren Lippen aufzunehmen). Ein fressendes Tier muß von Zeit zu Zeit seinen Platz verlassen, um neue Werkzeuge zu holen. In dieser Zeit kann sich ein rangmäßig niedrigeres Tier dorthin begeben und seinen eigenen Halm in den vorübergehend freien Gand einschieben. Aber er wird dabei wiederholt nach dem ‚wirklichen‘ Besitzer sehen und sich schnellstens wieder wegbewegen, wenn der andere zurückkommt“ (Goodall, Ordnung ohne formelles Recht, S. 139). 229Zur Zweckmäßigkeit des Strafverhaltens bei Schimpansen (als Formen der Aggression gegen das Mordverhalten) siehe Goodall, Ordnung ohne formelles Recht, S. 139 f. 230Vgl. Itani, Die Tötung von Artgenossen bei nichtmenschlichen Primaten.

3

Ontologie des positiven Rechts

3.1 Fragestellungen Das vorliegende Kapitel behandelt (1) die Wirklichkeit des gesetzten Rechts, (2) seine ontologischen und gnoseologischen Verhältnisse zum Bewusstsein von Individuen und Kollektiven und (3) die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den praktischen Umgang mit gegenwärtigen und vergangenen Rechtssachverhalten, Normen und juristischen Entscheidungen. Das praktische prius, anhand dessen die Ontologie des positiven Rechts dargestellt werden soll, umfasst Fragestellungen folgender Art: Besteht ein Sachverhalt aus Deutungen überhaupt (oder Darstellungen, Wertungen, Urteilen) oder besteht er an sich unabhängig von auf ihn bezogene Deutungen? Kann ein Rechtssachverhalt bereits dann als solcher vorliegen, das heißt, einschließlich seiner rechtlichen Eigenschaften, wenn seine rechtliche Qualifikation faktisch erst nachträglich etwa im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens vorgenommen wird? Basiert die Existenz des positiven Rechts auf nichtrechtlichen Faktoren wie beispielsweise natürlicher, sozialer oder psychischer Art? Hat das positive Recht eine auf die Physik zurückführbare Existenzweise, eine rein soziale, etwa institutionelle oder anerkennungsbedingte, oder auch eine ideale Existenzweise? Können positive Rechtsnormen auch dann existieren und gelten, wenn kein einziger Teilnehmer einer Rechtsordnung Bewusstseinszustände in ihrem Sinne hat, das heißt, wenn sie nicht durch Bewusstsein „getragen“ werden? Kann es überhaupt unbekannte Rechtstatsachen, also positive und doch von niemandem bekannte Rechte und Pflichten geben?

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Ferreira Leite de Paula, Rechtsontologie, Juridicum – Schriften zur Rechtsphilosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30867-4_3

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3  Ontologie des positiven Rechts

3.2 Die Hypothese einer realistischen Rechtsontologie Die genannten Fragen betreffen die Ontologie des positiven Rechts überhaupt. Diese ist rechtsgebietsübergreifend (betreffend Zivil-, Straf-, Verfassungsrecht usw.) ebenso wie rechtsautoritätsübergreifend (betreffend erlassene Normen von Gesetzgebern, Verwaltungsbeamten, Richtern usw.). Die Hypothese ist die Möglichkeit einer Vereinbarung von rechtlichen und nichtrechtlichen Komponenten, Ursachen und Gründen von Sachverhalten (epistemologisch gewendet: Deutungen, Erklärungen und Begründungen), indem Rechtliches und Nichtrechtliches in wechselseitiger kausaler und normativer Beziehung, aber ergänzend zueinander stehen, aufeinander nicht reduziert werden, keinen prinzipiellen ontologischen Vorrang einander gegenüber aufweisen und einander nicht widersprechen. Die allgemeine Rechtsontologie verdeutlicht somit Korrelationen von rechtlichen und außerrechtlichen Anteilen eines komplexen, aus natürlichen, sozialen und spezifisch rechtlichen Komponenten bestehenden Sachverhaltes. Dann treffen Natur, Kultur und Recht aufeinander in einzelnen Wirklichkeitseinheiten (Sachverhalten) und in einer ganzheitlichen Einheit (Wirklichkeit), die Normativität einschließt. Die allgemeinste Hypothese einer realistischen Rechtsontologie lautet: Rechtsnormen und -sachverhalte haben eine selbständige Existenzweise, also eine ontologische Beharrlichkeit, die nicht auf Materie, auf Bewusstsein von Individuen und Kollektiven und auf ein reines Sollen, das zugleich kein Sein wäre, reduzierbar ist.

3.3 Zu den außerrechtlichen Komponenten rechtlicher Sachverhalte 3.3.1 Zu den natürlichen Komponenten rechtlicher Sachverhalte Die Korrelationen1 zwischen juristischen und naturalistischen Deutungen desselben Sachverhaltes sind im Strafrecht längst bekannt. Die wörtliche Beleidigung etwa wurde schon mal in der Geschichte der Verbrechenslehre als „eine Reihe von

1Die Korrelationen zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Deutungen von Sachverhalten betreffen nicht dieselbe Problematik des im Kapitel 1 behandelten „Korrelationismus“, wie es aus dem Folgenden erhellen wird.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

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Kehlkopfbewegungen, Schallwellenerregungen, Gehörreizungen und Gehirnvorgängen“ beschrieben bzw. als eine „Erregung von Luftschwingungen und von physiologischen Prozessen in dem Nervensystem des Angegriffenen.“2 Schon am Ende des 19. Jahrhunderts unterschied man im Strafrecht zwischen juristischem und materiellem Taterfolg, also zwischen einer Veränderung „innerhalb der Rechtsordnung“ und einer Veränderung der „Außenwelt.“3 „Ideelle“ und „materielle“ Verständnisweisen von Straftaten standen zutreffend widerspruchslos nebeneinander: „immer muß sie [die Veränderung] von der ideellen Verletzung unterschieden und neben ihr festgestellt werden.“4 Der Erfolg etwa eines strafrechtlichen Tatbestandes gegen das Leben schließt Wirkung auf Materie notwendig ein. Dies beginnt schon bei der Materie, die den Körper des Täters ausmacht, läuft über Waffen und andere Mittel und endet normalerweise bei der den Körper des Opfers konstituierenden Materie. „Es gibt kein Verbrechen, welches begrifflich der kompliziertesten Veranstaltung widerstrebte. Auch die Beleidigung kann durch Benutzung der Überlandspost oder des elektrischen Drahtes, der Meineid durch Übersendung der unterzeichneten Eidesformel begangen werden.“5 Wenn das Äußerungsdelikt der Beleidigung im Zeitalter des Internets begangen wird, wird oft zwar keine „Reihe von Kehlkopfbewegungen,“ keine Benutzung der Überlandspost usw. stattfinden, wohl aber die Meißelung gewisser Risse auf Metallplatten (Hardware) und die Übertragung von bestimmten Signalen über Lichtwellenleiter (Internetkabel). Materielle Komponenten rechtlicher Sachverhalte können immer gefunden werden. Dies liegt daran, dass rechtliche Sachverhalte in Zeit und Raum stattfinden und daher stets mit Bewegung von Materie6 in irgendeiner Weise verknüpft sind. Enthält eine Rechtsnorm einen Begriff, dessen Instanziierung irgendeine, wenn auch nur indirekte räumliche Komponente hat, so wird der entsprechende Rechtssachverhalt stets

2Franz von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Keip, 1985 (Nachdruck der Auflage 1884), S. 108. 3Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 107 f. 4Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 108. 5Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 108. 6Materie wird hier und im Folgenden im engen Sinne der modernen Naturwissenschaften gemeint. Materie ist „etwas an den Raumdingen, eine begriffliche Hypostase der Körperlichkeit. Die Materie ist das Raumerfüllende und das Widerstansfähige als solches“ (Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 2, Stichwort Materie, S. 81). Dies entspricht dem Materiebegriff der klassischen Mechanik, nämlich dem, was Trägheit und Schwere hat (P. Hucklenbroich, Materie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, 1955, S. 921).

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3  Ontologie des positiven Rechts

auch natürliche Komponenten haben.7 Selbst Rechtsnormen, die aus Definitionen bestehen und per se keine Verhaltensnorm darstellen, wie beispielsweise dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist (Art. 22 Abs. 1 GG), beinhalten physische Instanziierungen in irgendeiner Weise. In dem Fall verweist die Hauptstadtregel auf eine geographische Region. Auch die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) betrifft in jedem Fall ihrer Instanziierung stets konkrete Menschen, vergangene, gegenwärtige oder zukünftige, die einen Körper haben, hatten oder haben werden. Die materiellen Komponenten spezifisch strafrechtlicher Sachverhalte sind nur evidenter als in anderen Rechtsgebieten, aber keine Exklusivität. Immerhin könnte eingewandt werden, dass gewisse Sachverhalte wie Unterlassungsdelikte sich der Möglichkeit einer materiellen Beschreibung entzögen, denn rein naturalistisch könnte man ein Nichttun nicht registrieren, geschweige denn den Unterschied zwischen einem Nichttun und einem nichtgesollten Nichttun.8 Physische, chemische und biologische Beschreibungen könnten solche Unterschiede nicht widerspiegeln. Anders als Handlungen könnten Unterlassungen zudem Wirkungen in der „Außenwelt“ des Handelnden nicht erzeugen, was in der Tat häufig gegen die sogenannte „naturalistische Schule“ des Strafrechts eingewandt wurde.9

7Die Grundlage hierfür ist die raumzeitliche Geltung von Normen: „Da menschliches Verhalten sowie dessen Bedingungen und Wirkungen sich in Raum und Zeit abspielen, muß der Raum ebenso wie die Zeit, in dem die durch die Norm bestimmten Tatbestände vorsichgehen, im Inhalt der Norm bestimmt sein. Die Geltung der menschliches Verhalten regelnden Normen im allgemeinen und somit insbesondere der Rechtsnormen ist eine raum-zeitliche Geltung, insoferne diese Normen ­ raum-zeitliche Vorgänge zum Inhalt haben. Daß die Norm gilt, bedeutet stets, daß sie für irgendeinen Raum und für irgendeine Zeit gilt; das heißt: daß sie sich auf ein Verhalten bezieht, das nur irgendwo und irgendwann stattfinden kann (wenn es auch vielleicht tatsächlich nicht stattfindet)“ (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien: Verlag Österreich, 1960, Nachdruck 2000, S. 12). 8Hans Kelsen zum Beispiel entzieht der Zurechnung von Unterlassungstatbeständen die Kausalitätsfähigkeit: „Bei der Zurechnung von Unterlassungstatbeständen aber – ein überaus wichtiger Fall rechtlicher und sittlicher Zurechnung – ist keine wie immer geartete Kausalverbindung zwischen dem nicht handelnden (also auch kausal nicht wirkenden) Normsubjekte und dem Normobjekte herzustellen“ (Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 74). 9Die Kritik veranlasste v. Liszt in den nachfolgenden Auflagen seines Lehrbuches zur Aufgabe eines vereinheitlichten Handlungsbegriffes im Strafrecht (siehe Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, S. 136).

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

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Die Einwände treffen jedoch nicht zu, da auch Unterlassungen materielle Instanziierungen mit empirischen Wirkungen haben. Bedient sich ein Mensch der Muskelkraft seiner Beine und Arme nicht und unterlässt er dadurch eine rechtlich gebotene Hilfeleistung, indem er einen Verkehrsunfall bezeugt und nur zuschaut, so hat die unterlassende Begehung eines Straftatbestandes ebenso materielle Wirkungen wie jede Handlung auch. Denn sogar das menschliche Stehenbleiben in einer raumzeitlichen Position verlangt Energie; es ist eine organische, zielgerichtete Aktivität, die der Schwerkraft entgegenwirkt. Das weder notwendige noch zufällige, aber durchaus zielgerichtete und energieaufwendige organische Stehenbleiben in einer raumzeitlichen Position ist auch eine Handlung. Handlung ist somit sowohl die Veränderung als auch das Gleichbleiben eines zweckorientierten Systems in einer gewissen Beziehung.10 Hilfebedürftigen Menschen zuzuschauen ist auch eine Handlung. Hätte der Unterlassende Hilfe geleistet, hätte er seine körperliche raumzeitliche Position ändern müssen und hätte durch den Krafteinsatz in diese andere Richtung nur andere Wirkungen in der Umwelt erzeugt als die Wirkungen, die sein Stehenbleiben entfalteten. Dadurch, dass er stehenbleibt, geht nicht nur womöglich ein Leben verloren, sondern es mehren sich materielle Wirkungen. Gewisse Sonnenstrahlen können die Bodenpflanzen nicht erreichen, auf die sein Körper gerade Schatten wirft; das erzeugt die Senkung der Pflanzentemperatur; die Photosynthese wird beeinträchtigt usw. All das sind natürliche Komponenten des Rechtssachverhaltes, mögen sie auch normativ irrelevant sein. Obwohl der allgemeine Rechtstypus der unterlassenen Hilfeleistung anhand dieser natürlichen Komponenten nicht begrifflich bestimmt werden kann, da die natürlichen Komponenten in anderen Sachverhalten von unterlassener Hilfeleistung anders sein werden, kann diese unterlassene Hilfeleistung, dieser Rechtssachverhalt anhand dieser natürlichen Komponenten wahrhaft beschrieben werden, denn es handelt sich bei diesen rechtlichen und natürlichen Beschreibungen um denselben Sachverhalt, der positivrechtliche und natürliche Komponenten hat. Die normative Irrelevanz, also ein für das Strafrecht „so unbedeutender materieller Erfolg“11 ist kein Einwand gegen sein Bestehen.

10Dies

gilt nicht nur für die Entelechie (ἐντελέχεια) natürlicher Lebewesen (vgl. hierzu Aristoteles, 1050b, in: Aristoteles, Metaphysik, 9. Buch, S. 246; Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 174–181; Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 195–197), sondern auch für die formallogische Verknüpfung von Teleologie und Handlung. Für diese siehe Ota Weinberger, Rechtslogik, 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1989, S. 297 ff. 11So Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 114.

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3  Ontologie des positiven Rechts

Die interne Perspektive des Rechts, also die Beschreibung eines normativ relevanten Ereignisses mit spezifisch juristischen Kategorien, kann die externe Perspektive der Naturwissenschaft, eine dem Recht äußeren Kategoriesorte, die ebenso der wahrhaften Beschreibung eines Ereignisses dient, nicht ausschließen. Kurz: Irrelevanz ist kein Einwand gegen Existenz. Die an sich irrelevanten materiellen Komponenten juristischer Beschreibungen könnten aber doch fernliegende normative Konsequenzen entfalten wie etwa die Möglichkeit eines vereinheitlichten Handlungsbegriffs im Strafrecht, der Handlung im engeren Sinne und Unterlassung umfasst. Da der Handlungsbegriff auch eine naturwissenschaftliche Komponente hat, steht es einem wahrheitsorientierten Strafrecht nicht frei, ihn abgetrennt von naturwissenschaftlichen Betrachtungen und allein aus normativen Gründen zu gestalten. Dies betrifft im Allgemeinen die vielen „Lebenstypen“, die in diversen Rechtsgebieten von äußerster Relevanz sind, deren Definition aber dem Recht nur zu einem kleinen Teil und nur im Rahmen des naturwissenschaftlich Korrekten zusteht. Begriffe wie Leben, Krankheit, Fortpflanzung und Tod werden historisch und gegenwärtig im Recht aus der Kultur und den Naturerfahrungen und -wissenschaften übernommen. In diesen Fallkonstellationen werden externe Perspektiven in die interne Perspektive des Rechts einbezogen.12

3.3.2 Außerrechtliche Korrelate rechtlicher Sachverhalte Die natürlichen Komponenten eines Rechtssachverhaltes können auch Korrelate sein, wenn sie ein stabiles statistisches Verhältnis mit einer Mehrzahl rechtlicher Sachverhaltsbeschreibungen eines bestimmten Typus aufweisen. Wenn es sich

12Als

Beispiel hierfür gilt die Anpassung eines „Rechtstypus“ an einen „Lebenstypus“ nach der Terminologie von Karl Engisch (Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl., Heidelberg: C. Winter, 1968, S. 272–294). Am Beispiel des Beleidigungsdeliktes: „Wenn weiter der Gesetzgeber sich in §185 StGB über den Unrechtstypus ‚Beleidigung‘ ausschweigt, so ist sicher, daß er erwartet, daß die Auslegung und Anwendung des Begriffs ganz wesentlich im Hinblick auf den Lebenstypus der Beleidigung geschieht, daß also von Rechts wegen das als Beleidigung gilt, was nach der maßgeblichen Lebensanschauung eine ‚typische‘ Beleidigung ist …“ (ders., S. 277). Nicht nur die Judikative, sondern auch die Gesetzgebung kennt faktische Bedingungen aus der natürlichen und sozialen Umwelt, die für die Erstellung von Normen berücksichtigt werden müssen, um die Gesellschaft wirksam zu regeln: „Um die Tatsachen zu beeinflussen, muß der Gesetzgeber sich ihnen anpassen, und ihre Seinsgesetzlichkeit respektieren. Nur dadurch kann überhaupt zweckmäßig gehandelt werden, daß die bestehenden Kausalitäten in den Dienst der Finalität gestellt werden“ (Peter Noll, Gesetzgebungslehre, Hamburg: Rowohlt, 1973, S. 98).

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

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beispielsweise statistisch feststellen lässt, dass Straftäter kurz vor oder während der Begehung eines Deliktes gewisse Eigenschaften aufweisen wie etwa einen bestimmten Serotoninspiegel13 und erweist sich das Verhältnis zwischen juristischer Deutung (etwa „eine Straftat gegen das Leben begehen“) und der naturwissenschaftlichen Deutung desselben Sachverhaltes als stabil, so könnte ein naturwissenschaftliches, in dem Fall biochemisches Korrelat einer juristischen Beschreibung vorliegen. Wenn es sich beispielsweise statistisch feststellen lässt, dass strafrechtlich Verurteilte zum Zeitpunkt der Begehung der Tat eine gewisse Hirnaktivität aufweisen, die sich klarerweise von der Hirnaktivität von Nichtverurteilten unterscheidet, so wäre es gelungen, ein naturwissenschaftliches Korrelat strafrechtlicher Schuld bezüglich bestimmter Straftaten zu identifizieren.14 Schädeltheoretisch formuliert: „Es bleibt … die Möglichkeit, daß mit irgendeiner Eigenschaft, Leidenschaft usf. ein Knorren an irgend einer Stelle verbunden sei, unüberwindlich übrig.“15

13Vgl.

P. W. Glimcher, The Neurobiology of Individual Decision Making, Dualism, and Legal Accountability, in: Better than conscious?, Decision making, the human mind, and implications for institutions, hrsg. von C. Engel, Cambridge u. a.: MIT Press, 2008, 343– 370, S. 362 ff. Nach Gerhard Roth liegen „bei hoch aggressiven und gewalttätigen Personen deutliche physiologische Veränderungen vor, die vor allem die so genannten Neurotransmitter bzw. -modulatoren Serotonin und Dopamin beträfen. Serotonin habe generell einen beruhigenden und Angst mindernden Effekt und spiele eine wichtige Rolle bei der Impulskontrolle; ein Serotonin-Mangel begünstige das Zustandekommen gewalttätigen Verhaltens“ (Axel Boetticher, Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht des Richters, in: Das Ich und sein Gehirn. Die Herausforderung der neurobiologischen Forschung für das (Straf-)Recht, hrsg. von G. Duttge, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, 2009, 111–128, S. 113). 14Vgl. Glimcher, The Neurobiology of Individual Decision Making, Dualism, and Legal Accountability, S. 350 f., 365. 15Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 253 f. Die Schädellehre untersucht das Verhältnis zwischen Anatomie und moralischem Verhalten. Sie wurde im 18. und 19. Jahrhundert im Kontext des deutschen Idealismus viel diskutiert. Hegels Ausführungen zur Schädellehre betreffen eher das zeitgeistliche Motiv, das überhaupt zu einer solchen Lehre führen, als den Inhalt der Lehre. Das Motiv der Untersuchung der kausalen Verhältnisse zwischen Kraniometrie und moralischem Verhalten ist die Bestrebung, die größtmögliche Objektivität im Verständnis der Moral zu erreichen. Diese Objektivitätsbestrebung führt aber letztlich und irrtümlich zu einer reduktionistischen Eliminierung der Moral (und der Normativität insgesamt). So erörtert Hegel die Momente des wissenschaftlichen Bewusstseins, das um der größtmöglichen Objektivität willen Geist und Vernunft aus seinen Beschreibungen der Natur vollständig ausschließt, dabei trivialiter nur Materie vorfindet und daher jegliche nichtmaterielle Eigenschaft eines Dinges entweder für ein Epiphänomen oder für schlichtweg nicht existent hält. Erst aber das von vorn herein gesetzte reduktionistische Programm, das

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3  Ontologie des positiven Rechts

Während unorganische Komponenten rechtlicher Sachverhalte meistens kein Korrelat ergeben und an sich oft normativ irrelevant sind, ergibt die Steigerung auf die Komplexitätsebene der organischen Natur eine Reihe von Korrelaten, die sich für erheblich viele, manchmal fast die Gesamtheit der juristischen Sachverhalte eines bestimmten Typus gleichzeitig zutreffen. Menschliche Handlungen, die einer kulturell hochdifferenzierten und stark sinnstiftenden Beschreibung zugänglich sind, können dennoch naturalistisch beschrieben werden, und zwar auch anhand von Kategorien, die für die Erfassung von Sachverhalten im Tierreich gebräuchlich sind. Tötet ein Ehemann aus Eifersucht einen anderen Mann, der eine Affäre mit dessen Ehefrau anfing, so kann diese Handlung auch als „Tödtung im Streite um den Genuss der Weibchen“16 naturwissenschaftlich beschrieben und erklärt werden. „Bei allen Thieren mit geschlechtlicher Zeugung ist der wüthende Kampf unter den Männchen, um sich des Weibchens zu bemächtigen und den Zeugungstrieb zu befriedigen, eine so allgemein verbreitete Erscheinung, dass sie zu der DARWINschen Hypothese der geschlechtlichen Zuchtwahl Veranlassung gegeben hat.“17 Solche Korrelationen sind zudem keine bloßen Analogien zum Tierreich, sondern wahre Beschreibungen gegenwärtigen menschlichen Verhaltens aus naturwissenschaftlicher Sicht, da der Mensch aufgrund seiner Naturhaftigkeit aus derselben Materie besteht und denselben physischen Kräften und biologischen Prinzipien unterworfen ist wie die anderen Tiere. Die juristische Normativität und Praxis der Heirat unter Nichtverwandten18 zum Beispiel entspricht der Vermeidung „endogamer Paarung“ (Inzestvermeidung). Dies sind keine einzelnen juristischen Sachverhalte, die hie und da zufällig auch biologisch beschrieben werden könnten, sondern

einen solchen Ausschluss ohne sachlichen (=dem Ding immanenten und ihm entspringenden) Grund vollzieht, ermöglicht den Anschein einer erfolgreichen Erkenntnis der vermeintlich vernunftlosen Natur: „Denn der Gedanke heißt um so schlechter, je reiner und leerer die Abstraktion ist, welche ihm für das Wesen gilt. Der Gegensatz aber, auf den es hier ankommt, hat zu seinen Gliedern die ihrer bewußte Individualität und die Abstraktion der ganz zum Dinge gewordenen Äußerlichkeit, – jenes innere Sein des Geistes als festes geistloses Sein aufgefaßt, eben solchem Sein entgegengesetzt. – Damit scheint aber auch die beobachtende Vernunft in der Tat ihre Spitze erreicht zu haben, von welcher sie sich selbst verlassen und sich überschlagen muß; denn erst das ganz Schlechte hat die unmittelbare Notwendigkeit an sich, sich zu verkehren“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 257). 16Lombroso, Der Verbrecher (homo delinquens), S. 5. 17Lombroso, Der Verbrecher (homo delinquens), S. 5. 18In Deutschland entspricht es dem absoluten Heiratsverbot des §1307 BGB.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

161

Korrelate eines ganzen Rechtstypus mit einer teleobiotischen Prinzipiologie.19 Einige der Gesetzmäßigkeiten, natürlichen Funktionen und inzestvermeidenden Strategien, die Biologen an vielen Pflanzen- und Tierarten beobachten, gelten gleichermaßen auch für die menschliche Spezies und bringen ebenso kulturelle Korrelate hervor.20 Mögen die spezifisch juristischen Beschreibungen von Sachverhalten gesellschaftlich auch von höchster Relevanz sein, sie können die naturwissenschaftlichen Beschreibungen weder logisch oder normativ widerlegen noch historisch überwinden.21 Die interne Perspektive des Rechts überwiegt nicht einfach per Definition gegenüber anderen Deutungsmöglichkeiten. Die humanistische Beschreibung des Menschen anhand ausschließlich geisteswissenschaftlicher Kategorien ist selbst ein antiwissenschaftlicher Reduktionismus, der sich sämtlichen Deutungs- und Erklärungsmöglichkeiten verschließt. Kurz, juristische Sachverhalte sind immer zugleich auch natürliche Sachverhalte physischer, chemischer und/oder biotischer Art.

3.3.3 Zur Irreduktibilität rechtlicher Sachverhalte auf ihre natürlichen Komponenten 3.3.3.1 Zur semantischen Komponente des positiven Rechts Das Nebeneinander von naturwissenschaftlichen und juristischen Verständnisweisen ist jedoch in der Praxis nicht immer harmonisch. Zumindest seit dem 19.  Jahrhundert, als die Naturwissenschaften ein großes gesellschaftliches und akademisches Prestige genossen, gibt es Versuche, normative, meistens moralische und juristische Sachverhalte ausschließlich naturwissenschaftlich zu begreifen. Die naturalistischen Beschreibungen wurden auf den Menschen als

19Für

die biologische Funktion der Inzestvermeidung und ihrer sozialen und normativen Gegenwart siehe Abschn. 2.2.4. 20Siehe Abschn. 2.2. 21„(…) es gibt keinen hinreichenden Grund, menschliches Verhalten nicht auch als Element der Natur, das heißt nicht als durch das Prinzip der Kausalität bestimmt zu begreifen, das heißt ebenso wie Tatsachen der Natur als Ursache und Wirkung zu erklären. Daß solche Erklärung – wenigstens in einem gewissen Grade – möglich ist und tatsächlich erfolgt, kann nicht bezweifelt werden. Sofern eine Wissenschaft menschliches Verhalten in dieser Weise beschreibt und erklärt und, weil sie das gegenseitige Verhalten der Menschen zum Gegenstand hat, als Gesellschaftswissenschaft qualifiziert wird, kann eine solche Gesellschaftswissenschaft nicht als wesenverschieden von den Naturwisenschaften gelten“ (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 79; vgl. auch S. 89).

162

3  Ontologie des positiven Rechts

Erzeuger von kulturellem Sinn und Normativität bezogen, um die normativen Deutungen eines Sachverhaltes schon in ihrem Ursprung zu verstehen und gegebenenfalls als biologisch oder anthropologisch bedingte Projektionen zu entlarven, also als Deutungen, die zwar Ursachen hätten, die sich aber nicht anhand ihrer Referenz (Gegenstand der Bezugnahme) rechtfertigen ließen, weil sie eigentlich keine hätten. Diese Rolle wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Neurowissenschaft gespielt. Ein zentrales Anwendungsfeld neurowissenschaftlicher Erkenntnisse war die kausale Vermittlung zwischen menschlichem Verhalten und neuronalen Vorgängen. Diskussionsfelder betrafen vornehmlich die Debatten um Willensfreiheit und Determinismus und die Folgen etwa für das Strafrecht, die ethischen Folgen der Relativierung herkömmlicher Konzeptionen individueller Freiheit, ebenso wie intellektuelle Ehrlichkeit in Spiritualitätsfragen.22 Der erklärende Wert der Neurowissenschaft besteht in der Identifizierung von empirischen Hirnfaktoren, die gewisse Überzeugungen wie Freiheit, individuelle Identität, Schuld und Verantwortung mitverursachen, obwohl sie diese Überzeugungen nicht rechtfertigen.23 Eine sich daraus ergebende kritische Komponente besteht in der Bezeichnung der so entstandenen normativen Überzeugungen als Epiphänomene von Hirnvorgängen. Rechtliche Komponenten von Sachverhalten, die aus den neurowissenschaftlich angefochtenen Kategorien bestehen, würden somit auf ihre natürlichen (physischen, chemischen, biotischen) Korrelate und Entstehungsbedingungen reduziert. Die externe Perspektive der Neurowissenschaft wollte oft die einzig realistische, ja die eigentlich aufgeklärte Perspektive sein und nicht in das Recht als zusätzliche Informationsbasis über Rechtssachverhalte integriert werden, sondern die rechtlichen Komponenten ersetzen.24 Eine der verheerenden Folgen für das Recht wäre beispielsweise die 22Zu

einem neurowissenschaftlichen Programm in diesem Sinne vgl. Thomas Metzinger, Der ­Ego-Tunnel, München u. a.: Piper, 2014. 23Trotz der Nichtfindung eines „Moralareals“ ergeben statistische Messungen der Gehirnaktivität ein gewisses Muster bei der Lösung von moralischen Problemen, mit denen rechtliche Probleme für empirische Forschungszwecke vergleichbar sind. Übersicht bei Monika Emilia Miranowicz, Gehirn und Recht. Wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse das Dilemma zwischen Naturrecht und Positivismus überwinden können, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verl., 2009, S. 163–171. 24Vgl. nur Roths Position, nach der „das Gefühl der Autorschaft, der Verantwortung und Schuld der privaten sowie sozial-sprachlich vermittelten Beschreibungen eigenen und fremden Tuns entspringt und nicht die tatsächlichen Verhältnisse bei der Verursachung und Steuerung unseres Verhaltens widerspiegelt“ (Gerhard Roth, Willensfreiheit und Verhaltensautonomie, in: Gehirn, Geschichte und Gesellschaft. Die Neuropsychologie Alexander R. Lurijas (1902–1977), hrsg. von W. Jantzen, Berlin: Lehmanns Media, 2004, 19–37, S. 36).

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

163

Unmöglichkeit einer auf Freiheit basierten Verantwortlichkeit für widerrechtliche Taten, wenn es sich herausstellt, dass Freiheit nur eine sich aus biotischen Vorgängen, praktischen Bedürfnissen und juristischen Regelungen ergebende Fiktion ist. Eine neurowissenschaftliche Erklärung könnte den folgenden Begründungszusammenhang verfolgen: (1) neuronale Vorgänge25 verursachen in Individuen die Wahrnehmung von Identität und Freiheit; (2) auf Basis dieser Überzeugung konstruieren Individuen das, was sie Kultur und Normativität nennen; (3) die rechtliche Normativität enthält Begriffe wie individuelle Schuld, die nur unter den Bedingungen von individueller Identität und Freiheit einen Sinn ergeben; (4) folglich sei das Recht bzw. der rechtlich-normative Anteil eines Sachverhaltes, insofern das antecedens eines antecedens auch ein antecedens des consequens ist (causa causae est causa causati), ebenso eine Folge von neuronalen Vorgängen. Es wird somit eine ontologische Hierarchie erstellt, die dem Epiphänomenalismus eigen ist: es wird eine Seinsschicht mit mehr oder vorrangiger Wirklichkeit entdeckt (neuronale Vorgänge), wovon die andere Schicht (Freiheit, Verantwortung, Recht) bloße Wirkung bzw. bloßes Resultat ist. In dieser Seinshierarchie überwiegt Materialismus gegenüber Normativismus und Idealismus. Die Entdeckung natürlicher Komponenten rechtlicher Sachverhalte durchläuft aber notwendigerweise einen gnoseologischen Weg. Für deren Suche muss der empirische Forscher zunächst die interne Perspektive des Rechts einnehmen, die juristische Begrifflichkeit verstehen und erst dann auf die Empirie eingehen und dort nach Korrelationen der Materie mit einer von vorn herein juristischen Begrifflichkeit suchen. Er muss zunächst wissen, was für empirische Tatsachen überhaupt als Komponenten des juristisch gedeuteten Sachverhaltes zählen, da der umgekehrte Weg, eine naturalistische Beschreibung eines Sachverhaltes, auf keinen positivrechtlichen Sachverhalt schließen lässt. Zum Beispiel: Obwohl das Beleidigungsdelikt immer mit physischen, chemischen und biotischen Vorgängen verbunden ist, kann die Berücksichtigung solcher Faktoren schon deswegen nicht zu einem Kriterium für das Vorliegen von Beleidigung gemacht werden, weil die natürlichen Vorgänge selbst nach einem Kriterium (dem Beleidigungsbegriff) durchsucht werden und deswegen dem rechtlichen Kriterium gnoseologisch nachträglich sind. So lässt sich die rechtliche Begrifflichkeit nicht durch ein naturalistisches Spezifikationskriterium ersetzen. Dies gilt gleichermaßen für die Findung eines über bloße Komponenten hinausgehenden Korrelates. Selbst wenn z. B. alle Mörder einen erhöhten Serotoninspiegel aufwiesen, müssten immer noch unter den vielen Menschen mit erhöhtem Serotoninspiegel weitere

25Übersicht

bei Roth, Willensfreiheit und Verhaltensautonomie.

164

3  Ontologie des positiven Rechts

Kriterien angefügt werden, die allein auf Mörder schließen ließen, was wiederum nur anhand rechtlicher Kategorien geleistet werden kann.26 Kurz, die Findung natürlicher Komponenten rechtlicher Sachverhalte kann die jeweilige Rechtskomponente des Sachverhaltes nicht ausschließen und stellt deswegen keine eliminative Reduktion, sondern eine empirische Wissenserweiterung27 dar, die das Recht als zumindest eine semantische Wirklichkeit gnoseologisch voraussetzt. Das Recht ist also der begriffliche Ursprung des Korrelates.28 So scheitert die Reduktion29 positivrechtlicher auf natürliche Komponenten eines Sachverhaltes zunächst aufgrund einer semantisch-gnoseologischen

26„If

we find strict, fine-grained, and systematic correlations between neural and phenomenal types of events, this does not rule out a (…) possibility. There may be no causal relationship between events like N and S at all, neither direct nor indirect, because both of them are just different aspects of one underlying reality. ­Double-aspect theories would assume that scientifically describing N and phenomenally experiencing S are just two different ways of accessing one and the same underlying reality“ (Metzinger, Thomas/ Chalmers, David J./Beckermann, Ansgar/Revonsuo, Antti/Roth, Gerhard/Crick, Francis/ Koch, Christof/Damasio, Antonio R./Singer, Wolf/Edelman, Gerald M. (Hrsg.), Neural correlates of consciousness. Empirical and conceptual questions, 2. Aufl., Cambridge, Mass. u. a.: MIT Press, 2002, Introduction, S. 4). 27Allgemeiner: Die Entdeckung eines Korrelates ist immer eine Wissenserweiterung. So war die Entdeckung, dass Wasser aus mehreren Molekülen von H2O besteht, auch eine wissenschaftliche Aufklärung. Kritikpotenzial wird dadurch jedoch nicht entfaltet, da Wasser auch nach der Entdeckung des Korrelates nicht aufhört, das alte und bekannte Wasser zu sein. Das heißt, das Korrelat beseitigt nicht das, womit es korreliert. Vgl. Oderberg, Real Essentialism, S. 6, 13 f. 28„Wenn es das Ziel des Reduktionisten ist, Beschreibungen auf der höheren Ebene vollständig auf solche der niedrigen Ebene zu reduzieren (durch diese zu ersetzen), muß er scheitern, wenn er explizit oder implizit Tatsachen der höheren Ebene für diese Reduktion voraussetzt. Dese Voraussetzungen können zum Beispiel darauf basieren, daß a) der Reduktionist auf Informationen in Begriffen der höheren Ebene für seine Erklärungen nicht verzichten kann, zum Beispiel den Begriff ‚Gefühle‘, wenn deren neurobiologischen Grundlagen erforscht werden sollen, oder b) der Reduktionist funktionale Begriffe verwenden muß, die nur auf der höheren Ebene einen Sinn haben, zum Beispiel in einer individualistischen Gesellschaftstheorie die soziale Rolle des Finanzbeamten, die Institutionen voraussetzt“ (Rüdiger Vaas, Reduktionismus und Emergenz, Konzepte Sonderforschungsbereich 230, 45/1995, 102–161, S. 150). 29Beschreibung, historische Rekonstruktion und Kritik der vielen Spielarten des Reduktionismus in der Wissenschaftstheorie bei Vaas, Reduktionismus und Emergenz. „Das reduktionistische Programm strebt danach, das Fundamentale in der komplexen Erfahrungswelt freizulegen, und zwar sowohl hinsichtlich der elementaren Konstituenten der Welt als auch hinsichtlich der grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich diese Konstituenten verhalten und gegenseitig beeinflussen“ (aaO., S. 102).

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

165

Problematik. Am Beispiel der Neurowissenschaften: Um das Zustandekommen von Überzeugungen über Freiheit und Ichheit überhaupt zu erklären, muss die neurowissenschaftliche Reduktion ein semantisch-interpretatives Verständnis darüber anbringen, was auf materielle Vorgänge reduziert werden soll. Geht es im Allgemeinen um eine nichtkompatibilistische Verteidigung des Determinismus,30 so muss zunächst bestimmt werden, was Freiheit eigentlich ist, also mit welcher unter den vielen vorhandenen Freiheitskonzeptionen der Determinismus unvereinbar ist. Mit anderen Worten, um die These zu begründen, dass der Determinismus mit Freiheit unvereinbar ist, muss der Determinist über einen Freiheitsbegriff verfügen, um sagen zu können, dass er nicht instanziiert ist: „To know whether a brain state is correlated with a particular psychological faculty or attribute, we must first have criteria for identifying the faculty or attribute. Physical states of the brain cannot fulfill this role.“31 Ebenso ist eine durch einen Polygraphen detektierte Lüge nur dann wirklich eine, wenn die Aussage nicht der Wahrheit entspricht, deren Bestehen immer jenseits neuronaler Messungen zu erkunden ist.32 Dasselbe gilt für sonstige neurowissenschaftlichen Verwendungen geisteswissenschaftlicher Begriffe: Ob Gehirnvorgänge überhaupt anhand animistischer Kategorien wie „wissen“, „denken“ und „wollen“ gefasst werden können, ist eine begriffliche Angelegenheit, die zeitlich und gnoseologisch vor der empirischen Forschung gelöst werden muss.33 Ein beanspruchter

30Der

Kompatibilismus behauptet, dass Freiheit mit Determinismus vereinbar ist. Der nichtkompatibilistische Determinismus behauptet, dass der Determinismus der Fall ist und nicht mit Freiheit vereinbar ist. Diskussion der beiden Positionen und Verteidigung des Kompatibilismus etwa bei P. F. Strawson, Freedom and Resentment, in: ders., Freedom and Resentment and Other Essays, London: Methuen, 1974, 1–25. 31M. S. Pardo/D. Patterson, Philosophical Foundations of Law and Neuroscience, University of Illinois Law Review, 4/2010, 1212–1250, S. 1224. 32Beispiel und Diskussion bei Pardo/Patterson, Philosophical Foundations of Law and Neuroscience, S. 1227 ff. 33Dem Gehirn subjekttypische Handlungen zuzuschreiben ist ein häufiges Merkmal naturalistischer Epistemologien. So wird das Gehirn zum eigentlichen Subjekt des Denkens. Erkenntnistheorie wird zu einer „Apparatekunde“ (vgl. Günther Pöltner, Evolutionäre Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit der evolutionären Erkenntnistheorie, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1993, S. 21 f.). Kritische Analyse bei Pardo/Patterson: „But does it make sense to attribute to the brain psychological attributes normally attributed to persons? Can we intelligibly say that the brain thinks, perceives, feels pain, and decides?“ (Pardo/Patterson, Philosophical Foundations of Law and Neuroscience, S. 1225). „The mereological fallacy consists in attributing an ability or function to a part that is only properly attributable to the whole of which it is a part“ (aaO.); „the reduction of a psychological attribute to a cortical attribute is a fallacious move from whole to part“ (aaO., S. 1226).

166

3  Ontologie des positiven Rechts

„eliminativer Reduktionismus“34 beginge so den Widerspruch, ein Sein auf ein ursprünglicheres Sein zurückführen zu wollen und jenes dabei für Nichtsein zu halten.35 Im Ergebnis kann das Korrelat nicht zu einem gegen das Recht durchsetzbaren normativen Handlungs- und Entscheidungskriterium gemacht werden.36 Ein Angeklagter ist nicht deswegen schuldig, weil er eine gewisse Hirnaktivität zum Zeitpunkt der Tat aufwies, sondern seine Schuld wird zunächst nach rechtlichen Maßstäben gestaltet und liefert die semantischen Abgrenzungen für die Suche nach entsprechenden empirischen Korrelaten wie etwa neuronalen Mustern. Selbst wenn die neuronalen Korrelate rechtlicher Sachverhalte als Basis für zukünftige rechtliche Beurteilung verwendet werden, handelt es sich nicht um eine naturalistische Entfremdung des Rechts, sondern immer noch um juristische Differenzierungen mit materiell-empirischem Vokabular, also nur scheinend um naturalistische Kriterien.37 Natürliche Korrelate von rechtlichen Deutungen können also, zusammenfassend, gesucht, gefunden oder nicht gefunden werden, was jeweils Folgendes impliziert: (1) Die Suche nach natürlichen Korrelaten des Rechts setzt die semantische Wirklichkeit des Rechts gnoseologisch voraus, denn das rechtliche Kriterium muss zunächst festgelegt werden und gekannt sein, damit unter den vielen natürlichen Ereignissen diejenigen gesucht werden können, die die rechtlichen Sachverhalte mitkonstituieren. (2) die erfolgreiche Entdeckung eines Korrelates andererseits bestätigt die Wirklichkeit des Rechts insofern, als dass man von der semantischen Wirklichkeit des Rechts ausgeht und zudem außerrechtliche Tatsachen findet, die mit Rechtssachverhalten verstrickt sind. Es werden dann Sachverhalte entdeckt,

34Terminus

bei George Pavlakos, Rechtsontologie und praktische Vernunft, Baden-Baden: Nomos, 2008, S. 48. 35Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 255. 36In Auseinandersetzung mit der Neurowissenschaft vgl. Glimcher, The Neurobiology of Individual Decision Making, Dualism, and Legal Accountability, insbes. S. 368. 37Seit dem 19. Jahrhundert gibt es die Tendenz, „Naturwissenschaft zu sagen und Metaphysik des Rechts zu meinen“ (Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rn. 218), also Rechtsnormativität in einer naturalistischen Sprache auszudrücken, wenn sie dem Zeitalter plausibler erscheint (ders., Rn. 222), ohne dass damit die normativen Kriterien tatsächlich aus den naturalistischen Beschreibungen gewonnen würden.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

167

die zugleich natürlich und rechtlich sind. So kann z. B. eine bestimmte „Ehe zwischen Nichtverwandten“ zugleich eine „exogame Paarung“ sein, ohne dass die naturwissenschaftliche Komponente die rechtliche ausschließen könnte und umgekehrt. Die erfolgreiche Entdeckung von Korrelaten ist also keine Eliminierung, sondern eine Wissenserweiterung. (3) Die Nichtfindung eines Korrelates kann dagegen dreierlei bedeuten: (3a) erstens kann es eine bloße Wissenslücke der empirischen Wissenschaft sein, die in der Zukunft durch Forschung gefüllt werden könnte; (3b) zweitens kann es daran liegen, dass die rechtliche Regelung in der Tat eine irrtümliche Voraussetzung hat. Auch irrtümliche Thesen können zur semantischen Wirklichkeit des Rechts gehören, und zwar als Gesetzestexte und deren logische und soziale Voraussetzungen, als richterliche Urteile oder Verwaltungsakte. Auch sie sind semantische Wirklichkeiten, die als Ausgangspunkt für die Suche nach Korrelaten verwendet werden können. Im Falle eines Widerspruches zwischen dem, was im Recht behauptet oder implizit vorausgesetzt wird, und dem, was in anderen semantischen Feldern wie Soziologie, Naturwissenschaften und Philosophie gilt, kann das Recht nicht schlichtweg per Definition überwiegen. Es ist nicht die Todesbescheinigung, die jemanden zu einem toten Menschen macht, auch wenn eine irrtümlich erstellte Todesbescheinigung rechtliche Wirkungen entfalten mag. Dann würde ein Mediziner den Tod empirisch nicht feststellen können (und somit das naturalistische Korrelat nicht finden können), weil dieser tatsächlich nicht stattfand. Am etwas komplizierteren Beispiel der individuellen Freiheit: Wenn das Individuum nicht wirklich frei ist, könnte es auch nicht dadurch frei werden, dass ein Gesetzgeber es so befähle, Rechtswissenschaftler Theorien in diesem Sinne entwerfen oder eine Rechtskultur es so positivierte (Sozialpositivismus). Dies nicht zuletzt deshalb, weil es andere semantische Wirklichkeiten gibt, wie die Philosophie, die Naturwissenschaften und andere Kulturen und Subkulturen, die gegensätzliche Behauptungen aufstellen können. Die individuelle Freiheit ebenso wie andere Sachverhalte rechtsübergreifender Art wie Leben, Gesundheit, Verwandtschaft, Tod usw. können nicht schlichtweg durch rechtliche Setzung wirklich werden. Mit anderen Worten: Solche faktischen Voraussetzungen, unter denen allein bestimmte positivrechtliche Regelungen sinnvoll sind, überschreiten die rechtlichen Positivierungsmöglichkeiten. Die Thesen welchen Gebiets überwiegen bzw. wessen Semantik referenziell zutrifft, kann nicht durch Zuständigkeitszuschreibungen oder schlichtende Konstruktionsbefugnisse gelöst werden, etwa indem – nach einer fallacia ad campus – nur „das Recht“ als autonome S ­atzmenge

168

3  Ontologie des positiven Rechts

(oder als linguistic framework38, Sprachspiel39, field of argument40, soziales System41) seine eigene Wirklichkeit positivieren könnte, während die anderen semantischen Gebiete eine damit unvereinbare Wirklichkeit für sich konstruierten, da sie alle auf genau dieselben Sachverhalte beziehen, z. B. Individuen, die frei, lebendig, gesund sind oder nicht. Wenn verschiedene semantische Felder einander widersprechen, können sie nicht zugleich wahr sein. (3c) Aus denselben Gründen kann die bloße Nichtfindung eines empirischen Korrelates rechtlicher Kategorien ebenso wenig die Falschheit der im Recht vorausgesetzten These nachweisen, denn, da es keinen prinzipiellen Vorrang für andere semantische Felder gibt, könnte die im Recht vorausgesetzte These eben die zutreffende sein. Wenn das Recht von Willensfreiheit ausgeht, könnte es auf einer richtigen philosophischen Grundlage beruhen, die weder eine bloße rechtsförmige Zuschreibung darstellt noch durch die Methoden der empirischen Wissenschaften festgestellt werden könnte. So kann die Nichtfindung eines empirischen Korrelates für eine im Recht vorausgesetzte These an einem methodologischen Defizit des suchenden Wissensgebietes liegen.

3.3.3.2 Zur Naturhaftigkeit ideeller Eigenschaften So kann die außerrechtliche Komponente rechtlicher Sachverhalte die Empirie überschreiten, also ideell sein. Auch ideelle Eigenschaften sind in der Natur vorhanden. Sie sind kulturellen Sinnkonstruktionen ontologisch vorherig, aber können aufgrund ihrer Immaterialität nicht mittels bloß empirischer Methoden beschrieben werden. Sie verhalten sich zu ihren materiellen Korrelaten in der Natur in derselben Weise wie die rechtlichen Eigenschaften eines Sachverhaltes sich zu der materiellen Eigenschaften desselben verhalten. Im Folgenden wird das Verhältnis von materiellen und immateriellen Eigenschaften zueinander erörtert, woran sich die Darstellung des Verhältnisses von

38I.

S. v. Rudolf Carnap, Empirismus, Semantik und Ontologie, in: Rudolf Carnap, Bedeutung und Notwendigkeit. Eine Studie zur Semantik und modalen Logik, Wien u. a.: Springer, 1972, 257–278, S. 259. 39I. S. v. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. in: Philosophische Untersuchungen, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, 16. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, §7 ff. 40I. S. v. Stephen Toulmin, The uses of argument, Cambridge: Cambridge UP, 1958 (Nachdruck 2003), S. 14 ff. 41I. S. v. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 30 ff.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

169

materiellen und normativen Eigenschaften anknüpfen wird (C.III.3). Daraus ergibt sich der ontologische Rahmen für die Erklärung rechtlicher Sachverhalte aus nichtrechtlichen Tatsachen (C.IV) und für die Darstellung der selbständigen Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten (D.I-III). Eigenschaften wie Flüssigkeit, Festigkeit, Schwere usw. haben eine in der Geschichte der Philosophie umstrittene Existenzweise.42 Flüssigkeit ist eine allgemeine Eigenschaft von Substanzen, weil sie nicht nur in der räumlichen Begrenzung der Substanz – etwa in einem Liter Wasser – vorkommt, sondern auch für andere Substanzen in anderen Räumen gleichzeitig und gleichermaßen zutrifft. Wasser ist zwar zum Teil Materie; die dem Wasser zukommende Flüssigkeit an sich ist aber keine Materie, sondern eine einzeldingübersteigende immaterielle Einheit, eine ideelle Entität, eine Universalie, ein Prädikat oder Prinzip. Das sogenannte „moderne wissenschaftliche Weltbild“ ist aber skeptisch gegenüber der außermenschlichen Existenz von Universalien. Auf Basis des modernen Materialismus und der modernen weltanschaulichen Anthropozentrik gibt es zwei mögliche Umgangsformen mit Universalien. Am bereits genannten Beispiel des Wassers könnte es angenommen werden, (1) Flüssigkeit habe eine von der materiellen Substanz, etwa von jedem bestimmten Liter Wasser abhängige Existenz (hier genannt materielle Reduktion von Flüssigkeit) oder (2) Flüssigkeit sei nur die Art und Weise, wie bestimmte Erkenntnissubjekte das Wasser sehen, betrachten oder denken, da sie allgemein ist und nur Erkenntnissubjekte allgemeine Ideen haben könnten. Während die bestimmten ­H2O-Agitationen unter bestimmten Bedingungen von Druck und Temperatur eine erkenntnisunabhängige Wirklichkeit besäßen, sei Flüssigkeit eine spezifische Art und Weise, wie das Wasser bestimmten Erkenntnissubjekten erscheint oder erscheinen könnte; ihre Existenz hinge demnach von der Existenz von Erkenntnissubjekten mit einem bestimmten Erkenntnisapparat ab. Diese zweite These wird hier phänomenologische Reduktion von Flüssigkeit genannt.

42Damit

angesprochen ist ein Unterfall des im Mittelalter viel diskutierten Universalienstreits, der grundsätzlich darin besteht, ob allgemeine Prädikate eine selbständige Existenzweise aufweisen. Siehe zur Übersicht Hans-U. Wöhler, Texte zum Universalienstreit. Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik. Lateinische, griechische und arabische Texte des 3.–12. Jahrhunderts, Berlin: de Gruyter, 1992.

170

3  Ontologie des positiven Rechts

Um der Bedeutung des Begriffs Phänomen gerecht zu werden, nämlich dem, was jemandem erscheint (ϕαινόμενον, apparens), besteht der phänomenologische Reduktionsversuch von Flüssigkeit auf spezifische H ­ 2O-Bewegungen unter gewissen Druck- und Temperaturbedingungen in der These, ­H2O-Bewegungen gebe es ontologisch unabhängig von jeglichem Erkenntnissubjekt, während Flüssigkeit nur eine Erscheinungsform dieser Bewegungen für gewisse Erkenntnissubjekte sei. So seien zwar sowohl H2O-Bewegungen als auch Flüssigkeit existent, aber die ersten an sich („ontologisch unabhängig“) und die zweite ein Ephänomen („ontologisch abhängig“) von Erkenntnissubjekten. Flüssigkeit existiere ausschließlich in der internen Perspektive von Erkenntnissubjekten, während die H2O-Agitation „out there“, unabhängig von Erkenntnissubjekten sei. Der phänomenologische Reduktionsansatz scheitert allerdings aus zwei Gründen. Erstens ist es willkürlich, nur der Flüssigkeit phänomenalen Charakter zuzusprechen. H2O-Bewegungen sind gleichermaßen Phänomene, das heißt, auch sie erscheinen in der internen Perspektive von Erkenntnissubjekten, nämlich in dem Sinnfeld der Naturwissenschaften.43 Aus rein phänomenologischer Sicht kann daher keine Seinshierarchie bzw. keine ontologische Differenz begründet werden, die auf die phänomenale Abhängigkeit des einen Phänomens und auf die phänomenale Unabhängigkeit des anderen schlösse. Was auch immer erscheint, ist bereits darum ein Phänomen. Also müssten entweder H2O-Bewegungen und Flüssigkeit gleichermaßen Phänomene und daher ontologisch abhängig von Subjekten sein oder keines davon ist es. Zweitens verfällt der phänomenologische Reduktionsversuch in einen Unterfall des chronologischen Grundwiderspruchs des Konstruktivismus.44 Wenn das Wasser flüssig ist, das heißt, wenn Flüssigkeit je nach Druck und Temperatur eine Eigenschaft des Wassers ist, dann bestand sie bereits vor jeglichem Erkenntnisakt, so wie das Wasser selbst vorher bestand. Diese Eigenschaft des Wassers entstand nicht erst, als Menschen sie erkannten oder nur benannten, nicht zuletzt, weil sie eine Eigenschaft ist, die zur Entstehung des Menschen und anderer Lebewesen überhaupt kausal führte. Die Tatsache, dass das Wasser unter vielen Druckund Temperaturbedingungen der Erdoberfläche flüssig ist, ermöglichte erst die

43Sinnfeld

ist ein „Gegenstandsbereich, der dadurch individuiert wird, dass seine Gegenstände auf eine bestimmte Weise erscheinen“ (Gabriel, Existenz, realistisch gedacht, S. 196). 44Zu diesem Widerspruch im Allgemeinen vgl. Erörterung oben, Abschn. 2.2.2 und 2.3.2.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

171

­ ntstehung des Lebens überhaupt und des menschlichen Lebens insbesondere.45 E Daraus folgt, dass sie keine bloß phänomenale Existenz hat. Eine Überlegung nach dem Kausalitätsmodus der conditio sine qua non führt zum selben Ergebnis: Wäre kein Mensch entstanden oder hätte kein Mensch das Wort Flüssigkeit bzw. die Bezeichnung H2O erfunden, so wäre das Wasser trotzdem flüssig und H2O gewesen, denn diese sind vormenschliche Sachverhalte, auf die durch diese Bezeichnungen Bezug genommen wird. Ein Konstruktivismus, der die menschliche, kulturelle, sprachliche oder institutionelle Abhängigkeit von allgemeinen Naturtatsachen behauptete, könnte den Grundwiderspruch nur vermeiden, indem man sagte, dass das Wasser erst flüssig wurde, wenn die jeweiligen Menschen, Kulturen, Sprachen usw. entstanden und diese Bezeichnung erfanden. Dafür müsste er aber die Natur- und die Menschheitsgeschichte, ja sogar die Zeitdimension leugnen. Akzeptiert man dagegen, dass das Wasser bereits vor jeglichem Erkenntnis- und Benennungsakt flüssig war, so muss der Konstruktivismus verworfen werden. In der Zeitdimension gilt, die Eigenschaft des Wassers, flüssig zu sein, bestand bereits vorher und wurde erkannt bzw. wurde überhaupt zu einem Phänomen, seitdem es Erkenntnissubjekte gibt, die sich dem Wasser erkennend zuwenden, also seitdem es Phänomene, Kultur, Sprache, Institutionen und Theorien überhaupt gibt. Dass das Wasser flüssig ist, ist folglich keine Konsequenz von subjekt- oder gesellschaftsbezogenen Vorkommnissen. Der ideelle Charakter von Flüssigkeit als allgemeiner Eigenschaft ist nicht menschlichen Sinn- oder Ideenzuschreibungen zu verdanken, obwohl Menschen dem Wasser und seinen Eigenschaften zusätzliche Bedeutungen beimessen können, indem sie etwa Erzählungen und andere Kulturelemente an es anknüpfen. Der eingangs genannte materielle Reduktionsansatz besteht genauer in der These, dass nicht nur Bewusstsein durch ein biotisches System (etwa im Gehirn)

45Man

könnte einwenden, dies sei eine petitio principii, denn der physikalistische Reduktionismus könnte lauten, nicht die Eigenschaft Flüssigkeit hätte zur Entstehung des Lebens geführt, sondern allein die Agitationen der H ­ 2O-Moleküle unter bestimmten Druck- und Temperaturbedingungen, die nachträglich als Flüssigkeit gedacht bzw. genannt würden. Dies verschiebt die Fragestellung allerdings nur um eine weitere Abstraktionsebene, denn dann wäre „H2O“ (statt Flüssigkeit) die abstrakte, imaterielle, prädikative Eigenschaft, um die es sich handelt, die Einzeldinge transzendiert und die mehrere Instanziierungen haben könnte (viele Moleküle haben dieselbe Eigenschaft, H2O zu sein). Jedem Liter „etwas“ käme die Eigenschaft zu, ein Liter des Universalien „H2O“ zu sein. Die im Text diskutierte Problematik zwischen „Flüssigkeit“ und „H2O“ wiederholt sich demnach zwischen „etwas“ und „H2O“.

172

3  Ontologie des positiven Rechts

„realisiert“ werden müsse, um zu existieren („biological principle“46), sondern auch dass jegliche „höhere“ Eigenschaft eines Systems in „niedrigeren“ Eigenschaften realisiert werden müsste: „the biological principle is an instance of a much more general principle which states that any higher-level-features at all – such as the liquidity of water, the solidity of the table, and the elasticity of the steel bar – have to be realized in lower-level-elements“47. Somit wird eine ontologische Hierarchie zwischen materiellen und nichtmateriellen Eigenschaften behauptet, wobei die eine Ebene die andere „realisieren“ müsste.48 Dass es

46John

R. Searle, Seeing things as they are. A theory of perception, New York: Oxford University Press, 2015, S. 51.

47Searle, 48„On

Seeing things as they are., S. 51

the account that I have been giving you in this book, it is clear that rock bottom is the world as described by atomic physics. … These particles exist in fields of force and are organized into systems, where the boundaries of the systems are set by causal relations. Examples of systems would be water molecules, babies, nation states, and galaxies. … One of the tasks of philosophy is to explain the constitution of these higherlevel systems and how they bottom out into the entities of atomic physics“ (Searle, Seeing things as they are, S. 222 f.). Dies ist eine reduktionistische Position. Der Reduktionismus ist „a hierarchical classification of objects in which the objects at each level are complex structures of the objects comprising the next-lower level“ (Dupré, The Disorder of Things, S. 89). „Reduction consists in deriving the laws at each higher (reduced) level from the laws governing the objects at the next-lower (reducing) level“ (aaO., S. 89). Das ist eine „traditional, hierarchical, levels-based view of reality, according to which there are distinct physical, living (or biological), intentional (or psychological), and social levels, with entities at ‚higher‘ levels being organized systems of entities at immediately ‚lower‘ levels“ (Robert A. Wilson, Social Reality and Institutional Facts. Sociality within and without Intentionalty, in: Intentional Acts and Institutional Facts, Essays on John Searle’s Social Ontology, hrsg. von S. L. Tsohatzidis, Dordrecht: Springer, 2007, 139–153, S. 149). In der Moderne setzt der Reduktionismus meistens die metaphysische These voraus, dass es nur materielle Dinge gibt, also die metaphysische These des Materialismus (vgl. Dupré, The Disorder of Things, S. 89ff.; bezüglich auf Searles These siehe kritisch Gabriel, Sinn und Existenz, S. 203 f.). Reduktionismen der gesamten Wirklichkeit auf Materie verfallen seit dem altgriechischen Atomismus in die Verlegenheit, die Existenz zusätzlicher, nichtmaterieller Entitäten in den selben Sätzen implizit einzuräumen, in denen die ausschließliche Existenz von Materie behauptet wird. So wäre beispielsweise in Searles vermeintlichen Materialismus den ontologischen Status der ausdrücklich zugegebenen „fields of force“, „systems“ und „causal relations“ zu befragen, da diese Entitäten, Begriffe und Kräfte keine Materie sind, sondern der Materie gleichzeitig existieren und auf sie wirken. So auch Demokrit, der gleichzeitig zur Behauptung der ausschließlichen Existenz der Atome zusätzlich die Existenz der „Leere“ zwischen den Atomen, des „Nichts“, der „Zustände“ und der „Bewegung“ widersprüchlicherweise einräumt (vgl. Demokrit, in: Mansfeld, Die Vorsokratiker II, zit. nach Sextus Empiricus S. 319, zit. nach Theophrast

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

173

ü­ berhaupt eine Korrelation zwischen beiden gibt, ist auch eine These der vorliegenden Untersuchung. Eine solche Prioritätsfestsetzung für eine unter ihnen ist jedoch willkürlich, denn es ist nicht einzusehen, warum die Molekularbewegungen die „lower-level-feature“ in Bezug auf Flüssigkeit sind statt vielmehr des Umgekehrten, oder warum nicht vielmehr die higher-level-feature die lower-level-feature realisieren müsste. Jedenfalls könnte eine solche „Realisierung“ kein raumzeitlicher Kausalzusammenhang sein, da ein Kausalzusammenhang im Laufe der Zeit, und zwar mit antecedens und consequens stattfinden müsste,49 und das hieße ad absurdum, das Wasser müsste zuerst gewisse Molekularbewegungen aufweisen, um danach flüssig zu werden, oder es müsste zuerst flüssig sein, um danach Molekularbewegungen aufzuweisen. Materie (H2O) und allgemeines Prädikat (Flüssigkeit) machen im Gegensatz dazu dieselbe Sache bzw. denselben Sachverhalt aus und können nicht aufeinander reduziert werden. Das Scheitern materieller und phänomenologischer Reduktionsversuche zeigt, dass die Flüssigkeit des Wassers und die spezifischen H2O-Bewegungen Korrelate sind und denselben Sachverhalt ausmachen. Der Satz, „ein bestimmtes Liter Wasser ist flüssig, weil es gewisse Molekularbewegungen aufweist,“ wäre keine Erklärung des Zustandekommens von Flüssigkeit in der Zeit, sondern eine begriffliche Analyse: „Flüssig zu sein“ kommt demselben Ding zu und zur gleich Zeit vor als „Molekularbewegungen aufzuweisen“. Es gibt daher keine ontologische Hierarchie zwischen den Existenzweisen von H2O-Bewegungen und der Flüssigkeit des Wassers. Weil kein antecedens-consequens-Verhältnis besteht, ist weder die Flüssigkeit des Wassers eine kausale Folge der Molekularbewegung

S. 321, zit. nach Aristoteles S. 325). Eine eventuelle Einschränkung des Existenzbegriffs, um in diesen Fällen nur Materie zu umfassen, verschöbe das Problem nur auf eine höhere Abstraktionsebene, denn dann hieße es, was rechtfertigt diese Einschränkung, wenn nicht das selbständige Bestehen der jeweils behaupteten Entitäten, was auf nichts anderes als wiederum auf die Definition von Existenz von ausschließlich Materie als „evidente Grundannahme“ hinausläuft (so Demokrits Position. Vgl. Rudolf Löbl, Demokrit. Texte zu seiner Philosophie, Amsterdam u.a.: Rodopi, 1989, S. 17, 112). 49Was zugleich mit etwas anderem existiert, kann auf dieses andere nicht empirisch reduziert werden. Vgl. Oderberg, Real Essentialism, S. 17.

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3  Ontologie des positiven Rechts

noch ist diese eine kausale Folge jener.50 Die Flüssigkeit ist eine natürliche abstrakte Eigenschaft, ein natürliches Individuationsprinzip.

3.3.3.3 Zur Wirklichkeit normativer Eigenschaften Die obigen Überlegungen betreffen die Korrelationen von Eigenschaften auf naturphilosophischer Ebene. Wie die Korrelationen in Bezug auf Normativität zu verstehen sind, lässt sich einleitend an einem heuristischen Beispiel aus dem in der analytischen Rechtstheorie häufig erwähnte Schachspiel51 erörtern. Auch im Schachspiel können naturalistische und normative Perspektive (Regeln des Schachspiels) einander gegenüber stehen. Aus der internen Perspektive des Schachspiels kann ein Zug als „Familienschach“ gedeutet werden, etwa wenn ein weißer Springer auf das Feld f7 zieht und dabei gleichzeitig die Dame und den König der Schwarzen angreift. Aus einer externen, naturalistischen Perspektive gäbe es aber überhaupt keine „Springer“, „Damen“ und „Könige“, ja nicht einmal „Züge“, sondern nur etwa Plastikstücke zweier Farben, die von Lebewesen hin- und herbewegt würden. Dann könnte für jedes Ereignis, das im Schach „Zug“ heißt, ein naturalistisches Korrelat nach dem Muster „ein Plastikstück wird 15 Grad nach Nordwesten bewegt“ gefunden werden. Solche Beschreibungen können zwar stets zutreffend sein; sie haben aber den gnoseologischen Ursprung immer in den Regeln des Schachspiels. Sie sind weder empirische Erklärungen von Schachregeln noch normative Kriterien für einen guten Schachzug, sondern nur parallele Beschreibungen desselben Sachverhaltes (Zug) ohne Kritikpotenzial. Denn die Tatsache, dass das Schachspiel immer in einem materiellen Medium stattfinden muss, sei es anhand eines Holzbrettes mit Plastikfiguren, eines Computermonitors oder – im Falle des „Blindschachs“ – in den Gehirnen der Spieler, berechtigt nicht zur Aussage, dass das Schach „nichts anderes“ sei als eine dieser materiellen Sachen oder dass ein Springer nichts anderes sei als ein Stück Plastik (oder Holz, Glas usf.). Das Letzte wäre selbst zu einem Zeitpunkt

50„The

qualitative characteristics of things are held to be a real part of ontology, not mere epiphenomena of, or expressions of, or reductible to, the underlying quantitative characteristics of things given by a mathematical theory, no matter how predictively and explanatory successful the mathematical theory may be“ (Oderberg, Real Essentialism, S. 15). 51Zu Diskussionen über die rechtliche Normativität am Beispiel des Schachs vgl. etwa Andrei Marmor, On How Law is Like Chess, Legal Theory 12, 2006, 347–371 und Ronaldo Porto Macedo, On How Law Is Not Like Chess, in: Democratizing Constitutional Law, Perspectives on Legal Theory and the Legitimacy of Constitutionalism, hrsg. von T. Bustamante/B. Gonçalves Fernandes, Cham: Imprint Springer, 2016, 293–324.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

175

unzutreffend, wenn in der Tat alle existierenden Springer in Plastik angefertigt würden (!). Denn anders als Plastikstücke im Allgemeinen können Springer im Allgemeinen Schach setzen, aus einer Bauernverwandlung entstehen usw. Das heißt, Springer im Allgemeinen besitzen Eigenschaften, die Plastikstücke im Allgemeinen nicht besitzen. Im Besonderen können sie aber verknüpft sein: So vereint ein Stück Plastik, das zugleich eine Schachfigur ist, die Eigenschaften des Plastiks und der Schachfigur. Es handelt sich um dasselbe Ding, das unterschiedlich beschrieben werden kann. So stehen interne und externe Perspektiven des Schachspiels widerspruchslos nebeneinander. Es wäre ein falscher Reduktionismus, die Existenz von Schachfiguren allein auf der Existenz von Plastik oder sonstigen Materialien zu gründen ebenso wie allein auf der Existenz von Regeln, also von Normativität. „To him who looks on the world reductively, the world looks reductively back.“52 Noch bildlicher formuliert: „Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in der Einzelheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu tun hat.“53 Wenn von vorn herein nur nach Empirie oder Normativität an einer Sache gesucht wird, wenn nur Materie oder Normativität für wirklich gehalten werden, ist es kein Wunder, dass auch nur das Gesuchte herauskommt. Erst wenn die Wirklichkeit irrtümlich von vorn herein materialistisch definiert wird, stellt sich die unlösbare Aufgabe, Normativität auf Materie reduzieren zu müssen, damit der Normativität überhaupt Wirklichkeit zugesprochen werden könnte.54 Weder

52Robert

Brandom, Reason, Genealogy, and the Hermeneutics of Magnanimity, 2012, http://www.pitt.edu/~brandom/downloads/RGHM%20%2012-11-21%20a.docx (zuletzt geprüft am 30.04.2020), S. 4. 53Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 489. Zu einer analytischen Interpretation dieser Problematik bei Hegel vgl. Brandom, Reason, Genealogy, and the Hermeneutics of Magnanimity, S. 11–19. 54Die auf dieser falschen Voraussetzung beruhenden Fragestellungen lauten typischerweise wie folgt: „Wie kann es nun, wenn die Welt nach allem, was wir wissen und Grund haben anzunehmen, vollständig aus physikalischen Teilchen und den aus ihnen gebildeten komplexen Einheiten besteht, normative Phänomene geben? Wie passt Normativität in dieses Universum? … Nur die Phänomene dieser so beschaffenen Welt, nur die physikalischen und biologischen Phänomene können die Bausteine der normativen Wirklichkeit sein. Denn etwas anderes gibt es nicht. … Die normative Wirklichkeit kann folglich – nicht anders als die mentale – nur ein Teil der einen, im letzten physikalischen Welt sein, nicht aber ihr Gegenüber. Dies gilt es zu begreifen, und dies im einzelnen zu entfalten,

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Materialismus noch Normativismus verfügen über einen „explanatorisch generell privilegierten Typ“55, der alle anderen Verständnisweisen ausschließen könnte. In derselben Weise vereint ein flacher Teil von azadirachta indica (Mahagoni/ Niembaum), der zugleich ein Schachbrett und jemandes Eigentum ist, die Eigenschaften des Niembaums, des Schachbrettes und des juristisch gefassten Eigentums. All diese Eigenschaften gehören zur Sache in vielen Zeitpunkten ihrer Existenz zugleich, woraus folgt, dass die eine kein Epiphänomen und keine Ursache der anderen ist. Die juristischen Eigenschaften des Dinges sind keine Fiktionen oder Projektionen, die zu materiellen Dingen nur hinzugedacht

ist die vordringliche Aufgabe einer Theorie der Normativität“ (Peter Stemmer, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, Berlin: Walter de Gruyter, 2008, S. 8 f.). Dagegen muss das kohärente Zusammenbringen von materieller und nichtmaterieller Wirklichkeiten nicht die Reduktion dieser auf jene bedeuten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es „nicht leicht einzusehen [ist], wie die Seinsweise der Gegenstände der Mathematik im Rahmen einer strikt physikalischen Ontologie verständlich gemacht werden kann. Immerhin können schon die Zahlen kaum sinnvoll als Gegenstände in Raum und Zeit aufgefasst werden. (ii) Dass sich mentale Zustände im Rahmen einer physikalischen Ontologie erfassen lassen, versteht sich nicht von selbst“ (Thomas Schmidt, Muss man Ontologie betreiben, um Normativität zu verstehen?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58, 1/2010, 149–153, S. 151). 55Damit würde „eine bestimmte Tatsachenklasse oder Gegenstände eines bestimmten Typs unbegründet ontologisch privilegiert“ (Gabriel, Existenz, realistisch gedacht, S. 190). Siehe auch Gabriel, Die Erkenntnis der Welt, S. 320: Es ist „sinnlos“, „einen bestimmten Gegenstandstyp, etwa physikalische Gegenstände, als ausschließliche Erklärungsklasse der Identität ins Spiel zu bringen. Denn dasjenige, worauf wir uns mit einer wahrheitsfähigen Überzeugung mit einem bestimmten Sinn beziehen, ist nicht notwendig identisch mit einem physikalischen Gegenstand. Im Gegenteil, es gehört zum Sinn einer Überzeugung, daß sie Gegenstände immer nur in ihrer Einbettung in Tatsachen erfaßt. Wenn ein vorbeifahrendes Auto zum Gegenstand meiner Überzeugung wird, daß ein Auto an mir vorbeifährt, dann betrifft meine Überzeugung eine Tatsache, nämlich die Tatsache, daß ein Auto an mir vorbeifährt. Diese Tatsache ist selbst kein Auto, das an mir vorbeifährt, und sie läßt sich auch nicht auf das Auto, das an mir vorbeifährt, reduzieren, da sie völlig andere Eigenschaften als ein vorbeifahrendes Auto hat. Warum sollte man die Tatsachenstruktur der Welt, mit der wir als erkennende Wesen umgehen, auf eine angebliche grundierende Gegenstandsschicht (die physikalischen Gegenstände) zurückführen? Denn selbst wenn dies gelänge, gelänge dies doch nur, weil es eine Tatsache wäre, daß alle Gegenstände wesentlich physikalisch sind, was selbst wiederum kein physikalischer Gegenstand wäre. Wäre es wahr, daß alle Gegenstände physikalisch sind, dann wäre diese Tatsache, diese Wahrheit, selbst kein physikalischer Gegenstand, und zwar aus demselben Grund, aus dem die Tatsache, daß es regnet, selbst nicht regnet.“

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

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würden,56 sondern sind selber zur gleichen Zeit mit der materiellen Komponente des Dinges wirklich.

3.3.4 Korrelationsfindung als Voraussetzung für umfassende Sachverhaltserklärung 3.3.4.1 Möglichkeit der Erklärung eines Sachverhaltes aus rechtlichen und außerrechtlichen Ursachen Wenn ein Passant einem Verkehrsunfall zusieht und sich der Muskelkraft seiner Arme und Beine nicht bedient, um Hilfe zu leisten, handelt es sich nicht nur um die Unterlassung der gebotenen Hilfe, also um die Verwirklichung eines strafrechtlichen Tatbestandes (juristische Komponente des Sachverhaltes), sondern auch, wie bereits erörtert, um ein energieaufwendiges, organisches Verhalten, das materielle Wirkungen entfaltet (natürliche Komponente). Ebenso kann eine grausame Tötung aus Eifersucht die Verwirklichung eines Mordtatbestandes und zugleich ein tierhaftes Konkurrenzverhalten um den „Genuss der Weibchen“57 sein (natürliche Komponente). Zwischen den genannten natürlichen und rechtlichen Komponenten besteht kein raumzeitlicher Kausalzusammenhang, weil sie nicht nacheinander stattfinden, sondern vereinheitlichend denselben Sachverhalt ausmachen. Wenn natur- und rechtswissenschaftliche Komponenten genau denselben Sachverhalt ausmachen, stehen sie nicht im Verhältnis von antecedens zum consequens; die eine Komponente ist kein Epiphänomen der anderen. Die Findung naturwissenschaftlicher Komponenten oder Korrelate für einen rechtlichen Sachverhalt ist deswegen keine Erklärung dieses Sachverhaltes.

56Im Gegensatz zu einer in der Rechtstheorie häufigen Einstellung, beispielsweise vertreten bei Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 128–141, der im Anschluss an Vaihingers „Philosophie des Als-Ob“ noch der These des Materialismus als Basis der Wirklichkeit und des Empirismus als Basis der Erkenntnistheorie verhaftet blieb und somit den juristischen Eigenschaften eines Dinges schon deswegen Fiktionscharakter zusprach, weil sie nicht sinnlich zugänglich sind: „So heißt es dann nicht mehr, daß diese oder jene S a c h e jemandem zur Fruchtziehung zugeteilt, sondern daß ihm ein N i e ß b r a u c h daran eingeräumt werde. Man erhält nicht einen G e g e n s t a n d, sondern ‚das‘ Eigentum“ ‚an ihm‘ übertragen usf. Auf diese Weise wird jene Verdinglichung des Erkenntnisobjektes noch einmal zu d i e s e m h i n z u g e d a c h t, dergestalt, daß dieses v e r d o p p e l t und damit das Erkenntnisbild des Juristen, der vermeint, daß außer jenem Gegenstand auch noch eine übersinnliche Realität, ‚das Eigentum‘ übertragen werde, verfälscht wird“ (ders., S. 129 f.). 57Lombroso, Der Verbrecher (homo delinquens), S. 5.

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Die Findung von Korrelationen ermöglicht aber die Erklärung eines Sachverhaltes aus einem ihm vorherigen Sachverhalt. Wenn natürliche Korrelate für normative Sachverhalte erfolgreich entdeckt werden, können sie meistens auch anhand der Erkenntnis eines antecedens, das zu diesem Korrelat kausal führt, erklärt werden. Dies ist beispielsweise der Fall beim Inzestverbot (§173 StGB, §1307 BGB), das ein rechtlich-kulturelles consequens der natürlichen Arterhaltungsteleologie von Lebewesen ist und dessen kulturelles Zustandekommen naturwissenschaftlich erklärt werden kann,58 ebenso wie bei der Begehung einer Straftat, die ein antecedens in neurowissenschaftlich beschreibbaren Sachverhalten wie der Erhöhung des Serotoninspiegels haben kann. Da die Gesamtheit der Komponenten eines Sachverhaltes eine Sachverhaltseinheit ausmacht, erfolgt durch eine wie auch immer gelungene Erklärung einer Komponente eine Erklärung des gesamten Sachverhaltes samt aller Komponenten. Mit anderen Worten, natürliche antecedentes gelten für natürliche und normative Komponenten; normativ-kulturelle antecedentes gelten auch für natürliche, kulturelle und normative Komponenten. So kann ein Sachverhalt, der zugleich rechtlich und natürlich ist, sowohl rechtlich als auch natürlich erklärt werden. Der rechtliche Teil kann auch natürlich erklärt werden, der natürliche Teil kann auch rechtlich erklärt werden. Das ist nichts anderes als eine logische Folge des raumzeitlichen Kausalitätsprinzips bezüglich auf die verschiedenen Komponenten eines Sachverhaltes: Wenn die Tatsachen A und B denselben Sachverhalt ausmachen und A anhand von x partiell erklärt werden kann, erklärt x partiell auch B.

3.3.4.2 Sachverhalt als Semantik versus Sachverhalt als Referenz. Der mehrschichtige Sachverhalt Die Möglichkeit von multivalenten Erklärungen von Sachverhalten kreuz und quer anhand geistes- und naturwissenschaftlicher Kategorien setzt die Einheit des Sachverhaltes trotz der Existenz von Komponenten materieller, ideeller und normativer Art und trotz verschiedener Deutungsmöglichkeiten voraus. Der Sachverhalt einschließlich all seiner Komponenten ist dabei das Referenzobjekt von eventuellen Deutungen, die über ihn vorgenommen werden können. Die Gegenposition ist die Negation hiervon, nämlich die These, dass verschiedene Deutungen von verschiedenen Wissensgebieten keinen vereinheitlichten Sachverhalt ergeben, weil sie keinen vereinheitlichten Sachverhalt als Referenz haben, sondern selber jeweils einen unterschiedlichen Sachverhalt sind. Dies entspricht der in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts häufig vertretenen These, dass die vielen

58Für

Belege und Erörterungen hierzu siehe Kapitel 1, insbesondere Teil B.

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Deutungen eines Sachverhaltes nicht nur aufeinander irreduktibel, sondern auch inkommensurabel59, zum Teil miteinander widersprüchlich sein könnten, u. a. weil sie subjektive, soziale, institutionelle oder theoretische Wirklichkeitskonstruktionen seien.60 Im Rahmen einer so konzipierten Bereichsontologie sind Sachverhalte nicht ontologisch vorgegeben, sondern semantische Konstrukte wie „Sprachspiele“61, „linguistische Rahmenwerke“ (linguistic frameworks62), „Argumentationsfelder“ (fields of arguments63), „ensembles d’énoncés“64 oder „soziale Systeme“65. Nach der Bereichsontologie beziehen sich verschiedene Sätze verschiedener semantischer Felder nicht auf dieselben Sachverhalte, weil sie selbst die Sachverhalte sind und sich

59Die Inkommensurabilität zwischen wissenschaftlichen Thesen und Theorien kann u. a. semantisch und methodologisch sein: „The first version, which we will call the semantic incommensurability thesis, is the thesis that alternative scientific theories may be incommensurable due to semantic variance of the terms employed by theories. The second version, which we will call the methodological incommensurability thesis, is the thesis that alternative scientific theories may be incommensurable due to absence of common standards of theory appraisal“ (Hoyningen-Huene, Paul/Sankey, Howard (Hrsg.), Incommensurability and related matters, Dordrecht u. a.: Kluwer Academic, 2001, Introduction, S. ix). 60Niklas Luhmanns Systemtheorie ist ein klassisches Beispiel konstruktivistischer Gesellschaftstheorie im oben genannten Sinne. Sie wurde in der Rechtstheorie u. a. von Gunther Teubner rezipiert. Teubner spricht dem sozialen System eine „epistemische Autorität“ zu, die sich gegenüber widersprüchlichen Beschreibungen anderer Systeme durchsetzt (vgl. Teubner, Die Episteme des Rechts. Zu erkenntnistheoretischen Grundlagen des reflexiven Rechts-155). So bestehen die systeminternen Kommunikationen nicht aus Beschreibungen einer den Kommunikationen jenseitigen Ontologie, die eventuell mehreren Systemen gemeinsam sein und als Referenz für interne Kommunikationen dienen könnte, sondern die Kommunikationen sind selbst die einzig existierende Wirklichkeit. Auch die sogenannte postmoderne Literatur in den Geisteswissenschaften deklarierte einen „war on totality“ und war ebenso konstruktivistisch: „Since postmodernism is radically tropic, figurative, irrealist – ‘what can be thought of must certainly be a fiction,’ Nietzsche thought – it ‘constructs‘ reality in post-Kantian, indeed post-Nietzschean, ‘fictions’“ (Ihab Hassan, Pluralism in Postmodern Perspective, in: The Post-Modern Reader, hrsg. von C. Jencks, London: Academy Ed., 1992, 196–207-207, 198). 61Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Phil. Unters., §7 ff. 62Ausdruck von Rudolf Carnap, Empirismus, Semantik und Ontologie, in: Carnap, Bedeutung und Notwendigkeit. Eine Studie zur Semantik und modalen Logik, 257–278, S. 259. 63Toulmin, The uses of argument, S. 14 ff. 64Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard, 2008, S. 48. 65Luhmann, Soziale Systeme, S. 30 ff.

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eigentlich auf nichts beziehen. Konstruktion ersetzt dabei Referenz,66 Semantik wird zur Ontologie schlechthin. Es gibt demgemäß weder eine die semantischen Sätze verknüpfende und transzendierende Einheit im Allgemeinen namens Wirklichkeit67 noch eine die semantischen Sätze verknüpfende und transzendierende Einheit im Besonderen namens Sachverhalt. Für die Möglichkeit der Erklärung von Sachverhalten folgt aus dieser Konzeption Folgendes: „Konkrete Dinge, Phänomene oder konkrete Ereignisse, also herausgerissene ‚Stücke‘ der raum-zeitlichen Wirklichkeit“ kommen „deswegen nicht als Gegenstände wissenschaftlicher Erklärungen in Frage, weil es von keiner konkreten Realität dieser Art nur eine begriffliche und sprachliche Charakterisierung oder Beschreibung gibt. Die Explanandumäußerung ist aber stets eine solche ganze bestimmte Beschreibung. Verschiedene miteinander nicht analytisch äquivalente Beschreibungen können sich auf ‚ein und dasselbe‘ beziehen, wenn darunter ein konkretes Stück Wirklichkeit verstanden wird. Wenn jedoch i adäquates Explanans für k ist, so ist es nicht zugleich adäquates Explanans für ein praktisch beliebiges k*, das mit k nicht analytisch äquivalent ist.“68

Dass explananda nicht zum selben Sachverhalt bzw. „Stück Wirklichkeit“ gehören, ist wahr, solange allein von den explananda als semantischen Festlegungen und somit als semantischer Wirklichkeit die Rede ist. Zum Beispiel: Springer (ein explanandum aus dem Bereich „Schachspiel“) sind nicht gleich

66„Die konstruktivistische Erkenntnistheorie stellt damit Beschreibung von Deskription auf Konstruktion um“ (Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 160). Der radikale Konstruktivismus will die „traditionelle Ontologie“ überwinden; Welt wird zu „Erfahrungswirklichkeiten“ (ders., S. 161); soziale Systeme konstruieren die Wirklichkeit (ders., 164). 67Die Systemtheorie z. B. verneint die Möglichkeit eines Systems der Systeme, das die Totalität aller sozialen Systeme umfasste und das die Wahrheit der in jedem sozialen System behaupteten Sätze im Sinne der Korrespondenz mit der Welt garantieren könnte (Jasmin Siri, System/Umwelt, in: Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von O. Jahraus/A. Nassehi, Stuttgart: J.B. Metzler, 2012, 123–125, S. 123). Dasselbe betrifft die Sinnfeldertheorie, wonach die Gesamtheit der Sinnfelder keine vereinheitlichte „Welt“ und keinen allumfassenden „Supergedanken“ ergibt (Markus Gabriel, Why the World Does Not Exist, Cambridge: Polity, 2015, S. 73 ff.). 68Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. 1 (Erklärung Begründung Kausalität), 2. Aufl., Berlin, Heidelberg: Springer, 1983, S. 296 f.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

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Plastik (ein explanandum aus den Bereichen „Industrietechnik“ usw.); Ehe (eine Kategorie aus den Bereichen „Recht“, „Kultur“ und „Religion“) kann nicht mit natürlichem Paarungsverhalten (einer Kategorie aus dem Bereich „Biologie“) begrifflich gleichgesetzt werden. Sie sind jeweils unterschiedliche Kategorien von unterschiedlichen semantischen Feldern und haben einen unterschiedlichen kulturellen Sinn. Ontologisch müssen sie auch nicht immer zusammen vorkommen: Nicht alle Schachfiguren sind in Plastik, nicht alle Plastikgegenstände sind Schachfiguren; nicht alle Ehen sind ein Paarungsverhalten, nicht alle Paarungsverhalten sind Ehen. Semantische Festlegungen verschiedener Bereiche sind oft keine Synonyme oder wesentliche Merkmale voneinander. Im Sinne mangelnder Äquivalenz von explananda im Allgemeinen ist der Vielfaltsthese der Bereichsontologie daher Recht zu geben. Sätze aus verschiedenen Bereichen können jedoch in Einzelsachverhalten korrelieren. Ein bestimmtes Paar, das nach dem Zivilrecht verheiratet ist, ist im zivilrechtlichen Stand der Ehe (rechtlicher Satz) und kann sich zugleich nach einem naturwissenschaftlichen Paarungsmuster verhalten (biologischer Satz). Dieser Sachverhalt, der Ehe und Paarungsverhalten umfasst, ist ein abgestufter oder mehrschichtiger Sachverhalt: Er vereinheitlicht nichtäquivalente semantische Sätze. Das Allgemeine wird im Besonderen vereinheitlicht. Die semantischen Sätze an sich sind folglich nicht die ganze Wirklichkeit, sondern es gibt zusätzlich Sachen und Tatsachen, die die Verknüpfung allgemeiner semantischer Festlegungen aus verschiedenen Bereichen miteinander erst veranlassen. Diese Sachen und Tatsachen sind eben die Referenz der semantischen Sätze. Sie machen den Sachverhalt aus, worauf durch das Mittel der semantischen Sätze Bezug genommen wird. Die Referenz kann schließlich doch nicht durch semantische Konstruktion ersetzt werden; jene besteht zusätzlich zu dieser. Es ist das Zusammentreffen verschiedener Sätze aus verschiedenen Bereichen in einem vereinheitlichten Sachverhalt, das die Erklärung von rechtlichen Sachverhalten anhand außerrechtlicher Sätze und umgekehrt ermöglicht. Wenn man erklärt, warum ein bestimmtes Liter Wasser eine erhöhte H2O-Agitation im Zeitpunkt τ2 aufweist als im Zeitpunkt τ1, nämlich weil die Sonne darauf strahlte und die Temperatur anstieg, so erklärt man auch, warum das gefrorene Wasser flüssig wurde. Wenn man erklärt, wo dieses Plastikstück herkommt, nämlich aus einer Fabrik in Tschechien, so erklärt man im selben Zuge auch, woher diese nach den Regeln des Schachspiels gefasste Figur stammt. Erklärt ein Naturwissenschaftler, warum eine menschliche Gruppierung Exogamie betreibt und dabei den Inzest vermeidet, so ist damit gleicherweise und teilweise auch erklärt, warum in dieser menschlichen Gruppierung das Zivilrecht die Eheschließung

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zwischen Verwandten verbietet. Die Tatsache, dass die Ehe einen über naturwissenschaftliche Beschreibungen weit hinausgehenden Sinn hat, ändert nichts an ihrem Korrelationsverhältnis mit der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Exogamie und entsprechenden Ursachen. Mit der multivalenten Erklärung wird aber nicht nur das Erklärungspotenzial der Naturwissenschaften erweitert, sondern indirekt auch das der juristischen Expertise. Ebenso wie ein Naturwissenschaftler einen juristischen Sachverhalt erklären kann, kann ein Jurist einen Natursachverhalt erklären: Eine Eheschließung nach §1303 Abs. 1 und 2 BGB darf nur unter der zeitlich vorherigen Voraussetzung stattfinden, dass zumindest einer der Antragsteller das 16. Lebensjahr vollendet; es kommt zu einer bestimmten exogamen Paarung im Zeitpunkt τ2, weil die Antragsteller im Zeitpunkt τ1 zivilrechtlich volljährig waren; rechtliche Volljährigkeit (juristische Beschreibung) macht das antecedens, exogame Paarung (naturwissenschaftliche Beschreibung) macht das consequens aus. Das heißt, das Recht bietet nicht nur normative Rechtfertigungen, sondern auch kausale Erklärungen für das Eintreten eines natürlichen Sachverhaltes. Dies wird auch im Kausalitätsmodus der conditio sine qua non deutlich: Wäre ein bestimmtes Paar, das nach dem Gesetz heiraten will, nicht volljährig, hätte es nicht heiraten wollen, hätte es auch nicht geheiratet und es wäre nicht zu dieser exogamen Paarung gekommen. Zwischen natur- und rechtswissenschaftlichen Ursachen besteht zwar keine Korrelation im allgemeinen Modus der Identität, das heißt, sie sind zwar unterschiedliche Wirkprinzipien und nicht begrifflich äquivalent; sie können aber zu demselben Sachverhalt kausal führen und ihn dadurch jeweils partiell erklären. Das heißt, auch die Wirkung von Normativität in der Zeit ist eine Ursache, nämlich eine normative Ursache. Außerdem wird damit auch klar, dass die Zuordnung der verschiedenen Erklärungs- und Rechtfertigungsansätze zu diversen Wissensgebieten und Satzmengen (wie Sprachspielen, sozialen Systemen usw.) sich nur aus pragmatischen und arbeitsökonomischen Gründen rechtfertigt; sie spiegelt nicht die Einheit der Wirklichkeit wider. Da Normen sowohl verursacht werden als auch Kausalwirkungen entfalten können, betrifft die Entgegenstellung von „Kausalwissenschaften“ einerseits und Recht als „Normwissenschaft“ andererseits69 nur die spezialisierten Aspekte von Gegenständen dieser Wissenschaften, nicht aber eine

69Kelsen,

Reine Rechtslehre, S. 78. In diesem Sinne auch Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 144.

3.3  Zu den außerrechtlichen Komponenten …

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Trennung auf der ontologischen Ebene der Dinge an sich.70 Ist die Wissenschaft in Disziplinen ohne kausalen Bezug aufeinander fragmentiert, so handelt es sich

70Zur

Kausalwirkung von Normen und Rechtstatsachen siehe den skandinavischen Rechtsrealismus von Karl Olivecrona: „Now it is evident that there is in fact a relation of cause and effect between the crime and the punishment. Why is the murderer brought to trial if not because he is suspected of having killed another person? Why is he suspected? Is it not in most cases the fact that he has actually – committed the crime he is accused of? When this fact has been proved in the way required by the law of procedure, the judge metes out his sentence. Obviously this sentence is caused by the deed on the one hand and the contents of the law on the other hand, since the judge is influenced by these facts in giving judgment. I range the contents of the law expressly among the facts. The words printed in the law-books are certainly facts and so are the ideas evoked in the mind of the reader by these words. They are among the principal causes of the action of the judge in giving sentence. If the laws did not have this effect, people might as well give up legislating as an unnecessary waste of time. There are, of course, other causes too for the action of the judge, such as his temperament, his education, his interests etc. But the important point that must be stressed here is that both the crime and the law are causes of the punishment“ (Karl Olivecrona, Law as Fact, Copenhagen, London: Einar Munksgaard, Humphrey Milford, 1939, S. 19 f.). Es soll hier von Olivecronas Position allerdings hinsichtlich eines Aspektes distanziert werden, nämlich dass er die Existenz des Rechts ausschließlich als mentale Zustände von Teilnehmern einer Rechtsordnung ansieht (ders., S. 52). Die Anerkenntnis der Kausalwirkung von Recht in der gesellschaftlichen Praxis ist jedenfalls ein wichtiger Einwand gegen den Dualismus von Wirklichkeit und Normativität, wie etwa bei Hans Kelsens Reinen Rechtslehre zu finden ist (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 78, 89 f.). Kelsen trennt Norm- und Kausalwissenschaft prinzipiell voneinander als wesensverschieden, weil sie unterschiedlichen Ordnungsprinzipien (Kausalität und Zurechnung) angehörten, wobei Zurechnung Kausalität ausschlösse: „die Unrechtsfolge wird dem Unrecht zugerechnet, sie wird aber nicht durch das Unrecht – als ihre Ursache – bewirkt“ (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 86); „Zudem kommt, daß von den beiden Elementen, die durch die Zurechnung miteinander verknüpft werden, dasjenige, welches als Ursache zu fungieren hätte, – wäre Zurechnung nur ein Kausalnexus – gerade für die kausale Betrachtung gar nicht besteht. Als U r s a c h e kommt nur eine Bewegung oder Veränderung in der körperlichen oder geistigen Seinswelt in Betracht. Die Zurechnung erfolgt aber zu einer P e r s o n, zu etwas nicht in Bewegung, sondern in Ruhe Gedachtem, d. h. eben nicht zum ‚Menschen‘ im Sinne einer biologisch-psychologischen Einheit gewiser auf einen bestimmten Zweck bezogener Lebensprozesse (Organismus), sondern zu einem außerhalb der Welt tatsächlichen Geschehenes gedachten normativen Konstruktionspunkte“ (Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 74). Aus dem oben Gesagten und im Gegensatz zu Kelsens Auffassung gilt dagegen, dass die normative Verknüpfung zwischen Verhalten und Rechtsfolge im Modus des hypothetischen Urteils („wenn A ist, B sein soll“, aaO., S. 93) nicht ausschließt, dass das Verhalten A die Rechtsfolge B (Strafe) auch verursacht. Dies wird im Kausalitätsmodus der conditio sine qua non deutlich: hätte der A sich im Zeitpunkt τ1 nicht strafbar verhalten, hätte es kein Strafverfahren gegeben und es wäre nicht zur Rechtsfolge B im Zeitpunkt τ2 genau so gekommen, wie es gekommen ist. So gehören Kausalität und Normativität keineswegs zu verschiedenen Welten.

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um ein Erkenntnisdefizit. Rechtliche und außerrechtliche Komponenten von Sachverhalten sind miteinander widerspruchslos und befinden sich innerhalb derselben materiellen, ideellen und normativen Wirklichkeit.71

3.4 Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten Bisher wurde in diesem Kapitel u. a. dargelegt, (1) dass Natursachverhalte nicht nur materiell, sondern zugleich auch ideell sind; (2) dass diese Idealität nicht menschlichen Konstruktionen zu verdanken ist; (3) dass der normativ-rechtliche Teil eines zugleich natürlichen Sachverhaltes nicht auf die natürliche Komponente reduzierbar ist ebenso wenig wie die natürliche Komponente auf die normative; (4) dass die Unmöglichkeit einer solchen Reduktion allerdings keine Inkommensurabilität impliziert, das heißt, (5) juristische Sachverhalte sind auch zugleich natürliche Sachverhalte und (6) können deswegen sowohl naturalistisch als auch rechtlich erklärt werden. Dabei war kaum vom Verhältnis zwischen rechtlichen und spezifisch soziokulturellen Komponenten des Sachverhaltes die Rede. Diese Problematik kennt zwei weitere Möglichkeiten, nämlich dass die juristische Komponente eines Sachverhaltes entweder (1) ontologisch abhängig von deren deutender Erfassung durch Rechtssubjekte und -institutionen sei (phänomenologische Reduktion) oder (2) überhaupt nicht ontologisch sei, sondern ausschließlich normativ gedacht werden müsse und daher allein dem Sollen zugehöre (normative Reduktion). Die genannten Reduktionen wurden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dadurch plausibel gemacht, dass die Rechtsanwendung immer Wertungen, Relevanzerwägungen und Interpretationen verlangt.72 Es könnte

71Zur ontologischen Zugehörigkeit naturalistischer Faktoren zu einer Rechtssachverhaltseinheit siehe weiterführend Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, S. 22–27. 72Vgl.

Ulfrid Neumann, Subsumtion als regelorientierte Fallentscheidung, in: Subsumtion. Schlüsselbegriff der juristischen Methodenlehre, hrsg. von G. Gabriel/R. Gröschner, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 311–336, S. 324. In ähnlichem Sinne spricht Dworkin von einer „constructive interpretation“ (Dworkin, Law's Empire, S. 52, 61).

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

185

daher problematisch erscheinen, in Rechtsanwendungssituationen einen vorgegebenen Sachverhalt anzunehmen, dessen juristische Komponente (die traditionell genannten „Rechtsfragen“) ebenso wie alle anderen faktischen Komponenten („Tatfragen“) dem Rechtsorgan vorgegeben würden. So wurde in der Rechtswissenschaft oft gefolgert, bei der Rechtsanwendung müsse der Richter nicht nur die ­ „Entscheidungsnorm“ oder „Fallnorm“ im Zuge von Normkonkretisierungen,73 sondern sogar den Fall selbst, also „den Sachverhalt in seiner rechtlich relevanten Struktur“74 erst herstellen, um zu einer Entscheidung zu gelangen.75 Nach dieser Auffassung sind Norm und rechtlicher

73Im

Sinne der Strukturierenden Rechtslehre. Vgl. Müller, Juristische Methodik, Rn. 467, 471 f.; Müller, Syntagma, S. 37. 74Neumann, Subsumtion als regelorientierte Fallentscheidung, S. 314). In demselben Sinne Rolf Gröschner, Das Hermeneutische der juristischen Hermeneutik, Juristenzeitung, 1982, 622–626, S. 622. 75Ulfrid Neumann spricht von der „Herstellung des Falles.“ Siehe Neumann, Subsumtion als regelorientierte Fallentscheidung, S. 314, 324–326. So auch die „gegenwärtige juristische Hermeneutik“ nach Gaetano Carlizzi, die nicht von der vorgegebenen Existenz von Norm und Sachverhalt ausgeht, sondern – in Anschluss an Gustav Radbruch – von der „costruzione del fatto“ (Sachverhaltskonstruktion) spricht (Gaetano Carlizzi, Gustav Radbruch e le origini dell'ermeneutica giuridica contemporánea, Persona y derecho 64, 2011, 83–119, 117). Vgl. auch Gaetano Carlizzi, Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 109 f.; Georg Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“. Eine Untersuchung zum tolerierten Risiko einer Fehlverurteilung, Heidelberg: C. F. Müller, 1987, S. 151. Nach Arthur Kaufmann und Dietmar von der Pfordten wird der „amorphe“ Fall erst durch Konstruktion am Gesetz zu einem Sachverhalt (Arthur Kaufmann/ Dietmar von der Pfordten, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hrsg. von U. Neumann/W. Hassemer/F. Saliger, Heidelberg: C. F. Müller, 2016, 23–142, S. 124). Für Josef Esser schließt die Würdigung bzw. die Wertung von Rechtsfolgen die Rede von Tatsachenfeststellung in der Rechtsfindung aus. Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 44. In der Strukturierenden Rechtslehre gilt die Normkonkretisierung als Normkonstruktion (ohne dass es Friedrich Müller zufolge Freiheit von Bindungen bedeutete). Vgl. Müller, Juristische Methodik, Rn. 467, 471 f. Zur Konstruktion des Falles durch Erzählungen aus historischer und semiotischer Sicht vgl. Thomas-M. Seibert, Die Lehre vom Rechtszeichen. Entwurf einer allgemeinen Rechtslehre, Berlin: Duncker & Humblot, 2017, S. 392–404. Aus radikal konstruktivistischer Sicht in Anlehnung an Ernst von Glasersfeld gilt, „jener vorliegende Fall ist jedoch nicht etwas, das als solches vom Richter einfach erkannt werden kann. Dessen Sinn ist ebenso durch die Konstruktion eines kohärenten Sinnnetzwerkes des Subjekts zuzuschreiben“ (Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 343). Weitere Positionen zur Sachverhaltskonstruktion sind z. B. die kohärentistische Konstruktion des Falles durch Richter und Geschworenen bei Jackson (vgl. Lee, aaO., S. 317 f.) und die neurosoziale Konstruktion des Sachverhaltes bei Strauch (ders., S. 329).

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3  Ontologie des positiven Rechts

Sachverhalt dem rechtsanwendenden Organ nicht vorgegeben, sondern müssen erst im Zuge von Bewusstsein,76 Wertungen,77 Semantisierungsvorgängen,78

76Vgl.

etwa Stephan Kirste: „Die Aktualisierung der normativen Bindungen geschieht nun durch Menschen, auch insofern sie strukturell in Rollen oder Institutionen handeln. … Das Rechtsbewußtsein ist … produktiv in seiner Auseinandersetzung mit dem gegebenen Rechtsstoff. Die Vergangenheitsgebundenheit wird dann aber verdrängt von Auffassungen, die Rechtsnormen erst als Ergebnis des Rechtsanwendungsprozesses durch das Bewußtsein ansehen“ (Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, S. 392, in Anschluss an Düwel und Bäumlin). Nach Stephan Kirste wird die vergangene rechtliche Bindung erst im Moment der Anerkennung zu einer wirklichen Bindung: „Erst die Anerkennung der Bindung durch diese Zeitstruktur verschafft dieser zu Realität, und wird damit zu einem diese rechtliche Zeit begründenden Ereignis“ (ders., 398). In demselben Sinne die Konstitution des Rechts und des Rechtsbegriffs in Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls: Das Recht müsse erst im Zuge einer Fragestellung konstituiert werden: „die Genesis des Rechtscharakters ist in der Erkenntnistätigkeit der Kritik anzusetzen“ (Sophie Loidolt, Anspruch und Rechtfertigung. Eine theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls, Dordrecht: Springer, 2009, S. 97, 103). Demnach wird das Recht paradoxerweise „als Feststellung“ „konstituiert“ bzw. durch Erkenntnistätigkeit erst verliehen – so die „Formung der Vorgegebenheit“ (dies., S. 102). Ein weiteres Beispiel bietet die These der Bewusstseinsabhängigkeit von Rechtstatsachen (gegen den metaphysischen Realismus Michael S. Moores) bei Dennis Patterson, Recht und Wahrheit, Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 60 f. 77Neumann, Subsumtion als regelorientierte Fallentscheidung, S. 314. 78So beispielsweise die Strukturierende Rechtslehre von Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik. Bd. I, 9. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2004, Rn. 215, 256. Die These der nachträglichen Normkonstruktion wird häufig in Anschluss an Ludwig Wittgenstein vertreten: „Der Begriff des Regelfolgens konnte … nicht unter Rekurs auf Wahrheitsbedingungen bestimmt werden. Regeln liegen nicht als intensionale abstrakte Gegenstände vor, sie werden in Auseinandersetzung mit einzelnen Fällen konstituiert. … Die konkreten, selbst nicht auf einer Regel aufbauenden Gepflogenheiten des Regelbefolgens machen eine Regel zu dem, was sie ist … Nun haben diese Kriterien selbst wiederum eine doppelte Funktion. Sie zeigen uns an, daß ein bestimmtes Einverständnis über bestimmte Gepflogenheiten besteht, und stellen andererseits den Anknüpfungspunkt für die Aufhebnung eines solchen Einverständnisses in Prozessen interpretativer Rechtfertigung dar“ (Alexander Somek, Rechtssystem und Republik, Wien u.a.: Springer, 1992, S. 357). Zur nachträglichen Qualifizierung eines Sachverhaltes mit rechtlichen Kategorien auch Ino Augsberg: „Was eine Entscheidung in juristischer Hinsicht als Recht qualifiziert, das heißt, was sie in das Register normativer Kategorien von ‚Recht‘ oder ‚Unrecht‘ einträgt, ist nicht das faktische Geschehen des Entscheidungsvorgangs. Es ist die Begründung, die der Entscheidung im Nachhinein gegeben wird. Rechtlich entscheidend ist die Darstellung der Entscheidung, nicht ihre Herstellung“ (Ino Augsberg, Rechtswirklichkeiten, in denen wir leben. New Legal Realism und die Notwendigkeit einer juristischen Epistemologie, Rechtstheorie 46, 2015, 71–91, S. 81). Zur Problematik der Herstellung und Darstellung der Entscheidung siehe unten, Abschn. 3.7.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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Erfahrung,79 Repräsentation,80 Askription,81 Sinnzuschreibung82 oder 83 institutioneller und sozialer Anerkennung konstruiert werden. So wäre 79Zur

Konstitution des Rechtssachverhaltes durch die Erfahrung von Rechtssubjekten und Entscheidungsorganen, die sich auf ihn beziehen, siehe das rein phänomenologische Verständnis des Rechts bei Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 92–95. Zur Konstitution des Objektes durch „soziokulturelle Erfahrung“ und zugleich zu einer Kritik an der analytischen Rechtstheorie vgl. Karl-Ludwig Kunz, Die analytische Rechtstheorie: Eine „Rechts“-theorie ohne Recht? Systematische Darstellung und Kritik, Berlin: Duncker & Humblot, 1977, S. 65–73.

80Siehe

z. B. Csaba Vargas Position: „As I may formulate in another way, on the final analysis, judicial establishment of facts is nothing else than practical reaction resulting from an evaluative approach. It is one unit, in which two questions – one how do I see an event, real by the way? And two, what components do I see that it is made up from? – are intermingled. … In point of principle, all what we may say about the particularity of the structure of judicial decision, ist argumentation, sham logicalness, &c., is in fact related to the conceptual representation of reality, instead of reality itself“ (Varga, The N ­ on-cognitive Character of the Judicial Establishment of Facts, S. 238). „Thereby the presence of facts is reduced to their statement, i.e. to their representation claimed by their statement, assuming tacitly that, on the final account, facts will be substituted to by their statement“ (Csaba Varga, The Judicial Establishment of Facts and its Procedurality, in: Sprache, Performanz und Ontolgie des Rechts, hrsg. von W. Krawietz/J. Wróblewski, Berlin: Duncker & Humblot, 1993, 245–258, S. 246).

81Die

Askription von Verantwortlichkeit wird im liberalen Strafrecht im Gegensatz zur Feststellung von Schuld als Inbegriff einer aufgeklärten Kriminalpolitik angesehen. Vgl. Klaus Günther, Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf der Grundlage des Verstehens, in: Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Band I: Legitimation, hrsg. von K. Lüderssen, Baden-Baden: Nomos, 1998, 319–349, S. 319. Zu einem Beispiel des Askriptivismus anhand der Problematik des verfassungsrechtlichen Menschenwürdebegriffs siehe Thomas Gutmann/Michael Quante, Menschenwürde, Selbstbestimmung und Pluralismus: Zwischen sittlicher Vorgabe und deontologischer Konstruktion, ARSP 103, 3/2017, 322–336, S. 329 ff.

82Exemplarisch:

„Eine Eigenart richterlicher Sinnkonstruktion ist es, dass der Sinn einer einschlägigen Rechtsregel oder des Rechtssystems ‚in Bezug auf den vorliegenden Fall‘ erörtert werden soll. … Es geht daher immer um die Konstruktion des juristischen Sinnnetzwerkes ‚aus der Perspektive des vorliegenden Falls‘. Jener vorliegende Fall ist jedoch nicht etwas, das als solches vom Richter einfach erkannt werden kann. Dessen Sinn ist ebenso durch die Konstruktion eines kohärenten Sinnnetzwerkes des Subjekts zuzuschreiben“ (Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 343).

83Ulfrid

Neumann, Wahrheit im Recht. Zu Problematik und Legitimität einer fragwürdigen Denkform, ­Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 19–23. „Die Anwendung der Korrespondenztheorie auf rechtliche Aussagen scheitert deshalb an der Voraussetzung der Bestimmtheit des Bezugsobjeks (Referenzobjekts). … Diese Abhängigkeit rechtlich-institutioneller Tatsachen von Regeln, die in ihrer Geltung wie in ihrem Regelungsgehalt umstritten sein können, disqualifiziert sie als Referenzobjekte einer Korrespondenztheorie der ­Wahrheit, weil sie zu einer Relativierung des Wahrheitsbegriffs auf den Interpreten der Rechts-

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3  Ontologie des positiven Rechts

höchstens die Tatfrage, der „Lebenssachverhalt“ bzw. der „Rohsachverhalt“84, also z. B. die Tatsache, dass ein Mensch einem anderen das Leben nahm, nicht aber die Rechtsfrage bzw. der rechtlich qualifizierte Sachverhalt (Mord nach §211 StGB), dem rechtsanwendenden Organ vorgegeben. In deutlicher Formulierung: „Der rechtlich relevante Sachverhalt (Fall), der von dem Richter anhand einer rechtlichen Norm entschieden werden soll, ist keine vorgegebene Entität, sondern ein Konstrukt. Vorgegeben ist nur der Lebenssachverhalt, der überkomplex und deshalb nicht vollständig beschreibbar ist.“85 Das heißt, höchstens vor-, sozial- oder naturwissenschaftlichen, jedenfalls außerrechtlichen Aspekten des Sachverhaltes komme ein ontologischer, erkenntnis- und wertungsunabhängiger Status zu,86 während der juristische ­ Anteil nur auf phänomenaler oder normativer Ebene existent sei, das heißt, nur insoweit, als dass es durch das Bewusstsein von Rechtsunterworfenen oder -institutionen erzeugt, erfasst oder anerkannt (phänomenologische Reduktion) oder von ihnen normativ vorwärtsgewandt für den weiteren Verlauf der Rechtspraxis gedeutet würde (normative Reduktion).

ordnung hin zwingen würde“ (ders., S. 20, 23). In ähnlichem Sinne auch Csaba Varga: „for to have a ‘case’ is relatively late a product of the legal process. Properly speaking, it is a relative end-product of abstract institutionalization“ (Varga, The Non-cognitive Character of the Judicial Establishment of Facts, S. 231). Zu Anerkennung als rückblickender und dialektischer Konstitution der Normgeltung auch Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, S. 396–398. 84Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin u. a.: Springer, 1991, S. 279. Der juristische Sachverhalt ist bei Karl Larenz das „Ergebnis eines Urteils-, Deutungs- und Ausleseverfahrens“ und wird durch den Beurteiler als „ein zusammenhängender Komplex von Tatsachen gerade im Hinblick auf mögliche Rechtsfolgen gebildet“ (ders., S. 234 f.). 85Neumann, Subsumtion als regelorientierte Fallentscheidung, S. 324. 86Noch radikaler ist die Auffassung, nicht einmal nichtrechtliche Tatsachen könnten im gerichtlichen Verfahren erkannt werden, nicht einmal Aussagen über sie könnten mit der historischen Wahrheit entsprechen, sondern sie seien stets eine Fiktion, eine „konstruierte Wahrheit“ (Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“, S. 151 f.) oder eine verfahrensrechtliche Konstruktion (Antonio Castanheira Neves, Matéria de facto – matéria de direito. in: Digesta. Escritos acerca do Direito, do Pensamento Jurídico, da sua Metodologia e outros, Bd. 3, Coimbra: Coimbra Editora, 2010, S. 329 f.).

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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3.4.1 Das rein phänomenologische Verständnis des Rechts. Norminzidenz versus Normbewusstsein Die phänomenologische Reduktion scheitert allerdings aus vier Gründen. Der erste ähnelt der bereits erbrachten Widerlegung des epiphänomenalen Charakters der Flüssigkeit des Wassers: Zum einen wäre es willkürlich, nur den juristischen und nicht den lebensweltlichen (=vor-, natur- und kulturwissenschaftlichen) Beschreibungen des Sachverhaltes phänomenalen Charakter zuzusprechen, da auch natürliche und sonstige Tatsachen, wenn auch nicht alle, erscheinen können, nämlich in ihren jeweiligen epistemischen Sinnfeldern87, etwa in ihren jeweiligen Disziplinen und für die jeweiligen Wissenschaftler. Das heißt, nach dem Erscheinungskriterium lässt sich keine ontologische Hierarchie zwischen lebensweltlichen und rechtlichen Sachverhalten feststellen. Phänomenologisch könnte nicht auf die Erscheinungsunabhängigkeit von Natur- oder Rechtstatsachen gefolgert werden. Zum anderen muss nicht nur die juristische Argumentation, sondern auch die Feststellung natürlicher Tatsachen einen gnoseologischen Weg beschreiten, der Relevanzerwägungen, Abwägungen, Interpretationen, usw. erfordert. Denn sowohl die Rechtswissenschaft als auch Natur- und sonstige Wissenschaften haben mit allgemeinen Regeln zu tun, worunter subsumiert, interpretiert und abgewogen werden muss. Die Medizin etwa kennt methodologische Regeln zur Feststellung des Todes und der Todesursachen eines Individuums. Im konkreten Fall muss auch der Mediziner Regeln anwenden und die bestimmende Urteilskraft88 ausüben, um das eventuelle Faktum eines Todes festzustellen. Wenn dieselbe Sachverhaltseinheit, die der Mediziner als „Hirntod“ und „Todesursache“ betrachtet, in einem juristisch gefassten „Mord“ vorkommt, weil Patient und Opfer dieselbe Person sind und

87Zum

Begriff des Sinnfeldes vgl. Gabriel, Existenz, realistisch gedacht. S. v. Immanuel Kant: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (auch wenn sie als transzendentale Urteilskraft a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) bestimmend“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 933, AA 05:179).

88I.

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3  Ontologie des positiven Rechts

die Todesursache mit der Handlung des Mörders zusammenfällt, so haben die Denkoperationen aus der internen Perspektive der Medizin zur Feststellung des medizinischen Sachverhaltes zwar andere Kriterien als diejenigen der Juristerei zur Feststellung der Opfer- und Mörderqualität von Personen; sie beziehen sich aber in concreto auf genau dieselben Personen, Handlungen und Ursachen, die in genau demselben Sachverhalt verstrickt sind. Für beide Perspektiven ist ein „Hin- und Herwandern des Blickes“89 zwischen den jeweiligen allgemeinen Regel und dem Einzelfall gnoseologisch notwendig. Die Erstellung einer ärztlichen Todesbescheinigung wie eines richterlichen Entscheidungsspruchs setzen gleicherweise professionelles Vorurteil,90 institutionelle Ermächtigung und Gründe voraus. Unabhängig aber von explizit gegebenen Begründungen können beide Urteilsergebnisse ihren jeweils medizinischen und rechtlichen Tatsachen korrespondieren oder nicht korrespondieren. Trotz der Verantwortung und der erheblichen praktischen Bedeutung der Ausübung beider Ämter kann die Begründung in keinem Fall eine rückwirkende tatsachenkonstitutive, sondern nur eine tatsachendeklarative Funktion erfüllen. Ad concretum et manifestum: Ein rechtskräftiger Urteilsspruch kann einen bereits begangenen Mord ebenso wenig erst zu einem Mord machen wie eine ärztliche Todesbescheinigung das Verbrechensopfer töten könnte. Hinsichtlich (1) der Erscheinung von Phänomenen, (2) des Bedarfs nach Interpretation und Regelanwendung auf den Einzelfall, (3) der damit verbundenen Ausübung von Urteilskraft und (4) des notwendigen Bezuges auf vergangene Sachverhalte lassen sich juristische und sonstige wissenschaftliche Tätigkeiten nicht unterscheiden. Zweitens können Rechtsnormen (und folglich die rechtlichen Eigenschaften eines Sachverhaltes) nicht durch Bewusstsein erzeugt werden.91 Bewusstsein ist das geistige Präsenthaben von etwas. Denkakte wie Urteil, Wertung, Interpretation, ebenso wie normbezogene Akte wie Normbefolgung und -gebrauch als Handlungsgrund setzen Bewusstsein voraus, da nur das, was geistig in

89Zur

Metapher siehe Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., Heidelberg: Winter, 1963, S. 15. 90So die nahe Verwandtheit von medizinischer Diagnose und juristischem professionellem Vorurteil (Judiz). Siehe Rolf Gröschner, Judiz – was ist das und wie lässt es sich erlernen?, Juristenzeitung 19, 1987, 903–908. 91Entgegen Josef Esser: „Die Rechtsnormen ‚existieren‘ ja auch nur in diesem Bewußtseinsbereich, in dem wir geistige Realitäten feststellen, nicht aber ‚schlechthin‘, also nicht unbesehen ihrer aktuellen Auffassung und der daraus folgenden Praktizierung“ (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 45).

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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Bezug genommen wird, überhaupt bewertet, interpretiert und befolgt werden kann. Das Rechtsbewusstsein im Allgemeinen ist das tatsächliche Verstehen und Anerkennen der rechtlichen Strukturen,92 nicht aber schon die bloße Fähigkeit dieses Verstehens oder Anerkennung,93 da Bewusstsein kein bloßes Vermögen ist, sondern die Wirklichkeit des subjektiven Präsenthabens von Inhalten, wenn auch ohne augenblickliche Denktätigkeit in diesem Sinne. So kann ein Elternteil seiner Sorgepflichten auch dann wirklich (=nicht nur potenziell) bewusst sein, wenn es das Wissen besitzt, für seine Kinder sorgen zu sollen, ohne im Augenblick darüber nachzudenken, da dieses Wissen im Moment nur im Gedächtnis abrufbar ist. Dieses im Individuum tatsächlich bestehende Wissen unterscheidet sich vom bloßen Vermögen (=Potenz), überhaupt etwas wissen zu können, was man allerdings im Moment noch nicht wirklich (=aktuell) weiß. Der Elternteil kann durchaus die Fähigkeit besitzen, Zivilrecht zu lernen und rechtsdogmatische Details über seine Sorgepflicht zu erfahren, ohne dass dieses Wissen in seinem aktuellen Bewusstsein über die Sorgepflicht enthalten ist. Erlernbares, auch leicht Erlernbares, ist nicht notwendigerweise Bewusstes. Zu weit wäre also ein Bewusstseinsbegriff, der (1) potenziell aufzunehmende, wobei nicht wirklich aufgenommene Inhalte umfasste oder (2) auch diejenigen Inhalte umfasste, die Implikationen des tatsächlich Gewussten sind, wie zum Beispiel dass Wasser H2O ist, ohne dass die Implikation jemals durch das jeweilige Subjekt tatsächlich durchdacht worden wäre (die Kenntnis des Wassers setzt nicht die Kenntnis seiner chemischen Beschaffenheit voraus). Andererseits wäre ein Bewusstseinsbegriff, der nur aktuelle Bezugnahmen von Subjekten auf Objekte und nur solange diese andauert, umfasst, das heißt ein Bewusstseinsbegriff, der das Gedächtnis nicht einbezieht, zu eng. Aus diesem genauen, weder zu breiten noch zu engen Verständnis von Bewusstsein lässt sich ersehen, dass Normen (und folglich die rechtlichen Komponenten von Sachverhalten) nicht durch Bewusstsein erzeugt werden können. Denn Bewusstsein, einschließlich das Gedächtnis, ist nicht Bewusstsein zunächst von nichts und dann von etwas, sondern immer von etwas, und

92Zurecht

Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, S. 392. 93Entgegen dens., aaO., der im Rahmen eines dialektischen Verständnisses von Recht und Zeit schon die „Fähigkeit des Verstehens“ der rechtlichen Strukturen zum Rechtsbewusstsein zählt.

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3  Ontologie des positiven Rechts

zwar von etwas, was schon akzidentell oder aktuell ist.94 Normerzeugung findet im Gegensatz dazu – wie jede Konstruktion – immer in der Zeit statt: Etwas im Zeitpunkt τ1 (antecedens: Gesetzgebungsverfahren, gerichtliches Verfahren, vorvertragliche Absprachen usw.) verursacht die Entstehung von etwas im Zeitpunkt τ2 (consequens: Norm, Urteil, Vertrag usw.). Bewusstsein und Bewusstsein von etwas finden aber immer zugleich statt; zwischen zwei gleichzeitigen Vorgängen kann kein generativer Kausalzusammenhang bestehen, da es in der Beziehung kein antecedens und consequens gibt. Damit ein Bewusstsein Normen erzeugen könnte, müsste es zuerst als antecedens im Zeitpunkt τ1 stattfinden, damit die Norm oder der juristische Charakter eines Sachverhaltes als consequens im Zeitpunkt τ2 entstünde. Dann wäre das Bewusstsein in Bewusstsein und Bewusstsein von etwas zeitlich aufgeteilt, was unmöglich ist. Folglich kann das Bewusstsein eines Inhaltes X denselben Inhalt X nicht schaffen, nicht kausal beeinflussen und nicht abschaffen. Normen, die Gegenstände des Bewusstseins sind, sind an sich entweder akzidentell oder aktuell, das heißt, sie werden entweder hypothetisch (als Akzidenz) oder als Aktualität, genauer: Geltung, die spezifische Seinsart von Normen, in Bezug genommen. Sie werden hypothetisch in Bezug genommen, wenn sie nicht gelten, sondern im Moment der Bearbeitung sind, typischerweise vor einer gesetzgeberischen Erlassung. Sie werden als Aktualität in Bezug genommen, wenn sie schon gelten. Wenn sich ein Bewusstsein einer Norm zuwendet, ist die Norm bereits hypothetisch oder aktuell. Normen entstehen folglich immer durch etwas Anderes als Bewusstsein über sie. Der bewusste Bezug von Rechtsorganen und anderen Teilnehmern der Rechtspraxis auf Normen und die rechtlichen Komponenten von Sachverhalten kann diese Normen und rechtlichen Komponenten nicht konstruieren. Drittens scheitert das rein phänomenologische Verständnis des Rechts aufgrund einer Eigenschaft allgemeiner Normen, nämlich ihrer Inzidenz95. Individuelle und kollektive Bezugnahmen auf Normen sind nicht allgegenwärtig und nicht logisch notwendig, sondern nur möglich und zeitlich v­ erteilt.

94Näheres

über die Unterscheidung von Akzidenz, Potenz und Aktualität oben, Abschn. 2.3.2.1.2 95Vom Lateinischen incidere, zu Deutsch: vorfallen, sich ereignen. Rechtstheoretische Ausarbeitung des Konzeptes bei Francisco Pontes de Miranda, Tratado de Direito Privado. Parte Geral. Tomo I. Pessoas físicas e jurídicas, São Paulo: Revista dos Tribunais, 1983 (Nachdruck 2012), S. 95.

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Normen behalten aber Existenz, also Geltung, auch genau in denjenigen Zeitpunkten, in denen keine Bezugnahme auf sie stattfindet. Der Einstieg in ein öffentliches Verkehrsmittel bei Zahlung des Fahrpreises ist auch dann eine konkludente Annahme des Angebots eines Beförderungsvertrages, wenn keine der Vertragsparteien Bewusstseinszustände in diesem Sinne hat, etwa weil sie juristische Kenntnisse nicht besitzen, und auch dann, wenn der Sachverhalt niemals irgendein Rechtverfahren hervorruft, in dem die juristisch relevanten Handlungen als solche, also als „Beförderungsangebot“, „Annahme“ usw. von einer kompetenten Rechtsautorität qualifiziert werden könnten. In der Nacht, auch wenn alle Teilnehmer einer Rechtspraxis schlafen, wenn die Rechtsorgane nicht in Betrieb sind und dabei überhaupt keinen Bezug auf die Rechtsordnung machen, behalten die Rechtsnormen ihre Geltung. Nachbarschaftsregeln gelten auch unter schlafenden und vergesslichen Bürgern. Rechtsordnungen und -normen werden nicht täglich geschaffen und nächtlich wieder abgeschafft je nach dem Bewusstseinszustand (einschließlich Gedächtniszustand) der Teilnehmer,96 sondern sie behalten eine bewusstseinsunabhängige zeitliche und ontologische Kontinuität: Heute haben wir genau dieselbe Rechtsordnung (wenn auch eventuell mit Modifikationen wie etwa dem Geltungsverlust einiger Normen und Inkrafttreten anderer, Fristüberschreitungen und entsprechenden automatischen Rechtsfolgen usw.), die wir gestern hatten; heute gelten genau einige derselben Normen, die gestern galten. Das heißt, Normen besitzen eine von Bewusstsein ontologisch unabhängige Existenz und inzidieren auf Sachverhalte. Inzidenz ist der direkte, nicht durch die Denktätigkeit von Rechtssubjekten und -organen vermittelte Bezug allgemeiner Normen auf Sachverhalte. Geltende Rechtsnormen inzidieren auf die Gesamtheit der Sachverhalte, die sie regeln. Das hat zur Folge, dass Normen nicht nur nicht durch Bewusstsein über sie erzeugt, sondern auch nicht durch

96Wie beispielsweise von Olivecrona suggeriert: „With the disappearance of the mystical background, our position of the existence of the law must suffer a radical change. We are deeply conscious of a permanent existence of the rules of law. We talk of them as if they were always there as real entities. But this is not exact. It is impossible to ascribe a permanent existence to a rule of law or to any other rule. A rule exists only as the content of a notion in a human being. No notion of this kind is permanently present in the mind of anyone. The imperative appears in the mind only intermittently. Of course the position is not changed by the fact that the imperative words are put down in writing. The written text – in itself only figures on paper – has the function of calling up certain notions in the mind of the reader. That is all“ (Olivecrona, Law as Fact, S. 47 f.).

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3  Ontologie des positiven Rechts

Bewusstsein in Existenz gehalten werden können.97 Nichts kann der menschliche Wille gegen die Inzidenz einer Rechtsnorm.98 Damit sind voluntaristische Rechtskonzeptionen ausgeschlossen, die die Gesamtheit des positiven Rechts als eine Unterart des Wollens ansehen.99 Die Entstehung einer Norm hat zwar diverse Ursachen wie beispielsweise eine Volksabstimmung, parlamentarische Debatten, gerichtliche Entscheidungen usw.; die weitere Existenz der Norm nach ihrer Entstehung ist aber von den jeweiligen Entstehungsursachen, mögen sie welche auch immer sein, unabhängig. So ist der Grund, warum es der Fall ist, dass eine Norm in einem bestimmen Zeitpunkt existiert, das heißt, warum sie gilt, nicht mit ihrer raumzeitlichen Entstehungsursache zu verwechseln. Kurz, Existenz und Geltung sind nicht gleich Ursache. Normentstehung und -geltung sind zwei unterschiedliche Fragestellungen100 und zwar bereits

97Entgegen Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, S. 393, wemzufolge „die Realität des Rechts vom Rechtsbewusstsein abhängt“. Dass Rechtsnormen allerdings nicht durch Bewusstsein über sie in Existenz gehalten werden können, bedeutet auch, dass die Normgeltung nicht unter Rückgriff auf kollektive Intentionalität erklärt werden kann, und zwar auch dann, wenn von dieser behauptet wird, sie selbst sei nur solange in Existenz gehalten, als dass individuelle Bewusstseine vorkommen. In diesem Fall wären rechtliche Institutionen auf kollektives Bewusstsein reduzierbar und dieses wiederum auf individuelles Bewusstsein reduzierbar, wie es beispielsweise bei der institutionellen Theorie sozialer Tatsachen von John Searle der Fall ist: „All intentionality, whether collective or individual, has to exist inside individuals‘ heads“ (Searle, Making the social world, S. 44). 98Ipsis literis: „A vontade humana nada pode contra a incidência da regra jurídica“ (Pontes de Miranda, Tratado de Direito Privado, S. 95). 99Beispielsweise die neukantianische „reine Rechtslehre“ Rudolf Stammlers: „Wenn also d a s R e c h t weder eine einzelne Erscheinung der Körperwelt darstellt, noch zu den reinen Begriffen zählt, mit denen diese in der Erfahrungswissenschaft zu erfassen sind, und es auch nicht unter den regulativen Prinzipien der Naturwissenschaft zu finden ist, so kann es nur zu dem Bereiche der Gedankenwelt gehören, die wir als das W o l l e n, als das Bewußtsein von Z w e c k e n kennen. … D a s R e c h t i s t e i n e f o r m a l e E i g e n s c h a f t v o n m e n s c h l i c h e m W o l l e n“ (Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., Halle: Scientia Verlag Aalen, 1923 (Neudruck 1970), S. 42). Ein späterer Rechtsvoluntarismus ist auch zu finden bei Stemmer, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, insbes. S. 40. Auch positivistischen Rechtskonzeptionen liegt oft der Voluntarismus zugrunde. Siehe das Beispiel von Norbert Hoerster: „Soweit man bloß gedachte oder fingierte sowie überpositive Normen aus der Betrachtung ausklammert und sich auf im empirischen Sinn reale Normen beschränkt, trifft außerdem zu: Hinter jeder Norm steht ein menschliches Wollen; jede Norm statuiert ein menschliches Sollen“ (Hoerster, Die rechtsphilosophische Lehre vom Rechtsbegriff, S. 182). 100Vgl. Neil MacCormick/Ota Weinberger, An Institutional Theory of Law. New Approaches to Legal Positivism, Dordrecht u.a.: Reidel Publishing, 1986, S. 39.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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d­eswegen, weil sie unterschiedliche Zeitkoordinaten haben.101 Es sei betont, dass dasselbe für Handlungen gilt, die Normbewusstsein voraussetzen, nämlich

101„The act of establishing a norm has the characteristic of a point in time, … the established norm has its existence in a period of time beginning with the moment in which the norm is established“ (MacCormick/Weinberger, An Institutional Theory of Law, aaO.). Die Unterscheidung von Normexistenz und -entstehung kommt auch bei der voluntaristischen Rechtskonzeption Hans Kelsens zum Ausdruck: „Darin, daß ‚Sollen‘ auch der objektive Sinn des Aktes ist, kommt zum Ausdruck, daß das Verhalten, auf das der Akt intentional gerichtet ist, nicht nur vom Standpunkt des den Akt setzenden Individuums, sondern auch vom Standpunkt eines unbeteiligten Dritten als gesollt angesehen wird; und das auch dann, wenn das Wollen, dessen subjektiver Sinn das Sollen ist, faktisch aufgehört hat zu existieren, wenn mit dem Willen nicht auch der Sinn, das Sollen verschwindet; wenn das Sollen auch nach Aufhüren des Wollens ‚gilt‘, ja wenn es gilt, selbst wenn das Individuum, dessen Verhalten dem subjektiven Sinne des Willensaktes nach gesollt ist, von diesem Akt und seinem Sinn gar nichts weiß, wenn dieses Individuum als verpflichtet oder berechtigt angesehen wird, sich sollensgemäß zu verhalten. Dann ist das Sollen, als ‚objektives‘ Sollen, eine ‚geltende‘, den Adressaten bindende ‚Norm‘. … Die ‚Existenz‘ einer positiven Norm, ihre Geltung, ist von der Existenz des Willensaktes, dessen objektiver Sinn sie ist, verschieden. Die Norm kann gelten, wenn der Willensakt, dessen Sinn sie ist, nicht mehr existiert. Ja, sie tritt erst in Geltung, wenn der Willensakt, dessen Sinn sie ist, aufgehört hat zu existieren“ (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 7, 10). Die Annahme der selbständigen Existenz von Normen unabhängig vom Fortbestehen des sie schaffenden Willens ist inkompatibel mit der Gleichsetzung von Sollen und Wollen (oder einer Reduktion von jenem auf dieses), von Normexistenz und Willensakt. Eine solche irrtümliche Gleichsetzung findet immer dann statt, wenn Normativität als ontologisch abhängig von Willem (und daher als etwas ontologisch Subjektives) gefasst wird. Ob eine solche Gleichsetzung letztlich und implizit bei Hans Kelsen vorkommt, sei dahingestellt. In der ebenso neukantianischen, aber aus anderen Gründen „reinen Rechtslehre“ von Rudolf Stammler ist die Zugehörigkeit des Rechts zum Wollen deutlich: „Wenn jemand einen ‚rechtlichen‘ Anspruch erhebt, so nimmt er nicht etwas wahr, sondern w i l l etwas; wer einen ‚Rechtssatz‘ erläßt, der behauptet nicht eine Tatsache der Erfahrung, er verfolgt Z w e c k e; und falls wir den Inhalt einer ‚Rechtsordnung‘ betrachten, so sehen wir dort nicht körperliche Erscheinungen der Natur, sondern einen Inhalt von menschlichem W o l l e n“ (Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 42). Noch radikaler ist der Rechtsvoluntarismus bei Peter Stemmer: „Normativität, das bestätigt diese Analyse, ist immer etwas ontologisch Subjektives. Und es ist speziell die Abhängigkeit von einem Wollen, die die subjektive Ontologie begründet. Normativität kann es deshalb nur in einer Welt geben, in der es Lebewesen gibt, die etwas wollen. Dabei ist, dass a in einer normativen Situation ist, nicht von irgendeinem Wollen abhängig, es ist von einem Wollen von a abhängig. Es ist das Wollen dessen, der muss, das eine Existenzbedingung dieses Müssens ist. Voraussetzung dafür, Adressat eines normativen Müssens zu sein, ist also ein eigenes Wollen“ (Stemmer, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, S. 40). So erscheint Normativität auf Wille reduzierbar, und dieser wiederum auf „physikalische Teilchen“ (ders., S. 43),

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Urteil, Wertung, Interpretation, Abwägung, ebenso wie für normbezogene Akte wie Normbefolgung und -gebrauch als Handlungsgrund: Logischerweise kann keiner dieser Akte dieselben Normen erzeugen oder in Geltung halten, die sie beziehend voraussetzen.102 Rechtsnormen sind diesen Akten zwar psychologisch gegenwärtig, aber logisch und ontologisch vorherig. Viertens scheitert die phänomenologische Reduktion aufgrund einer Implikation der Norminzidenz. Während Rechtnormen im Zeitraum ihrer Geltung allgegenwärtig inzidieren, ist das Wissen von Individuen, Kollektiven und Institutionen über die Gesamtheit der Sachverhalte, die die Norm regelt, schlichtweg nicht vorhanden. Mit anderen Worten, der Inzidenzbereich einer Norm, also diejenigen Akte, die durch sie qualifiziert, geboten, verboten oder erlaubt werden, geht weit über das tatsächliche Wissen irgendwelcher Individuen und Kollektive hinaus, und zwar selbst wenn der Bewusstseinsbegriff so gefasst wird, dass Menschen auch ohne augenblicklichen gedanklichen Bezug auf Sachverhalte dieser bewusst sein könnten, wie etwa ein Elternteil, der seiner Fürsorgepflicht bewusst ist, ohne jedoch dauernd darüber nachzudenken. Die Norm kann eine nahezu unendliche Konkretheit erreichen, da die ihr unterstehenden Fälle nahezu unendlich sind. Zum Beispiel: Eine in Deutschland geltende Norm lautet, eine Ehe soll nicht vor Eintritt der Volljährigkeit eingegangen werden (§1303 Abs. 1 BGB). Der deutsche Staatsbürger Hans ist zum Zeitpunkt τ1 15 Jahre alt. Die Rechtsfolge ist, dass Hans in diesem Zeitpunkt nicht ehemündig ist, das heißt, nicht heiraten darf. Im deutschen Recht gilt aber nicht nur die genannte allgemeine

wobei Normativität sich als ein atomistisches „Zusammenkommen von Elementen“ (ders., S. 43), also als ein Epiphänomen von Materie erweist – eine Position, die eine Art der bisher kritisierten phänomenologischen Reduktion kennzeichnet. Stemmer zuwider ist die willentliche Normerzeugung vielmehr nur eine Art der Normentstehung unter anderem und niemals eine notwendige oder hinreichende Bedingung für die Geltung einer Norm. Kelsen ist gegen Stemmer insofern Recht zu geben, dass der Wille des Normadressaten nicht einmal eine notwendige Bedingung für die Normentstehung oder -geltung ist, die sein oder jemand anderes Verhalten betrifft. „Faßt man freilich das Sollen in jenem formal-objektiven Sinne, in dem es für die juristische Betrachtung allein von Bedeutung ist, dann tritt die Unabhängigkeit dieses Sollens vom inneren Zweck deutlich zu Tage. Ich kann sollen, ohne das Gesollte zu wollen, d. h. zu meinem Zwecke zu machen, und ich kann wollen, ohne zu sollen“ (Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 65). 102Über dieses spezifische Moment des Bewusstseins, das sich auf abstrakte Gesetze bezieht und sie als gegeben vorfindet, siehe bewusstseinsphilosophisch Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 317.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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Norm des BGB, sondern auch die individuelle Norm. Diese muss ebenso wenig wie jene von Individuen, rechtlichen Organen oder Kollektiven zugleich oder nachträglich in Bezug genommen, interpretiert, befolgt oder bewertet werden, um im Zeitpunkt τ1 im konkreten Fall zu gelten. Da die individuelle Norm nur auf den Einzelfall bezogen ist, aber denselben deontischen Gehalt der allgemeinen Norm hat, kann sie – im Unterschied zur erst im Moment einer eventuellen Rechtsanwendung hergestellten „Fallnorm“103 – Tautonorm genannt werden. Die Tautonorm ist die durch die Norminzidenz implizierte individuelle Norm. Selbstverständlich ist die Tautonorm in dem bewussten Bezug der Individuen und Kollektive auf die allgemeine Norm logisch enthalten: Jede allgemeine Norm enthält logisch alle Fälle ihrer Instanziierung. Der Bezug von Individuen und Kollektiven auf die allgemeine Norm enthält jedoch keinen phänomenalen Bezug auf die Tautonormen und die entsprechenden Einzelsachverhalte: Es kann sein, dass Individuen und Kollektive, denen die Norm des §1303 Abs. 1 BGB bewusst ist, erst im Zeitpunkt τ2 etwa im Rahmen einer zivilrechtlichen Klage zur Kenntnis nehmen, dass Hans zum Zeitpunkt τ1 nicht heiraten durfte. In dem Fall werden die Instanziierungen des §1303 Abs. 1 BGB erst nach der Inzidenz dieser Norm in Bezug genommen. Tautonormen wie diese machen übrigens die meisten Normen einer Rechtsordnung aus, da normative Instanziierungen meistens zahlreicher sind als die instanziierten Normen (ausgenommen individuelle Normen, die bereits als solche erlassen werden und die deswegen den Allgemeinheitscharakter nicht besitzen, wie etwa die Ernennung eines Staatsoberhauptes, ebenso wie allgemeine Normen, die nicht oder nur einmal instanziiert werden, etwa im unwahrscheinlichen Fall, dass ein Straftatbestand nur ein einziges Mal verwirklicht wird oder aus der Rechtsordnung wegfällt, ohne jemals verwirklicht worden zu sein). Die meisten geltenden Normen einer Rechtsordnung und folglich die meisten unter ihrer Semantik stehenden Sachverhalte sind trotz ihren juristischen unumstrittenen Charakters von niemandem bekannt. Das heißt, ebenso wie in der Natur uns unbekannte, aber nicht unbedingt unerkennbare Tatsachen vorkommen, kommen in einer Gesellschaft aufgrund der Norminzidenz unbekannte Rechtstatsachen vor. Im Modus der logischen Inzidenz existieren sie als Sachverhalte und Grundzusammenhänge, nicht aber als Gegenstände (oder Objekte), Phänomene oder Bewusstsein. Denn Gegenstände sind im Gegensatz zu Dingen und Sachverhalten

103Im

Sinne der Strukturierenden Rechtslehre. Vgl. Müller, Juristische Methodik, Rn. 467, 471 f.; Müller, Syntagma, S. 37.

198

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Korrelate zur subjektiven Tätigkeit;104 Phänomen ist das, was zumindest Einem erscheint. Die Normexistenz ist dagegen im Modus der bloßen Inzidenz weder subjektiv noch objektiv, sondern unabhängig von Kenntnisnahmen und folglich schlichtweg logisch und ontologisch. Tautonormen werden je nach eingeleitetem Rechtsverfahren, Streitpunkt und Relevanz meistens zwar nahezu mühelos, aber nur im Laufe der Zeit und nicht alle zugleich zur Kenntnis genommen. Die Folge für die juristische Interpretation ist es, dass man sich instrumentell einer zeichenmäßig festgelegten Semantik bedient, normalerweise eines Normtextes105, um die zum Zeitpunkt der rechtsrelevanten Taten geltende Norm zu erschließen. Die Gesetzesinterpretation im Moment der Rechtsanwendung ist daher vornehmlich rückwärtsgewandt, texttranszendierend und deklaratorisch. Sie ist „Inhalts-

104Zwar

kann der philosophische Terminus „Gegenstand“ auch Ding im nicht korrelativen Sinne umfassen, wobei Ding und Gegenstand Synonym wären; meistens wird das Wort Gegenstand jedoch im engsten Wortsinn als Erfahrungsgegenstand verwendet (A. Veraart, Gegenstand, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, 1955). Deshalb heißt beispielsweise bei Immanuel Kant das Ansich, das außerhalb der Erfahrung liegt und seines Erachtens unerkennbar ist, meistens nicht „Gegenstand an sich“ im Gegensatz zu einem „Erkenntnisding“, sondern „Ding an sich“ im Gegensatz zum Gegenstand. Exemplarisch: „Der transzendentale Gebrauch eines Begriffs in irgendeinem Grundsatze ist dieser: daß er auf Dinge ü b e r h a u p t und an s i c h s e l b s t, der empirische aber, wenn er bloß auf E r s c h e i n u n g e n, d. i. Gegenstände einer möglichen E r f a h r u n g, bezogen wird“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 289, B 204). 105Die empirischen Festlegungen, die auf Rechtsnormen verweisen, sind normalerweise Normtexte; sie müssen aber keine Texte, ja nicht einmal sprachlich sein: „Nicht unerwähnt soll es aber bleiben, daß Gesetze ihren verkündeten Ausdruck durchaus nicht notwendig allein in der Sprache finden. So können z. B. konkrete Verordnungen auch durch nichtsprachliche Zeichen ausgedrückt werden, wie sie sich heute in Gestalt von oft sehr ‚sprechenden‘ Verkehrszeichen am Straßenrand, von aufgemalten Streifen auf der Straße selbst, von Richtungspfeilen, Lichtsignalen, Färbungen und Bildchen vielfach finden. Es handelt sich dabei keineswegs notwendig um bloße Symbole für die Worte des Gesetzessatzes, wie das allenfalls beim Buchstaben P (als Zeichen für den Satz: Hier ist Parken erlaubt) der Fall sein mag. Vielmehr weisen manche Zeichen, vor allem Richtungszeiger unmittelbar auf den Gesetzesgedanken hin, der in allen Sprachen derselbe ist; zu ihrem Verständnis bedarf es deshalb keines oder eines nur mangelhaften Verständnisses der Landessprache“ (Spiegelberg, Gesetz und Sittengesetz, S. 42). In der Tat stellt das Straßenverkehrsrecht eine bedeutende Konstellation nichtsprachlicher Rechtskommunikation dar. Anhand von Instrumenten wie Farben, Schildern und Tönen wird gewarnt, verboten, erlaubt, orientiert usw. Zur Semiotik des Straßenverkehrsrechts siehe Eduardo Carlos Bianca Bittar, O discurso do legislador de trânsito. Uma análise semiótica da linguagem nãoverbal normativa, Revista de Informação Legislativa 145, 2000, 157–169.

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199

und Sinnermittlung von etwas Vorgegebenem“106, nicht aber die „(schöpferische) Ausfüllung von etwas nur der Richtung oder dem Prinzip nach Festgelegtem,“107 da, wie gesagt, auch die Tautonorm dem Interpretationsakt vorherig ist.108 Das heißt ebenso: Juristische Interpretation ist nicht die Individualisierung einer Norm, die vor dem Interpretationsakt nicht schon individualisiert gegolten hätte, das heißt, Rechtsanwendung ist logischerweise keine Erzeugung derselben Normen, die angewendet werden. Normen aller Rechtsquellen und Abstraktionsebenen existieren vor und zur gleichen Zeit der Handlungen, die sie regeln.109

106Ernst

Wolfgang Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz. Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 19. Oktober 1989, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 1990, S. 56. 107Entgegen dens., aa.O. 108Im Gegensatz zur Auffassung, die für den Einzelfall geltende Norm sei eine rückblickende Konstruktion des rechtsanwendenden Organs. Eine solche antirealistische Auffassung kann man finden bei Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 242–247. 109Lapidar bereits Pontes de Miranda: „Zu behaupten, dass die Zeit A, die bereits vergangen ist, durch die Rechtsnorm der Zeit C geregelt werden muss, bedeutet das Rückgängigmachen der Zeit anzunehmen und bereits nicht mehr vorhandene zwischenmenschliche Verhältnisse zu regeln. Die Willkür ist jedenfalls geringer bei einem Rückbezug, der nur im Bereich der Wirkung [d. h., nicht der Geltung der Rechtsnorm] der Fall wäre. Sowohl die Rechtsnorm als auch der Sachverhalt existieren im Moment der Inzidenz. Es ist nicht nötig, dass dies im Moment der Anwendung der Fall sei. Hier [im Moment der Anwendung] könnte sein, dass der Sachverhalt schon nicht mehr und die Rechtsnorm noch besteht; oder umgekehrt. Beides muss vorher zusammen existiert haben, und zwar zu dem Zeitpunkt, über den gesagt wird, die Rechtsnorm habe inzidiert. Bei nicht vorhandenem Zusammensein [von Norm und Sachverhalt] gleichen sich die Attitüden eines Post-factum-Gesetzgebers und der Freirechtsschule: beide widersprechen der Unrückgängigkeit der Zeit, die sowohl die physische als auch die biologische und soziale Welt regelt. Im Moment der Anwendung ist es anders: normalerweise behandelt der Richter die Vergangenheit, also vergangene Inzidenzien, und zwar ohne Beachtung der Gegenwart und der Zukunft; manchmal kommt ihm nicht einmal zu, die gegenwärtige oder die zukünftige Wirkung zu untersuchen“ (Übersetzung aus dem folgenden Original im Portugiesischen: „Dizer que o fato do tempo A, que passou, tem de ser regido pela regra jurídica do tempo C, equivale a admitir a reversão do tempo e regular relações inter-humanas que já desapareceram. Menor é a arbitrariedade da eficácia retroativa, que é só no domínio da eficácia. Regra jurídica e suporte fáctico hão de existir no momento em que se dê a incidência. Não é preciso que ocorra no momento da aplicação. Nesse, pode ser que o suporte fáctico já não seja, e a regra jurídica ainda seja; ou vice-versa. Hão de ter coexistido antes, em algum momento, que é aquele em que se afirma ter a regra jurídica incidido. Se não houve a coexistência, a atitude do legislador post facto e a do direito livre são a mesma: contrariam a irreversibilidade do tempo, que tanto rege o mundo físico quanto o biológico e o social. No momento da aplicação, é diferente: de ordinário, o juiz está a tratar de passado, de incidências que se deram, sem qualquer atenção ao presente e ao futuro; às vezes, não lhe incumbe, sequer, examinar a eficácia presente ou a eficácia futura“), Pontes de Miranda, Tratado de Direito Privado, S. 88.

200

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Norminstanziierung bzw. Norminzidenz sind deswegen nicht mit Normanwendung gleichzusetzen. Aufgrund des Bestehens von Rechtsnormen und -tatsachen unabhängig von ihrer Bewusstwerdung existiert das positive Recht nicht ausschließlich im Modus einer institutionellen Tatsache. Rechtsnormen werden zwar gesetzt und somit durch soziale Vorgänge verursacht, aber bestehen während ihrer Geltung ontologisch unabhängig von Gedanken und Sprechakten von Individuen,110 von Repräsentationen111 und von staatlicher, institutioneller und kollektiver Anerkennung.112 Die ontologische Unabhängigkeit rechtlicher Normen in diesem Sinne wird in „institutionellen Rechtstheorien“113 merkwürdigerweise wider ihr Programm doch implizit eingeräumt, und zwar vermittelst der theoretischen Strategie der Hypostasierung des Institutionsbegriffs. Denn, um die Geltung von

110Entgegen

Searle, Making the social world S. 44, Nr. 3. Searle, Making the social world, S. 110. 112Entgegen MacCormick/Weinberger, An Institutional Theory of Law, S. 40 („Norms exist in the realm of human counsciousness: there is something like an experience of obligatoriness, the counsciousness that something ought to be the case“). In diesem Sinne und in Anschluss an John Searle auch Philipp Siedenburg, Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung. Zur Argumentationsfigur der einzig richtigen Entscheidung, Baden-Baden: Nomos, 2016, S. 259 und Burazin, Can There Be an Artifact Theory of Law?, S. 397. Auch Robert Brandoms Konzeption impliziter Normativität kann als eine Anerkennungstheorie angesehen werden, die Normen auf Attitüden zurückführt: „On the broadly phenomenalist line about norms that will be defended here, norms are in an important sense in the eye of the beholder, so that one cannot address the question of what implicit norms are, independently of the question of what it is to acknowledge them in practice. The direction of explanation to be pursued here first offers an account of the practical attitude of taking something to be correct-according-to-a-practice, and then explains the status of being correct-according-to-a-practice by appeal to those attitudes. … one way to demystify norms is to understand them as instituted by the practical attitudes of those who acknowledge them in their practice. Apart from such practical acknowledgment … performances have natural properties, but not normative proprieties“ (Robert Brandom, Making it explicit. Reasoning, representing, and discursive commitment, Cambridge, Mass. u.a.: Harvard Univ. Press, 1994, S. 25, 63). 113Eine allgemeine Anerkennungstheorie von sozialen Tatschachen lieferte beispielsweise Searle, Making the social world. Bezüglich auf das Recht als institutionelle Tatsache auch MacCormick/Weinberger, An Institutional Theory of Law. Rezeption und weitere Entwicklung bei Neumann, Das Problem der Rechtsgeltung (2007) und Burazin, Can There Be an Artifact Theory of Law?. Erheblich früher schon anerkennungstheoretisch Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre. Bd. 1, Aalen: Scientia Verlag, 1979, Neudruck der Ausgabe von Tübingen 1894, S. 19, 40 ff. In der angelsächsischen Rechtstheorie besonders unter der Bezeichnung „rule of recognition“ Hart, The Concept of Law. 111Entgegen

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201

individuellen Normen zu erläutern und um Verlegenheiten wie die Schaffung und Abschaffung von Rechtsnormen und -ordnungen je nach dem Bewusstseinszustand der Teilnehmer zu vermeiden, wird in ihrem Rahmen auch denjenigen Tatsachen institutionelle Wirklichkeit zuerkannt, die nicht repräsentiert oder anerkannt werden, aber durch repräsentierende Akte erzeugt und danach rein logisch impliziert werden114, wie beispielsweise die Tatsache der Rezession in einem Geldsystem: Die Praxis des Warentauschs durch Geld werde als Tatsache explizit instituiert und durch Bewusstsein in Existenz gehalten; eine eventuelle im Moment noch nicht spürbare (und daher nicht repräsentierte) Rezession würde aber der institutionellen These zufolge dadurch existieren, dass sie trotzdem indirekt, durch logische Implikation implizit und unbekannterweise (!) „instituiert“ und „anerkannt“ würde.115 Eine der Folgen für die Problematik der rechtlichen Geltung wäre es, dass die Geltung allgemeiner Normen durch ständige Repräsentation und Anerkennung getragen würde, während die Geltung aller unzählbaren individuellen Normen, die allgemeine Normen instanziieren und nicht ausdrücklich ständig repräsentiert oder anerkannt werden, ebenso als institutionelle Tatsachen, als logische Folgen der Geltung allgemeiner Normen angesehen werden.116

114Exemplarisch die sogenannten „third person fallout facts from institutional facts“ oder „macro institutional facts“ im Gegensatz zu den „micro instituional facts“. Vgl. Searle, Making the social world, S. 116 f. am Beispiel der Regeln des Baseball. 115So etwa die Idee von „institutional facts without an institution“. Analyse und Kritik bei Corrado Roversi, Ontology of Law. in: Sellers, Mortimer; Kirste, Stephan (hrsg.), Encyclopedia of the Philosophy of Law and Social Philosophy, Dordrecht: Springer, 2018. 116„The institutional theory of law assumes that the law is a part of social reality, that is characterized by it that legal entities and facts are the result of the application of rules. … Although it is seldom formulated explicitly, the rules which create institutional reality are taken to apply ‘automatically’. Given the rule which makes thieves punishable and the fact that Derek is a thief, Derek is punishable. This is a fact in the institutionalized part of social reality, because the rule attaches this status to Derek as he is a thief. This happens, even if nobody knows that Derek is a thief“ (Hage, Construction or Reconstruction?, S. 130 f.). So auch im Rechtspositivismus Hoersters, der zu den „empirischen Tatsachen“ der Normgeltung auch diejenigen Normen zählt, die sich nur „durch logische Schlüsse“ erkennen lassen: „Daß eine Norm in einer bestimmten Gesellschaft existent sowie verbindlich (also geltend oder gültig) ist, ist eine empirische Tatsache, die sich aufgrund von Beobachtung (entweder unmittelbar der durch logische Schlüsse vermittelt) objektiv feststellen läßt“ (Hoerster, Die rechtsphilosophische Lehre vom Rechtsbegriff, S. 183). Kritik des ontologischen Status von individuellen Normen im Rahmen der institutionellen Rechtstheorie von Weinberger und MacCormick bei Aulis Aarnio, Essays on the Doctrinal Study of Law, Dordrecht u. a.: Springer, 2011, S. 49.

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So gelingt es den Anerkennungstheorien nicht, ein einheitliches Kriterium für das Bestehen einer sozialen Tatsache oder für die Geltung einer Norm anzubieten. Denn Bewusstsein, Wille, Repräsentation und Anerkennung sind es nicht, da die unbekannten individuellen Normen diese Kriterien nicht erfüllen; sie sind nach dem Bewusstseins- und Anerkennungskriterium keine social facts, sondern facts from social facts.117 Das bedeutet, dass eine in einem gegebenen Zeitpunkt geltende Norm, die eine logische Folge einer anderen Norm ist, zwar durch diese bedingt, aber nicht durch Repräsentation oder Anerkennung in Existenz bzw. Geltung gehalten wird, sondern durch logische Implikation. So wird Institutionalismus durch Inferenzialismus ergänzt.118 Es sind aber Situationen denkbar, in denen diese beiden Geltungsursachen bzw. -kriterien (Institution und Inferenz) in Widerspruch zueinander geraten. So kann eine Gesellschaft eine soziale Tatsache instituieren (etwa ein allgemeines „Heiratsverbot zwischen Verwandten“), dabei eine logische Folge implizieren („die Geschwister Hans und Maria dürfen nicht heiraten“), aber (1) zugleich oder nachträglich, (2) mehrheitlich oder minderheitlich, (3) implizit oder explizit andere Repräsentationen haben, andere Anerkennungen vollziehen oder andere Regeln konstituieren (wie etwa „Verwandte dürfen heiraten“, „Hans und Maria dürfen heiraten“), und zwar möglicherweise auch mit rückwirkendem Bezug auf den vergangenen Einzelsachverhalt. Dann kollidiert das Kriterium des Institutionalismus (Bewusstsein, Repräsentation, Anerkennung, Institution) mit dem des Inferenzialismus (logische Implikation, fallout): Hans und Maria dürften etwa nach dem zweiten Kriterium heiraten, aber nach dem ersten nicht. In der Tat können den institutionellen Rechtstheorien zufolge Sätze gegen die Mehrheitsauffassung, ja sogar gegen die einstimmige Auffassung einer Gemeinschaft wahre soziale Tatsachen über sie bezeichnen,119 weswegen fraglich ist, inwiefern von diesen Sätzen gesagt werden könnte, sie würden von derselben Gemeinschaft „instituiert“ oder „anerkannt“. Wenn aber immerhin zwei Institutionen oder

117Searle,

Making the social world, S. 117. norm leads to inferences which are always valid together with it, although the inferences are not contained in the meaning of the act“ (MacCormick/Weinberger, An Institutional Theory of Law, S. 39). So wird die Anerkennung indirekt, „logifiziert“, und daher sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene kaum als Anerkennung wiedererkennbar. Siehe zu diesem Punkt Ulfrid Neumann, Theorien der Rechtsgeltung (1985). in: Recht als Struktur und Argumentation. Beiträge zur Theorie des Rechts und zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, Baden-Baden: Nomos, 2008, 93–113, S. 98 f. 119Searle, Making the social world, S. 118. 118„A

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Anerkennungen widersprüchlich sind, sei es, wie gesagt, (1) weil die eine früher als die andere ist, (2) weil die eine mehrheitlich und die andere minderheitlich ist oder (3) weil die eine implizit und die andere explizit ist, ist nicht mehr die Institution/Anerkennung selbst das Kriterium für das Bestehen sozialer Tatsachen oder für die Geltung von Normen, denn dies führt zu widersprüchlichen Ergebnissen, sondern allein das, was über die Existenz/Geltung des einen Institutionsgegenstandes im Gegensatz zu dem mit ihm unvereinbaren entscheidet. Dies geht aber über Institutionalisierung und Anerkennung hinaus. Wenn solche Kriterien festgelegt werden, werden unter den vielen Institutionalisierungen Selektionen vorgenommen. Die Anerkennungs- und Institutionsbegriffe werden hypostasiert, da ausgewählte und selbst von niemandem bekannte Konstruktionen als Anerkennung bzw. Institutionalisierung gelten könnten. Die Hypostasierung eines Begriffs ist die Erweiterung seines Bedeutungsumfanges insofern, dass der Begriff (1) mit wesentlichen Eigenschaften ausgestattet wird, die zu seinem Begriffskern nicht gehören (=Wesenshypostasierung) oder (2) überhaupt mit einem Begriffsumfang ausgestattet wird, der sogar sein Gegenteil einbeziehen könnte (=Umfangshypostasierung). Die Hypostasierung ist somit ein Anwendungsfehler der bestimmenden Urteilskraft: Etwas, was nicht unter den Begriff X fällt, wird für ein X gehalten oder etwas, was unter den Begriff X fällt, wird für ein Nicht-X gehalten. In der praktischen Philosophie, insbesondere in Recht und Politik, wird dieser Fehler oft aufgrund eines erhöhten argumentativen Legitimationsdruckes begangen. In diesen Gebieten sind Hypostasierungen häufig Versuche, einer gewissen Begründungslast zu entkommen. Die kommunikationstheoretische Strategie etwa, Vorgänge wie „Diskurs“, „handeln“ und „kommunizieren“ so normativ aufzuladen, dass moralpolitische Konsequenzen schon aus ihrer Anwendung folgen, ist ein Beispiel der Hypostasierung dieser Begriffe. Die Annahme eines „internen Zusammenhanges“ „zwischen gelingender Kommunikation und Tatsachendarstellung“120 beispielsweise führt zur logischen Konsequenz, dass ein Lügner nicht primär dem Vorwurf ausgesetzt würde, eine unmoralische Handlung begangen, sondern überhaupt nicht gehandelt oder sich überhaupt nicht „gelingend“ kommuniziert zu haben. Die moralische Regel, „du sollst nicht lügen“, wäre durch ein implizites Gebot, „du sollst handeln“, ersetzt. Um aber zu begründen, warum jemand handeln sollte, muss man nicht begründen, warum er wahrhaftig sein sollte. So entkommt man der substanziellen Begründungslast eines moralischen Satzes, indem man einen anderen Satz

120Habermas,

Wahrheit und Rechtfertigung, S. 9–11.

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begründet, der allerdings eine moralische Konsequenz birgt. Ein anderes Beispiel ist die diskursethische Hypostasierung des Diskursbegriffs: Wenn der Diskursbegriff bereits mit üblichen linkspolitischen Forderungen wie Herrschaftsfreiheit, Egalitarismus und Universalismus aufgeladen wird, könnte einem Kritiker des Egalitarismus, der sich auch zugleich autoritär verhält, vorgeworfen werden, dass er nicht einmal einen „Diskurs“ einträte, denn eine autoritäre Rede sei überhaupt kein „Diskurs“. Dies stellt allerdings eine ungerechtfertigte Begründungsverkürzung dar. Mit dieser Strategie entfällt scheinbar eine erhebliche Argumentationslast, denn es ist einfacherer zu begründen, dass jemand überhaupt einen Diskurs eintreten soll, um eine relevante politische oder juristische Angelegenheit zu lösen, als das substanzielle Ergebnis, dass die beste Lösung dem Egalitarismus (oder welcher normativen Position auch immer) entspricht. So wäre die Erreichung eines egalitären Diskussionsergebnisses durch die Anwendung eines hypostasierten Diskursbegriffs, dem der Egalitarismus als wesentliche Eigenschaft bereits hinzugefügt wurde, ein Zirkel.121 Durch Hypostasierung können auch Sozialakzeptanzkategorien wie „Anerkennung“ oder „impliziter Konsens“ bis zur Einbeziehung ihres Gegenteils erweitert werden, um wertende Ansichten unter Berufung auf den allgemeinen Konsens oder Anerkennung zu legitimieren – eine bloß formelle Legitimationsstrategie, die sich der substanziellen Begründungslast entziehen will und eine ausgewählte wertende Ansicht in der Gesellschaft unter vielen anderen widersprüchlichen Ansichten ohne substanzielle Begründung privilegieren will.122 Schließlich können „sprachtheoretische Einsichten … nicht nach rechtlichen, auch nicht nach verfassungsrechtlichen Bedürfnissen zurecht geschnitten werden.“123 So würde das rechtliche Sollen eigentlich nicht aus dem Sein der Institution abgeleitet,

121Vgl. die Kritik Tugendhats an der Diskursethik in Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 165). 122Siehe beispielsweise mögliche Kritikpunkte an Gilbert Harmans Umgang mit dem Begriff agreement in Gonzalo Villa-Rosas, Morality from the Outside. On G. Harman's and B. Wong’s Theories of Moral Relativism, in: Truth and Objectivity in Law and Morals. Vol. 2, hrsg. von A. Ferreira Leite de Paula/A. Santacoloma Santacoloma/G. Villa Rosas, Stuttgart: Franz Steiner, ARSP Beiheft 151, 2016, 173–207, S. 205). 123Ulfrid Neumann, Sprache und juristische Argumentation, in: Sprache – Recht – Gesellschaft, hrsg. von C. Bäcker/M. Klatt/S. Zucca-Soest, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 129–140, S. 138. Diskussion hierzu in Anschluss u. a. an Robert Brandom, Matthias Klatt und Ulfrid Neumann bei Andrés Santacoloma Santacoloma, Semantical Rules and the Theory of the Limit of the Wording. Seeking for Objectivity in Law, in: Truth and Objectivity in Law and Morals. Vol. 2, hrsg. von A. Ferreira Leite de Paula/A. Santacoloma Santacoloma/G. Villa Rosas, Stuttgart: Franz Steiner, ARSP Beiheft 151, 2016, 49–66.

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sondern aus anderen Kriterien, die die Hypostasierung des Institutionsbegriffs erst veranlassen. So kann der Geltungsgrund einer Norm nicht die Anerkennung oder die soziale Institution sein. Die Anerkennungstheorien geraten in diese Schwierigkeiten letztlich, weil dabei – wie bei jeder Anerkennungstheorie der Rechtsgeltung124 – Ursache und Existenz, Entstehung und Geltung verwechselt werden. Somit gehören Bewusstsein und Anerkennung von Rechtstatsachen sowie Normanwendung nicht zum Rechtstatsachenbegriff. Das Bestehen einiger Rechtstatsachen verlangt zwar, dass jemand bewusste Akte vornimmt, etwa dass jemand eine Willenserklärung äußert und somit das Zustandekommen eines Vertrages mitverursacht, aber eine solche Rechtstatsache besteht nicht aus dem Bewusstseinsinhalt der Teilnehmer der Tatsache (oder von irgendjemandem), sondern hat etwas Zusätzliches, das in dem Teilnehmerbewusstsein nicht notwendigerweise als Inhalt vorkommt, nämlich dass es sich überhaupt um eine Rechtstatsache, ein Rechtsgeschäft, in dem Fall, um einen Vertrag, handelt. Denn der bewusste Bezug von Parteien (oder sonst jemandem) auf die Vertragssubjekte, -objekte, -umstände und auf den Vertrag selbst ist kein phänomenaler Bezug auf den Vertrag als Rechtstatsache. Die Parteien müssen nicht einmal wissen, dass ihre Willenserklärungen die Erfüllung eines gesetzlichen Tatbestandes sind, der sie als Vertrag qualifiziert. Obwohl eine Rechtstatsache auch zum Inhalt des Bewusstseins gemacht werden kann, indem jemand sich auf sie interpretierend bezieht, kann sie nicht als Bewusstseins- oder Anwendungsinhalt definiert werden, sonst gäbe es Rechtstatsachen nur dann, wenn jemand sich auf

124Dies betrifft ältere und neuere Fassungen von Anerkennungstheorien, und zwar von Ernst Rudolf Bierling bis H. L. A. Hart. Bei Bierling beispielsweise ist die Anerkennung ein wesentliches Merkmal des Rechtsbegriffs (Bierling, Juristische Prinzipienlehre, S. 19, 40 ff.): „R e c h t im juristischen Sinne ist im allgemeinen alles, was Menschen, die in irgend welcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen“ (ders., S. 19). Die Anerkennung von Normen ist dabei zwar nicht Normschöpfung, sondern die Inbesitznahme einer von einem anderen Geiste formulierten Wahrheit (ders., S. 41 f.). Wesentlich im Besitz der Wahrheit- (und der Norm-) anerkennung ist, dass dieser Inhalt den Geist „inhäriert“, das heißt, sie tritt immer wieder in diesem Geiste willkürlich oder unwillkürlich hervor (nach allgemeinen Gesetzen der Ideenassoziation) und spielt eine treibende Kraft (ders., S. 42). Das Inhärieren von Normen ist das „unwillkürliche Festhalten des Geistes an einem gewissen Normenbesitze“, ein habituelles, dauerndes Respektieren gewisser Normen (ders., S. 43). So gelingt es Bierling nicht, Anerkennung zugleich als Ursache und Kriterium für die Begründung und die Erklärung der rechtlichen Normativität einzuhalten. Denn Anerkennung ist bei ihm (1) nicht notwendigerweise freiwillig und kann durch Gewalt erzwungen werden (ders., S. 46); (2) sie kann indirekt und unbewusst sein, nämlich als logische Konsequenz einer direkten

206

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sie (etwa durch ein Protokoll, durch einen anwaltlichen Schriftsatz, durch ein richterliches Urteil usw.) tatsächlich bezöge oder potenziell beziehen könnte. Dann würde eine im Zeitpunkt τ1 stattgefundene Tatsache (etwa eine mündliche Vereinbarung), die die Voraussetzungen eines Rechtsgeschäftes erfüllt, erst auf Anlass einer im τ2 stattgefundenen sprachlichen Formulierung (etwa einer Klage wegen Vertragsbruchs) oder Möglichkeit einer solchen Formulierung zu einer Rechtstatsache im τ1. Ein Vertrag käme als solcher nicht zum Zeitpunkt der Willenserklärungen zustande, sondern – ad absurdum – erst zum Zeitpunkt seiner nachträglichen Qualifikation als Vertrages, wenn eine solche überhaupt stattfindet.125 Die Vergangenheit wird durch die Kontingenz der Zukunft bestimmt. Analytisch: Die Bedingungen, unter denen etwas im τ1 der Fall ist, würden erst im τ2 erfüllt, was einen Fall rückwirkender Kausalität darstellt, einen Bedingungskonstruktivismus.126 Der chronologische Widerspruch wäre bereits in der Formulierung der konstruktivistischen These vorhanden, dass eine Rechtstatsache erst zum Zeitpunkt „ihrer“ Formulierung als solcher zustandekäme: Das Pronomen „ihr“ enthält bereits einen Bezug auf die Tatsache, die nicht wiederum durch den Bezug oder durch die Benennung dieses „ihr“ als „Tatsache“ konstruiert werden kann. Die genannten Widersprüche des Rechtstatsachenkonstruktivismus liegen am Versuch, dem Umstand gerecht zu werden, dass es Inhalte tatsächlich nicht ohne denjenigen gibt, dessen Bezug sie sind, weil Inhalt ein relationaler Begriff ist und Form i. S. v. denkender Bezugnahme voraussetzt. Der Rechtstatsachenkonstruktivismus scheitert allerdings in diesem Punkt daran, dass nicht alles, was es gibt, ein Inhalt ist. Tatsachen gibt es auch ohne Bezugnahme auf sie. Folglich sind Tatsachen nicht notwendigerweise Inhalte. Kurzum, Rechtstatsachen können

Anerkennung, beispielsweise die Anerkennung der Verfassung und anderer Normen über den Erlass von Normen, was „eine eigentümliche Art idealer Anerkennung“ kennzeichnet (ders., S. 49); und (3) der „Kreis von Menschen“, der eine Norm anerkennt, muss nicht unbedingt vor der Normanerkennung existent sein (!) (ders., S. 44), sondern Normen sind stets vorauszusetzen. Mit diesen drei Punkten sind aber – wider Bierlings Programm – die Voraussetzungen für eine von Anerkennung unabhängige Normontologie erfüllt. Für diese Problematik bei H. L. A. Hart vgl. Donnelly, A Natural Law Approach to Normativity, S. 150 f. 125Siehe kritisch Adriano Soares da Costa, Teoria da incidência da norma jurídica. Crítica ao realismo lingüístico de Paulo de Barros Carvalho, 2. Aufl., São Paulo: Malheiros, 2009, S. 97. 126Zur Kennzeichnung und Kritik des Bedingungskonstruktivismus siehe ausführlich oben, Abschn. 2.3.2.1.

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zwar zum Inhalt bewusster, institutioneller und sprachlicher Bezüge gemacht, aber nicht als solche definiert werden. Dem im 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts herrschenden empiristischen Zeitgeist, für den letztlich nur Materie und individuelle Bewusstseinszustände existieren, ja mit Wirklichkeit überhaupt gleichgesetzt werden, erscheint Normativität häufig als etwas Mysteriöses, das um der aufklärerischen Beseitigung von Naivitäten willen anhand eines Reduktionismus auf Nichtnormatives zu eliminieren gilt.127 Die Reduktionsbestrebung von Normativität auf soziale Institution ist die späte Phase einer mit der frühmodernen Wissenschaft eröffneten zeitgeistlichen Tendenz, die nichtmaterielle Wirklichkeit auf Materie zu reduzieren und den Geist letztlich zu eliminieren – eine „Entzauberungsversessenheit“ oder „Verkleinerungswut“128. Schon der Physik des 17. Jahrhunderts erschien Energie als eine mysteriöse „okkulte Qualität“, die der wissenschaftlichen Aufklärung wegen auf Materie zu reduzieren galt.129 In demselben Jahrhundert wuchs ebenso die Skepsis gegenüber der Teleologie der Natur und der altgriechischen und scholastischen Naturphilosophie.130 Die Teleologie der Natur wurde dann auf eine

127So

ist die „Erklärung von Normativität“ ein häufiges Motiv in der Rechtstheorie. H. L. A. Hart beispielsweise strebte eine Enträtselung von Normativität dadurch an, dass sie nicht mehr angesehen würde als „metaphysical conceptions of obligation or duty as invisible objects mysteriously existing ‚above‘ or ‚behind‘ the world of ordinary, observable facts“ (Hart, The Concept of Law, S. 84). Hart entwarf dafür einen psychologischen Reduktionismus von Normen auf individuelle Attitüden: „Hart behauptet, dass es die reflektierende Haltung sei, die den normativen Aspekt von Regeln tatsächlich begründe und nicht lediglich Zugang zu ihm gewähre. Indem er diesen Schritt macht, identifiziert er jedoch letztlich den normativen Aspekt von Regeln mit den internen subjektiven Zuständen (Haltungen) der Empfänger“ (Pavlakos, Rechtsontologie und praktische Vernunft, S. 25). Normativität muss dagegen nicht auf „grundlegendere extensionsgleiche Bestandteile“ zurückgeführt werden. Es gibt daher einen „Pluralismus auf der Eigenschaftsebene“ (ders., S. 21, 64). „Hart caractérise le « point de vue interne » et le « point de vue externe » par des concepts essentiellement psychologiques: les concepts d’« attitude », d’« acceptation » et de « non-acceptation »“ (Riccardo Guastini, Le « point de vue » de la science juridique, Revue

128Stichwörter

von Michael Ende und Robert Musil, in dieser Reihenfolge. Siehe Vaas, Reduktionismus und Emergenz, S. 105. 129Siehe Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 2. Aufl., München: DTV, 1982, S. 344. 130Kritisch gegenüber der modernen Tendenz bereits Leibniz: „Comme si pour rendre raison d’une conqueste qu’un grand Prince a fait … c’est parce que les petits corps de la poudre à canon estant delivrés à l’attouchement d’une étincelle, se sont echappés avec une vistesse capable de pousser un corps dur et pesant contre les murailles de la place, pendant que les branches des petits corps qui composent le cuivre du canon estoient assez bien entrelacées, pour ne se pas déjoindre par cette vistesse; au lieu de faire voir comment la prevoyance du conquerant luy a fait chiosir le temps et les moyens convenable, et comment sa puissance a surmonté tous les obstacles“ (Leibniz, Discours de Métaphysique, Nr. 13, S. 61).

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3  Ontologie des positiven Rechts

bloß im Menschen angelegte Betrachtungsweise ohne Korrespondenz mit der nur mechanische Kausalitätsgesetze enthaltenden Natur verstanden.131 Später, am Anfang des 20. Jahrhunderts, galt die Psychologie als die Basiswissenschaft unter den Geisteswissenschaften, auf die alle anderen reduziert werden müssten.132 Der Reduktionsversuch von Wirklichkeit auf geist- und vernunftlose Elemente ist ein momentanes und überwindbares Moment des individuellen und kollektiven Bewusstseins. Die Ursache reduktionistischer Programme der Wissenschaft liegen in dem immer größeren Streben nach Objektivität, das beobachtende Individuen und Kollektive dazu veranlasst, möglichst wenig von sich selbst in den Untersuchungsgegenstand hineinzuprojizieren, um ihn ohne subjektive Elemente erkennen zu können. Diese Eigenschaft des „Instinkts der Vernunft“133 führte die Wissenschaft zum größtmöglichen Ausschluss von Geist und Vernunft aus ihren Beschreibungen der an sich seienden Wirklichkeit, sodass der Geist nur auf der Seite des Subjektes und nur Materie auf der Seite des Objektes übrigblieb. Denn Materie kann man in den Untersuchungsgegenstand nicht durch bloßes Denken und Interpretieren hineinlegen, sondern die Irrtumsmöglichkeit der Projektion besteht meistens nur in Hinsicht auf nichtmaterielle Elemente. Ein radikaler Materialismus ist somit eine notwendige Phase der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Vernunft134 – ein Reduktionismus, der an der Wirklichkeit des Geistes scheitern muss.

interdisciplinaire d'études juridiques 59, 2/2007, 49–58, S. 49). „Although Hart rejects Austin’s reductive analyses of law and obligation, he shares the naturalistic and empiricist commitments that led Austin to be suspicious of normativity. … To accept the legitimacy of the law’s claim to authority is to believe that the law has such authority, and not simply to adopt an attitude of endorsement towards the law’s requirements. … Despite Hart’s rejection of his predecessors’ sanction- and predictionbased theories of law, he nonetheless shared their commitment to naturalism and empiricism. … because his non-cognitivist explanation of normativity does not involve an account of how law might actually or potentially give rise to true obligations“ (Perry, Hart on Social Rules and the Foundations of Law, S. 1173, 1191, 1192). 131Vgl.

hierzu ideengeschichtlich Solinas, From Aristotle’s teleology to Darwin’s genealogy. The stamp of inutility, S. 4, 83–94; kritisch gegenüber dieser Reduktion Spaemann/Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. 132Siehe kritisch Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, S. 215. 133Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 190 ff. 134Hegels Diskussion der „Schädellehre“ macht ausführlich auf diese Bewusstseinsentwicklungen aufmerksam. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 247–262.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

209

Auch nach dem Scheitern all dieser Reduktionsversuche überlebte im 20. Jahrhundert noch die Reduktionsbestrebung von Normativität auf Nichtnormatives, sei es auf Wille, Sprache, mentale Zustände, soziale Institutionen, empirische Tatsachen oder normative Erwartungen. Normativität überhaupt „erklären“ zu wollen, war einer der zeitgeistlichen Antriebe der institutionellen Rechtstheorien auch, und daran liegt die Bestrebung, soziale Ursachen mit Kriterium, soziale Entstehung mit Rechtfertigung gleichzusetzen. Es sollte der Rahmen geschaffen werden, damit Normativität auf Institution, Institution wiederum auf kollektive Intentionalität, diese auf individuelle Intentionalität und diese wiederum auf körperliche Vorgänge reduziert wird, auch wenn nicht alle Übergänge in ausdrücklicher Weise in allen Theorien vorkommen. Nur so könnte die Normativität dem Materialismus und Empirismus zufolge „erklärt“ werden, das heißt, nur wenn sie als solche eliminiert wird. Erst aber die begriffshypostasierende Inanspruchnahme des Beweisgrundes (petitio principii), also erst die Voraussetzung eines normativen Kriteriums, nach dem gewisse soziale Institutionen selektiert und andere ausgeschlossen werden, ermöglicht einen scheinbaren Reduktionismus und somit den scheinbaren Übergang vom Sein der Institution auf das Sollen des Rechts. Für die gegenwärtige Erkenntnislage aber muss gelten: Das Anerkannte geht dem Anerkennungsakt zeitlich und logisch vor; die geltende Norm ist der Gegenstand des Anerkennungsvorganges und ihm somit zeitlich und ontologisch vorherig.

3.4.2 Das rein normative Verständnis des Rechts Während das phänomenologische Verständnis des Rechts immer noch Bezüge auf die Ontologie des Sachverhaltes beibehält, indem aber Rechtswirklichkeit reduktionistisch mit Rechtsphänomen und -bewusstsein gleichgesetzt wird, stellt das rein normative Verständnis einen weiteren Schritt in Richtung Deontologisierung des Rechts dar, indem den rechtlichen Komponenten von Sachverhalten ontologischer Status überhaupt abgesprochen wird, weil sie allein dem Bereich des Sollens gehörten, das nicht zugleich ein Sein wäre. Es gebe demnach keinen Sachverhalt juristischer Eigenschaften, der einem rechtsanwendenden Organ ontologisch vorgegeben wäre. Dies entspricht einem Verständnis der Rechtsanwendung als ausschließlich normativer Handlungspraxis, im Rahmen derer Wertungen, Interpretationen und Abwägungen im Moment der Rechtsanwendung für die Produktion von Handlungsanweisungen zum weiteren Verlauf der Rechtspraxis vorgenommen werden. Im Gegensatz zur phänomenologischen Reduktion wird nicht behauptet, der Sachverhalt wird erst dann zu einem rechtlichen

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­ achverhalt, wenn sich jemand ihm juristisch deutend zuwendet und ihn somit S konstruiert, sondern dass überhaupt kein ontologischer juristischer Sachverhalt existiert oder nachträglich konstruiert wird. Das ist zunächst keine rein skeptische Position, die sich des Urteils über das Vorhandensein eines Sachverhaltes überhaupt enthielte, sondern eine Position, die eine wahre These über den vergangenen Sachverhalt aufzustellen beansprucht, nämlich die positive These, dass es diesen Sachverhalt gibt und die negative These, dass er allerdings keine normativen Eigenschaften besitzt. Denn um zu wissen, dass ein bestimmter vorheriger Sachverhalt keine juristischen Eigenschaften besitzt, muss der Sachverhalt zuerst erkannt werden. Ein solcher wäre nun, wie bereits erwähnt, ein „Rohsachverhalt“135 oder „äußerer Vorgang“136 ohne juristische Eigenschaften wie etwa „A tötete B“ statt „A beging Mord an B“ oder „Menschen sammeln sich in einem Raum“ statt „es findet eine Parlamentsitzung statt“.137 Wenn gesagt wird, dass es die rohe Tatsache gibt (bzw. gab) und dass sie nachträglich juristisch gedeutet wird138, so handelt es sich um eine normative Reduktion. Es wird dabei nicht beansprucht, ­Verhaltensnormen

135Larenz,

Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 279. Reine Rechtslehre, S. 2. 137Siehe klassisch die neokantianische Position Hans Kelsens, der ein Dualismus von Fakt und Wert zugrundeliegt: „Analysiert man nämlich irgendeinen der als Recht gedeuteten oder mit dem Recht in irgendeinem Zusammenhang stehenden Tatbestände, wie etwa einen Parlamentsbeschluß, einen Verwaltungsakt, ein richterliches Urteil, ein Rechtsgeschäft, ein Delikt, so kann man zwei Elemente unterscheiden: das eine ist ein in Zeit und Raum vor sich gehender, sinnlich wahrnehmbarer Akt, oder eine Reihe solcher Akte, ein äußerer Vorgang menschlichen Verhaltens; das andere seine rechtliche Bedeutung, das heißt die Bedeutung, die der Akt von Rechts wegen hat. In einem Saal kommen Menschen zusammen, halten Reden, die einen erheben ihre Hände, die anderen nicht; das ist der äußere Vorgang. Seine Bedeutung: daß ein Gesetz beschlossen, daß Recht erzeugt wird. Hier liegt die dem Juristen durchaus geläufige Unterscheidung zwischen dem Gesetzgebungsverfahren und seinem Produkt, dem Gesetz, vor. Ein anderes Beispiel: Ein Mann, mit einem Talar bekleidet, spricht von einem erfüllten Platz aus zu einem vor ihm stehenden Menschen bestimmte Worte. Dieser äußere Vorgang bedeutet rechtlich: daß ein richterliches Urteil gefällt wurde. Ein Kaufmann schreibt einem anderen einen Brief bestimmten Inhalts, der andere antwortet mit einem G ­ egen-Brief; das bedeutet: sie haben von Rechts wegen einen Vertrag geschlossen. Jemand bewirkt durch irgendeine Handlung den Tod eines anderen; das bedeutet rechtlich: Mord“ (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 2). 138Exemplarisch: „Der Satz ‚A und B waren sich bei Übergabe der Sache S einig, daß das 1 Eigentum an S1 auf B übergehen soll‘, formuliert keine Beschreibung, sondern eine Deutung eines empirisch feststellbaren Sachverhalts. Wiederum allgemein: das Recht stellt – als Zivilrecht – Deutungsschemata bereit, die es erlauben, sozial sinnhaftes Handeln als in bestimmter Weise rechtlich relevant zu qualifizieren“ (Ulfrid Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, Heidelberg: R. v. Decker, 1979, S. 60). 136Kelsen,

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211

rückwirkend zu konstruieren, sondern neue Normen für den weiteren Verlauf der Rechtspraxis unter Bezugnahme auf vergangene rohe Tatsachen zu formulieren, wie etwa bei der Zurechnung139 von strafrechtlicher Verantwortlichkeit: „Zurechnungsregeln überhaupt sind keine Verhaltensnormen, die ein Tun oder Unterlassen gebieten, verbieten oder erlauben. Zurechnungsregeln ermöglichen die retrospektive Klassifikation und Zuordnung eines Verhaltensereignisses als Handlung einer Person, die Bewertung dieser Handlung am Maßstab einer Verhaltensnorm und die Zurechnung der normwidrigen oder normgemäßen Handlung zum Verdienst oder zur Schuld einer Person“140. Das rein normative Verständnis der juristischen Entscheidungspraxis will berechtigterweise der Tatsache Rechnung tragen, dass die Rechtsanwendung immer auch vorwärtsgewandt ist. Das Ziel der Rechtsanwendung ist die Setzung eines Sollens, das die weiteren Handlungen der Prozessparteien und eventuell des Staates überhaupt anleitet, indem Anweisungen für die Vollstreckung von Rechtsfolgen (Schadenersatz, Rückgabe einer Sache, Bestrafung usw.) erteilt werden. Das Entscheidungsorgan soll nicht nur die abstrakte Rechtslage berücksichtigen, sondern im konkreten Fall auch weitere Spezifizierungen für die Rechtsvollstreckung liefern, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz entnehmen lassen. Der Entscheider übt ein verantwortungsvolles Amt mit praktischen Konsequenzen, das etwa im Strafrecht „hier und heute über die ‚Schuld‘ oder ‚Nichtschuld‘ eines ganz bestimmten Angeklagten zu entscheiden hat.“141 Dafür

139Philosophiegeschichtlich wird der Begriff der Zurechnung schon bei Pufendorf (als imputatio) verwendet, um den Unterschied von physischen Ursachen und Wirkungen einerseits und moralischen Folgen von Taten andererseits zu kennzeichnen (siehe zur Begriffsgeschichte Alexander Aichele, Zurechnung, in: Handbuch Rechtsphilosophie, hrsg. von E. Hilgendorf/J. C. Joerden, Stuttgart: J. B. Metzler, 2017, 401–409). Nach Rezeptionen bei Kant und Hegel erhielt der Begriff in H. L. A. Harts Rechtstheorie die Bezeichnung ascription (siehe dens., aaO.). In den meisten Fällen beschreibt die Zurechnung keinen Sachverhalt, keinen an sich bestehenden Kausal- oder Normzusammenhang, sondern sie ist ein Urteil, das zeitlich nach der in Bezug genommenen Tat gefällt wird und diese als bedingt durch eine Ursache (im Falle der Zurechnung eines Kausalzusammenhanges) oder als gesollt aufgrund einer Norm (im Falle der Zurechnung eines normativen Zusammenhanges) denkt, ohne den Anspruch auf die Wiedergabe eines realen Zusammenhanges zu erheben – daher der antirealistische oder zumindest agnostische, jedenfalls rein normative Charakter des Begriffs. 140Günther,

Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf der Grundlage des Verstehens, S. 333. 141Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“, S. 152. Freund zieht daraus allerdings die hier zu kritisierende Folge, dass die Ermittlung der historischen Wahrheit der vergangenen Tat samt faktischer und normativer Umstände, also die „materielle Wahrheit“, nicht das Ziel des Strafverfahrens sei (ders., S. 153).

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ist die Urteilsbegründung mehr als die bloße Ausweisung der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses;142 sie erfüllt auch die institutionelle Funktion der Willkürfreiheit und konstituiert somit die Legitimität des Rechtsprechungsaktes. In diesem Sinne ist „die Qualität des Urteils eine Funktion der Qualität der Begründung.“143 Die Entscheidung über den weiteren Verlauf der Praxis verlangt unter Umständen auch eine prudenzielle Folgenberücksichtigung, die über die bloße Erkenntnis der gegebenen Rechtslage hinausgeht. Kurz, Normativität im Sinne der vorwärtsgewandten Erzeugung eines Sollens ist ein wesentliches Merkmal juristischen Entscheidens. Das philosophische Fundament des rein normativen Verständnisses der Rechtspraxis ist die Autonomie von Rechtssubjekten – des Entscheiders wie des Normadressaten. Sie betont die Selbstgesetzgebungsfähigkeit des Subjektes in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Auch wenn im Rechtsverfahren ein expliziter Bezug auf vergangene Rechtsnormen und -sachverhalte stattfindet, handelt es sich dabei nicht um Aussagesätze, die Normen und Rechtssachverhalte als an sich seiende Entitäten als Referenzobjekte hätten, sondern um Regeln für einen angemessenen weiteren Verlauf der Rechtspraxis, also für die gesollten Handlungen von Subjekten ex nunc. Dieser Vorgang ähnelt dem der Heautonomie144 des Subjektes, das die Natur für die eigene Denktätigkeit nur spezifiziert, ohne sie dadurch wiederzugeben zu beanspruchen: Ebenso wie die Ordnung der Natur eigentlich den Ursprung in dem über die Natur urteilenden Subjekt habe und ihm deswegen nur die Möglichkeit der Selbstgesetzgebung für das Denken über die Natur übrig bleibe, so formuliere der Entscheider vorwärtsgewandt nur Regeln für sich und die Betroffenen, mögen einige dieser Regeln auch eine Aussageform haben und sogar im Präteritum formuliert sein. Wenn im Rahmen des rein normativen Verständnisses des Rechts von rechtlichen Eigenschaften von Sachverhalten geredet wird, dann nur als-ob. Dieses nach der „Denkform des Vorgegebenen“145 urteilende Subjekt, das sich an der Leitidee der Wahrheit orientiert, ohne die eigenen Urteile jedoch für wahr im Sinne von Korrespondenz zu halten, begründet Entscheidungen ohne die Annahme einer wirklich vorgegebenen Entität der Art Geltung, Norm oder Rechtstat-

142Siehe

dazu argumentationstheoretisch Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 9 f. Juristische Argumentationslehre, S. 7. 144Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 941, AA 05: 186. Siehe Erörterung oben, Abschn. 2.2.2. 145Ausführlich zur „Denkform des Vorgegebenen“ als „ontologischer Implikation juristischen Argumentierens“ siehe die Schrift Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation. 143Neumann,

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sache.146 Seine für notwendig gehaltene Idealisierung lautet: Die Rechtsgeltung bzw. den Rechtsfall an sich gab es eigentlich nicht; wir tun aber so, als ob es sie gegeben hätte. Der heautonome Entscheider kann die Entscheidung öffentlich und plausiblerweise zwar nur dadurch begründen, dass er sich auf eine objektive, ihm vorgegebene Normativität bezieht, die den Fall regelt, aber glaubt selber nicht, dass es sowas gibt. Ein so gekennzeichnetes heautonomes Modell juristischen Entscheidens will der Selbständigkeit von Rechtssubjekten, insbesondere von Entscheidern, gegenüber der Seinshaftigkeit des Naturrechts und des positiven Rechts gerecht werden, indem das Gesollte Verbindlichkeit erst im Zeitpunkt seiner Formulierung und Einsicht durch ein Subjekt erlangt.147 Alles andere sei eine „heteronome, der Rechtfertigung vorm Bewusstsein enthobene Ordnung.“148 Auch wenn eine Norm des positiven Rechts angewandt wird, wird sie auf einem angestrebten „nachmetaphysischen“ Begründungsniveau149 nicht schlichtweg aufgrund ihrer Positivität angewandt, sondern

146Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, S. 86; Neumann, Wahrheit im Recht, S. 40. Behauptung des fiktiven Charakters rechtlicher Geltung auch bei Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, S. 49. 147So beispielsweise das „moralische Selbstbewusstsein“ nach Hegels Analyse: „das moralische Selbstbewußtsein ist sich das Absolute, und Pflicht schlechthin nur das, was es als Pflicht weiß. Es weiß aber nur die reine Pflicht als Pflicht; was ihm nicht heilig ist, ist an sich nicht heilig, und was an sich nicht heilig ist, kann durch das heilige Wesen nicht geheiligt werden. Es ist dem moralischen Bewußtsein auch überhaupt damit nicht Ernst, etwas durch ein anderes Bewußtsein, als es selbst ist, heiligen zu lassen; denn es ist ihm schlechthin nur das heilig, was ihm durch sich selbst und in ihm heilig ist“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 460). 148Vgl. Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, S. 1, in Anschluss an Adorno: „Ontologie interessiert als ‚Bereitschaft, eine heteronome, der Rechtfertigung vorm Bewusstsein enthobene Ordnung zu sanktionieren ‚[Adorno, Negative Dialektik]‘. Zu beachten ist, dass ‚Ontologie‘ damit in einem spezifischen Sinne Verwendung findet: Der Begriff bezeichnet die Vorstellung eines Vorgegebenen, Nichtdispositiven, eines AnSich, das die Autonomie des Subjekts durch die Macht der Faktizität begrenzt. Dem Ontologieverdacht in diesem Sinne unterfällt auch und gerade der Rechtspositivismus, der als ‚Rechtsnegativismus‘ [Arthur Kaufmann], als Verdikt über Naturrecht, die Positivität des Gegebenen sanktioniert.“ 149Habermas, Faktizität und Geltung, S.  135. „Maximen, Handlungsstrategien und Handlugnsregeln legitimieren sich nicht schon dadurch, daß man ihre Überlieferungskontexte namhaft macht. Mit der Unterscheidung zwischen autonomen und heteronomen Handlungen wird das Normbewußtsein geradezu revolutioniert. Zugleich wächst der Rechtfertigungsbedarf, der unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens nur noch durch moralische Diskurse gedeckt werden kann. … Auf der Höhe des posttraditionalen Begründugnsniveaus bildet der Einzelne ein prinzipiengeleitetes Moralbewußtsein aus und orientiert sein Handeln an der Idee der Selbstbestimung“ (ders., S. 127).

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subjektiv und institutionell aktualisiert, ja letztlich aus nichtseinsgehorchender und nichtsubjekttranszendierender Selbstgesetzgebung befolgt. Das rein normative Verständnis der juristischen Entscheidungspraxis verbleibt aber eine kohärente These nur, solange keine Aussage im Präteritum über Normen und den Sachverhalt gemacht wird. Eine solche Entscheidungspraxis ist möglich. Praktische Entscheidungen können unter Umständen nach ausschließlich vorwärtsgewandten Kriterien getroffen werden, indem ein Zweck gesetzt und anhand der instrumentellen Rationalität des Zweckmittelverhältnisses konsequent verfolgt wird. Das politische und das ethische Denken operieren meistens vorwärtsgewandt und teleologisch in diesem Sinne. Auch die Billigkeit (aequitas) richtet sich nicht nach vorgegebenen Entscheidungskriterien, obwohl sie welche voraussetzt; sie strebt deren Milderung zum Zweck der Verwirklichung höherer Werte an. Schließlich gibt es im Prozessrecht die Möglichkeiten rechtskräftiger Entscheidungen aus anderen Gründen als aus Verhaltensnormen oder sonstigen Gesetzesinterpretationen des materiellen Rechts150 und ohne die Ermittlung der historischen Wahrheit des Sachverhaltes. Für all diese Begründungsarten ist der Bezug auf vergangene Verhaltensnormen und Sachverhalte nicht wesentlich legitimatorisch. Aber einem heautonomen Entscheider bleibt die Möglichkeit der Legitimation der Entscheidung auf Basis vergangener Normativität logisch ausgeschlossen. Sein Kodizil (Vorbehalt),151 Aussagesätze im Präteritum über normative Sachverhalte (wie etwa: Der Angeklagte handelte schuldig zum Zeitpunkt der rechtsrelevanten Umstände, die Ehe des Antragsstellers war ungültig) seien eigentlich nicht als Beschreibungen von vergangenen Rechtstatsachen gemeint, ist in jeder Hinsicht widersprüchlich und bringt ihn in die seit Langem ausführlich analysierte Verlegenheit des Skeptikers.152 Denn der Aussagesatz im Präteritum kollidiert entweder mit dem Satz, dass kein Bezug auf vergangene Sachverhalte genommen wird oder mit dem Satz, dass Normen und Rechtssachverhalte nicht an sich existierten: Der heautonome Jurist sagt in seiner Urteilsbegründung beispielsweise, „die Handlung des A verstieß gegen die gültige Norm des §211

150Im

Gegensatz zum Prozessrecht. Begriff des Kodizils siehe oben, Abschn. 2.1.3. 152Zu den vielen performativen Widersprüchen des Skeptizismus siehe Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 155–163. Der Skeptiker ist „ein Bewußtsein, das empirisch ist, sich nach dem richtet, was keine Realität für es hat, dem gehorcht, was ihm kein Wesen ist, das tut und zur Wirklichkeit bringt, was ihm keine Wahrheit hat. … Sein Tun und seine Worte widersprechen sich immer…“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 161 f.). 151Zum

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StGB“; in seiner rechtstheoretischen reservatio mentalis heißt es aber zugleich, „meine Konjunktiv- und Aussagesätze im Präteritum bezeichnen keine vergangenen Rechtstatsachen“. Aus dem zweiten Satz folgt die Falschheit des ersten und umgekehrt. Bedingung für die Kohärenz heautonomen Entscheidens wäre die vollständige Unterlassung, vergangene, rechtlich qualifizierte Sachverhalte überhaupt in Bezug zu nehmen. Der hoch kontraintuitiv erscheinende Satz heautonomen Entscheidens, das Recht sei letztlich und ausschließlich das Gesetz, das jedes Individuum sich selbst und jeder Rechtsentscheider den unter seiner Zuständigkeit Stehenden gebe,153 erhielte zusätzliche Gravierendheit, wenn jeder Richter seine reservatio mentalis bei der Urteilsverkündung als Betriebsgeheimnis zurückhielte und somit den „naiv“-realistisch denkenden Normadressaten, der an die Objektivität des positiven Rechts, an die Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten des in Frage stehenden Sachverhaltes und dementsprechend an die Wahrheitsfähigkeit der richterlichen Präteritumssätze über den Fall glaubt, um der sozialen Wirksamkeit von Entscheidungen willen systematisch täuschte, indem er Wahrheitsansprüche nur rhetorisch im Modus des Als-ob erhöbe. Macht das rechtsanwendende Organ rechtliche Aussagen über den vergangenen Sachverhalt, z. B. dass der Angeklagte schuldig handelte, dass der Beklagte hätte das Mietobjekt in der vereinbarten Frist zurückgeben sollen, oder dass die Antragsteller rechtlich gesehen volljährig waren und dass ihre Eheschließung deswegen gültig war, so kann die normative Vorwärtsreduktion richterlichen Urteilens nicht eingehalten werden, denn dann verfiele auch sie in

153So beispielsweise die „Antinomie der moralischen Weltanschauung“ nach Hegels Analyse, die sich daraus ergibt, dass das moralische Bewusstsein die Rechtsgesetze als eigene, interne Postulierung externer Geltung ansieht, mit anderen Worten: Das gesamte Recht sei die widerspruchsvolle interne Konstruktion des über das Recht räsonnierenden Bewusstseins als etwas ihm Äußerliches: „In der moralischen Weltanschauung sehen wir einesteils das Bewußtsein selbst seinen Gegenstand mit Bewußtsein erzeugen; wir sehen es denselben weder als ein Fremdes vorfinden noch auch ihn bewußtlos ihm werden, sondern es verfährt überall nach einem Grunde, aus welchem es das gegenständliche Wesen setzt; es weiß dasselbe also als sich selbst, denn es weiß sich als das tätige, das es erzeugt. Es scheint somit hier zu seiner Ruhe und Befriedigung zu kommen, denn diese kann es nur da finden, wo es über seinen Gegenstand nicht mehr hinauszugehen braucht, weil dieser nicht mehr über es hinausgeht. Auf der andern Seite aber setzt es selbst ihn vielmehr außer sich hinaus, als ein Jenseits seiner. Aber dies Anundfürsichseiende ist ebenso als ein solches gesetzt, das nicht frei vom Selbstbewußtsein, sondern zum Behuf des letzteren und durch dasselbe sei. Die moralische Weltanschauung ist daher in der Tat nichts anderes als die Ausbildung dieses zum Grunde liegenden Widerspruchs nach seinen verschiedenen Seiten“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 453).

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den chronologischen Grundwiderspruch des Konstruktivismus: Eine im Zeitpunkt τ2 durch Interpretation, Wertung, Anwendung, Konkretisierung oder was auch immer konstruierte positive oder überpositive Norm könnte ein im Zeitpunkt τ1 stattgefundenes Verhalten rückwirkend regeln oder überhaupt als solches konstruieren. Dann wäre es erst dann der Fall, dass eine Person die gebotene Hilfeleistung unterließ, wenn dies sich aus den Wertungen, Interpretationen, Abwägungen und Denkformen von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten oder sonstigen Rechtsanwendungsinstanzen ergäbe.154 Die Person würde im Zeitpunkt τ2 juristisch verfolgt, weil sie im Zeitpunkt τ1 Hilfeleistung unterließ und zugleich wäre es erst dann der Fall, dass sie wirklich Hilfeleistung unterließ, seitdem es Bewusstseine, Institutionen, richterliche Urteile usw. in diesem Bezug gibt.155 Ad concretum et absurdum: Erst nach einem Mordfall entstünde die Norm, nach der dieser Angeklagte dieses Opfer nicht hätte ermorden sollen; erst die Entscheidung verliehe dem Sachverhalt den Charakter eines Mordsachverhaltes.

3.4.3 Die reine Rechtsontologie Die richtige Lösung entspricht dem ältesten und einfachsten, ja „­ naiv“-realistischen sensus communis iuris: Im Zeitpunkt τ1 bestand eine Rechtsnorm, welche sie auch immer und aus welcher Rechtsquelle sie auch immer sei, die ein Verhalten im Zeitpunkt τ2 gebot, verbot oder erlaubte; ein Rechtssubjekt verhält sich im Zeitpunkt τ2 rechtskonform oder widerrechtlich; dieser juristische Sachverhalt ist wirklich geschehen und zwar unabhängig von dessen Kenntnisnahme und institutioneller Verfolgung; verhielt sich das Rechtssubjekt widerrechtlich oder besteht zumindest der Verdacht, kommt es unter Umständen im τ3 zu einer Anzeige, Klage o. Ä.; diese führen eventuell zu einem gerichtlichen Verfahren, in dem das prüfende Rechtsorgan

154Diese sind kontingente Faktoren in Bezug auf die Determination der Vergangenheit. Am Beispiel des Strafrechts: „Die strafrechtliche Zuschreibung von Verantwortung ist sozial kontingent, also entscheidungsabhängig, so daß Konflikte und Dissense über berechtigte und unberechtigte, gebotene und unterlassene Zuschreibungen möglich sind und faktisch stattfinden“ (Günther, Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf der Grundlage des Verstehens, S. 343). 155In konstruktivistischer Fassung heißt es dementsprechend: „Der Prozess von realen juristischen Entscheidungen und der Rechtsherstellung impliziert … eine stetige Modifikation des Rechtssinnsystems“ (Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 344).

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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die Umstände des Einzelfalles im Rahmen des möglich Beweisbaren zur Kenntnis nimmt (Zeitpunkt τ4) und später mit Rechtskraft verkündet (τ5). So werden die Umstände des Sachverhaltes einschließlich seiner juristischen Eigenschaften (Vorsatz, Schuld, Gültigkeit des Rechtsaktes usw.) institutionell erkannt und später mit Rechtskraft deklariert, nicht aber geschaffen, denn jede Normschöpfung entspräche einer normativen Rückwirkung vom Zeitpunkt τ5 auf die Zeitpunkte τ1 und τ2 und wäre deswegen eine fehlerhafte Deutung des wirklichen Geschehens. Ferner stellt die mit einem Rechtsakt verknüpfte Rechtsfolge, wie beispielsweise die Schadenersatzleistung bei Nichtrückgabe der Mietsache in der vereinbarten Frist, nicht nur ein Sollen, sondern unter Umständen auch eine kausale Folge dar: Es wäre nicht zu einem gerichtlichen Verfahren und letztlich zu einer juristischen Sanktion im Sinne der Schadenersatzzahlung genau so gekommen (conditio sine qua non), wenn die Tat (vertragswidrige Beibehaltung der Mietsache) nicht begangen worden oder kein Unrecht gewesen wäre.156 Die juristische Verknüpfung von Taten und Rechtsfolgen nach dem normativen Wenn-dannSchema (=„Zurechnung“157) schließt dementsprechend die empirische Kausalität nicht aus, sondern die Rechtsfolge ist zugleich auch eine kausale Folge der

156Der Ausdruck „genau so“ im Sinne der Kausalmodalität der conditio sine qua non oder „Bedingungskausalität“ bezeichnet den Umstand, dass etwas (nämlich das in Rede stehende consequens) nicht (1) zur selben Zeit, (2) im selben Raum, das heißt, nicht in derselben zeiträumlichen Position und (3) in der selben Weise stattgefunden hätte, wie es stattgefunden hat, wenn etwas Vorheriges, nämlich das in Rede stehende antecedens, nicht der Fall gewesen wäre. Das ist ein in mehreren Rechtsgebieten häufig verwendetes Kausalitätsschema, insbesondere im Straf- und Schuldrecht. Zur angloamerikanischen Verwendung unter dem Namen „but-for-test“ siehe Richard W. Wright: „The most widely used test of actual causation in tort adjudication is the but-for test, which states that an act (omission, condition, etc.) was a cause of an injury if and only if, but for the act, the injury would not have occurred. That is, the act must have been a necessary condition for the occurrence of the injury. The test reflects a deeply rooted belief that a condition cannot be a cause of some event unless it is, in some sense, necessary for the occurrence of the event. This view is shared by lawyers, philosophers, scientists, and the general public“ (Richard W. Wright, Causation in Tort Law, California Law Review 73, 6/1985, 1735–1828, S. 1775). Weiterführende Literatur und Diskussion der Bedeutung der c.s.q.n. für das strafprozessuale Beweisrecht bei Sousa Mendes, Causalidade complexa e prova penal, S. 204–210. 157„Die Zurechnung, die in dem Begriff der Zurechnungsfähigkeit zum Ausdruck kommt, ist die Verknüpfung eines bestimmten Verhaltens, nämlich des Unrechts, mit einer Unrechtsfolge“ (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 86).

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historischen Tat.158 Dies gilt selbstverständlich nur für stattgefundene Taten (und Unterlassungen), denn es besteht kein kausales Verhältnis zwischen nicht stattgefundenen Taten und eventuellen Sanktionen, die trotzdem eintreten, wie etwa die Verurteilung eines Unschuldigen. Nach dem Schema „wenn A, dann B“ gilt, dass das Eintreten von B nicht das Eintreten von A impliziert. Dementsprechend gilt für das normative Schema „wenn A ist, soll B sein“, dass das Eintreten der Rechtsfolge B nicht das Stattfinden der Tat A impliziert. Wenn aber die rechtliche Sanktion ohne vorausliegende Erfüllung eines Tatbestandes eintritt, so handelt es sich um die typische Konstellation eines Justizirrtums oder einer rein vorwärtsgewandten, etwa politischen Entscheidung, die sich nicht an vergangene normative Ereignisse bindet, ohne bereits deswegen ungerecht zu sein. Diese Möglichkeit ändert aber nichts am Kausalverhältnis zwischen (stattgefundenen) Taten und deren Rechtsfolgen. Die realistische Lösung gilt gleichermaßen für easy wie für hard cases, da vergangene Tatsachen, seien sie rechtlich oder außerrechtlich, nicht dadurch geändert oder konstruiert werden können, dass ihr Beweis oder Interpretation, sei es die Interpretation von Gesetzestexten oder sogar von Generalklauseln wie abstrakt formulierten Grundrechten, schwierig ist.159 So ist auch keine Dialektik, das heißt, keine gegenseitige Beeinflussung zwischen Sachverhalt und juristischer Interpretation möglich: Der Sachverhalt beeinflusst die auf ihn bezogene Rechts-

158Im Gegensatz zu Kelsens Trennung von Kausalitäts- und Zurechnungsprinzipien („ … Daher kann man sagen: die Unrechtsfolge wird dem Unrecht zugerechnet, sie wird aber nicht durch das Unrecht – als ihre Ursache – bewirkt“, Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 86). 159Daher zutreffend Jaap Hage: „On the assumption that the operation of legal rules is not fundamentally different in hard cases than in easy cases, a unified account of the operation of legal rules is asked for. This account should either adopt constructivism and explain why legal rules appear to operate automatically in easy cases, or adopt reconstructivism and explain why it only seems that they cannot operate automatically in hard cases“ (Hage, Construction or Reconstruction?, S. 142). Allerdings entscheidet sich Hage im Gegenteil zur hier vertretenen Auffassung für den Konstruktivismus, u. a. um die Verdinglichung („reification“) von normativen Sätzen zu vermeiden, die damit einhergeht, wenn Normativität als Faktum betrachtet wird (ders., S. 141). Ferner erstreckt sich die Alternative Konstruktivismus oder Realismus ebenso auf das Beweisrecht. Der doppelte Maßstab, der Konstruktivismus sei in Bezug auf einige Fälle richtig und andere falsch, würde zur Ansicht führen, im Falle eines eindeutigen Beweisergebisses handele es sich um Kognition, während es im Falle eines zweideutigen Ergebnisses der Sachverhalt rückwirkend hergestellt werde. Für eine so gedoppelte Position vgl. Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“, S. 151.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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entscheidung kausal und normativ, wohingegen die Entscheidung den Sachverhalt in keiner Weise beeinflussen kann. Paradoxe Formeln der Methodenlehre des 20. Jahrhunderts wie Rechtsanwendung als „Akt schöpferischer Erkenntnis“160 oder als „konstruktive Interpretation“161 haben ihren Ursprung in der mangelnden Unterscheidung von der Rechtstatsachenerkenntnis einerseits und der Generierung zusätzlicher Sollenssätze für den weiteren Verlauf der Rechtspraxis andererseits. Die juristische Entscheidung ist dann juridisch gerecht, wenn auch nicht bereits deswegen politisch oder moralisch gerecht, wenn der Entscheidungsinhalt bezüglich der Tat- und Rechtsfragen mit der historischen Wahrheit über die Rechtslage und über den Sachverhalt übereinstimmt und rechtliche Sanktionen erst aufgrund der historischen Begehung widerrechtlicher Akte durch den Rechtsunterworfenen statuiert.162 Selbstverständlich bleibt es dem rechtsanwendenden Organ unter Umständen und bei Beachtung anderer zum Zeitpunkt der Rechtsanwendung geltenden Normen möglich, die Rechtsfolge der damals geltenden

160Ausdruck von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 402. Larenz’ Position zur Vorgegebenheit des Sachverhaltes ist unkonkludent und doppeldeutig. Zum Einen ist die Beurteilung des Sachverhaltes ihmzufolge kein Zirkel, wo der Jurist „etwas hineinlegen würde, was in dem geschehenen Sachverhalt keine Bestätigung findet“, wobei eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vorausgesetzt wird; zum Anderen ist die Sachverhaltsprüfung ein hermeneutischer Zirkel, dessen Ausgang eine „Umformung“ des Sachverhaltes ist (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 281), wobei der juristischen Würdigung eine konstitutive Funktion zukommt. 161„Constructive interpretation“. Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 50 ff. Der Ausdruck ist paradoxal, weil der Terminus Erkenntnis auf einen vorhanden Sachverhalt verweist, während der Terminus schöpferisch eine Herstellung des Sachverhaltes andeutet. Beide Elemente sind auch sachlich in Dworkins Theorie zu finden, was auf einen von ihm ungelösten Widerspruch in seiner Rechtskonzeption hinweist. 162„… we can say that legal thinking (i. e. the law) brings what precision and predictability it can into the order of human interactions by a special technique: the treating of (usually datable) past acts (whether of enactment, adjudication, or any of the multitude of exercises of public and priva te ‘powers’) as giving, now, sufficient and exclusionary reason for acting in a way then ‘provided for’. In an important sense the ‘existence’ or ‘validity’ of a legal rule can be explained by saying that it simply is this relationship, this continuing relevance of the ‘content’ of that past juridical act as providing reason to decide and act in the present in the way then specified or provided for. The convenience of this attribution of authoritativeness to past acts is twofod. The past is beyond the reach of persons in the present; it thus provides (subject only to problems of evidence and interpretation) a stable point of reference unaffected by present and shifting interests and disputes. Again, the present will soon be the past; so the technique gives people a way of now determining the framework of their future“ (Finnis, Natural law and natural rights, S. 268 f.).

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Norm zu vollziehen oder nicht; es ist auch möglich, eine neue Rechtsnorm ohne jegliche Rücksicht auf die vergangene Normativität zu schaffen. Die zum Zeitpunkt der rechtsrelevanten Taten geltende positive Rechtslage bleibt aber von jeglicher ihr nachträglichen Normschöpfung vollkommen unverändert.163 Die hier dargestellte Lösung ist realistisch. Sie verwechselt nicht die Ontologie des Rechtssachverhaltes mit der Epistemologie, Methodologie, mit der Politik und den Wertungen des ihn zur Kenntnis Nehmenden und kann daher

163Entgegen Hans Kelsen, der behauptete: „so kann eine Rechtsnorm, die an die Bedingung eines bestimmten Verhaltens einen Zwangsakt als Sanktion knüpft, bestimmen, daß ein Mensch, der nicht nach, sondern schon vor der Setzung der Rechtsnorm ein bestimmtes Verhalten an den Tag gelegt hat, bestraft werden soll; wodurch das Verhalten als Delikt qualifiziert wird“ (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 13). Dass die Setzung eines an vergangene Akte anknüpfenden Sollens möglich ist, das zuungunsten der Rechtssicherheit eine neue Rechtsfolge für vergangene Akte statuiert, steht als Möglichkeit außer Zweifel. Eine nachträgliche Konstituierung eines Aktes als Delikts oder, allgemeiner, die Änderung der vergangenen Rechtslage durch nachträglichen (gesetzgeberischen, richterlichen) Willen birgt jedoch eine logotemporalistische Unmöglichkeit. Hans Kelsen versucht zwar, trotz des Verständnisses der Normentstehung als Willensaktes einer gewissen Stabilität der Rechtsordnung dadurch gerecht zu werden, dass die Normgeltung nicht durch ständige Änderung des die Norm ursprünglich setzenden Willens geändert wird, sondern eine selbständige „Objektivität“ aufweist (ders., S. 7, 10), die wissenschaftlich kohärent und mit Wahrheitsanspruch anhand von Rechtssätzen beschrieben werden kann (ders., S. 210). Die Stabilität und kohärente Einheit der Rechtsordnung in der Reinen Rechtslehre ist allerdings aufgrund der diversen Eingriffsmöglichkeiten zukünftigen Willens auf vergangene Geltung nur scheinbar. Wenn Sachverhalte nachträglich als Delikte qualifiziert werden können, können die Rechtslage und die im τ1 bestehenden Rechtssachverhalte in einem späteren Zeitpunkt τ2 durch einen rückwirkenden Willensakt geändert werden. Das heißt, es könnte sein, dass ein Akt im Zeitpunkt τ1 kein Delikt ist und im τ2 nach einer Willensänderung des Gesetzgebers oder eines entscheidenden Rechtsorgans anfängt, im τ1 ein Delikt gewesen zu sein – voluntas posterior derogat priori. So könnte derselbe Akt letztlich weder ein Delikt noch kein Delikt bzw. zugleich ein Delikt und kein Delikt sein, denn die Geltung einer heutigen Norm hängt vom zukünftigen Willen des Gesetzgebers oder Richters ab. All diese Eingriffsmöglichkeiten zukünftigen Willens auf die vergangene Geltung zeigen, dass die Normgeltung im Rahmen eines so gefassten voluntaristischen Rechtsverständnisses schon in ihrem Zeitpunkt doch keinerlei objektiv sein kann, denn sonst wäre sie beharrlich gegenüber nachträglichen Willensänderungen. Der chronologische Widerspruch der Reinen Rechtslehre entsteht aufgrund ihres spezifischen Konstruktivismus voluntaristischer Art. Kelsens Normentheorie hebt das Prinzip des Nichtwiderspruchs implizit auf, indem Wille über Logik gesetzt wird. Ohne die Logik des Nichtwiderspruchs gehen auch die interne Kohärenz der Theorie und die „logische Einheit der Rechtsordnung“ (ders., S. 209–212) verloren. Kelsens Reine Rechtslehre ist deswegen letztlich eine Theorie nicht des wirklichen, sondern des gewollten positiven Rechts.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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als reine Rechtsontologie bezeichnet werden. Aufgrund ihrer Simplizität und resultativen Übereinstimmung mit dem unreflektierten, aber gesunden Menschenverstand werden realistische Ansichten von Gegnern und manchmal selbst unter ihren Vertretern als „naiver Realismus“ bezeichnet.164 Dies geschieht zunächst deswegen, weil dieser Realismus im Gegensatz zur im 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts herrschenden empiristischen Weltanschauung kein monistischer Materialismus ist, das heißt, nicht nur Materie wird unabhängig von menschlicher Konstruktion für existent und in Existenz gehalten, sondern auch die sie verknüpfende Kraft, die sie bewegende Kausalität, die sie abgrenzenden Individuationsprinzipien und die die Menschen und Gesellschaft regelnden Teleologie und Normativität. Nur die realistische Lösung, die den juristischen Charakter des Sachverhaltes an sich und eventuell sogar vor jeglicher Kenntnisnahme durch Rechtsteilnehmer anerkennt, ist unter zeitlichen Bedingungen widerspruchsfrei.

164Zur Kennzeichnung des Realismus als einer naiven Einstellung siehe exemplarisch Csaba Varga, The Paradigms of Legal Thinking, Budapest: Szent István Társulat, 2012, S. 198. In der Philosophie im Allgemeinen siehe Susan Haack, Die Welt des Unschuldigen Realismus: Das Eine und das Viele, Das Reale und das Imaginäre, Das Natürliche und das Soziale, in: Der Neue Realismus, hrsg. von M. Gabriel, Berlin: Suhrkamp, 2014, 76–110. Der „Glaube“ an die Existenz „normativer Entitäten“ wird oft auch in der Rechtstheorie als „naiv“ und „geheimnisvoll“ bezeichnet (siehe Pavlakos, Rechtsontologie und praktische Vernunft, S. 22, 81, 100). Die Korrespondenztheorie der Wahrheit im Recht wird oft als eine erkenntnistheoretisch naive Einstellung angesehen. Nach Ulfrid Neumann beispielsweise könnte die Korrespondenztheorie der Wahrheit höchstens auf Interpretationen von Rechtstexten, Rechtsprechung der Gerichte und Meinungen im Schrifttum angewandt werden, nicht aber auf die „Rechtslage“ als solche, also auf eine ideelle, dem Deutungsakt von Rechtsorganen ihmzufolge nicht vorgegebene Entität (Neumann, Wahrheit im Recht, S. 19 f.). Zu Begriffsrealismus und Wahrheit im Strafverfahren als einer naiven Einstellung, die der konstruktivistischen Weltanschauung des Autors zufolge auf „erkenntnistheoretischer Unbildung“ basiere, siehe Walter Kargl, Wahrheit, Überzeugung und Wissen im Strafverfahren. Über die Voraussetzungen der Erkenntnis im Schatten des Zweifels, ARSP 105, 2/2019, 171–204, S. 173. Skeptisch über die Möglichkeit von Wahrheit im Recht auch Ralf Poscher, Wahrheit und Recht. Die Wahrheitsfragen des Rechts im Lichte deflationärer Wahrheitstheorie, ARSP 89, 2/2003, 200–215. Ausführliche Studie aus skeptischer wissenschaftstheoretischer Perspektive bei Kyriakos Kotsoglou, Der normative Zugang zur Welt. Zur Theorie rechtsdogmatischer Strukturen, in: Rechtssicherheit durch Rechtswissenschaft, hrsg. von J. C. Schuhr, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, 73–122. Skeptisch gegenüber Wahrheit im Recht, aber widersprüchlicherweise doch richtige Entscheidungskriterien und die Möglichkeit von Fehlurteilen anerkennend Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, S. 63–67, 177.

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Gewöhnlich sehen Rechtstheoretiker die rechtsschöpfende Leistung des Rechtsanwenders als die eigentlich „realistische“ Beschreibung der juristischen Praxis,165 während die rechtskognitive Leistung als „idealistisch“ im spezifischen negativ konnotierten Sinne von „unrealistisch“ angesehen wird, wobei Normen und abstrakte Entitäten und Zusammenhänge voreingenommen als Gegensätze zur Wirklichkeit auftreten. Wie das oben Gesagte jedoch zeigt, verhält es sich genau umgekehrt: Die realistische Beschreibung rechtsanwendenden Handelns besagt, dass vergangene Normen im Zuge der Rechtsanwendung zur Kenntnis genommen und dementsprechend wiedergegeben werden, während die Verständnisse von Rechtsanwendung, die die Entscheidung und Interpretation nur als Normschöpfung ansehen, einen Antirealismus darstellen.166 Auch die rechtlichen Normen sind in der Zeit und daher dem logotemporalistischen Naturprinzip der Unmöglichkeit rückwirkender Begriffs- und Tatsachenkonstruktion unterworfen.167 Da der Realismus notwendigerweise Normativität einschließt, sind Positionen, die Normen als (1) nicht ontologisch vorhanden, (2) ontologisch abhängig von Materie, (3) ontologisch abhängig (also als Epiphänomen) von Bewusstsein, Erkenntnis, Wertung, Interpretation, Anwendung oder Befolgung machen, Antirealismen. So sind beispielsweise rechtssoziologische Geltungsbegriffe stets antirealistisch, wenn sie die Normativität von der Faktizität ihrer sozialen Anerkennung oder Befolgung abhängig machen. Ebenso antirealistisch

165Siehe beispielsweise Lee, der die Übernahme des Konstruktivismus in der Rechtstheorie als eine „neorealistische“ Einstellung bezeichnet (Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S.  15), weil dadurch die „juristische Bedeutungszuschreibung“ verdeutlicht wird (aaO.). Es handelt sich also um einen „antifoundationalen“ Realismus (ders., S. 419). 166Siehe dazu Otto Pfersmann: „La TRI [théorie réaliste de l’interprétation] se dit une théorie « réaliste ». Une théorie réaliste affirme l’existence de certaines catégories d’objets, l’indépendance de ces objets et des éventuelles relations entre eux par rapport à toute connaissance humaine et éventuellement que certains de ces objets peuvent être connus, au moins jusqu’à un certain degré à partir de méthodes appropriées. La TRI est une théorie explicite anti-réaliste concernant le domaine d’objet « droit », et une théorie réaliste implicite et inexpliquée concernant l’objet « interprétation » et le domaine dont elle ferait partie, la « réalité empirique »“ (Pfersmann, Contre le néo-réalisme juridique, S. 792) und Michael S. Moore, The Interpretive Turn in Modern Theory: A Turn for The Worse?, Stanford Law Review 41, 4/1989, 871–957, S. 878 ff. 167Auch MacCormicks und Weinbergers Theorie der institutionellen Rechtstatsachen erkennt die selbständige Normexistenz in der Zeit an, was einen Vorzug im Vergleich zu John Searles Theorie darstellt. Vgl. MacCormick/Weinberger, An Institutional Theory of Law, S. 38.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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sind normativistische Ansätze, wenn sie sagen, dass Normen in der empirischen Dimension der Zeit nicht vorkämen. Realistisch gilt dagegen zusammenfassend: (1) Der rechtliche Charakter eines Sachverhaltes ist eine seiner Eigenschaften, (2) begleitet ihn somit zeitlich und ontologisch, (3) hat keine bloß phänomenale Existenz und (4) kann nicht nachträglich konstruiert, normiert oder geändert, sondern höchstens erkannt werden. Jegliche vergangene Normativität, sei sie in der nahen oder fern liegenden Vergangenheit, sei sie positiv- oder überpositivrechtlich, ist ein unabänderliches Faktum.

3.4.4 Zur Wirklichkeit von Gründen. Unterscheidung von Ursache, Grund, Motiv und Argument Betrachtet sei die Tatsache, dass A einen Diebstahl nach §242 StGB beging. Diese Tatsache hat, wie jede Tatsache, raumzeitliche Ursachen. Eine der Ursachen, warum die Tatsache zustandekam, könnte das antecedens sein, dass A hochverschuldet war und seine Schulden schnellstens begleichen wollte. Sein Entschluss, seine Schulden mit dem anhand des Diebstahls erbeuteten Geld zu begleichen, also seine bewusste Verarbeitung eines Handlungsgrundes (=Motiv168), gehört zu den antecedentes, ohne die der Diebstahl nicht stattgefunden hätte.

168Das

Wort Motiv ist eine spätlateinische Übersetzung des altgriechischen κινητικός und kann sowohl den Beweggrund des Entschlusses einer Handlung als auch bewegende Potenzen überhaupt bezeichnen (vgl. C. F. Graumann, Motiv, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, 1955, S. 214). Das Wort umfasst (1) bewusst berücksichtigte Gründe, (2) das Handeln selbst, ebenso wie (3) soziale, psychische und sonstige Umstände, die kausal zu einer Handlung führen, aber von dem Handelnden nicht unbedingt bekannt sind. Zutreffend stellt Rottleuthner fest, „es wäre dann eine subjektivistische Illusion, daß als Handlungsmotiv nur das gelten könne, was dem Handelnden selbst als ‚orientierend‘ oder ‚anleitend‘ bewußt ist. So bewegt man sich nur im Äther subjektiv vermeinter Darstellungs- und Rechtfertigungsmuster und betrachtet Motive nicht mehr als Erklärungskonstrukte, die nicht auf das Selbstverständnis des Handelnden beschränkt sind“ (Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 171). Rechtstheoretisch betrachtet wird der Terminus jedoch tendenziell auf den ersten, engeren Sinn eingeschränkt, nämlich auf tatsächlich berücksichtigte Gründe für eine Entscheidung. Für die Terminusverwendung in diesem Sinne siehe die Unterscheidung von Argument und Motiv bei Ulfrid

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Die antecedentes müssen aber nicht unbedingt in Motiven bestehen, sondern können jegliche vorherige Tatsache sein, die im Modus der conditio sine qua non zum consequens beiträgt, wie beispielsweise die Tatsache, dass der Täter Mitarbeiter des Unternehmens ist, in dem sich der Diebstahl ereignete, und Zugang zum Tresor hatte, oder sogar dem Täter unbewusste oder von ihm nicht beeinflussbaren Ursachen, wie z. B. dass er an dem Tag eigentlich keinen Zugang zum Tresor haben sollte, aber seine Karte aufgrund eines Programmierfehlers eines Kollegen nicht entsprechend gesperrt wurde, was den Diebstahl letztendlich erst ermöglichte. Die Ursachen reichen bis zu fernen physischen, biotischen und sozialen Bedingungen, ohne die der Tatbestand nicht genau so verwirklicht worden wäre, wie er verwirklicht worden ist. Die Ursachen, die zur Rechtstatsache führten, sind jedoch nicht mit dem Grund der Tatsache gleichzusetzen. Denn es gibt nicht nur Ursachen (einschließlich Motive), warum es zum Diebstahl kam, sondern auch einen Grund, warum es sich um einen Diebstahl und nicht um etwas anderes, etwa

Neumann, Wahrheit statt Autorität. Möglichkeit und Grenzen einer Legitimation durch Begründung im Recht, in: U. Neumann, Recht als Struktur und Argumentation, Beiträge zur Theorie des Rechts und zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, Baden-Baden: Nomos, 2008, 72–92, S. 87 und Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, 233– 260, S. 236. Aus rechtssoziologischer Sicht Rüdiger Lautmann, Justiz. Die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 205 ff. Die angelsächsische analytische Rechtstheorie unterscheidet ebenso „motives“ von „reasons“: „there being good reason for a man’s doing so-and-so is logically independent of his wanting to do it or wanting to achieve anything to be attained by doing it“ (G. E. Grice, Motive and Reason, in: Practical Reasoning, hrsg. von J. Raz, Oxford: Oxford UP, 1978, 168–177, S. 168). Ferner, dass Motive Ursachen von Handlungen und folglich von Ereignissen sein können, schließt nicht aus, dass sie auch während der Handlung bestehen, das heißt, mit ihr parallel verlaufen können: „Das Motiv ist während der gesamten Handlung nie vergangen, nie vorüber; es ist stets als Motiv in ihr gegenwärtig“ (Peter Rohs, Ist jeder Fall von echter Teleologie ein Fall von echter Kausalität?, Zeitschrift für philosophische Forschung 38, 1/1984, 39–54, S. 42). Dies gilt unabhängig von Rohs‘ Argument, nach dem Motive Handlungen nicht vorangehen (!) und daher kein antecedens einer Handlung sein könnten (aaO., S. 41 ff.). Dieses Argument scheitert u. a. aufgrund eines zu engen Verständnisses von Kausalität als determinierendem „Gesetz“ bzw. als physischem Mechanismus (nach dem Schema: immer wenn A, dann B) – siehe S. 44 ff. und 52. Dass der Entschluss aus Beweggründen eine der Ursachen der darauffolgenden Handlung ist, heißt noch nicht, dass die Handlung notwendigerweise immer stattfinden muss, wenn ein Entschluss da ist, sondern nur, dass eine aus Motiven ausgeführte Handlung nicht oder nicht genauso stattfindet, wenn der Handelnde sich aus Motiven nicht vorher entschließt, genau diese Handlung vorzunehmen, was den Kausalitätsmodus der conditio sine qua non im Gegensatz zum physischen Mechanismus kennzeichnet.

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einen anderen oder keinen Straftatbestand, handelt.169 Dementsprechend können Rechtstatsachen nicht nur erklärt, sondern auch als solche gerechtfertigt werden, wobei noch nicht ihre Gerechtigkeit und Moralität mitgemeint sind, sondern allein das Bestehen des Sachverhaltes als solchen. Das Verhältnis von Ursache und Grund von Rechtssachverhalten gleicht dem Verhältnis von Ursache und Grund von Natursachverhalten. Die Tatsache, „es regnet in London“, könnte wohl die Ursache haben, dass die Luftfeuchtigkeit in den vorherigen Stunden anstieg. Der Grund aber, warum es der Fall ist, dass es in London regnet und nicht etwas anderes der Fall ist, liegt etwa darin, dass flüssiges oder festes Wasser (einschließlich seiner Verunreinigungen, nicht aber etwa ein Meteorit) ausgerechnet in der Region von Koordinaten 51º30’ N, 0º7’ W (und nicht anderswo) aus Wolken (oder Nebel, Dunst usw., nicht aber aus jemandes Fenster) niederschlägt (und nicht etwa nach oben gespritzt wird, denn dies wäre kein Regen). Die eventuelle Selbstverständlichkeit eines Grundes, die in der Geschichte der Philosophie häufig genug als unproduktive Plattitüde angeführt wurde,170 ist kein Argument gegen sein Bestehen oder gegen seine Unterscheidbarkeit von der Ursache, sondern vielmehr eine Bestätigung dieser Möglichkeit. Die geordnete Verknüpfung zwischen den genannten Begriffen es, fällt, Wasser, aus, der, Wolke, in und London bedeutet „es regnet in London“, ohne dass jene aufgelisteten Begriffe in diesem Satz wiederholt würden. Beides verweist auf dasselbe Geschehen in der Wirklichkeit, ohne jedoch begrifflich identisch zu sein. Deswegen ist der eine Satz eine Erläuterung des anderen oder,

169„Dass nichts ohne zureichenden Grund existiert, bedeutet demnach nicht, dass es eine zeitlich geordnete kausale Abfolge von Ursachen gibt, an deren vorläufigem Ende sich jeweils ein gerade vorfindlicher Gegenstand befindet. Nicht alle Gründe sind Ursachen. Damit überhaupt etwas Verursachtes existieren kann, müssen Bedingungen erfüllt sein, die keine Ursachen sind. Wenn wir eine Handlung etwa als einen Diebstahl einstufen, liegt das nicht ausschließlich darin, dass sie bestimmte Ursachen hat. Damit etwas ein Diebstahl sein kann, muss es unter eine Reihe von rechtlich kodifizierten Begriffen fallen, die es zu einem Diebstahl machen“ (Gabriel, Sinn und Existenz, S. 194). 170Zur Einschätzung des Stellenwertes konzeptueller Fragestellungen im Gegensatz zu erklärenden Untersuchungen bereits Leibniz: „Je demeure d’accord que la consideration de ces formes ne sert de rien dans le detail de la physique, et ne doit point estre employée à explication des phenomenes em particuliers. Et c’est em quoy nos scholastiques ont manqué, et les Medecins du temps passé à leur exemple, croyant de rendre raison des proprietés des corps, em faisant mention des formes et des qualités, sans se mettre em peine d’examiner la maniere de l’operation, comme si on se vouloit contenter de dire qu’une horloge a la qualité horodictique provenante de as forme, sans considerer em quoy tout cela consiste“ (Leibniz, Discours de Métaphysique, S. 38 f., §6).

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in einem breiten Sinne, eine Explikation, ohne jedoch das Wissen um zusätzliche Tatsachen zu erweitern, da es sich um dieselbe Tatsache handelt oder, unmissverständlich formuliert: Die beiden geordneten Begriffskombinationen verweisen auf verschiedene Komponenten derselben Sachverhaltseinheit. Die Erklärung eines Sachverhaltes anhand der Nennung einer weiteren, zu ihm gehörenden Komponente ist eine Teilbegründung des Vorliegens dieses Sachverhaltes (statt vielmehr eines anderen). Die Begründung erweitert somit das Wissen nicht um zusätzliche Sachverhalte, nicht um die raumzeitlichen Ursachen, die die antecedentes ausmachen und auch nicht um Wirkungen oder consequentes dieses Sachverhaltes, die zeitlich nach ihm eintreten, sondern nur und genau darum, warum es sich um diesen Sachverhalt handelt und nicht um einen anderen. Auch diese Negation dessen, was der Sachverhalt nicht ist, gehört zu seiner Bestimmung (i. e. zu seiner begrifflichen Abgrenzung) und heißt deswegen in philosophischer Terminologie bestimmte Negation.171 Dass die bestimmte Negation auch eine Bestimmung des Sachverhaltes ist, folgt aus dem Bestimmungsbegriff bzw. Begriffsbegriff, der immer eine Abgrenzung ist. Die Abgrenzung grenzt Inneres von Äußerem ab und ist sie selbst weder innerhalb noch außerhalb des Sachverhaltes. Sie ist ein Individuationsprinzip. Die bestimmte Negation ist nichts anderes als die Nennung von Sachen und Sachverhalten, die außerhalb des in Rede stehenden Sachverhaltes sind. Sie sind also die negativen Bestimmungen des Sachverhaltes. Alle affirmativen Bestimmungen dagegen sind aufgrund des Verweises auf genau denselben Sachverhalt immer tautologisch und aufgrund ihrer inhaltlichen Unterscheidbarkeit voneinander zugleich doch wissenserweiternd. Möchte man die Nennung des Grundes, also die Begründung, Erklärung nennen, wie der englische Sprachgebrauch es mehrdeutig nahelegt,172 so handelt es sich bei der Begründung um eine nichtraumzeitliche Erklärung, also um die Nennung einer abstrakten causa

171Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 73 f.; Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, S. 48–50. 172Siehe die Mehrdeutigkeit der Wörter cause und reason, ferner auch explanation, adjudication und justification.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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(Grund)173 im Gegensatz zur raumzeitlichen causa (Ursache). So ist causa ein Oberbegriff für Ursache und Grund. Sie ist diesem so nahe wie jener und daher nicht Synonym für Ursache. Die Begründung ist zudem abstrakt, weil sie aus begrifflichen Verbindungen unabhängig von deren Instanziierungen besteht: Die gleichsetzende Verknüpfung zwischen „es regnet in London“ und „es fällt Wasser aus der Wolke in der Region von Koordinaten 51º30’ N, 0º7’ W“ besteht jenseits des Zeitraumes, in dem sie der Fall ist, in dem sie instanziiert wird; die Verknüpfung (nicht die Sachverhaltsbehauptung) ist dementsprechend auch dann wahr, das heißt, das eine Glied korrespondiert mit dem anderen auch dann, wenn es nicht regnet. In derselben Weise besteht der Grund des Diebstahlsachverhaltes darin, dass A einem anderen eine bewegliche Sache mit der Absicht wegnimmt, sie sich rechtswidrig zuzueignen (§242 StGB). Denn Diebstahl zu begehen ist es; die Entnahme der Wertgegenstände aus dem Tresor unter den besonderen Umständen des Sachverhaltes ist es. Wer das sagt und eine juristische Entscheidung dementsprechend begründet, verlautbart eine wissenserweiternde und nicht zuletzt normativ, praktisch und institutionell äußerst relevante Tautologie, indem zwei begriffsunterschiedliche Sätze sich auf genau denselben Sachverhalt beziehen. Der anhand des einen Satzes gefasste Sachverhalt wird durch den anderen Satz im Rahmen eines nichtraumzeitlichen Kausalzusammenhanges erklärt und eben dies ist die Begründung. Aber auch die raumzeitlichen Ursachen tragen zu dem, was eine Tatsache (oder Sache) ist, bei. Auch sie tragen zur begrifflichen Bestimmung der Tatsache bei und folglich zu ihrer Begründung. Denn Sachen und Tatsachen haben nicht nur wesentliche, sondern auch akzidentelle Eigenschaften. Wenn die antecedentes kausal zu einer Eigenschaft führen, führen sie auch zu einer partiellen

173Der Terminus causa im spezifischen Sinne von Grund oder angemessener Rechtfertigung durchlief eine lange Geschichte in der Rechtswissenschaft. Es ist als Grund eines Rechtsgeschäfts in der Zivilistik explizit vorhanden. Im Schuldrecht nach Systematisierungen von Glossatoren war causa mit dem Zweck eines Rechtsgeschäftes verbunden. Der Terminus bezeichnet nach kanonischer Vertragslehre das über die Willenseinigung hinausgehende erforderliche Merkmal der klagbaren römischen Vertragstypen und die dokumentierenden Gründe der Ernsthaftigkeit des Vertrages (vgl. Till Bremkamp, Causa. Der Zweck als Grundpfeiler des Privatrechts, Berlin: Duncker & Humblot, 2008, S. 18, 41). In der neuzeitlichen Zivilistik erscheint causa als Wirksamkeitsbedingung von Vereinbarungen (ders., S. 18 f.) und als iusta causa der Eigentumsübertragung (iusta causa traditionis – ders., S. 48). Seit dem 20. Jahrhundert wird die causa eines Rechtsgeschäftes breiter verstanden, wie etwa in der Rechtsdogmatik in Anschluss an den §812 BGB: „Als Rechtsgrund genügt jeder Rechtsakt, der zur Begründung einer Verbindlichkeit geeignet ist“ (Palandt, Otto/Bassenge, Peter (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch, 74. Aufl., München: Beck, 2015, Rn. 21).

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3  Ontologie des positiven Rechts

Bestimmung der Sache oder Tatsache. Zum Beispiel: Jeder Regen in London besteht nicht nur aus den wesentlichen Eigenschaften eines Regens, sondern ist auch durchaus konkret: Es handelt sich stets um einen einzelnen Regen, an einem bestimmten Tag, mit bestimmter Temperatur oder Heftigkeit. Heftigkeit ist aber dem Regensbegriff akzidentell: Regen können heftig oder nicht heftig sein; sie können mehr oder weniger heftig sein. Dass dieser Regen heftig ist, ist daher eine Bestimmung dieser Tatsache, die sich aus den raumzeitlichen Ursachen ergibt. Die gemeinsame Bestimmungsleistung von Ursache und Grund für eine Tatsache rechtfertigt das Verständnis dieser zwei Kategorien als Arten derselben Gattung, nämlich als Arten von causa. Gnoseologisch gewendet: Begründung (Nennung des Grundes) und Erklärung (Nennung der Ursache) können als Arten der Gattung Explikation verstanden werden. In derselben Weise haben auch Rechtstatsachen stets eine Konkretheit, die sich nicht nur aus ihren Gründen, also aus allgemeinen Rechtsnormen ergeben, sondern auch aus ihren raumzeitlichen Ursachen: Eine bestimmte Diebstahlstatsache hat nicht nur die im Recht festgelegten Eigenschaften (in dem Fall die Tatbestandsmerkmale des §242), sondern auch diverse andere, die sich aus den antecedentes ergeben, die zu dieser bestimmten Tatsache führten. Es handelt sich stets um ein konkretes Opfer, einen konkreten Wertgegenstand und einen konkreten Täter, der aus ganz spezifischen Motiven und unter besonderen Umständen handelt. Der Rechtssachverhalt wird durch diese Elemente nicht nur verursacht, sondern auch bestimmt. Die Ursachen sind jedoch niemals hinreichend für die Bestimmung einer Tatsache, da jedes vergangene Ereignis (antecedens) mehrere Wirkungen hat (consequentes). Der Anstieg der Luftfeuchtigkeit als antecedens kann diverse consequentes haben, wie etwa den Anstieg der Kohlendioxidemissionen, etwa weil mehr Menschen schon aufgrund der Möglichkeit des Regens lieber das persönliche Kraftfahrzeug anstelle des öffentlichen Verkehrs benutzen. Nun zählt das consequens „erhöhte Kohlendioxidemission durch erhöhten Kraftfahrzeuggebrauch“ aufgrund einer begrifflichen Selbstverständlichkeit nicht als Regen. Werden mehrere consequentes desselben antecedens überhaupt unterschieden, so wird vorausgesetzt, dass das antecedens nicht die Gesamtheit der causas eines consequens ausmachen, das heißt, dass ein consequens mehr als Ursachen braucht, um eine Bestimmung zu haben. Dafür ist der Grund notwendig, der erst die Unterscheidung eines consequens von anderen consequentes leisten kann. Regen bestimmt sich im Wesentlichen nicht dadurch, dass es als Wirkung des Anstiegs der Luftfeuchtigkeit eintritt, da (1) ein Regen stattfinden kann, ohne dass die Luftfeuchtigkeit ansteigt und da (2) auch der erhöhte Gebrauch von Kraftfahrzeugen eine Wirkung genau dieses antecedens sein kann und nicht als Regen zählt. Die Gleichsetzung von Ursache und Grund, also der Versuch, etwas

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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dadurch hinreichend zu bestimmen, dass man dessen raumzeitliche Entstehungsursachen nennt, scheitert also an der notwendigen Voraussetzung eines zusätzlichen Kriteriums für die Unterscheidung dieses definiendum unter den vielen Wirkungen derselben Ursache bzw. unter den vielen consequentes desselben antecedens. Gnoseologisch gewendet heißt es, dass man etwas nicht dadurch definieren kann, dass man es durch Ursachen (auch häufige oder notwendige Ursachen) erklärt, also durch eine „Erklärungsdefinition“. Wenn Grund nicht Ursache gleicht, ist Begründung auch nicht mit Erklärung gleichzusetzen. Ebenso ist das antecedens im τ1, nämlich die Tatsache, dass der A hochverschuldet ist, zugleich ein antecedens für mehrere consequentes, unter anderem etwa für die Tatsache, dass seine Ehefrau ihn im τ2 verlässt und dass er im τ2 Diebstahl begeht. Die begrifflichen Beziehungen besagen nochmals die Selbstverständlichkeit, dass ein Eherücktritt nicht als ein von A begangener Diebstahl zählt. Deswegen wird der Rechtssachverhalt nicht dadurch bestimmt (gnoseologisch gewendet: Der Rechtssachverhalt wird nicht dadurch als solcher begründet), dass er als Ursache des antecedens des τ1 eintritt, sondern durch die normative Bestimmung des positiven Rechts, die die Bedingungen für das Vorliegen eines Diebstahls statuieren. Tatsachen haben aber nicht nur Ursachen und Gründe, die unabhängig von jemandes oder aller Menschen Wissen bestehen, sondern sie können zusätzlich eventuell auch gewusst werden. Die logischen und ontologischen Beziehungen zwischen Ursache, Grund und Tatsache (zusammen mit den gnoseologischen Beziehungen zwischen den ihnen parallelen Kategorien Erklärung, Begründung und Proposition) eröffnen eine komplexe Problematik. Zunächst bezüglich der natürlichen Tatsachen heißen die Fragestellungen am Leitfaden des gegebenen Beispiels folgendermaßen: (1) Warum regnet es in London? Weil die Luftfeuchtigkeit anstieg (Ursache). (2) Warum regnet es in London? Weil Wasser in der Region von Koordinaten 51º30’ N, 0º7’ W aus einer Wolke fällt (Grund). (3) Woher weißt du das? Es steht im Wetterbericht (Argument, Indiz, Beweis). Die Entsprechungen mit Rechtstatsachen sind direkt: (1) Warum beging A Diebstahl? Weil er hochverschuldet war (Ursache, Motiv). (2) Warum handelt es sich um einen Diebstahl? Weil der Täter einem anderen eine bewegliche Sache mit der Absicht wegnahm, sie sich rechtswidrig zuzueignen (Rechtsgrund). (3) Woher weißt du das? Eine Kamera registrierte den Vorgang (Argument, Indiz, Beweis).

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3  Ontologie des positiven Rechts

In tabellarischer Darstellung: Modalitäten von causa

Tatsache Natürliche Tatsache

Rechtstatsache

es regnet in London

A begeht Diebstahl i. Zeitliches S. v. § 242 StGB ­Verhältnis

Ursache (antecedens, das zum consequens kausal beiträgt, einschließlich gegebenenfalls Motive)

die Luftfeuchtigkeit stieg

besteht A ist hochverschuldet notwendigerweise vor der Tatsache

Grund (Bedingung, unter der etwas der Fall ist; begriffliche Bestimmung der Tatsache)

in der Region von Koordinaten 51º30’ N, 0º7’ W fällt flüssiges Wasser aus einer Wolke

A nimmt einem anderen eine bewegliche Sache mit der Absicht weg, sie sich rechtswidrig zuzueignen

besteht notwendigerweise genau in derselben Zeit der Tatsache

Argument (das, was für eine These spricht) Indiz (das, weswegen jemand eine Tatsache ahnt) Beweis (das, wodurch jemand von der Tatsache weiß)

eine Kamera registriert das metereologische Ereignis; es steht im Wetterbericht

eine Kamera registrierte den Vorgang; A erpresst Zeugen im gerichtlichen Verfahren; Spuren von seinem DNA wurden im Tresor festgestellt

kann nach der Tatsache stattfinden

Die Beantwortung der jeweiligen Fragen Nr. 1 setzt zumindest die hypothetische Setzung der jeweiligen Tatsache im Denken voraus, da nur das, wovon gewusst ist, dass es der Fall ist oder geahnt wird, dass es zumindest gewesen sein könnte, erklärt werden kann: Um zu wissen, warum es in London regnet (i. S. v. Ursache), falls es wirklich der Fall ist, muss zeitlich und gnoseologisch zuerst gewusst oder zumindest gedanklich begrifflich gesetzt werden, dass es überhaupt in London regnet. Das Umgekehrte gilt aber nicht: Um zu wissen, dass es überhaupt in London regnet, muss nicht gewusst werden, warum es regnet (i. S. v. Ursache). Kurzum, Ursache setzt Grund logisch und gnoseologisch voraus; der

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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Grund setzt aber die Ursache logisch und gnoseologisch nicht voraus. Um zu wissen, dass das, was jemand tut, ein Diebstahl ist, muss nicht gewusst werden, welche Ursachen den Täter dazu führten, also welche Zustände im τ1 der Fall waren, die als conditio sine qua non zur Tat im τ2 führten. Dass A im τ1 hochverschuldet war, ist kein Grund für die These, dass er im τ2 einen Diebstahl beging (sondern ein Motiv, also eine Ursache, zugleich auch ein mögliches Argument, denn unter mehreren Verdächtigen ist ceteris paribus derjenige am wahrscheinlichsten der Täter gewesen, der hochverschuldet war und dies als Motiv gehabt haben könnte). In den Zeitpunkten nach seinem finanziellen Ausfall könnte er ja andere Handlungen vorgenommen haben, die selbstverständlich nicht als Diebstahl zählen, wie etwa seine Ehefrau anzurufen. Unter den vielen Folgen (im τ2) seines Zustandes des τ1 müssen folglich einige ausgewählt werden, die allein als Tatbestandsverwirklichung nach dem Strafrecht zählen. Der Satz, „A beging Diebstahl, weil er hochverschuldet war“, weist also ausschließlich auf die Ursache (bzw. Motiv) des Vorganges hin. Kurzum: Um den Sachverhalt zu bestimmen, muss und kann er nicht zuerst erklärt werden, aber um ihn zu erklären, muss er zuerst bestimmt werden. Denn es ist ja immer etwas, das erklärt wird. Man muss wissen oder mutmaßen, dass jemand überhaupt handelt und – wenn auch unvollständig – was er tut, um es anhand der Nennung von Ursachen zu erklären. Dass der Täter hochverschuldet war, gehört zwar nicht zum Rechtsgrund der Tatbestandsverwirklichung, aber es kann als ein zusätzliches Indiz für die These gelten, dass er es war, der Diebstahl beging, und nicht jemand anderes. Indizien sind bloß gnoseologisch; sie sind weder Ursachen noch Gründe. Dass Indizien keine Ursachen und keine Gründe sind, leuchtet daraus ein, dass andere Tatsachen etwa im Zeitpunkt τ3 ebenso als Indizien für die Täterschaft im τ2 gelten können, obwohl sie der Tat nachträglich sind und die Tat daher weder verursacht noch bestimmt haben könnten. Zum Beispiel: Wenn A während des gerichtlichen Verfahrens mögliche Beweise entfernt und Zeugen erpresst, die zur Lösung des Falles beitragen könnten, spricht dieses Verhalten im τ3 indirekt (rein gnoseologisch) für seine Täterschaft im τ2. Nun zählen Verhalten der Art Beweisentfernung und Zeugenerpressung nicht als Gründe dafür, dass ein Diebstahlstatbestand (und nicht ein anderer Tatbestand oder etwas völlig anderes) erfüllt worden sein könnte, das heißt, sie sind keine Bestimmungsgründe. Dies schon deswegen nicht, weil die Bedingungen, unter denen etwas im τ2 der Fall war, nicht wiederum im τ3 erst entstehen können. Das heißt, auch die Gründe, warum er es war, der Diebstahl beging und nicht jemand anderes, bestehen zum selben Zeitpunkt der Tat. Diese könnten etwa

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3  Ontologie des positiven Rechts

darin bestehen, dass ein Mann (und nicht eine Frau), ein Mitarbeiter (und nicht ein Kunde), jemand mit blauem Hemd (und nicht jemand anderes, der ebenso von der Kamera aufgenommen wurde), jemand namens A usw. es war, also in den Tatsachen seiner (wenn auch vorläufigen) Identität, mögen diese ja im gerichtlichen Verfahren auch nicht zur Verfügung stehen und ihre Unkenntnis eben der Grund sein, warum das Rechtsorgan auf Induktionen und Zeugenaussagen angewiesen ist. Dass die Herausfindung der Identität des Täters das eigentliche Ziel und keine Voraussetzung der Beweisführungen vor Gericht ist, ändert nichts an dem Umstand, dass alle Gründe des Sachverhaltes (Rechtsnormen, die Identität des Täters usw.) bereits zum Zeitpunkt der Tat bestanden und nachträglich höchstens zur Kenntnis genommen, nicht aber argumentativ konstruiert oder geändert werden können. Gründe gehören zum Sachverhalt; sie können nicht wegfallen, ohne dass der Sachverhalt selbst wegfällt. Eben in der erfolgreichen Darlegung der bereits existierenden Bestimmungsgründe eines Sachverhaltes bezüglich der Identität des involvierten Rechtsunterworfenen besteht der juristische Beweis. Das, woraus jemand weiß oder ahnt, dass etwas der Fall war, ist weder mit der Ursache noch mit dem Grund des Sachverhaltes gleichzusetzen, obwohl sie alle denselben begrifflichen Inhalt haben mögen, indem Ursache und Grund vom Urteilenden in Bezug genommen und als Argumente verwendet werden. Zum Beispiel: Man kann genau deswegen ahnen, dass A es war, der Diebstahl beging, weil man weiß, dass unter mehreren Verdächtigen er der einzige hochverschuldete war – so ist der begriffliche Gehalt der Ursache des Verbrechens, falls dies eine der Ursachen war, zugleich der begriffliche Gehalt des Argumentes, ohne dass Ursache mit Argument oder Indiz gleichgesetzt werden könnte. Da auch Argumente, Indizien und Beweise als etwas zählen, warum etwas ist, was es ist, machen sie eine dritte Art, nämlich eine rein gnoseologische Art der Gattung causa aus. Die Unterscheidung der drei Arten von causa: Ursache (einschließlich Motiv), Grund und Argument (einschließlich Indiz und Beweis) soll auch den missverständlichen Sprachgebrauch der Wörter „weil“, „wegen“, „denn“, „deshalb“ und „darum“ und der Interrogativpronomen „warum“, „wieso“, „woher“, „woraus“ usw. beseitigen, die manchmal auf einen einzigen, manchmal auf verschiedene Kausalmodi verweisen. Es kann immer differenziert werden, ob sie auf logische, ontologische und/oder gnoseologische causae verweisen, also auf ontologische Kausalzusammenhänge (Ursachen), logische Kausalzusammenhänge (Gründe) oder gnoseologische Kausalzusammenhänge (Argumente).

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

233

3.4.5 Folgen für die Unterscheidung von Tat- und Rechtsfragen Man könnte einwenden, dass die Verhältnisse von Grund, Ursache und Wissen von Rechtstatsachen eine Parallele mit natürlichen Tatsachen nur hinsichtlich der Tatfragen, nicht aber der Rechtsfragen aufweisen. Während die Kamera des meteorologischen Dienstes den Regen in London aufnahm, registrierte die vom Vorgesetzten am Arbeitsplatz installierte Kamera nicht den Diebstahl, nicht den abstrakten Rechtsgrund des §242 StGB, also nicht die juristische Deutung des Falles, sondern nur die „rohe“ Tatsache, dass überhaupt ein Mann mit blauem Hemd eine bewegliche Sache aus dem Tresor entnahm, woraus nicht einmal der Verstoß gegen den Gesetzestatbestand zum Vorschein kommt. So könnte man Faktizität von Geltung, empirische Beschreibung von normativer Wertung und letztlich Tat- von Rechtsfrage trennen, indem das jeweils erste Gegensatzelement objektiv und gegeben, das andere individuell oder kollektiv konstruiert, jedenfalls dem Sachverhalt korrespondenzlos durch normative Wertungen zugerechnet würde. Das wäre aber mehrfach fehlschlüssig. Zunächst billigend beim Wort genommen: In der Tat registrierte die Kamera am Arbeitsplatz nicht die juristische Deutung des Falles; diese besteht in Denk- und Sprechakten, in Interpretationen von Anwälten, Richtern, Rechtsorganen und Öffentlichkeit, kurz, in einem gedanklichen, daher nicht fotografierbaren „Wahrheitsbild“174. Deutungen werden zeitlich nach dem Sachverhalt, etwa im Rahmen eines Verfahrens, vorgenommen und hätten schon deswegen nicht von der Kamera registriert werden können. Das gilt übrigens gleichermaßen für die natürliche Tatsache. Die Kamera des meteorologischen Dienstes registrierte nicht die Deutungen der natürlichen Tatsache, die nach der Aufnahme des Regens vorgenommen wurden, nicht die Koordinaten der Region, wo es regnete (auch wenn diese aus einer anderen Informationsquelle auf dem Bildschirm angezeigt worden sein mögen), keine der unzähligen wissenschaftlichen Deutungen eines Niederschlags und auch nicht die abstrakten begrifflichen Verknüpfungen, dass es sich beim Regen um einen Niederschlag von flüssigem Wasser aus der Wolke handelt usw.

174„Im Strafverfahren wird allerdings ein richterliches Wahrheitsbild hergestellt – neben diesem Bild aber ist die Existenz eines wirklichen Geschehensablaufs anzuerkennen, von dem das richterliche Bild dieses Ablaufs durchaus abweichen kann – und deshalb auch – glücklicherweise – überprüfbar ist und bleibt“ (Karl Heinz Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß?, Berlin u. a.: Walter de Gruyter, 2000, S. 19).

234

3  Ontologie des positiven Rechts

Die Deutungen verweisen aber auf etwas ihnen Vorheriges, auf etwas, was auch in dem Sachverhalt vorging, obwohl nicht durch die Kamera aufgenommen. Kurz, sie haben abstrakte Komponenten des Sachverhaltes als Referenz. Was wo auch immer im τ1 stattfand, ob ein Regen oder ein Diebstahl, wurde nicht vollständig von Kameras aufgenommen. Ebenso registrierte die Kamera am Arbeitsplatz lediglich, dass ein Mitarbeiter mit Zugangskarte am Abend Gegenstände aus dem Tresor entnahm. Ebenso wie dem registrierten Sachverhalt „Regen in London“ mehr Eigenschaften zukommen als diejenigen, die elektronisch aufgenommen wurden, und zwar unabhängig von nachträglichen Deutungen durch Wissenschaftler, kommt dem „Rohsachverhalt“ der Entnahme von Wertgegenständen aus dem Tresor schon zu seinem Zeitpunkt die j­uristisch-normative Eigenschaft zu, ein Diebstahl im Sinne des Rechts gewesen zu sein. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es logischerweise notwendig der Fall gewesen sein muss, dass der Mitarbeiter mit Zugangskarte, der am Abend Wertgegenstände aus dem Tresor entnahm, genau zu dem Zeitpunkt der Tat den Diebstahl entweder beging oder nicht beging. Für das Bestehen dieser logischen Notwendigkeit175 und für das Zutreffen einer der Alternativen ist die eventuelle Verfügbarkeit von Beweismitteln wie Kameraaufnahmen irrelevant. Somit werden einige Ungenauigkeiten der in der Rechtswissenschaft häufig vorgenommenen Unterscheidung von Tat- und Rechtsfragen ersichtlich. Erstens, weil Frage eine rein gnoseologische Kategorie ist und nur unter den Bedingungen der Denk-, Anwendungs- und Ermittlungstätigkeit von Rechtssubjekten und -organen existiert, während die eigentlichen Taten und das eigentliche Recht, wovon in den Verfahrensphasen über Tat- und Rechtsfragen ermittelnd und argumentativ die Rede ist, diesen Tätigkeiten vorherig sind. Sie sind an sich keine Fragen, sondern können nachträglich dem Inhalt nach fragend in Bezug genommen werden. Taten bestimmter Eigenschaften werden auch ohne das Wissen des jeweiligen Subjektes über diese Eigenschaften begangen. Mit anderen Worten, das Wissen über die Eigenschaften des eigenen Tuns ist keine Voraussetzung dafür, dass überhaupt ein Tun mit bestimmten Eigenschaften stattfindet. Dass eine Tat ein „Diebstahl nach §242 StGB“ ist, kann ohne das Wissen des Handelnden der Fall sein, etwa weil er nicht Jura studierte und das Gesetzbuch nicht kennt, und auch ohne das Wissen von irgendjemandem sonst, da es sein kann, dass (1) alle, die das Gesetzbuch kennen, den Handelnden nicht kennen

175Erörterung über die Geltung des Nichtwiderspruchsprinzips und des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten oben, Abschn. 2.3.1.

3.4  Zur Wirklichkeit der rechtlichen Komponenten von Sachverhalten

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oder nichts von seiner Tat wissen und (2) diejenigen, die ihn kennen und/oder von seiner Tat wissen, das entsprechende fachjuristische Wissen nicht besitzen. Somit bleibt niemand übrig, der den Zusammenhang zwischen dem Gesetz und seiner Tat gedanklich herstellen könnte. Nichtsdestotrotz ist seine Handlung eine Instanziierung des gesetzlichen Tatbestandes. Rechtsnormen inzidieren auf und gelten für Einzelfälle auch ohne das Wissen und Wollen jeglichen Rechtsorgans oder -subjekts über diese Einzelfälle. Aber die größte Ungenauigkeit der Rede von Tat- und Rechtsfragen – unabhängig von ihrer Zweckmäßigkeit für die Systematisierung von Diskussionen und Festlegung verfahrensrechtlicher Abläufe – ist die Trennung von Faktizität und Geltung, von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Wert, wobei allein die Tatfragen als Faktum, Sein und Wirklichkeit, ja als Referenz habend erscheinen, während die juristischen Komponenten des Sachverhaltes als bloßes Sollen oder Gelten, als bloßer Wert, Urteil, nachträgliche Deutung oder juristische Qualifikation, ja überhaupt als referenzlose Konstruktion verstanden werden. Konstruktionen sind sie zwar in der Hinsicht, dass sie positives Recht sind und irgendwann in der Vergangenheit als neue Normen für den weiteren Verlauf der Praxis gesetzt wurden, aber die Feststellung der Normgeltung insbesondere in Bezug auf vergangene Sachverhalte ist keine Konstruktion dieser Geltung, denn eine solche verfiele in die chronologische Unmöglichkeit rückwirkender Kausalität, in dem Fall in eine rückwirkende Konstruktion von Verhaltensnormen oder ihrer Verbindlichkeit. Hinsichtlich ihrer Faktizität in einem Zeitpunkt τ1 und Unabänderlichkeit in jedem Zeitpunkt τ2–n sind die sachverhaltlichen Referenzen von Tat- und Rechtsfragen, also Taten und Recht, identisch. Die Unterscheidung von Ursache, Grund und Wissen von Rechtstatsachen hat erhebliche Folgen für das Verfahrensrecht. Da die Ursachen eines im Zeitpunkt τ2 vorkommenden Rechtssachverhaltes wiederum ihm vorherige Tatsachen im Zeitpunkt τ1 sind, können die Ursachen aufgrund der Unmöglichkeit rückwirkender Kausalität nicht in einem nachträglichen Zeitpunkt τ3 konstruiert oder geändert werden. Da die Gründe wiederum zur selben Zeit der Tatsachen bestehen, also bereits im τ2, können die Gründe ebenso wenig nachträglich konstruiert oder geändert werden. Kurz, aus der Wirklichkeit der Zeit folgt die Unabänderlichkeit von vergangenen Rechtssachverhalten auch hinsichtlich ihrer normativen Komponenten; aus dieser Unabänderlichkeit folgt der bloß deklarative, nicht aber konstitutive Charakter des Verfahrens und des Richterspruchs, insoweit diese sich anhand von Präteritumssätzen auf vergangene Sachverhalte beziehen (und den Rechtsstreit nicht aus spezifisch prozessrechtlichen Gründen beenden, die nichts zur materiellrechtlichen Lage aussagen, wie etwa die Missachtung einer Frist). Es ist eben die Möglichkeit des Verweises auf die reale Abfolge von

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Rechtstatsachen, also auf die Rechtsgeschichte einschließlich der vom Einzelnen begangenen Tat, die die Wahrheits-, Irrtums- und daher die Kritikmöglichkeit juristischer Entscheidungen begründet. Eine äußerst relevante Folge für das Strafrecht und -prozessrecht ist das Faktum der Schuld (oder Unschuld) eines Täters und folglich sein ontologischer Status als Verbrecher (oder Unschuldiger) vor der Eröffnung jeglichen gerichtlichen Verfahrens, ja lange vor einem rechtskräftigen Richterspruch. Da die Identität des Verbrechers bereits zum Zeitpunkt der Tat besteht ebenso wie alle Umstände des Sachverhaltes einschließlich der Möglichkeit des Andershandelnkönnens und der Pflicht des Andershandelnsollens, können all diese Faktoren nicht durch nachträgliche Ereignisse erst konstruiert oder geändert werden.176 Entscheidet sich aber eine Gesellschaft, ein Gesetzgeber oder ein Gericht für eine Formulierung des Schuldprinzips, nach der strafrechtlich schuldig nur derjenige ist, der als solcher durch ein judikatives Organ konstituiert wird, das heißt, formuliert man das Schuldprinzip heautonomerweise als eine bloß normative und vorwärtsgewandte Ansicht für den Verlauf der Verfahrens- und Strafpraxis, indem dem Verfahren eine tatsachenkonstitutive Funktion zugewiesen wird („nullum crimen sine processu“), hätte eine solche Festlegung die Folge, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tat (τ1) hätte weder schuldig noch unschuldig gehandelt haben können, sondern erst ab dem Zeitpunkt des rechtskräftigen Richterspruchs (τ2) als schuldig oder unschuldig bloß angesehen werden sollte.177 Durch eine solche Formulierung

176So ist die Schuld eines bestimmten Verbrechers weder ein Sollenssatz noch eine Rechtsfolge, sondern sie gehört zum Sachverhalt, an den im Verfahren argumentativ angeschlossen wird und aufgrund dessen erst Rechtsfolgen (z. B. Strafe) angeordnet werden. Zu diesem Punkt zutrefflich Hilde Kaufmann, Strafanspruch Strafklagrecht. Die Abgrenzung des materiellen vom formellen Strafrecht, Göttingen: Otto Schwartz, 1968, S. 137 ff. 177Nach dieser Auffassung gelangt „eine Straftat erst mit Abschluß des ordnungsgemäß geführten Prozesses zur Entstehung“ und ist nicht „ein an sich feststehendes Ereignis …, das vor dem und unabhängig vom Prozeß existiert und von diesem lediglich nachgezeichnet wird“. Siehe die Systematisierung dieser Fragestellungen bei Carl-Friedrich Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, Berlin u. a.: Walter de Gruyter, 1998, S. 68. Eine solche Straftatkonzeption liegt dem liberalen strafrechtlichen Grundsatz zugrunde, „jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“ (Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6, II). Systematisierung des Gegensatzes zwischen deklaratorischen und konstitutiven „Prozessintentionen“ auch bei Marxen: „Geht es im Prozeß allein darum, in der Retrospektive festzustellen, ob eine Straftat vorgelegen hat; d. h. wäre es zulässig, das Vorhandensein einer Straftat anzunehmen, auch wenn kein Strafprozeß durchgeführt wurde? Oder konstituiert

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des Schuldprinzips würden Gesellschaft und Gesetzgeber einen Irrtum begehen, der in der Erlassung unvereinbarer Verhaltens- und Verfahrensnormen bestünde. Denn dann wäre es ad absurdum schlichtweg unmöglich, gesetzliche Tatbestände überhaupt zu erfüllen, überhaupt schuldig zu handeln, ja überhaupt Normbefolgungen und -verstöße vorzunehmen, wenn das, was als Normverstoß oder -befolgung im τ1 zählt, von kontingenten Ereignissen im τ2 wie einem rechtskräftigen Urteilsspruch abhinge.178 Da viele Fälle von Normverstoß und die meisten von Normbefolgung kein Rechtsverfahren veranlassen, wären die unbekannten Normverstöße und die meisten Normbefolgungen niemals offiziell oder von irgendjemandem anerkannt und hätten daher auch nicht wirklich stattgefunden.179 Eine bloß heautonome Formulierung der Schuld, ja ihre Herabsetzung zu einer im Ergebnis bloß verfahrensrechtlichen Festlegung im Einzelfall ergäbe sodann im Zusammenhang mit Verhaltensnormen widersprüchliche, deswegen unmöglich zu beachtende und daher auch unverbindliche Regelungen.

3.4.6 Wahrheit versus Begründung. Zur Gnoseologie der Sachverhaltsontologie Immerhin trägt die Idee, dass der Sachverhalt erst im Verfahren als solcher gedeutet wird, in der Tat (1) der gnoseologischen Perspektive des entscheidenden Rechtsorgans und der streitenden Parteien sowie (2) der institutionellen

sich erst im und durch den Prozeß die Straftat; d. h. dürfte erst dann und nur dann von einer Straftat die Rede sein, wenn ein Sachverhalt in einem ordnungsgemäßen Verfahren unter Beachtung aller prozessualer Kautelen zu einer Straftat erklärt, man könnte auch sagen: gemacht worden ist? Einem reproduzierenden Prozeß steht ein gestaltender gegenüber. Die deklaratorische Prozeßintention zielt auf Affirmation, die konstitutive Prozeßintention auf Novation“ (Klaus Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß, Berlin: Duncker & Humblot, 1984, S. 35 f.). 178So die sogenannte „materielle Theorie der Rechtskraft“, nach der das prozessrechtlich unanfechtbare richterliche Urteil die Rechtslage erst konstituiert. Wird die These der Rechtskonstruktion durch richterliche Urteile ohne Einschränkung vertreten, so ist der Schluss zwingend, dass es vor dem Urteil keine bestimmte Rechtslage für die Regelung des konkreten Falles gab. Analyse und weitere Literaturhinweise bei Somek, Rechtssystem und Republik, S. 478 ff. 179So die Kritik Soares da Costas an Paulo Barros de Carvalho in Soares da Costa, Teoria da incidência da norma jurídica.

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3  Ontologie des positiven Rechts

Perspektive der Vollstreckung des positiven Rechts Rechnung. Denn (1) gnoseologisch kann ein Entscheider (der selber kein Zeuge ist) über die Umstände des Sachverhaltes und die einschlägigen Normen nicht wissen, bevor ihm Beweise vorgelegt werden, bevor er selber über den Fall anhand der vorgebrachten Argumente und über die Rechtslage im spezifischen Bezug auf den Fall nachdenkt; (2) institutionell dürfen staatliche Einrichtungen Maßnahmen gegen die unterlegenen Prozessparteien, insbesondere freiheitseinschränkende Maßnahmen gegen einen Angeklagten erst dann treffen, wenn der Sachverhalt einschließlich seiner juristischen Komponenten ausdrücklich formuliert und begründet werden. Wenn es gerade darum geht, zu begründen, warum ein gewisser Sachverhalt vorliegt (vielmehr als ein anderer oder kein rechtlich relevanter), kann sich ein Entscheider nicht auf das ontologische Bestehen des Rechtssachverhaltes berufen, denn das wäre tautologisch: Das Bestehen des Sachverhaltes ist kein Argument für das Bestehen des Sachverhaltes. Auch wenn X wahrlich der Fall ist, ist X kein Argument für X. Wenn ein Satz mit der Wirklichkeit korrespondiert, ist er nur wahr, nicht aber schon deswegen begründet – Korrespondenz ist nicht gleich Begründung; juristische Entscheidungen müssen nicht nur auf Wahrheit basiert sein, sondern auch begründet werden. Während die Wahrheit in der Korrespondenz von gedachtem oder geäußertem Satz und Sachverhalt besteht, besteht die Begründung, wie bereits erörtert, in der Nennung von zusätzlichen Sätzen, die dem zu begründenden Satz begriffsunterschiedlich sind und dennoch denselben Sachverhalt beschreiben. So ist die bereits erörterte wissenserweiternde Tautologie der Begründung nicht mit der bloß korrespondenzmäßigen Tautologie der Wahrheit gleichzusetzen. Jeder in der Entscheidung angeführte Grund kann, sofern er sich auf den Sachverhalt bezieht, mit dem im Sachverhalt tatsächlich vorhandenen Grund korrespondieren oder nicht korrespondieren; das heißt, jeder der angeführten Gründe hat je für sich einen eigenen Wahrheitswert. Die genannten gnoseologischen und institutionellen Perspektiven, die nicht von der Ontologie von Sachverhalten als Prämisse ausgehen können, sondern sie als Schluss einer Begründung betrachten müssen, betreffen deswegen eher die Praxis der Entscheidung und Vollstreckung des Rechts als seine Ontologie und eher die Methodenlehre und Argumentationstheorie als die Rechtsontologie. Obwohl sie als Perspektiven eine heuristische Gültigkeit besitzen, brauchen sie in aufgeklärter Weise die konstruktivistische Fiktion nicht, den Sachverhalt (und seine rechtlichen Komponenten) gebe es an sich vor dem

3.5  Gerechtigkeit und Zeit

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Verfahren nicht,180 sondern nur die gnoseologische und institutionelle Zusatzversicherung, dass man, auch wenn der Sachverhalt bereits vor jeglicher individuellen und institutionellen Begründungstätigkeit vollständig vorliegt, aus dieser ontologischen Wirklichkeit nur dann praxisrelevante Konsequenzen ziehen darf, wenn eine verfahrensrechtlich und methodisch hinreichende Begründung tatsächlich vorgenommen wird.

3.5 Gerechtigkeit und Zeit 3.5.1 Juridische Gerechtigkeit Die meisten juristischen Urteile bestehen u. a. aus einer Analyse der zum Zeitpunkt der rechtsrelevanten Taten geltenden Rechtslage und halten diese für maßgeblich für das Entscheidungsergebnis. In diesem Sinne sind sie protonomisch, da sie implizit oder explizit auf dem Präteritum (oder Konjunktiv in der Vergangenheit) basieren – typischerweise darauf, dass der Angeklagte hätte anders handeln sollen, ein Vertrag tatsächlich zustande kam, ein Akt widerrechtlich war usw. Juristische Entscheidungen sind aber auch zum Teil vorwärtsgewandt. Sie enthalten neben der Analyse der vergangenen Rechtslage auch einen Sollenssatz, der Rechtsfolgen statuiert, die erst nach dem Zeitpunkt der Entscheidung eintreten sollen. Ein solcher Sollenssatz lautet typischerweise, der Angeklagte

180Siehe etwa die Position Gerhart Husserls: „Ein Strafverfahren geht nicht davon aus, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat. Es geht aus von der Frage, ob die Tat begangen und dem Angeklagten als Diebstahl zuzurechnen ist. Die Sache ‚Diebstahl‘ als Gegenstand des Rechtsstreits ist nicht ein Ding der intersubjektiven Wirklichkeit…“ (Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 128). Die konstruktivistische Fiktion, dass der Sachverhalt nicht vor dem Rechtsverfahren besteht, hätte sogar die Folge des Bedeutungsverlustes des Begriffs Fehlurteil. Siehe beispielsweise die rein normative und antirealistische Position Kotsoglous in Anschluss an Hans Kelsen: „Der Begriff ‚Fehlurteil‘ hat keinen sinnvollen Gebrauch aus Sicht der (Strafprozess-)Rechtswissenschaft. Nur ein juristischer Laie könnte der Meinung sein, dass es so etwas wie ‚Fakten an sich‘ geben könnte, nämlich Fakten, die begründet sind, ohne jemals begründet worden zu sein. Aus der Sicht der (Strafprozess-)Rechtswissenschaft können rechtsrelevante Sachverhalte nur innerhalb eines Verfahrens geltend gemacht und von einem dazu ermächtigten Richter als nachgewiesen angesehen werden“ (Kyriakos N. Kotsoglou, Das Fehlurteil gibt es nicht. Zur Aufgabe des Tatrichters, Juristenzeitung 72, 3/2017, 123–132, S. 132).

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3  Ontologie des positiven Rechts

soll mit Freiheitsstrafe bestraft werden, der Beklagte soll den Vertragsgegenstand zurückgeben, die unterlegene Partei soll Schadenersatz zahlen usw. Diese Bestimmungen richten sich explizit an die Verfahrensbeteiligten und implizieren Sollenssätze für Beamte, die etwa für die Vollstreckung zuständig sind, und unter Umständen auch für die gesamte Gesellschaft, wenn es beispielsweise um den Schutz eines absoluten Rechtes wie des Eigentums geht: Jemandes mit Rechtskraft verkündetes Eigentum an einer Sache verpflichtet nicht nur die Prozessparteien, sondern auch die Gesamtheit der Gesellschaftsmitglieder zur Beachtung dieses Rechtes. Wenn der in der Entscheidung statuierte Sollenssatz eine für die vergangenen Taten bereits in ihrem Zeitpunkt festgelegte Rechtsfolge anordnet, ist sie protonomisch, das heißt, rückwärtsgewandt hinsichtlich der Erschließung der den Fall regelnden Normen, aber zugleich vorwärtsgewandt hinsichtlich der Wiedergabe dieser Normen mit Wirkungen ex nunc: Ein Täter verwirklichte einen Straftatbestand und wird kraft einer jetzigen Entscheidung den im Gesetz bereits zum Zeitpunkt der Tat angegebenen Rechtsfolgen unterworfen; ein Unternehmer bricht einen Vertrag und wird kraft Urteilsspruchs mit den im Vertrag oder im Gesetz bereits vorher angegebenen Sanktionen bestraft. Die Beachtung vergangener Normen für eine gegenwärtige Entscheidung ist ein wesentliches Kennzeichnen der juridischen Gerechtigkeit. Eine protonomisch entscheidende Institution vollzieht somit Werte wie Rechtssicherheit, Willkürfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Sie spielt deswegen keineswegs eine bloß instrumentelle Rolle für die Durchsetzung von Werten und Zwecken anderer Art etwa aus der Moral, Politik und Wirtschaft. Die praktische Relevanz des Rechtstatsachenrealismus und letztlich einer Ontologie des positiven Rechts, die die Wirklichkeit vergangener Normativität darstellt, ist also nichts anderes als die Wahrung von Gerechtigkeit. Wenn die rückblickende Konstruktion des Sachverhaltes, deren Möglichkeit als Irrtum in der Rechtsanwendung ebenso wie als indirekte Folge einer unpräzisen Gesetzgebungstechnik nicht auszuschließen ist, affirmativ in eine Regel umgewandelt, also als generalisierte Befugnis für Rechtsanwender zur Konstruktion der Rechtslage verstanden wird, sei sie aufgrund vermeintlich epistemischer Notwendigkeit oder explizit politisch motiviert, geschieht hierbei die Legitimierung einer systematischen Setzung rückwirkender Rechte und Pflichten. Eine mögliche soziale Folge ist der Bedeutungsverlust einer so funktionierenden Rechtsordnung, die immer öfter moralischen und politischen Gerechtigkeitserwägungen ohne Gesetzesbindung weichen muss, weil sie nicht einmal imstande ist, den eigenen juridischen Gerechtigkeitswert aufrechtzuerhalten. Ein eventueller Untergang solcher Rechtsinstitutionen geschähe zurecht, denn es ist unvernünftig, sich unbedingt an Regeln zu halten, die im Falle eines gerichtlich ausgetragenen Konfliktes sowieso nicht als wirklich und verbindlich anerkannt werden.

3.5  Gerechtigkeit und Zeit

241

3.5.2 Billigkeit versus Aktualismus Die Missachtung der geltenden Rechtslage im Zuge einer Falllösung kann allerdings unter eingeschränkten Bedingungen auch einen Gerechtigkeitswert haben. Denn Normen, die bereits aus praktischer Notwendigkeit mit einem hohen Abstraktionsgrad formuliert werden, können im Einzelfall zu ungerechten Ergebnissen führen. Dann sind die historisch etablierten Gesichtspunkte der jurisprudenziellen Billigkeit (aequitas) und der Begnadigung durch ein Staatsoberhaupt einschlägig. Auch die in diesem Sinne praktizierte Einzelfallgerechtigkeit ist juridisch und muss nicht unbedingt durch außerrechtliche Werte begründet sein. Nicht der Billigkeit zugehörig ist jedoch die systematische, zur Regel gewordene Abweichung von vorher festgelegten Rechtsnormen. Denn das ist ein Aktualismus, der spezifische Aktualismus des positiven Rechts. Er lässt sich dadurch kennzeichnen, dass weder rückwärts- (protonomisch) noch vorwärtsorientiert (teleologisch) entschieden wird, sondern die Rechtsanwendung bleibt eingefangen in der eigenen transzendenzlosen Aktualität. Dem entspricht beispielsweise die minimalistische Haltung der Judikative, „one case at a time“ zu entscheiden,181 indem das rechtsanwendende Organ möglichst wenige umstrittene Rechtsfragen in der Urteilsbegründung erledigt, damit keine eindeutigen und umfangreichen Präjudizien generiert werden. Wenn die judikativ anerkannte Rechtslage dermaßen unklar bleibt, müssen künftige Fälle immer wieder den Gerichten vorgelegt werden, was für die Wahrung des faktischen Übergewichts der Judikative gegenüber der Legislative trotz formell anerkannter Gewaltenteilung sorgt. Aktualistisch ist auch die sogenannte „Versuch-IrrtumJurisprudenz“, die die Selbstorganisation der Gesellschaft in den Vordergrund stellt und ebenso möglichst wenige Wertentscheidungen trifft, damit die Gesellschaft nicht mit Wertungen von autoritativen staatlichen Instanzen belastet

181Cass R. Sunstein, One Case at a Time. Judicial Minimalism on the Supreme Court, Cambridge: Harvard UP, 1999; André Brodocz, Judikativer Minimalismus. Cass R. Sustein und die Integration demokratischer Gesellschaften, Kritische Justiz 41, 2/2008, 178–197. In Bezug auf die spezifische Fallkonstellation der Religionsfreiheit im Verfassungsrecht Christoph Möllers, Grenzen der Ausdifferenzierung. Zur Verfassungstheorie der Religion in der Demokratie, ZevKR 59, 2014, 115–140, S. 127 f.

242

3  Ontologie des positiven Rechts

werde.182 Auch die in vielen westlichen Ländern nach US-amerikanischen Vorbild institutionalisierte Praxis des „Deal“ im Strafverfahren stellt ein deutliches Beispiel aktualistischer Abwendung von protonomischen Tat- und Rechtsfragen zugunsten immediatistischer Interessenvertretung dar. Die judikative Beachtung des in der massenmedialen Öffentlichkeit ausgeübten Meinungsdrucks in Bezug auf den Ausgang bekannt gewordener Rechtsfälle ist ebenso ein Beispiel aktualistischer Entscheidungspraxis. In all diesen Fallkonstellationen wird die Einzelfallgerechtigkeit zugunsten rechtsfremder Interessen geopfert, die nicht einmal die politische oder die moralische Gerechtigkeit bedienen, weil sie überhaupt nicht an Gerechtigkeit orientiert sind. Der Aktualismus ist letztlich die geschickte Strategie, unter Verzicht auf rechtliche Bindungen bei gleichzeitiger Ausschaltung von moralischem Wert und politischen Zukunftsvisionen zu entscheiden.

3.6 Zu der Ontologie der Ungerechtigkeit und der Ungeeignetheit des Relativismus für ihre Bekämpfung Die Analyse der geltenden Rechtslage ist nur der erste Schritt für eine praktische Falllösung. Denn das positive Recht kann trotz seines juridischen Gerechtigkeitswertes letztlich ungerecht sein. Dies ändert aber nichts an seiner Wirklichkeit. Auch an sich ungerechte Normen ebenso wie prinzipiell gerechte, aber im Einzelfall Ungerechtigkeit ergebende Rechtsnormen haben eine Ontologie: Sie wurden in einem bestimmten Zeitpunkt erlassen; sie sind als Texte eine semantische Festlegung mit nicht ganz manipulierbarer Bedeutung; sie entfalten Wirkungen in der natürlichen und sozialen Wirklichkeit. Dass sie trotzdem ungerecht sein können, liegt daran, dass das positive Recht samt seiner spezifischen Gerechtigkeitswerte immer noch nur eine normative Ordnung unter anderen ist. Das positive Recht kann u. U. der naturrechtlichen, moralischen oder politischen Gerechtigkeit weichen müssen. Dies tut das Recht aber ohne sofortigen Existenzverlust:

182Zum Konzept siehe Ladeur, Methodendiskussion und gesellschaftlicher Wandel: „Die Realität der Demokratie basiert gerade auf der Möglichkeit der Ausklammerung von grundlegenden Konflikten und der pragmatischen Verständigung, auf dem Vorrang des praktischen Wissens vor der Erhebung grundsätzlicher Geltungsansprüche, die in einer Demokratie zwangsläufig nicht miteinander kompatibel sind und deren Konflikt deshalb abgespannt, nicht aber gelöst werden kann“, S. 75. Für einen „judicial self-restraint“ in ähnlichem Sinne und ebenso mit einer „demokratietheoretischen Akzentuierung“ vgl. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, S. 18, 185 f.

3.6  Zu der Ontologie der Ungerechtigkeit und der Ungeeignetheit …

243

Eine positivrechtliche Norm, die im Einzelfall oder in allen Fällen Ungerechtigkeit ergibt, hört nicht dadurch auf, zu existieren. Es handelt sich dann um eine ungerechte Norm, die aus naturrechtlichen, politischen oder moralischen Gründen missachtet werden soll. Relativierungen ihrer semantischen Bedeutung durch Kanons von Interpretationsrelativismus, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen von Topik, Hermeneutik, Rhetorik, Soziologie und „postmoderner“ Rechtstheorie häufig waren,183 leisten zwar einen Beitrag zur Verringerung der Wahrscheinlichkeit der Anwendung dieser Normen in der Praxis, aber sie können die ontologische Beharrlichkeit der Normen nicht sofort zerstören. Interpretationsrelativismus ist für die Bekämpfung von positivierter Ungerechtigkeit nur rhetorisch effektiv. Der Interpretationsrelativismus entfaltet zudem eine unerwünschte Nebenwirkung: Da der Relativismus ein auf jeglichen Objektivitätsanspruch anwendbares Denkmuster ist, ist er ebenso auf berechtigte Normen anwendbar, einschließlich auf diejenigen, die der Relativist selbst für berechtigt hält, die er implizit als Wertmaßstab für die Kritik der geltenden Rechtslage verwendet und die er zukünftig als positive Rechtsnorm für eine objektive Anwendung gerne hätte. Relativismus ist immer tendenziös und selektiv: Obwohl er gleichermaßen auf alle erdenklichen Objektivitätsansprüche anwendbar ist, wird er tatsächlich nur gegen einige ausgewählten angewandt. Erst das Kriterium, nach dem Kritikziele ausgewählt werden, verdeutlicht die eigentliche Ursache der relativistischen Kritik, nämlich dass der Kritiker eine moralische oder politische Einstellung, jedenfalls eine über bloß epistemische Skepsis hinausgehende Weltanschauung hat, für deren Verwirklichung die Negation bestimmter Tatsachen oder deren Erkenntnismöglichkeit günstig erscheint. Die schwere Begründungslast, die substanziellpolitischen Ansichten und Gerechtigkeitsargumenten eigen ist, schreckt sonst förmlich und technisch redende Juristen ab und verführt die rechtstheoretisch Gebildeten unter ihnen zum leichteren Weg der epistemischen Skepsis. Dann relativiert man die aus nicht explizit preisgegebenen Gründen bereits als ungerecht empfundenen Normen durch dem Anspruch nach ideologisch neutrale Argumente: Man könne etwas überhaupt nicht befolgen, was nicht objektiv existiert oder nicht objektiv erkannt werden kann. Anstatt es offen vorzuschlagen und substanziell zu begründen, dass ein Gesetzesparagraph nicht angewandt werden sollte, weil er zu Ungerechtigkeit führe, wird auf vermeintlich epistemologische Unmöglichkeiten aus dem Relativismuskanon zurückgegriffen,

183Erörterung

hierzu oben, Abschn. 1.2.1.

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3  Ontologie des positiven Rechts

um den Schluss zu rechtfertigen, der Gesetzesparagraph könne überhaupt nicht befolgt werden, etwa weil seine Bedeutung ohnehin nicht feststehe, sondern erst durch den Rechtsanwender konstruiert werde usw. Erst aber die Verdeutlichung der substanziellen Prämissen unter der Oberfläche des relativistischen ­Diskurses bietet Gründe für die Einhaltung oder Missachtung des Gesetzes, wenn überhaupt. Dann wird eine Norm deswegen beachtet oder missachtet, weil sie jeweils gerecht oder ungerecht ist, was ihre Existenz als positivrechtliche Norm von bestimmter semantischer Bedeutung voraussetzt und eine substanzielle Begründung verlangt, nicht aber weil die Norm als Norm des positiven Rechts beliebig interpretierbar oder nicht existent sei. So kommt das eigentliche normative Prinzip der relativistischen Kritik methodenehrlich zum Ausdruck und kann hinsichtlich seiner Berechtigung beurteilt werden.

3.7 Unterscheidung und Zusammenhang von Entstehung und Begründung juristischer Entscheidungen 3.7.1 Ontologie juristischen Entscheidens Die Ontologie des positiven Rechts umfasst auch die Tätigkeit juristischen Entscheidens, wenn diese hinsichtlich ihrer Ursachen und Gründe, ihrer Herstellung und Darstellung im Laufe der Zeit untersucht wird. Dann ergeben sich Fragestellungen folgender Art: Kann eine juristische Entscheidung auch dann als hinreichend begründet angesehen werden, wenn ihr Zustandekommen durch Ursachen bedingt wurde, die zur Rechtfertigung nicht beitragen? Wie verhalten sich eventuell undeklarierte, etwa politische Entscheidungsmotive zu den an Parteien und Öffentlichkeit präsentierten Rechtsgründen: Unterminiert die Existenz solcher Motive die Richtigkeit der Entscheidung? Kurz, wie verhalten Entstehung und Rechtfertigung eines juristischen Urteils zueinander? Ist eine juristische Entscheidung auch dann methodenehrlich, wenn ihre Begründung Sätze enthält, die erst nach der psychischen Entscheidungsfindung des Rechtsentscheiders formuliert wurden? Sind erklärende Ansätze über das juristische Entscheiden aus der Anthropologie, Psychologie und Soziologie realistischer als begründungsorientierte, normative Ansätze etwa aus der Methodenlehre und Argumentationstheorie? Was bedeutet es überhaupt, „realistisch“ über die juristische Entscheidungstätigkeit zu sein? Juristische Entscheidungen in der liberalen Gesellschaft unterliegen einer strengen Begründungspflicht ohnegleichen. Die in den meisten westlichen Ländern seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgewachsene Rolle der

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

245

judikativen Gewalt für die gesetzgeberische Tätigkeit zuungunsten der nationalstaatlichen Legislative veranlasste nicht nur die Vervielfältigung der rechtswissenschaftlichen Literatur über Methodenlehre und Argumentationstheorie, die sich vornehmlich mit Begründungsfragen auf rechtsgebietsübergreifender Ebene statt gesetzestextnaher Interpretationsfragen beschäftigte, sondern auch einer soziologisch, hermeneutisch, rhetorisch und sonst nicht auf Begründung fokussierten Literatur, die Entstehungs- und Möglichkeitsbedingungen der juristischen Entscheidungstätigkeit behandelte. Das analytische Feld des Zusammentreffens dieser beiden Verständnisweisen des Rechts, die eine begründungs-, die andere „verstehens-“184 oder erklärungsorientiert, wird durch die Begriffspaare „interne“ und „externe“ Perspektive, „Herstellung“ und „Darstellung“ der richterlichen Entscheidung, „Entstehungs- und Begründungszusammenhang“ und ­ „Rechtsfindung und Rechtfertigung“ umrissen.185 Im angelsächsischen 184Nach einer häufigen, von Wilhelm Dilthey herausgearbeiteten Selbstdeutung vieler geisteswissenschaftlicher Ansätze hätten diese nicht mit Erklärung, sondern mit der viel breiter angelegten Kategorie des „Verstehens“ zu tun. Insofern aber Geisteswissenschaften mit psychischen, sozialen und historischen Bedingungen von praktischem Handeln, sozialen Ereignissen, akademischer Theorieproduktion, mit historischen und kulturellen Wirkungen von Kultur und Gesellschaft auf subjektive Urteile zu tun haben, besteht ihre Operation der nicht zufälligen Rückführung eines Ereignisses auf ihm vorhergehende Ereignisse in nichts anderes als in einer partiellen Erklärung, auch wenn dies ihrer Terminologie und eventuellen Entrationalisierungsprogrammatik widerstrebt. Das Verstehen in den Geisteswissenschaften schließt ihre erklärenden Leistungen selbstverständlich nicht aus: „Jedes Verhalten bedeutet ein Vorziehen gegenüber einer Fülle anderen möglichen Verhaltens (dessen Ablehnung, Zurückstellung, usw. dann dem getätigten Verhalten innewohnt). Diese Ordnung der Situationsinhalte und Verhaltensakte orientiert sich letztlich an der die Situation bestimmenden (Wert-)Dominante, ihrer Regel. (Verstehen hieße dann, die Bezogenheit einzelner geschichtlicher Aspekte auf geschichtliche Dominanten zu zeigen; dies geschieht in der logischen Form von Erklärungen, die insgesamt eine Theorie bilden)“ (Hans-Walter Hedinger, Standortgebundenheit historischer Erkenntnis? Kritik einer These, in: Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, hrsg. von R. Koselleck/J. W. Mommsen/J. Rüsen, München: Dt. Taschenbuch-Verlag, 1977, 362–392, S. 377). 185Überblick bei Ulrich Schroth, Juristische und philosophische Hermeneutik, in: Subsumtion. Schlüsselbegriff der juristischen Methodenlehre, hrsg. von G. Gabriel/R. Gröschner, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 129–147; polemische Diskussion bei Gräfin von Schlieffen, Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen und Gräfin von Schlieffen, Subsumtion als Darstellung der Herstellung juristischer Urteile; argumentationstheoretisch vgl. Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 3–9; soziologisch Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Zur internen und externen Perspektive siehe insbes. van de Kerchove/Ost, Jalons pour une théorie critique du droit, S. 27–51; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 47 ff.; Shapiro, What is the Internal Point of View? und Múrias, Weber e Hart sobre as perspectivas externa e interna.

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3  Ontologie des positiven Rechts

Forschungsvokabular sind auch die Ausdrücke context of discovery und context of justification gebräuchlich.186

3.7.2 Die epistemische Dichotomie juristischen Begründens Schon aus der Befolgung der kunstgerechten Methoden ergibt sich im Recht eine Dichotomie zwischen dem gnoseologischen Weg zu einer Entscheidung und den eventuell nachträglich vorgetragenen, materiell- und prozessrechtlich präsentierten Gründen.187 Zum Einen werden diverse Vorgänge eines gerichtlichen Verfahrens in der Urteilsbegründung nur verkürzt erwähnt und zum Teil ausgelassen; zum Anderen kommen in der schriftlichen Ausarbeitung des Urteils typischerweise mehr Erwägungen vor als diejenigen, die im Laufe des Entscheidungsprozesses tatsächlich mit den Parteien ausgetragen und als maßgeblich für das Entscheidungsergebnis berücksichtigt wurden. Die oft logisch-subsumtiv, weitgehend verfahrensrechtlich geregelte schriftliche Darstellung von Tat- und Rechtsfragen188 entspricht nicht unbedingt dem zeitlichen Ablauf der Diskussionen mit Verfahrensbeteiligten und der richterlichen Hypothesenbildung. Das selektive Vorgehen der Auslassung von Entstehungsfaktoren und der nachträglichen Ergänzung des Urteils mit zusätzlichen Rechtfertigungsinhalten ergibt eine Dichotomie zwischen der Herstellung und der Darstellung des Urteils. Ein solches selektives, auslassende und ergänzende Vorgehen heißt in der Wissenschaftstheorie nachträgliche Rationalisierung und besteht, all-

186Terminologischer Überblick bei Luiz Silveira, Discovery and Justification of Judicial Decisions: Towards More Precise Distinctions in Legal Decision-Making, in: Law and Method 2014/9, https://www.bjutijdschriften.nl/tijdschrift/lawandmethod/2014/09/ RENM-D-14-00003 (zuletzt geprüft am 03.12.2017). Als Vorgänger der Diskussion in der angelsächsischen Rechtstheorie gilt Richard Wasserstrom, The Judicial Decision, Oxford: Oxford UP, 1961, S. 27; für argumentationstheoretische Aspekte siehe Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 5. Ausführlich zur „Entdeckungsseite“ (context of discovery) des Problems Anderson, ‚Discovery‘ in Legal Decision-Making; ausführliche Diskussion über die Dichotomien im Recht Ferreira Leite de Paula, Discovery and Justification in Law. 187Für eine Analyse dieser Spannung in historischer Perspektive siehe Albrecht Cordes, Vorwort, in: Cordes, Juristische Argumentation, Argumente der Juristen, S. 2 ff. 188In Deutschland maßgeblich ZPO §313 Abs. 1; StPO §267.

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

247

gemeiner formuliert, in der intellektuellen Verarbeitung von Gründen, die im Entscheidungsprozess (im context of discovery) nicht intentional berücksichtigt wurden und deswegen nicht als Ursachen der Entscheidung angesehen werden können. Dabei handelt es sich um eine Unterscheidung zwischen der gnoseologischen Vorherigkeit von Entscheidungsgründen in Bezug auf das Entscheidungsergebnis und ihrer zeitlichen Vorherigkeit: Die Entscheidungsgründe werden nicht unbedingt zeitlich zuerst im Entscheidungsverfahren entdeckt, und auch nicht in derselben logisch-deduktiven Form, wie sie in den Urteilsgründen dargestellt werden, sondern sie unterlaufen einen Interaktionsprozess mit Prozessbeteiligten, vorgelegtem Beweismaterial und sonstigen Umständen des Einzelfalles und werden zum Teil nachträglich rationalisiert. Mit anderen Worten, die zeitliche Reihenfolge der Berücksichtigung von Gründen entspricht nicht der begründungsgeeigneten Reihenfolge. Die dargestellte logische Struktur von Tatbestand und Rechtsfolge ist „die Endgestalt, in der er [der Jurist] sein Arbeitsergebnis präsentiert, nicht aber ein Abbild oder Modell seiner faktischen Entscheidungstätigkeit.“189 Schließlich hat der Richter seine Entscheidung zu begründen, nicht zu erklären.190 Die Entdeckung der Differenzen zwischen Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen im Modus der nachträglichen Rationalisierung veranlasste in der Rechtstheorie Bedenken über die Methodenehrlichkeit und die Legitimität judikativer Entscheidungen. Nachträgliche Rationalisierungen wurden im Rahmen der sogenannten Freirechtsschule und des amerikanischen „Rechtsrealismus“191 auf polemische Weise gegen die Rationalität juristischer Entscheidungen zur Geltung gebracht. Es hieß, der Rechtsfindungsprozess sei nicht

189Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, S. 51. Die auf die Offenheit der juristischen Normen zurückzuführende Komplexität der Rechtsanwendung ist Luhmann zufolge nicht nur ein vorläufiger Mangel des Rechts, der durch immer genauere Analysen sich zukünftig beseitigen ließe, damit juristische Entscheidungen beispielsweise einer Maschine übergeben werden könnten, sondern ein wesentliches Merkmal eines in einer hochkomplexen Umwelt eingebetteten Systems (aaO., S. 52). 190Dazu argumentationstheoretisch Manuel Atienza, Las razones del derecho. Teorías de la argumentación jurídica, México: Universidad Nacional Autónoma de México, 2003, S. 4 und Jerzy Wróblewski/Zenon Bankowski/Neil MacCormick, The judicial application of law, Dordrecht, Boston: Kluwer Academic Publishers, 1992, S. 15. 191Zur Ungeeignetheit des Terminus Rechtsrealismus für die Bezeichnung der amerikanischen sozialpsychologischen Jurisprudenz siehe unten, Abschn. 3.8

248

3  Ontologie des positiven Rechts

vernünftig gesteuert, weswegen nicht die Herstellung, sondern nur die Darstellung der Entscheidung einer rationalen Prüfung zugänglich sei;192 die Rechtsnorm werde aus der Entscheidung gewonnen vielmehr als das Umgekehrte; die eigentlichen Entstehungsursachen von Entscheidungen seien nicht die Rechtsnormen, sondern das Rechtsgefühl und der Instinkt des Entscheiders oder andere Ursachen ohne begrifflichen Aussagegehalt („nicht-intellektuelle Erkenntnisakte“193). Nach der Entdeckung nachträglicher Rationalisierungen wurde auch aus rechtssoziologischer Sicht kritisch gefolgert, dass Begründungen letztendlich nur scheinbar seien und dass deswegen jede beliebige Entscheidung begründbar sei;194 dass die Darstellung des Urteils eine Verdeckung von Inkonsistenz195 und sogar eine Leugnung von Zweifeln und sonstigen organisationsinternen Konflikten enthalte;196 dass Legitimation sich erst nachträglich erweise, weswegen die

192„Die Ableitung der Entscheidung von einer Norm bedeutet ihre n a c h t r ä g l i c h e Ableitung. Die Entscheidung ist n i c h t in dieser Weise e n t s t a n d e n, sondern es wird nur kontrolliert, ob sie in dieser Weise h ä t t e e n t s t e h e n k ö n n e n. Damit ist der Zweck der Kontrolle erreicht“ (Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 177). So auch eine Grundthese der amerikanischen sozialpsychologischen Jurisprudenz: „The Realists argued … that careful empirical consideration of how courts really decide cases reveals that they decide not primarily because of law, but based (roughly speaking) on their sense of what would be ‘‘fair’’ on the facts of the case. … Legal rules and reasons figure simply as post hoc rationalizations for decisions reached on the basis of nonlegal considerations. … the Realists frequently claimed that existing articulations of the ‘‘law’’ were not, in fact, ‘‘confirmed’’ by actual observation of what the courts were really doing“ (Brian Leiter, American Legal Realism, in: The Blackwell Guide to the Philosophy of Law and Legal Theory, hrsg. von M. P. Golding/W. A. Edmundson, Malden u.a.: Blackwell Publishing, 2005, 50–66, S. 50). 193„Das Gefühl hat keine entwickelte Sprache, d. h. Wortsprache.“ „Nur für r a t i o n a l i s i e r t e Empfindungen hat die Sprache ein Wort“ (Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 87). Diskussion und Kritik der Freirechtsschule bei Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 188–194. 194Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 6. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013, S. 54–55. 195„Schließlich verdeckt das Prinzip in der Statik seiner Formulierung die Zeitlichkeit der Operationen des Systems, das laufende Wiederholen und Abändern, Kondensieren und Konfirmieren, distinguishing und overruling in der täglichen Praxis des Systems. Das mag dann dazu dienen, Einheit vorzutäuschen, wo im Zeitlauf Regeln gewechselt werden, also Inkonsistenz für Konsistenz auszugeben“, Luhmann, Soziale Systeme, S. 348. Zum Motiv der Verdeckung der Bedingungen des eigenen Funktionierens des Rechts um dieses Funktionieren willen vgl. auch Gräfin von Schlieffen, Subsumtion als Darstellung der Herstellung juristischer Urteile, S. 383. 196Vgl.

Lautmann, Justiz. Die stille Gewalt, S. 207.

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

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­ arstellung von Gründen im Urteil im Modus der Rechtsanwendung überD haupt eine Fiktion sei;197 und letztlich dass die Darstellung der Entscheidung in logischer Form eine „Inszenierung von Korrektheit“ sei.198 Gemeinsam an diesen kritischen Haltungen ist die Annahme, dass psychische und soziale Faktoren, die das Urteil während seiner Herstellung im Rahmen eines institutionellen Verfahrens in gewissen Hinsichten bedingen, die eigentliche Ursache, die eigentliche Wirklichkeit hinter dem Anschein einer deduktiven Normanwendung und der rationalen Darlegung von Gründen für Parteien und Öffentlichkeit darstellen.199 Kurzum, aufgrund des Vorhandenseins von Ursachen, die die Entscheidung erklären, aber nicht rechtfertigen, sei die Entscheidung nicht ehrlich oder nicht wirklich gerechtfertigt. Die Herstellungs- und Darstellungszusammenhänge des richterlichen Urteils treten auch dann in eine Spannung, wenn die richterliche Entscheidungsperspektive bzw. die anwaltliche Argumentationsperspektive durch die erklärende und voraussagende Perspektive von Soziologen, Politologen und Kulturtheoretikern ersetzt wird, die typischerweise von spezifisch juristischen Begründungsfaktoren absieht. Besteht das Forschungsinteresse beispielsweise in einer soziologischen oder kulturtheoretischen Erklärung des Zustandekommens richterlicher Entscheidungen, um die ideologischen Tendenzen zu

197Vgl.

Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung, Weilerswist: Velbrück, 2012, S. 275. 198Lautmann, Justiz. Die stille Gewalt, S. 210. Aus dem Theater entlehnte Metapher sind in diesem Zusammenhang häufig. Hinsichtlich des Wahrheitsanspruches im gerichtlichen Verfahren sagt Mathias Schmoeckel: „Es gibt hierin aber nicht nur eine Szene, also die Aktion des Richters gegenüber den Parteien. Richter und Parteien bieten zudem eine Inszenierung, die nach außen wirkt“ (Mathias Schmoeckel, Erkenntnis und Wahrheit in der europäischen Rechtsprechung, in: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, hrsg. von J. Bromand/G. Kreis, Berlin: Akademie, 2010, 409–431, S. 413). 199Siehe z. B. Gräfin von Schlieffen, Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen, S. 22. Weiterhin dies.: „the concept of syllogism is not merely an illusion. It is an illusion, but an illusion with very powerful effects. … it moulds legal discourse, sometimes to such an extent that it is confused with reality itself – as if legal reasoning were syllogistic. … it is much easier to generate the illusion of a syllogistic norm-application, if one needs not articulate one’s major premisses. … the paradoxal interplay of verbalized and unarticulated conceptions appears to be the result of a highly functional naivety, which supports social organizing by means of concealing its fundamental devices“ (Gräfin von Schlieffen, Katharina (Sobota), Don’t mention the norm!, International Journal for the Semiotics of Law 10, IV/1991, 45–60, S. 49, 60).

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studieren, so liefern die in der Urteilsurkunde ausgetragenen Gründe in der Tat ein äußerst unvollständiges Bild. Der soziologische Befund der sozialen Einbettung des Rechtsfindungsprozesses in rechtfertigungsübersteigende Entscheidungsfaktoren verlangt einen Blick auf den ganzen Entstehungskontext. So wird aber die juristische Perspektive des Anwaltes und des Richters ausgeblendet, während der Standpunkt des Gesellschaftstheoretikers eingenommen wird. Nimmt man diesen realistischen Standpunkt ein, so erscheint die herkömmliche Methodenlehre mit Auslegungsmethoden und normativen Maßstäben zur Anleitung und Begründung des Rechtsanwendungsprozesses als eine Verzerrung der Herstellung des Urteils, weil „sie nicht von dessen Faktizität ausgeht“200. Für eine kompetente Voraussage des Ausganges eines Rechtsstreites brauchen aber auch Juristen nicht nur fachjuristisches Wissen, das das Recht aus der Begründungsperspektive umfasst, sondern auch die Kenntnis über außerjuristische Umstände der Politik bis zu hochpersönlichen Präferenzen des Entscheiders.201 Siehe beispielsweise die elementare soziale Tatsache, dass liberale Strafrichter tendenziell günstigere Entscheidungen für den Angeklagten treffen. So können bestimmte Entscheidungen und Strafzumessungen u. a. mit dem nichtrechtfertigenden Satz erklärt werden, „der Richter A entscheidet so, weil er liberal ist“. Verhaltenstheoretisch lassen sich immer Kausalzusammenhänge finden, die das richterliche Entscheiden in bestimmte Bahnen lenken, und zwar unabhängig von der Qualität der Begründung. Schicht- und Parteizugehörigkeit, Familienherkunft, Religionszugehörigkeit und Elternhaus sind situative Faktoren, die für umfassende Erklärungen und effiziente Vorhersagen richterlichen Handelns nicht zu vernachlässigen sind.202 Der bloße Befund, dass solche Faktoren für eine realistische Vorhersage einer Entscheidung in vielen Fällen unabdingbar sind, zeigt, dass der Rechtsfindungsprozess eine Fülle an Kausalfaktoren kennt, die die Anwendung der in der juristischen Schulung vermittelten

200Rottleuthner,

Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 96. hierzu Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 106. 202Empirische Forschung über Attitüden und Klassenjustiz bei Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 42 ff. und 116 ff. Plädoyer für eine Öffnung des Entscheidungsprozesses auf situative Faktoren und Interessen der Parteien bei Wolfgang Hoffmann-Riem, Governance als Perspektivenerweiterung in der Rechtswissenschaft, Austrian Law Journal, 1/2014, 3–19, S. 13. 201Vgl.

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

251

Methoden weit übersteigt. Es handelt sich dabei zusammenfassend um Faktoren, die die richterliche Entscheidung erklären, aber nicht rechtfertigen, also um Ursachen, die keine Gründe sind. Die Spannung zwischen Herstellung und Darstellung des richterlichen Urteils ergibt somit zwei Dichotomien: (1) Erstens das Vorkommen nachträglicher Rationalisierungen, also die Auslassung von Faktoren, die die Entscheidung erklären, aber nicht rechtfertigen, und die Hinzufügung von Gründen, die die Entscheidung rechtfertigen, aber nicht erklären; (2) die Diskrepanz zwischen der zum Teil logisch-subsumtiven und weitgehend verfahrensrechtlich geregelten Darstellung von Gründen im Urteil einerseits und dem zeitlichen Ablauf ihrer tatsächlichen Berücksichtigung im institutionellen Verfahren und im Denken des Entscheiders andererseits; Diese Spannungen zwischen der Herstellung und der Darstellung juristischer Entscheidungen kennzeichnen die epistemische Dichotomie zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung.203

3.7.3 Zur Notwendigkeit der epistemischen Dichotomie zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung Einige Entstehungsursachen einer Entscheidung verhalten sich zu ihr neutral, das heißt, sie sind bei richtigen und falschen Entscheidungen gleicherweise vorhanden. Das ist der Fall bei diversen Kategorien, die Gegenstand rechtstheoretischer Untersuchungen im 20. Jahrhundert waren. Psychologische Untersuchungen richterlichen Urteilens liefern Beschreibungen von Denktätigkeiten wie „Puzzling, hunching, checking and texting, presenting“204 und

203Ausführliche Diskussion der epistemischen und normativen Dichotomien zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung unter Ferreira Leite de Paula, Discovery and Justification in Law, S. 89–96. 204Anderson, ‚Discovery‘ in Legal Decision-Making, S. 10.

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„creative intuition“205, die bei jeglichem Urteilen vorhanden sind. Die philosophische Hermeneutik besagt, dass die richtige Interpretation von Rechtstexten nicht nur juristische Expertise verlangt, sondern auch die Einbettung des Interpreten in einen kulturellen Sinnhorizont, der dem Interpreten Vorverständnisse über den Kontext liefert.206 Das Vorhandensein von „Vorverständnissen“ gilt als eine vorreflexive, methodenübersteigende Bedingung von Wahrheit,207 das heißt, der Entscheider kann wahre Urteile nur dann treffen, wenn er in einen Sinnhorizont eingebettet ist, der sein Bewusstsein aber weit übersteigt. In Fortsetzung der phänomenologischen Denktradition heißt es in der philosophischen Hermeneutik, dass der Interpret rechtlicher Texte „schon immer“ ein Verständnis des Rechts mit sich bringen muss, um die Auslegungstätigkeit sinnhaft zu bewerkstelligen und die zunächst vitiös erscheinenden „hermeneutischen Zirkel“ zwischen Verständnis und Vorverständnis, Norm und Sachverhalt sowie Teil und Ganzem produktiv zu bewältigen.208 Der hermeneutische „Sinnhorizont“,

205Marko Novak, The Argument from Psychological Typology for a Mild Separation Between the Context of Discovery and the Context of Justification, in: Legal argumentation theory. Cross-disciplinary perspectives, hrsg. von C. Dahlman/E. T. Feteris, Dordrecht, New York: Springer, 2013, 145–162, S. 145. 206Vgl. beispielsweise die Interpretationstheorie Josef Essers: „Nimmt man hinzu, daß solches soziale und aktuelle Vorverständnis nicht nur die Wahl und die Vorbereitung der materiellrechtlichen Subsumtionsmöglichkeit dirigiert, sondern weit effektiver noch den Prozeßausgang durch die Art der Verhandlungsleitung und Prozeßvorbereitung seitens des Richters beeinflusst, dann muß man wohl zugeben, daß die Rechtserkenntnis nicht ohne gehörig kontrollierte Antizipierung möglicher angemessener Lösungsergebnisse denkbar ist“ (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 135). 207„Es werden mögliche Ergebnisse vorweg ins Auge gefasst, und an ihnen wird die Verstehbarkeit des Textes ausgemacht. Auch das geschieht nicht mit ‚Methode‘, sondern im Vorverständnis, welches in der Konfrontierung von Normbedeutung und Fallproblematik die Texte befragt“ (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 139). 208Der hermeneutische Zirkel bezeichnet das dialektische Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung von Norm und Sachverhalt, Verständnis und Vorverständnis, Teil und Ganzem. Er liegt „in dem Verhältnis von Fragestellungen und Antworten qua Normverständnis, also in der Tatsache, daß ohne Vorurteil über die Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit die Sprache der Norm überhaupt nicht das aussagen kann, was erfragt wird: die gerechte Lösung“ (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 137). Zur positiven Bewältigung der Zirkularität von Verständnis und Vorverständnis aus phänomenologischer Perspektive vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 11. Aufl., Tübingen: Niemeyer, 1967, S. 153. Hermeneutisch-philosophisch bei Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode, S. 270–290. Zu einer argumentationstheoretischen Würdigung vgl. Robert Alexy, Juristische Interpretation, in: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, 71–92.

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

253

die phänomenischen „­Vorverständnisse“ und die vielen psychischen „Einfälle“ sind Entstehungsfaktoren richterlicher Entscheidungen, die bei richtigem und falschem Urteilen gleicherweise vorhanden sind. Normgemäße wie -widrige Entscheidungen, gerechte wie ungerechte, konservative wie liberale Ansichten setzen gleichermaßen Sinnhorizonte voraus, prägen gleichermaßen die Vorverständnisse von Rechtsanwendern und ergeben sich immer aus psychischen Abläufen. Ihr Verhältnis zum Inhalt der Entscheidung ist daher nicht rechtfertigender Art, das heißt, ihr Vorhandensein bei der Entstehung einer Entscheidung spricht weder für die Wahrheit noch für die Falschheit der Entscheidung. Mit anderen Worten, hermeneutische Vorverständnisse und etliche psychische und soziale Faktoren sind Möglichkeitsbedingungen jeglichen, nicht nur richtigen Entscheidens. Sie sind letztlich Teile der Ontologie des Menschen oder Anthropologie. Die normative Folge ist, dass die bloße Angabe von Möglichkeitsbedingungen der Entstehung von Entscheidungen weder für die Anfechtung noch für die Begründung von Entscheidungen geeignet ist. Möglichkeitsbedingungen sind kein Argument. p ist dann ein Argument für q, wenn es nicht gleichzeitig in gleichem Maße nicht-q begründet, das heißt, nur wenn es nicht-q ausschließt. Das ist die Alternativen ausschließende Funktion von Argumenten. Wenn das Vorhandensein von vorreflexiven Entstehungsfaktoren wie hermeneutischen Vorverständnissen und psychischen Einfällen eine Bedingung jeglicher Entscheidung ist, folgt, dass die Tatsache, dass ein Richter unter ihrer Wirkung entscheidet, weder Einwand gegen noch Bestätigung für den Inhalt einer bestimmten Entscheidung sein kann. Die Entscheidung ist nicht richtig oder falsch, weil sie nach der Möglichkeitsbedingung von Vorverständnissen, Einfällen usw. getroffen wurde. Relevant für den juristischen Begründungskontext ist vielmehr der argumentative Nachweis der Wahrheit oder Falschheit der jeweiligen Vorverständnisse und Einfälle. Genau die Umstellung von einer Betrachtung von Vorverständnissen als solchen hin zur Beurteilung der Wahrheit und Falschheit von Vorverständnissen markiert das Verlassen der externen Perspektive von Soziologen und Historikern und das Betreten der internen Begründungsperspektive von Anwälten und Richtern. Der Entstehungszusammenhang reicht diesen nicht aus. Vorverständnisse bilden „einen Zusammenhang der Notwendigkeit, der aber ein äußerliches Verhältnis ist, und dies ist die Zufälligkeit“.209 Sie sind Entstehungsfaktoren, die die Entscheidung erklären, aber nicht rechtfertigen. 209Hegel,

Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 174. In demselben Sinne vgl. Hegels Ausführungen zur Naturphilosophie des Aristoteles: „Es regnet überhaupt, für sich; und es ist Zufall, daß hierbei das Getreide gedeiht. Ebenso wenn das Getreide verdirbt, so regnet es nicht darum, daß dies verdirbt; sondern dies trägt sich dann dabei zu“ (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 174).

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3  Ontologie des positiven Rechts

Das Vorkommen von Entstehungsfaktoren, die bei wahren und falschen Thesen gleicherweise vorhanden sind, also von Möglichkeitsbedingungen juristischen Begründens überhaupt, verdeutlicht die Notwendigkeit der Auswahl gewisser Entstehungsfaktoren nach ihrer Relevanz für den Rechtfertigungskontext. Das ist genau der Sinn der Unterscheidung von context of discovery und context of justification in der Wissenschaftstheorie: „The tendency to remain in correspondence with actual thinking must be separated from the tendency to obtain valid thinking“.210 Diese Auswahl ist wissenschaftstheoretisch betrachtet eine rationale Rekonstruktion und geschieht nicht zulasten der Rechtfertigungsqualität des Urteils, ganz im Gegenteil: Die epistemische Dichotomie zwischen Herstellung und Darstellung der Entscheidung ist faktisch notwendig und normativ erforderlich. Sie ist faktisch notwendig, weil (1) die natürlichen und sozialen Entstehungsbedingungen einer Entscheidung unmöglich vollständig aufgelistet werden könnten und weil (2) jegliche Erklärung derselben Art von Faktoren ausgesetzt ist, die sie zu erklären beansprucht. Die epistemische Dichotomie ist zudem normativ erforderlich, weil die Erklärung des natürlichen, sozialen und kulturellen Zustandekommens einer Entscheidung nicht zu ihrer Begründung beiträgt, wenn sie gleicherweise Kausalfaktoren von falschen Entscheidungen sind. Der §173 StGB (Beischlaf zwischen Verwandten) ist nicht etwa deswegen verfassungsmäßig, weil sich im Beschluss vom 26.2.2008 des Bundesverfassungsgerichts eine dem Gericht untypisch konservative Haltung durchsetzte, sondern u. a. aus den im Beschluss angegebenen Gründen des Familien- und Gesundheitsschutzes der Bevölkerung.211 Nicht einmal eine ganzheitliche Geschichtserzählung

210Hans Reichenbach, Experience and prediction, Chicago, Ill.: Univ. of Chicago Press, 1957, S. 7. Überblick und Diskussion der Versionen der Kontextunterscheidung von Entdeckung und Rechtfertigung in der Wissenschaftstheorie bei Paul Hoyningen-Huene, Context of Discovery versus Context of Justification and Thomas Kuhn, in: Revisiting Discovery and Justification, Historical and philosophical perspectives on the context distinction, hrsg. von J. Schickore/F. Steinle, Dordrecht: Springer, 2006, 119–132. 211Das Bundesverfassungsgericht prüfte im Beschluss vom 26.2.2008 (2 BvR 392/07) die Verfassungsmäßigkeit des §173 StGB und führte dabei unter anderem die „Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen“ als Entscheidungsgrund für die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde an: „Der Gesetzgeber verfolgt mit der angegriffenen Norm Zwecke, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind und jedenfalls in ihrer Gesamtheit die Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts legitimieren. Der Gesetzgeber hat seinen Entscheidungsspielraum nicht überschritten, indem er die Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests, den Schutz der in einer Inzestbeziehung ‚unterlegenen‘ Partner sowie ergänzend die Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

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des Entstehungszusammenhanges der Entscheidung aus soziobiologischen, soziologischen, psychologischen und politischen Gesichtspunkten212 könnte eine hinreichende Rechtfertigung für die Verfassungsmäßigkeit des §173 ergeben. Ginge das Gericht selber auf die Entstehungsgeschichte des eigenen Urteils in der Entscheidungsbegründung ein,213 ergäbe sich daraus immer noch kein sachlicher Begründungszusammenhang für die These, „der §173 StGB ist verfassungsgemäß.“ Eine solche Darlegung wäre vielmehr eine ignoratio elenchi, eine „Verrückung des Streitpunktes“ – der Fehlschluss, etwas anderes zu beweisen

Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen als ausreichend erachtet hat, das in der Gesellschaft verankerte Inzesttabu weiterhin strafrechtlich zu sanktionieren.“ „Vielmehr rechtfertigt sich die angegriffene Strafnorm in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzests“ (BverfG, NStZ 2008, 614, 616). Analyse und Kritik der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Inzestverbot oben, Abschn. 2.2.4. 212Soziologische Studien zur Beschreibung der Entstehung richterlicher Urteile sind in den Vereinigten Staaten, zum Teil auch in Deutschland fortgeschritten. Diverse Alltagsaktivitäten können in den kausalen Entstehungskontext des Urteils analytisch einbezogen werden, wie etwa die informellen Interaktionen eines Richters mit Kollegen über die Entscheidung eines neu eintretenden Falles, mögliche Orientierung an der Linie des oberen Gerichts, usw. Überblick bei Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 260–287. Aus psychologischer Sicht Anderson, ‚Discovery‘ in Legal Decision-Making. 213Die Methode der textuellen Darstellung des eigenen psychischen Entscheidungsprozesses durch den Richter wurde in der Geschichte der Jurisprudenz gelegentlich experimentiert. Vgl. beispielsweise den Fall R. v. Morgentaler, Smoling and Scott der kanadischen Supreme Court (Jahr 1988), in dem die Richterin Bertha Wilson Rechtsfragen über Abtreibungsrechte zu entscheiden hatte (Anderson, ‚Discovery‘ in Legal Decision-Making, Kap. 3). Der Fall bot sich für die Methode insbesondere deswegen an, weil die Tatsache, das ein Richter weiblichen Geschlechts über die Frage zu entscheiden hatte, der Richterin zufolge nicht unerheblich war: „It is probably impossible for a man to respond, even imaginatively, to such a dilemma not just because it is outside the realm of his personal experience … but because he can relate to it only by objectifying it, therebr eliminating the subjective elements of the female psyche which are at the heart ofthe dilemma“ (zit. nach ders., S. 74). „As part of her formulation of a woman's point of view Wilson uses the discovery process to present and to justify interpretations of key terms. She uses the discovery process to define „dignity“, „liberty“, and „private“ from a woman's point of view. These key words are initially defined in accord with classical liberal notions and then re-interpreted from a women’s point of view“ (aaO., S. 77).

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als das, was eigentlich in Frage steht.214 Die Darstellung des richterlichen Urteils ist entgegen einer im Schrifttum vertretenen Meinung nicht „das Bild, das innerhalb der Rede von deren Entstehungsprozess entworfen wird“215, also nicht als „Darstellung der Herstellung“216 zu verstehen, da der Richter die Entscheidung nicht erklären, sondern nur rechtfertigen muss. Die Herstellung bedingt zwar die Darstellung des Urteils zeitlich und kausalontologisch; beides ist jedoch immer voneinander unterscheidbar.217 Gleichgültig wie eine These zustandegekommen

214„The soundness of an answer to a particular question is never established or disconfirmed by the answer of the entirely different question of what are the physical, biological, and psychological pre-conditions and concomitants of the raising of that question (or any question) and of the proposing of that answer (or any answer)“ (Finnis, Natural law and natural rights, S. 64). “What he [the skeptic] does instead is invite us to shift our attention, away from the relevant subject-matter, to other features of the world and of human understanding“ (aaO., S. 71). Zum Begriff der ignoratio elenchi vgl. Augustus de Morgan: „The ignoratio elenchi or ignorance of the refutation is what we should now call answering to the wrong point: or proving something which is not contradictory of the thing afferted. It may be confidered either as an error of form or of matter; and it is, of all the fallacies, that which has the widest range“ (Augustus de Morgan, Formal logic. Or, The Calculus of inference, necessary and probable, London: Taylor and Walton, 1847, S. 260). Vgl. auch Richard Whately, Elements of logic, New York, Boston: W. Jackson; J. Munroe & co, 1836, S. 237. Zur rechtsdogmatischen Verarbeitung der ignoratio elenchi vgl. Egon Schneider/ Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen. Die Grundlagen der Denklehre und der Rechtsanwendung, 7. Aufl., München: Vahlen, 2012, S. 210. 215Gräfin von Schlieffen, Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen, S. 151. 216Gräfin von Schlieffen, Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen, S. 13. 217So bereits Richard Wasserstrom zur Unterscheidung von Entdeckung (context of discovery) und Rechtfertigung (context of justification) in der angelsächsischen Rechtstheorie: „it may be observed that a knowledge of the motives of the drafters of the Constitution does not answer the question whether the Constitution establishes a desirable or justifiable form of government. Evaluation of the worth of the Constitution can, it would seem, be conducted quite independently of an awareness of the motives of the Founding Fathers. … In certain contexts they do not respond to the question of whether the conclusion is in fact justifiable. Just as these two kinds of questions can be roughly distinguished, so the factors that led to the „discovery“ of the conclusion can be differentiated from the process by which it is to be justified. I will refer to the procedure by which a conclusion is reached as the process of discovery, and to the procedure by which a conclusion is justified as the process of justification“ (Wasserstrom, The Judicial Decision, S. 26 f.). Zu den unterschiedlichen Funktionen der Herstellung und der Darstellung des richterlichen Urteils aus rhetorischer Perspektive vgl. Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, S. 237, 474.

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

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ist, ihre Wahrheit lässt sich durch Richter, Betroffene und Dritte immer über ihre kontextuale Geschichtserzählung hinaus erkunden.218 Die Notwendigkeit und normative Erforderlichkeit der epistemischen Dichotomie bedeutet demnach keine Trennung der rechtlichen Normativität in der Zeit, also nicht, dass die rechtliche Normativität nur die Darstellung der ­ Entscheidung, nicht aber ihre Herstellung beeinflusste. Wäre dies der Fall, könnte man zur voreiligen soziologischen Auffassung verleitet werden, Logik und Methoden hätten „nicht den Sinn, den Ablauf des Überlegens zu bestimmen, sondern geben nur Darstellungsregeln für die Präsentation des Resultates.“219 Soziale, psychische und hermeneutische Faktoren, die zur Entstehung der Entscheidung beitragen aber sie nicht rechtfertigen, sind nicht die einzigen Entstehungsursachen. Herstellung und Darstellung des Urteils sind insofern rückgekoppelt, als dass juristisches Entscheiden von vorn herein regelorientiert ist, das heißt, nur Entscheidungen, die begründet werden können, dürfen getroffen werden220 und werden am häufigsten tatsächlich

218Dies wird aus der Sicht des Rechtspraktikers bestätigt: „So wird in der Literatur häufiger die Vermutung geäußert, der erfahrene Zivilrichter lese die Akte und urteile nach seinem Rechtsgefühl, wie der Fall zu entscheiden sei. Erst dann suche er die passende Norm und deren ‚richtige‘ Auslegung. Ich kann aus meiner langjährigen Erfahrung berichten, dass Rechtsprechung so nicht ‚funktioniert‘. Man hat zwar als erfahrener Berufungsrichter nach dem Lesen der Akte eine gewisse Vorstellung, wie das Ergebnis der Entscheidung sein solle. Dabei spielen natürlich Erfahrung und gutes richterliches Judiz eine gewisse Rolle. Tatsächlich wird jedoch gutachtenmäßig in einem schriftlichen Votum geprüft, wie der Fall nach Gesetz und Recht zu entscheiden ist. Und diese Prüfung kann durchaus ergeben, dass die Entscheidung anders getroffen wird, als man dies zunächst angenommen hat. Meine Erfahrung ist, dass sich das Rechtsgefühl eines Richters schnell ändern kann, wenn er sich erst einmal intensiv anhand von Schrifttum und Rechtsprechung mit einem bestimmten Rechtsproblem befasst hat“ (Alarich Richter, „Mündliche, schriftliche und wahre Gründe“ – eine Linguistik der Lüge im Recht, 77–91, S. 87). 219Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, S. 51. 220Vgl. Neumann, Wahrheit statt Autorität, S. 88; Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der Juristischen Argumentation, S. 255. Übereinstimmend Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 282. Gräfin von Schlieffen vertritt hierzu eine unkonkludent doppeldeutige Position: Einerseits „müssen bei der Herstellung ständig Darstellungsvorgaben beachtet werden“ (Gräfin von Schlieffen, Subsumtion als Darstellung der Herstellung juristischer Urteile, S. 384); andererseits kommt Herstellungsbeschreibungen in der Darstellung ein „fiktiver Charakter“ zu (dies., S. 385). Die Darstellung sei einerseits nicht unehrlich, andererseits aber eine ausdifferenzierte „Vorform des Schauspiels“ (Katharina Gräfin von Schlieffen, Recht rhetorisch gesehen, JA, 1/2013, 1–7, S. 3).

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3  Ontologie des positiven Rechts

auch getroffen. Die antizipative Wirkung der Begründungsmöglichkeiten auf den Rechtsfindungsprozess ist keine bloß methodologische, idealistische oder kontrafaktische Forderung, sondern enthält Elemente, die auch für eine Erklärung des Zustandekommens eines Urteils unabdingbar sind. Das heißt, die rechtliche Normativität gehört nicht nur zum Begründungszusammenhang, nicht nur zur Darstellung der Entscheidung, sondern auch zum Entstehungszusammenhang bzw. Herstellung. Es handelt sich dabei um einen Fall normativer Kausalität bei Teilnehmern einer Rechtsordnung, die Rechtsgründe als eigene Entscheidungsmotive übernehmen und die dem Bild eines „homo juridicus, für den subjektive Maximen mit objektiven Geboten zusammenfallen“221, entsprechen. Motive sind Ursachen von E ­ ntscheidungen, die geltende Rechtslage ist eine Ursache von Motiven. Dieses kontinuierliche Kausalverhältnis ist am deutlichsten erkennbar im Modus der conditio sine qua non: Eine gegebene Entscheidung wäre nicht oder zumindest nicht genau so entstanden, wenn die rechtliche Normativität, d. h. ein gewisses Begründungskriterium, nicht vorhanden gewesen wäre. So liefert die rechtliche Normativität nicht nur die Rechtfertigung des richterlichen Entscheidungsverhaltens, sondern auch eine seiner Ursachen. Es handelt sich um einen Unterfall der bereits behandelten normativen Ursache.222 Wenn Rechtsnormen eine Entscheidung nicht nur rechtfertigen, sondern auch zum Teil erklären, handelt es sich um ein Zusammentreffen von Begründungs- und Entstehungszusammenhängen. Ausschließlich in dieser Hinsicht ist die Gleichsetzung von ­Begründungs- und Entstehungsfaktoren zutreffend.

221Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S.  169. Empirisch-psychologisch heißt es auch: „It turns out that the process of discovery is a deliberate and conscious process that is not essencially arbitrary, haphazard, and irrational“ (Anderson, 'Discovery' in Legal Decision-Making, S. 128). „Most significant finding is that testing involves an act of discovery, namely reflective insight. The explanation of reflective insight as a mental activity that discovers the sufficiency of the evidence for a judgement of fact is a key contribution to the explanation of the nature of 'discovery' in theoretical problemsolving“ (aaO., S. 129). 222Vgl. Kapitel 1, D. und Kapitel 2, C.IV.2.

3.7  Unterscheidung und Zusammenhang von …

259

Angesichts der Tatsache, dass Rechtsnormen auch Ursachen der Entscheidung sein können, wäre es irreführend, die Herstellung des Urteils mit der „externen Perspektive“, die Darstellung mit der „internen Perspektive“ juristischen Entscheidens gleichzusetzen. Stattdessen gibt es sowohl eine externe als auch eine interne Perspektive auf die Herstellung als auch auf die Darstellung. Die externe Perspektive ist nicht „realistischer“ als die interne, wenn sie die kausale Wirkung der rechtlichen Normativität auslässt, indem die Herstellung auf soziale, psychische oder historische Faktoren reduziert wird. Eine solche Perspektive, die die kausalontologische Wirkung von Normativität verkennt, ist vielmehr antirealistisch. Das heißt, die interne Perspektive ist trotz ihres normativen Charakters nicht rein normativ und kontrafaktisch, weil sie Elemente enthält, die die Entscheidung nicht nur rechtfertigen bzw. zu kritisieren, sondern auch teilweise faktisch zu erklären vermögen. Während aber eine hinreichende Rechtfertigung der Entscheidung die externe Perspektive weitgehend entbehren kann, da der ­Entscheider seine Entscheidung nicht erklären, sondern nur rechtfertigen soll, ist eine hinreichende Erklärung der Entscheidung nur unter Einbeziehung der internen Perspektive möglich.

3.7.4 Möglichkeit und Entlarvung von Scheinbegründungen im Recht Die Annahme der kausalen Wirkung der rechtlichen Normativität im Prozess der Entscheidungsfindung sollte jedoch nicht zur Auffassung verleiten, dass Entscheidungen vollständig durch Rechtsnormen und -methoden determiniert würden.223 Wäre dies der Fall, gäbe es ausschließlich rechtskonforme Entscheidungen. Vielmehr werden im Entscheidungsprozess auch Gründe berücksichtigt, die zwar kausal zur Entstehung der Entscheidung beitragen, aber keine Rechtfertigung darstellen. Diese sind ideologische, außerrechtliche, wirtschaftliche und sonstige Gründe, die im Einzelfall eventuell von Kritikern als ungerechtfertigte Motive angesehen werden können. Die Unterscheidung von rechtlichen und nichtrechtlichen Beweggründen in der Rechtsfindung setzt jedoch keine Trennung von Recht, Moral, Politik und anderen Normenordnungen voraus. Sie rechtfertigt sich dadurch, dass zumindest

223So der juristische „Determinismus“ nach Terminologie und Kritik von Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 2.

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3  Ontologie des positiven Rechts

einige Beweggründe keine Rechtsgründe sind, was sowohl mit Trennungs- als auch mit Verbindungsthesen über die Natur des Rechts224 vereinbar ist. Hierbei entsteht jedenfalls eine zusätzliche Spannung zwischen der Herstellung und der Darstellung der Entscheidung neben der epistemischen Dichotomie, nämlich die normative Dichotomie, also eine Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Beweggründen (Motiven) einerseits und den für Parteien und Öffentlichkeit präsentierten Gründen andererseits. Trifft ein Richter eine Entscheidung aus einem rechtswidrigen oder nur rechtsfremden Motiv, das in der Urteilsbegründung nicht ausgeführt und Parteien und Öffentlichkeit nicht mitgeteilt wird, so wirkt die Enthüllung dieses Motivs gesellschaftlich zwar tendenziell disqualifizierend,225 aber die bloße Entdeckung von Entstehungsfaktoren, die eine Entscheidung erklären, aber nicht rechtfertigen, vermag eine inhaltlich rechtskonforme Rechtfertigung nicht zu widerlegen. Eine aus illegitimen Motiven getroffene Entscheidung könnte immer noch eine materiell- und verfahrensrechtlich richtige Entscheidung sein. Vertritt ein Richter beispielsweise eine rechtsdogmatische Theorie mit der heimlichen Absicht, die Aufmerksamkeit von Juristen und Öffentlichkeit zu erwecken,226 so ist dieser Befund immer noch kein juristisches Argument, das den materiell- und verfahrensrechtlichen Begründungszusammenhang der Entscheidung eintreten könnte, da die Entscheidung aus eigentlich rechtlichen Gründen berechtigt sein könnte. Daraus erhellt, dass nicht die Feststellung einer epistemischen, sondern einer normativen Dichotomie zwischen Herstellung und Darstellung der Entscheidung es ist, das einen berechtigten Anknüpfungspunkt für die Kritik an Scheinbegründungen im Recht ausmacht. Eine Begründung

224Für die analytische Rechtstheorie des 20. Jahrhunderts gilt mehrheitlich: „Alle positivistischen Theorien vertreten die Trennungsthese. Diese sagt, daß der Begriff des Rechts so zu definieren ist, daß er keine moralischen Elemente einschließt. Die Trennungsthese setzt voraus, daß es keinen begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen dem Recht und der Moral, zwischen dem, was das Recht gebietet, und dem, was die Gerechtigkeit fordert, oder zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, gibt“ (Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 15); „Alle nichtpositivistischen Theorien vertreten demgegenüber die Verbindungsthese. Diese sagt, daß der Begriff des Rechts so zu definieren ist, daß er moralische Elemente enthält“ (ders., 17). 225Neumann, Juristische Argumentationslehre, S.  5. Für eine Analyse der Spannung zwischen mündlicher Begründung, schriftlich abgefasstem Urteil und verdeckten Entscheidungsmotiven in der judikativen Praxis siehe Richter, „Mündliche, schriftliche und wahre Gründe“ – eine Linguistik der Lüge im Recht. 226Beispiel und Diskussion bei Neumann, Wahrheit statt Autorität, S. 86.

3.8  Zur kulturellen und rechtlichen Bedeutung des Realismus

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ist nicht deswegen scheinbar, weil sie nachträgliche Rationalisierungen enthält oder weil sie die Soziologie und Psychologie ihrer eigenen Herstellung nicht berücksichtigt, sondern weil sie entweder unwahre Gründe anführt oder, ideologiekritisch, weil sie bewusst aus anderen Gründen getroffen wurde als sie angibt.

3.8 Zur kulturellen und rechtlichen Bedeutung des Realismus Der herkömmliche Gebrauch des Terminus Realismus in der Rechtstheorie unterscheidet sich von philosophischen Bedeutungen bis zur Unkenntlichkeit. Der Terminus „Rechtsrealismus“ wurde seit dem 20. Jahrhundert in der Rechtstheorie zum großen Teil der Auffassung zugesprochen, das Recht sei keine ideale, sondern eine empirische soziale Tatsache. Unter dieser Kategorie lassen sich die diversen Versionen des rechtstheoretischen Rechtsrealismus auffassen, wie beispielsweise das Recht als das, was die Judikative oder legal officials entscheiden oder wahrscheinlich entscheiden werden, als das wahrscheinliche Eintreten einer Sanktion (prediction theory227), als social legal theory228 oder als normatives kulturelles Konstrukt eingebettet in ein Netz von sozialen Ursachen und Wirkungen.229 Diese sogenannten Realismen sind eigentlich Antirealismen über das Recht, da Gerechtigkeit, Rechtsnormen und Rechtsachverhalte als solche, also das Recht selbst als Entität oder Prinzip als nicht an sich existierend angesehen wird, sondern höchstens als Epiphänomen oder Ausdruck von Bewusstsein, subjektiven Attitüden oder kollektiven Vorstellungen.230 Nach

227Hart,

The Concept of Law, S. 83. Realistic Theory of Law, S. 9. 229Exemplarisch: „The realistic theory I construct focuses on law more broadly, including but not limited to judging, and draws on views within historical and sociological jurisprudence that informed the legal realists, particularly the insight that law is subject to historical and social influences and must be seen in terms of its functions and consequences“ (Tamanaha, A Realistic Theory of Law, S. 2). 230In diesem Sinne siehe eine berechtigte Kritik bei Moore, The Interpretive Turn in Modern Theory: A Turn for The Worse?. Für weitere Literaturhinweise über den Rechtsrealismus in diesem Sinne siehe Michael Potacs, Rechtstheorie, Wien: facultas, 2015, S. 34–37. Die so gefassten Rechtsrealismen ist somit häufig entweder ein „eliminativer Reduktionismus“, weil das Recht an sich als nicht existierend angesehen wird, oder ein „Identitätsreduktionismus“, weil das Recht ein Epiphänomen von empirischen Gegebenheiten wäre. Terminologie und ähnliche Kritik bei Pavlakos, Rechtsontologie und praktische Vernunft, S. 48. 228Tamanaha, A

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3  Ontologie des positiven Rechts

dem sogenannten „normativen Realismus“ beispielsweise heißt es erstaunlicherweise, „für den Rechtsrealisten existiert Recht als solches nicht“231. Die sogenannten amerikanischen Realisten des 20. Jahrhunderts232 wie die meisten Rechtspositivisten sind ebenso tendenziell Antirealisten in Bezug auf Ideen und Normen. Viele „normative Realismen“ sind gewöhnlich Realismen ohne Ontologie.233 Selbstverständlich ist jeder dieser Ansätze (gemessen an ihren eigenen Ansprüchen) tatsächlich realistisch über einen Aspekt der Wirklichkeit, seien es subjektive Wertungen von Rechtskonstrukteuren oder soziale Wirkungen des Rechts. Als eigentliche Rechtsrealismen können jedoch Antirealismen über Recht und Normativität nicht gelten. Das herkömmliche rechtstheoretische Vokabular ist daher verbesserungsbedürftig.

231Karl-Heinz Fezer, Recht ist Recht ist Recht ist Recht. Die Auslegung der Welt – Normativer Rechtsrealismus, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2015, S. 13. Auf Basis des sogenannten kritischen Rationalismus Karl Poppers und seiner Methode der Falzifizierbarkeit von wissenschaftlichen Sätzen vertritt Fezer einen „normativen Rechtsrealismus“, dessen Gegenstand nicht das Recht, sondern Rechtssätze sind: „Aus einer kritisch-rationalen Rechtslehre folgt: Es gibt keine an sich wahren Rechtssätze. Es gibt nur solche Rechtssätze, die unsere Probleme, die wir dem Recht zur Regelung anvertrauen, nach unserem gegenwärtigen Erkenntnisstand gut oder schlecht lösen“ (ders., S. 13 f.). Dies ist ein Beispiel eines Realismus über sprachliche Sätze, der sich nicht auf das Recht erstreckt und daher in einen Antirealismus über Recht mündet. 232„‘American legal realism’ refers to an intellectual movement in the United States that coalesced around a group of law professors and lawyers in the 1920s and 1930s, including Karl Llewellyn, Jerome Frank, Felix Cohen, Herman Oliphant, Walter Wheeler Cook, Underhill Moore, Hessel Yntema, and Max Radin. These writers thought of themselves as taking a realistic look at how judges decide cases, at “what the courts … do in fact,” as Oliver Wendell Holmes, Jr. (a major intellectual forebear) put it. … How a judge responds to the facts of a particular case is determined by various psychological and sociological factors, both conscious and unconscious. The final decision, then, is the product not so much of “law” (which generally permits more than one outcome to be justified) but of these various psychosocial factors, ranging from the political ideology to the institutional role to the personality of the judge. Thus, the legacy of realism in both the practice and teaching of law consists of phenomena like these: lawyers now recognize that judges are infl uenced by more than legal rules; judges and lawyers openly consider the policy or political implications of legal rules and decisions; law texts now routinely consider the economic, political, and historical context of judicial decisions“ (Brian Leiter, American Legal Realism, in: A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, hrsg. von D. Patterson, Chichester: Blackwell, 2010, 249–266, S. 249). 233Siehe beispielsweise die Realismen von Parfit und Scanlon. Analyse bei Mario Brandhorst, Der neue normative Realismus: einige kritische Fragen, Zeitschrift für philosophische Forschung 69, 2015, 275–305.

3.8  Zur kulturellen und rechtlichen Bedeutung des Realismus

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Im Gegensatz zu rechtstheoretischen Rechtsrealismen machen Realismus und Antirealismus einen ontologischen, nicht aber gnoseologischen Fragenkomplex aus. Als Fragestellungen betreffen sie prinzipiell das, was der Fall ist (Wirklichkeit, Ontologie), das Sein und das Seiende, wobei die Erkenntnismöglichkeiten (Gnoseologie) zwar impliziert, aber als Gegenstände der Überlegung nur sekundär gemeint sind. Diese Differenzierung der Fragestellungen hat Relevanz insbesondere zur Vermeidung anthropozentrischer und subjektphilosophischer Umdeutungen, die in den europäischen Geisteswissenschaften seit der Neuzeit häufig sind. So wird Realismus in Recht und Moral zum Teil als eine Position gedeutet, in der es um „unseren“ „Zugang“ zu den Sachverhalten geht; in der es um die „Erklärung“ von „Wahrheit“ geht;234 dass es ethische „Wahrheiten“ gibt235 und dergleichen. So wird Realismus verfrüht von vorn herein gnoseologisch definiert, da Wahrheit, Kognition, Objektivität usw. nur in Bezug auf Erkenntnissubjekte existieren, deren Denken und Bezüge Dinge erst zu Gegenständen bzw. Objekten machen. Trotz der Bestrebung, die normative Wirklichkeit als an sich bestehend zu begründen, verbleibt der Fokus autistisch auf das Erkenntnissubjekt oder -kollektiv gerichtet, auf ihre Gefühle, Erfahrungen und Urteile, wenn fast ausschließlich die Rede von „uns“, „Wahrheiten“ und „Gegenständen“ ist. Das mag zum Teil schon an epistemologisierenden Sprachgewohnheiten liegen, wie beispielsweise wenn jemand eigentlich von der Sache reden will, aber es sprachlich eigentlich nicht tut, sondern von der Art und Weise redet, wie „wir“ die Sache „ansehen“, „auffassen“ oder „verstehen“ können; statt der Ursache wird die Erklärung, statt des Grundes die Begründung studiert. So kann eine angestrebte Ontologie schon an der epistemologischen Verführung der Sprache scheitern. Die Ontologie als Thesenkomplex betrifft dagegen primär nicht Wahrheit und Urteile, sondern Zusammenhänge und Sachverhalte;236 nicht Gegenstände (oder Objekte), sondern Dinge (oder 234Siehe

beispielsweise Patterson, Recht und Wahrheit, S. 25, 53. Brandhorst, Der neue normative Realismus: einige kritische Fragen. 236Siehe schon Aristoteles: „Das Falsche und das Wahre liegt nicht in den Dingen (prágmata), … sondern im Denken (diánoia)“ (Aristoteles, Metaphysik, 1027b, S. 174). In demselben Sinne Thomas von Aquin: „In rebus autem neque veritas neque falsitas est, nisi per ordinem ad intellectum“ (Thomas von Aquin, Summa theologiae, prima pars, question 17, article 1). Kritisch gegenüber epistemologisierenden Tendenzen der analytischen Philosophie vgl. Ferraris: „Denn die Art, in der das Problem des Realismus im analytischen Kreis angegangen wird, definiert den Realismus als Unabhängigkeit der Wahrheit von der Erkenntnis, die wir von ihr haben. Für den Neuen Realismus ist es hingegen die Unabhängigkeit der Wirklichkeit von der Erkenntnis, die wir von ihr haben (bei gewissen Klassen von Gegenständen verhält es sich anders). Dieser Aspekt ist meines Erachtens erheblich, weil die Wahrheit sehr wohl eine epistemologische Funktion ist, die die Existenz eines Geistes annimmt…“ (Ferraris, Was ist der neue Realismus?, S. 60 f.). 235Exemplarisch

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3  Ontologie des positiven Rechts

Sachen)237; nicht B ­ ewusstsein und Proposition, sondern ­ Begriffsverknüpfungen und -zersetzungen;238 nicht explanandum und explanans, sondern antecedens und consequens; dementsprechend nicht „Inhalte“, die es nur durch den Bezug eines Subjektes gibt, sondern Sachen und Tatsachen; nicht Rechtfertigungen (Begründungen) und Erklärungen, sondern die diversen Modalitäten von Kausalität,239 einschließlich Gründe, raumzeitlicher Ursachen, Teleologie und Normativität; nicht die „Vorstellung des Vorgegebenen“240, sondern das Vorgegebene; nicht Emotionen, Wertungen und Abwägungen, sondern das Sollen, den Wert und das Gute; nicht psychologische, soziologische und biologische Sachverhalte, wenn man damit die jeweiligen Disziplinen, Thesen und Argumente bezeichnet, sondern psychische, soziale und biotische Sachverhalte.241 Die Verwechslung all

237Obwohl der Terminus Ding eine engere Bedeutung hat als Sache (siehe K. Flasch, Ding, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, 1955; Differenzierung auch bei Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 304), werden beide hier weitgehend als Synonyme verwendet. 238Im Gegensatz etwa zu einem Verständnis von Ontologie in notwendiger Verbindung mit Bewusstsein, nach dem die Ontologie des Rechts nicht die Lehre vom Sein dieses Seinsbereichs sei, sondern „von dem die Erfahrung dieses Seinsbereichs tragenden B e w u ß t s e i n; genauer: vom G e g e b e n s e i n dieses Seinsbereichs i m Bewußtsein“, wie Werner Maihofer die Position Husserls interpretiert und anschließend kritisiert. Siehe Maihofer, Recht und Sein, S. 62–64. 239„Unsere Auffassungen von Kausalität sollten nicht ohne Not die ontologische Analyse des Realzusammenhanges von Ursachen und Wirkungen mit epistemologischen Betrachtungen darüber, wie wir zur Kenntnis solcher Zusammenhänge gelangen, vermengen. Zwar meine ich keineswegs, daß es generell möglich sei, a priori und ohne Rücksicht auf unsere Welterfahrung Ontologie zu betreiben; aber es dürfen auch nicht, wie es eine in der Philosophie verbreitete Übung ist, vorgefaßte Begriffe von Wissen, Begründung und Erkenntnismethode zum Maßstab für die Natur der Dinge gemacht werden. Die zweite Kopernikanische Wende, die der Selbstkritik der erkennenden Vernunft, ist genau hierin über das Ziel hinausgeschossen, indem sie eine neue Selbsterkenntnis der Vernunft in Anspruch nahm, die sich dann doch den unerwarteten Tücken der Materie, von der auch denkende Menschen nicht loskommen können, nicht gewachsen zeigte“ (Lorenz Krüger, Über die Relativität und die objektive Realität des Kausalbegriffs, in: Kausalität und Zurechnung in komplexen kulturellen Prozessen, hrsg. von W. Lübbe, Berlin u.a.: de Gruyter, 1994, 147–163, S. 152). 240Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, S. 1. 241Die Auslassung der Endung „-logisch“ bei spezifisch ontologische Fragestellungen betreffenden Adjektiven soll nicht den Eindruck erwecken, dass Logik, Begriff und System nicht in den Sachverhalten an sich, sondern nur in der über sie berichtenden Wissenschaft vorhanden wären. Dies entspräche den oben (Abschn. 2.6.3) behandelten Formen des Antirealismus. Wird allerdings Bezug auf die Logik der Wirklichkeit genommen, ist gegen diesen Sprachgebrauch nichts einzuwenden.

3.8  Zur kulturellen und rechtlichen Bedeutung des Realismus

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dieser Kategoriengegensätze ist bereits Folge einer anthropozentrischen Deutung von Realia, einer Epistemologisierung der Ontologie und verfällt in die vielen angesprochenen Versionen des konstruktivistischen Grundwiderspruches unter zeitlichen Bedingungen. Subjekte sind selbst Teil der Ontologie; ihre Handlungen, Wertungen und Wissenschaft sind somit nur zusätzliche Tatsachen; sie erschöpfen die Ontologie jedoch nicht. Deswegen sind die genannten Unterscheidungen nicht bloß terminologisch, sondern sie haben selbst unterschiedliche Entsprechungen in der Wirklichkeit. Wenn Realismus von vornherein als eine gnoseologische Unternehmung – wenn auch nur implizit – definiert wird, wird die Ontologie dermaßen ausgeblendet, dass nicht einmal Fragestellungen nach dem unabhängig von menschlichen Bezügen ontologisch Seienden möglich sind,242 was die Seinsvergessenheit der Moderne kennzeichnet.243 Eine Rechtsontologie ist eine Ontologie

242Dementsprechend kündigte Vladímir Kubeš bereits 1977 den Bedarf an einer Rückkehr zur Ontologie an, nachdem der Neukantianismus einschließlich Hans Kelsens Reiner Rechtslehre samt großen Teils der Rechtsphilosophie die Methodologie ins Zentrum der Überlegungen rückte, in dessen Kontext sich die Methodenlehre der Rechtswissenschaft als Disziplin etablierte: „Erst im fortschreitenden zwanzigsten Jahrhundert beginnt man wieder ‚zum Objekt zurückzukehren‘. Die ‚erste Philosophie‘ der antiken und der mittelalterlichen Tradition beginnt wieder lebendig zu werden. Von der Erkenntnis der Sache gibt es nämlich keine Erkenntnis der Methode. … Das Erkenntnisproblem ist ohne vorhergehende ontologische Untersuchung unlösbar“ (Vladímir Kubeš, Grundfragen der Philosophie des Rechts, Wien u. a.: Springer-Verlag, 1977, S. 26 f.). Vladímir Kubeš entwickelte eine „kritische Ontologie“ (ders., S. 25–30) auf Basis von Nicolai Hartmanns Theorie der Seinsschichten: „Diese neue philosophische Wissenschaft vom Seienden (die kritische Ontologie) unterscheidet sich von allen Ontologien der alten metaphysischen Systeme vor allem dadurch, daß sie als Grundlage und Ausgangspunkt kein absolutes Sein in einer Sphäre des überzeitlichen Ideenzusammenhangs voraussetzt, sondern nur das, was in der Welt der Erfahrung gegeben ist und erkannt werden kann“ (ders., S. 25). So verfällt Kubeš allerdings in die hier kritisierte und oben mehrfach widerlegte Abhängigkeit jeglichen Seins von dessen Erkennbarkeit, ja letztlich in eine Definition von Ontologie durch Epistemologie. Eine solche steckt bereits in seinem Verlangen, „zum Objekt zurückzukehren“ (ders., S. 27) und in seiner Definition des „Wesens des Rechts“ als Kerns des Phänomens des Rechts, also dessen, was erscheint oder erscheinen kann und dessen „Vermittler“ nur der Mensch sei (ders., S. 24). So wird das Sein subjektbezogen als Objekt definiert und in einem untrennbaren Zusammenhang mit Erkenntnis und Phänomen verstanden. Dies dürfte ein wesentliches Merkmal einer „kritischen Ontologie“ sein, die allerdings wider ihr Programm nicht mehr beanspruchen könnte, „fundamentale Aussagen über das Sein als solches“ (ders., S. 27) zu machen. 243„In der Tat scheinen mir die großen Fortschritte der Neuzeit wie die Entstehung der exakten Wissenschaften, die Ausprägung der Subjektivität und das Wachstum eines historischen Bewusstseins mit bestimmten Verengungen der Fragestellung und der Begrifflichkeit – schärfer gesagt, mit fortschreitender Seinsvergessenheit – bezahlt“ (Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 440).

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3  Ontologie des positiven Rechts

im eigentlichen Sinne des Terminus, und zwar eine Ontologie des Rechts ebenso im eigentlichen Sinne, die seine Wirklichkeit mit Begriffen darstellt, nicht aber eine Ontologie des bloß Juristischen, eine Psychologie des als Recht Gefühlten, eine Soziologie des in der Gesellschaft für Recht Gehaltenen, eine Phänomenologie des als Recht Erscheinenden oder subjektive Wertungen über das als Recht Gewollte. In tabellarischer Darstellung: Zwei philosophische Disziplinen und ihre Kategorien Ontologie

Gnoseologie

Ding, Sache

Gegenstand (oder Objekt), Inhalt, Phänomen, Erscheinung

Begriff, Idee, Form

Name, Terminus, Vorstellung, Repräsentation, Bewusstsein

Tatsache, Sachverhalt

Wahrheit, Irrtum, Beweis, Indiz, Argument

Begriffsverknüpfung

Urteil, Proposition

Grund

Begründung, Rechtfertigung

Ursache

Erklärung

antecedens, consequens

explanandum, explanans

ontologisch

objektiv

sozial, psychisch, biotisch

soziologisch, psychologisch, biologisch

Norm, Sollen, Wert, Zweck, das Gute

Interpretation, Wertung, Abwägung, Subsumtion, Analogie

Norminzidenz

Normanwendung

Der Realismus gewann seit dem 19. Jahrhundert erheblich an kultureller Bedeutung. Der Verlust von Idealität in den Kulturen, der politische Konformismus mit seiner nahezu unbedingten Apologie der Praxis der liberalen Gesellschaft und die damit einhergehende „Soziologisierung der Rechtswissenschaft“244 geschahen parallel zu einer Aufwertung des Realismusbegriffs. Die Bezeichnung 244Klaus

F. Röhl, Rechtsgeltung und Rechtswissenschaft, JZ 18, 1971, 576–580, S. 580. Die Soziologisierung der Rechtswissenschaft hat zur Folge, „daß sich das Recht immer mehr in einem Spiegelbild des status quo erschöpft und die Juristen darauf beschränkt werden, singuläre Abweichungen vom tatsächlich Normalen festzustellen und zu sanktionieren“ (aaO.). „If contemporary scholarship is surprisingly complacent about its inconsistent diversity, it is also anti-intellectual in its aspiration. Theoretical work is understood to succeed when it remains pragmatic, close to the ground and primarily descriptive – although descriptive of values as much as of behaviors. The work as a whole

3.8  Zur kulturellen und rechtlichen Bedeutung des Realismus

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einer Ansicht als realistisch ist in diesem Kontext mit einer erheblich positiven Konnotation verbunden – schließlich möchte ja niemand der Naive sein. Realismus erscheint mal als Gegensatz zum Idealismus (etwa der Annahme der Existenz abstrakter Entitäten), mal als Gegensatz zum Normativismus (etwa dem kontrafaktischen Charakter von Normen). Zugleich genießen die vielen Formen des Konstruktivismus, also die Thesen der Art: Gegenstände von Wissenschaft und Philosophie seien nur kontingente soziale Konstrukte oder „das Reale sei uns stets nur durch den Filter wandelbarer Formulierungen gegeben und der Modus unserer Griffe nach der Wirklichkeit verschmelze mit dieser zu einem Amalgam,“245 eine beachtenswerte massenmediale Beliebtheit, akademische Herausarbeitung und institutionell-politische Unterstützung. Seit dem zweiten Weltkrieg setzte sich in akademischen Milieus die Auffassung durch, alles (Natur, Moral, Recht, ferner auch Gesundheit, Geschlecht, Schönheit usw.) sei irgendwie „sozial konstruiert“. Wie kann aber der Konstruktivismus, der die Gegenposition schlechthin zum Realismus darstellt, in dermaßen realistischen Zeiten sich derselben Beliebtheit dieses erfreuen? Sein Erfolg lässt sich nicht durch den damit implizierten Antirealismus erklären, sondern durch den Umstand, dass der Konstruktivismus häufig als der eigentliche Realismus uminterpretiert wurde, indem er als die aufklärerische Position verstanden wurde, die die Naivitäten des ungelehrten realistischen sensus communis überwindet. Akademisch mehrheitlich sehen sich Konstruktivisten als die eigentlichen Realisten in diesem angeblich aufklärerischen Sinne an. So genießt kulturell die größte rhetorische Beliebtheit der Antirealist (im philosophischen Sinne), der den Konstruktivismus als einen Realismus versteht, dadurch beides beibehält und die anderen Positionen (Idealismen, Normativismen) als erkenntnistheoretisch bedenkliche Antirealismen gelten lassen will – ein letztlich auch in der Rechtstheorie zum Ausdruck gekommener antirealistischer Realismus. Den Begriffsverwirrungen zuwider gilt jedoch: Der Realismus über Materie heißt Materialismus; der Realismus über Ideen heißt Idealismus; der Realismus über Materie und Ideen

seems unsystematic in methodology and is often self-consciously eclectic, absorving inconsistency and contradiction in the name of realism and effectiveness … By keeping value conflicts ackowledged but submerged theory is able to defend itself as a form of pluralism. … This theoretical stance protects modern doctrinal discourse from scholarly challenge“ (Kennedy, The Turn to Interpretation, S. 256 f.). 245Formulierung und berechtigte Kritik von Sloterdijk, Was geschah im 20. Jahrhundert?, S. 102.

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heißt Hylemorphismus und der Realismus über Normen heißt Normativismus. Materialismus, Idealismus und Normativismus können Reduktionismen sein, wenn behauptet wird, dass ausschließlich (respektive) Materie, Ideen und Normen existieren. Die vorliegende Untersuchung ergab die Falschheit dieser drei Reduktionismen. Die Rechtsontologie ist zugleich ein Realismus über Materie, Ideen und Normen, die in jedem Sachverhalt eine kohärente Einheit ausmachen, und kann deshalb als Holismus verstanden werden.

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